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Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium

1212
2016
978-3-7720-0002-7
978-3-7720-8609-0
A. Francke Verlag 
Anna Cornelius

Wer ist der auferstandene Jesus? Und was hat er mit dem Irdischen zu tun? Diesen beiden Fragen widmet sich das Buch. Es behandelt diese Fragen aber nicht "an sich", sondern in der Auseinandersetzung mit zwei Texten, die den Irdischen und den Auferstandenen vorkommen lassen, dem Matthäus- und dem Lukasevangelium. Für die Analyse dieser Texte wird eine literaturwissenschaftliche Verfahrensweise, die Figurenanalyse, erläutert und genutzt. Zunächst wird das Bild beider Evangelien vom Auferstandenen nachgezeichnet. Im Anschluss wird in beiden Evangelien zur Darstellung des Irdischen zurückgefragt, um Kontinuitäten und Akzentverschiebungen freizulegen. Dabei zeigt sich: Jesus - der Auferstandene und der Irdische, der matthäische und der lukanische - begegnet eben nicht als ein und dieselbe Figur.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8609-0 www.francke.de Der auferstandene Jesus Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium Anna Cornelius Anna Cornelius Wer ist der auferstandene Jesus? Und was hat er mit dem Irdischen zu tun? Diesen beiden Fragen widmet sich das Buch. Es behandelt diese Fragen aber nicht „an sich“, sondern in der Auseinandersetzung mit zwei Texten, die den Irdischen und den Auferstandenen vorkommen lassen, dem Matthäus- und dem Lukasevangelium. Für die Analyse dieser Texte wird eine literaturwissenschaftliche Verfahrensweise, die Figurenanalyse, erläutert und genutzt. Zunächst wird das Bild beider Evangelien vom Auferstandenen nachgezeichnet. Im Anschluss wird in beiden Evangelien zur Darstellung des Irdischen zurückgefragt, um Kontinuitäten und Akzentverschiebungen freizulegen. Dabei zeigt sich: Jesus - der Auferstandene und der Irdische, der matthäische und der lukanische - begegnet eben nicht als ein und dieselbe Figur. 23 23 23 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="1"?> Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium <?page no="2"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 22 • 2015 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Anna Cornelius Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • info@francke.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8609-0 <?page no="5"?> Für Anita und Peter in Liebe und Dankbarkeit <?page no="7"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015 / 2016 von der Evange‐ lisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn, der die Entstehung dieser Arbeit angeregt hat. Während der zwei Jahre ihrer Entstehung hat er mich stets ermutigt und unterstützt, mir aber gleich‐ zeitig auch den nötigen Freiraum gelassen. Frau Prof. Dr. Christine Gerber danke ich für ihre Unterstützung hier vor Ort in Hamburg. Ein besonderer Dank gilt auch der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz für die Gewährung eines Promotionsstipendiums für zwei Jahre sowie der Evange‐ lisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland für ihre finanzielle Unterstüt‐ zung in der Zeit bis zum Rigorosum. Für die Aufnahme in die Reihe NET danke ich dem Herausgeberkreis der Reihe. Dem Francke-Verlag danke ich für die freundliche Unterstützung bei der Drucklegung. An den Druckkosten haben sich dankenswerterweise die Georg-Strecker-Stiftung und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Nord‐ deutschland beteiligt. Ein weiterer Dank gilt dem Team der Krankenhausseelsorge des Universi‐ tätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Während meiner Promotion hier als Eh‐ renamtliche mitarbeiten zu dürfen, hat mir zusätzlich viele neue Einblicke und intensive Erfahrungen ermöglicht. Ganz herzlich bedanke ich mich auch bei meinen Eltern, meinem Bruder und meinen Freunden, die mir während dieser Zeit immer zur Seite standen und mich in meinem Vorhaben motiviert und bestärkt haben. Schließlich danke ich ganz besonders meinem Mann für sein Verständnis und seinen bedingungslosen Rückhalt. Hamburg, im Juni 2016 Anna Cornelius <?page no="9"?> 1 11 2 16 2.1 16 2.2 18 2.2.1 19 2.2.2 31 2.3 40 2.3.1 42 2.3.2 74 3 82 3.1 82 3.1.1 82 3.1.2 92 3.1.3 106 3.1.4 115 3.1.5 122 3.1.6 124 3.1.7 126 3.2 128 3.2.1 128 3.2.2 142 3.2.3 162 3.2.4 173 3.2.5 178 3.2.6 181 3.2.7 182 3.3 184 3.3.1 184 3.3.2 185 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über verschiedene Erzählmodelle . . . . . . . . . . . Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell . . . . . . . . . Figurenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehensweisen der Figurenanalyse in verschiedenen Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur figurenanalytischen Untersuchung in dieser Arbeit . Figurenanalyse des Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1-20 . . . . . . . . . . Fremdcharakterisierung des Auferstandenen . . . . . . . . . . Selbstcharakterisierung des Auferstandenen . . . . . . . . . . . Figur und Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1-53 . . . . . . . . . . . Fremdcharakterisierung des Auferstandenen . . . . . . . . . . Selbstcharakterisierung des Auferstandenen . . . . . . . . . . . Figur und Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich beider Figurendarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdcharakterisierung des Auferstandenen . . . . . . . . . . Selbstcharakterisierung des Auferstandenen . . . . . . . . . . . <?page no="10"?> 3.3.3 187 3.3.4 187 3.3.5 188 3.3.6 188 3.3.7 189 4 190 4.1 190 4.1.1 191 4.1.2 209 4.1.3 226 4.2 227 4.2.1 228 4.2.2 241 4.2.3 266 4.2.4 282 4.2.5 292 5 294 297 315 Figur und Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figur und Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Exousia des Irdischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mission des Irdischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mahlgemeinschaft beim Irdischen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Metanoia beim Irdischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einordnung in den göttlichen Plan beim Irdischen . . Der Heilige Geist beim irdischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="11"?> 1 Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 86. 2 Kühn, Christologie, 143. 3 Vgl. auch Wenz, Christus, 65: „Das Osterereignis ist die Erfüllung des Jesusgeschehens, das seine implizite Voraussetzung bildet. Reicht diese Voraussetzung hin, das Osterer‐ eignis als kontinuierliche Fortsetzung des Jesusgeschehens zu behaupten? “ Einen Über‐ blick über die Geschichte der Christologie bietet u. a. Kühn, Christologie, 147-279. Zu diesen Fragen in der neueren Forschung vgl. u. a. Ringleben, Wahrhaft auferstanden, 76-79; Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 86-93; Kühn, Christologie, 117- 127.143-147; Danz, Grundprobleme der Christologie, 185-189; Härle, Dogmatik, 303- 307; Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 287-288; Joest / v. Lüpke, Dogmatik, 244- 256; Welker, Gottes Offenbarung, 15: „Um die Kontinuitäten zwischen dem vorösterli‐ chen Jesus und seinem nachösterlichen Leben trotz einschneidender Diskontinuität er‐ kennen zu können, muss eine […] Erkenntnisblockade beseitigt werden. Sie besteht in der Verwechslung von Auferstehung mit einer physischen Wiederbelebung.“ 1 Einleitung „Wer ist der durch Gott von den Toten Auferweckte? “ 1 „Ist der auferstandene Jesus Christus, der Herr, den die neutestamentliche Verkündigung bezeugt, er‐ kennbar derselbe wie der irdische Jesus, der Bote des Reiches Gottes, der um seiner Botschaft willen angefeindet und getötet wurde? “ 2 Diese zentralen Fragen nach dem Auferstandenen und seiner Relation zum Irdischen sind seit je her und auch heute noch im Bereich der Dogmatik oft gestellte und diskutierte Fragen. 3 Diese Arbeit wird den Fragen nachgehen, sie dabei jedoch auf eine andere Ebene, nämlich auf die Ebene des Textes des Matthäus- und Lukasevan‐ geliums, stellen. Es soll im Folgenden untersucht werden, wie das Matthäus- und das Lukas‐ evangelium jeweils die literarische Figur des Auferstandenen darstellen und welches Bild sie von ihm zeichnen. Darüber hinaus soll gefragt werden, wie sich die Darstellung des auferstandenen Jesus zur Darstellung des irdischen Jesus in den beiden Evangelien verhält, ob es sich jeweils um eine kohärente und in sich geschlossene Figurendarstellung handelt oder ob bei der Darstellung des Auf‐ erstandenen im Vergleich zur Darstellung des Irdischen ganz neue Akzente ge‐ setzt werden. Der Vergleich der Figurenzeichnung beider Evangelien soll dazu beitragen, das christologische Profil der beiden Evangelien, das in der Darstellung des Auferstandenen im Rückbezug auf die des Irdischen zum Ausdruck kommt, möglichst genau zu erfassen. Die Analyse der Figur des Auferstandenen in den <?page no="12"?> 4 Vgl. u. a. Hahn, Christologische Hoheitstitel, 1995; Conzelmann, Grundriß, 88-115; Stuhlmacher, Biblische Theologie, 156-161; Hahn, Theologie, 530-532. Zur narrativen Entfaltung der Hoheitstitel in den Evangelien vgl. Luz, Matthäische Christologie, 221- 235 sowie Kingsbury, Matthew as Story, 43-58.95-103. Zur poetischen Entfaltung be‐ stimmter Titel und Bezeichnungen Jesu vgl. Stock, Poetische Dogmatik, 13-313. 5 So z. B. Rhoads, D., Michie, D.: Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 3 2012; Zimmermann, R.: Christologie der Bilder im Johannesevan‐ gelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004; Tolmie, F.: Jesus’ Farewell to the Disciples. John 13: 1-17: 26 in Narratological Perspective, BIS 12, Leiden 1995; Lee, D.: Luke’s Stories of Jesus. Theological Reading of Gospel Narrative and the Legacy of Hans Frei, JSNTSup 185, Sheffield 1999; Danove, P. L.: The Rhetoric of the Characterization of God, Jesus and Jesus’ Disciples in the Gospel of Mark, New York 2005; Williams, J. F.: The Charac‐ terization of Jesus as Lord in Mark’s Gospel, in: Skinner, C. W., Hauge, M. R. (Hgg.): Character Studies and the Gospel of Mark, LNTS 483, Bloomsbury 2014, 107-126. Ostergeschichten sowie der Rückblick auf die jeweils vorangehende Darstellung des Irdischen und schließlich der Vergleich zwischen beiden Evangelien unter diesem Gesichtspunkt sollen also im Verständnis der Christologie des Matthä‐ usevangeliums und des Lukasevangeliums weiterführen. Um das Bild, das das Matthäus- und das Lukasevangelium vom Auferstan‐ denen zeichnen, zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, bietet sich die aus dem Bereich der Literaturwissenschaft stammende narratologische Me‐ thodik der Figurenanalyse an. Diese kann durch gezielte Fragestellungen viel‐ fältige Beobachtungen im Text zutage fördern, die dann im Hinblick auf die mögliche Intention des jeweiligen Evangeliums ausgewertet werden können. Die bisherige (historisch-kritische) Forschung zur Christologie in den Evan‐ gelien ist u. a. geprägt von einer Konzentration auf die Hoheitstitel Jesu. 4 Erst in der letzten Zeit wurden einige narratologische Untersuchungen zur Jesus-Figur unternommen. 5 Der Vorteil einer solchen narratologischen Analyse der Jesus-Figur liegt darin, dass sie vielschichtige und differenzierte Einblicke und Erkenntnisse lie‐ fert, indem sie die Jesus-Figur in ihrer Rolle und Funktion innerhalb einer Hand‐ lung, in ihren Beziehungen zu anderen Figuren sowie zur dargestellten Umwelt und in Beziehung zum Erzähler analysiert und dadurch dem Erzählcharakter der Evangelien besonders gerecht wird. In dieser Arbeit wird somit nicht nach 1 Einleitung 12 <?page no="13"?> 6 Seit den 1970er Jahren existiert die sog. „third quest“ der historisch-kritischen Jesus-For‐ schung. Nach Theißen / Merz, Der historische Jesus, 28, Anm. 25 ist dieser Begriff von Neill / Wright, Interpretation, 379 ff. geprägt worden. Die „third quest“ beschäftigt sich mit der Frage, wer genau der historische Jesus von Nazareth wirklich war und bezieht dabei Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften, der Archäologie, Kulturanthropo‐ logie, Orientalistik, Judaistik, etc. mit ein. Auch fokussiert sie eine stärkere Beschäfti‐ gung mit (außerkanonischen) Quellen. Kennzeichnend für diese Phase der Jesus-For‐ schung ist zudem die Betonung des Jude-Seins Jesu. Dabei wird Jesus nicht mehr im Kontrast, sondern in seiner Zugehörigkeit zum Judentum verstanden und untersucht. Wichtige Vertreter dieses historisch-kritischen Ansatzes sind u. a. Theißen, Borg, Crossan, Meier, Funk, Stegemann und Schröter, Einteilung im Anschluss an Schmidt, Vom „historischen“ Jesus, dem „erinnerten“ Jesus und darüber hinaus, 66-69. 7 Im Gegensatz zur „dritten Phase“ der Jesusforschung - die allein nach der historischen Person Jesus fragt - stellt seit Mitte der 1980er Jahre ein anderer Forschungsansatz vielmehr den erinnerten Jesus, wie er aus den jeweiligen Darstellungen der Evangelien hervorgeht und erkennbar wird, in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Dabei geht es jedoch nicht um die Erinnerung an einzelne Taten Jesu, sondern um „die nachöster‐ liche Erinnerung an die Gesamtheit seines Redens und Handelns“ (Wolter, Was macht die historische Frage nach Jesus von Nazareth zu einer theologischen Frage? , 26). Aus‐ gangspunkt für diesen Paradigmenwechsel ist die grundlegende Einsicht, dass es ge‐ nerell unmöglich ist, mit historisch-kritischen Methoden den historischen Jesus und damit die historische Wahrheit aufzuspüren. Vielmehr können wir aufgrund der Texte immer nur Aussagen über den erinnerten Jesus treffen. Wichtige Vertreter dieses An‐ satzes sind u. a. Kelber, Dunn, Keith, Le Donne und Hübenthal, Einteilung im Anschluss an Schmidt, Vom „historischen Jesus“, dem „erinnerten“ Jesus und darüber hinaus, 70- 74. 8 Zimmermann, Fiktion des Faktischen, 18. 9 Röder, Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte? , 67; vgl. auch Luther, „Jesus was a man, … but Christ was a fiction“, 190: „Grundlage all dieser Ansätze ist die Annahme, dass Geschichte grundsätzlich konstruktiven Charakter hat, was der weiterführenden Annahme stattgibt, dass histographische Texte Strukturen schaffen und literarische und narratologische Effekte in den Texten hervorbringen und auf diese Weise Geschichte konstruieren.“ dem historischen Jesus gefragt 6 , sondern nach dem erinnerten Jesus 7 , wie er als erzählter Jesus im Lukas- und Matthäusevangelium dargestellt ist. Denn insge‐ samt gilt: „Der erinnerte Jesus ist zugleich der erzählte Jesus.“ 8 Die Evangelien schildern nicht den historischen Jesus, sondern sie entwerfen unterschiedliche Jesus-Bilder, bei denen je unterschiedliche Intentionen leitend sind. Erzählungen sind damit stets Konstruktionen von Wirklichkeiten. „Ein genaues Textstudium muss somit dem spezifischen Charakter des jeweiligen Texts Rechnung tragen.“ 9 Narrative und linguistische Methoden tragen dazu bei, die Darstellung der Jesus-Figur innerhalb der jeweiligen Erzählungen genauer zu analysieren 1 Einleitung 13 <?page no="14"?> 10 „Die Erzählungen beziehen sich auf die Geschichte des irdischen Jesus, zum Teil ver‐ werten sie dabei sogar Details, die sich auf reale Ereignisse beziehen könnten. Zugleich aber wird diese Geschichte Jesu literarisch und stilisiert ausgestaltet“, Zimmermann, Christologie der Bilder, 215. 11 Die Erzählintention ist die Textintention in narrativen Werken. und vielfältige Beobachtungen am Text zutage zu fördern. 10 Narratologische Methoden sind also Hilfsmittel, um die komplexe literarische Gestaltung der Texte und ihrer jeweiligen Jesus-Bilder erfassen und analysieren zu können. Im Vergleich zur redaktionsgeschichtlichen Evangelienforschung zeichnet sich der in dieser Arbeit gewählte narratologische Ansatz dadurch aus, dass er sich konsequent auf das Kommunikationsgeschehen innerhalb des Evangeliums als einer Erzählung richtet und nicht mehr das spezifische Profil des Textes durch den redaktionellen Umgang des Verfassers mit den Quellen zu bestimmen sucht. Zudem geht es im narratologischen Ansatz nicht um die Bestimmung der Autorintention, sondern der Erzählintention. 11 Dennoch ist die „Grenzlinie“ zwischen redaktionsgeschichtlichen und narratologischen Herangehensweisen nicht einfach starr zu ziehen, denn auch in redaktionsgeschichtlichen Arbeiten lassen sich oftmals narrative Elemente finden. Im Verlauf dieser Arbeit werden zunächst ein Erzählmodell, das die Basis der Figurenanalyse bildet, und ein Figurenanalysemodell - jeweils in kritischer Auseinandersetzung mit in der Forschung gängigen Modellen - entwickelt. Anschließend wird die literarische Figur des auferstandenen Jesus in den Ostererzählungen des Matthäusevangeliums (Mt 28,1-20) und des Lukasevan‐ geliums (Lk 24,1-53) anhand der im Vorherigen entwickelten Kategorien der Figurenanalyse untersucht. Die angestellten Beobachtungen werden sodann ausgewertet hinsichtlich der möglichen (christologischen) Intention des jewei‐ ligen Evangeliums. Ein abschließender Vergleich zwischen den beiden Figurendarstellungen des Auferstandenen im Matthäusevangelium und im Lukasevangelium lässt das spezifische (christologische) Profil beider Evangelien noch stärker hervortreten. Die Ergebnisse zur literarischen Figur des Auferstandenen werden anschließend in Beziehung gesetzt zur literarischen Figur des irdischen Jesus im jewei‐ ligen Evangelium. Hierfür wird - ausgehend von den Ergebnissen der Figuren‐ analyse des Auferstandenen in der jeweiligen Ostererzählung - in die vorhe‐ rigen Kapitel des jeweiligen Evangeliums unter dem Aspekt zurückgefragt, ob die Darstellung der Jesus-Figur kohärent ist, also ob sich Übereinstimmungen in der Figurendarstellung des Auferstandenen und des Irdischen finden lassen, oder ob möglicherweise Akzentverschiebungen und Unterschiede auszumachen sind. 1 Einleitung 14 <?page no="15"?> Bei diesen Rückblicken kann es selbstverständlich nicht um eine detaillierte Figurenanalyse des irdischen Jesus gehen, die sich auf das gesamte Evangelium bis hin zu den Ostererzählungen bezieht. Vielmehr werden einzelne Textab‐ schnitte unter bestimmten, zuvor ermittelten inhaltlichen Gesichtspunkten he‐ rangezogen, um die Darstellung des Irdischen innerhalb dieser Abschnitte zu untersuchen. 1 Einleitung 15 <?page no="16"?> 1 Den Begriff Narratologie prägte 1969 Todorov mit seiner Definition: „Cet ouvrage relève d’une science qui n’existe pas encore disons la narratologie, la science du récit“, Todorov, Grammaire, 10. „Die Narratologie ist traditionell eine Unterdisziplin der Literaturwis‐ senschaften gewesen und hat besonders enge Bindungen an die Poetik und Gattungs‐ typologie sowie die Literatursemiotik bzw. -semiologie“, Fludernik, Erzähltheorie, 18. Bal definiert Narratologie folgendermaßen: „Narratology is the theory of narratives, narrative texts, images, spectacles, events; cultural artifacts that 'tell a story'”, Bal, Nar‐ ratology, 3. 2 Eisen, Poetik, 44. 3 „Die Narratologie, die Erzähltheorie hat es nie gegeben und gibt es auch heute nicht“, Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, XII. 4 Einen kurzen Überblick zur Geschichte der Narratologie bieten u. a. Eisen, Poetik, 45- 49 sowie Finnern, Narratologie, 29-46. 5 Finnern, Narratologie, 33. 6 Man kann hier von einer historischen und kulturellen Wende sprechen. Das Interesse am historischen Kontext eines Textes tritt wieder stärker in den Vordergrund, vgl. Fin‐ nern, Narratologie, 45-46. Vgl. auch Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 155-159. 7 Narratologie wird vermehrt auch auf Bereiche wie Theater, Film, Comics und Hörspiele angewandt und tritt damit bewusst in den Dialog mit anderen Disziplinen, vgl. Finnern, Narratologie, 33-34. 2 2.1 Methodik Narratologie Die Narratologie ist eine Forschungsrichtung der Literaturwissenschaften zur Theorie der Erzählung 1 , aus der sich konkrete Analysemethoden für Erzähltexte ergeben können. Es geht der Narratologie um die „Erforschung der Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene mit dem Ziel ihrer Beschreibung und Systematisierung.“ 2 Dabei kann keineswegs von der Narratologie gespro‐ chen werden, es existieren vielmehr unterschiedliche Theorien, Ansätze und Modelle. 3 Die Anfänge der Narratologie liegen bereits Anfang des 20. Jahrhun‐ derts. Von da an hat sie verschiedene Phasen durchlaufen. 4 Die Phase, in der sich die Narratologie seit den 1990er Jahren und bis heute befindet, kann mit Finnern als postklassische Narratologie 5 bezeichnet werden. Sie zeichnet sich durch eine Fülle, Vielfältigkeit und das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze aus. Sig‐ nifikant für diese Phase sind darüber hinaus ihre stärkere historische Orientie‐ rung 6 , ihre Interdisziplinarität 7 und ihre Einbeziehung der Rezeptionsfor‐ <?page no="17"?> 8 Die Prozesse der Rezeption sowie der Produktion von Texten werden mithilfe von kog‐ nitionspsychologischen Kenntnissen untersucht, vgl. Finnern, Narratologie, 36-45. Vgl. auch Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 149-153. 9 Finnern, Narratologie, 36. 10 „Der neue cultural turn speist sich aus mehreren Entwicklungen in der Narratologie und Literaturwissenschaft: Zum einen ist er eine logische Folge des cognitive turn, weil die kognitiven Frames und Skripts der Rezipienten historisch und kulturell variabel sind.“, Finnern, Narratologie, 45. 11 Zur Integration narratologischer Konzepte in die Exegese vgl. Finnern, Narratologie, 23-27. „Bei allen Unterschieden kann man jedoch sagen, dass die narrative Analyse von Erzähltexten der Bibel auf Theorien der Narratologie zurückgreift, einer Forschungs‐ richtung der Literaturwissenschaften.“ Finnern, Narratologie, 23. 12 Finnern, Narratologie, 1. 13 Eisen, Poetik, 13. schung 8 . Insgesamt ist die heutige Narratologie von der „kognitiven Wende“ 9 sowie - damit unmittelbar zusammenhängend - einer historischen und kultur‐ ellen Wende 10 bestimmt. Seit den 1970er Jahren findet die Narratologie zunächst im anglo-amerikani‐ schen Raum, aber auch vermehrt in der deutschen Exegese Beachtung, wobei sich auch hier noch kein einheitliches Verfahren zur narrativen Analyse bibli‐ scher Erzählungen durchgesetzt hat. 11 Der Anwendung narratologischer Methoden auf biblische Texte liegt die Ein‐ sicht zugrunde, dass die Bibel selbst ein „Buch voller Erzählungen“ 12 ist und deshalb auch - oder gerade - mit narrativen Methoden untersucht werden kann. Durch eine narratologische Analyse eines Textes können vielfältige Beobach‐ tungen erzielt werden, die im Hinblick auf den Erzählerstandpunkt und damit letztlich im Hinblick auf die Intention und Theologie des Textes ausgewertet werden können. Im Unterschied zu der historisch-kritischen Methodik, die immer auch einen diachronen Schwerpunkt besitzt, und die v. a. nach der Ent‐ stehung eines Textes und der Autorintention fragt, geht es der Narratologie vorrangig um Fragen nach der Gestaltung und Komposition des Textes durch den Erzähler, den Figurendarstellungen sowie der Wirkung eines Textes. Der Text wird stärker auf einer synchronen Ebene untersucht. Im Hinblick auf die vier kanonischen Evangelien ist eine narratologische Untersuchung besonders reizvoll, denn „[D]ie vier kanonischen Evangelien erzählen auf jeweils eigene Weise dieselbe Geschichte. In jedem der vier Evangelien wird die Welt etwas anders dargestellt, und das zeigt, dass Erzählen auch Weltentwerfen heißt. […] In erzählte Welten einzutauchen, diese in ihren Strukturen und Funktionsweisen zu erfassen, zu beschreiben und ihre Bedeutungen zu entschlüsseln, ist das Ziel der Erzählforschung bzw. der Narratologie.“ 13 2.1 Narratologie 17 <?page no="18"?> 14 Finnern unterscheidet zwischen vier möglichen Verhältnisbestimmungen von Syn‐ chronie und Diachronie: 1. Synchronie vor Diachronie 2. Diachronie vor Synchronie 3. Diachronie und Synchronie 4. Synchronie mit Diachronie, vgl. Finnern, Narratologie, 8-15. M. E. können Synchronie und Diachronie als einander gleichwertig bei- und zu‐ geordnet verstanden werden. Vgl. auch Conzelmann / Lindemann, Arbeitsbuch, 116: „Die beiden Fragestellungen konkurrieren nicht miteinander oder schließen sich ge‐ genseitig aus, sondern sie ergänzen einander“. Einen möglichen Entwurf zu einer „Me‐ thodensynopse“, bei der die Narratologie und die historisch-kritische Exegese mitei‐ nander in Beziehung gesetzt werden, hat in der letzten Zeit Finnern vorgestellt, vgl. Finnern, Narratologie, 477-487. Einen weiteren Ansatz einer Kombination synchroner und diachroner Analyseelemente liefert Schultheiss, Petrusbild, 48-79. 15 Fischer, Das Hohelied Salomos, 4. 16 Eine Übersicht über die verschiedenen Ansätze bietet Finnern, Narratologie, 23-27. 2.2 Die narratologische Untersuchung von Erzähltexten stellt dabei jedoch keine grundsätzliche Alternative und erst recht keinen Gegensatz zur historisch-kri‐ tischen Sichtweise dar, vielmehr kann und sollte sie als sinnvolle Ergänzung verstanden werden. 14 Die narratologische Betrachtung von Erzähltexten steht daher „in ergänzender Spannung, aber nicht in einem prinzipiellen Widerspruch zum diachronen Ansatz historisch-kritischer Methode“ 15 . Erzählmodelle In der Narratologie existieren - wie bereits erwähnt - verschiedene Ansätze und damit auch unterschiedliche Erzählmodelle. 16 Ein Erzählmodell bildet die Basis und Grundlage jeder Figurenanalyse, denn Figuren sind Akteure in einer Erzählung. Je nachdem, welches Erzählmodell einer Figurenanalyse zugrunde gelegt wird, wird diese mit bestimmten Begrifflichkeiten (sozusagen den „Werk‐ zeugen“ einer Analyse) durchgeführt. Da sich in der Sekundärliteratur die nar‐ ratologischen Begrifflichkeiten wie „Autor“, „Erzähler“, „Leser“ etc. zum Teil stark voneinander unterscheiden oder unterschiedlich verwendet werden, ist es nötig, vor Beginn der Figurenanalyse genau zu definieren, welche narratologi‐ schen Begriffe in dieser Arbeit wie verwendet werden. Denn sie sind bei der anschließenden Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukas‐ evangelium die „Werkzeuge“, mit denen die Analyse durchgeführt wird. Die Entscheidung für ein bestimmtes Erzählmodell wird daher bereits an dieser Stelle der Arbeit vor den Überlegungen zur Methodik der Figurenanalyse ge‐ troffen. Im Folgenden soll zunächst ein knapper Überblick über verschiedene 2 Methodik 18 <?page no="19"?> 17 Dabei beschränkt sich die Auswahl der Erzählmodelle bewusst auf „Schlaglichter“ der Erzähltheorien sowie auf aktuelle Modelle. Den Hauptanteil bilden literaturwissen‐ schaftliche Erzählmodelle, es werden aber auch Erzählmodelle vorgestellt, die im Hin‐ blick auf biblische Texte entwickelt worden sind und ertragreich erscheinen. 18 Es werden daher bewusst andere Analysekategorien von Erzählungen, wie z. B. die Kategorie der Umwelt, der Zeit, etc. beim Überblick über die Erzählmodelle ausgelassen und erst bei den entsprechenden Kategorien der Figurenanalyse zur Sprache gebracht. 19 Vgl. Genette, Erzählung, 16. 20 Genette, Erzählung, 16. 21 Die Erzählung unterteilt er in die Bereiche Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus und Stimme, vgl. Genette, Erzählung, 5-6. 2.2.1 2.2.1.1 Genette Erzählmodelle gegeben werden. 17 Ein solcher Überblick über unterschiedliche Modelle ist notwendig, da das in dieser Arbeit zugrunde liegende Erzählmodell in vielen Punkten auf andere Modelle zurückgreift bzw. sich kritisch gegen sie abgrenzt. Im Anschluss an die Darstellung der vorgegebenen Modelle wird ge‐ zeigt, wie sich aus der kritischen Auseinandersetzung ein Modell entwickeln lässt, an dem sich die geplante Analyse dieser Arbeit orientieren kann. Ab‐ schließend werden die für dieses Modell wichtigen Begriffe geklärt. Insgesamt wird beim folgenden Überblick der Fokus auf die Kommunikati‐ onssituation in einer Erzählung, also auf die Frage nach der Verwendung von Begrifflichkeiten wie „Autor“, „Erzähler“, „Leser“, etc. gelegt, da diese für die Figurenanalyse eine große Rolle spielt. 18 Aber auch die Frage, welche Ebenen in einer Erzählung grundsätzlich unterscheidbar sind, wird dabei thematisiert. Auch diese Frage ist im Hinblick auf die Figurenanalyse relevant, da die Analyse von Figuren in der Forschung jeweils unterschiedlichen Ebenen zugeordnet wird. Zur besseren Veranschaulichung und Vergleichbarkeit untereinander werden die Erzählmodelle der unterschiedlichen Autoren sowie das dieser Ar‐ beit zugrundeliegende Erzählmodell jeweils am Ende in Form eines Schaubildes dargestellt. Überblick über verschiedene Erzählmodelle Genette teilt eine Erzählung grundsätzlich in drei Ebenen, Erzählung, Geschichte und Narration, ein. 19 Dabei kann der Begriff Geschichte mit der Handlung gleich‐ gesetzt werden. Er beschreibt das, was passiert, den „narrativen Inhalt“ 20 . Der Begriff Erzählung bezeichnet dagegen bei ihm den narrativen Text und die Aus‐ sage. 21 Unter den Begriff Narration fällt bei Genette die Situation des Erzählens, 2.2 Erzählmodelle 19 <?page no="20"?> 22 Vgl. Genette, Erzählung, 16: „Ich schlage vor, […] das Signifikat […] Geschichte zu nennen […], den Signifikanten […] Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt […] vorbehalten sein soll“. 23 So u. a. von Bal, Rimmon-Kenan und Lahn / Meister. 24 Vgl. Genette, Erzählung, 151-186. 25 Genette zeigt dabei verschiedene Funktionen und Erzählsituationen des Erzählers auf, vgl. Genette, Erzählung, 183-186. 26 Genette, Erzählung, 280. 27 Genette, Erzählung, 295. der narrative Akt. 22 Die Dreiteilung einer Erzählung in Geschichte, Erzählung und Narration ist in der Literatur vielfach rezipiert und weitergeführt worden. 23 Auf der Ebene der Erzählsituation unterscheidet Genette zwischen Autor, Adressaten, Leser und Erzählinstanz, wobei er letztere besonders betont. 24 Er geht von einem realen Autor aus, der eine Erzählinstanz bzw. einen Erzähler erschafft (wobei es auch mehrere sein können), der dann aus einer bestimmten Erzähl‐ position heraus an einen Adressaten eine Geschichte erzählt. 25 Dabei wird der Adressat wiederum unterschieden in einen intradiegetischen Adressaten, eine Figur, die explizit im Text selbst genannt wird, und in einen extradiegetischen Adressaten. Dieser extradiegetische Adressat ist dabei mit dem virtuellen Leser identisch: „Denn der extradiegetische Adressat ist nicht, wie der intradiegeti‐ sche, eine 'Zwischenstation' zwischen dem Erzähler und dem virtuellen Leser: er ist mit dem virtuellen Leser (mit dem der reale Leser sich identifizieren kann oder auch nicht) absolut eins.“ 26 Jedoch verzichtet Genette auf den Begriff des impliziten Autors und kritisiert ihn als „schattenhaften Doppelgänger“ 27 . Genettes Erzählmodell lässt sich daher folgendermaßen veranschaulichen: Erzählung Abb. 1 Erzählmodell nach Genette (eigene Darstellung) 2 Methodik 20 <?page no="21"?> 28 Vgl. Chatman, Story, 147. Genette kritisiert die Verwendung dieses Erzählmodells mit den Worten: „Schon eine Menge Leute für eine einzige Erzählung. Ockham steh mir bei! “, Genette, Erzählung, 285. 29 „The real author and real reader are outside the narrative transaction”, Chatman, Story, 151. 30 Chatman, Story, 147. Diese klare Trennung von Autor und Erzähler begegnet u. a. auch bei Genette, Erzählung, 285-286, wird neuerdings aber z. B. von Finnern kritisiert, vgl. Finnern, Narratologie, 54-55. 31 Booth, Fiction, 70-77. 32 Chatman, Story, 148. Genette stellt dagegen die kritische Rückfrage, ob „der implizierte Autor eine notwendige und (folglich) rechtsgültige Instanz zwischen dem Erzähler und dem realen Autor“ darstellt, Genette, Erzählung, 285. 33 Vgl. Chatman, Story, 148. 34 Chatman, Story, 148. 35 So können sich z. B. die Interessen und Intentionen der impliziten Autoren verändern. Zur näheren Ausführung vgl. Chatman, Story, 148-149. 2.2.1.2 Chatman Chatman verwendet hinsichtlich der Erzählsituation die Begriffe realer Autor, impliziter Autor, Erzähler, Adressat, impliziter Leser und realer Leser. 28 Dabei stehen der reale Autor sowie der reale Leser außerhalb des Textes und sind daher für die narrative Analyse unerheblich. 29 Darüber hinaus ist es für Chatman wichtig „not to confuse author and narrator“ 30 . Mit Rückgriff auf Booth 31 spricht er sich für die Verwendung der Begrifflichkeit des impliziten Autors aus. Der implizite Autor ist demnach das Bild vom Autor, das beim Leser durch das Lesen der Erzählung entsteht. 32 Er ist es, der die Fäden im Hintergrund zieht, der die Figuren erschafft und die Handlung bestimmt. Der implizite Autor schafft sich einen Erzähler, der dann seine Entscheidungen ausführt, indem er zur Stimme des impliziten Autors wird. 33 Chatmans impliziter Autor trägt daher bereits anthropomorphe Züge. Das Verhältnis des impliziten Autors zum Erzähler defi‐ niert er darüber hinaus folgendermaßen: „Unlike the narator, the implied author can tell us nothing. He, or better, it has no voice, no direct means of communi‐ cating. It instructs us silently, through the design of the whole, with all the voices, by all the means it has chosen to let us learn.” 34 Die seines Erachtens notwendige Unterscheidung zwischen dem realen und dem impliziten Autor macht Chatman deutlich, indem er aufzeigt, dass verschiedene Werke desselben realen Autors unterschiedliche implizite Autoren besitzen können. 35 Besonders in Bezug auf biblische Literatur ist die folgende Aussage Chatmans zum Ver‐ hältnis des realen und impliziten Autors von Bedeutung: „There is always an implied author, though there might not be a single real author in the ordinary sense: the narrative may have been composed by a committee […], by a disparate 2.2 Erzählmodelle 21 <?page no="22"?> 36 Chatman, Story, 149. 37 Chatman, Story, 150. 38 „And just as there may or may not be a narrator, there may or may not be a narratee”, Chatman, story, 150. 39 Vgl. Chatman, Story, 43: „The events in a story are turned into a plot by its discourse, the modus of presentation.” 40 „Every narrative is made up of two elements: the story and the discourse. Narrative Criticism distinguishes these two elements, which cannot be separated in any narrative, in the same way as linguistics differentiates the signifier and the signified”, Mar‐ guerat / Bourqin, Bible Stories, 20. 41 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 21. 42 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 21. 2.2.1.3 Marguerat und Bourqin group of people over a long period of time” 36 . Das Gegenstück zum impliziten Autor ist bei Chatman der implizite Leser. Er ist „the audiance presupposed by the narrative itself “ 37 und im Gegensatz zum Erzähler und zum Adressaten immer im Text präsent. 38 Eine Erzählung unterteilt Chatman generell in die zwei Ebenen story und discourse. Dabei bezeichnet story die Handlung, also das, was erzählt wird, und der Begriff discourse die Darstellung, also wie etwas erzählt wird. 39 Chatmans Erzählmodell lässt sich demnach wie folgt skizzieren: real. Autor impliziter Autor (Erzähler) Erzählung (Adressat) impliziter Leser real. Leser story discourse Abb. 2 Erzählmodell nach Chatman (eigene Darstellung) Den Ansatz von Chatman aufgreifend, teilen Marquerat und Bourqin eine Er‐ zählung in die beiden Ebenen story und discourse ein. 40 Dabei lautet ihre Defi‐ nition der story: „what the narrative relates, reconstructed in the chronological order which it supposes (the signified)“ 41 . Als discourse wird bezeichnet, „how the story is told (the signifier)” 42 . Hinsichtlich der Kommunikationssituation in einer Erzählung schließen sie sich Chatman an, indem sie die Begriffe real author, implied author, narrator, 2 Methodik 22 <?page no="23"?> 43 Vgl. die Modelldarstellung ihrer Erzähltheorie, Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 12. 44 Vgl. Chatman, story, 15. 45 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 12. 46 Vgl. Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 13. 47 Kritik gegen diese Ansicht begegnet in der letzten Zeit u. a. von Finnern, der dem impliziten Autor die Subjekthaftigkeit abspricht, vgl. Finnern, Narratologie 49: „Der im‐ plizite Autor ist weder ein Sammelbegriff für bestimmte Textstrategien bzw. die Text‐ struktur insgesamt noch ein Sender innerhalb der literarischen Kommunikation und auch kein Subjekt ,hinter' dem Text, sondern das kognitive Modell des Lesers vom Autor“. So auch Fludernik, Erzähltheorie, 24: „De facto ist der Autor über die Fiktion des implied author […] ja schon lang im narratologischen Diskurs verankert gewesen, wobei aller‐ dings kontrovers bleibt, inwieweit der implizite Autor einen Personenstatus hätte.“ 48 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 13. 49 Vgl. Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 14. 50 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 14. narratee, implied reader und real reader verwenden. 43 Realer Autor und realer Leser existieren dabei auch in ihrem Modell außerhalb des Textes und sind daher nicht Gegenstand der narrativen, sondern der historisch-kritischen Analyse. 44 Genau wie Chatman bestimmen sie den impliziten Autor als „the subject of the narrative strategy“ 45 . Der implizite Autor wird ihrer Ansicht nach sichtbar durch die Summe aller Entscheidungen und Erzählstrategien, die im Text getroffen werden. 46 Sie behandeln den impliziten Autor damit - ähnlich wie Chatman - als ein eigenständiges Subjekt, das Entscheidungen innerhalb einer Erzählung trifft. 47 Der Erzähler wird bei Marguerat und Bourqin reduziert auf „the voice which guides the reader in the story“ 48 , der damit die Strategie und die Pläne des impliziten Autors ausführt. Der reale Leser wird bei Marguerat und Bourqin nochmals unterteilt in die ersten Leser und in die heutigen Leser. 49 In Entspre‐ chung zum impliziten Autor definieren sie den impliziten Leser als „the image which has been modelled corresponding to the readership imagined by the au‐ thor in his work of writing: capacities for knowledge, attitudes, preoccupations, reactions which the author […] attributes to his future reader“ 50 . Ihr Erzählmodell weist eine starke Ähnlichkeit zu dem von Chatman auf und lässt sich wie folgt skizzieren: 2.2 Erzählmodelle 23 <?page no="24"?> 51 Eco, Lector, 76. Zur aktuellen Rezeption von Ecos Modell-Leser im Sinne einer idealen Leserschaft vgl. Neumann, Lukas und Menippos, 10-13. 52 Eco, Lector, 95. 53 Eco, Lector, 67. Vgl. hierzu auch Eco, Lector, 76: „Der Modell-Leser ist ein Zusammen‐ spiel glücklicher Bedingungen, die im Text festgelegt worden sind und die zufrieden‐ stellend sein müssen, damit ein Text vollkommen in seinem möglichen Inhalt aktuali‐ siert werden kann.“ 54 Eco, Lector, 77. 55 Vgl. hierzu Eco, Lector, 76. 56 „Natürlich übernimmt der empirische Leser, um sich als Modell-Leser zu verwirklichen, »philologische« Verpflichtungen: so hat er etwa die Pflicht, sich dem Code des Senders so weit wie möglich anzunähern“, Eco, Lector, 78. 2.2.1.4 Eco real. Autor impliziter Autor Erzähler Erzählung Adressat impliziter Leser real. Leser story discourse Abb. 3 Erzählmodell nach Marguerat und Bourqin (eigene Darstellung) Eco geht davon aus, dass ein empirischer Autor einen „hypothetischen Mo‐ dell-Leser“ 51 formuliert, der eine „enzyklopädische Kompetenz“ 52 besitzt und der schließlich vom empirischen Leser aus dem Text rekonstruiert wird. Der empi‐ rische Autor setzt damit in seiner Erzählung einen Modell-Leser voraus, „der in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat“ 53 . Andersherum entwirft der empirische Leser aus dem Text heraus einen Modell-Autor, „den er aus eben den Daten der Textstrategien de‐ duziert.“ 54 Sowohl der Modell-Leser, als auch der Modell-Autor sind dabei jeweils keine Individuen, sondern Textstrategien, die vom empirischen Leser aus dem Text heraus erkannt und rekonstruiert werden können. 55 Im Hinblick auf das Verhältnis des empirischen Lesers zum Modell-Leser macht Eco deutlich, dass der empirische Leser beim Lesen versuchen muss, sich möglichst in den im Text angelegten Modell-Leser und seine enzyklopädische Kompetenz hineinzu‐ denken. 56 Damit ergibt sich hinsichtlich der Kommunikationssituation das folgende Er‐ zählmodell: 2 Methodik 24 <?page no="25"?> 57 Dabei handelt es sich in Wirklichkeit natürlich nicht um einen einzelnen Leser, sondern um eine unendlich große Menge an Lesern, vgl. Schmid, Narratologie, 49. 58 Schmid, Narratologie, 49. 59 Schmid, Narratologie, 61. 60 Vgl. Schmid, Narratologie, 69. 61 Schmid, Narratologie, 69. 2.2.1.5 Schmid empirischer Modell-Autor Modell-Leser empirischer Autor Leser Abb. 4 Erzählmodell nach Eco (eigene Darstellung) Auf der Ebene der Kommunikationssituation einer Erzählung übernimmt Schmid im Wesentlichen das Kommunikationsmodell von Chatman, modifiziert es jedoch an entscheidenden Stellen. Er geht - wie Chatman - von einem realen Autor sowie von einem realen Leser 57 aus, die sich beide außerhalb des Textes befinden und die daher für narratologische Untersuchungen keinerlei Bedeu‐ tung haben. Obwohl der reale Autor außerhalb des Textes existiert, ist er nach Schmid dennoch „auf eine bestimmte Weise präsent.“ 58 Denn der konkrete Leser macht sich beim Lesen des Textes ein bestimmtes Bild vom Autor, von seinen Einstellungen und seiner Person. Dieses Bild bezeichnet Schmid als abstrakter Autor. Als Definition für den abstrakten Autor gibt er „das semantische Korrelat aller indizialen Zeichen des Textes, die auf den Sender verweisen“ 59 , an. Parallel zum abstrakten Autor geht Schmid von einem abstrakten Leser aus, dem er grundsätzlich zwei Funktionen zuschreibt: Zum einen ist der abstrakte Leser ein unterstellter Adressat, an den sich der Text richtet und der aus dem Text und den in ihm enthaltenen Werten, Normen und sprachlichen Codes zu rekonstruieren ist. 60 Zum anderen ist der abstrakte Leser ein idealer Rezipient, „der das Werk auf eine der Faktur optimal entsprechende Weise versteht und jene Rezeptionshal‐ tung und Sinnposition einnimmt, die das Werk ihm nahe legt.“ 61 Darüber hinaus verwendet Schmid den Begriff des fiktiven Erzählers und macht durch die Voranstellung des Wortes „fiktiv“ deutlich, dass es sich beim Erzähler nicht um eine reale Person, sondern um eine fiktive und frei erfundene Größe handelt. Den fiktiven Erzähler teilt er weiter auf in einen impliziten Er‐ zähler, der z. B. hinter der Auswahl von Personen und Redehandlungen steht und von dem sich der reale Leser automatisch ein Bild macht, und in einen expliziten Erzähler, der sich selbst präsentiert und der als Stimme im Text deut‐ 2.2 Erzählmodelle 25 <?page no="26"?> 62 Vgl. Schmid, Narratologie, 72-73. 63 Schmid, Narratologie, 100. 64 Vgl. Schmid, Narratologie, 241-244. 65 Vgl. Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 5-6. 2.2.1.6 Martinez und Scheffel lich wahrnehmbar ist. 62 Auf derselben Ebene wie den fiktiven Erzähler ordnet Schmid den fiktiven Leser ein. Dabei ist der fiktive Leser „der Adressat des fiktiven Erzählers, jene Instanz, an die er seine Erzählung richtet.“ 63 Im Gegensatz zu den vorherigen Erzählmodellen teilt Schmid eine Erzählung in die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzäh‐ lung. Das Geschehen bezeichnet demnach die gesamte, unbegrenzte Situation, die Geschichte steht für die aus dem Gesamtgeschehen getroffene Auswahl von Ereignissen. Als Erzählung versteht Schmid die Komposition dieser selektiven Auswahl aus dem Geschehen; die Verbalisierung der Erzählung bezeichnet er als Präsentation der Erzählung. 64 Sein Erzählmodell lässt sich folgendermaßen darstellen: real. Autor abstr. Autor fiktiv. Erzähler fiktiv. Leser abstr. Leser real. Leser Geschehen Geschichte Erzählung Präsentation der Erzählung Abb. 5 Erzählmodell nach Schmid (eigene Darstellung) Im Gegensatz zu Genette unterteilen Martinez und Scheffel in einer Erzählung lediglich - wie Chatman - die zwei Ebenen Handlung und Darstellung. 65 Dabei umfasst das „was“, also die Handlung, die Elemente Ereignis, Geschehen, Ge‐ schichte und Handlungsschema. Unter dem „wie“, also der Darstellung, fassen sie die beiden bei Genette als eigenständig proklamierten Bereiche Erzählung und Narration. Sie begründen diese Zusammenführung der beiden Bereiche unter die Kategorie Darstellung damit, dass „die ‹Narration› in fiktionaler Rede 2 Methodik 26 <?page no="27"?> 66 Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 24. 67 Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 69. 68 Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 190. 69 „Im Fall der […] fiktionalen Rede ist zwischen einem fiktiven und einem realen Leser zu unterscheiden, wobei der fiktive Leser in Analogie zum fiktiven Erzähler nicht not‐ wendig mit einer bestimmten männlichen oder weiblichen Person gleichzusetzen ist“, Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 190. 70 Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 149-153. Martinez und Scheffel befürworten grund‐ sätzlich eine Berücksichtigung kognitionspsychologischer Erkenntnisse für die Narra‐ tologie. 2.2.1.7 Finnern nicht mehr als die text- und fiktionsinterne pragmatische Dimension der ‹Er‐ zählung› umfasst […], d. h. die zeitliche und räumliche Position des fiktiven Er‐ zählers gegenüber seiner Geschichte“ 66 . Auf der Ebene der Erzählsituation finden sich bei Martinez und Scheffel je‐ doch nur wenige Begriffe. Im Grunde reduzieren sie die Erzählsituation auf die Instanzen realer Autor, Erzähler und Leser. Es gilt: „Der Autor erfindet den Er‐ zähler“ 67 . Der Leser ist dabei der „narrative Adressat“ 68 einer Erzählung und kann in einen fiktiven und in einen realen Leser unterteilt werden. 69 Der Leser ist da‐ rüber hinaus an der Sinnerschließung und Wirkung eines Textes maßgeblich beteiligt, denn die Tätigkeit des Lesers „beschränkt sich […] nicht nur auf das Nachvollziehen logischer Implikationen des explizit Gesagten, sondern sie er‐ gänzt auch aufgrund lebensweltlicher und literaturhistorischer Muster“ 70 . Daraus ergibt sich folgendes Erzählmodell: real. Autor Erzähler Erzählung fiktiver Leser real. Leser Handlung Darstellung Abb. 6 Erzählmodell nach Martinez und Scheffel (eigene Darstellung) In Bezug auf die Unterteilung einer Erzählung schlägt Finnern die ungewöhn‐ liche und hier nicht näher zu erläuternde Einteilung in Umwelt, Handlung, Fi‐ 2.2 Erzählmodelle 27 <?page no="28"?> 71 Vgl. Finnern, Narratologie, 74-75. 72 Finnern, Naratologie, 187. 73 „Der Rezipient einer Erzählung braucht kulturelles und soziales Vorwissen zur Einord‐ nung des Dargestellten, er kann genrespezifische Verstehensstrategien anwenden, er besitzt ein Lesegedächtnis und zeigt Rezeptionsemotionen.”, Finnern, Narratologie, 51. 74 Vgl. Finnern, Narratologie, 52. 75 Vgl. Finnern, Narratologie, 38. Vgl. Auch Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 149-153. 76 Finnern, Narratologie, 38-39. So erwarten wir z. B. bei einem Restaurantbesuch oder bei einem Gottesdienst einen bestimmten Handlungsverlauf. Eine andere Begrifflich‐ keit für das Vorwissen der Leser verwenden Eco und - sich auf ihn beziehend - u. a. Marquerat / Bourqin, die von einer „enzyklopädischen Kompetenz“ sprechen, vgl. Eco, Lector, 94-106. Marquerat / Bourqin, Bible Stories, 133: „In every process of communi‐ cation, the despatcher postulates that the reciever has a stock of knowledge that one can call a personal encyclopaedia. According to Umberto Eco, this linguistic competence ideally comprises a basic dictionary, rules of co-reference […] the faculty to analyse an expression in terms of its context …“. guren, Perspektive und Rezeption vor. 71 Auf der Ebene der Erzählsituation spricht sich Finnern dafür aus, den Begriff des impliziten Lesers durch den Begriff des intendierten Rezipienten zu ersetzen. Er begründet diese Änderung wie folgt: „Die (klassische) Rezeptionsästhetik hat […] mehrere Probleme: Sie geht von einem textimmanenten 'impliziten Leser' aus, bei dem das benötigte Vorwissen und die typischen Verstehensprozesse bei der Lektüre nicht berücksichtigt werden und der deshalb durch das kognitive Konzept des intendierten Rezip‐ ienten ersetzt werden sollte“ 72 . Anstatt als eine rein textimmanente Größe ver‐ steht Finnern den intendierten Rezipienten als eine Vorstellung von der Leser‐ schaft im Kopf des realen Autors. Daher verfügt der vom realen Autor intendierte Leser auch über ein bestimmtes, kulturell bedingtes Vorwissen, auf das der reale Autor gezielt anspielt. 73 Auch erwartet der reale Autor bestimmte Reaktionen bei seinen intendierten Rezipienten und schneidet seine Erzählstrategien auf sie zu. 74 Für die Analyse ist es daher nach Finnern wichtig, den Text historisch zu verorten, um möglichst genau das Vorwissen und die Verstehensprozesse der intendierten Rezipienten zu rekonstruieren. Finnern übernimmt dabei die in der Forschung übliche Einteilung dieses Vorwissens in statische frames und dyna‐ mische scripts. 75 Frames beschreiben die historisch und kulturell bedingten, sich von Kindheit an verfestigenden Vorstellungen, die wir von bestimmten Dingen, wie z. B. einem Vogel, einem Hochhaus etc. haben. Die scripts stellen dagegen das „prozeduale Vorwissen, also welche Ereignisse uns in einer bestimmten Si‐ tuation erwarten […] oder wie man etwas tut“ 76 dar. Zum Verstehen eines Textes und der Leserlenkung des Erzählers ist es daher nach Finnern unumgänglich, die frames und scripts der intendierten Rezipienten zu berücksichtigen. Im Hin‐ blick auf die Figurenanalyse bedeutet dies z. B., dass die intendierten Rezipienten 2 Methodik 28 <?page no="29"?> 77 Finnern, Narratologie, 43. 78 Zur kognitiven und historischen Wende in der Narratologie vgl. Finnern, Narratologie, 36-46. 79 „Wenn die Narratologie also wissen will, wie eine Erzählung tatsächlich funktioniert, wie sie Figuren darstellt, mit Vorurteilen spielt, Sympathien lenkt, für Spannung sorgt, darf sie die kognitiven Verstehensbedingungen nicht länger ausblenden.”, Finnern, Nar‐ ratologie, 37. 80 Finnern, Narratologie, 49. 81 „Der 'Tod des Autors' kann als überwunden angesehen werden.”, Finnern, Narratologie, 50. 82 Finnern, Narratologie, 54. Für eine Trennung von Erzähler und realem Autor spricht sich dagegen u. a. Fludernik, Erzähltheorie, 71, aus: „die von diesen Erzählern geäu‐ ßerten Ansichten sind nicht dem Autor anzulasten.“ 83 Finnern, Narratologie, 54. bereits eine bestimmte Vorstellung von den Figuren haben, auch wenn diese zum ersten Mal erwähnt werden. Denn aus „kognitiver Sicht funktioniert die Figurenrezeption nach demselben Muster wie die reale Personenwahrnehmung. Der Rezipient setzt sich dabei auch mit inhaltlichen Standpunkten der Figuren auseinander.“ 77 Die von Finnern vertretene Berücksichtigung von historischen und kultur‐ ellen Kenntnissen der intendierten Rezipienten kann als eine Folge der kognitiven und historischen Wende 78 angesehen werden. 79 Ebenso kritisiert Finnern den - wiederum textimmanenten - Begriff des impliziten Autors und schlägt dagegen vor, ihn als das „kognitive Modell des Lesers vom Autor - ähnlich dem mentalen Modell, das sich der Leser von Figuren der Erzählung macht“ 80 zu verstehen. Auch der in der bisherigen Narratologie weitgehend ausgeklammerte reale Autor gewinnt bei Finnern wieder an Beachtung. 81 Darüber hinaus definiert er das Verhältnis zwischen dem realen Autor und dem Erzähler neu: „Der Autor einer Erzählung ist zunächst immer selbst ein Erzähler.“ 82 In den Fällen, in denen auch in fiktionalen Erzählungen realer Autor und Erzähler nicht merkbar aus‐ einandertreten, hält Finnern eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Größen, wie u. a. Genette sie durchführt, für künstlich und „unsinnig“ 83 . Es gibt somit nach Finnern einen realen Autor, der gleichzeitig auch der Erzähler ist. Die realen Rezipienten erhalten durch den Text ein Bild des Erzählers / Autors. Der reale Autor / Erzähler kann sich jedoch auch eine von ihm abweichende Erzäh‐ lerfigur konstruieren und sich an bestimmte (fiktive) Adressaten wenden. Dabei hat der reale Autor / Erzähler stets ein Bild der Rezipienten mit einem bestimmten Vorwissen vor Augen, auf die er seine Erzählstrategie abstimmt. Finnerns Erzählmodell lässt sich somit folgendermaßen veranschaulichen: 2.2 Erzählmodelle 29 <?page no="30"?> 84 Fludernik, Erzähltheorie, 32. 85 Vgl. Fludernik, Erzähltheorie, 36. 86 Fludernik, Erzähltheorie, 37. 87 Fludernik, Erzähltheorie, 37. 2.2.1.8 Fludernik real. Bild des A./ E. Erzählerfigur Erzählung Adressat intendierter real. Umwelt Handlung Figuren Perspektive Rezeption Rezipient Rezipient Autor/ Erzähler Abb. 7 Erzählmodell nach Finnern (eigene Darstellung) Eine Erzählung unterteilt Fludernik grundsätzlich in zwei Ebenen: Die „Ebene der dargestellten Welt (die Geschichte) und die Ebene der Vermittlung“ 84 , womit sie sich Chatmans Zweiteilung in story und discourse anschließt. Hinsichtlich der Kommunikationssituation in einer Erzählung lehnt sie sich ebenfalls stark an Chatman an und unterscheidet verschiedene Erzählebenen von innen nach außen: Im Inneren, im Kern einer Erzählung, befindet sich dem‐ nach eine Erzählfigur, die einer textinternen Leserfigur etwas mitteilt. 85 Ganz außen befinden sich ein realer Autor sowie ein realer Leser. In der Mitte unter‐ scheidet sie mit Chatman zwischen einem impliziten Autor und einem impliziten Leser. Dabei ist der implizite Autor ihrer Ansicht nach „in Wirklichkeit keine Figur, sondern ein Leser / Interpreten-Konstrukt, das den Sinn des Werkganzen in eins fasst.“ 86 Parallel dazu ist für sie der implizite Leser ein „Konstrukt des Interpreten, der eine Rezeptionshaltung aus dem Werk abliest.“ 87 Fluderniks Erzählmodell, das sich stark an das Modell von Chatman anlehnt, kann wie folgt skizziert werden: 2 Methodik 30 <?page no="31"?> 2.2.2 2.2.2.1 Erzählmodell real. Autor impliziter Autor Erzählung impliziter Leser real. Leser Geschichte Vermittlung Erzählerfigur textint. Leser Abb. 8 Erzählmodell nach Fludernik (eigene Darstellung) Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell Im Folgenden soll nun das bei der in dieser Arbeit durchgeführten Figurenana‐ lyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium als Basis dienende und sich aus den im Vorhergehenden vorgestellten Modellen zusammenset‐ zende Erzählmodell kurz skizziert werden. Anschließend werden die verwen‐ deten Begrifflichkeiten erklärt. Die im Vorangehenden kurz dargestellten Erzählmodelle haben m. E. jeweils ihre Stärken und Schwächen. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit durchgeführte Figurenanalyse des Auferstandenen scheint daher eine Kombination aus ver‐ schiedenen Modellen sinnvoll zu sein. Hinsichtlich der Einteilung einer Erzählung in verschiedene Ebenen schließe ich mich Chatman, Marguerat / Bourqin, Martinez / Scheffel und Fludernik an, die jede Erzählung grundsätzlich in das, was erzählt wird, und in das, wie etwas erzählt wird, also in Handlung und Darstellung einteilen. Die von Genette als Narration bezeichnete Situation des Erzählens sowie die von Schmid als Prä‐ sentation der Erzählung bezeichnete Verbalisierung der Erzählung kann m. E. zu Recht mit Martinez und Scheffel zu dem Bereich der Darstellung gezählt werden, da der Erzähler maßgeblich daran beteiligt ist, wie etwas erzählt wird. Hinsichtlich der Kommunikationssituation dient mir das Erzählmodell von Chatman als Basis, der den realen Autor aus der narrativen Untersuchung aus‐ klammert und den Adressaten als nicht konstitutiv, sondern optional beschreibt. Anders als Chatman setze ich jedoch den Erzähler als konstitutiv voraus, da m. E. eine Erzählung niemals ohne Erzähler sein kann. Auch trenne ich den Erzähler - im Gegensatz zu Finnern - vom realen Autor, da es zwar große Über‐ einstimmungen zwischen diesen beiden Größen geben kann, sie jedoch in einer Erzählung (anders als in einer Autobiographie) nicht automatisch identisch sind. Zudem verwende ich in meinem Erzählmodell nicht den bei Chatman und Mar‐ 2.2 Erzählmodelle 31 <?page no="32"?> 88 Hartenstein, Charakterisierung, 31. 89 Marquerat / Bourquin, Bible Stories, 12. 2.2.2.2 Begriffsklärungen 2.2.2.2.1 guerat / Bourqin als Summe aller Erzählstrategien verstandenen Begriff impli‐ ziter Autor, sondern verzichte wie Genette bewusst auf diese Größe, da sie sich in Erzähltexten nur schwer vom Erzähler abgrenzen lässt und daher nicht we‐ sentlich zur Erzähltextanalyse beiträgt. Auch wird der Begriff des impliziten Lesers in Anlehnung an Finnern gegen den Begriff des intendierten Rezipienten getauscht, der jedoch inhaltlich Schmids Zweiteilung in einen unterstellten Ad‐ ressaten und in einen idealen Rezipienten sowie Ecos Modellleser folgt. Die Ent‐ scheidung für die Verwendung dieser Begriffe wird im Folgenden jeweils er‐ läutert. Es ergibt sich daher als Grundlage für diese Arbeit folgendes Erzählmodell: real. Autor Erzähler Erzählung (Adressat) intendierter real. Leser Rezipient Handlung Darstellung Abb. 9 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell (eigene Darstellung) Realer Autor Der reale Autor ist eine historische Person oder eine Gruppe, die den Text pro‐ duziert hat, sich dabei folglich außerhalb des Textes befindet. Für alle Erzäh‐ lungen gilt: „Alle Texte sind von realen AutorInnen verfasst und werden von realen LeserInnen gelesen.“ 88 Sie und ihr Umfeld zu ergründen ist Aufgabe der historisch-kritischen Exegese. Der reale Autor existiert „outside the text, inde‐ pendently of the text, and can only be reconstructed by historical hypothesis.“ 89 2 Methodik 32 <?page no="33"?> 90 Dagegen stellt besonders Finnern wieder die Bedeutung des realen Autors für narra‐ tologische Untersuchungen heraus, vgl. Finnern, Narratologie, 50. In seinem Erzähl‐ modell setzt er den realen Autor mit dem Erzähler gleich und misst ihm dadurch einen hohen Stellenwert innerhalb narratologischer Untersuchungen bei: „Vielmehr sollte der Autor m. E. in allen Fällen selbst als Erzähler […] angesehen werden“, Finnern, Narra‐ tologie, 54-55. 91 Vgl. Schmid, Narratologie, 49. Marguerat und Bourqin unterscheiden zwei Arten von realen Lesern: Zum einen die damalige Leserschaft (Erstleser), zum anderen die heu‐ tigen Leser, vgl. Marquerat / Bourquin, Bible Stories, 15. Eine solche Zweiteilung be‐ wirkt jedoch eine Verengung der realen Leserschaft, da die realen Leser „zwischen“ den Erstlesern und den gegenwärtigen Lesern in dieser Zweiteilung nicht berücksichtigt werden. 92 So auch Bennema, A Theory of Character, 70: „It must be obvious that the knowledge‐ able first-century reader I speak of is me. That is, I construct and am this plausible historically informed reader. […] I read the ancient narrative as this constructed reader.” 2.2.2.2.2 Daher ist er für die narrative Figurenanalyse von keiner Bedeutung. 90 Wer der reale Autor des Matthäusevangeliums und wer der reale Autor des Lukasevan‐ geliums war, in welchen sozialen und kulturellen Umwelten sie ihre Evangelien geschrieben haben, welche Quellen sie dabei verarbeitet haben und wie sie dabei vorgegangen sind, fällt nicht in den Bereich der Narratologie. Realer Leser Beim realen Leser verhält es sich ähnlich wie beim realen Autor: Auch er befindet sich generell außerhalb des Textes. Dabei handelt es sich nicht um eine einzelne Person, sondern um eine unendlich große Anzahl an Menschen, die zu allen Zeiten den Text gelesen haben, lesen und lesen werden (die also später einmal zu realen Lesern werden). 91 Zu rekonstruieren, wer die damaligen Erstleser des Evangeliums waren, auf die der reale Autor sein Evangelium zugeschnitten hat, und wo das Evangelium seinen „Sitz im Leben“ gehabt hat, ist nicht Gegenstand der Narratologie. Denn was im Kopf der Erstleser beim Lesen des Textes vorge‐ gangen ist, welches Vorwissen und welche Verstehensprozesse sie an den Tag legten, kann nicht mehr rekonstruiert werden, da die realen Erstleser sowie der reale Autor im Dunkeln liegen. Dennoch bin ich als reale Leserin natürlich faktisch an der Erzählung beteiligt, da ich mit meinen kognitiven Verstehens-Prozessen und aus meiner Lebenswelt heraus den Text wahrnehme. 92 Bei dieser Wahrnehmung versuche ich jedoch, anhand bestimmter Textsignale die vom Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten und seine vom Text intendierten Reaktionen) zu rekon‐ 2.2 Erzählmodelle 33 <?page no="34"?> 93 Dass es sich beim intendierten Rezipienten letztlich um ein Konstrukt und Bild des realen heutigen Lesers als des Interpreten handelt, macht auch Fludernik deutlich, vgl. Flu‐ dernik, Erzähltheorie, 37: „Parallel dazu ist der implizite Leser […] ein Konstrukt des Interpreten, der eine Rezeptionshaltung aus dem Werk abliest.“ 94 Vgl. Eco, Lector, 78. 95 Vgl. Hierzu auch Iser, Impliziter Leser, 9, der den impliziten Leser als den „im Text vor‐ gezeichnete[n] Aktcharakter des Lesens“ beschreibt. 96 Dagegen stellen einige (neuere) narratologische Ansätze im Blick auf biblische Texte besonders den realen Leser und seine Rezeption der Erzählung in den Vordergrund, vgl. u. a. Zimmermann, R.: Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopo‐ etik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004, der im Blick auf die Christologie des Johannesevangeliums einen wirkungsästhetischen Ansatz vertritt, bei dem es v. a. um die „Wechselwirkung zwi‐ schen dem Text und dem (jeweiligen) Leser“ geht (Zimmermann, Christologie, 25). Ähnlich auch Körtner, der von einem durch den Geist Gottes inspirierten Leser spricht, vgl. Körtner, Der inspirierte Leser, 16: „Der Sinn der biblischen Texte konstituiert sich neu in solchen Akten des Lesens, in welchen ihr Leser sich selbst in einer Weise ver‐ stehen lernt, welche die Sprache der christlichen Tradition als Glauben bezeichnet.“ 97 So z. B. in der Erzähltheorie von Chatman, Marguerat / Bourqin und Fludernik. 98 Vgl. Finnern, Narratologie, 49-51. „Den impliziten Leser kann man in Entsprechung zum impliziten Autor neu definieren, nämlich als die Vorstellung, die ein Autor von seiner möglichen Leserschaft und ihren (gewünschten oder befürchteten) Reaktionen auf den Text hat.“, Finnern, Narratologie, 51. 99 Schmid, Narratologie, 65. 2.2.2.2.3 struieren. 93 Eco spricht dabei sogar von einer gewissen Verpflichtung des realen Lesers, sich dem Code und dem Verstehenshorizont des Modell-Lesers so weit wie möglich anzunähern. 94 Darüber hinaus enthält der Text selbst Lese-Anwei‐ sungen für eine im Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezip‐ ienten) und es geht dabei darum, diese Anweisungen aufzuzeigen, damit sich der reale Leser im Spielraum dieses intendierten Rezipienten bewegen kann. 95 Der intendierte Rezipient ist damit eine vom Text angebotene Lese-Rolle, die vom realen Leser eingenommen werden kann, auch wenn diese natürlich im Ein‐ zelnen von realen Lesern unterschiedlich eingenommen wird. 96 Intendierter Rezipient In meinem Erzählmodell verwende ich anstelle des in vielen Erzähltheorien be‐ gegnenden Begriffs impliziter Leser 97 in sprachlicher Anlehnung an Finnern den Begriff intendierter Rezipient. Finnern versteht jedoch unter diesem Begriff das kognitive Bild, das sich der reale Autor von seinem Leser gemacht hat. Parallel dazu existiert bei ihm das Bild, das sich der reale Leser vom Autor macht. 98 Jedoch muss mit Schmid bemerkt werden, dass hier „eine verführerische Symmetrie“ 99 naheliegt. Denn der Schwachpunkt an Finnerns Konzept des intendierten Re‐ zipienten besteht m. E. darin, dass wir in den Kopf des realen Autors nicht mehr 2 Methodik 34 <?page no="35"?> 100 Vgl. Schmid, Narratologie, 66. 101 Vgl. Schmid, Narratologie, 65-71. Schmid verwendet jedoch die Bezeichnung abstrakter Leser. 102 Für das MtEv wird in dieser Arbeit eine Entstehung um 80 / 90 n. Chr. im Raum Syrien angenommen. Das LkEv wird zeitlich ebenfalls um 80 / 90 n. Chr. verortet, jedoch be‐ steht in der Forschung Uneinigkeit bezüglich des Abfassungsortes, vgl. Schnelle, Ein‐ leitung, 291; 315-316. Vgl. auch Ebner / Schreiber, Einleitung, 147; 199-200. 103 Vgl. Eco, Lector, 94-95. 104 Vgl. Finnern, Narratologie, 43-44. Vgl. auch sein ausführliches Kapitel über die Rezept‐ ionsanalyse vgl. Finnern, Narratologie, 186-245. hineinschauen können und dass wir daher nicht wissen, welches Bild vom Leser sich der reale Autor gemacht hat. 100 Diese „doppelte Brechung“ des Rezipienten als mentales Konstrukt eines im Dunkeln liegenden realen Autors scheint mehr als problematisch zu sein. Der intendierte Rezipient ist daher in meinem Erzähl‐ modell nicht der vom realen Autor, sondern der vom Text intendierte Rezipient. Der intendierte Rezipient nimmt dabei in meinem Erzählmodell zwei von Schmid 101 herausgearbeitete Funktionen wahr: Er ist zum einen der unterstellte Adressat, der vom realen Leser durch die Wortwahl des Erzählers und die von ihm verwendeten sprachlichen und kulturellen Codes rekonstruiert werden kann. Über die unterstellten Adressaten des Matthäusevangeliums kann z. B. ge‐ sagt werden, dass sie wahrscheinlich mit alttestamentlichen Texten vertraut waren, da der Erzähler an vielen Stellen alttestamentliche Zitate anbringt. Gleichzeitig ist der intendierte Rezipient aber auch ein idealer Rezipient, der jede Anspielung im Text versteht, ein Lesegedächtnis besitzt und über ein be‐ stimmtes (historisches und kulturelles) Vorwissen verfügt. Der Text selbst und mit ihm der im Text intendierte Rezipient wird somit historisch sowohl im Mat‐ thäusals auch im Lukasevangelium im 1. Jhd. n. Chr. verortet. 102 Das mögliche Vorwissen des intendierten Rezipienten wird daher in den Fällen mit berück‐ sichtigt, in denen der Text ein solches (historisches oder kulturelles) Wissen vorauszusetzen scheint und gezielt darauf anspielt. Dabei beziehe ich mich in diesem Punkt auf Eco und seinen Modelleser, der über ein bestimmtes, kulturell geprägtes enzyklopädisches Wissen verfügt. 103 Darüber hinaus werden bei der Analyse des Textes das Lesegedächtnis des intendierten Rezipienten (das die vor‐ hergehenden Kapitel des Matthäus- oder des Lukasevangeliums umfasst) sowie seine wahrscheinlichen und im Text intendierten Reaktionen und Rezeptionse‐ motionen (wie Empathie, Sympathie, Antipathie, Spannung, Furcht, Freude, Humor) 104 stets mit berücksichtigt. 2.2 Erzählmodelle 35 <?page no="36"?> 105 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 61-62. 106 Einen guten Überblick über die verschiedenen Erzählformen bietet Fludernik, Erzähl‐ theorie, 42-44. 107 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanlyse, 64-65. 108 Fludernik, Erzähltheorie, 37. 109 Ein solcher eingreifender Kommentar findet sich z. B. in Mt 28,15b. 110 Genette, Erzählung 119. 111 Der Begriff Fokalisierung wurde von Genette geprägt und bezeichnet die Position und Perspektive des Erzählers, an die sein Wissen und seine Wahrnehmungen geknüpft sind, vgl. Genette, Erzählung, 134-138. So auch Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 104- 110. Kritik daran begegnet u. a. von Schmid, Narratologie, 117-119. 2.2.2.2.4 Erzähler Der reale Autor einer Erzählung schafft sich einen Erzähler, der dann eine Er‐ zählung auf eine bestimmte Art und Weise erzählt. Jeder Erzähltext verfügt somit über einen Erzähler, auch wenn er oft auf den ersten Blick nicht deutlich erkennbar ist. Der Erzähler ist eine fiktive, imaginäre Figur des textexternen Au‐ tors und damit gleichzeitig „das vermutlich wesentlichste Formprinzip von Er‐ zähltexten.“ 105 Der Erzähler begegnet in einer bestimmten Erzählform (z. B. Ich-Erzählung, Er / Sie- Form). 106 Für den Erzähler des Matthäusevangeliums gilt durchweg die Er / Sie-Form, der Erzähler des Lukasevangeliums erzählt jedoch in seiner Ein‐ leitung zunächst in der Ich-Form und wechselt dann in die Er / Sie-Erzählung. Besonders Erzähler, die selbst im Text als Figur auftreten, besitzen oft ein per‐ sönliches Profil (Name, Geschlecht, Alter etc.). 107 Darüber hinaus zeigt der Erzähler ein bestimmtes Erzählverhalten: aukto‐ rial, personal oder neutral. Bei allen gilt jedoch: „Er präsentiert die erzählte Welt.“ 108 Beim auktorialen Erzählverhalten (wie es sich im Matthäus- und im Lukasevangelium findet) überblickt der Erzähler das Geschehen und greift durch Kommentare wie z. B. Hinweise für die Leser, Urteile über Personen etc. in die Erzählung ein. 109 Der Erzähler leitet den Leser durch die Erzählung. Beim per‐ sonalen Erzählverhalten schildert der Erzähler die Geschichte aus der Perspek‐ tive einer Person, wobei er zwischen verschiedenen Personen wechseln kann. Der Erzähler weiß dabei nur so viel, wie die Person weiß. Das objektive Erzähl‐ verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass der Erzähler sachlich und ohne jegliche Kommentare das Geschehen berichtet. Aber auch bei einem (scheinbar) objek‐ tiven Erzählverhalten gilt folgendes: „Der Erzähler ist anwesend als Quelle, Ga‐ rant und Organisator der Erzählung, als ihr Analytiker und Kommentator, als Stilist“ 110 . Des Weiteren nimmt der Erzähler einen bestimmten Erzählstandpunkt und eine Fokalisierung ein. 111 Er kann in großer Nähe zum Geschehen stehen oder 2 Methodik 36 <?page no="37"?> 112 „Ein offener Erzähler (overt narrator) liegt vor, wenn der Text in einem gewissen Umfang Spuren des Erzählers enthält, […] Von einem verborgenen Erzähler (covert narrator) wird hingegen gesprochen, wenn die Erzählung sich scheinbar selbst erzählt“, Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 63. Vgl. auch Finnern, Narratologie, 177-178. 113 Vgl. Genette, Erzählung, 136: „Der Fokalisierungstyp erstreckt sich also nicht immer über ein ganzes Werk, sondern eher über ein bestimmtes narratives Segment“. 114 Die Nullfokalisierung bezeichnet eine Erzählsituation, in der der Erzähler über unein‐ geschränktes Wissen über alle Figuren verfügt und insgesamt mehr als alle Figuren weiß. Bei der Internen Fokalisierung ist das Wissen des Erzählers an eine bestimmte Figur gebunden, aus deren Blickwinkel erzählt wird. Bei der Externen Fokalisierung weiß der Erzähler weniger, als die Figur weiß, er schildert also nicht das Innenleben und die Gedanken einer Figur, vgl. Genette, Erzählung, 134-135. 115 Zur Haltung und zum ideologischen Standpunkt des Erzählers vgl. Finnern, Narrato‐ logie, 180-184. 116 Finnern, Narratologie, 180. 117 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 161-165. Als Beispiele für Sympathielenkung nennen sie äußerliche Merkmale einer Figur, Erzählerkommentare, Wiedergabe ihrer Gedanken, aber auch Spannung und das „Mitfiebern“ mit der Figur. Eine ausführliche Beschreibung der Sympathie-, Empathie- und Antipathielenkung bietet Finnern, Nar‐ ratologie, 193-197. 118 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 136-138. auch aus einer starken Distanz heraus erzählen. In der Narratologie spricht man von einem offenen und einem verborgenen Erzähler. 112 Die Fokalisierung kann dabei innerhalb einer Erzählung wechseln. 113 Genette kennt insgesamt drei Formen der Fokalisierung: Nullfokalisierung, Externe Fokalisierung und Interne Fokalisierung. 114 Man kann die Wahl des Erzählstandortes mit der Wahl der Ka‐ meraeinstellung im Film vergleichen. In einigen Szenen „zoomt“ die Kamera an Personen heran, schildert ihre Gefühle und ihre Sicht, im nächsten Moment wird das Geschehen aus einer Weitwinkel-Einstellung heraus präsentiert und der Zuschauer erhält einen Gesamtüberblick über das Geschehen. Außerdem zeigt der Erzähler eine bestimmte Erzählhaltung: Er kann sich affirmativ, begeistert, neutral, humorvoll, ironisch, skeptisch, distanziert oder ablehnend zu dem von ihm Erzählten verhalten. 115 „Die Überzeugungen, Normen und Werte des Erzählers werden auf verschiedene Weise […] zum Aus‐ druck gebracht.“ 116 Durch gezielte Informationsvergabe steuert er die Leseraf‐ fekte und erzielt somit bei den Lesern Sympathie, Antipathie, Empathie, etc. in Bezug auf bestimmte Figuren. 117 Auch unterliegt der Erzähler einer bestimmten Erzählzeit, da der Akt des Erzählens selbst Zeit benötigt. Diese steht der erzählten Zeit, die die Zeit der erzählten Geschichte und der Handlung bezeichnet, gegenüber. 118 Er nimmt da‐ rüber hinaus einen bestimmten zeitlichen Standpunkt ein, indem er z. B. von 2.2 Erzählmodelle 37 <?page no="38"?> 119 Vgl. Finnern, Narratologie, 176-177. Sowie Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 69-75. 120 „Wenn wir von der […] Präsentation von ‹Worten› in einer Erzählung sprechen, so meinen wir damit all das, was eine Figur im Rahmen der erzählten Geschichte spricht oder denkt.“, Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 51. 121 Wobei hier nochmals unterschieden werden kann zwischen einer autonomen direkten Rede, die lediglich in Anführungszeichen gesetzt wird und ohne Einleitung auskommt und einer direkten Rede, die vom Erzähler mit der Inquit-Formel eingeleitet wird und die in den Evangelien die Regel darstellt. 122 Zum Drei-Stufen-Modell der Redewiedergabe vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 120-122. 123 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 118-119. 124 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 126-128. 125 Marquerat / Bourquin, Bible Stories, 15. 126 Vgl. Chatman, story, 150. 127 So u. a. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 96-97. 2.2.2.2.5 Geschehnissen in der Vergangenheit - also im Präteritum - berichtet oder von Dingen in der Gegenwart oder Zukunft spricht. 119 Darüber hinaus wählt der Autor eine Darbietungsform der Erzählung: Ent‐ weder behält der Erzähler die gesamte Erzählung hindurch das Wort (Erzählbe‐ richt oder auch Erzählung von Ereignissen) oder er lässt auch seine Figuren sprechen (direkte Figurenrede oder auch Erzählung von Worten 120 ). Bei der Fi‐ gurenrede kann unterteilt werden in direkte Wiedergabe (szenisches Er‐ zählen) 121 , indirekte Wiedergabe (indirekte Rede) und erzählte Figurenrede. 122 Die anglo-amerikanische Erzähltheorie prägte hierfür die Begriffe telling und showing, wobei telling die Erzählerrede und showing die Figurenrede / Handlung bezeichnet. 123 Analog zur Figurenrede verhält es sich auch mit den Gedanken einer Figur. So können sie zitiert werden (z. B. in Form eines inneren Monologs oder eines Gedankenzitats), transportiert werden (z. B. in Form einer indirekten Gedankenrede) oder erzählt werden (z. B. als Gedankenbericht). 124 Generell gilt dabei: Indem der Erzähler die Figuren innerhalb der Erzählung sprechen und agieren lässt, befindet er sich auf einer anderen, übergeordneten Ebene als die Figuren. Adressat Der Adressat kann bezeichnet werden als „the narrative authority to whom the narrator addresses his narrative.“ 125 In vielen Fällen ist jedoch kein (expliziter) Adressat im Text selbst genannt. 126 Dagegen wird von einigen Literaturwissen‐ schaftlern die Ansicht vertreten, der Adressat sei ebenso konstitutiv für eine Erzählung wie der Erzähler. 127 Dabei unterscheiden sie aber zwischen einem Adressaten, der ein deutliches Profil aufweist und einem, der nicht existent zu sein scheint. Der Adressat, der kein deutliches Profil aufweist, kann jedoch m. 2 Methodik 38 <?page no="39"?> 128 Der Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4) wird an dieser Stelle stärker im Sinne einer Widmung verstanden, da der Text selbst ab Lk 1,5 keine Adressatenorientierung mehr zu erkennen gibt. 129 So auch Chatman, Martinez / Scheffel, Marguerat / Bourqin und Fludernik. Dagegen un‐ terscheidet Genette zwischen Geschichte, Erzählung und Narration, dem sich u. a. Rimmon-Kenan anschließt. Auch Bal nimmt eine Dreiteilung in story, text und fabula vor. Schmid teilt eine Erzählung sogar in die vier Bereiche Geschehen, Geschichte, Er‐ zählung und Präsentation der Erzählung auf. Finnern lehnt eine solche Einteilung grund‐ sätzlich ab. Lahn / Meister unterscheiden die Bereiche Story, Diskurs und Erzähler. 130 Martinez / Scheffel charakterisieren die kleinste Erzähleinheit Motiv folgendermaßen: „Formal gesehen, sind sie nämlich aus Subjekt und Prädikat zusammengesetzt, wobei als Subjekte Gegenstände oder Personen und als Prädikate Geschehnis- Handlungs- Zustands- und Eigenschaftsprädikate verwendet werden können.“, Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 108. Ebenso Finnern, Narratologie, 89. Das bedeutet, dass bereits die Satzeinheit „einige aber zweifelten“ (Mt 28,17b) ein Motiv / Ereignis darstellt. Lahn / Meister nennen dagegen als kleinste Einheit das Geschehnis, das eine unauffällige Zu‐ standsveränderung, wie „sich verlieben“, darstellt. Als Ereignis charakterisieren sie eine im Kontext auffällige Zustandsveränderung, vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 213. 131 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 213. 132 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 213. 133 Vgl. Finnern, Narratologie, 99-108. 2.2.2.2.6 E. ebenso gut mit dem intendierten Rezipienten, der neben der Funktion des idealen Rezipienten ja auch die Funktion des unterstellten Adressaten einnimmt, gleichgesetzt werden. Dadurch wird der Begriff Adressat in dem von mir ver‐ wendeten Erzählmodell auf einen im Text selbst explizit genannten Adressaten beschränkt, der im Fall des Matthäus- und des Lukasevangeliums nicht existent ist. 128 Handlung Jede Erzählung lässt sich grundsätzlich in zwei Ebenen aufteilen: In das, „was“ erzählt wird, also die Handlung, und in das, „wie“ etwas erzählt wird, also die Darstellung. 129 Jede Handlung besteht dabei aus einer Aneinanderkettung ver‐ schiedener Ereignisse oder Motive; sie stellen die kleinste Einheit innerhalb einer Erzählung dar. 130 Die „chronologische Gesamtsequenz aller Geschehnisse und Ereignisse“ 131 wird als Geschehen bezeichnet. Die Geschichte ist die Teilmenge aus dem Geschehen, die für die Bedeutung der Erzählung relevant ist. 132 Darüber hinaus kann eine Handlung eine Struktur aufweisen, ein Schema abbilden oder einem bestimmten Verlauf folgen. 133 2.2 Erzählmodelle 39 <?page no="40"?> 134 „Even if the narrator is taking a well-known plot [for example Little Red Riding Hood], he forms a narrative in his own distinctive style. He will accentuate the cruelty of the wolf or create auxiliary characters. […] The story of Little Red Riding Hood can be told in a summary. The discourse is the form given to the narrative by the narrator […] which in turn implies a choice of structure, style and disposition.”, Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 18. 135 Vgl. z. B. die unterschiedliche Darstellung derselben Handlung „Jesus zieht nach Jeru‐ salem ein“ im Markusevangelium und im Johannesevangelium. 136 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 101-197. Martinez / Scheffel zählen zur Darstel‐ lung die Bereiche Zeit, Modus und Stimme, vgl. Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 27- 89. 2.2.2.2.7 2.3 Darstellung Der Begriff Darstellung bezeichnet, wie und auf welche Art und Weise eine Handlung dargestellt wird. Dieselbe Handlung kann auf viele unterschiedliche Arten und Weisen geschildert werden 134 , was z. B. im Vergleich der Evangelien deutlich wird. 135 Dabei machen Martinez / Scheffel zu Recht deutlich, dass die Erzählerfigur unter den Bereich der Darstellung fällt und nicht extra aufgelistet werden muss. Zum Bereich der Darstellung gehören somit u. a. Aspekte wie die Wortwahl des Erzählers, die dargestellte Umwelt, die charakterisierten Figuren, die erzählte Zeit und der (ideologische) Erzählerstandpunkt. 136 Figurenanalyse Die Analyse literarischer Figuren ist eine von mehreren Kategorien der narra‐ tologischen Analyse von Texten. Obwohl der Figurenanalyse besonderes Ge‐ 2 Methodik 40 <?page no="41"?> 137 Narrative Texte kommen nicht ohne Figuren aus, sie sind gewissermaßen die Seele einer Erzählung. „Zu einer Erzählung gehören immer Figuren, die handeln oder an denen etwas geschieht“, Finnern, Narratologie, 125. 138 So klammert z. B. Genette sie in seiner Untersuchung der Erzählung aus, vgl. Genette, Erzählung, 283. Von Rimmon auf diesen Mangel angesprochen, äußert sich Genette folgendermaßen: „Doch ich bedauere nicht, sie verpönt zu haben bzw. von meiner Warte aus gar nicht an sie gedacht zu haben, weil sie mir einer Sache, die nur ein 'Effekt' unter anderen ist, zuviel zu konzedieren scheint“, Genette, Erzählung, 283. Auch in der Ein‐ führung in die Erzähltheorie von Martinez und Scheffel wird sie nicht erwähnt. Eder erklärt die Zurückhaltung gegenüber der Analyse von Figuren wie folgt: „Die Vernach‐ lässigung der Figur ist auf viele verschiedene Gründe zurückgeführt worden: auf eine Zuwendung der Forschung zum allgemein Strukturellen, die eine komplementäre Ab‐ wendung vom Individuellen mit sich brachte; auf ein verbreitetes Misstrauen gegenüber der Psychologie, Personalität oder Moralität; auf den formalistischen Modernismus in den Künsten, der die Figuren reduziert; auf die Verbrauchtheit figurenzentrierter In‐ terpretationen; auf die Schwierigkeit, Figurentheorie nach wissenschaftlichen Kriterien zu betreiben; […]. Vielleicht liegt die Zurückhaltung der Forscher aber zu einem guten Teil auch am Gegenstand.“, Eder, Figur, 39-40. 139 Einen kurzen Überblick hierzu bietet Poplutz, Welt, 62-67. 140 Eder, Figur, 64. 141 Eder, Figur, 108. 142 Poplutz, Welt, 63. 143 Vgl. Poplutz, Welt, 63. Es können damit auch nicht-menschliche Wesen wie Engel, Dä‐ monen oder der Teufel als Figur bezeichnet werden. wicht beizumessen ist 137 , stand sie bislang nicht sonderlich im Fokus narratolo‐ gisch orientierter Arbeiten. 138 In der Forschung existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine Figur ist und was sie ausmacht. 139 Als ein Beispiel sei Eders Definition einer Figur genannt: „Eine Figur ist ein wiedererkennbares fiktives Wesen mit einem In‐ nenleben - genauer: mit der Fähigkeit zu mentaler Intentionalität“ 140 . Die Figu‐ renanalyse kann damit als „systematische Untersuchung einzelner Figuren sowie aller vorwiegend auf sie bezogenen Aspekte fiktionaler Texte, Rezeptions- und Kommunikationsvorgänge“ 141 beschrieben werden. Mit Poplutz muss je‐ doch zusätzlich deutlich gemacht werden, dass nicht nur Menschen als Figuren bezeichnet werden können, sondern „alle anthropomorphisierten Wesen oder Objekte“ 142 , die die Merkmale Handeln und / oder Sprechen aufweisen. 143 Der Auferstandene ist im Rahmen des Matthäus- und Lukasevangeliums eine bewusst gestaltete und in einer bestimmten Art und Weise dargestellte literari‐ sche Figur innerhalb einer Erzählung und wird daher in einer narrativen Figu‐ renanalyse bewusst auch als solche behandelt. Auch Finnern macht dies deut‐ lich: „Für die narratologische Untersuchung einer Erzählung ist es unwichtig, 2.3 Figurenanalyse 41 <?page no="42"?> 144 Finnern, Narratologie, 56. 145 Forster, E. M.: Aspects of the Novel, London 1990. 146 Vgl. Forster, Novel, 73. 147 Vgl. Forster, Novel, 74-75. 148 Forster, Novel, 73. 2.3.1 2.3.1.1 Figurenanalyse in der Literatur- und Filmwissenschaft wie stark sich die Erzählung an existierende Personen […] oder historische Ereignisse anlehnt.” 144 Vorgehensweisen der Figurenanalyse in verschiedenen Bereichen In der aktuellen Forschung zur Figurenanalyse existieren verschiedene Ansätze und Kategorien, nach denen eine Figur im Erzähltext analysiert wird. Im Fol‐ genden wird ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Methoden ge‐ geben. Dabei werden zunächst einige grundlegende theoretische Modelle aus dem Bereich der Literatur- und Filmwissenschaft vorgestellt; tatsächlich handelt es sich ja bei der Figurenanalyse um ein ursprünglich literaturwissenschaftliches Konzept. Darauf folgt die Behandlung einiger eher praktisch-methodischer Arbeiten, die in die Figurenanalyse bei biblischen Erzähltexten einführen möchten. Schließlich werden in einem weiteren Schritt konkrete Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte beleuchtet. Alle Ergebnisse werden in einem kurzen Fazit gebündelt und hinsichtlich einer Ent‐ wicklungslinie mit bestimmten Schwerpunkten ausgewertet. Zuletzt wird in kritischer Auseinandersetzung mit den zuvor dargestellten Figurenanalyseme‐ thoden das in dieser Arbeit verwendete Modell entwickelt. Forster 145 unterscheidet in seinem erstmals 1927 erschienenen Werk „Aspects of the Novel“ zwischen runden und flachen Charakteren. Unter einem flachen Charakter versteht er eine Figur, die lediglich um eine einzelne Idee oder Ei‐ genschaft herum konstruiert ist, keine Wandlung vollzieht und damit eindi‐ mensional bleibt. 146 In Bezug auf den Leser besitzt ein flacher Charakter seiner Ansicht nach zwei Merkmale: Er ist zum einen für den Leser leicht zu erkennen, wann immer er im Text auftaucht. Zum anderen ist es für den Leser auch nach der Lektüre nicht schwer, sich an ihn zu erinnern. 147 Zu runden Charakteren werden Figuren „when there is more than one factor in them.“ 148 Ein runder Charakter ist differenzierter gestaltet, vollzieht möglicherweise eine Wandlung 2 Methodik 42 <?page no="43"?> 149 Vgl. Forster, Novel, 77-81. „It is only round people who are fit to perform tragically for any length of time and can move us to any feelings except humour and appropriateness”, Forster, Novel, 77. 150 Propp, V.: Morphology of the Folktale, Texas 2 1984. 151 Für Propp gehören die Figur der Prinzessin und die Figur des Vaters der Prinzessin zum selben Figurentypus, wodurch sich bei ihm insgesamt sieben verschiedene Figuren‐ typen ergeben, vgl. Propp, Morphology, 79-80. 152 Vgl. Propp, Morphology, 79-80. 153 Harvey, W. J.: Character and the Novel, London 1965. 154 Vgl. Harvey, Character, 55-73. 155 Greimas, A. J.: Sémantique structurale. Recherche de méthode, Paris 1966. 156 Greimas, Sémantique, 172-191. oder Entwicklung und besitzt damit eine gewisse Tiefenschärfe. 149 Mit seiner generellen Kategorisierung von Figuren hat Forster in Bezug auf die Analyse von Figuren einen wichtigen Grundstein gelegt, auf den im Verlauf der Ge‐ schichte vielfach aufgebaut worden ist und auf den sich auch heute noch viele Forschungsbeiträge zu Figurenanalysen beziehen. Der russische Formalist Propp 150 definiert in seiner Untersuchung russischer Märchen die Figuren fast ausschließlich darüber, welche Positionen sie in der Handlung einnehmen. Dementsprechend unterscheidet er zwischen acht ver‐ schiedenen Figuren 151 , die immer wieder Bestandteil russischer Märchen sind: der Bösewicht als Gegenspieler des Helden; der Spender, der dem Helden etwas Bestimmtes gibt, wodurch dieser seine Mission erfüllen kann; der Helfer, der dem Helden beisteht; die Prinzessin, die den Helden in den meisten Fällen schwierige Aufgaben stellt; der Sender, der den Held auf seine Mission schickt; der Held selbst und der falsche Held. 152 Propp fokussiert damit die Figuren auf ihre Rolle und Funktion innerhalb einer Handlung. Harvey 153 , der sich ausführlich mit Charakteren in Erzählungen beschäftigt, teilt Figuren in einer Handlung grundsätzlich in vier unterschiedliche Figuren‐ typen ein: 154 Der Protagonist, der eindeutig im Vordergrund steht und dessen Geschichte am ausführlichsten präsentiert wird; die Hintergrundfiguren, die le‐ diglich Elemente des Handlungsmechanismus darstellen; die Ficelle, eine Figur, die stärker als die Hintergrundfiguren gezeichnet ist und die eine bestimmte Rolle und Funktion einnimmt; der Card, eine Figur, die den Text über unverän‐ dert bleibt und die - anders als die Ficelle - dabei keine bestimmte Funktion erfüllt. Harvey ordnet damit die Figuren innerhalb einer Erzählung bestimmten Positionen zu, die etwas über die Figuren selbst, aber auch über das Verhältnis einer Figur zu anderen Figuren aussagen können. Ähnlich wie Propp versucht auch Greimas 155 in Bezug auf Figuren bestimmte Tiefenstrukturen herauszuarbeiten. 156 Er entwickelt zur Beschreibung von ele‐ 2.3 Figurenanalyse 43 <?page no="44"?> 157 Vgl. Greimas, Sémantique, 176-180. Eine solche Einteilung wird u. a. von Bal über‐ nommen, vgl. Bal, Narratology, 203-208. 158 Vgl. Greimas, Semantique, 183-185. 159 Barthes, R.: S / Z, Paris 1970. 160 Vgl. Barthes, S / Z, 74: „Lorsque des sèmes identiques traversent à plusieurs reprises le même nom propre et semblent s’y fixer, il naît un personnage.” 161 Vgl. Barthes, S / Z, 25-29. 162 „Le caractère est un adjective, un attribute, un prédicat”, Barthes, S / Z, 196. 163 Chatman, S.: Story and Discourse. Narrative Structure in Narrative and Film, Ithaca / New York 1978. mentaren Handlungspositionen ein Aktantenmodell. Greimas reduziert dabei im Gegensatz zu Propp, der von sieben Figurentypen ausgeht, die Anzahl der Ak‐ tanten auf drei Handlungs-Paare: Subjekt - Objekt, Sender - Empfänger und Helfer - Opponent. 157 Eine Figur kann dabei zugleich mehrere Aktantenrollen einnehmen, genau wie eine Aktantenrolle auch von mehreren Figuren, einem Kollektiv oder von einer Naturkraft ausgefüllt werden kann. Greimas unter‐ scheidet grundsätzlich zwischen Akteuren und Aktanten; dabei sind die Akteure konkrete Erscheinungsformen von Aktanten. 158 Mit Hilfe dieses Aktantenmo‐ dells lassen sich die Beziehungen der handelnden Personen innerhalb einer Erzählung genauer beschreiben und analysieren. In der Forschung hat das Ak‐ tantenmodell rege Beachtung gefunden und dient auch in heutigen Figurena‐ nalysen oftmals noch als Basis, um etwas über die Funktion einer Figur innerhalb der Handlung auszusagen. Der Strukturalist Barthes 159 beschreibt die Entstehung einer Figur als Zu‐ sammensetzung verschiedener Sinneinheiten (Seme), die um einen Eigennamen herum gruppiert und mit diesem verknüpft sind. 160 Um einen Text zu analysieren nennt Barthes insgesamt fünf Stimmen, die alle zugleich aus dem Text sprechen: Die Stimme der Empirie, die Stimme der Wissenschaft (Kultur), die Stimme der Hermeneutik, die Stimme der Symbole und die Stimme der Personen (Seme), von denen letztere für die Figurenanalyse von größter Bedeutung ist. 161 Hinsichtlich der Stimme der Personen versteht Barthes Charaktere grundsätzlich als eine Zu‐ sammensetzung von verschiedenen Adjektiven, durch die eine Figur mit be‐ stimmten (Charakter-)Eigenschaften ausgezeichnet wird. 162 Mit seinem Ver‐ ständnis einer Figur als Zusammensetzung verschiedener Eigenschaften legt Barthes gewissermaßen den Grundstein, auf den Chatman in seinen Untersu‐ chungen aufbaut. Im Gegensatz zu Propp, Harvey und Greimas beschränkt Bar‐ thes die Figur nicht mehr nur auf ihre Rolle innerhalb einer Handlung, sondern widmet sich stärker der Figur selbst und ihrem Charakter. Chatman 163 der, wie im Vorherigen dargestellt, eine Erzählung in die beiden Ebenen story und discourse einteilt, verhandelt den Bereich der Figurenanalyse 2 Methodik 44 <?page no="45"?> 164 Vgl. Chatman, Story, 107-138. 165 Chatman, Story, 119. 166 „It should argue that character is reconstructed by the audience from evidence an‐ nounced or implicit in an original construction and communicated by the discourse, through whatever medium”, Chatman, Story, 119. 167 Zur ausführlichen Darlegung seines Verständnisses der traits vgl. Chatman, Story, 126- 131. Chatman greift dabei Barthes’ Konzeption einer Figur, die sich aus verschiedenen Sinneinheiten zusammensetzt, auf, vgl. Barthes, S / Z, 74. 168 Chatman, Story, 125. 169 Vgl. Chatman, Story, 128. 170 Bal, M.: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto / Buffalo / London 3 2009. 171 Bal, Narratology, 201-214. 172 Bal, Narratology, 112. 173 Bal, Narratology, 112. 174 Vgl. Bal, Narratology, 112-113. 175 Bal nimmt an dieser Stelle eine Zweiteilung in explizite und implizite Qualifikationen vor, vgl. Bal, Narratology, 131-132. und Charakterisierung unter dem Aspekt der story. 164 Er vertritt die Ansicht, eine Theorie über Figuren „should preserve openness and treat characters as autonomous beings, not as mere plot functions.“ 165 Dabei ist es letztlich der Leser, der die Figur aus dem Text rekonstruiert. 166 Einer Figur werden im Text ver‐ schiedene Eigenschaften, Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, die Chatman als traits bezeichnet, zugeschrieben. 167 Solche traits sind z. B. Zuschrei‐ bungen von Adjektiven wie „einsam“, „intelligent“, „ängstlich“, etc., die vom Leser aufgrund seiner (kulturell bedingten) Kenntnisse der „trait-code[s]“ 168 , entschlüsselt werden. Diese traits sind dabei nach Chatman nicht unbedingt an den Handlungsverlauf gebunden, sondern existieren in vielen Fällen zeitlos und durch die gesamte Erzählung hindurch. 169 Genau wie Barthes löst Chatman die Analyse von Figuren von ihrer Gebundenheit an die Handlung und eröffnet durch seine Untersuchung der traits einer Figur einen neuen und wichtigen Bereich der Figurenanalyse. Bal 170 , die die drei Ebenen Text, Story und Fabula in einer Erzählung unter‐ scheidet, ordnet die Figurenanalyse sowohl der Story (der Darstellung) als auch der Fabula (der Handlung) zu. 171 Auf der Ebene der Story bezeichnet sie Figuren als „characters“ 172 und definiert sie als „anthropomorphic figures provided with specifying features the narrator tells us about.“ 173 Charaktere setzen sich dem‐ nach auf der Ebene der Story aus unterschiedlichen Merkmalen und Eigen‐ schaften zusammen, die sie individuell und einzigartig machen. 174 Informationen über (Charakter-)Eigenschaften können entweder durch die Figur selbst oder durch den Erzähler im Text geäußert werden oder sich aus dem Handeln der Figur erschließen. 175 2.3 Figurenanalyse 45 <?page no="46"?> 176 Bal, Narratology, 201. 177 „In this view, an actor in the fabula is a structural position, while a character is a complex semantic unit”, Bal, Narratology, 112-113. 178 Vgl. Bal, Narratology, 203-208. 179 Rimmon-Kenan, S.: Narrative Fiction, Contemporary Poetics, London / New York 2 2004. 180 Rimmon-Kenan, Fiction, 36. 181 „Thus, 'Sarrasine is feminine', 'Othello is jealous', are examples of what Chatman calls trait”, Rimmon-Kenan, Fiction, 37. 182 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 40-42. Als eine Alternative sieht Riommon-Kenan die die von ihr an dieser Stelle zusammengefasste Einteilung von Ewen, der eine Figur anhand der drei Achsen complexity, development und penetration into the inner life analysiert. 183 Unter der direkten Definition versteht Rimmon-Kenan die direkte Nennung von Cha‐ raktereigenschaften durch den Erzähler, vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 60. Auf der Ebene Fabula bezeichnet Bal Figuren als „Actors“ 176 und versteht sie als Strukturelemente, die in einer Handlung eine bestimmte Position und Rolle einnehmen. 177 Sie bestimmt die Figuren dabei in Anlehnung an Greimas, wech‐ selseitig als Subjekt und Objekt, Sender und Empfänger, Helfender und Gegner innerhalb einer Handlung. 178 Bal bringt in ihrer Methodik somit die beiden in der bisherigen Forschung nebeneinander existierenden Analyseverfahren Figur und Handlung (u. a. Propp, Harvey, Greimas) und Eigenschaften einer Figur (Bar‐ thes, Chatman) zusammen, indem sie eine Figur in einer Erzählung sowohl auf der Ebene der Handlung (Fabula) als auch auf der Ebene der Darstellung (Story) getrennt voneinander untersucht. Rimmon-Kenan 179 teilt eine Erzählung in die drei Bereiche Text, Story und Narration ein und schreibt die Figurenanalyse sowohl dem Bereich der Story als auch dem Bereich des Textes zu. Zur Figurenanalyse in der Story äußert sie sich folgendermaßen: „I have said above that in the story character is a construct, put together by the reader from various indications dispersed throughout the text.“ 180 Rimmon-Kenan vertritt damit in Anlehnung an Chatman die Ansicht, dass einer Figur verschiedene Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften zu‐ geschrieben werden. 181 Die von Forster eingeführte Einteilung von Charakteren in flache und runde Charaktere kritisiert Rimmon-Kenan jedoch, indem sie deutlich macht, dass eine Figur nicht nur rund oder flach, sondern wesentlich komplexer dargestellt werden kann. 182 Zur Figurenanalyse auf der Ebene des Textes schlägt sie eine Einteilung in zwei grundsätzliche Kategorien vor: Direkte Definition 183 und indirekte Präsen‐ 2 Methodik 46 <?page no="47"?> 184 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 59-67. 185 Darüber hinaus macht sie deutlich, dass Analogien, seien es analoge Namen, Land‐ schaften oder analoge Charaktere, die die Persönlichkeit einer Figur unterstreichen und hervorheben, ebenso von Bedeutung für eine Figurenanalyse sind, vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 67-71. 186 Jannidis, F.: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Narratologia 3, Berlin / New York 2004. 187 Jannidis, Figur, 197. 188 Bei diesen Informationen handelt es sich z. B. um Aussagen zum äußeren Erschei‐ nungsbild, zu Eigenschaften, zum Sprechen, Handeln etc. einer Figur, vgl. Jannidis, Figur, 198-199. 189 Vgl. Jannidis, Figur, 201-207. 190 Jannidis, Figur, 201. 191 Informationen können demnach subjektiv, faktisch, kontrafaktisch oder konditional be‐ schaffen sein, vgl. Jannidis, Figur, 203-204. 192 „Offensichtlich sind nicht alle Informationen im Erzähltext gleich wichtig, vielmehr gibt es deutlich wahrnehmbare Unterschiede, und spätestens bei der Ermittlung von Be‐ deutungen wird man wichtigere Informationen schlechter unberücksichtigt lassen können als unwichtige“, Jannidis, Figur, 204. 193 Informationen über eine Figur können direkt durch den Erzähler oder durch andere Figuren zugeschrieben werden. Sie können sich aber auch indirekt z. B. durch das Han‐ deln der Figur erschließen, vgl. Jannidis, Figur, 206-207. 194 Vgl. Jannidis, Figur, 207-221. 195 Jannidis, Figur, 207. tation. 184 Unter den Bereich der indirekten Präsentation fallen dabei folgende Unterbereiche: Handlung, Rede, äußeres Erscheinungsbild und Umwelt. 185 Jannidis 186 definiert Figuren als „mentale Modelle […], die in der narrativen Kommunikation aufgebaut und verändert werden.“ 187 Den Figuren werden dabei im Text auf der Ebene des discourse verschiedene Informationen zugeschrieben, durch die das mentale Bild des Modell-Lesers von einer Figur verändert wird. 188 Jannidis entwickelt hierfür ein Modell zur Beschreibung der Figureninformati‐ onen, das sich in vier verschiedene Dimensionen aufteilt: Zuverlässigkeit, Modus, Relevanz und Offensichtlichkeit. 189 Unter dem Aspekt Zuverlässigkeit geht es hinsichtlich der Figureninformationen um die Frage, wie zuverlässig die „Quelle ihrer Zuschreibung“ 190 ist. Unter dem Bereich des Modus wird der Status der Information in eine bestimmte Kategorie eingeteilt. 191 Unter dem Aspekt der Relevanz verhandelt Jannidis die Frage, wie bedeutsam eine bestimmte Infor‐ mation für die Figur ist. 192 Unter der Dimension Offensichtlichkeit wird unter‐ sucht, ob die Zuschreibung einer Figureninformation direkt oder indirekt ge‐ schieht. 193 In einem weiteren Kapitel widmet sich Jannidis der Charakterisierung, die bei ihm komplementär zum Konzept der Figureninfor‐ mationen aufgebaut ist. 194 Als Charakterisierung bezeichnet Jannidis „die Summe aller relevanten figurenbezogenen Tatsachen in der erzählten Welt“ 195 . Er ent‐ 2.3 Figurenanalyse 47 <?page no="48"?> 196 Vgl. Jannidis, Figur, 219-221. Mit diesem Modell kann untersucht werden, wie aus‐ führlich einer Figur Informationen zugeordnet werden, wie viele Informationen dies sind, wie häufig dieselbe Information zugeordnet wird, in welcher Reihenfolge die In‐ formationsvergabe geschieht, ob die Informationen über den Text verteilt sind oder dicht zusammen geäußert werden, mit welchen anderen Informationen die Informati‐ onen kombiniert werden und in welchem Kontext sie zu den Informationen über andere Figuren stehen. 197 Eder, J.: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008. 198 Eder, Figur, 68. 199 Eder, Figur, 131. 200 Vgl. Eder, Figur, 134-143. Dieses Grundmodell wird aufgrund seiner möglichen dyna‐ mischen Abfolge der vier Bereiche im Uhrzeigersinn von ihm als „Uhr“ bezeichnet, vgl. Eder, Figur, 141. 201 Eder, Figur, 136. 202 Eder, Figur, 137. 203 Vgl. Eder, Figur, 137. 204 „Solche Aussagen über das Gemacht-sein von Figuren und ihr Verhältnis zu einem Ur‐ sprungstext sind in der Analyse oft besonders wichtig.“, Eder, Figur, 138. wickelt ein Modell zur Charakterisierung, das sich aus den Aspekten Dauer, Menge, Häufigkeit, Ordnung, Dichte, Informationskontext und Figurenkontext zu‐ sammensetzt. 196 In seiner Untersuchung zu Figuren im Film definiert Eder 197 Figuren wie folgt: „Fiktive Wesen sind kommunikative Artefakte, die durch die intersubjektive Konstruktion von Figurenvorstellungen auf der Grundlage fiktionaler Texte entstehen.“ 198 Er schlägt für eine Figurenanalyse das Grundmodell „Die Uhr der Figur“ 199 vor, das Figuren in vier verschiedenen Kontexten als fiktive Wesen, Symbole, Symptome und Artefakte untersucht. 200 Als fiktives Wesen besitzt eine Figur Eigenschaften und Merkmale innerhalb einer fiktiven Welt. Zu diesen zählen u. a. ihre „physischen, psychischen und sozialen Merkmale, ihr Verhalten, ihre Erlebnisse und Verhältnisse zu Zeiten und Räumen, anderen Figuren und Objekten, konkreten Ereignissen und abstrakten Regeln“ 201 . Als Symbol weist eine Figur auf etwas Größeres, hinter dem Text Stehendes hin, sie ist damit „Träger indirekter oder höherstufiger Bedeutungen jeglicher Art.“ 202 In der Rolle als Symptom wird die Figur hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Publikum und deren Rezeptionsprozessen untersucht. 203 Als Artefakt ist die Figur auf der Ebene der Darstellung das Produkt vielfältiger Gestaltungsformen wie Kamerafüh‐ rung, Schauspielstil, etc. 204 Dabei macht Eder deutlich, dass dieses „Uhrenmo‐ 2 Methodik 48 <?page no="49"?> 205 „Die skizzierten Ansätze zu einer Analyse wären sicher in vieler Hinsicht weiter zu entwickeln. Sie zeigen aber bereits, wie die vier Aspekte der Figur aufeinander bezogen sind […]. Das heuristische Kernmodell der Uhr der Figur stellt einen Weg dar, wie solche Aussagen präzisiert, plausibilisiert und eingehender diskutiert werden können.“, Eder, Figur, 160. 206 Lahn, S., Meister, J. C.: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 2 2013. 207 Dabei ist die Frage leitend, ob es sich im Sinne Forsters um runde oder flache Charaktere handelt, vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 246. 208 Dahinter steht die Frage, ob in der fiktiven Welt bestimmte Regeln und Normen herr‐ schen, nach denen das Verhalten der Figur beurteilt werden muss, vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 246. 209 Es geht dabei um die Frage, ob die Figur einen bestimmten (sozialen oder kulturellen) Status verkörpert, vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 246. 210 Vgl. Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 240-247. 211 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 246. 212 Lahn / Meister, Erzähltextanalyse, 246. 2.3.1.2 Figurenanalyse in der Exegese dell“ lediglich eine Grundlage bildet, auf der in vielerlei Hinsicht aufgebaut werden kann. 205 Lahn / Meister 206 haben sieben Leitfragen herausgearbeitet, anhand derer eine Figurenanalyse durchgeführt werden kann. Diese lauten: Grad der Profi‐ lierung 207 ; Explizite vs. Implizite Charakterisierung; Profilierung im Modus des Zeigens; Prinzipien der Figurenwelt 208 ; Figurentypus 209 ; Genrespezifische Figuren‐ rollen sowie Figurenkonstellationen. 210 Dabei müssen ihrer Ansicht nach jedoch stets zwei verschiedene Perspektiven voneinander unterschieden werden: „Ei‐ nerseits erscheint uns die Figur als ein menschliches oder quasi-menschliches Wesen, mit dem wir […] eine Beziehung eingehen können; andererseits ist die Figur eine symbolische Manifestation gewisser Werte, Ideen oder Konzepte im Gesamtentwurf der Erzählung.“ 211 Für die Analyse von Figuren ist daher stets diese „doppelte Perspektive“ 212 zu beachten. Die in der Literatur- und Filmwissenschaft entwickelten Konzepte und Me‐ thoden zur Analyse von Figuren sind seit den achtziger Jahren vermehrt auch für die Figurenanalyse in biblischen Erzähltexten angewandt worden. Dabei stützt sich die Figurenanalyse in der Exegese zwar hauptsächlich auf literatur‐ wissenschaftliche Figurenanalyseverfahren, entwickelt zum Teil aber auch ei‐ gene Methodenschritte. Aufgrund der Fülle an Forschungsbeiträgen zur Figu‐ renanalyse in der Exegese beschränke ich mich beim folgenden Überblick nur auf diejenigen Figurenanalyseverfahren, die im Hinblick auf diese Arbeit am ertragreichsten und relevantesten erscheinen und die zur Entwicklung der in dieser Arbeit verwendeten Methodik beitragen. 2.3 Figurenanalyse 49 <?page no="50"?> 213 Bar-Efrat, S.: Narrative Art in the Bible. Understanding the Bible and Its World, London 2004. 214 Vgl. Bar-Efrat, Narrative Art, 48-92. 215 Hierzu zählen sowohl Äußerungen über das Aussehen von Figuren, meist in Form von Adjektiven, als auch die Beschreibung ihrer Gesichtsausdrücken oder die Schilderung ihrer Kleidung, vgl. Bar-Efrat, Narrative Art, 48-52. 216 Vgl. Bar-Efrat, Narrative Art, 48-63. 217 „The type of speech which is particularly effective in disclosing a person’s psychological state is the emotive one. A classic example of this kind of speech, revealing quite clearly what is going on in the speaker’s mind is found in 2. Sam. 18.33 and 19.4 containing David’s cry on hearing of the death of his son Absalom. The narrator says: 'And the king cried with a loud voice' that is, he specifies the intensity of the cry, thereby heigh‐ tening its effect on the reader”, Bar-Efrat, Narrative Art, 68. 218 Vgl. Bar-Efrat, Narrative Art, 64-91. 219 Powell, M. A.: What Is Narrative Criticism? Guides to biblical scholarship, Minneapolis 1990. 220 Powell, Narrative Criticism, 51. 221 Vgl. Powell, Narrative Criticism, 52-53. 222 Vgl. Powell, Narrative Criticism, 53-54. „In this sense, the term refers to the norms, values, and general worldview that govern the way a character looks at things and renders judgments upon them”, Powell, Narrative Criticism, 53. 223 Powell, Narrative Criticism, 54. 224 Vgl. Powell, Narrative Criticism, 54. 2.3.1.2.1 Allgemeines zur Figurenanalyse in biblischen Erzählungen Bar-Efrat 213 unterscheidet bei der Analyse biblischer Figuren grundsätzlich zwischen einer direkten und einer indirekten Darstellung und Formung von Fi‐ guren. 214 Zur direkten Charakterisierung gehören seiner Ansicht nach sowohl Aussagen des Erzählers über die äußere Erscheinung 215 einer Figur, wie auch die Schilderung ihrer inneren Persönlichkeit. 216 Im Bereich der indirekten Darstellung von Figuren untersucht Bar-Efrat zum einen die Rede der Figuren, die Aufschluss über den Standpunkt, die Ansichten und die Gefühle einer Figur gibt. 217 Zum anderen widmet er sich ihren Handlungen sowie der Darstellung von Nebenfi‐ guren. 218 Powell 219 stellt folgende Definition von Figuren in (biblischen) Erzählungen auf: „Characters are constructs of the implied author, created to fullfill a parti‐ cular role in the story.“ 220 Bei der Analyse von Figuren schließt sich Powell zum einen der Unterscheidung in telling und showing an. 221 Zum anderen spielt seines Erachtens der jeweils zugeschriebene Point of View einer Figur für deren Ver‐ ständnis eine wichtige Rolle. 222 Außerdem spricht Powell im Rückgriff auf Chatman von bestimmten „Character Traits“ 223 , die einer Figur zugeschrieben werden. Dabei können solche Eigenschaften entweder direkt vom Erzähler ge‐ nannt werden, oder aber sie ergeben sich indirekt aus den Handlungen und Ansichten einer Figur. 224 Auf Grundlage der einer Figur zugewiesenen Charak‐ 2 Methodik 50 <?page no="51"?> 225 „The best-known such distinction is that which Forster makes between round charac‐ ters, who posses a variety of potentially conflicting traits, and flat characters, whose traits are all consistent and predictable”, Powell, Narrative Criticism, 55. 226 Abrams, M. H.: A Glossary of Literary Terms, Boston 7 1999, 297. 227 Vgl. Powell, Narrative Criticism, 56-67. Dabei unterscheidet Powell noch zwischen einer realistischen Empathie, wenn die Figur ähnlich ist wie der Leser, und einer idea‐ listischen Empathie, wenn die Figur so ist, wie der Leser gerne wäre. 228 Vgl. Powell, Narrative Criticism, 57. 229 Powell, Narrative Criticism, 57. 230 Gunn, D. M., Fewell, D. N.: Narrative in the Hebrew Bible, Oxford Bible Series, Oxford 1993. 231 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 52-75. 232 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 53-54. 233 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 57-59. Hierzu zählen u. a. das Aussehen einer Figur, ihr Name und ihr sozialer Status innerhalb einer Gruppe. 234 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 59-63. tereigenschaften entscheidet sich demnach, ob eine Figur nach Forsters Defini‐ tion flach oder rund ist. 225 Außerdem greift Powell die von Abrams 226 gemachte Definition eines „stock characters” für Figuren mit nur einer Eigenschaft auf. Zuletzt geht Powell auf die Frage ein, wie beim Leser im Hinblick auf eine be‐ stimmte Figur Empathie, Sympathie oder auch Antipathie entsteht. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass Empathie durch eine Ähnlichkeit der Figur zum Leser hervorgerufen wird. 227 Sympathie entsteht seiner Ansicht nach, wenn sich der Leser von einer Figur positiv angesprochen fühlt, auch wenn keinerlei Ähn‐ lichkeit der Figur zum Leser vorhanden ist. 228 Antipathie beschreibt Powell hin‐ gegen als „feelings of alienation from or disdain for particular characters“ 229 . In ihrer narratologischen Untersuchung des Alten Testaments widmen sich Gunn und Fewell 230 auch der Charakterisierung von biblischen Figuren. Hierbei unterscheiden sie zunächst grundlegend zwei Bereiche: Den Bereich des Erzählers und den Bereich der Charaktere. 231 Zum Bereich des Erzählers, der den Lesern etwas über die Figur mitteilt, zählt zum einen die Frage nach seiner Verlässlichkeit, d. h. wie die Informationen, die er den Lesern über eine bestimmte Figur zukommen lässt, zu bewerten sind. Dazu zählt die Frage, was der Erzähler über eine Figur erzählt und die Art und Weise, wie er dies tut. 232 Darüber hinaus zählen Gunn und Fewell zum Bereich des Erzählers die Beschreibung von Fi‐ guren. 233 Als drittes schreiben sie dem Erzähler die Beurteilung und Bewertung von Figuren zu. 234 Hierbei machen sie deutlich, dass der Erzähler durch be‐ stimmte Kommentare die Vorstellung der Leser über bestimmte Figuren gezielt 2.3 Figurenanalyse 51 <?page no="52"?> 235 „In 2 Kings 17, therefore, as well as in other places, the narrator’s evaluation of a cha‐ racter is indirect, tied to and mediated through YHWH’s point of view. Typical is the comment made about both Er and Onan, that they 'did evil in the sight of YHWH' (Gen. 38: 7, 10). In cases like these the narrator’s viewpoint is not made explicit but we usually assume that the narrator is aligning with YHWH’s point of view and so echoing the view that the deed was 'evil'”, Gunn / Fewell, Narrative, 60. 236 Gunn / Fewell, Narrative, 63. 237 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 63-68. 238 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 68-71. 239 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 71-75. „Often a character’s thought, speech, and action are congruent. When they are not, we see different points of view, and irony, at work”, Gunn / Fewell, Narrative, 72. 240 Vgl. Gunn / Fewell, Narrative, 75-81. 241 Marquerat, D., Bourquin, Y.: How to Read Bible Stories, London 1999, übersetzt von J. Bowden aus dem Französischen „Pur lire les récits bibliques“, Paris 1998. 242 Vgl. Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 60-64. 243 „Both the Old Testament narratives and the Gospel narratives construct their characters within a system which is entirely governed […] by a central agent, God or Jesus”, Mar‐ guerat / Bourqin, Bible Stories, 64. prägen kann. 235 Im Gegensatz zum Bereich des Erzählers, der sich in irgendeiner Art und Weise über die Figuren äußert, geht es im Bereich der Charaktere nach Gunn und Fewell letztlich um Folgendes: „Alternatively, the narrator will step aside and allow the characters to speak for themselves. For, of course, what characters say and how they say it may tell us much about the kind of people they are.“ 236 Demnach zählen zum Bereich der Charaktere ihre Rede, ihr Kontext und ihr Kontrast zu anderen Figuren. 237 Auch ist die Verlässlichkeit ihrer Aus‐ sagen und Urteile über andere Figuren zu prüfen. 238 Als letztes schreiben Gunn und Fewell dem Bereich der Charaktere die Fragen nach einer möglichen Wi‐ dersprüchlichkeit der Figuren, ihres Standpunktes (im Vergleich zum Standpunkt des Erzählers) und möglicher Ironie zu. 239 Zuletzt greifen Gunn und Fewell Forsters Unterscheidung in flache und runde Charaktere auf, wobei sie jedoch deutlich machen, dass ein und dieselbe Figur in unterschiedlichen Szenen einmal flach und einmal rund dargestellt werden kann. 240 Marguerat und Bourqin 241 widmen sich u. a. auch ausführlich der Analyse von Charakteren. Dabei verwenden sie Forsters Unterteilung in flache und runde Charaktere sowie das von Greimas entwickelte Aktantenmodell. 242 Zusätzlich stellen sie heraus, dass ein typisches Merkmal biblischer Figuren ihre fehlende Autonomie ist, da sich die Figuren immer in einer Beziehung zu Gott oder Jesus befinden und niemals nur für sich existieren. 243 Auch untersuchen Marguerat und Bourqin, inwiefern der Leser sich mit bestimmten Figuren identifiziert, bzw. wodurch eine Wirkung wie Sympathie, Empathie oder Antipathie für die Figur 2 Methodik 52 <?page no="53"?> 244 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 65. 245 Vgl. Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 67-68. 246 Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 71. 247 Marguerat und Bourqin verwenden hierfür die von Genette geprägten Begriffe Internal Focalization External Focalization und Zero Focalization, vgl. Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 72-74. 248 „The narrator can present a character by telling who he is or by showing what he does“, Marguerat / Bourqin, Bible Stories, 69. 249 Finnern, S.: Narratologie und biblische Exegese, WUNT II 285, Tübingen 2010. 250 Vgl. Eder, J.: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008. 251 Zu diesem Figurenbestand zählen nach Finnern auch Figuren, die nicht anwesend sind, über die aber von anderen Figuren gesprochen wird, vgl. Finnern, Narratologie, 128. 252 Vgl. Finnern, Narratologie, 128-129. entsteht. Dabei kommen sie zu folgender Schlussfolgerung: „The rule is simple: the more the characters resemble real beings, i. e. the more their life coincides with that of the reader (whether real or imaginary), the more attractive these characters will be to the reader.” 244 Dem Erzähler kommt dabei eine bedeutende Position zu, da er durch seine gezielt gewählte Erzählstrategie die Wirkung des Lesers auf bestimmte Figuren beeinflusst. 245 Zu dieser gezielten Beeinflussung der Leser gehört auch die Position, die der Erzähler seinen Lesern in Bezug auf bestimmte Figuren zuweist. Zentral ist hierbei die Frage, ob die Leser mehr, weniger oder genauso viel wissen wie die Figur. 246 Die Rolle des Erzählers und sein Verhältnis zur Figur sind dabei genauso bedeutsam. Entweder beschreibt er das Innenleben einer Figur, ihre Gedanken und Träume, erzählt also aus einer großen Nähe zur Figur; oder er schildert die Figur „von weitem“ aus einer ge‐ wissen Distanz heraus. 247 Als weiteres Analysekriterium für die Untersuchung von Figuren nennen Marguerat und Bourqin die grundlegende Unterscheidung zwischen telling und showing. Dabei beinhaltet das telling alle direkten Aus‐ sagen, die vom Erzähler über die Figur gemacht werden. Das showing bezeichnet dagegen das Handeln und Sprechen der Figur selbst. 248 Marquerat und Bourqin entwickeln somit ein Analysemodell, das Aspekte von Forster und Greimas sowie die grundlegende Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Cha‐ rakterisierung miteinbezieht. In der letzten Zeit hat v. a. Finnern 249 einen Versuch unternommen, eine ge‐ nerell anwendbare Methodik für die Analyse biblischer Figuren auszuarbeiten. Dabei orientiert er sich stark an dem von Eder entwickelten Konzept zur Figu‐ renanalyse im Film. 250 Finnern gliedert eine Figurenanalyse in sechs verschie‐ dene Methodenschritte. 1. Figurenbestand und Figurenkonfiguration: Hier werden zunächst die in einer bestimmten Szene vorkommenden Figuren 251 die oftmals eine Auswahl aus dem Gesamtbestand aller Figuren darstellen, aufge‐ listet. 252 2. Figurenmerkmale: Hierunter fallen die folgenden zwölf Kriterien 2.3 Figurenanalyse 53 <?page no="54"?> 253 Vgl. Finnern, Narratologie, 129-147. 254 Vgl. Finnern, Narratologie, 147-148. 255 Vgl. Finnern, Narratologie, 148-151. Hierbei orientiert sich Finnern vor allem an dem von Eder herausgestellten Handlungsrollenmodell, nach dem es einen Auslöser, einen Entscheider, einen Empfänger, einen Protagonisten, ein Zielobjekt, einen Antagonisten sowie Helfer des Protagonisten und des Antagonisten gibt, vgl. Eder, Figur, 493. 256 Vgl. Finnern, Narratologie, 151-156. 257 Vgl. Finnern, Narratologie, 156-162. 2.3.1.2.2 Identität, Charakterzüge, Meinungen, Erleben, Gefühle, Verhaltensweisen, äu‐ ßere Attribute, sozialer Kontext, Wissen, Pflichten, Wünsche und Intentionen der Figur. 253 Auch wird nach ihrer Wirkung auf den Rezipienten gefragt. 3. Figurenkonstellation: In dieser Analysekategorie steht die Figur und ihre Bezie‐ hungen zu anderen Figuren, die auch grafisch veranschaulicht werden können, im Fokus. 254 4. Figur und Handlung: An dieser Stelle wird nach der Bedeutung und Funktion der Figur innerhalb der Handlung gefragt. 255 5. Figurendarstellung: In dieser Kategorie wird die Art und Weise der Charakterisierung einer Figur genauer beleuchtet. So kann sie direkt oder indirekt erfolgen, auktorial oder figural, über den Text verteilt oder in Blöcken. 256 6. Figurenkonzeption: In diesem die Figurenanalyse abschließenden Punkt findet eine Gesamtbeurteilung der Figur statt. Es geht dabei um die Frage, ob die Figur letztlich statisch oder dy‐ namisch, knapp oder detailliert, eindimensional oder mehrdimensional, typisch oder untypisch, geschlossen oder offen, realistisch oder unrealistisch, kohärent oder inkohärent ist. 257 Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte Im Folgenden werden konkrete Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte vorgestellt. Dabei liegt der Fokus zum einen auf Figurenanalysen im Johannesevangelium, Matthäusevangelium, Lu‐ kasevangelium, der Apostelgeschichte und zum andern auf Analysen der Jesus-Figur in den synoptischen Evangelien. Die zuerst genannten Durchfüh‐ rungen werden an dieser Stelle skizziert, weil sie in einigen Punkten Impulse liefern für die in dieser Arbeit verwendete Methodik und in anderen Punkten durch Abgrenzungen zu mehr Klarheit verhelfen. Die Darstellungen von Ana‐ lysen der Jesus-Figur liefern dagegen nicht unbedingt signifikante Impulse hin‐ sichtlich der von mir zu entwickelnden Figurenanalysemethode, zeigen jedoch, wie in der bisherigen Forschung die Jesus-Figur in den synoptischen Evangelien analysiert worden ist, und machen so mögliche Schwachstellen deutlich. 2 Methodik 54 <?page no="55"?> 258 Fehribach, A.: The Women in the Life of the Bridegroom. A Feminist Historical-Literary Analysis of the Characters in the Fourth Gospel, Collegeville 1998. 259 Fehribach, Women, 169. 260 Fehribach macht dabei jedoch darauf aufmerksam, dass es sich bei dieser Rekonstruk‐ tion um einen Versuch und nicht um eine letztgültige Aussage handelt, „I hope to be able to identify the manner in which a first-century reader would have understood, or built, the female characters“, Fehribach, Women, 19. 261 Vgl. Fehribach, Women, 6-9. Fehribach setzt dabei für ihre Figurenanalyse ein Erzähl‐ modell voraus, das die Begriffe des impliziten Lesers und des impliziten Autors bein‐ haltet. 262 Vgl. Fehribach, Women, 9-15. 263 Vgl. Fehribach, Women, 17-19. 264 Nicklas, T.: Ablösung und Verstrickung. „Juden“ und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser, RSTh 60, Frankfurt am Main / Berlin u. a. 2001. 2.3.1.2.2.1 Figurenanalyse im Johannesevangelium Fehribach 258 untersucht und analysiert die fünf Frauenfiguren - die Mutter Jesu, die samaritanische Frau, Maria aus Bethanien, Martha und Maria Magda‐ lena - im Johannesevangelium und kommt dabei letztlich zu folgendem Er‐ gebnis: „[T]he main function of the female characters in the Gospel is that of supporting Jesus’ role as the messianic bridegroom who has come to give those who believe in him the power to become children of God” 259 . Bei ihrer Figuren‐ analyse verfolgt Fehribach einen historisch-literarischen Ansatz, bei dem sie versucht, zu ergründen, wie die Figuren auf den impliziten Leser des 1.Jhds n. Chr. gewirkt haben können. 260 Dazu untersucht sie den Text in enger Beziehung zu seinem kulturellen und literarischen Millieu. 261 Als Bezugstexte dienen hierfür die Hebräische Bibel, Hellenistisch-Römische Schriften, bekannte Grie‐ chisch-Römische Literatur, das Konzept „Ehre und Schande“, das von Kultur‐ anthropologen zur Untersuchung von Geschlechter-Beziehungen im mediter‐ ranen Raum verwendet wird und die Geschichte der Frauen in der Griechisch-Römischen Welt. 262 Für die Analyse der Frauenfiguren geht sie ge‐ nerell von fünf verschiedenen Annahmen aus: 1. Figuren sind eng mit der Handlung und dem Plot verbunden 2. Figuren verraten wichtige Aspekte über andere Figuren 3. Eine Charakterisierung vollzieht sich zugleich sequenziell und kumulativ 4. Eine Charakterisierung impliziert stets eine rhetorische Funktion 5. Der soziale Standpunkt des Lesers spielt eine tragende Rolle bei der Vorstel‐ lung von Figuren. 263 Nicklas 264 untersucht die Figurengruppe der Juden und der Jünger im Jo‐ hannesevangelium auch im Blick auf ihre Wirkung auf den impliziten Leser. Dafür nennt er in Bezug auf die Figurenanalyse einige grundlegende Techniken 2.3 Figurenanalyse 55 <?page no="56"?> 265 Vgl. hierzu Nicklas, Ablösung, 394-401. 266 Nicklas, Ablösung, 395. 267 Vgl. Nicklas, Ablösung, 396. 268 Vgl. Nicklas, Ablösung, 396-398. 269 Vgl. Nicklas, Ablösung, 401-405. 270 Hartenstein, J.: Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium, NTOA 64, Göttingen 2007. 271 Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 54-108. 272 Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 36-37. der Charakterisierung 265 : So macht er deutlich, dass Figuren im JohEv selten mit Attributen belegt werden, sondern oft nur mit Namen genannt sind. Darüber hinaus werden Figuren „in erster Linie durch ihre Aktionen und Aussagen ge‐ zeichnet.“ 266 Einige Figuren vollziehen zudem eine Entwicklung. Auch können die Figuren in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Jesus (als Maßstab) analysiert werden. 267 Als eine weitere Technik der Charakterisierung nennt Nicklas die Beurteilung von Figuren durch Aussagen anderer Figuren, wobei zwischen dem Gewicht der Aussagen aufgrund der Stellung der jeweiligen Figuren differen‐ ziert werden muss. Auch die Technik der Kontrastierung und Parallelisierung von Charakteren findet sich im JohEv. 268 Dabei weist Nicklas insgesamt darauf hin, dass bei der Charakterisierung von Figuren dem Erzähler eine ganz ent‐ scheidende Rolle zukommt. Denn durch seine Erzählweise (u. a. durch Anspie‐ lungen, das Durchbrechen erwarteter Muster oder Ironie) kann er die Rezeption des impliziten Lesers lenken und die Wirkung von Figuren auf den impliziten Leser bestimmen. 269 In ihrer Untersuchung zur Charakterisierung der Figuren Maria Magdalena, Petrus, Thomas und der Mutter Jesu im Johannesevangelium unterscheidet Hartenstein 270 generell zwischen einer direkten Beschreibung und einer indi‐ rekten Präsentation der Figuren. 271 Zur direkten Beschreibung zählen die Aspekte ausdrückliche Charakterisierung, Gruppenzugehörigkeit, Verwandtschaft und Herkunft sowie Einführung und Wiederauftritt von Personen. Unter den Aspekt der indirekten Präsentation fallen bei ihr die Aspekte Handlung und Reden der Figur sowie Reaktionen auf Jesus und Dreiecksbeziehungen zwischen den Fi‐ guren. Dabei verfolgt Hartenstein insgesamt einen narratologischen Ansatz, den sie historisch ausweitet, indem sie bei jeder Figur zugleich verschiedene früh‐ christliche (und auch apokryphe) Texte miteinbezieht, in denen diese Figur eine Rolle spielt. 272 Sie begründet diesen Ansatz folgendermaßen: „Mein Ansatz, Ver‐ gleichstexte zu einzelnen Personen heranzuziehen, bedeutet also eine Rekon‐ struktion des historischen Kontextes des JohEv an dieser einen Stelle, bei den zu verschiedenen Personen vorhandenen Vorstellungen. Sinnvoll und not‐ wendig ist dies nicht nur aus historischen, sondern auch aus literarischen 2 Methodik 56 <?page no="57"?> 273 Hartenstein, Charakterisierung, 37. Jedoch benennt sie zugleich auch das grundlegende Problem dieses Ansatzes, denn der genaue historische Kontext des JohEv lässt sich heute nicht mehr bestimmen, sondern lediglich mutmaßen. Es ist nicht sicher, welche Schriften das JohEv voraussetzt und es ist ebenso unsicher, ob und welche (mündlichen) Traditionen von Schriften, die erst nach dem JohEv verschriftlicht worden sind, bereits das JohEv beeinflusst haben, vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 44-45. 274 „Durch ein solches dialogisches Lesen ergeben sich neue Perspektiven für die Inter‐ pretation des JohEv“, Hartenstein, Charakterisierung, 50. 275 Bennema, C.: A Theory of Character in New Testament Narrative, Minneapolis 2014. 276 Vgl. Bennema, A Theory of Character, 33-60. 277 Vgl. Bennema, A Theory of Character, 62-72. 278 Vgl. Bennema, A Theory of Character, 63: „I will argue for the need to go occasionally beyond the text for the reconstruction of character.” Wie diese historische Rekonstruk‐ tion im Detail aussehen soll, führt Bennema folgendermaßen aus: „Instead we need a form of historical narrative criticism that takes a text-centered approach but examines aspects of the world outside or 'behind' the text if the text invites us to do so. In other words, we should reconstruct the characters from the information that the text of the Gospel provides and supplement it with relevant information from other sources”, Ben‐ nema, A Theory of Character, 67. 279 Vgl. Bennema, A Theory of Character, 72-90. 280 Vgl. Bennema, A Theory of Character, 85: „This will help us decide how we can position a character on each of Ewen’s continua.” 281 Vgl. Bennema, A Theory of Character, 90-106. Gründen, weil das JohEv nicht alle Figuren neu erfindet“. 273 Im Vergleich mit anderen frühchristlichen Texten soll so das spezielle Profil der johanneischen Darstellung besser zur Geltung kommen. 274 Bennema 275 entwickelt eine Theorie zur Figurenanalyse, indem er zunächst Ansätze zur Charakterisierung von Figuren aus der Hebräischen und Grie‐ chisch-Römischen Literatur mit modernen Ansätzen zur Figurenanalyse in Be‐ ziehung setzt. 276 In einem weiteren Schritt entwickelt Bennema seinen eigenen Ansatz zur Figurenanalyse. Hierbei geht er in drei Schritten vor: Zuerst unter‐ sucht er die Figur im Text und im Kontext. 277 Dabei macht er deutlich, dass es für eine Figurenanalyse notwendig ist, hinter den Text zurückzugehen und his‐ torisch zur Entstehung des Textes, den ursprünglichen Adressaten und der da‐ maligen Umwelt zurückzufragen. 278 Anschließend klassifiziert er die Figur an‐ hand der von Ewen herausgestellten drei Dimensionen „complexity“, „development“ und „inner life“. 279 Hierbei führt er den Ansatz von Ewen weiter, indem er vorschlägt, anstatt Gegensätze wie „complex“ und „simple“ vielmehr den jeweiligen Grad der Komplexität anzugeben. Dafür unterteilt Bennema in „none“, „little“, „some“ und „much“. 280 Als drittes setzt er die Figur in Beziehung zum ideologischen Standort des Autors sowie zum Plot. 281 2.3 Figurenanalyse 57 <?page no="58"?> 282 Schultheiss, T.: Das Petrusbild im Johannesevangelium, WUNT II 329, Tübingen 2012. 283 Vgl. Schultheiss, Petrusbild, 48-79. 284 Schultheiss, Petrusbild, 73. 285 Schultheiss, Petrusbild, 73. 286 Vgl. Schultheiss, Petrusbild, 69-72. 287 Myers, A. D.: Characterizing Jesus. A Rhetorical Analysis on the Fourth Gospel’s Use of Scripture in its Presentation of Jesus, LNTS 458, London 2012. 288 Myers, Characterizing Jesus, 21. 289 Vgl. hierzu Myers, Characterizing Jesus, 20-21. 290 „In this way, the evangelist aims to persuade his audience that Jesus truly is the Logos of God made flesh”, Myers, Characterizing Jesus, 21. In ihrer Untersuchung zum Petrusbild im Johannesevangelium verfährt Schultheiss 282 sowohl nach einem synchronen als auch nach einem diachronen Analyseansatz. 283 Dabei analysiert sie die Petrus-Szenen in der Abfolge des Jo‐ hannesevangeliums jeweils zunächst synchron, um „Feinstrukturen innerhalb eines Abschnitts wie intratextuelle Verbindungslinien“ 284 herauszustellen. In einem weiteren diachronen Analyseschritt untersucht sie die Abschnitte v. a. in Beziehung zu den synoptischen Vergleichstexten um „das Profil der johannei‐ schen Darstellung herauszuarbeiten.“ 285 Innerhalb der synchronen Analyse der Textabschnitte charakterisiert sie die Petrusfigur in Anlehnung an Finnern mit‐ hilfe der Kategorien 1. Figur(en) und Plot 2. Figurenbestand und Figurenkons‐ tellation 3. Figurendarstellung 4.Figurenkonzeption 5. Wirkung auf den Leser. 286 Myers 287 untersucht in ihrer Arbeit zur Charakterisierung Jesu im Johan‐ nesevangelium die Verwendung des Alten Testaments, die maßgeblich zur Prä‐ sentation der Jesus-Figur im Johannesevangelium beiträgt, unter rhetorischen Gesichtspunkten der damaligen Zeit. „Examining the Fourth Gospel’s use of Israel’s Scriptures through the lens of Graeco-Roman rhetoric offers a new way to approach the characterization of Jesus in this Gospel.” 288 Hierfür geht sie grundlegend in zwei Schritten vor: Zunächst untersucht sie die Verwendung der Schriften innerhalb der Reden Jesu; anschließend analysiert sie deren Verwen‐ dung außerhalb der Reden Jesu, so etwa durch andere Figuren. 289 Insgesamt geht Myers davon aus, dass der Evangelist ganz gezielt und rhetorisch bewusst das Alte Testament in seinem Evangelium zur Sprache bringt, um damit Jesus in bestimmter Art und Weise seinen damaligen Hörern zu präsentieren. 290 2 Methodik 58 <?page no="59"?> 291 Zimmermann, R.: Figurenanalyse im Johannesevangelium. Ein Beitrag zu Sinn und Wahrheit narratologischer Exegese, in: ZNW 105 / 1, Berlin u. a. 2014, 20-53. Vgl. auch Hunt, S. A., Tolmie, D. F., Zimmermann, R. (Hgg.): Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Aproaches to Seventy Figures in John, WUNT 314, Tübingen 2013. Eine Besonderheit dieses Sammelbandes besteht darin, dass alle Figuren der erzählten Welt des Johannesevangeliums (und damit auch Randfiguren) analysiert werden. Eine weitere Besonderheit stellt der bewusste Verzicht auf ein einheitliches methodisches Verfahren zur Figurenanalyse dar. Der Sammelband will so bewusst in Analogie zur Vielfalt der Figuren zur Vielfalt der methodischen Zugänge ermutigen. 292 Vgl. Zimmermann, Figurenanalyse, 30-33. 293 Vgl. Zimmermann, Figurenanalyse, 33-36. 294 Zimmermann, Figurenanalyse, 37. 295 Vgl. Zimmermann, Figurenanalyse, 36-42. 296 Vgl. Zimmermann, Figurenanalyse, 42-45. „Figuren stehen nicht isoliert in der Erzäh‐ lung, sondern stehen mit anderen in direkten oder indirekten Beziehungen“, Zimmer‐ mann, Figurenanalyse, 42. 297 Zimmermann, Figurenanalyse, 45. 298 Vgl. Zimmermann, Figurenanalyse, 45-51. In seinem Aufsatz zur Figurenanalyse im Johannesevangelium beschäftigt sich Zimmermann 291 zunächst mit der Frage, was Figuren im Johannesevan‐ gelium sind, auf welchen Ebenen sich Figuren befinden und inwiefern zwischen Einzelfiguren und Figurengruppen zu unterscheiden ist. 292 Anschließend unter‐ sucht er die Figur in Bezug zur Handlung und unterscheidet hier zwischen Hauptfiguren, Nebenfiguren und Randfiguren. 293 In einem weiteren Schritt nennt Zimmermann einige Aspekte der Figurenpräsentation und gibt hierfür jeweils Beispiele aus dem Johannesevangelium. Hierbei unterteilt er in Figuren‐ merkmale und Charakterisierung, Figurenkonstellation und Figurenkonzeption. Unter Figurenmerkmale und Charakterisierung fallen bei Zimmermann ver‐ schieden Charaktermerkmale einer Figur wie ihr Name, ihre Herkunft, etc. „Charaktermerkmale von Figuren sind nicht nur durch Herkunfts- und Bei‐ namen, sondern auch durch Gruppenzugehörigkeit […] oder qualifizierende Sätze über Verhaltensweisen gegeben und können ganz unterschiedliche Be‐ reiche betreffen.“ 294 Darüber hinaus unterscheidet er zwischen einer direkten Präsentation einer Figur (Aussagen des Autors oder einer Erzählfigur) und einer indirekten Präsentation der Figur (das Handeln und Sprechen der Figur selbst). 295 Zum Bereich der Figurenkonstellation zählen nach Zimmermann die Beziehung und das Verhältnis der Figuren untereinander, mögliche Kontrastfi‐ guren und Dreieckskonstellationen innerhalb der Erzählung. 296 Die Figurenkon‐ zeption schließt die Figurenanalyse ab. „Hier werden unterschiedliche bisherige Beobachtungen zu einer Beurteilung zusammengeführt.“ 297 Dabei spielen u. a. die Perspektive der Figurendarstellung (der point of view), die Entwicklung einer Figur sowie ihre abschließende Beurteilung eine Rolle. 298 2.3 Figurenanalyse 59 <?page no="60"?> 299 Anderson, J.: Matthew’s Narrative Web. Over, and Over and Over Again, JSNTSup 91, Sheffield 1994. 300 Vgl. Anderson, Narrative Web, 78-132. 301 Vgl. Anderson, Narrative Web, 78-79. 302 Vgl. Anderson, Narrative Web, 86-90 303 Vgl. Anderson, Narrative Web, 81-82. Dabei weist Anderson jedoch auch auf die bei der Anwendung dieser Begriffe zu berücksichtigenden Unterschiede zwischen dem Matthäusevangelium und einem modernen Roman hin, vgl. Anderson, Narrative Web, 82-83. 304 Anderson, Narrative Web, 79. 305 Vgl. Anderson, Narrative Web, 79. 306 Bei Johannes dem Täufer analysiert Anderson z. B. den wiederholt getätigten Vergleich von Johannes dem Täufer mit Elija, vgl. Anderson, Narrative Web, 84. 307 Syreeni, K.: Peter as Character and Symbol in the Gospel of Matthew, in: Rhoads, D., Syreeni, K. (Hgg.): Characterization in the Gospels: Reconceiving Narrative Criticism, JSNT Sup184, Sheffield 1999, 106-152. 308 „The above discussion has led us to assume (1) a poietic axis between author and reader and a mimetic axis between text and reality and (2) three levels of analysis: the text world, the concrete world, and an intervening interpretive - in more daring words, an ideological intervention”, Syreeni, Peter, 112. 309 Vgl. Syreeni, Peter, 114-115. 2.3.1.2.2.2 Figurenanalyse im Matthäusevangelium Die Figuren Petrus und Johannes der Täufer sowie die Figurengruppe der jüdi‐ schen Oberschicht im Matthäusevangelium werden von Anderson 299 analy‐ siert. 300 Für ihre Figurenanalyse nimmt sie u. a. die Kategorien showing und telling auf und zählt zum letzteren u. a. die Bereiche Aussehen, sozialer Status, Persönlichkeitseigenschaften, die Umgebung der Figur, die Vergangenheit der Figur sowie die Beziehung zu anderen Figuren. 301 Unter den Bereich des showing fallen bei ihr hingegen v. a. das Sprechen und Handeln einer Figur. Auch spielt die Beziehung der Figur zu Jesus bei ihrer Analyse eine Rolle. 302 Auch übernimmt Anderson Forsters Unterteilung in flache und runde Charaktere sowie in stati‐ sche und dynamische Charaktere. 303 Anderson macht insgesamt deutlich, dass „all of these means of characterization or clues can involve repetition.” 304 Die Wiederholung von Aussagen trägt ihrer Ansicht nach in hohem Maße dazu bei, das Bild, das sich der implizite Leser von der Figur macht, zu beeinflussen und zu formen. 305 In der anschließenden Figurenanalyse betont sie daher v. a. die Wiederholungen, die in Bezug auf die Figur im Text gemacht werden und un‐ tersucht sie hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Funktion. 306 Syreeni 307 untersucht die Petrus-Figur im Matthäusevangelium anhand von drei unterschiedlichen Ebenen der Analyse. 308 Zum einen unterscheidet sie die narrative Ebene, in der ein Erzähler einem Adressaten etwas mitteilt. Die Figur wird in diesem Bereich als Charakter verstanden. 309 Zum anderen unterscheidet 2 Methodik 60 <?page no="61"?> 310 Vgl. Syreeni, Peter, 114-115. 311 Vgl. Syreeni, Peter, 115. 312 Syreeni, Peter, 115. 313 Vgl. Syreeni, Peter, 115. 314 Poplutz, U.: Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, BThSt 100, Neukirchen-Vluyn 2008. 315 Vgl. Poplutz, Welt, 57-100. 316 Zu einer zuverlässigen direkten Charakterisierung zählt sie in erster Linie Äußerungen des Erzählers über eine Figur, im Gegensatz zu möglicherweise unzuverlässigen Äuße‐ rungen anderer Figuren, vgl. Poplutz, Welt, 68-69. 317 Vgl. Poplutz, Welt, 69-71. 318 Vgl. Poplutz, Welt, 72-73. 319 Poplutz, Welt, 72. sie die symbolische Ebene, in der ein impliziter Autor und ein impliziter Leser agieren und die Figur als Symbol erscheint. 310 Als drittes unterscheidet Syreeni die reale Ebene, in der die Figur eine reale Person ist und in der sich ein realer Autor sowie ein realer Leser befinden. Dabei kommt Syreeni letztlich zu dem Ergebnis, dass Petrus auf der narrativen Ebene ein Charakter im Matthäusevan‐ gelium ist, dem sowohl eine intratextuelle Bedeutung innerhalb des Evange‐ liums als auch eine intertextuelle Bedeutung in Beziehung zum Markusevan‐ gelium zukommt. 311 Auf der symbolischen Ebene beschreibt Syreeni Petrus als „a symbol for ethical values, doctrinal options, social and religious commitments, party strifes, or the like” 312 . Schließlich macht Syreeni deutlich, dass Petrus auf der realen Ebene eine historische Person ist, die einen indirekten, aber dennoch nicht unerheblichen Beitrag zur matthäischen Darstellung des Petrus-Charak‐ ters leistet. 313 In ihren naratologischen Studien zum Matthäusevangelium widmet sich Po‐ plutz 314 u. a. auch der Charakterisierung von Randfiguren. 315 Dabei unter‐ scheidet sie ebenfalls zwischen direkter und indirekter Charakterisierung. 316 Zum Bereich der indirekten Charakterisierung zählt Poplutz die Handlungen der Figur, ihre Rede, ihr äußeres Erscheinungsbild sowie die dargestellte Umwelt der Figur. 317 Darüber hinaus unterscheidet sie zwischen den beiden Begriffen Charakter und Typus. 318 Als Charakter versteht sie eine Figur, „die individuelle Züge aufweist und über Merkmale verfügt, die man auch bei realen Personen wahrnehmen und notieren könnte.“ 319 Ein Typus besitzt dagegen keine ausge‐ prägten Charakterzüge, sondern verfügt über Merkmale und Qualitäten, die den Rezipienten bekannt sind und daher einen hohen Wiedererkennungswert und 2.3 Figurenanalyse 61 <?page no="62"?> 320 Poplutz, Welt, 72. 321 Vgl. Poplutz, Welt, 72-73. Ihre Einteilung in Charakter und Typus entspricht ihrer An‐ sicht nach im Wesentlichen der Einteilung Forsters in flache und runde Charaktere, vgl. Poplutz, Welt, 73. 322 Vgl. Poplutz, Welt, 74-75. 323 „Jesus als Hauptfigur, die Jünger als positive und die politischen und religiösen Führer als negative Aktanten sind die Handlungsträger in den großen Spannungsbögen aller Evangelien und damit auch des Matthäusevangeliums“, Poplutz, Welt, 75. 324 Poplutz, Welt, 75. 325 Poplutz, Welt, 80. 326 Vgl. Poplutz, Welt, 80-98. 327 Darr, J. A.: On Character Building. The Reader and the Rhetoric of Characterization in Luke-Acts, Literary Currents in Biblical Interpretation, Louisville / Kentucky 1992. 328 Darr, Character, 14. 329 Vgl. Darr, Character, 26. 2.3.1.2.2.3 eine „Klischeehaftigkeit“ 320 aufweisen. 321 Die Hauptfigur im Matthäusevange‐ lium ist nach Poplutz eindeutig Jesus, die Nebenfiguren lassen sich in Famili‐ enangehörige Jesu, politische und religiöse Autoritäten, Jünger Jesu, Kranke und Andere einteilen. 322 Entscheidend ist hierbei die Stellung der Nebenfiguren zu Jesus, die dadurch bestimmt wird, ob die Figur für oder gegen ihn ist, also ob es sich bei ihr um einen Adjuvanten oder einen Opponenten handelt. 323 Das Ziel ihrer folgenden Figurenanalysen ist durch die Leitfrage bestimmt, „welche Funktionalisierung die Figuren haben und wie sie möglicherweise vorgängige Rollenzuweisungen durchbrechen.“ 324 Ihr Fazit im Hinblick auf diese Fragestel‐ lung lautet, dass im Matthäusevangelium fünf Figuren existieren (der Haupt‐ mann von Karfarnaum in Mt 8,5-13; ein Schriftgelehrter in Mt 8,19 f; eine ka‐ naanäische Frau in Mt 15,21-28; die Frau des Pilatus in Mt 27,19; ein römischer Hauptmann und seine Soldaten in Mt 27,54), die als „Grenzgänger“ 325 bestimmte Rollenzuweisungen durchbrechen. 326 Figurenanalyse im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte Darr 327 analysiert Figuren im Lukasevangelium und weitet dabei den naratolo‐ gischen Ansatz historisch aus, indem er ein „reader-response (or pragmatic) model attuned to the Greco-Roman literary culture of the first century“ 328 ver‐ wendet. Dabei geht es ihm darum, den damaligen lukanischen Leser zu rekon‐ struieren und den Text (und die Charaktere) durch dessen Brille hindurch zu sehen. 329 Darr vertritt die Ansicht, dass „sein“ Leser im späten ersten Jahrhundert im mediterranen Raum lebt, stark beeinflusst ist durch die kulturellen Normen seiner Zeit und seiner Umgebung. Er verfügt zudem über ein Basiswissen über historische, geographische, militärische und politische Angelegenheiten des Römischen Imperiums. Auch kennt er die großen Städte seiner Zeit, wie Athen 2 Methodik 62 <?page no="63"?> 330 Vgl. Darr, Character, 26-29. 331 Darr, Character, 14. 332 „First, the text provides a series of stimuli which elicit and guide audience responses. […] The text also controls point of view, a vital element in the shaping of values”, Darr, Character, 32. 333 Darr, Character, 47. 334 Vgl. Darr, Character, 38. 335 Darr, Character, 42. 336 Hur, J.: Dynamic Reading of the Holy Spirit in Luke-Acts, JSNTSup 211, Sheffield 2001. 337 Vgl. Hur, Dynamic Reading, 115-180. 338 Als Beispiel für eine textzentrierte Herangehensweise nennt er die Methodik der Struk‐ turalisten, die den Figuren im Text bestimmte Eigenschaften zuschreiben, vgl. Hur, Dy‐ namic Reading, 123. 339 „[C]haracters are constructed or generated through the text by readers”, Hur, Dynamic Reading, 123. 340 Vgl. Hur, Dynamic Reading, 123. 341 Hur, Dynamic Reading, 123. 342 Hur, Dynamic Reading, 123. und Jerusalem. „Sein“ Leser ist beheimatet in der griechisch-römischen Lite‐ ratur, kennt auch jüdische Schriften, weiß aber noch nichts vom Markusevan‐ gelium sowie von den paulinischen Briefen und der Quelle Q. Über Jesus hat er sehr wahrscheinlich bereits etwas gehört. 330 Der Text selbst fungiert bei Darr lediglich als ein „rhetorical framework“ 331 , der dem Leser Hinweise darauf gibt, wie er verstanden werden will. 332 Dies gilt nach Darr auch im Hinblick auf die Charaktere, da sich der Leser beim Lesen ein mentales Modell von der Figur macht. Figuren sind daher „personal images generated by text and by reader“ 333 . Darr analysiert die Charaktere zunächst in ihrem Kontext. Hierzu zählt er die Aspekte plot, setting und other characters. 334 Auch untersucht er sie hinsichtlich des Ablaufs und mit Rücksicht auf ihre kumultative Beschaffenheit. Sein Ziel formuliert er folgendermaßen: „The goal is not to arrive at a static conception of a character […], but rather to follow the reader’s successive construction and assessment of this character while reading the text” 335 . In seiner Untersuchung zum „Dynamic Reading of the Holy Spirit in Luke-Acts“ 336 charakterisiert Hur im vierten Kapitel den Heiligen Geist in der Apostelgeschichte. 337 Dafür macht er zunächst deutlich, dass die beiden grund‐ legenden Ansätze der textzentrierten 338 und der leserzentrierten 339 Charakterisie‐ rung keinesfalls einen Gegensatz bilden müssen, sondern sich ergänzen können. 340 Anschließend gibt er einen Überblick über verschiedene Methoden der Figurenanalyse und fokussiert hierbei besonders die beiden Bereiche „cha‐ racter-classification“ 341 und „character-presentation“ 342 . Er entscheidet sich schließlich in Anlehnung an Rimmon-Kenan für eine Methodik, die einerseits 2.3 Figurenanalyse 63 <?page no="64"?> 343 Bei der direkten Definition ist es seiner Ansicht nach zugleich wichtig, wer sich über die Person äußert. Dem Erzähler und Jesus kommt z. B. eine größere Glaubwürdigkeit als den religiösen Führern zu, vgl. Hur, Dynamic Reading, 127. 344 „It is less explicit than direct definition, and therefore, possibly less concrete”, Hur, Dynamic Reading, 127. 345 Vgl. Hur, Dynamic Reading, 126-127. 346 Vgl. Hur, Dynamic Reading, 127-128. 347 Hur, Dynamic Reading, 128. 348 Hur, Dynamic Reading, 178. 349 Thompson, R. P.: Keeping the Church in its Place. The Church as Narrative Character in Acts, New York 2006. 350 „The focus of this work, therefore, is the Lukan characterization of churches, Christian communities or groups of believers in the Acts of the Apostels”, Thompson, Church, 4. 351 Thompson, Church, 18. 352 Vgl. Thompson, Church, 18-22. 353 Vgl. Thompson, Church, 18-20. die Bereiche der direkten Definition 343 und indirekten Präsentation 344 einer Figur (hierzu zählt er das Sprechen und Handeln der Figur, aber auch ihr Aussehen und ihre Umgebung) umfasst. 345 Andererseits bezieht er aber auch in Rückbezug auf Rimmon-Kenan den Aspekt der Analogie (Ähnlichkeit, Wiederholung, Ver‐ gleich und Kontrast) mit ein. 346 Er betont den Analogie-Aspekt so stark, denn „through analogy, characterization is reinforced or further explained.“ 347 Im Fol‐ genden führt er eine Figurenanalyse des Heiligen Geistes anhand der erwähnten Kategorien durch und kommt zu folgendem Ergebnis: „In short, the Holy Spirit is defined as an enigmatic divine character.“ 348 Genau wie Anderson weist Hur somit auf die Bedeutung von Analogien hin, weitete diese im Vergleich zu An‐ derson jedoch noch aus, indem er auch Kontraste und Ähnlichkeiten zwischen den Figuren in seine Untersuchung miteinbezieht. Thompson 349 untersucht die Kirche als narrative Größe in der Apostelge‐ schichte. 350 Dabei bezieht er Griechisch-Römische Literatur als Vergleichs- und Bezugsgröße mit ein, denn „[I]n the study of Greco-Roman literature, one finds several general features or aspects of character depiction that become useful tools in the building and evaluation of characters through one’s reading of Acts” 351 . Im direkten Vergleich zur Charakterisierung von Figuren in der Grie‐ chisch-Römischen Literatur leitet Thompson somit fünf Analyseschritte für seine Charakterisierung der Kirche in der Apostelgeschichte ab: Zum einen un‐ terscheidet Thompson zwischen direkter und indirekter Charakterisierung. 352 Zur indirekten Charakterisierung zählt er die Handlung einer Figur, aber auch ihr Sprechen. Durch beides erhält der Leser Informationen über den Charakter und bildet sich seine Urteile. 353 Zur direkten Charakterisierung zählt Thompson vor 2 Methodik 64 <?page no="65"?> 354 Vgl. Thompson, Church, 20-22. 355 Vgl. Thompson, Church, 22-26. Durch die Zuschreibung von Figuren zu (sozialen) Ka‐ tegorien, können auch Vergleiche und Kontraste zwischen den Figuren erzielt werden. 356 Vgl. Thompson, Church, 26-27. 357 Vgl. Thompson, Church, 27-28. 358 Eisen, U.: Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA 58, Göttingen 2006. 359 Vgl. Eisen, Poetik, 131-139. 360 Vgl. Eisen, Poetik, 133. Dabei macht Eisen generell deutlich, dass Figuren sowohl als Einzelpersonen, als Gruppen, aber auch als nicht-menschliche Wesen (wie Gott, Engel, etc.) auftreten können. 361 Vgl. Eisen, Poetik, 134. 362 Eisen, Poetik, 134. 363 Vgl. Eisen, Poetik, 134-135. allem die Aussagen des Erzählers über eine Figur. So erfährt der Leser durch den Erzähler etwas über die Gedanken, Motive und Gefühle der Figur. 354 Als dritten Analyseschritt benennt Thompson die Kategorisierung der Figurenbeschrei‐ bung. Demnach können die Charaktere bestimmten (sozialen) Kategorien oder Gruppen zugeordnet werden 355 Darüber hinaus gilt es nach Thompson, die Summe der Bilder und Effekte hinsichtlich der Figur, die beim Leser durch den Leseprozess entsteht und die seine Beurteilung der Figur maßgeblich beein‐ flussen, zu untersuchen. 356 Als letzten Analyseschritt nennt Thompson die Be‐ ziehung und Interaktion der Figur zu anderen Figuren. 357 Durch den Vergleich mit anderen Charakteren treten seines Erachtens Ähnlichkeiten, Spannungen, Harmonien, Gegensätze und Konflikte stärker hervor, die letztlich dazu bei‐ tragen, das Bild des Lesers von der Figur in eine bestimmte Richtung zu lenken. In ihrer narratologischen Studie zur Apostelgeschichte behandelt Eisen 358 auch den Bereich der Analyse von Figuren. 359 Dabei geht sie in drei Schritten vor: Zunächst widmet sie sich der Klassifizierung der Figuren, zeigt dann Tech‐ niken der Figurencharakterisierung auf und widmet sich abschließend den Fi‐ guren in der Apostelgeschichte. Zum Bereich der Klassifizierung von Figuren zählt zum einen die Frage nach dem Status der Figur. Hier arbeitet Eisen mit den drei Begriffen Haupt-, Neben-, und Hintergrundfigur. 360 Darüber hinaus fragt Eisen nach der Komplexität der Figur. 361 Dabei greift sie auf Forster Unterschei‐ dung in flache und runde Charaktere zurück, macht aber zugleich deutlich, dass diese Kategorien „lediglich die Pole von Individualisierung und Typisierung, zwischen denen sich eine Skala mit vielen Zwischenformen befindet“ 362 , bilden. Auch die Frage nach der Funktion der Figur zählt Eisen zum Bereich der Klas‐ sifizierung. 363 Eisen schreibt den Figuren - in Anlehnung an Greimas und sein Aktantenmodell - sechs grundlegende Funktionen zu: 1. Protagonist 2. Sender 2.3 Figurenanalyse 65 <?page no="66"?> 364 Vgl. Eisen, Poetik, 134-135. 365 Zum Bereich der expliziten Charakterisierung zählen nach Eisen Äußerungen über die Figur sowohl von Seiten der Erzählinstanz als auch von Seiten einer anderen Figur. Dabei müssen jedoch beide Instanzen stets auf ihre Glaubwürdigkeit hin geprüft werden, da z. B. die Erzählinstanz die Leser bewusst in die Irre führen kann, oder andere Figuren möglicherweise verzerrte Äußerungen über die Figur tätigen, vgl. Eisen, Poetik, 136. 366 Vgl. Eisen, Poetik, 137-139. 367 Rhoads, D., Michie, D.: Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 3 2012. 368 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 104-115. 369 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 101-102. Wobei sie aufzeigen, dass das Markusevangelium die Typisierung von Figuren auflockert, indem es statt bloßen Stereotypen bewusst Individuen zeichnet. 370 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 102. 371 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 102-103. 372 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 103. Ihre Definition des Begriffs trait lautet folgendermaßen: „A trait is defined as a personal quality that typifies a character, usually by persisting throughout that character’s appearance in the story”, Rhoads / Michie, Mark, 103. 373 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 103-104. Der Erzähler kann durch gezielte Hinweise im Text bewusst steuern, ob ein Leser der Figur Sympathie oder Antipathie entgegenbringt. 2.3.1.2.2.4 3. Empfänger 4. Objekt 5. Helfer 6. Gegner. 364 Den letzten Teilbereich der Klas‐ sifizierung von Figuren bildet bei Eisen die Frage nach den Attributen der Figur. Im zweiten Schritt beschäftigt sich Eisen mit Techniken der Figurenanalyse und unterscheidet hier zum einen zwischen expliziter 365 und impliziter Charakteri‐ sierung und zum anderen zwischen auktorialer und figuraler Charakterisierung. In einem dritten Schritt gibt sie einen kurzen Überblick über Forschungsbeiträge zur Figurenanalyse in der Apostelgeschichte. 366 Eisen legt den Schwerpunkt bei ihrer Figurenanalyse somit ganz deutlich auf die Klassifizierung und Einteilung von Figuren und bezieht zudem noch die direkte und indirekte Charakterisierung mit ein. Figurenanalyse der Jesusfigur in den synoptischen Evangelien Rhoads und Michie 367 analysieren in ihrer Untersuchung u. a. auch die Jesus-Figur im Markusevangelium. 368 Als generelle Methodenschritte einer Fi‐ gurenanalyse nennen sie die Einteilung von Figuren in bestimmte Charakter‐ typen, 369 Standards der Beurteilung von Figuren 370 , Vergleich und Kontrast der Figur zu anderen Figuren 371 , zugeschriebene Persönlichkeitsmerkmale der Figur, durch die sich der Leser ein Bild von der Figur macht 372 , und die Frage nach der Identifizierung des Lesers mit der Figur. 373 2 Methodik 66 <?page no="67"?> 374 „Both what Jesus does and what he says express his values and show his integrity in living up to those values”, Rhoads / Michie, Mark, 105. 375 Für Gott ist Jesus sein Sohn, seine Familie denkt, Jesus sei außer sich, die Autoritäten halten ihn für einen Kriminellen, die Menge sieht ihn als den auferstandenen Johannes den Täufer, Elija oder ein Prophet und die Jünger erkennen erst in der zweiten Hälfte des Markusevangeliums, wer Jesus wirklich ist, vgl. Rhoads / Michie, Mark, 105. 376 „The narrator shows Jesus developing as he struggles with the people being healed, his popularity with the crowds, the rigidity of the authorities, and the heart-headedness of the disciples”, Rhoads / Michie, Mark, 105. 377 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 105-106. 378 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 106-107. 379 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 108. 380 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 108-109. 381 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 110-111. 382 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 111-112. 383 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 112-113. 384 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 113-115. 385 Vgl. Rhoads / Michie, Mark, 115. 386 Malbon, E. S.: Mark’s Jesus. Characterization as Narrative Christology, Waco 2009. 387 „Although my work is not focused on the real author or the real audience, I recognize that without both of those we would not have the luxury of focusing on the textual continuum: implied author / narrator / characters / naratee / implied audience”, Malbon, Characterization, 7. 388 Vgl. hierzu Malbon, Characterization, 8. Im Hinblick auf die Figurenanalyse der Jesus-Figur im Markusevangelium skizzieren sie zunächst mit wenigen Worten das, was Jesus selbst sagt und tut 374 , was andere Figuren (Gott, seine Familie, die Autoritäten, die Menge, die Jünger) über ihn sagen und denken 375 , und welche Aussagen der Erzähler über ihn trifft. 376 Anschließend untersuchen sie folgende ausgewählte Persönlichkeits‐ merkmale (traits) der Jesus-Figur genauer: agent of the rule of God 377 , the authority of Jesus 378 , faith 379 , serving and not lording over others 380 , renouncing self, being least and losing life for others 381 , Jesus faces death 382 , the execution 383 , the meaning of Jesus’crucifixion 384 und the empty grave. 385 Dabei erläutern und verdeutlichen sie diese Jesus zugeschriebenen traits im Allgemeinen und auf das gesamte Markusevangelium bezogen und nennen nur einzelne Textbeispiele. In ihrer Analyse der Jesus-Figur im Markusevangelium geht Malbon 386 in Anlehnung an Chatman zunächst von den narrativen Größen realer Autor, im‐ pliziter Autor, Erzähler, Charaktere, Adressat, imlpizite Hörerschaft und reale Hö‐ rerschaft aus, wobei sie den realen Autor und die reale Hörerschaft aus ihrer nar‐ ratologischen Untersuchung ausklammert. 387 Den Fokus legt sie jedoch v. a. auf die Beziehung zwischen dem impliziten Autor, dem Erzähler und der Erzählfigur Jesus. 388 Für die Charakterisierung des markinischen Jesus unterscheidet Malbon grundlegend zwischen Jesus und den anderen Erzählfiguren auf der einen Seite 2.3 Figurenanalyse 67 <?page no="68"?> 389 Vgl. hierzu die graphische Darstellung, Malbon, Characterization, 18. 390 Malbon, Characterization, 18. 391 Malbon, Characterization, 18. 392 Vgl. Malbon, Characterization, 18. 393 Tolmie, F.: Jesus’Farewell to the Disciples. John 13: 1-17: 26 in Narratological Perspec‐ tive, BIS 12, Leiden 1995. 394 Im Bereich der Handlung (story) greift Rimmon-Kenan auf Chatmans Modell des pa‐ radigm of traits zurück. 395 Vgl. Tolmie, Farewell, 119. 396 „According to the actantial model, all the characters in a text can be reduced to one of the six general categories, since this model underlies all narratives - even if it implies that more than one character should be reduced to the same actant, or that the same actant is manifested in more than one character”, Tolmie, Farewell, 121. 397 Vgl. Tolmie, Farewell, 123-124. 398 Vgl. Tolmie, Farewell, 124. 399 Tolmie verwendet hierfür jedoch nicht nur Adjektive, sondern auch Nomen (wie z. B. die Hoheitstitel) und Verben, vgl. Tolmie, Farewell, 124. 400 U. a. revealer of the Father; comes from Nazareth; Prophet; Rabbi, Messiah, King of Israel; Son of Man, vgl. Tolmie, Farewell, 125. und zwischen dem, was Jesus und die anderen Figuren sagen und was sie tun auf der anderen Seite. 389 Im Blick auf das Sprechen der Jesus-Figur unterteilt sie zusätzlich in „what Jesus says in response to other characters“ 390 und „what Jesus says instead of what other characters and the narrator say“ 391 . Es ergeben sich somit für ihre Charakterisierung der Jesus-Figur im Markusevangelium fünf grundlegende Analyse-Schritte: 1. Enacted Christology: what Jesus does; 2. Pro‐ jected Christology: what others say; 3. Deflected Christology: what Jesus says in response; 4. Refracted Christology: what Jesus says instead; 5. Reflected Christology: what others do. 392 In seiner narratologischen Untersuchung von Joh 13,1-17,26 analysiert Tolmie 393 ebenfalls die Jesus-Figur. Für seine Analyse übernimmt er verschie‐ dene Modelle. Hauptsätzlich stützt er sich auf das narratologische Modell von Rimmon-Kenan, die u. a. die Figuren im Bereich der Handlung (story) 394 und im Bereich der Darstellung (text) getrennt voneinander untersucht. 395 Zum anderen greift er auch das Aktantenmodell von Greimas auf, nach dem sich die Figur in bestimmte Rollen einteilen lässt. 396 Des Weiteren entscheidet er sich - wie Rimmon-Kenan - zur Klassifizierung von Charakteren für das Modell von Ewen, anstatt auf Forsters und Harveys Einteilungen zurückzugreifen. 397 Im Rückgriff auf Ewen unterscheidet Tolmie somit zwischen den drei Bereichen complexity, development und penetration into inner life. 398 Bei seiner Figurenanalyse von Jesus in Joh 13-17 beginnt er auf der Ebene der Story in Anlehnung an Chatman zunächst mit einer Auflistung seiner traits 399 , die zuvor in Joh 1,1-12,50 be‐ gegnen. Dabei unterteilt er in generelle Eigenschaften 400 , in Eigenschaften, die 2 Methodik 68 <?page no="69"?> 401 U. a. Son of God, equal to Father, knows the will of the Father, sent by the Father, vgl. Tolmie, Farewell, 125-126. 402 U. a. babtises with the Spirit, equipped with the Spirit, vgl. Tolmie, Farewell, 126. 403 U. a. loves them, instructs them, leads them, complete knowledge, ability to provide spiritual life, takes away their sins, vgl. Tolmie, Farewell, 126. 404 U. a. able to judge, everything created through him, not bound by Jewish law, vgl. Tolmie, Farewell, 126. 405 U. a. acts confidently and purposefully, able to perform signs, complete knowledge of future events, vgl. Tolmie, Farewell, 126. 406 U. a. aloofness, vgl. Tolmie, Farewell, 126. 407 Vgl. Tolmie, Farewell, 125-126. „Jesus is the character who has the largest paradigm of traits associated with him. This paradigm is dominated by traits accentuating his iden‐ tity”, Tolmie, Farewell, 143. 408 Vgl. Tolmie, Farewell, 127-129. 409 Vgl. Tolmie, Farewell, 141-142. Er zeigt zwei mögliche Modelle auf. Im ersten Modell, dass auf das gesamte Evangelium bezogen ist, ist Jesus das Subjekt, er verfolgt das Objekt, den Vater zu offenbaren; die Jünger sind Helfer und die Juden sind Gegner. Im zweiten Modell, das nur auf Joh 13-17 bezogen ist, sind die Jünger das Subjekt und sie verfolgen das Objekt, Jesus zu bezeugen, vgl. Tolmie, Farewell, 141-142. 410 Vgl. Tolmie, Farewell, 143. 411 Lee, D.: Luke’s Stories of Jesus. Theological Reading of Gospel Narrative and the Legacy of Hans Frei, JSNTSup 185, Sheffield 1999. 412 Lee, Jesus, 184. 413 Vgl. Lee, Jesus, 202-245. seine Beziehung zum Vater 401 , zum Heiligen Geist 402 , zu seinen Jüngern 403 und zur Welt 404 verdeutlichen, und in Eigenschaften, die etwas über seine Hand‐ lungen 405 und menschlichen Qualitäten 406 aussagen. 407 Anschließend untersucht Tolmie, ob in Joh 13,1-17,26 neue Eigenschaften hinzukommen oder bereits be‐ stehende Eigenschaften verstärkt werden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass keine neuen Eigenschaften genannt werden, dass aber die Eigenschaften com‐ plete knowledge, love, authority, provider of spiritual life, close relationship to the Father und emotional behaviour verstärkt werden. 408 In einem weiteren Schritt stellt er Jesus und die anderen Charaktere in Joh 13-17 in Greimas’ Aktanten‐ modell graphisch dar und zeigt damit, welche Rolle und Position Jesus ein‐ nimmt. 409 Nach der Einteilung von Ewen bezeichnet Tolmie Jesus als einen sehr komplexen Charakter, im Gegensatz zu weniger komplexen Charakteren (wie Petrus und die Jüngergruppe). 410 Lee 411 führt eine narrative Figurenanalyse von Jesus im Lukasevangelium durch und kombiniert dabei Inhalte von Hans Frei mit narratologischen Me‐ thoden von Bal zu einem „theological narrative-critical reading“ 412 . Der lukanische Jesus wird bei Lee aus drei unterschiedlichen Perspektiven heraus beleuchtet: Zum einen geht es darum, welche Aussagen der Erzähler über Jesus trifft 413 , zum anderen geht es darum, was Jesus selbst über sich sagt und 2.3 Figurenanalyse 69 <?page no="70"?> 414 Vgl. Lee, Jesus, 246-296. 415 Vgl. Lee, Jesus, 297-327. 416 Einleitung: 1,1-1,4; Akt 1: 1,5-3,20; Akt 2: 3,21-4,44; Akt 3: 5,1-9,50; Akt 4: 9,51-19,44; Akt 5: 19: 45-21,38; Akt 6: 22,1-23,56; Akt 7: 24,1-53, vgl. Lee, Jesus, 189-199. 417 Vgl. Lee, Jesus, 243-245. 418 Lee, Jesus, 245. 419 Oko, I. O.: „Who then is this? “. A Narrative Study of the Role of the Question of the Identity of Jesus in the Plot of Mark’s Gospel, BBB 148, Berlin / Wien 2004. 420 Unter dem Begriff Story versteht Oko grundsätzlich in Anlehnung an Chatman die Handlung, also das, was geschieht. 421 Unter dem Begriff Discourse versteht Oko in Anlehnung an Chatman die Darstellung, also wie etwas dargestellt wird. Jedoch fokussiert sich Oko dabei v. a. auf das Verhältnis zwischen dem narrativen Sender und dem Empfänger, vgl. hierzu Oko, „Who then is this? ”, 57-59. 422 Oko, „Who then is this? ”, 58. wie er handelt. 414 Schließlich wird in einem weiteren Kapitel die Mitwirkung der kleineren Charaktere, der Dämonen, an der Charakterisierung von Jesus unter‐ sucht. 415 Lee teilt hierfür das Lukasevangelium insgesamt in sieben unterschied‐ liche Akte ein 416 und untersucht jeden Akt aus jeder Perspektive heraus. Im Bereich der Charakterisierung durch den Erzähler kommt Lee dabei zu dem Ergebnis, dass Jesus folgende (theologische) Beschaffenheiten aufweist: Er fügt sich dem Willen Gottes, er ist derjenige, durch den Gott handelt, er ist Gottes Gesandter zu den Völkern, er lehrt und spricht von Gott, er ist derjenige, der nun als Gott verehrt wird, er ist derjenige, durch den Gott in der Geschichte lebendig wird. 417 „Jesus is both the literary character in the Lukan world and the one who can be present for the Christian reader.“ 418 Lee beleuchtet die Jesus-Figur in seiner Analyse von verschiedenen Perspek‐ tiven aus, die sich insgesamt unter die beiden Kategorien direkte und indirekte Charakterisierung fassen lassen. Oko 419 untersucht die Rolle der Jesus-Figur im Plot des Markusevangeliums. Dafür unterscheidet er generell zwischen den drei Kommunikationsebenen: Story 420 , Discourse 421 und Historical and Theological Mediation. Im Verlauf seiner Arbeit untersucht er mit Ausnahme einiger Kapitel das gesamte Markusevan‐ gelium - aufgeteilt in 17 Textpassagen - unter den eben genannten drei Kom‐ munikationsebenen. Seine Analysen zielen dabei auf die Darstellung der Jesus-Figur und die Frage nach seiner Identität innerhalb des Markusevange‐ liums. Unter den Bereich der Story fasst Oko das Setting sowie die Kommuni‐ kation und Beziehung zwischen den verschiedenen Charakteren „who occupy the stage in the world envisaged and portrayed by the narrative“ 422 . Zur Ebene des Discourse zählt er die Kommunikationsabläufe zwischen dem narrativen Sender (dem Autor / Erzähler) und dem Empfänger (dem Leser / Publikum). 2 Methodik 70 <?page no="71"?> 423 Vgl. Oko, „Who then is this? ”, 58. 424 Danove, P. L.: The Rhetoric of the Characterization of God, Jesus and Jesus’ disciples in the Gospel of Mark, New York 2005. 425 Vgl. Danove, Rhetoric, 56-89. 426 Vgl. Danove, Rhetoric, 56. 427 Danove, Rhetoric, 56. 428 Vgl. Danove, Rhetoric, 56. 429 Vgl. Danove, Rhetoric, 60-66. 430 Vgl. Danove, Rhetoric, 66-71. 431 Vgl. Danove, Rhetoric, 72-75. 432 Vgl. Danove, Rhetoric, 75-77.80-82. 433 Vgl. Danove, Rhetoric, 77-80. Unter der dritten Ebene Historical and Theological Mediation untersucht Oko einige historische und kulturelle Hintergründe und Besonderheiten, die für das Verständnis des Textes hilfreich sein können. 423 Eine kurze Zusammenfassung bündelt jeweils die Ergebnisse aus den drei Ebenen. Danove 424 charakterisiert neben Gott und den Jüngern auch Jesus im Mar‐ kusevangelium. 425 Dabei verfährt er nach einer speziellen Methodik: Er unter‐ sucht die semantische und narrative Rhetorik der Charakterisierung von Jesus und die Auswirkungen, die diese Charakterisierung auf anderen narrativen Entwicklungen hat. 426 Zunächst beschäftigt er sich mit den „preexisting beliefs about Jesus evoked by both vokabulary and designations“ 427 . Anschließend untersucht er durch die Prüfung der semantischen und narra‐ tiven Rhetorik die Vorstellungen, die sich das narrative Publikum von der Jesus-Figur macht. Hierbei legt er den Fokus auf im Text begegnende Wieder‐ holungen von Wörtern, Kontexten und Strukturen. 428 Zunächst überprüft er die sich im Text wiederholenden Aussagen darüber, was Jesus tut. Dabei zählt er verschiedene Verben auf, die etwas über ihn aussagen und analysiert diese in ihren jeweiligen Kontexten; so u. a. vergeben, lehren, segnen, heilen, beten, retten. 429 In einem weiteren Schritt untersucht Danove die sich im Text wieder‐ holenden Wörter, die etwas über die Jesus zugeschriebenen Attribute aussagen; so u. a. wissen, wollen, Mitgefühl zeigen, Autorität, Tod, Gott, Jünger. 430 Als drittes listet er Titulierungen auf, die etwas über ihn und seine Person aussagen; so u. a. Menschensohn, Rabbi, Christus, Jesus von Nazareth. 431 Nach der Analyse der sich auf Jesus beziehenden und im Text an vielen Stellen begegnenden Wörter untersucht Danove die Wiederholung von Kontexten, in denen Jesus dargestellt wird und nennt hier u. a. den eucharistischen Kontext. 432 Anschließend widmet er sich den im Text wiederholt begegnenden Strukturen, in denen Jesus agiert und nennt hier u. a. die Verbindung von Voraussagungen (Mk 8,31-32a), Kont‐ roversen (Mk 8,32b-33) und Lehre (Mk 8,34-9,1). 433 2.3 Figurenanalyse 71 <?page no="72"?> 434 Danove unterteilt diesen Analyseschritt in die folgenden drei Bereiche: The Narrative Rhetoric of the Characterization of Jesus, The Narrative Rhetoric of the Characterization of the Son of Man, The Narrative Rhetoric of the Characterization of the Christ, vgl. Da‐ nove, Rhetoric, 83-88. 435 Vgl. Danove, Rhetoric, 88-89. 436 „The pervasive evocation of preexisting positive content concerning Jesus, the cultiva‐ tion of beliefs about Jesus exclusively through sophisticating positive repetition that spans the narration, and the fact that Jesus is the most frequently referenced character in Mark indicate that the characterization of Jesus constitutes the primary vehicle for asserting and maintaining the reliability of the narration for the authorial (and real) audience”, Danove, Rhetoric, 88. 437 Skinner, C. W., Hauge, M. R. (Hgg.): Character Studies and the Gospel of Mark, Library of New Testament Studies 483, Bloomsbury 2014. 438 Williams, J. F.: The Characterization of Jesus as Lord in Mark’s Gospel, in: Skinner, C. W., Hauge, M. R. (Hgg.): Character Studies and the Gospel of Mark, Library of New Testament Studies 483, Bloomsbury 2014, 107-126. 439 Vgl. Williams, Jesus as Lord, 111-116. 440 Vgl. Williams, Jesus as Lord, 116-119. 441 Williams, Jesus as Lord, 117. 442 Vgl. Williams, Jesus as Lord, 119-125. Eine anschließende Analyse der narrativen Rhetorik der Charakterisierung 434 macht die narrative Funktion seiner Charakterisierung und seinen Beitrag zur narrativen Entwicklung deutlich. 435 Dabei kommt Danove letztlich zu dem Fazit, dass die Charakterisierung Jesu maßgeblich dazu beiträgt, die Verlässlichkeit der Erzählung in Bezug auf ihr Publikum zu stützen und zu stärken. 436 In dem Sammelband „Character Studies and the Gospel of Mark“ von Skinner / Hauge 437 , in dem verschiedene Figuren im MkEv analysiert werden (so u. a. Gott, der Satan, Petrus und die Frauen), untersucht Williams 438 die Jesus-Figur als den Kyrios im MkEv, also unter einem speziellen Gesichtspunkt. Dafür gibt er zunächst einen Überblick der Verwendung des Begriffs κύριος im MkEv. 439 Anschließend geht er der Frage nach, wie Figuren im MkEv generell charakterisiert werden. 440 „People in a narrative exist within the flow of an overall plot. They play particular roles within the overall sequence of events, while themselves are also influenced and shaped by those events.“ 441 In einem weiteren Schritt bündelt er die beiden vorhergehenden Ergebnisse in dem Ab‐ schnitt „Mark’s Use of 'Lord' and His Characterization of Jesus“. 442 Dabei kommt er zu folgendem Ergebnis in Bezug auf die Jesus-Figur als κύριος im MkEv: „For Mark, Jesus is Lord in that he is uniquely exalted in his authority, even though at the present time that authority may not be recognized by all. Jesus is also Lord in that his life serves as the defining paradigm for his followers, so that in fol‐ lowing Jesus’ example they choose a life of sacrificial service. These prominent themes within Mark’s characterization of Jesus - his authority, his exemplary 2 Methodik 72 <?page no="73"?> 443 Williams, Jesus as Lord, 125. 2.3.1.3 Fazit life, and his hiddenness - are potentially overlook as long as the final goal re‐ mains simply to isolate the most important title for Jesus in Mark.” 443 Wie im Vorhergehenden ausführlich gezeigt, bestehen in der Literatur- und Filmwissenschaft sowie in der Exegese viele unterschiedliche Ansätze zur Ana‐ lyse von Figuren. Es existiert jedoch bislang kein einheitliches Verfahren zur Analyse von Figuren innerhalb von Erzählungen, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss, da unterschiedliche Verfahren unterschiedliche Beobach‐ tungen zutage aufzeigen. Es lässt sich darüber hinaus eine Entwicklung festmachen: Ihren Ausgangs‐ punkt nimmt die Figurenanalyse in den 20er Jahren im Bereich der Literatur‐ wissenschaft. Figuren werden zunächst unter dem Aspekt ihrer Rolle und Funk‐ tion innerhalb von Handlungsmustern betrachtet und in bestimmte Kategorien eingeteilt (Forster, Propp, Harvey, Greimas). Im Laufe der Zeit werden vermehrt die ihnen im Text zugeschriebenen Eigenschaften (traits) analysiert (Barthes, Chatman). Wenig später werden diese beiden Verfahren zusammengebracht und miteinander kombiniert (Bal, Rimmon-Kenan). Im Zuge der kognitiven Wende werden Figuren in der neueren Forschung oftmals als mentale Modelle ver‐ standen, die vom Leser gebildet und konstruiert werden ( Jannidis, Eder). Der in der Literaturwissenschaft vollzogene Wandel hinsichtlich der Figu‐ renanalyse hat sich auch in der Analyse und Auslegung biblischer Texte voll‐ zogen. So finden sich Ansätze, die ihren Schwerpunkt auf die Kategorisierung von Figuren legen (u. a. Poplutz, Eisen). Wieder andere lehnen sich in ihren Figurenanalysen an Chatman an und untersuchen hauptsächlich die einer Figur zugeschriebenen traits (u. a. Powell, Rhoads / Michie, Tolmie). Darüber hinaus existieren in der Forschung auch Modelle, die versuchen, alle Aspekte mitei‐ nander zu kombinieren (u. a. Marguerat / Bourqin, Thompson, Schultheiss, Zim‐ mermann). In der letzten Zeit hat auch die kognitive Wende in der Analyse biblischer Figuren vereinzelt Anklang gefunden (u. a. Finnern). Im Unterschied zur Literaturwissenschaft stellt sich in der Theologie zudem vermehrt die Frage, den narrativen Ansatz historisch auszuweiten und den Text historisch zu ver‐ orten (u. a. Fehribach, Hartenstein, Bennema, Darr, Thompson, Finnern). 2.3 Figurenanalyse 73 <?page no="74"?> 444 Mit Ausnahme von Barthes, Chatman, Eder, Finnern, Bennema, Darr, Rhoads und Mi‐ chie, Tolmie, Oko und Danove. 445 Hier werden zum Teil unterschiedliche Begriffe verwendet, die aber inhaltlich alle an einer generellen Zweiteilung einer direkten und indirekten Figurendarstellung fest‐ halten. 446 U. a. Jannidis, Bar-Efrat, Powell, Marguerat / Bourqin, Hartenstein, Zimmermann, Thompson. 447 U. a. Rimmon-Kenan, Poplutz, Hur. 448 Anderson ordnet den Aspekt der Umwelt dagegen der Kategorie des telling zu und behandelt ihn damit ebenfalls nicht als eigenständige Kategorie, vgl. Anderson, Narra‐ tive Web, 78-79. 2.3.2 2.3.2.1 Kritische Auseinandersetzung mit den vorgestellten Vorgehensweisen der Figurenanalyse Zur figurenanalytischen Untersuchung in dieser Arbeit Nach der Vorstellung unterschiedlicher Figurenanalysemodelle aus verschie‐ denen Bereichen sowie der konkreten Durchführung von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte folgt nun eine kritische Auseinan‐ dersetzung mit diesen Verfahren. Sie dient letztlich dazu, die Figurenanalyse‐ kategorien herauszuarbeiten, die im Hinblick auf die geplante Analyse des Auf‐ erstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium sinnvoll und ergiebig erscheinen. Die im Vorherigen vorgestellten Verfahren zur Figurenanalyse sind nun hin‐ sichtlich ihres Nutzens für das Ziel, ein möglichst präzises und differenziertes Bild des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium aus dem Text he‐ raus zu erheben, zu befragen. Durch die Mehrzahl der Figurenanalyseverfahren 444 zieht sich eine generelle Unterscheidung zwischen einer direkten Charakterisierung (telling) und einer indirekten Charakterisierung (showing). 445 Diese beiden Kategorien scheinen auch im Hinblick auf die Analyse des Auferstandenen von Nutzen zu sein, da sie grundsätzliche Beobachtungen im Text zutage fördern. Lediglich hinsichtlich der Frage, welche Aspekte unter diesen beiden Kategorien zu verhandeln sind, besteht in der Forschung Uneinigkeit. Die eine Position 446 versteht unter der direkten Charakterisierung Aussagen des Erzählers sowie anderer Figuren über die Figur und unter der indirekten Charakterisierung das Handeln und Reden einer Figur. Eine andere Position 447 zählt zu der Kategorie der indirekten Cha‐ rakterisierung noch weitere Aspekte wie z. B. die Umwelt der Figur 448 hinzu. Wenn aber die Definition des showing wortwörtlich verstanden wird als die Art und Weise, wie sich eine Figur im Text selbst zeigt und präsentiert, dann kann 2 Methodik 74 <?page no="75"?> das showing nur Aspekte umfassen, auf die die Figur selbst einen Einfluss hat (also ihr Reden und Handeln, ihre Gestik, Mimik und ihre Gefühle). Der für die Analyse des Auferstandenen sicherlich ebenso relevante Aspekt der Umwelt einer Figur wird daher in einem eigenen separaten Methodenschritt verhandelt. Zum besseren Verständnis wird in dieser Arbeit jedoch anstelle des Begriffs showing der Begriff der Selbstcharakterisierung einer Figur gewählt, da hierdurch der Bezug auf die Figur selbst und ihr Reden und Handeln m. E. noch deutlicher wird. In Entsprechung dazu wird anstelle des Begriffs telling von der Fremd‐ charakterisierung einer Figur gesprochen, um zu kennzeichnen, dass es unter diesem Aspekt um (fremde) Aussagen des Erzählers oder anderer Figuren über die Figur geht. Eine Alternative zur Einteilung in direkte und indirekte Charak‐ terisierung bietet u. a. Finnern, der auf eine solche Unterscheidung verzichtet und stattdessen alle Figurenmerkmale zusammenfasst und in einem weiteren Schritt der Frage nachgeht, ob diese Merkmale direkt oder indirekt vermittelt worden sind. Jedoch scheinen viele seiner aufgelisteten Fragen nach Figuren‐ merkmalen wie z. B. Wissen, Erleben, Wünsche und Pflichten der Figur im Hin‐ blick auf den Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium nicht sehr ergiebig zu sein. Eine grundsätzliche Unterteilung in indirekte und direkte Cha‐ rakterisierung bzw. in Selbst- und Fremdcharakterisierung ist m. E. an dieser Stelle sinnvoller. Ähnlich wie Finnern verfahren auch Chatman, Rhoads und Michie und Tolmie, indem auch sie auf eine Unterteilung in direkte und indirekte Charakterisierung verzichten und sich in ihrer Figurenanalyse hauptsächlich auf die Zusammenstellung und Untersuchung aller einer Figur im Text zuge‐ schriebenen Merkmale (traits) beschränken. Jedoch bleibt eine solche Figuren‐ analyse, die nur aus einer Aneinanderreihung von Persönlichkeitsmerkmalen einer Figur besteht, m. E. recht einseitig und oberflächlich, da sie die Figur sta‐ tisch als Summe verschiedener traits und nicht dynamisch in ihren vielfältigen Funktionen und Beziehungen innerhalb einer Erzählung wahrnimmt. Für die Analyse des Auferstandenen werden somit grundsätzlich die beiden Kategorien indirekte und direkte Charakterisierung übernommen, in Selbst- und Fremdcharakterisierung umbenannt und dabei inhaltlich beschränkt auf eine Selbst-Präsentation der Figur v. a. durch ihr Handeln und Sprechen (Selbstcha‐ rakterisierung) und auf Aussagen über die Figur durch den Erzähler oder anderer Figuren sowie (nonverbaler) Reaktionen anderer Figuren auf die Figur (Fremd‐ charakterisierung). Um die Figur als dynamisch in ihren vielschichtigen Bezie‐ hungen und Funktionen innerhalb einer Erzählung wahrzunehmen, werden diese beiden Kategorien durch eine Reihe weiterer Kategorien ergänzt: Wie u. a. Finnern, Anderson, Thompson und Zimmermann deutlich gemacht haben, ist auch die Beziehung der Figur zu anderen Figuren von großer Bedeu‐ 2.3 Figurenanalyse 75 <?page no="76"?> 449 Vgl. Finnern, Naratologie, 78-86. 450 Vgl. Finnern, Narratologie, 79-82. 451 Vgl. Finnern, Narratologie, 84-85. tung und Aussagekraft für die Darstellung einer Figur. Zum einen treten im direkten Vergleich der Figur zu anderen Figuren Ähnlichkeiten, Gegensätze und Konflikte stärker hervor, schärfen also das Profil der Figur; zum andern sagt die Beziehung einer Figur zu anderen Figuren viel über die Figur selbst aus. Daher wird in Anlehnung an Finnern die Kategorie Figur und Figuren als eigenstän‐ diger Analyseschritt betrachtet. Ein Aktantenmodell, wie Greimas und andere es verwenden, kann zur Veranschaulichung der vielschichtigen Beziehungen einer Figur dienen. Jedoch ist es im Hinblick auf die Analyse des Auferstandenen m. E. ergiebiger, kein bereits feststehendes Raster zu verwenden, sondern jede Beziehung des Auferstandenen zu einer anderen Figur oder Figurengruppe in‐ dividuell zu beschreiben und daraus ein eigenes Beziehungs-Modell zu entwi‐ ckeln. Auch der in der Forschung oft ausgeklammerte und allenfalls am Rande be‐ handelte Aspekt der Umwelt und Umgebung, in der Figuren dargestellt werden (so u. a. bei Rimmon-Kenan, Anderson und Hur), scheint im Hinblick auf die Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium kein unwichtiger Aspekt zu sein. Finnern liefert zwar nützliche Kriterien zur Um‐ weltanalyse 449 , setzt diese jedoch nicht in Bezug zur Figurenanalyse. Er unter‐ scheidet in seiner Umweltanalyse zwischen zeitlichen, räumlichen und sozialen Settings 450 und macht darüber hinaus deutlich, dass die Umwelt auch als Symbol für etwas dienen und Stimmungen erzeugen kann. 451 Für die Analyse des Auf‐ erstandenen werden daher Finnerns Kriterien zur Umweltanalyse in die Figu‐ renanalyse integriert und in Beziehung zur Figur des Auferstandenen gesetzt. Um auch die Ebene der Handlung für die Figurenanalyse zu berücksichtigen (wie es v. a. Bal, Rimmon-Kenan und Finnern deutlich gemacht haben), wird in einem weiteren Analyseschritt die Figur in Beziehung zur Handlung gesetzt, um so ihre Funktion, Rolle und Bedeutung für die Handlung herauszustellen. Greimas, Harvey, Bal, Finnern, Eisen, Tolmie und andere liefern hierzu Modelle, in denen die Figuren gemäß ihrer Rollen und Funktionen innerhalb einer Hand‐ lung eingeteilt und zugeordnet werden. Der Vorteil solcher Modelle ist u. a. die Übersichtlichkeit über das Zusammenspiel verschiedener Figuren innerhalb einer Handlung. Jedoch erweist sich die Verwendung eines solchen eher starr erscheinenden Rasters im Hinblick auf die Analyse einer einzelnen Figur (in diesem Fall des Auferstandenen) nicht von großem Nutzen. Denn ein solches Aktantenmodell ist m. E. nicht in der Lage, die komplexe Rolle des Auferstanden in der Handlung zu untersuchen, da sich ein Modell auf pauschale und grobe 2 Methodik 76 <?page no="77"?> 452 Finnern, Narratologie, 164. 453 Vgl. Finnern, Narratologie, 164-186. 454 So Gun und Fewell, Powell, Anderson, Poplutz und Eisen. Kategorien und Einteilungen beschränken muss. Fragen wie „wie wird die Figur in die Handlung eingeführt? “ oder „treibt die Figur die Handlung voran? “ können durch ein solches Modell nicht beantworten werden. Ein Aktantenmo‐ dell eignet sich daher im Hinblick auf die Analyse des Auferstandenen besser zur Veranschaulichung der Beziehung des Auferstandenen zu anderen Figuren und wird daher unter der Kategorie Figur und Figuren verhandelt. In Anlehnung an Gun und Fewell, Marguerat und Bourqin, Finnern, Nicklas, Oko und im übertragenen Sinne auch an Eder soll in einem weiteren Schritt die bisher in der Forschung eher vernachlässigte Beziehung des Erzählers zur Figur untersucht werden. Es soll hierbei die Art und Weise, in der der Erzähler Aus‐ sagen über die Figur trifft, näher beleuchtet werden (bei Eder ist dies z. B. die Art und Weise der Kameraführung). Denn bei den vorherigen Kategorien han‐ delt es sich insgesamt um „Inhalte“ des Erzählers, also um das, was er über eine Figur sagt, an welchen Orten und zu welchen Zeiten er sie darstellt, wie er die Figur ins Verhältnis zu den anderen Figuren setzt und welche Rolle er der Figur innerhalb der Handlung zuschreibt. In der Analysekategorie Figur und Erzähler soll es aber nicht um Inhalte des Erzählens, sondern vielmehr um die Art und Weise der Präsentation dieser Inhalte gehen. Finnern verhandelt unter dem Analyseschritt Figurendarstellung u. a. folgende für die Beziehung des Erzählers zur Figur relevante Fragen: „Wie ist die Charakterisierung über den Text verteilt (z. B. Blockcharakterisierungen)? Wie ausführlich ist die Charakterisierung? “ 452 Genau wie die Umweltanalyse stellt die Perspektivanalyse bei Finnern wie‐ derum einen eigenständigen Bereich dar, der bei ihm nicht mit der Figurenana‐ lyse verknüpft ist. Hier verhandelt Finnern u. a. Fragen nach der Perspektive des Erzählers. 453 Unter der Kategorie Figur und Erzähler wird somit bei der Figuren‐ analyse des Auferstandenen vorrangig (in Bezug auf Eder, Marguerat / Bourqin und Finnerns Perspektivanalyse) die Perspektive des Erzählers zur Figur sowie die Art und Weise der Charakterisierung analysiert. Forster, Harvey, Ewen, Rimmon-Kenan, Gun und Fewell, Finnern, Powell, Bennema, Anderson, Poplutz, Eisen und Tolmie erstellen bestimmte Katego‐ rien, nach denen Figuren beurteilt, bewertet und eingeteilt werden. Sie richten sich dabei vornehmlich entweder nach Forsters Einteilung in flache und runde Charaktere 454 oder nach Ewens Einteilung in complexity, development und pe‐ 2.3 Figurenanalyse 77 <?page no="78"?> 455 So Rimmon-Kenan, Bennema und Tolmie. Bennema schlägt dabei noch weiter Kriterien („non“, „little“, „some“, „much“) zur graduellen Bestimmung einer Figur in den von Ewen aufgestellten drei Kategorien vor, vgl. Bennema, A Theory of Character, 85-90. 456 Vgl. Finnern, Narratologie, 186-245. netration to inner life. 455 Forsters Einteilung kann mit Rimmon-Kenan zu Recht als zu grob und damit ungenügend bezeichnet werden, da zwischen den beiden Polen rund und flach noch zahlreiche Zwischenstufen bestehen, die durch sein Modell nicht erfasst werden. Ewens Einteilung scheint hier schon besser ge‐ eignet zu sein, jedoch ist auch sie in ihren Kategorien limitiert. Hinsichtlich der Aus- und Bewertung einer Figur sind daher Finnerns Kriterien, die er in An‐ lehnung an Eder formuliert, am effektivsten. Er unterscheidet zwischen statisch oder dynamisch, knapp oder detailliert, eindimensional oder mehrdimensional, typisch oder untypisch, geschlossen oder offen, realistisch oder unrealistisch, kohärent oder inkohärent und macht damit eine präzise Auswertung einer Figur möglich. In Bezug auf die Analyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lu‐ kasevangelium wird jedoch bewusst auf eine abschließende Beurteilung der Figur in Bezug auf die eben genannten Kriterien verzichtet, da sie im Hinblick auf den Auferstandenen nicht sehr ertragreich erscheint. Dennoch werden die Kriterien implizit in den jeweiligen Analyseschritten mitberücksichtigt, v. a. der Aspekt der Kohärenz ist im Rückblick auf die Darstellung des irdischen Jesus von großer Bedeutung. Eder, Marguerat und Bourqin, Schultheiss, Finnern, Powell, Nicklas und an‐ dere untersuchen darüber hinaus die Wirkung einer Figur auf den Rezipienten. Es geht ihnen darum, zu ergründen, ob die Figur Sympathie, Empathie oder Antipathie beim Rezipienten auslöst. Die Frage nach der Wirkung einer Figur ist auch im Hinblick auf die Analyse des Auferstandenen von Interesse. Jedoch liefern Eder, Marguerat und Bourqin und Powell keine zufriedenstellenden Ka‐ tegorien, anhand derer Rezeptionsemotionen untersucht werden können. Fin‐ nern widmet sich dagegen der Rezeptionsanalyse in einem eigenen Kapitel, setzt sie aber wiederum nicht in Beziehung zur Figurenanalyse. 456 Die von ihm ge‐ nannten Kriterien (u. a. zur Empathie, Sympathie und Antipathie) eignen sich jedoch m. E. gut zur Analyse der Wirkung der Figur des Auferstandenen auf den Rezipienten und werden daher für die in dieser Arbeit verwendete Figurenana‐ lyse übernommen. Dabei stellt die Frage nach der Wirkung der Figur auf den intendierten Rezipienten keinen eigenen Analysepunkt dar; vielmehr spielt sie während der gesamten Figurenanalyse eine Rolle. Jannidis liefert in seinem Figurenanalysemodell wichtige Impulse hinsicht‐ lich der Beschaffenheit von Informationen über die Figur. Er nennt hier u. a. As‐ 2 Methodik 78 <?page no="79"?> 457 Auch Gun und Fewell fragen nach der Zuverlässigkeit von Aussagen über eine Figur in ihrem Figurenanalyseverfahren. pekte wie Zuverlässigkeit 457 , Modus, Relevanz, Dauer, Menge, Häufigkeit, Ord‐ nung, Dichte und Kontext der Informationen. Diese von ihm herausgestellten Kriterien, nach denen die Äußerungen über eine Figur im Text (direkt, indirekt, in Bezug auf die Handlung, die Umwelt und andere Figuren) befragt werden können, eignen sich m. E. gut dazu, generell und übergreifend in einer Figuren‐ analyse angewendet zu werden. Sie stellen somit keine eigene Kategorie dar, sondern werden bei allen Äußerungen in allen Kategorien berücksichtigt. Anderson, Hur, Rimmon-Kenan, Nicklas und Danove betonen in ihren Figu‐ renanalysen zu Recht den Aspekt der Analogie. Ihrer Ansicht nach besitzen Analogien (Wiederholungen, Ähnlichkeiten und Kontraste) im Text einen hohen Stellenwert und sagen viel über die Darstellung einer Figur aus. Genau wie die Fragen nach der Beschaffenheit von Aussagen, sind daher auch im Text begegnende Analogien in Bezug auf eine Figur stets in allen Analysekategorien mit zu berücksichtigen. Im Prinzip soll in der geplanten Analyse auf eine explizite historische Aus‐ weitung des narrativen Ansatzes durch das Heranziehen von frühchristlichen Vergleichstexten (wie bei Hartenstein und Fehribach) oder durch den Versuch einer Rekonstruktion des gesamten Weltwissens des damaligen Lesers (wie bei Darr) verzichtet werden, denn ein solches Vorgehen scheint nicht unproblema‐ tisch zu sein. Der Nachteil in Bezug auf Hartensteins Methodik dürfte darin liegen, dass ihr Verfahren, bei dem auch sehr viel später als das Johannesevan‐ gelium entstandene Texte als (bereits in mündlichen Vorstufen) bekannt vo‐ rausgesetzt und als Vergleichstexte genutzt werden, sehr hypothetisch und letztlich willkürlich bleibt. Auch Darrs Versuch, den damaligen lukanischen Leser genau zu rekonstruieren, um so durch seine Brille hindurch den Text zu lesen, kann wohl kaum so umfassend gelingen, dass sich ein wirklicher Ertrag für die Analyse daraus ergäbe. Eine generelle Verortung des Textes, wie u. a. Finnern, Oko und Bennema es vorschlagen, ist dagegen sinnvoll, da der Text allein schon durch seine Sprache und sein soziokulturelles Setting historisch verankert ist. Wie bereits im vorherigen Kapitel zu dem in dieser Arbeit ver‐ wendeten Erzählmodell geklärt worden ist, ist der intendierte Rezipient des Mat‐ thäus- und des Lukasevangeliums ein Leser des ersten Jahrhunderts nach Christus. Sein mögliches Weltwissen wird dann explizit berücksichtigt, wenn der Text ein entsprechendes Wissen vorauszusetzen scheint und damit eine his‐ torische Rückfrage für das Verständnis des Textes notwendig ist. Die „Richtung“ der Analyse erfolgt daher in dieser Arbeit nicht vom Hintergrund zum Text (wie 2.3 Figurenanalyse 79 <?page no="80"?> 2.3.2.2 Die in dieser Arbeit verwendeten Figurenanalysekategorien u. a. Hartenstein es vorschlägt), sondern vom Text zurück zum Hintergrund. Auf einen Versuch, bereits vor der Analyse der Texte das mögliche Profil des inten‐ dierten Rezipienten des Matthäusevangeliums und das mögliche Profil des in‐ tendierten Rezipienten des Lukasevangeliums genau zu rekonstruieren und ihnen ein enzyklopädisches Wissen zuzuschreiben, wird in dieser Arbeit jedoch verzichtet. Nach der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Figurenanalysemethoden ergeben sich somit für die Figurenanalyse des Auferstandenen die folgenden sechs Analysekategorien. In allen Analyseschritten wird dabei stets auf die Be‐ schaffenheit der Informationen, die Wirkung der Figur auf den intendierten Re‐ zipienten sowie auf mögliche Analogien geachtet. Diese sechs Kategorien werden deshalb bei der Untersuchung von Mt 28 und Lk 24 eingesetzt, weil die differenzierten Fragen möglichst vielfältige Beobachtungen zur Figur des Auf‐ erstandenen in den beiden Texten zutage bringen sollen; sie haben also insge‐ samt heuristische Funktion. 1 Fremdcharakterisierung Unter diese Analysekategorie werden alle direkten Aussagen, die der Erzähler oder andere Figuren im Text über die Figur tätigen, gefasst. Darunter fallen u. a. ausdrücklich zugeschriebene Aussagen über das Aussehen, die Herkunft, den sozialen Status, den Beruf, aber auch über Charakterzüge, Eigenschaften und Angewohnheiten der Figur. Dabei ist darauf zu achten, welche Figur etwas über den Auferstandenen sagt und ob diese als glaubwürdig eingestuft werden kann. Darüber hinaus zählen zu dieser Kategorie auch die (nonverbalen) Reaktionen anderer Figuren auf die Figur. 2 Selbstcharakterisierung In dieser Kategorie steht nicht das, was vom Erzähler oder anderen Figuren über die Figur erzählt wird, im Mittelpunkt, sondern das, was die Figur selbst über sich aussagt, wie sie sich zeigt und präsentiert. Hierzu zählen vor allem das Sprechen (Wortwahl, Stil) der Figur, Gedanken und Gefühle, nonverbales Ver‐ halten (Gestik, Mimik) sowie das Handeln (oder auch Nicht-Handeln) der Figur. 2 Methodik 80 <?page no="81"?> 3 Figur und Figuren In diesem Abschnitt geht es um die Frage, in welchem Verhältnis und in welcher Beziehung die Figur zu den anderen Figuren innerhalb der Erzählung steht. Wie verhält sie sich zu wem? Sind Kontrastfiguren zu erkennen? In diesem Bereich greifen die Aspekte der Analogie besonders stark, da hier Ähnlichkeiten und Kontraste der Figur zu anderen Figuren thematisiert werden. 4 Figur und Umwelt In der Kategorie Figur und Umwelt wird zum einen untersucht, in welcher Um‐ gebung, an welchen Orten oder Schauplätzen die Figur dargestellt wird. Zum anderen wird geprüft, ob die Figur mit bestimmten Zeiten, Daten oder Festen in Verbindung gebracht wird. Auch mögliche Symboliken oder erzeugte Stim‐ mungen durch Umweltschilderungen werden in Beziehung zur Figur gesetzt. 5 Figur und Handlung An dieser Stelle wird die Frage nach der Rolle und Funktion der Figur innerhalb der Handlung untersucht. Dabei sind folgende Fragen leitend: Ist die Figur durchgängig die Hauptfigur? Wie wird die Figur vom Erzähler in die Handlung eingeführt, wie oft kommt sie innerhalb eines Handlungsstrangs vor, treibt sie die Handlung voran und welche Relevanz und Bedeutung hat sie insgesamt für die Handlung? 6 Figur und Erzähler In dieser Kategorie steht das Verhältnis des Erzählers zur Figur und die Be‐ schaffenheit und Rhetorik seiner Figurendarstellung im Mittelpunkt. Es geht dabei konkret um folgende Fragen: Mit welchen (sprachlichen) Mitteln stellt der Erzähler die Figur dar? Was lässt sich über die Wortwahl des Erzählers und seinen Erzählstil bezüglich der Figur aussagen? Aus welcher Perspektive heraus schildert der Erzähler die Figur und wie sieht seine Kameraführung (Fokalisie‐ rung) aus? Deckt sich die Erzählzeit des Erzählers mit der erzählten Zeit der Handlung? 7 Fazit Zuletzt werden die im Vorherigen angestellten Beobachtungen gebündelt und im Zusammenhang der Frage nach der möglichen (theologischen und christo‐ logischen) Intention des jeweiligen Evangeliums ausgewertet. 2.3 Figurenanalyse 81 <?page no="82"?> 1 „The point is that such a figure carries with him something of the glory of God that both points to his being part of transcendent supernatural order and the fact that he is acting for, and with the power of, God”, Nolland, Matthew, 1248; vgl. auch Lohmeyer, Matthäus, 405: „[H]ier wendet der Erzähler alle Mittel an, um die Erscheinung ins Er‐ schreckende zu steigern. Dieser Engel sieht aus wie ein Blitz, grell und leuchtend”. 3 3.1 3.1.1 Figurenanalyse des Auferstandenen Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 Im Folgenden wird die Figurenanalyse der Figur des Auferstandenen im Erzähl‐ abschnitt Mt 28,1-20 nach den im vorherigen Kapitel ausgearbeiteten Analy‐ sekriterien durchgeführt. Fremdcharakterisierung des Auferstandenen Die Fremdcharakterisierung des Auferstandenen findet sich sowohl in Äuße‐ rungen des Erzählers oder anderer Figuren über den Auferstandenen, als auch in ihren nonverbalen Reaktionen auf ihn, die etwas über die Figur des Aufer‐ standenen aussagen. Im Rahmen von Mt 28,1-20 sind daher die folgenden Ab‐ schnitte von besonderer Relevanz: 1. Die Worte des Engels über den Auferstandenen (Mt 28,5-7); 2. Die Äuße‐ rungen und Reaktionen der Hohepriester hinsichtlich des Auferstandenen (Mt 28,12-14); 3. Die Äußerungen des Erzählers über das Aussehen des Auferstan‐ denen (Mt 28,9); 4. Die Reaktionen der Frauen auf den Auferstandenen (Mt 28,9); 5. Die Reaktionen der Jünger auf den Auferstandenen (Mt 28,17). 1. Die erste Fremdcharakterisierung der Figur des Auferstandenen findet sich in Mt 28,5-7 aus dem Mund eines Engels. Ein Engel, dessen Aussehen vom Er‐ zähler mit den Worten ὡς ἀστραπὴ καὶ τὸ ἔνδυμα αὐτοῦ λευκὸν ὡς χιών (Mt 28,3) beschrieben wird 1 , kommt vom Himmel herab, wälzt den Stein vom Grab Jesu, setzt sich auf ihn und teilt den Frauen, die die Leiche des gekreuzigten Jesus suchen, grundlegende Informationen über den Auferstandenen mit (Mt 28,5). Der intendierte Rezipient liest an dieser Stelle nicht zum ersten Mal von einem Engel, der eine Botschaft überbringt. Er kennt eine solche himmlische Mittlerfigur bereits <?page no="83"?> 2 Vgl. auch Luz, Matthäus IV, 402. 3 „Die Anrede 'fürchtet euch nicht' (28,10) erinnert den Rezipienten an die Epiphanie eines göttlichen Wesens“, Finnern, Naratologie, 331. 4 Vgl. Karrer, Jesus, 45: „Der Auferweckte ist personal identisch mit dem, der irdisch wirkte und den Tod erlitt.“ 5 Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik, 279. 6 Vgl. hierzu auch Luz, Matthäus IV, 404; Klaiber, Matthäusevangelium II, 279. aus Mt 1,20-23; 2,13; 2,19-20. An diesen drei Stellen erscheint ein Engel Josef, dem Vater Jesu, im Traum und erteilt ihm Handlungsanweisungen. Diese Anweisungen betreffen dabei jeweils unmittelbar die Figur des irdischen Jesus. Wenn nun in Mt 28,2-7 ein Engel den Frauen nicht nur im Traum, sondern in der Wirklichkeit, „leib‐ lich“, erscheint, dann erkennt der intendierte Rezipient die große Bedeutung der fol‐ genden Ereignisse. 2 Indem sich im Verlauf des Evangeliums die vom Engel gemachten Ankündigungen jeweils bestätigen, besitzt die Figur des Engels für den intendierten Rezipienten eine hohe Glaubwürdigkeit. Der Rezipient kann somit den folgenden di‐ rekten Aussagen des Engels über den Auferstandenen trauen. Zunächst teilt der Engel in Mt 28,5-6 zwei grundlegende Informationen über den Auferstandenen mit: 1. Er, der Gekreuzigte, ist von den Toten auferweckt worden und liegt nicht mehr an seinem Ort im Grab. 2. Er ist auferweckt worden, so wie er es bereits (als Irdischer) vorausgesagt hat. Dabei leitet der Engel die Aussagen über den Auferstandenen in V.5 mit den Worten μὴ φοβεῖσθε ὑμεῖς ein, wodurch der Engel den Frauen ihre Furcht - ausgelöst durch die Erscheinung eines göttlichen Wesens - nehmen will. 3 Mit der ersten Aussage des Engels wird auf das Vorwissen des intendierten Rezip‐ ienten angespielt, der im vorhergehenden Kapitel von der Kreuzigung Jesu, seinem Tod und seinem Begräbnis gelesen hat. Indem der Engel an dieser Stelle Jesus als τὸν ἐσταυρωμένον (V.5) betitelt, erhält die direkt im Anschluss daran folgende Aussage des Engels über seine Auferweckung (V.6) noch stärkeres Ge‐ wicht. Es entsteht somit ein starker Kontrast zwischen Jesu Tod und seiner Auf‐ erstehung. Der Engel verwendet die Bezeichnung τὸν ἐσταυρωμένον in V. 5 zwar im Hinblick auf den irdischen Jesus, der gekreuzigt worden ist, und dessen Leiche die Frauen suchen. Jedoch bezieht sich das Verb ἠγέρθη (V.6) immer noch auf Ἰησοῦν τὸν ἐσταυρωμένον, das Akkusativobjekt des vorherigen Verses. Der Engel spricht damit auch vom Auferstandenen als dem Gekreuzigten. 4 Auffällig daran ist, dass der Engel für die Bezeichnung Jesu als τὸν ἐσταυρωμένον eine Perfekt-Form verwendet, durch die die „Dauer des Vollendeten“ 5 beschrieben wird. Hierdurch wird zum Ausdruck gebracht, dass Jesus auch als Auferstan‐ dener stets der Gekreuzigte bleibt. 6 Indem der Engel für die Auferstehungsaus‐ sage ἠγέρθη eine Passiv-Form wählt, wird zudem deutlich, dass es sich bei der 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 83 <?page no="84"?> 7 Vgl. Luz, Matthäus IV, 404. Vgl. auch Frankemölle, Matthäus II, 522; Gnilka, Matthä‐ usevangelium II, 494; Kingsbury, Matthew as Story, 90: „The passive voice here is the 'divine passive', so that what the angel affirms is that 'God has raised Jesus from the dead“. Karrer, Jesus, 31: „Jesus tritt durch Gottes Handeln aus den Toten heraus.” 8 Luck, Matthäus, 314. 9 Vgl. Kremer, Osterevangelien, 65: „Das Adverb »schnell« […] zeigt, wie sehr dem Ver‐ fasser an Eile gelegen ist.“ Auferweckung nicht um eine Aktion des Auferstandenen selbst handelt, son‐ dern dass vielmehr ein Geschehen an ihm verübt worden ist. Der intendierte Rezipient versteht aufgrund des Kontextes Gott als den Akteur der Auferwe‐ ckung Jesu. 7 Die zweite Information des Engels (ἠγέρθη γὰρ καθὼς εἶπεν V.6) setzt eben‐ falls das Vorwissen des intendierten Rezipienten voraus, da der Engel die Os‐ terbotschaft „mit einer Erinnerung an das Wort Jesu selbst“ 8 verknüpft. Die Vo‐ raussagen seiner eigenen Auferstehung finden sich im MtEv an vier Stellen: Mt 16,21; Mt 17,22 f, Mt 20,18 f und Mt 26,32. Die Worte des Irdischen werden damit bestätigt, wodurch ein starker Rückbezug des Auferstandenen zum Irdi‐ schen entsteht. Diese Bestätigung seiner Ankündigung trägt zur Verlässlichkeit und Autorität der Worte Jesu insgesamt bei. Streng genommen erinnert der Engel jedoch nicht die Frauen an seine Vorhersagen (da der Irdische diese in allen vier Stellen nur an seine Jünger gerichtet hat), sondern er erinnert vielmehr den intendierten Rezipienten, der die Ankündigungen seiner Auferweckung aus seinem Lesegedächtnis kennt. Direkt im Anschluss, in V.7, fordert der Engel die Frauen auf, den Jüngern möglichst schnell eine Botschaft zu überbringen. Dabei unterstreicht das Adverb ταχύς, das in V.8 nochmals aufgegriffen wird, die Wichtigkeit und Dringlichkeit dieser Botschaft an die Jünger. 9 Die Botschaft enthält wiederum zwei direkte Aussagen über die Figur des Auferstandenen, wobei die erste Aussage eine Wie‐ derholung der zentralen Aussage des vorangehenden Verses darstellt: 1. Jesus ist von den Toten (ἀπὸ τῶν νεκρῶν) auferweckt worden. 2. Der Auferstandene 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 84 <?page no="85"?> 10 Dabei ist unklar, ob mit dem ὐμᾶς in V.7 nur die Jünger, oder auch die Frauen gemeint sind. Es steht an dieser Stelle also zur Debatte, ob der Auferstandene nur den Jüngern oder den Jüngern und den Frauen in Galiläa begegnen wird. Die Entscheidung für eine der beiden Varianten hängt m. E. an dem ὅτι in V.7. Übersetzt man das ὅτι mit „dass“ (vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch, Art. ὅτι, 1191), dann sind die nachfolgenden Worte ἠγέρθη ἀπὸ τῶν νεκρῶν im Sinne einer indirekten Rede zu verstehen, die durch das καὶ ἰδοὺ unterbrochen wird. Die Formulierung καὶ ἰδοὺ würde dann eine direkte Anrede auch an die Frauen darstellen, sodass auch sie im ὑμᾶς eingeschlossen wären; so u. a. Osiek, The Women at the Tomb, 208: „[…] the women received the angelic message in approximately the same terms as in Mark, including the promise of seeing Jesus himself in Galilee”. Versteht man jedoch das ὅτι in seiner Funktion als Doppelpunkt (vgl. Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik, § 470), so ist das ἠγέρθη ἀπὸ τῶν νεκρῶν als direkte Rede an die Jünger zu verstehen, zu der dann auch das καὶ ἰδοὺ hinzuzuzählen ist, wodurch sich das ὑμᾶς nur an die Jünger richtet; so u. a. Sand, Matthäus, 582. M. E. ist es sinnvoll, das ὅτι als Doppelpunkt zu verstehen und damit das ὑμᾶς nur auf den Jüngerkreis zu beziehen, da sich die Ankündigung der Begegnung in Mt 26,32 auch nur auf die Jünger bezieht und da letztlich die Begegnung in Galiläa nur vor den Jüngern stattfindet (Mt 28,16 f). Wenn die Ankündigung des Engels, der Auferstandene begegne auch den Frauen in Galiläa, sich dann doch nicht bewahrheitet, untergräbt dies nur die Glaubwürdigkeit des Engels, die ansonsten an keiner Stelle in Frage gestellt wird. 11 Gnilka, Matthäusevangelium II, 494. Darüber hinaus vermutet Gnilka, dass der Erzähler durch die Wahl von Galiläa anstelle von Jerusalem bereits die Hinwendung zu den Völkern deutlich machen will, vgl. ebd. Eine solche Erzählabsicht lässt sich m. E. jedoch nicht automatisch aus dem Text selbst schließen. 12 Davies / Allison, Matthew III, 668. 13 Trilling, Matthäus, 340. 14 Luck, Matthäus, 314. wird den Jüngern nach Galiläa vorausgehen und sich dort von ihnen sehen lassen. 10 An dieser Stelle wird - ohne es wie im vorangehenden Vers ausdrücklich zu nennen - in zweierlei Hinsicht auf das Vorwissen des intendierten Rezipienten angespielt: 1. Der intendierte Rezipient wird damit an die Aussage Jesu in Mt 26,32, er werde ihnen (den Jüngern) nach Galiläa vorausgehen, erinnert. 2. Der intendierte Rezipient kennt Galiläa als den Ort des ersten Wirkens Jesu. Hier hat er seine Jünger berufen, gelehrt und geheilt. Daher sichert Galiläa „als Stätte des Wirkens des Irdischen […] dessen Identität mit dem Auferstandenen.“ 11 Zudem ist Galiläa ein Ort „away from the corruption of Jerusalem“ 12 . Indem der Auferstandene den Jüngern dort, „wo ihr gemeinsamer Weg begonnen hat“ 13 und „von wo sie auszogen“ 14 , begegnen wird, schließt sich gewissermaßen der 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 85 <?page no="86"?> 15 Dagegen ist Luz der Ansicht, dass unklar bleibt, welche Assoziationen der Ort Galiläa bei den intendierten Rezipienten wecken soll, vgl. Luz, Matthäus IV, 405. Nach Luck ist Galiläa der Ort des Anfangs der Kirche und damit eine bewusste Anspielung auf das Vorwissen der Rezipienten, vgl. Luck, Matthäus, 314. So auch Frankemölle, Matthäus II, 527: „Der Blick des Lesers wird - so gelesen - am Ende an den Anfang zurückgelenkt“. Finnern stellt dagegen die m. E. zu weit gehende Behauptung auf, der intendierte Re‐ zipient würde den Ort Galiläa direkt als „geeigneten Fluchtort“ sowie als „passenden Ausgangspunkt für die Völkermission“ deuten, Finnern, Narratologie, 333. 16 Luck, Matthäus, 314. 17 So wie u. a. Lohmeyer es vermutet, vgl. Lohmeyer, Matthäus, 407: „Der Engel bricht seine Rede nicht ab; man soll sich nach dem Willen des Erzählers wohl denken, daß während seiner Worte die Frauen seiner Aufforderung folgen und vom Eingang des Grabes aus bemerken, daß es leer ist.“ 18 So auch Klaiber, Matthäusevangelium II, 282: „Zentral für den Osterglauben aber ist nicht das Faktum eines leeren Grabes“. 19 Vgl. Mt 27,63. 20 Lohmeyer, Matthäus, 411. Kreis. 15 Wie in V.6, so erfüllt auch in V.7 der Auferstandene seine als Irdischer angekündigten Versprechen, sodass ein starker Rückbezug auf den Irdischen entsteht. „Sein Wort gilt und überwindet jeden Bruch.“ 16 Ob die Frauen der Auf‐ forderung des Engels in V.6, herzukommen und das leere Grab anzuschauen, 17 nachkommen, lässt der Text offen. Das leere Grab scheint damit letztlich nicht wichtig und entscheidend zu sein für die Auferstehung Jesu, es spielt nur eine untergeordnete Rolle und dient nicht als Beweis für seine Auferstehung. 18 2. Eine weitere Aussage über den Auferstandenen findet sich in Mt 28,13, diesmal jedoch aus dem Mund der Hohepriester. Sie geben den Soldaten gegen Geld den Auftrag, das Gerücht (V.15) zu verbreiten, Jesu Jünger hätten seinen Leichnam mitten in der Nacht gestohlen. Damit sagen sie über die Figur des Auferstandenen aus, dass es sie überhaupt nicht gibt. Sie stellen ihn als einen gewöhnlichen Menschen, der den Tod nicht überwinden kann, dar. Durch den Vorwurf, seine Jünger hätten den Leichnam gestohlen, erscheint somit auch Jesus indirekt als Betrüger. 19 Dabei ist die Aussage über Jesus aus dem Mund der Hohepriester als eine bewusste Falschaussage im Kontext einer Bestechung, die auch im Text selbst als solche kenntlich gemacht wird, zu bewerten. Der Erzähler bleibt dennoch in seiner Darstellung der Szene sachlich; „mit einer vollendeten Nüchternheit und Überlegenheit werden die für den Erzähler ungeheuerlichen Umtriebe der jüdischen Führer sachlich berichtet“ 20 . Der Erzähler lässt die Ho‐ hepriester und Ältesten ein Gerücht in die Welt setzen, dessen Inhalt sie para‐ doxerweise bereits in Mt 27,64 selbst befürchtet haben. Weil sie Angst davor haben, die Jünger könnten den Leichnam Jesu stehlen, lassen sie das Grab be‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 86 <?page no="87"?> 21 Luz, Matthäus IV, 420. 22 Dabei weist Rienecker zu recht auf die Unsinnigkeit ihrer Falschaussage hin, denn „wie kann man, während man schläft, sehen und feststellen, daß Jünger an das Grab kommen, um zu stehlen? “, Rienecker, Matthäus, 374; so auch Hoffmann, Zeichen, 440. 23 Kremer, Osterevangelien, 69. Zur Wirkung der Ironie an dieser Stelle vgl. auch Da‐ vies / Allison, Matthew III, 671-672. 24 Vgl. Luz, Matthäus IV, 421. 25 So auch Konradt, nach dessen Ansicht die Intervention des Engels bereits ausreicht, „um sie Zeugen dafür sein zu lassen, dass das leere Grab auf einer göttlichen Interven‐ tion und nicht etwa auf dem Diebstahl der Leiche Jesu durch seine Jünger beruht“, Konradt, Matthäus, 454. 26 Vgl. Fiedler, Matthäusevangelium, 426-427: „'Alles', was ihnen die Soldaten erzählen, bezieht sich auf V.2, schließt aber auch das leere Grab ein, wovon sie sich nach dem Erwachen überzeugen konnten.“ wachen. Nachdem die Wachen jedoch aus Angst vor dem Engel in Ohnmacht gefallen sind (Mt 28,4) und der Leichnam Jesu wirklich aus dem Grab ver‐ schwunden ist, greifen sie diese Befürchtung „überraschend als Teil ihrer ei‐ genen Strategie“ 21 wieder auf. 22 Wahrscheinlich soll mit dieser Darstellung, der eine „unerhörte Ironie“ 23 anhaftet, bezweckt werden, dass die Hohepriester und Ältesten in den Augen des intendierten Rezipienten als verzweifelt, lächerlich und letztlich unwissend dastehen. Der intendierte Rezipient wird jedoch eine narrative Ungereimtheit be‐ merken: In V.4 wird erzählt, wie die Wachen durch die Ankunft des Engels er‐ schrecken und „wie Tote werden“. Dies impliziert für den Rezipienten, dass die Wachen die Aussage des Engels nicht mitbekommen haben und deshalb auch nicht von seiner Auferstehung wissen. Wenn aber nun der Erzähler in V. 11 aussagt, dass einige von der Wache in die Stadt kamen und ἅπαντα τὰ γενόμενα berichteten, dann entsteht an dieser Stelle für den intendierten Re‐ zipienten unweigerlich die Frage, was mit ἅπαντα gemeint ist. Denn hätten die Wachen nur das Erdbeben und die Ankunft des Engels, nicht aber dessen Aus‐ sage, miterlebt, dann müssten die Hohepriester kein Gerücht verbreiten lassen, das die Auferstehung Jesu leugnet, da sie gar nicht wissen, dass der Gekreuzigte nicht mehr im Grab liegt. Luz „löst“ dieses Problem, indem er annimmt, dass die Wachen auch gesehen haben, dass das Grab leer war. 24 Jedoch wird im Text erst in V.6 explizit vom leeren Grab gesprochen, sodass die Wachen, bevor sie in Ohnmacht gefallen sind, lediglich das Wegwälzen des Steins miterlebt haben können. Setzt der Erzähler also voraus, wie Luz es annimmt, dass die Wachen aus dem Wegwälzen des Steins geschlossen haben, das Grab sei leer? 25 Oder setzt der Erzähler womöglich voraus, dass sich die Wachen nach dem Erwachen selbst vom leeren Grab überzeugt haben, wie Fiedler es für wahrscheinlich hält? 26 Und wenn ja, schließen sie aus dem leeren Grab automatisch, dass Jesus auferstanden 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 87 <?page no="88"?> 27 Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium II, 499: „Das ganze Geschehen, von dem die Soldaten berichten, ist letztlich die Auferweckung Jesu, wenn sie auch - im Unterschied zu den Frauen - den Auferweckten nicht sahen. Mt begreift sie als untrügliches Zeichen der Auferstehung. Es ist das Zeichen, das Israel gegeben wird und das Jesus ihnen als das zu erneuernde Jonazeichen in Aussicht gestellt hatte (12,38-40).“ So auch Sand, Mat‐ thäus, 593. Dagegen Kremer, Osterevangelien, 68: „Da die Auferstehung im Text nicht geschildert wird, kann sie auch nicht, wie oft angenommen wurde, direkt zum Inhalt der Berichterstattung gehören.“ Luz lässt dies offen, nimmt jedoch an, dass die Hohe‐ priester und Ältesten der Schilderung der Wachen glauben, dass das Grab leer sei, und dies auch nicht in Frage stellen, vgl. Luz, Matthäus IV, 422. 28 Vgl. Luck, Matthäus, 315: „Es bleibt daher nur eine Erklärung, und die erheben die Hohepriester und Ältesten (vgl. 27,1) zum Beschluß: Die Jünger haben den Leib nachts gestohlen, während die Wachmannschaft schlief (V. 13). Es ist so gekommen, wie sie befürchtet haben (27,63).“ 29 Luz, Matthäus IV, 422. 30 „Im vorliegenden Textabschnitt wird das Geldmotiv wiederholt (12 und 15). […] So zeigt es einerseits die Schlechtigkeit der Geldgeber, andererseits die Käuflichkeit der Men‐ schen an.“ Gnilka, Matthäusevangelium II, 498. 31 Vgl. hierzu auch Konradt, Matthäus, 458: „Matthäus bringt damit die Verlegenheit, in die die Autoritäten aufgrund ihrer eigenen Sicherungsmaßnahme angesichts der Evi‐ denz des Geschehens geraten sind, in geradezu sarkastischer Weise zum Ausdruck.“ ist, wie Gnilka es annimmt? 27 Eine solche Schlussfolgerung gibt jedoch m. E. der Text selbst nicht her. Luck vertritt dagegen eine gegenteilige Ansicht, nämlich dass die Wachen und Hohepriester selbst vom Diebstahl der Jünger überzeugt sind, der für sie das leere Grab erklärt. 28 Gegen diese Position spricht aber die ausführlich dargestellte Bestechung der Wachen mit Geld sowie die Bezeich‐ nung dieser Aussagen als Gerücht (V.15). Der intendierte Rezipient weiß aus der Verleugnung des Judas (Mt 26,15), dass „Geld […] schon immer ein Mittel ihrer bösen Strategie“ 29 war. 30 Letztlich spricht der Text selbst m. E. nicht für eine der beiden Varianten (Gnilka: die Hohepriester glauben, dass Jesus auferstanden ist; Luck: die Hohe‐ priester glauben, dass Jesus von seinen Jüngern weggeschafft wurde). Der Er‐ zähler lässt dies offen und stellt nur dar, dass die Hohepriester und Ältesten zwar wissen, dass das Grab leer ist (sei es, dass die Wächter diese Tatsache allein durch das Wegwälzen des Grabsteins geschlossen haben oder dass sie sich nach dem Erwachen vom leeren Grab überzeugt haben), jedoch nicht, warum. Aus Angst, die Jünger Jesu könnten dem Volk erzählen, Jesus sei auferstanden (Mt 27,64), setzen sie also bewusst ein Gerücht in die Welt. 31 Damit „stellen [sie] der christ‐ lichen Botschaft, die die Frauen vermitteln, eine Antibotschaft entgegen, die die 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 88 <?page no="89"?> 32 Gnilka, Matthäusevangelium II, 499; vgl. auch Gielen, Konflikt, 403: „Die Bestechung und die Instruktion der Wächter durch den Hohen Rat (VV. 12-14) entlarvt diejenigen, die Jesus und seinen Jüngern Betrug und Diebstahl vorwerfen, selbst als Betrüger, die mit krimineller Energie die Osterbotschaft zu unterdrücken versuchen.“ 33 Vgl. Mt 26,3-4 sowie Mt 27,20. 34 Luz, Matthäus IV, 420. 35 Luz, Matthäus IV, 421. 36 Zur Rolle der Gegner im Matthäusevangelium vgl. auch Dormeyer, Rollen, 125-127; sowie Fiedler, Israel, 63-64. 37 Vgl. Luz, Matthäus IV, 417. Ähnlich auch Klaiber, Matthäusevangelium II, 281: „Hier verzichtet Matthäus auf jeglichen Versuch, die neue Existenzweise des Auferstandenen zu beschreiben.“ 38 „Die Berührung der Füße deutet die Realität seiner Leiblichkeit an“, Gnilka, Matthäus‐ evangelium II, 495; so auch Konradt, Matthäus, 456: „Das berühren der Füße in V.9 gibt einen Hinweis auf die Leiblichkeit der Auferstehung“; vgl. auch Carter, Mathew and the Margins, 547: „The verb seized / took hold indicates that he is not a ghost.“ 39 Frankemölle, Matthäus II, 528. Soldaten vermitteln sollen.“ 32 Der intendierte Rezipient kennt die Figuren der Ältesten und Hohepriester bereits aus den vorherigen Kapiteln und weiß, dass sie es waren, die für den Tod Jesu mit verantwortlich sind. 33 Die Soldaten nehmen in diesem Kontext die Funktion ihrer „Instrumente“ 34 ein. Der intendierte Rezi‐ pient hat bereits aus den vorherigen Kapiteln ein negatives Bild von der Figu‐ rengruppe der Hohepriester und Ältesten gewonnen und sieht sie als „Akteure des Bösen“ 35 . Er empfindet es daher als Bestätigung dieses Bildes, wenn nun dieselbe Figurengruppe die Existenz des Auferstandenen abstreitet. 36 Wichtig für die Charakterisierung des Auferstandenen ist, dass der inten‐ dierte Rezipient die Aussagen über ihn durch die Hohepriester - im Gegensatz zu den Aussagen des Engels über den Auferstandenen - als bewusste Falsch‐ aussagen bewertet. Der Erzähler lässt also keinen Zweifel daran, wem zu glauben ist und wem nicht. 3. Dass der Erzähler über das Aussehen des Auferstandenen, wie Luz es meint, kein Wort verliert 37 , ist nicht ganz richtig. Über das Aussehen des Auferstan‐ denen bietet das MtEv auffällig spärliche Informationen, die jedoch von Bedeu‐ tung sind: In Mt 28,9 wird beschrieben, dass die Frauen, nachdem sie dem Auf‐ erstandenen begegnen, seine Füße umfassen. 38 Weiter wird in Mt 28,18 erzählt, dass der Auferstandene zu seinen Jüngern hinzutritt und mit ihnen redet. Diese Darstellung kann vom intendierten Rezipienten „aufgrund der nüchternen, re‐ alistisch die irdische Existenz betonenden Erzählform als Hinweis darauf wahr‐ genommen werden, daß die Identität des Auferweckten mit dem Irdischen be‐ tont werden soll“ 39 . Der Erzähler schreibt dem Auferstandenen somit einen 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 89 <?page no="90"?> 40 Anders als z. B. im Johannesevangelium, vgl. Joh 20,17. 41 Vgl. Finnern, Narratologie, 334. 42 Alkier, Auferweckung, 118. 43 Vgl. Fiedler, Matthäusevangelium, 426: „Dieser Erzählzug kommt in keiner anderen Ostergeschichte vor und könnte der selben apologetischen Absicht entstammen wie Lk 24,36-43 die Abwehr des Verdachts, ein Gespenst zu sehen“. 44 „Der Rezipient wird aber vermutlich von sich aus schließen, dass der Auferstandene ähnlich leuchtet wie bei der Verklärung bzw. wie der Engel“, Finnern, Narratologie, 334. Dem intendierten Rezipienten eine solche Schlussfolgerung zuzuschreiben er‐ scheint jedoch m. E. willkürlich. 45 Dabei ist das Umfassen seiner Füße als Huldigung und nicht als ein Versuch, Jesus festzuhalten zu verstehen, vgl. Denaux, Story, 131. 46 Finnern, Narratologie, 334: „Während Lk und Joh sich darin einig sind, dass der Aufer‐ standene für die Jünger nicht gut zu erkennen ist - das heißt, dass sein äußeres Er‐ scheinungsbild sich geändert haben muss […] - setzt MtEv dies nicht voraus.“ 47 Luz, Jünger, 162. (menschlichen) Körper zu, der berührt werden kann 40 , und macht deutlich, dass er keine andere Gestalt als der irdische Jesus angenommen hat. 41 Der Aufer‐ standene „ist sichtbar, er spricht und er ist haptisch wahrnehmbar“ 42 . Dem Er‐ zähler ist es wichtig, dem intendierten Rezipienten die Leiblichkeit des Aufer‐ standenen aufzuzeigen und zu betonen, dass es sich beim Auferstandenen nicht um ein Geistwesen oder Gespenst handelt. 43 Dafür jedoch, dass der intendierte Rezipient - wie Finnern es annimmt - sich den Auferstandenen als leuchtendes Wesen ähnlich wie bei der Verklärung oder wie bei Engelwesen vorstellt, lassen sich m. E. im Text selbst keinerlei Anhaltspunkte finden. 44 4. Die Reaktion der Frauen auf den Auferstandenen untermauert und bestätigt die Leiblichkeit des Auferstandenen. Sie erkennen den Auferstandenen direkt (im Gegensatz zu den Emmaus-Jüngern in Lk 24,31), umfassen seine Füße und huldigen ihm. 45 Die Reaktion der Frauen impliziert also, dass der Auferstandene kein gänzlich anderes Aussehen als der Irdische besitzt. 46 5. Die Reaktion der Jünger auf den Auferstandenen (V.17) steht im Gegensatz zur Reaktion der Frauen auf ihn (V.9): Es wird berichtet, dass die Jünger den Auferstandenen sehen, ihm daraufhin (wie die Frauen) huldigen, zugleich aber auch zweifeln (οἱ δὲ ἐδίστασαν). „Der Zweifel der Jünger wird also nicht durch die Erscheinung überwunden“ 47 . Es stellt sich hier die in der Forschung kont‐ rovers diskutierte Frage, wer genau in den Zweifel dem Auferstandenen gegen‐ über eingeschlossen ist. Zweifeln alle Jünger oder zweifeln nur einige von ihnen? 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 90 <?page no="91"?> 48 Vgl. Luz, Matthäus IV, 439; Harrington, Matthew, 414. 49 Vgl. die ausführliche Argumentation bei Luz, Matthäus IV, 439. 50 Vgl. Sand, Matthäus, 595: „»hoi de« hat nicht partitive Bedeutung“; so auch Luck, Mat‐ thäus, 317; Frankemölle, Matthäus II, 541-542. 51 So u. a. Konradt, Matthäus, 461, der den Zweifel der Jünger darauf bezieht, „was Jesu Auferweckung im Blick auf seine Stellung […] bedeutet.“ 52 So auch Finnern, Narratologie, 338: „Aus dem προσκυνεῖν der Jünger (vgl. die Reaktion der Frauen in V.9) lässt sich schlussfolgern, dass sie Jesus wiedererkennen.“ Die Antwort hierauf hängt von der Beurteilung des οἱ δὲ ab. Luz und andere vertreten die Meinung, das οἱ δὲ schränke das zuvor in V.16 genannte Subjekt (ἕνδεκα μαθηταὶ) ein. Demnach ist mit „einige aber zweifelten“ zu übersetzen. 48 Nach Luz verwendet Matthäus (abgesehen von Mt 26,67) immer die Formulierung οἱ δὲ, um ein anderes, vorher genanntes Subjekt einzuführen. In Mt 28,17 bezeichne das οἱ δὲ zwar kein ganz neues Subjekt, da es sich ja immer noch auf die Gruppe der elf Jünger beziehe, aber es sei wenigstens teilweise ein anderes Subjekt und somit vorzu‐ ziehen. 49 Dagegen sind Sand und andere der Ansicht, dass sich das οἱ δὲ auf das vorangehende Subjekt in V. 16 (ἕνδεκα μαθηταὶ) bezieht. Demnach zweifeln alle elf Jünger, nachdem sie ihm gehuldigt haben, was ihren Kleinglauben noch unterstreicht. 50 Überzeugender scheint mir in dieser Fragestellung letztlich die Lösung von Sand u. a. zu sein, mit „sie aber zweifelten“ zu übersetzen, da eine solche Ambivalenz im Verhalten von Figuren typisch für das Matthäusevangelium zu sein scheint (vgl. die ambivalente Reaktion der Frauen „mit Furcht und großer Freude“ V.8). Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet, auf wen oder auf was sich der Zweifel der Jünger bezieht. Zweifeln die Jünger an der Person des Auferstandenen, weil sie den Auferstandenen (äußerlich) nicht erkennen? Oder erkennen sie ihn, zweifeln jedoch trotzdem an ihm und an seiner Aufer‐ stehung? Im ersten Fall würde dies der Reaktion der Frauen auf den Auferstan‐ denen konträr gegenüberstehen und die im Vorherigen gemachten Beobach‐ tungen, dass der Auferstandene sich äußerlich nicht sonderlich vom Irdischen unterscheidet, untergraben. Im zweiten Fall würde die Reaktion nichts über das Aussehen des Auferstandenen aussagen, jedoch über das Ereignis seiner Auf‐ erstehung. Gegenstand ihres Zweifelns wäre dann Gottes lebensstiftendes Han‐ deln an Jesus. 51 M. E. sprechen folgende Argumente für den zweiten Fall: 1. Die Jünger sehen den Auferstandenen und huldigen ihm (V.17a); das würden sie nicht tun, wenn sie ihn nicht (äußerlich) auch erkennen würden. 52 2. Das Motiv des Zweifelns findet sich im Matthäusevangelium meist im Kontext des Glaubens, indem es den Kleinglauben der Jünger demonstriert (vgl. Mt 14,31 ὀλιγόπιστε, εἰς τί 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 91 <?page no="92"?> 53 Vgl. Luz, Matthäus IV, 439-440: „Die Ambivalenz der Jünger in V. 17 gehört hinein in das matthäische Konzept des »Kleinglaubens«“. 54 Poplutz, Verunsicherter Glaube, 46. 55 Fiedler, Matthäusevangelium, 429. 3.1.2 ἐδίστασας; ). 53 „Dass die Jünger in den letzten Versen der Erzählung eine solch irritierende Mischung aus Proskynese und Zweifel an den Tag legen, ist für die Leserinnen und Leser weder überraschend noch neu.“ 54 Der Auferstandene ist also auch bei seinen Jüngern zum Teil umstritten. Genau wie die Jünger bereits gegenüber dem Irdischen ihre Zweifel hatten, „so nun explizit gegenüber dem Auferweckten.“ 55 Insgesamt ergeben sich aus der Fremdcharakterisierung des Auferstandenen drei wesentliche Punkte: 1. Vom Auferstandenen wird durch die Figur des Engels als vom Gekreuzigten geredet. Es entsteht dadurch eine starke Rückbindung an den Irdischen. Auch sein Aussehen unterscheidet sich nicht signifikant vom Irdischen. Der Auferstandene ist damit kein gänzliches neues Wesen, sondern er ist immer noch der Gekreuzigte. 2. Der Auferstandene ist eine umstrittene Gestalt. Von den Hohepriestern wird seine Existenz bewusst geleugnet und auch die Jünger zweifeln an ihm. Der Auferstandene ist damit keine Selbstverständlichkeit oder objektive Gegeben‐ heit, die von allen gleichermaßen akzeptiert wird und für alle offenkundig ist. 3. Der Auferstandene löst die Ankündigungen, die er als Irdischer gemacht hat, ein. Sein Wort besitzt damit auch durch seinen Tod hindurch eine Gültigkeit und Verlässlichkeit. Selbstcharakterisierung des Auferstandenen Die Selbstcharakterisierung des Auferstandenen kommt v. a. im Handeln und Sprechen der Figur des auferstandenen Jesus zum Ausdruck. Dabei verteilt sich die Selbstcharakterisierung in Mt 28,1-20 auf zwei wesentliche Blöcke: 1. Die Begegnung des Auferstandenen vor den Frauen und seine Worte an sie (Mt 28,9- 10) sowie vorausgehend die erzählerische Hinführung zu dieser Begegnung (Mt 28,1-8). 2. Die Begegnung des Auferstandenen vor den Jüngern und seine Rede an sie (Mt 28,16-20). 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 92 <?page no="93"?> 56 Vgl. hierzu auch Michel, Abschluß des Matthäusevangeliums, 17: „Das 'Hinzutreten' Jesu wird außerordentlich schlicht erzählt, anders als der 'Abstieg' des Engels vom Himmel her“. 57 Dies gilt dann, wenn (wie im vorherigen Kapitel ausführlich erörtert) in V. 7 die An‐ kündigung der Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa als explizit an die Jünger gerichtet verstanden wird, das ὑμᾶς also die Jünger meint, so u. a. Luz, Matthäus IV, 405; Sand, Matthäus, 582; Luck, Matthäus, 314; Frankemölle, Matthäus II, 520-521. 1. Die Selbstcharakterisierung des Auferstandenen setzt im Erzählabschnitt Mt 28,1-20 erst auffallend spät in V. 9 ein. Damit ist fast die Hälfte der gesamten Ostererzählung berichtet, ohne dass Jesus selbst auftritt. Die vorherigen Verse, einschließlich der direkten Äußerungen über den Auferstandenen durch den Engel, dienen als Einleitung und Vorbereitung der Erscheinung des Auferstan‐ denen. Der Erzähler gestaltet in den Versen 1-9 eine Spannungskurve, die schließlich ihren Höhepunkt in dem Auftritt des Auferstandenen in V.9 erreicht. Die Er‐ zählung beginnt zunächst in V.1 langsam und leise mit der Wanderung der Frauen zum Grab im Morgengrauen. In den Versen 2-4 wird die Spannung für den intendierten Rezipienten durch das Erdbeben, die Erscheinung des Engels sowie durch die Ohnmacht der Wachen erhöht. In den Versen 5-7 steigt die Spannungskurve noch weiter durch die Aussage der Auferstehung Jesu durch den Engel und seinen Auftrag. In V. 8 kommt wortwörtlich „Tempo“ in die Er‐ zählung durch das schnelle Weggehen der Frauen vom Grab (ἀπελθοῦσαι ταχὺ ἀπὸ τοῦ μνημείου). Die Worte des Erzählers in V. 9 καὶ ἰδοὺ richten schließlich die volle Aufmerksamkeit des intendierten Rezipienten auf die nun folgende Erscheinung Jesu, mit der die vom Erzähler aufgebaute Spannungskurve ihr Ziel erreicht. Die Erscheinung des Auferstandenen wird damit aufwendig und dra‐ matisch angekündigt, begleitet von Erdbeben, einem Engel und die Gesetze der Natur umstürzende Ereignisse. Mit dieser gigantischen Ankündigung seines Auftritts unterstreicht der Erzähler die herausragende Macht und Bedeutung des Auferstandenen sowie das göttliche Wunder seiner Auferstehung. Die Begegnung mit den Frauen (V.9) wird dagegen eher unspektakulär und „leise“ (im Vergleich zum Erdbeben in V.2) geschildert, wodurch ein starker Kontrast zu den vorherigen Versen erzielt wird. 56 Eine Begegnung des Aufer‐ standenen vor den Frauen wurde im Gegensatz zu der Begegnung des Aufer‐ standenen mit den Jüngern nicht explizit vom Engel angekündigt und beinhaltet daher für den intendierten Rezipienten ein gewisses Überraschungsmoment. 57 Der intendierte Rezipient kennt die Frauen bereits aus der Passionserzählung. Sie sind Jesus aus Galiläa nach Jerusalem gefolgt und waren sowohl bei seiner Kreuzigung (Mt 27,55) als auch bei seiner Grablegung (Mt 27,61) dabei. Indem 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 93 <?page no="94"?> 58 So auch Gnilka, Matthäusevangelium II, 495: „Die Protophanie vor den Frauen zeichnet diese in außerordentlicher Weise aus.“ 59 Finnern, Narratologie, 333. 60 So u. a. Fiedler, Matthäusevangelium, 425; Luck, Matthäus, 314; Trilling, Matthäus, 340: „Der Gruß Jesu ist die schlichte alltägliche Begrüßung und kein feierliches Se‐ genswort“; Kremer, Osterevangelien, 67; Frankemölle, Matthäus II, 528; Davies / Al‐ lison, Matthew III, 669; Gnilka, Matthäusevangelium II, 495. 61 Vgl. Luz, Matthäus IV, 417-418; ähnlich auch Schniewind, Matthäus, 277. 62 Luz, Matthäus IV, 417-418. 63 Frankemölle, Matthäus II, 529. 64 Vgl. auch Konradt, Matthäus, 456: „Auffallend ist, dass in der Botschaft des Auferstan‐ denen an die Frauen in V.10 kein eigener Inhalt zum Voranstehenden hinzutritt, sondern allein die Botschaft des Engels in V.7b bekräftigt wird“. der Auferstandene nicht den Jüngern, sondern den Frauen begegnet, die im ge‐ samten Evangelium - im Vergleich zu den zwölf Jüngern - eine eher unterge‐ ordnete Rolle spielen, lässt er ihnen mit dem Erlebnis der Ersterscheinung eine große Wertschätzung zukommen. 58 „Der Rezipient denkt vielleicht daran, dass im MtEv häufig gerade Randfiguren als Glaubensvorbilder erscheinen, nicht die Jünger“ 59 . Das erste Wort aus dem Mund des Auferstandenen lautet χαίρετε. Die meisten Kommentare übersetzen in Mt 28,9 den Imperativ χαίρετε mit „seid gegrüßt“. 60 M. E. wird jedoch das bloße Verständnis als alltäglicher Gruß dieser Stelle nicht gerecht. Im vorangehenden V.8 wird von der Furcht und Freude der Frauen be‐ richtet, die sie beim Verlassen des Grabes empfinden. Wenn der Auferstandene sie daraufhin mit χαίρετε begrüßt, so wird damit stark auf den semantischen Gehalt des Grußes („freut euch“) angespielt. 61 Es ergibt sich damit eine Art Chi‐ asmus: In V. 8 wird von Furcht und Freude berichtet, in V.9 beinhaltet der Gruß den Aufruf zur Freude und in V. 10 spricht Jesus zu den Frauen „fürchtet euch nicht“, sodass sich insgesamt Furcht (V.8), Freude (V.8), Freude (V.9) und Furcht (V.10) aneinanderreihen. Der Auferstandene „bestätigt und vertieft […] die »große Freude«, welche die Frauen bereits haben“ 62 . Die Freude, die der Aufer‐ standene den Frauen wünscht, ist die Freude über die Wiederbegegnung mit dem auferstandenen Jesus, der von den Frauen als Toter gesucht worden ist und als Lebendiger begegnet. Anschließend wiederholt der Auferstandene die Aufforderung des Engels, den Jüngern die Botschaft zu überbringen, er werde ihnen in Galiläa erscheinen (V.10). Durch die fast wortwörtliche Wiederholung kommt zum Ausdruck, dass „das Wort ,Jesu’ mit dem Wort ,des Engels des Herrn’ […], d. h. mit dem Willen Gottes“ 63 übereinstimmt. 64 Indem der Auferstandene nun selbst ein Wiedersehen mit den Jüngern in Galiläa ankündigt, wird der intendierte Rezipient an seine unmittelbare Vor‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 94 <?page no="95"?> 65 Vgl. Mt 26,31-32: „Da sagte Jesus zu ihnen: Ihr alle werdet Anstoß an mir nehmen in dieser Nacht, denn es steht geschrieben: »ich werde den Hirten schlagen und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen«. Wenn ich aber auferweckt worden bin, werde ich euch nach Galiläa vorausgehen.“ Mit dem ersten Zitat spielt Jesus auf Sacharja 13,7 an. 66 Von einem Zurückziehen der Jünger wird zwar nicht im Text selbst berichtet, es kann aber implizit aus der Erzählung geschlossen werden. Die Jünger werden als Gruppe nicht mehr erwähnt, weder bei der Kreuzigung (im Gegensatz zu den Frauen vgl. Mt 28,55-56), noch bei seiner Grablegung (im Gegensatz zu den Frauen vgl. Mt 28,61). 67 „Für Jesus sind sie nicht definitiv gefallen; ihre Untreue hat seine Treue nicht aufge‐ hoben“, Luz, Matthäus IV, 418. Nach Frankemölle kann der Rezipient die Aussage Jesu als „erneuten Ruf in seine Nachfolge“ und als eine „Reaktivierung von Jüngerschaft“ verstehen, Frankemölle, Matthäus II, 530. So auch Sand, Matthäus, 592: „Das Versagen der Jünger in der Stunde der Erniedrigung Jesu ist vergeben. Die Botschaft, daß der Tote lebt, befreit sie aus der Nacht und Finsternis des Nichtbegreifens, aus der Not mensch‐ lichen Versagens.“ 68 Konradt, Matthäus, 456. hersage in Mt 26,31-32, dass sich die Jünger nach seinem Tod zerstreuen werden und dass er ihnen nach seiner Auferstehung nach Galiläa vorangehen wird, er‐ innert. 65 Genau wie angekündigt, sind die Jünger in seinen letzten Stunden nicht bei ihm geblieben 66 , oder haben ihn (wie im Fall des Petrus) sogar verleugnet (vgl. Mt 26,69-75). Indem der Auferstandene sie dennoch wiedersehen will, wird der Bruch zwischen ihnen (wie in Mt 26,31-32 bereits angekündigt) geheilt. Verstärkt wird diese Heilung des Bruches noch dadurch, dass der Auferstandene die Jünger als τοῖς ἀδελφοῖς μου bezeichnet. Die Bezeichnung „meine Brüder“ in Bezug auf die Jünger begegnet im MtEv nur noch in Mt 12,46-50. Hier werden Jesu leibliche Brüder den Jüngern gegenübergestellt. Als „Brüder“ bezeichnet Jesus nicht seine leiblichen Verwandten, sondern jeden, der den Willen seines Vaters in den Himmeln tut (Mt 12,50). Die Jünger Jesu werden damit in diesem Zusammenhang bereits als „Brüder“ bezeichnet (Mt 12,49). Indem der Auferstandene die Jünger nach seiner Auferstehung trotz ihres Ver‐ sagens als „Brüder“ bezeichnet, macht er deutlich, dass sie dennoch zu seiner Gemeinschaft, zu seiner Familie gehören 67 . Denn diese Bezeichnung impliziert, „dass Jesus ihnen ihr Fehlverhalten nicht anrechnet, sondern es gnadenhaft übergeht.“ 68 Gleichzeitig schwingt in dieser Bezeichnung auch eine Erwartung des Auferstandenen an seine „Brüder“ mit, dass sie den Willen Gottes tun (Mt 12,50) und nach Galiläa gehen werden. Für den Auferstandenen ist somit das 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 95 <?page no="96"?> 69 Dagegen führt Finnerns Annahme „Die Jünger nimmt er offenbar wieder als 'Brüder' an. Er weiß, dass sie seine neue Existenz als Auferstandener erst noch begreifen müssen […] und dass sie Ermutigung brauchen“, Finnern, Naratologie, 332, m. E. über die Textgrundlage hinaus. Auch der Figur des Auferstandenen Mitleid gegenüber seinen Jüngern zuzuschreiben (vgl. Finnern, Narratologie, 332), ist m. E. eher eine willkürliche Mutmaßung als eine vom Text bewusst intendierte Reaktion des Auferstandenen. Zwar wird der Bruch zwischen ihnen geheilt, aber nicht Mitleid, Ermutigung und Barmher‐ zigkeit des Auferstandenen stehen m. E. in Mt 28,10 im Fokus, sondern ganz klar der Auftrag an die Jünger, nach Galiläa zu gehen, um ihnen dort seine Rede zu halten (vgl. Mt 28,18-20). 70 Vgl. hierzu auch Vögtle, Evangelium, 262-263. 71 Zur literarischen Struktur von Mt 28,16-20 vgl. u. a. Malina, Structure, 87-103; sowie Bauer, Structure, 109-127. Zum Jesuswort in Mt 28,18-20 als strukturelle und argu‐ mentative Markierung im gesamten Matthäusevangelium vgl. Byrskog, Slutet gott, all‐ ting gott, 89-90. 72 Dieses Indefinitpronomen findet sich in V.18, V.19a, V.20a und V.20b. Es kommt damit innerhalb der Rede an vier Stellen und in vier unterschiedlichen Kontexten vor („alle Macht“, „alle Völker“, „alles, was ich euch befohlen habe“, „alle Tage“). 73 Klaiber, Matthäusevangelium II, 287. 74 Gnilka, Matthäusevangelium II, 502. Vgl. Backhaus, Himmelsherrschaft, 84: „Weiter kann der Horizont gar nicht gespannt werden, und zwar nach Ort (Himmel, Erde, alle Völker), Zeit („alle Tage bis zur Vollendung der Weltzeit“) und Anspruch („alle Vollmacht im Himmel und auf der Erde“, alles lehren und bewahren, was Jesus geboten hat)“. alte Verhältnis zwischen ihm und seinen Jüngern wiederhergestellt und die Jünger befinden sich wieder in der Brüderposition. 69 2. Der zweite „Block“ der Selbstcharakterisierung setzt in Mt 28,16 ein und fo‐ kussiert sich auf die Rede Jesu an seine Jünger (V.18-20). Dabei läuft die gesamte vorherige Handlung auf die Selbstcharakterisierung des Auferstandenen in der Begegnung mit seinen Jüngern auf dem Berg zu, wodurch ihr zusätzliches Ge‐ wicht beigemessen wird. 70 Der Auferstandene begegnet den Jüngern auf einem Berg, woraufhin diese huldigend und zweifelnd auf seine Erscheinung reagieren (V.16-17). Der Auferstandene geht auf die Jünger zu und spricht zu ihnen (V. 18). Nun folgt die letzte Rede Jesu an seine Jünger, die inhaltlich fünf verschie‐ dene und theologisch äußerst wichtige und brisante Aussagen enthält, die je‐ doch in auffallend knapper Form und kurzen Sätzen ausgedrückt werden. Die Rede beginnt mit einer Selbstaussage des Auferstandenen (V.18), enthält dann drei Forderungen an die Jünger (V.19-20a) und schließt mit einer Zusage des Auferstandenen (V. 20b). 71 Das dominierende Wort in der Rede des Auferstan‐ denen ist das Indefinitpronomen „alle“ (πᾶς). 72 „Das unterstreicht die universale Geltung und umfassende Bedeutung dessen, was hier gesagt wird.“ 73 Damit er‐ hält die Rede insgesamt „den Charakter des Endgültigen, eben eines Schluß‐ textes.“ 74 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 96 <?page no="97"?> 75 „The Father has given Jesus supreme and universal authority“, Harrington, Matthew, 416; vgl. Auch Malina, Structure, 101. 76 Gnilka, Matthäusevangelium II, 507. 77 Wiefel, Matthäus, 496. 78 „[…] in fact that Jesus has been given authority in both of these realms (heavenly and earthly) still results in a universal power“, Pennington, Heaven and Earth, 204-205. 79 Luz, Matthäus IV, 441. 80 Die Bedeutung von ἐζουςία reicht von Freiheit und Fähigkeit über Macht und Voll‐ macht, vgl. Broer, Art. ἐζουςία, 23-29. 81 So u. a. Finnern, Narratologie, 335: „Der Rezipient kann aus dem Zusammenhang schließen, dass dieser Zeitpunkt erst mit der Auferstehung eingetreten ist“, vgl. auch Trilling, Matthäus, 343: „Alle Vollmacht im Himmel und auf Erden ist ihm übergeben worden. Überreich hat der Vater den Gehorsam des Sohnes belohnt.“ Vgl. auch Linde‐ mann, Evangelien, 398. Dagegen vertritt Lohmeyer die Ansicht, die universale Macht erhalte Jesus erst zum Zeitpunkt seiner Parusie, vgl. Lohmeyer, Matthäus, 422: „[D]enn am Ende der Zeiten wird dem Menschensohn alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben“. 82 So u. a. Kremer, Osterevangelien, 84: „Diese [Machtfülle] besitzt Jesus nach Matthäus schon während seines öffentlichen Wirkens.“; vgl. auch Gnilka, Matthäusevangelium II, 507: „Jesus spricht von der ihm übertragenen Vollmacht. Diese Übertragung liegt schon zurück, […] erfolgt also nicht erst jetzt.“ Hartmann dagegen nimmt eine Diffe‐ renzierung vor: „Schon früher ist Jesus mit Vollmacht aufgetreten […]. Aber in 28,18 ff ist die Macht Jesu umfassender dargestellt als vorher in Mt.“ Zunächst macht der Auferstandene deutlich, dass ihm alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben worden ist (V.18). Die passive Form ἐδόθη μοι zeigt dabei an, dass der Auferstandene sich diese Macht nicht selbst angeeignet, sondern sie von Gott empfangen hat. 75 Er erhält damit „vollen Anteil an der unum‐ schränkten Macht Gottes des Schöpfers.“ 76 Durch die Konkretisierung der ἐζουςία als eine Macht ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ [τῆς] γῆς (V.18b) kommt zum Aus‐ druck, dass es sich hierbei um eine „umfassende, […] universale Macht“ 77 han‐ delt, die sich auf alle Bereiche bezieht. 78 Dadurch, dass der Auferstandene gleich zu Beginn seiner Rede an die Jünger von seiner Macht über Himmel und Erde spricht, wird für den intendierten Rezipienten ein besonders starker Kontrast zur Darstellung des leidenden und erniedrigten Jesus in der Passionserzählung geschaffen. Denn „der Jesus, der vor kurzem geschunden, mißhandelt und von Gott verlassen am Kreuz gestorben ist, ist nun […] von Gott als Weltenherrscher eingesetzt.“ 79 Auf den intendierten Rezipienten wird diese Machtaussage des Auferstandenen daher besonders beeindruckend und imposant wirken. Es stellt sich jedoch für den Rezipienten bei der Formulierung ἐδόθη μοι die Frage, wann genau ihm diese Macht 80 über Himmel und Erde (von Gott) gegeben wurde. Hat er sie erst im Zuge seiner Auferweckung erhalten, was bedeuten würde, dass nur der Auferstandene eine universale Macht besitzt? 81 Oder hat er sie bereits als Irdischer von Anfang an besessen? 82 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 97 <?page no="98"?> 83 Vgl. Finnern, Narratologie, 335. 84 Vgl. Fiedler, Matthäusevangelium, 245. 85 Vgl. Sand, Matthäus, 73: „ Der Gegenspieler setzt voraus, daß Jesus Sohn Gottes ist […] und somit die Macht Gottes teilt.“ 86 Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium II, 507: „Die Mitteilung von der übertragenen Voll‐ macht ist gleichsam nur der Ausgangspunkt für den Auftrag, der im Zentrum steht.“ Vgl. Schnackenburg, Matthäusevangelium II, 289. So auch Finnern, Narratologie, 335: „Die Macht Jesu […] kommt gerade in dem Auftrag an die Jünger zum Ausdruck.“ So auch Alkier, Auferweckung, 119: „Vor der Beauftragung der Jünger benennt der aufer‐ weckte Gekreuzigte die unermessliche Kompetenz des Auftraggebers und damit den Grund, ihm Folge zu leisten.“ Grammatikalisch bindet das οὖν (V.19) die Aufforderung an das im vorherigen Vers (V.18) geäußerte Vollmachtswort des Auferstandenen. 87 Hagner, Matthew II, 886-887. 88 Zur Bedeutung des Verbs μαθητεύω vgl. Nepper-Christensen, Art. μαθητεύω, 915- 921. Dafür, dass dem Auferstandenen seine universale Macht erst nach seiner Auferwe‐ ckung gegeben wurde, nennt Finnern folgendes Argument: Er zählt zur alles umfas‐ senden universalen Macht des Auferstandenen auch ein alles umfassendes Wissen. Da es Dinge gab, die der irdische Jesus noch nicht wusste (vgl. 24,36), sei dies ein Beleg dafür, dass ihm die universale Macht erst mit der Auferstehung zuteilgeworden ist. 83 Dafür, dass dem Auferstandenen eine umfassende Macht bereits von Anfang an ge‐ geben worden ist, sprechen eine Reihe von Argumenten: 1. Bereits der Irdische lehrt mit Macht (vgl. Mt 7,29 ὡς ἐζουςίαν ἔχων). 84 2. Die Erzählung der Versuchung Jesu durch den Teufel (Mt 4,1-11) würde ohne die implizit vorausgesetzte Macht Jesu ihren Witz und ihre Pointe verlieren. 85 3. Der Irdische besitzt bereits die Macht, Sünden zu vergeben (vgl. Mt 9,6). 4. In Mt 21,23-27 wird Jesus von den Hohepriestern und Äl‐ testen nach seiner Vollmacht gefragt. Obwohl Jesus ihnen nicht direkt antwortet (οὐδὲ ἐγὼ λέγω ὑμῖν ἐν ποίᾳ ἐζουςίᾳ ταῦτα ποιῶ, Mt 21,27) setzt der Text dennoch voraus, dass er sie besitzt. Letztlich spricht m. E. der Text selbst ausdrücklich dafür, dass Jesus bereits als Irdischer von Gott mit Macht ausgestattet worden ist. Ob und inwieweit sich jedoch die Exousia des Irdischen von der Exousia des Auferstandenen unter‐ scheidet (also ob bereits die Macht des Irdischen universal ist) wird im folgenden Kapitel Gegenstand einer ausführlichen Untersuchung sein. In jedem Fall dient die Aussage des Auferstandenen über die ihm gegebene Macht über Himmel und Erde in V.18 mit dazu, die folgenden Aufträge an die Jünger zu legiti‐ mieren. 86 „The universal authority of Jesus is the basis of the universal mission of the church.” 87 Mit seiner nächsten Aussage in V.19a fordert der Auferstandene seine Jünger auf, alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη) zu Jüngern zu machen. 88 Die Exousia des Auf‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 98 <?page no="99"?> 89 „Diese universale Vollmacht Jesu bildet die Voraussetzung für die universale Sendung in V.19-20a“, Konradt, Matthäus, 461-462; vgl. auch Michel, Abschluß des Matthäus‐ evangeliums, 22: „Entscheidend ist die enge Verbindung von Vollmacht, Herrschaft und Anerkennung dieser Verleihung durch alle Völker“. 90 Luz, Matthäus IV, 442. 91 Bornkamm macht m. E. zu recht deutlich, dass an dieser Stelle das Motiv der Völker‐ mission dem Erhöhungsgedanken zugeordnet, bzw. untergeordnet wird, vgl. Born‐ kamm, der Auferstandene und der Irdische, 176. 92 Bauer, Major Characters, 363. 93 Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium, 508-509. Grammatikalisch wird diese These dadurch gestützt, dass die Partizipien „taufen“ (V.19b) und „lehren“ (V.20a) abhängig von der Verbform μαθητεύσατε (V.19a) sind, vgl. auch Frankemölle, Matthäus II, 545. 94 Zur ausführlichen Diskussion vgl. Konradt, Israel, 334-348. 95 Vgl. Konradt, Israel, 335; vgl. auch Luz, Matthäus IV, 449. 96 Vgl. hierzu ausführlich Konradt, Sendung, 416-418; Anders dagegen Lindemann, Evan‐ gelien, 390. erstandenen hat damit ein konkretes Ziel und eine konkrete Richtung. 89 Ihr „In‐ strument sind die Jünger, genauer: ist ihre Verkündigung.“ 90 Es soll so in der Zeit zwischen der Auferstehung Jesu und seiner Parusie am Ende des gegenwärtigen Äeons zur Ausbreitung des Bereichs auf Erden kommen, in dem die Macht des Auferstandenen anerkannt wird und sich durchsetzt. 91 „This is a period of world-wide mission conducted in the face of continuing opposition“ 92 . Der Jüngerbegriff wird zudem von den zwölf männlichen Jüngern abgelöst und auf jeden (und jede), der oder die Jesus nachfolgt, ausgeweitet. Man kann m. E. zu Recht mit Gnilka in diesem Aufruf die Hauptaussage des Auftrags an die Jünger sehen, die durch die folgenden Tauf- und Lehraussagen präzisiert wird und Gestalt annimmt. 93 Dem intendierten Rezipienten stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, wer genau mit der Bezeichnung πάντα τὰ ἔθνη gemeint ist. Sollen alle Völker mit Ausnahme Israels zu Jüngern gemacht werden oder schließt das πάντα τὰ ἔθνη auch Israel mit ein? 94 Dafür, dass sich die Formulierung πάντα τὰ ἔθνη nur auf die nicht-jüdischen Völker bezieht und die Juden ausschließt, sprechen folgende Textargumente: 1. Die Bezeich‐ nung τὰ ἔθνη bezeichnet in Mt 10,5 und 20,19 ausdrücklich nichtjüdische Völker. In Mt 10,5-6 wird es sogar Israel bewusst gegenübergestellt. 95 2. Im Prolog des Matthä‐ usevangeliums weist der Erzähler u. a. durch die Nennung nicht-jüdischer Frauen im Stammbaum Jesu und durch die erzählerische Gegenüberstellung der drei Magier zum Judenkönig Herodes bereits auf die künftige Mission der nicht-jüdischen Völker hin. 96 Diese Tatsache mag zwar als Argument für einen Auftrag zur Heidenmission sprechen, gleichzeitig schließt es aber eine Judenmission nicht ausdrücklich aus, wo‐ durch diesem Textargument m. E. insgesamt eine schwächere Gewichtung beizu‐ messen ist. 3. In Mt 28,15 fügt der Erzähler im Kontext der Betrugserzählung die Be‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 99 <?page no="100"?> 97 Vgl. Luz, Matthäus IV, 450; so auch Konradt, Israel, 339. 98 Konradt, Israel, 335-336. So auch Lindemann, Evangelien, 397. Frankemölle nennt als weiteres Argument für die inklusive Deutung des Missionsbefehl das in Mt 28,16-20 vierfach genannte alles (alle Vollmacht, alle Völker, alles halten, alle Tage), vgl. Fran‐ kemölle, Sendung der Jünger, 46. 99 „Eine Einschränkung des universalen Heilswillens Gottes kennt Mt trotz enttäusch‐ ender Erfahrungen nicht“, Gnilka, Matthäusevangelium, 508-509. So auch Luz, Mat‐ thäus IV, 451; Lindemann, Evangelien, 398; Frankemölle, Matthäus II, 546-547; Tril‐ ling, Matthäus, 343; Wiefel, Matthäus, 496; Kremer, Osterevangelien, 85; Sand, Matthäus, 596: „Allerdings: Es handelt sich nicht um einen Universalismus ohne Israel oder gar gegen Israel.“ Nach Luz schließt der Missionsbefehl jedoch „eine weitere Isra‐ elmission zwar nicht explizit aus, aber große Hoffnungen verbindet Matthäus wohl nicht mehr damit“, Luz, Matthäus IV, 451; vgl. auch Harrington, der allein die Völker (ohne die Juden) als Adressaten der Mission versteht, vgl. Harrington, Matthew, 414; ebenso Kohler-Schunk, Licht für die Völker, 712. 100 Vgl. die ausführliche Argumentation hierzu bei Konradt, Israel, 339-341. Er vertritt die Ansicht, es stehe überhaupt nicht zur Debatte, dass Israel überhaupt vom Missionsauf‐ trag ausgeschlossen sein könnte. Mt 28,19 weite damit auf der Basis von 10,6 die Mission lediglich aus. Ähnlich auch Hahn, Theologie, 543: „Das bedeutet nicht, daß die Mission unter den Heiden die Mission unter Israel ablöst; es sind gleichsam zwei konzentrische Kreise, die dem Wirken des irdischen Jesus und des erhöhten Herrn entsprechen. Das besagt, daß auch die Verkündigung unter Israel weiterzugehen hat, nicht zuletzt des‐ wegen, weil πάντα τὰ ἔθνη in 28,19a im Sinn von 'alle Völker' unter Einschluß Israels zu verstehen ist.“ merkung ein, dass die Juden bis heute (μέχρι τῆς σήμερον) dem Gerücht der Hohepriester, die Jünger hätten Jesu Leichnam gestohlen, Glauben schenken. Die Juden werden also als diejenigen dargestellt, die sich Jesus bis heute verschließen. Für die zweite Variante der auch Israel umfassenden Völkermission sprechen dagegen die folgenden Argumente im Text: 1. Der irdische Jesus befiehlt in Mt 10,5 seinen Jüngern ausdrücklich nicht zu den nicht-jüdischen Völkern zu gehen, sondern die Mission auf Israel zu beschränken (εἰς ὁδὸν ἐθνῶν μὴ ἀπέλθητε). 2. In Mt 10,23 wird vom irdischen Jesus den Jüngern im Kontext der Israelmission vorhergesagt, sie werden bis zur Parusie mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen. Diese Aussage spielt also deutlich auf eine bis zur Parusie anhaltende Israel-Mission an. 97 3. In Mt 24,9.14 und Mt 25,32 kann die Formulierung πάντα τὰ ἔθνη auch die Juden mit ein‐ schließen, damit ist „an allen drei genannten Stellen eine inklusive Interpretation möglich, wenn gleich nicht zwingend.“ 98 M. E. sprechen die stärkeren Textargumente letztlich dafür, dass sich die vom Auferstandenen geforderte Mission gleichermaßen an Juden wie Nicht-Juden (und damit an die ganze Welt) richtet. 99 Die dem intendierten Rezipienten von Mt 10,5b her bekannte Einschränkung der Mission auf Israel wird an dieser Stelle also ausdrücklich auch auf die nicht-jüdischen Völker ausgeweitet, ohne dass dabei Israel ausgeschlossen wird. 100 „In 28,19 liegt der Ton […] darauf, dass die Jünger nun nicht mehr allein zu Israel, sondern zu allen Völkern gesandt 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 100 <?page no="101"?> 101 Konradt, Israel, 339. 102 Sand, Matthäus, 596. Vgl. Lindemann, Evangelien, 398: „Damit öffnet sich das Matthä‐ usevangelium in den letzten Worten Jesu der ganzen Welt.“ 103 Dass der intendierte Rezipient jedoch - wie Finnern es annimmt - auf den Aufruf zur Völkermission mit Furcht reagiert und Angst hat, diesen Auftrag nicht umsetzen zu können, ist m. E. nicht unbedingt die vom Text intendierte Reaktion des Rezipienten, vgl. Finnern, Narratologie, 406. 104 „Im Taufen und Lehren vollzieht sich die Jüngerwerdung“, Gnilka, Matthäusevange‐ lium, 508. 105 Zur Verwendung des Begriffs πατήρ im Matthäusevangelium vgl. Sheffield, Father, 52- 69. 106 Konradt, Matthäus, 463. 107 Hartmann, Auf den Namen, 141. 108 Gnilka, Matthäusevangelium II, 509. 109 Vor allem wird sich der intendierte Rezipient an die Taufe Jesu in Mt 3,13-17 erinnern. Hier kommt der Geist Gottes auf Jesus herab, begleitete von der Stimme Gottes (des Vaters). sind.“ 101 Der Auferstandene will, dass die Jünger die gesamte Welt missionieren und alle Menschen zu Jüngern machen. Der „Missionsauftrag sprengt alle nati‐ onalen, kultischen und religiösen Grenzen.“ 102 Dies muss auf den intendierten Rezipienten, der in seinem eigenen Umfeld im 1. Jahrhundert n. Chr. noch nicht von der tatsächlichen Ausbreitung des Christentums über weite Teile der Erde weiß, gewaltig und eindrucksvoll erscheinen. 103 Der Auferstandene beansprucht damit für sich und seine Lehre eine unglaub‐ lich breite Reichweite und richtet sich an die gesamte Welt. In einer weiteren Aussage, die sich aber inhaltlich (und syntaktisch) stark auf die vorherige bezieht, beschreibt der Auferstandene, wie dieses „zu Jüngern machen“ genau auszusehen hat 104 : Sie sollen die Völker taufen auf den Namen des Vaters 105 und des Sohnes und des Heiligen Geistes (V.19b). Denn erst durch diese „sakramentale Eingliederung der für das Evangelium Gewonnenen in die Kirche“ kann sich Jüngerschaft vollziehen. „Zum Jünger wird man durch Taufe und Unterweisung.“ 106 Die Taufe ist damit eng gekoppelt an die Völkermission und gehört damit zur Erweiterung des Bereichs, in dem die Macht des Aufer‐ standenen anerkannt ist. Sie trägt somit zur „Verwirklichung dieser Macht“ 107 bei. In Mt 28,19 lässt der Erzähler den Auferstandenen zwar keine komplexe Tauftheologie entfalten, macht aber dennoch deutlich, dass die Taufe auf den dreieinigen Gott aus dem Mund des bevollmächtigten Auferstandenen eine „un‐ umgängliche Geltung“ 108 besitzt. Der intendierte Rezipient kennt Taufe sowohl aus den vorherigen Kapiteln des Matthäusevangeliums 109 als auch sehr wahr‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 101 <?page no="102"?> 110 „Diese Praxis der Taufe kennt der intendierte Rezipient offenbar aus seinem eigenen Umfeld; innerhalb des MtEv käme diese Aussage sonst zu unvermittelt“, Finnern, Nar‐ ratologie, 334. 111 Keener, Matthew, 716-717. 112 Auch hier bezieht sich die Genitiv Plural Form αὐτοὺς noch auf das πάντα τὰ ἔθνη (V. 19). 113 Dabei weist Friedrich mit Recht auf die enge Verbindung zwischen taufen und lehren hin, indem er deutlich macht, dass die Taufe letztlich nicht von der Verkündigung des Evangeliums zu trennen ist und sie beide denselben Mittelpunkt besitzen, nämlich Tod und Auferstehung Jesu, vgl. Friedrich, Struktur, 182. Dagegen trennt Lohmeyer diese beiden Handlungen voneinander und bezeichnet ihr Verhältnis zueinander als „un‐ deutlich“, Lohmeyer, „Mir ist gegeben alle Gewalt“, 39. „Taufe ist ein einmaliger Akt, Lehren aber ein Handeln, welches vor der Taufe einsetzt und nach der Taufe nicht aufhört“, Lohmeyer, „Mir ist gegeben alle Gewalt“, 39. 114 Harrington, Matthew, 416; vgl. auch Yieh, Teacher, 81: „Jesus is concerned about passing on his teaching through the disciples to all nations.” 115 Luck, Matthäus, 316. „Gemeint ist damit die Katechese der Täuflinge und besonders der bereits Getauften“, Kremer, Osterevangelien, 87. 116 „[ J]etzt gilt es zu verstehen, daß der Erhöhte kein anderer ist als der διδάσκων während seiner Erdenzeit“, Bornkamm, der Auferstandene und der Irdische, 183. Zur Rolle Jesu als Lehrer im gesamten Matthäusevangelium vgl. auch Söding, „Lehret sie, alles zu halten, was ich euch aufgetragen habe“, 42-44. scheinlich aus seinem eigenen Umfeld. 110 Interessant ist an dieser Stelle, dass der Auferstandene von sich selbst als „Sohn“ spricht und sich dabei wie selbstver‐ ständlich auf dieselbe Ebene wie der Vater und der Heilige Geist stellt, sich sogar zwischen die beiden platziert (Mt 28,19b). „Placing Jesus on the same level as the Father and Spirit makes even more explicit […] that Jesus is divine (28: 19).“ 111 Gemeinsam mit dem Vater und dem Heiligen Geist bildet er somit gewissermaßen ein Gegenüber zu den Menschen. Mit dieser Aussage wird die Stellung des Auferstandenen und sein Gleich-Sein mit Gott besonders hervor‐ gehoben. Eine weitere Aufforderung des Auferstandenen (V.20a), die immer noch in‐ haltlich und syntaktisch eng an die vorherigen gebunden ist 112 , besteht darin, dass die Jüngern sie (also πάντα τὰ ἔθνη) all das bewahren lehren sollen, was Jesus sie als Irdischer gelehrt hat. 113 „The teacher par excellence commissions his disciples to carry on his teaching mission.“ 114 Genau wie die Taufe gehört das Festhalten der Lehre zum „Jünger werden“ unumgänglich dazu. Allein die Taufe macht noch keinen Jünger. „Es kommt darauf an, daß sie das halten, was Jesus gelehrt hat.“ 115 Indem der Auferstandene die Jünger auffordert, die Völker zu lehren, das, was Jesus geboten hat, zu halten, entsteht auch hier wieder eine starke Rückbindung an den irdischen Jesus und seine Lehre. 116 Inhaltlich wird die Lehre mit der Verbform ἐντέλλω im Sinne einer Art „Einweisung in die 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 102 <?page no="103"?> 117 Luz, Matthäus IV, 455. 118 Zur Rolle Jesu als Lehrer innerhalb der Berpredigt vgl. Harrington, Matthew, 76. 119 Davies / Allison, Matthew III, 686. 120 Finnern, Naratologie, 332. 121 Vgl. hierzu auch France, Matthew, 1118. 122 Die vom Erzähler eingestreute Bemerkung „und siehe“, die direkt auf die Aufmerksam‐ keit des intendierten Rezipienten zielt, kündigt im Erzählabschnitt Mt 28,1-20 immer wichtige Ereignisse an (V.2, V.7, V.9, V.11). 123 Die Formulierung „Ende der Welt“ findet sich im MtEv noch in Mt 13,39; 13,40; 13,49; 24,3. 124 „So wird es sein »bis zum Ende der Welt«, d. h. bis zur Parusie des Menschensohns, an die der Evangelist mit seinem letzten Wort erinnert“, Luz, Matthäus IV, 457. In Mt 24,3 wird die Wiederkunft Jesu ausdrücklich mit dem Ende der Welt verknüpft (πότε ταῦτα ἔσται καὶ τί τὸ σημεῖον τῆς σῆς παρουςίας καὶ συντελείας τοῦ αἰῶνος; ). 125 Vgl. Luz, Matthäus III, 421. 126 Fiedler, Matthäusevangelium, 363. Praxis“ 117 näher definiert. Der intendierte Rezipient wird sich wahrscheinlich an dieser Stelle besonders an die Bergpredigt Jesu (Mt 5,3-7,27) erinnern, in der die Lehre Jesu und seine Gebote ausführlich entfaltet worden sind. 118 Aber nicht nur die Bergpredigt hat der Erzähler bei dieser Anspielung im Sinn, sondern „all of Jesus’ teaching - not just imperatives but also proverbs, blessings, parables, and prophecies.“ 119 Insgesamt ist es dem Auferstandenen wichtig, „dass sich seine Lehre unter allen Völkern ausbreitet.“ 120 Der Auferstandene erscheint damit als Lehrer aller Völker, dem etwas daran liegt, dass seine Lehren auf der ganzen Welt bewahrt und befolgt werden. 121 Der letzte Satz Jesu und damit gleichzeitig das Ende des Matthäusevangeliums beinhaltet keine weitere Aufforderung an die Jünger, sondern die Beistandszu‐ sage des Auferstandenen (V.20b), der durch das vorangestellte καὶ ἰδοὺ 122 große Wichtigkeit zukommt. Er verspricht ihnen, alle Tage bis zum Ende der Welt 123 bei ihnen zu sein. Bei der Formulierung πάσας τὰς ἡμέρας ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος wird auf die Parusie Jesu angespielt. 124 Der intendierte Rezipient kennt die Vorstellung von der Wiederkunft des Menschensohns (Mt 24,27 ἡ παρουςία τοῦ ὑιοῦ τοῦ ἀνθρώπου) v. a. aus Mt 24- 25. Dort schildert der irdische Jesus bestimmte (aus dem apokalyptischen Be‐ reich stammende) Zeichen („Wehen“ Mt 24,8) 125 , die das Kommen des Men‐ schensohns ankündigen, und mahnt zur Wachsamkeit (vgl. Mt 24,4-25,30). „Dass es das alles gibt, ist kein Zufall, sondern von Gott so gesteuert“ 126 (vgl. Mt 24,6). Die Parusievorstellung ist eng verknüpft mit dem endzeitlichen Ge‐ richt (vgl. Mt 25,31-46). Der Menschensohn wird bei seiner Wiederkunft auf einem Thron sitzend alle Völker richten. Die einen erhalten die ewige Strafe, die anderen das ewige Leben (vgl. Mt 25,46). Zugleich liegt dieser Parusievorstel‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 103 <?page no="104"?> 127 Holtz, Art. αἰών, 109. 128 Auch Luz versteht die Beistandszusage des Auferstandenen als an alle Jünger und Jün‐ gerinnen gerichtet, vgl. Luz, Matthäus IV, 456. So auch Luck, Matthäus, 318. Alkier, Auferweckung, 121: „Die Zusage des Mit-Seins des auferweckten Gekreuzigten gilt allen, die seinen Weg der Barmherzigkeit gehen.“ 129 Nach Finnern identifiziert sich der intendierte Rezipient mit den Jüngern und bezieht sowohl den Missionsauftrag als auch die Beistandszusage auf sich selbst, vgl. Finnern, Narratologie, 406. 130 Vgl. Nolland, Matthew, 1271: „The time for the disciples to act in Jesus’ stead is bounded on one side by the commission of the resurrected Jesus and on the other side by his final eschatological role. During this period Jesus is understood to move to an offstage, but still central, role.” Vgl. auch Weren, der von einer „prolonged presence of Jesus among his disciples […] during the rest of history” spricht, Weren, Jesus’ Resurrection, 710. 131 Vgl. Luz, Matthäus IV, 456; vgl. auch Drewermann, Matthäusevangelium III, 292: „Es gibt radikal keine Einsamkeit mehr, sondern nur ein Gehen gemeinsam.“ Luz spricht an dieser Stelle von einem „Geborgensein unter dem Schutz des Erhöhten“, Luz, Jünger, 164. 132 Hagner, Matthew II, 889. 133 Gnilka, Matthäusevangelium II, 510. lung das „Zwei-Äonen-Schema“ zugrunde, wonach der gegenwärtige Äon (diese Weltzeit) mit der Parusie endet und dann der neue Äon beginnt (vgl. Mt 12,32 οὔτε ἐν τούτῳ τῷ αἰῶνι οὔτε ἐν τῷ μέλλοντι) 127 . Den genauen Zeitpunkt der Parusie kennt jedoch nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater (vgl. Mt 24,36). Das ὑμῶν in Mt 28,20 bezieht die Beistandszusage auf die Gesamtheit aller Jünger und Jüngerinnen bis zum Ende des gegenwärtigen Äons. 128 Der inten‐ dierte Rezipient wird sich daher automatisch im ὑμῶν eingeschlossen fühlen. 129 In der Zeit bis zur Wiederkunft des Menschensohns - die durch endzeitliche Wehen wie Kriege, Hungersnöte und Umweltkatastrophen geprägt sein wird (vgl. Mt 24,4-31) - sichert der Auferstandene ihnen seinen Beistand zu. 130 Darüber hinaus soll der intendierte Rezipient durch die Aussage des Aufer‐ standenen „ich bin mit euch“ (ἐγὼ μεθ’ ὑμῶν εἰμι), die den Schluss des Evange‐ liums bildet, an den Anfang des Evangeliums Mt 1,23 erinnert werden. Hier wird Jesus als Ἐμμανουήλ („Gott mit euch“) bezeichnet. Zur Zeit des irdischen Jesus war Gott durch Jesus, den Immanuel, bei den Seinen. Jetzt, nach Jesu Auferste‐ hung ist es der Auferstandene selbst, der bei ihnen bleibt. 131 Mit dieser Anspie‐ lung wird der Bogen zum Anfang des Evangeliums zurückgeschlagen, sodass sich mit der Beistandszusage des Auferstandenen gewissermaßen der Kreis schließt. „He will be in their midst“ 132 . Die präsentische Formulierung betont dabei, dass der Beistand Jesu bereits vorhanden ist und „verheißt Beständig‐ keit.“ 133 Der intendierte Rezipient reagiert auf diese Beistandszusage des Aufer‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 104 <?page no="105"?> 134 Etwas überzogen wirkt dagegen die dem Rezipienten von Finnern zugeschriebene Re‐ aktion: „Der letzte Satz des MtEv […] wirkt vielleicht auch deswegen so stark, weil der Rezipient vorher intensiven Ärger über die Hohenpriester als exemplarische Feinde der Botschaft von der Auferstehung […] empfunden hat […]. Das gibt diesem Hoffnungs‐ gefühl eine besondere emotionale Tiefe“, Finnern, Narratologie, 406. 135 „Der, dem alle Macht gegeben ist, der ist mit denen, die mit ihm auf dem Weg sind“, Klaiber, Matthäusevangelium II, 292. 136 Bauer, Major Characters, 361. 137 Carter vermutet dagegen, dass der Text darauf anspielt, dass Jesus nach der letzten Szene auf dem Berg seine Jünger verlässt und schließlich bei Gott im Himmel ist, vgl. Carter, Matthew and the Margins, 553-554. Jedoch ist es m. E. nicht die Intention des Textes - der ja bewusst mit einer Beistandszusage des Auferstandenen schließt - beim inten‐ dierten Rezipienten auf eine Existenz Jesu im Himmel anzuspielen. 138 Vgl. Malina, Structure, 103: „[T]he final passage of the gospel endows the work with an open-ended character.” 139 Konradt, Matthäus, 466. 140 Konradt, Matthäus, 466. standenen sehr wahrscheinlich mit Erleichterung, Hoffnung und Vertrauen. 134 Denn der Auferstandene als der Vollmächtige sichert seinen bleibenden Beistand zu. 135 „And in this all-inclusive authority Jesus continues to be with his dis‐ ciples“ 136 . Dass der Auferstandene nach seiner Rede in den Himmel hinauffährt oder auf andere Art und Weise das Geschehen verlässt, berichtet der Erzähler nicht mehr. 137 Die Erzählung endet für den intendierten Rezipienten möglicherweise etwas abrupt nach der Beistandszusage des Auferstandenen. 138 „So aber setzt der ermutigende Zuspruch […] den betonten Schlusspunkt.“ 139 Dadurch erscheint der Auferstandene als einer, der (obwohl er sich nun zwischen dem Vater und dem Heiligen Geist befindet, vgl. Mt 28,19) dennoch bei den Menschen auf der Erde bleibt und mitten unter ihnen ist. Er bleibt damit den Menschen, die ihm nachfolgen, bis zu seiner Wiederkunft nahe. „Damit kann das Evangelium enden.“ 140 Insgesamt entsteht durch die Selbstcharakterisierung des Auferstandenen ein facettenreiches und vielfältiges Bild seiner Figur, das Folgendes über ihn aussagt: 1. Die Erscheinung des Auferstandenen wird aufwendig und eindrucksvoll angekündigt, wodurch seine Hoheit, Macht und herausragende Stellung zum Ausdruck kommt. 2. Der Auferstandene bezeichnet seine Jünger als „Brüder“ und heilt damit den durch ihre Verleugnung entstandenen Bruch zwischen ihnen. Ihnen über‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 105 <?page no="106"?> 141 Mit der Formulierung ἡ ἄλλη Μαρία in Mt 28,1 ist nach Mt 27,56 die Mutter des Jakobus gemeint, vgl. Luz, Matthäus IV, 400. 3.1.3 trägt er die verantwortungsvolle Aufgabe der universalen Mission und weist ihnen damit eine grundlegende Funktion zu. 3. Der Auferstandene besitzt die universale Macht über Himmel und Erde und verweist auf sie, um u. a. die Aufträge an die Jünger zu legitimieren. Er prä‐ sentiert sich damit selbst als mächtiger Weltenherr, dem die Gewalt über Himmel und Erde von Gott gegeben worden ist. 4. Als mächtiger Weltenherr ruft er zur universalen Mission der gesamten Welt auf und beansprucht damit für sich und seine Lehre eine äußerst breite Reichweite. Der Bereich, in dem die Exousia des Auferstandenen offen‐ kundig ist und akzeptiert wird, soll so auf Erden ausgeweitet werden. 5. Der Auferstandene redet von sich selbst als „Sohn“ und platziert sich zwi‐ schen dem Vater und dem Heiligem Geist. Damit stellt er sich auf eine Ebene mit ihnen und bildet so gewissermaßen das göttliche Gegenüber zu den Menschen. 6. Der Auferstandene ist und bleibt der große Lehrer, der den Menschen (und nun der ganzen Welt) seine Gebote nahebringen will und dabei fordert, dass die Menschen ihr gesamtes Leben danach ausrichten. 7. Der Auferstandene sichert denen, die ihm nachfolgen, seinen bleibenden Beistand und seine tröstliche Gegenwart in der Zeit bis zum Ende dieses Äons, seiner Wiederkunft und dem endzeitlichen Gericht zu. Der mächtige und gewaltige Auferstandene lässt die Seinen nicht im Stich. Figur und Figuren In der Analysekategorie Figur und Figuren wird das Verhältnis des Auferstan‐ denen zu den anderen Figuren in Mt 28,1-20 untersucht, da seine Beziehung zu ihnen auch etwas über das Bild von ihm im MtEv aussagt. Im Folgenden soll daher das Verhältnis des Auferstandenen 1. zu den Frauen, 2. zum Engel, 3. zu den Wachen, Hohepriestern und Ältesten, 4. zu seinen Jüngern und 5. zu den innerhalb von Mt 28,1-20 besprochenen Figuren (Gott, Heiliger Geist, Juden, Völker) untersucht werden. 1 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den Frauen Die Frauen (Maria aus Magdala und die „andere Maria“ 141 ) werden direkt im ersten Vers in die Erzählung eingeführt. Mit ihnen beginnt die Handlung. Sie 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 106 <?page no="107"?> 142 Nach Kremer deutet der Erzähler an dieser Stelle an, dass „die Frauen sich der Voraus‐ sagen Jesu erinnern und angesichts der Vorgänge bei der Kreuzigung mit der Aufer‐ stehung Jesu rechnen“, Kremer, Osterevangelien, 62; vgl. auch Carter, Storyteller, 151: „Jesus had taught about his death and resurrection so they come to the place of his death awaiting that resurrection.“ Jedoch ist eine solche Voraussage des irdischen Jesus im MtEv an keiner Stelle an die Frauen gerichtet, sondern immer nur an die Jünger (vgl. Mt 16,21; Mt 17,22 f; Mt 20,18 f). Zudem bietet die Erzählung in Mt 28,1-20 selbst m. E. keinerlei Anhalt dafür, dass die Frauen am Grab mit einer Erscheinung des auferstan‐ denen Jesus rechnen. Das Ziel ihres Kommens in Mt 28,1 ist der Leichnam des gekreu‐ zigten Jesus (vgl. Mt 28,5 „Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht“). 143 „Die Frauen unter dem Kreuz erweisen sich als die wahren, einzig verlässlichen Jünger“, Dormeyer, Rollen, 118. Patte spricht sogar von „ideal disciples”, Patte, Matthew, 392. 144 Luz, Matthäus IV, 400. 145 Gnilka, Mathäusevangelium II, 494. 146 So auch Nolland, Matthew, 1252: „[T]he women are being distinctly privileged.“ 147 Vgl. Ringeling, Art. Frau IV. Neues Testament, 432: „Unbestritten ist die Tatsache, dass Jesus sich in einer für das zeitgenössische offizielle Judentum skandalösen Weise Frauen zuwendete“. Vgl. auch Finnern, Narratologie, 332: „Außerdem nimmt er gerade Frauen, die sonst nicht viel galten, in den Dienst“. suchen den Gekreuzigten (Mt 28,5) und laufen in der Morgendämmerung zu seinem Grab. 142 Der intendierte Rezipient weiß, dass die Frauen Jesus treu geblieben sind (anders als die Jünger) und dass sie bereits bei seiner Kreuzigung und Grable‐ gung anwesend waren (vgl. Mt 27,55-56.61). Wenn nun die Frauen das Grab Jesu aufsuchen, dann bestätigt dieses Verhalten das Bild des Rezipienten von den Frauen als treuen Anhängerinnen Jesu. 143 Die Frauen werden anschließend vom Engel zu Botinnen der Auferstehung Jesu gemacht (Mt 28,7), sie erhalten damit eine „tragende Rolle“ 144 . Damit sind sie die ersten, die von der Auferstehung Jesu erfahren und die das Wiedersehen des Auferstandenen mit seinen Jüngern in Galiläa verkünden sollen. Von der Überbringung ihrer Botschaft hängt also alles ab. „Die mutigen Frauen werden beauftragt, den Jüngern, die in der Passion versagten, die Kunde zu bringen.“ 145 Die Frauen sind darüber hinaus auch die ersten, denen sich der Auferstandene zeigt. Dass der Auferstandene gerade die Frauen als erste Botinnen an die Jünger auswählt, zeigt, dass er sie als verlässlich einstuft und davon ausgeht, dass sie seine Botschaft an die Jünger zuverlässig ausrichten werden. Er bringt ihnen damit eine Wertschätzung entgegen. 146 Vor dem Hintergrund der Stellung der Frau im 1.Jhd. n. Chr. (Frauen waren nach jüdischem Recht nicht fähig, Zeu‐ ginnen zu sein) 147 und vor dem Hintergrund, dass Frauen im MtEv eher als Randfiguren vorkommen, muss dieses Verhalten des Auferstandenen auf den intendierten Rezipienten erstaunlich und eher ungewöhnlich wirken. 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 107 <?page no="108"?> 148 Vgl. auch Davies / Allison, Matthew III, 669: „No mention is made of doubt“. 149 „Die Frauen erhalten also keinen missionarischen Verkündigungsauftrag, sondern nur einen begrenzten Auftrag gegenüber den Jüngern“, Luz, Matthäus IV,405. 150 Abgesehen von den Worten χαίρετε (Mt 28,9) und μὴ φοβεῖσθε (Mt 28,10) sagt der Auf‐ erstandene nur das zu ihnen, was sie für den Auftrag an die Jünger unbedingt wissen müssen. 151 Luz, Matthäus IV, 419. Die Reaktion der Frauen auf die Begegnung mit dem Auferstandenen ist eine Huldigung. Sie fallen vor ihm nieder und umfassen seine Füße (Mt 28,9). Sie zweifeln nicht an ihm, sondern erkennen ihn sofort und erweisen ihm Ehrer‐ bietung. 148 Damit zeichnet der Erzähler sie in einem starken Kontrast zu den Jüngern und ihrer Reaktion auf den Auferstandenen (vgl. Mt 28,9 προσεκύνησαν αὐτῷ; dagegen Mt 28,17 προσεκύνησαν, οἱ δὲ ἐδίστασαν). Nachdem der Auferstandene die Frauen begrüßt, diese vor ihm niederfallen und er ihnen den Auftrag an die Jünger erteilt, endet die Begegnung nach V.10. Der Erzähler berichtet noch in V.11, dass die Frauen weggehen (Mt 28,11 Πορευομένων δὲ αὐτῶν). Der intendierte Rezipient kann aus dem Kontext schließen, dass die Frauen sich auf den Weg nach Jerusalem gemacht haben (vgl. Mt 28,11), um dort den Jüngern die Botschaft zu überbringen. Aus dem weiteren Kontext kann der Rezipient zusätzlich schließen, dass die Überbringung der Botschaft an die Jünger erfolgreich war, da ab Mt 28,16 erzählt wird, wie die Jünger den Auftrag ausführen und nach Galiläa gehen. Die Frauen haben sich damit als zuverlässige und vertrauenswürdige Botinnen erwiesen. Nach V. 11 scheiden die Frauen aus der Erzählung aus, sie haben im Erzählabschnitt Mt 28,1-20 also nur die Funktion von Überbringerinnen einer Botschaft an die Jünger, ihre Aufgabe ist daher mit der Ausführung erfüllt. Vom finalen Auftrag des Auferstandenen an die Jünger (Mt 28,18-20) sind sie ausgeschlossen. 149 Der intendierte Rezipient erfährt den Auferstandenen damit als eine Figur, die treue Nachfolgerinnen und Anhängerinnen besitzt und die den Frauen (als Randgruppe) Wertschätzung entgegenbringt. Der Auferstandene geht jedoch nicht weiter auf das Verhalten der Frauen (v. a. ihre Treue) ein, er nennt sie auch nicht beim Namen, sondern sieht sie hauptsächlich in ihrer Funktion als Bot‐ schafterinnen an die Jünger. 150 Sie sollen die Kunde von der Auferstehung Jesu und vom Wiedersehen mit den Jüngern in Galiläa dem engsten Jüngerkreis überbringen; das ist es, was dem Auferstandenen wichtig ist. Das Treffen mit den Frauen „dient dazu, die entscheidende Schlußszene Mt 28,16-20 vorzube‐ reiten.“ 151 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 108 <?page no="109"?> 152 Alkier, Auferweckung, 117. 153 Kremer, Osterevangelien, 64. 154 So auch Davies / Allison, Matthew III, 666: „The angel’s appearance recalls that of the transfigured Jesus“. 155 „Er kennt kraft seines himmlischen Wissens ihre gute Absicht, ohne daß sie darüber gesprochen hätten“, Luz, Matthäus IV, 404. 156 Wiefel, Matthäus, 490. Harrington bezeichnet den Engel sogar als „interpreter of the scene“, Harrington, Matthew, 409. 2 Das Verhältnis des Auferstandenen zum Engel Der Engel taucht in Mt 28,2 plötzlich - begleitet von einem starken Erdbeben - aus dem Himmel auf und ist dabei auffallend gekleidet. Seine Gestalt ist „wie ein Blitz und das leuchtende Weiß seines Gewandes ist dazu stimmig.“ 152 Er tritt zu den Frauen am Grab, wälzt den Stein vom Grab weg und setzt sich auf ihn (Mt 28,2). Dabei demonstriert er seine Macht und Größe. „Die machtvolle, furch‐ terregende Erscheinung des Engels bringt wie die Erde so auch die Wächter zum Erbeben“ 153 . Obwohl der Auferstandene noch nicht auf der Bildfläche der Erzählung er‐ schienen ist, weiß und berichtet der Engel bereits von ihm und seiner Aufer‐ stehung. Auch weiß er, dass die Frauen den gekreuzigten Jesus suchen (Mt 28,5) und dass sie ihn im Grab nicht finden werden (Mt 28,6). Er ist zudem in Kenntnis über die Botschaft des Auferstandenen an seine Jünger, dass sie ihn in Galiläa sehen werden (Mt 28,7). Der Erzähler macht den Engel damit zu einer Art „Wegbereiter“ und zu einem Boten 154 des Auferstandenen. Zudem besitzt der Engel ein alles umfassendes Wissen über den Auferstandenen (vgl. V.6 οὐκ ἔστιν ὧδε, ἠγέρθη γὰρ), wie auch über den Irdischen (vgl. V.6 καθὼς εἶπεν) und über andere Figuren (vgl. V.5 οἶδα γὰρ ὅτι Ἰησοῦν τὸν ἐσταυρωμένον ζητεῖτε 155 ). Er weiß damit Dinge aus der Ver‐ gangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Diese Allwissenheit „verstärkt seine hoheitliche Rolle.“ 156 Der Engel ist darüber hinaus die einzige Figur im gesamten Erzählabschnitt, die von der Auferstehung Jesu spricht (vgl. Mt 28,6-7). Der Auferstandene selbst erwähnt seine eigene Auferweckung nicht, sondern spricht nur vom Auftrag an die Jünger. Indem der Auferstandene die Botschaft des Engels in V.10 wiederholt, wird deutlich, dass sich der Engel und der Auferstandene äußerst nahe stehen. In V. 2 wird der Engel als ἄγγελος κυρίου bezeichnet. Er steht damit auch in einem engen Bezug zu Gott. Der Auferstandene besitzt somit in der Figur des Engels einen himmlischen Repräsentanten und einen Boten Gottes, der seine Auferstehung und sein Er‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 109 <?page no="110"?> 157 Lohmeyer, Matthäus, 406. 158 Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium II, 495: „Die den Tod behüten, werden wie tot. Ironie und Metapher verdichten sich an dieser Stelle.“ Ähnlich auch Sand, Matthäus, 581: „Der Gedanke des Tot-seins wird zur Sprache gebracht, um den Gegensatz zum auferweckten Gekreuzigten (V.5.6) hervorzuheben.“ 159 Frankemölle, Matthäus II, 532. Hierzu trägt die Intention des Erzählers bei, die jüdi‐ schen Autoritäten „in möglichst negativem Licht erscheinen zu lassen“, Gielen, Konflikt, 403. 160 „Die Grabwächter schließlich haben zu den Hohenpriestern ein ungebrochenes Ver‐ hältnis. Sie bewachen auf Befehl der Hohenpriester das Grab (27,66), melden das Vor‐ gefallene (28,11) und verkünden, was ihnen aufgetragen wird, obwohl sie wissen müssen, dass es eine Lüge ist“, Finnern, Narratologie, 350. scheinen in Galiläa ankündigt. Dadurch wird die Bedeutung und Stellung des Auferstandenen für den intendierten Rezipienten deutlich. 3 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den Wachen, Hohepriestern und Ältesten Die Wachen begegnen zum ersten Mal in der Erzählung in Mt 28,4 und werden dort nur in einem Satz genannt. Sie erschrecken über das Erscheinen des Engels und werden ὡς νεκροί. Damit steht die Figurengruppe der Wachen im Kontrast zur Figur des Auferstandenen: Die Wachen werden wie Tote und der Gekreu‐ zigte lebt (Mt 28,5-7). Der „Getötete ist der wahrhaft Lebende, und vor Seinem Grabe, das einen Toten nicht mehr birgt, sitzt ein Wächter Gottes an Menschen statt, der Engel.“ 157 Es entsteht damit für den intendierten Rezipienten eine starke Ironie, durch die die Wachen dem Auferstandenen gegenüber als ohnmächtig und hilflos erscheinen. 158 Nach V. 11 kommen einige der Wachen in die Stadt und berichten den Ho‐ hepriestern alles, was geschehen ist. Sie werden daraufhin von den Hoheprie‐ stern mit viel Geld bestochen, damit sie aussagen, die Jünger Jesu hätten seinen Leichnam gestohlen, während sie schliefen (V.12). In V. 15 wird berichtet, dass die Wachen diesen Auftrag ausführen, sodass sich dieses Gerücht „bis heute“ bei den Juden gehalten habe. Die Wachen wirken daher auf den intendierten Re‐ zipienten bestechlich, korrupt und gleichzeitig unbeholfen, wehrlos und schwach. Sie sind als „ironisierte Figuren wahrzunehmen“ 159 . Die Figurengruppe der Wachen zählt genau wie die der Hohepriester zu den Gegenspielern des Auferstandenen 160 , da sie das Gerücht vom Leichendiebstahl verbreiten (V.15). Jedoch ist der Auferstandene den Wachen überlegen, da diese bereits beim Erscheinen des Engels (einem göttlichen Wesen) in Ohnmacht fallen. 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 110 <?page no="111"?> 161 Gnilka, Matthäusevangelium II, 499. 162 „The disciples have been mentioned twice, by the angel and Jesus, and are kept delibe‐ rately in the implied reader’s foreground by the narrator”, Kupp, Emmanuel, 102. Zur Rolle der Jünger im Matthäusevangelium vgl. auch Dormeyer, Rollen, 117-122. 163 „Schon zweimal haben jetzt also die Leser / innen aus göttlichem Munde vernommen, daß sich für die Jünger in Galiläa Entscheidendes ereignen wird“, Luz, Matthäus IV, 419. 164 Hagner, Matthew II, 874. Die Hohepriester werden in V.11 in die Erzählung eingeführt. Sie sind es, denen die Wachen die Geschehnisse am Grab erzählen und sie sind es auch, die sich zusammen mit der Figurengruppe der Ältesten beraten und schließlich den Entschluss zur Verbreitung des Gerüchtes fassen (V.12-14). „Die christliche Auferstehungsbotschaft sei Lüge, von den Jüngern mit dem Leichendiebstahl inauguriert.“ 161 Sie leugnen damit bewusst den Auferstandenen und sind be‐ strebt, diese Aussage auch weiterzuverbreiten. Sie sind damit die eigentlichen Drahtzieher der Verschwörung und Gegner des Auferstandenen. Zusammen bilden die Wachen, die Hohepriester und die Ältesten eine Art Front der Gegenspieler des Auferstandenen. Diese Figurengruppe besitzt durch ihre Stellung faktisch politische und militärische Macht. Sie haben mit dieser Macht den irdischen Jesus ans Kreuz gebracht und ihn damit dominiert. Im Er‐ zählabschnitt Mt 28,1-20 kehrt sich dieses Machtgefälle jedoch um. Die Voll‐ macht über Himmel und Erde liegt eindeutig beim Auferstandenen (vgl. Mt 28,18). Die Wachen, Hohepriester und Ältesten erscheinen dagegen letztlich ohnmächtig und hilflos. Durch das Verhältnis des Auferstandenen zu den Wachen, Hohepriestern und Ältesten kommt zum Ausdruck, dass der Auferstandene nicht unbestritten ist, sondern Feinde und Widersacher besitzt. Seine Exousia ist damit nicht für alle Augen offenkundig. 4 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den Jüngern Die Figurengruppe der Jünger begegnet erst in Mt 28,16, ist jedoch bereits in V. 7 in den Worten des Engels präsent. 162 Auch während der Begegnung des Auf‐ erstandenen mit den Frauen sind die Jünger implizit dabei, da sie die eigentlichen Adressaten der Botschaft des Auferstandenen an die Frauen sind (vgl. Mt 28,10). Auf das Treffen des Auferstandenen mit seinen Jüngern (V.16) wird also von Beginn der Erzählung an hingearbeitet. 163 Der Auferstandene bezeichnet die Jünger trotz der Verleugnung des Petrus und trotz ihrer Untreue als τοῖς ἀδελφοῖς μου (V.10). „The disciples are thus forgiven for their failure in the hour of crisis.“ 164 Er macht durch die Verwendung eines Familienbegriffs deutlich, dass er sie dennoch zu seiner engen Gemein‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 111 <?page no="112"?> 165 Daraus jedoch zu schlussfolgern, wie Finnern es tut, die Jünger seien durch die Brü‐ derbezeichnung erleichtert und gingen daraufhin - trotz der zu erwartenden beschäm‐ enden Begegnung mit dem Auferstandenen - mutig nach Galiläa, erscheint m. E. eher als willkürliche Mutmaßung ohne Rückkoppelung zum Text, vgl. Finnern, Narratologie, 338-339. Die Brüderbezeichnung wird zudem nur den Frauen mitgeteilt (vgl. Mt 28,10). Ob die Jünger also überhaupt von der Brüderbezeichnung erfahren, lässt der Text offen. 166 Luz, Matthäus IV, 439. 167 Fiedler, Matthäusevangelium, 429. Vgl. auch Luck, Matthäus, 317. 168 Luz, Matthäus IV, 440. Vgl. hierzu auch Poplutz, Verunsicherter Glaube, 47: „Der Auf‐ trag, neue Jünger zu gewinnen (μαθητεύσατε), ist die letzte Antwort Jesu auf die Am‐ bivalenz von Glaube und Zweifel.“ 169 Zum „Rollenwechsel“ der Jünger von Schülern zu Lehrern vgl. Byrskog, Slutet gott, allting gott, 91-93. 170 Vgl. Finnern, Narratologie, 337: „Trotzdem vertraut Jesus, der die Schwachen und die Sünder in seine Nachfolge ruft (Mt 9,12 f.), ihnen die Völkermission an.“ 171 Vgl. Fiedler, Matthäusevangelium, 432-433. 172 Vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 429. 173 Anders dagegen v. a. Finnern, der annimmt, der Auferstandene empfände Mitleid mit den Jüngern, „die ihn verlassen haben und die nun wie Schafe ohne Hirten sind“, Fin‐ nern, Narratologie, 332. M. E. lassen sich jedoch im Text selbst keinerlei Anhaltspunkte finden, die eine solche Behauptung rechtfertigen. schaft zählt und sie ihm sehr nahe stehen. 165 Dieses enge Verhältnis, das vom Auferstandenen ausgeht, wird jedoch von den Jüngern nicht in derselben Art und Weise geteilt. Als sie den Auferstandenen in Galiläa auf dem Berg treffen, huldigen sie ihm zwar (V.17), zweifeln aber zugleich (V.17). Deutlich wird daraus „die Ambivalenz der Jüngerreaktion: In die Proskynese mischen sich ‚Zwei‐ fel’.“ 166 Trotz ihres Zweifels macht der Auferstandene sie zu den Adressaten seines letzten Auftrags und „äußert […] kein Wort des Tadels“ 167 . Er „lässt die Zwie‐ spältigkeit seiner Jünger stehen und wendet sich ihnen mit seinem Wort zu.“ 168 Nur ihnen gibt er den universalen Missions- und Taufbefehl (V.19-20) und weist ihnen damit wichtige Schlüsselposition zu. Sie, die stets „Schüler“ Jesu waren sollen nun selbst zu Lehrern der Völker werden (vgl. Mt 28,20). 169 Gerade sie, die ihn verleugnet und an ihm gezweifelt haben, sollen seine Sache weiterführen und auf die gesamte Welt ausweiten (V.19 πάντα τὰ ἔθνη). 170 Zusätzlich sichert der Auferstandene seinen Jüngern seinen bleibenden Beistand zu; er lässt sie nicht im Stich. 171 Genau wie bei den Frauen, geht der Auferstandene auch bei den Jüngern nicht auf ihr Verhalten (ihre Verleugnung sowie ihre Zweifel) ein 172 ; auch sie nennt er nicht einzeln beim Namen. Es geht ihm auch bei der Jüngergruppe letztlich nicht um die Personen an sich und um das persönliche Verhältnis zu ihnen 173 , sondern v. a. um ihre Funktionalität: Sie sollen hingehen 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 112 <?page no="113"?> 174 Carter spricht in Mt 28,19 von Jesu Jüngern als „his agents“, Carter, Matthew and the Margins, 552. 175 Dies wird in allen drei Textstellen (V. 6; 7; 18) durch die Passiv-Form deutlich. Der jeweilige Kontext legt dabei für den intendierten Rezipienten nahe, dass Gott in allen Fällen der Urheber ist. Vgl. Frankemölle, Matthäus II; vgl. auch Sand, Matthäus, 596. 176 Vgl. Luck, Matthäus, 318. und alle Völker zu Jüngern machen (Mt 28,19). 174 Insgesamt ergibt sich so das Bild zweier konzentrischer Kreise. Die Frauen als kleiner Kreis sollen sich an den größeren Jüngerkreis wenden; der Jüngerkreis wiederrum soll sich an den noch viel größeren Kreis aller Völker wenden. Der Auferstandene schickt sie los, um seinen Namen zu verbreiten und dadurch seinen Machtbereich auszu‐ dehnen. Frauen und Jünger sind damit für den Auferstandenen hauptsächlich in ihrer Funktion von Bedeutung. 5 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den besprochenen Figuren Gott Gott wird im Erzählabschnitt Mt 28,1-20 namentlich nur an zwei Stellen explizit genannt. In V. 2 kommt ein ἄγγελος κυρίου vom Himmel herab und in V.19 ruft der Auferstandene zur Taufe εἰς τὸ ὄνομα τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος auf. Ohne dass er namentlich genannt wird, ist er jedoch zugleich der Urheber der Auferweckung Jesu (vgl. V.6-7) sowie der Urheber der Übertragung der uni‐ versalen Exousia (vgl. V.18). 175 Gott hat Jesus, den Gekreuzigten, auferweckt und hat ihn mit Vollmacht ausgestattet; nur durch Gott ist der Auferstandene, wer er ist. Damit besteht eine gewisse Abhängigkeit des Auferstandenen von Gott. Gleichzeitig stellt sich der Auferstandene selbst auf dieselbe Ebene mit Gott, was durch seine Formulierung der Taufe εἰς τὸ ὄνομα τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος zum Ausdruck kommt. Zusammen mit dem Heiligen Geist bilden somit Vater und Sohn eine Einheit. 176 Der Auferstandene nennt Gott in diesem Zusammenhang „Vater“ und macht damit die enge Beziehung zwi‐ schen ihnen deutlich. Zugleich spiegelt aber auch der Vaterbegriff eine gewisse Abhängigkeit des Sohnes wider. Das Verhältnis des Auferstandenen zu Gott ist in Mt 28,1-20 zwar geprägt durch eine Abhängigkeit des Auferstandenen von Gott. Trotzdem befinden sich beide auf derselben Ebene und bilden eine Einheit. Indem Gott in Mt 28,1-20 einzig im Fall der Auferweckung und im Fall der Machtübertragung am Aufer‐ standenen handelt, wird so die Auferweckung Jesu und seine Machtübertragung aneinander gekoppelt: Der Auferstandene ist der Mächtige. 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 113 <?page no="114"?> 177 „Thus Matthew tries to show how the story arose and why it should not be believed. The only remaining option is the angel’s explanation that Jesus had been raised”, Har‐ rington, Matthew, 413. 178 Ausgenommen ist hiervon die Bezeichnung Jesu als „König der Juden“, vgl. Franke‐ mölle, Matthäus II, 534-535; vgl. Gnilka, Matthäusevangelium II, 500: „Diese Beson‐ derheit läßt die Juden als jene erscheinen, die die christliche Botschaft ablehnen, in ihrer Isolation verharren und sich nicht den Völkern öffnen.“ Dagegen Frankemölle, Mat‐ thäus II, 535: „Eher legt es sich m. E. nahe, die Wendung 'bei Juden' nicht disqualifizie‐ rend, sondern kontextuell vor allem von der offiziellen Verurteilung 'Jesu' durch die römische Behörde und aus römischer Sprachperspektive (12-15) her zu interpretieren.“ 179 So auch Luz, Matthäus IV, 425: „Er hält zwar fest, daß »bei Juden« sich das betrügerische Gerücht vom Leichendiebstahl »bis heute« gehalten habe, und deutet keine Hoffnung an, daß dies sich vor der nahen Parusie noch ändern könnte. Aber er sagt nicht, daß heilsgeschichtlich die Zeit der Hoffnung für Israel abgelaufen sei.“ Heiliger Geist Der Heilige Geist wird nur in Mt 28,19 im Kontext der Taufe genannt. Der Auf‐ erstandene fordert seine Jünger auf, alle Völker auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen. Die Figur des Heiligen Geistes steht damit auf derselben Ebene wie der Vater und der Sohn. Juden Die Figurengruppe der Juden wird nur in Mt 28,15 erwähnt. Sie steht dort ohne Artikel (παρὰ Ἰουδαίοις). Bei den Juden verbreitet sich das Gerücht der Hohe‐ priester und Ältesten, die Jünger Jesu hätten seinen Leichnam gestohlen, durch die Wachen bis zum heutigen Tag. 177 Im MtEv wird nur an dieser Stelle von Juden statt von Israel gesprochen. 178 Die Figurengruppe der Juden erscheint damit für den intendierten Rezip‐ ienten als ein gegenwärtiger, von Lüge durchzogener Gegenbereich zum Auf‐ erstandenen und seinen Jüngern. Völker Die Völker werden in Mt 28,19 als πάντα τὰ ἔθνη bezeichnet und sind Gegen‐ stand der vom Auferstandenen geforderten Mission. Sie sollen zu Jüngern ge‐ macht werden, getauft (Mt 28,19) und gelehrt werden (Mt 28,20). Die Völker erscheinen damit als potenzielle zukünftige Jünger Jesu und als der Machtbereich, in den der Auferstandene vordringen will. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel zur Selbstcharakterisierung herausgearbeitet, sind die Juden nicht von der Bezeichnung alle Völker ausgeschlossen. Es ist damit falsch, an dieser Stelle zwischen der Figurengruppe der Juden und der Figurengruppe der Völker einen starken Gegensatz zu sehen. 179 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 114 <?page no="115"?> 180 Fiedler, Matthäusevangelium, 423. 181 Auch Fiedler verortet die Szene in den späten Abend des Sabbats und versteht mit dem „Aufleuchten“ nicht die Morgendämmerung, sondern das Aufleuchten der Sterne, vgl. Fiedler, Matthäusevangelium, 424. 182 Gnilka, Matthäusevangelium II, 489. 3.1.4 Figur und Umwelt In dieser Analysekategorie wird die Beziehung der Figur des Auferstandenen zu seiner Umwelt in Mt 28,1-20 untersucht. Die Umgebungen, die Natur-Schild‐ erungen und die Zeiten, in denen die Figur dargestellt wird, tragen mit dazu bei, beim intendierten Rezipienten ein Bild vom Auferstandenen im MtEv entstehen zu lassen. Im Folgenden wird der Erzählabschnitt Mt 28,1-20 in vier verschie‐ dene Szenen aufgeteilt. In diesen wird dann jeweils die Umwelt der Figur näher betrachtet. Die Analyse wird daher nicht in die Bereiche Ort, Zeit und Natur‐ schilderungen eingeteilt, sondern all diese Aspekte werden gesammelt in der jeweiligen Szene verhandelt. Es ergibt sich die folgende Einteilung des Erzäh‐ labschnitts Mt 28,1-20: 1. Szene: Am Grab (Mt 28,1-7); 2. Szene: Zwischen dem Grab und Jerusalem (Mt 28,8-10); 3. Szene: In Jerusalem (Mt 28,11-15); 4. Szene: Auf einem Berg in Galiläa (Mt 28,16-20). 1. Szene: Am Grab (Mt 28,1-7) Die Erzählung beginnt in Mt 28,1 mit der Zeitangabe Ὀψὲ δὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωσκούσῃ εἰς μίαν σαββάτων. Diese Zeitangabe sagt nichts über den Zeit‐ punkt der Auferweckung Jesu aus, sondern zunächst nur, wann die Frauen zum Grab Jesu laufen. Indirekt steht diese Zeitangabe dennoch in Beziehung zur Figur des Auferstanden, da sich die folgenden Ereignisse, die die Erscheinung des Auferstandenen ankündigen (Mt 28,2-7) sowie die Begegnung des Aufer‐ standenen mit den Frauen (Mt 28,8-10) unmittelbar nach dieser Zeitangabe er‐ eignen. Die Zeitangabe Ὀψὲ δὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωσκούσῃ εἰς μίαν σαββάτων trägt somit dazu bei, die Erscheinung des Auferstandenen innerhalb der Erzählung zu verorten. In der Forschung ist die Formulierung Ὀψὲ δὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωσκούσῃ εἰς μίαν σαββάτων unterschiedlich übersetzt worden: Fiedler übersetzt diese Stelle wie folgt: „Spät am Schabbat aber, als es zum ersten Tag nach dem Schabbat aufleuchtete“ 180 . Damit findet das Laufen der Frauen zum Grab noch am Sabbat statt, spät abends beim Aufleuchten der Sterne. 181 Dagegen übersetzt Gnilka: „Als der Sabbat aber vorüber war und es aufleuchtete zum ersten Wochentag“ 182 . Gnilka verortet das Laufen der Frauen zum Grab damit eindeutig nach dem Sabbat und impliziert durch die Formu‐ 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 115 <?page no="116"?> 183 „Die doppelte Zeitangabe verweist auf die Morgenfrühe des ersten Wochentages“, Gnilka, Matthäusevangelium II, 493. 184 Vgl. u. a. Balz / Schneider, Art. ἐπιφώσκω, 113. 185 Vgl. Bauer / Aland, Art. ἐπιφώσκω, 617; vgl. auch Balz / Schneider, Art. ἐπιφώσκω, 113. 186 Vgl. Bauer / Aland, Art. φῶς, 1738-1739. 187 Vgl. Bauer / Aland, Art. ὀψέ, 1215-1216. 188 Gnilka, Matthäusevangelium II, 489. 189 So auch Luz, Matthäus IV, 401; Nolland, Matthew, 1245-1246; anders dagegen u. a. Balz / Schneider, Art. ἐπιφώσκω, 113, die das entscheidende Argument in der jüdischen Tagesrechnung sehen und nicht weiter auf den semantischen Gehalt des Wortes ἐπιφώσκω eingehen; vgl. auch Luck, Matthäus, 313: „Gemeint ist hier nicht die Morgensondern die Abenddämmerung“. Jedoch spricht darüber hinaus m. E. auch das weitere Geschehen (vgl. Mt 28, 11-15: die Wachen berichten alles den Hohepriestern, diese versammeln sich mit den Ältesten und fassen einen Beschluss) eher dafür, dass sich all dies tagsüber ereignet als mitten in der Nacht. Auch spricht mehr dafür, dass sich die Frauen nicht in völliger Dunkelheit das Grab Jesu anschauen wollen, sondern in der Morgendämmerung, vgl. Davies / Allison, Matthew III, 663: „Would it make sense, ho‐ wever, for the women to go out 'to see' the tomb if darkness were settling? “. lierung „und es aufleuchtete“, dass das Geschehen früh morgens beim Sonnenaufgang stattfindet. 183 Nach der jüdischen Tagesrechnung begann der Tag bereits am Abend des vorherigen Tages 184 , sodass die Übersetzung von Fiedler zu Recht den Abend des Sabbats meinen kann. Die gesamte Szenerie wäre damit in die Abenddämmerung und Nacht des Sab‐ bats auf den Sonntag verlegt. Untersucht man jedoch die Bezeichnung τῇ ἐπιφωσκούσῃ im Hinblick auf ihren se‐ mantischen Gehalt genauer, dann spricht vieles dafür, die gesamte Szenerie in die Morgendämmerung zu verlegen. Denn das Wort ἐπιφώσκω kann neben „anbrechen“ auch „aufleuchten“ meinen. 185 In seinem Wortstamm bezieht es sich nämlich auf das Substantiv φῶς, das in seiner Grundbedeutung mit „Licht“ oder „Leuchtkörper“ wie‐ dergegeben werden kann. 186 Das Anbrechen beinhaltet somit ein Aufleuchten, das auf die Morgendämmerung und den Sonnenaufgang anspielt. Das Wort ὀψέ kann neben seiner Grundbedeutung „spät“ auch als Präposition mit einem nachstehenden Genitiv mit „nach“ übersetzt werden. 187 Die Formulierung Ὀψὲ δὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωσκούσῃ εἰς μίαν σαββάτων kann daher m. E. zu Recht mit Gnilka mit den Worten „Als der Sabbat aber vorüber war und es aufleuchtete zum ersten Wochentag“ 188 übersetzt werden. Das stärkere Argument spricht daher m. E. für die zeitliche Verortung der ge‐ samten Szene in die Morgendämmerung des ersten Wochentages nach dem Sabbat. 189 Wenn die Frauen in der Morgendämmerung zum Grab laufen und der Auferstandene ihnen kurze Zeit später auf dem Weg nach Jerusalem begegnet, so kann diese Begegnung zeitlich ungefähr bei Sonnenaufgang verortet werden, zumindest ist es heller als beim Hingehen der Frauen zum Grab. Für den inten‐ dierten Rezipienten kann diese Umweltdarstellung symbolisch für das Ereignis 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 116 <?page no="117"?> 190 Vgl. ausführlich zu der Bedeutung des Sabbats im Judentum und innerhalb der Evan‐ gelien Beilner, Art. σάββατον, 523-529. 191 Finnern, Narratologie, 284. 192 Zusätzlich kommt das Motiv des Erdbebens in etwas abgeschwächter Form in Mt 8,24 (als Ursache des Sturms) und in Mt 21,10 (die Stadt erbebt beim Einzug Jesu in Jerusalem) vor. der Auferstehung Jesu gedeutet werden: Der Gekreuzigte ist von den Toten auferstanden (Mt 28,5.7) und steht nun als Lebendiger vor ihnen (Mt 28,9) - die Nacht ist vorüber und das Licht des neuen Tages wird sichtbar. Der Auferstan‐ dene erscheint damit als eine Figur des Lichts, des Neubeginns und der Hoff‐ nung. Der Sabbat als Ruhetag und Unterscheidungsmerkmal der Juden seit dem Exil ist im MtEv eine oftmals anzutreffende Zeitangabe. Besonders in Mt 12,1 f ist sie im Kontext des Ährenraufens von Bedeutung. Der Sabbat ist im Judentum der letzte Tag der Woche. 190 Wenn nun die Erscheinung des Auferstandenen nach dem Sabbat, im Morgengrauen des ersten Wochentags der neuen Woche, dar‐ gestellt wird, dann unterstreicht auch diese Tages- und Wochenangabe die Cha‐ rakterisierung der Figur des Auferstandenen im Licht des Neuanfangs. Der Ort der ersten Szene in Mt 28,1-7 ist das Grab Jesu außerhalb der Stadt, das „vergleichsweise genau beschrieben“ 191 wird und somit eine große Bedeu‐ tung besitzt. Das Grab ist der Ort, in den der Gekreuzigte gelegt worden ist (vgl. Mt 27,57-61). Es symbolisiert daher für den intendierten Rezipienten den Tod, die Trauer und das Ende des Lebens des irdischen Jesus. Wenn nun genau an dieser Stätte des Todes ein göttliches Wesen den Frauen von der Auferstehung Jesu berichtet, wird für den intendierten Rezipienten der Kontrast zwischen Jesu Tod und seiner Auferstehung verstärkt und so die Besonderheit seiner Aufer‐ stehung hervorgehoben. Der Engel hätte den Frauen auch in Jerusalem von Jesu Auferstehung berichten können. Indem der Erzähler diese Ankündigung aber bewusst an den Ort des Grabes Jesu bindet, erzielt er einen besonderen Effekt: Am Ort des Todes und der Trauer eröffnet sich Hoffnung und Freude. Der Auf‐ erstandene wird damit als Überwinder des Todes und als Symbol für das Leben gekennzeichnet. In Mt 28,2 berichtet der Erzähler, dass es ein starkes Erdbeben gab. Nur an dieser Stelle im MtEv wird das Erdbeben durch das Adjektiv μέγας näher be‐ stimmt. Als Ursache dieses Erdbebens wird im Folgenden (eingeleitet durch das begründende γὰρ) das Hinabsteigen des Engels des Herrn aus dem Himmel ge‐ nannt, sein Hinzutreten und das Wegwälzen des Steins. Der intendierte Rezipient kennt Erdbeben v. a. aus zwei Stellen im MtEv 192 : Direkt im vorherigen Kapitel (Mt 27,52.54) bebt die Erde, nachdem Jesus am Kreuz gestorben 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 117 <?page no="118"?> 193 Ob der intendierte Rezipient an dieser Stelle einen Bezug zu Ezechiel 37 herstellt, bleibt fraglich, vgl. Frankemölle, Matthäus II, 504-505. 194 So auch Frankemölle, Matthäus II, 517: „Immer wird dabei die Erfahrung der göttlichen Tiefendimension thematisiert.“ Vgl. auch Kremer, Osterevangelien, 63; Wiefel, Mat‐ thäus, 489. 195 Diese Zeichen (u. a. das Erdbeben) sind aber noch nicht das Ende selbst, sondern eins von vielen notwendigen Geschehnissen, die die Endzeit einläuten (Mt 28,8 „dies alles ist der Anfang der Wehen“), vgl. Sand, Matthäus, 480. Vgl. auch Harrington, Matthew, 409: „Matthew uses the word seismos […] also in apocalyptic contexts […]. Here it un‐ derscores the resurrection of Jesus as an apocalyptic event.“ So auch Bode, Easter Mor‐ ning, 51. 196 Luz, Matthäus IV, 402. 197 Das Erdbeben als kosmische Erschütterung findet besonders in apokalyptisch ge‐ prägten Texten große Beachtung (vgl. die synoptische Apokalypse Mk 13,8; Mt 24,7; Lk 21,11; sowie die Offenbarung des Johannes). Es dient als endzeitliches Zeichen, das den Anfang der Wehen markiert und das Nahen Gottes in Macht ankündigt, vgl. Kratz, Art. σεισμός, 566. 198 Vgl. Davies / Allison, Matthew III, 664-665. Zur frühjüdischen Apokalyptik und ihrem Einfluss auf das neutestamentliche Schrifttum vgl. Lohse, Umwelt des Neuen Testa‐ ments, 37-51. 199 Vgl. hierzu Longstaff, Women, 281: „[I]t is a powerful and dramatic preparation for the account of Jesus’ resurrection.” (Mt 27,50) und der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerrissen ist (Mt 27,51). Unmit‐ telbar nach dem Erdbeben öffnen sich Gräber und viele Körper der bereits gestorbenen Heiligen stehen auf (Mt 27,52). Das Erdbeben dient an dieser Stelle mit dazu, den Hauptmann und die Wachen davon zu überzeugen, dass Jesus Gottes Sohn gewesen ist (vgl. Mt 27,54 ἀληθῶς θεοῦ υἱὸς ἦν οὑτος). 193 Das Erdbeben ist somit gewisser‐ maßen das Anzeichen dafür, dass etwas Göttliches geschieht. 194 Auch in Mt 24,7 findet es im Rahmen der endzeitlichen Rede Jesu Verwendung und ist dort eins von vielen apokalyptischen Zeichen für das kommende Ende (vgl. Mt 24,3 „Sag uns, wann wird das geschehen und was wird das Zeichen für deine Wiederkunft sein und für das Ende der Welt? “). 195 In Mt 28,2 erfüllt das Erdbeben denselben Zweck. Es begleitet die Ankunft des Engels, der vom Himmel herabsteigt, und den Frauen von der Auferstehung Jesu berichtet. Das Erdbeben ist damit (wie in Mt 27,52) zum einen ein Anzeichen für den intendierten Rezipienten, dass jetzt wieder „Gott in Aktion“ 196 tritt und seine Macht zeigt. 197 Zum anderen ist auch in Mt 28,2 das Erdbeben apokalyptisch und eschatologisch gefärbt (wie in Mt 24,7) und kündigt den Anfang der Wehen an (vgl. Mt 24,3.8). 198 Darüber hinaus dient die Umweltschilderung an dieser Stelle dazu, die An‐ kündigung der Auferstehung Jesu gestalterisch zu untermalen 199 : Das Beben und Aufbrechen der Erde soll wahrscheinlich beim intendierten Rezipienten die 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 118 <?page no="119"?> 200 Finnern, Narratologie, 288. 201 Alkier, Auferweckung, 119. 202 Nach Finnern kann an dieser Stelle implizit vorausgesetzt werden, dass sich die Jünger in Jerusalem oder in der Umgebung von Jerusalem aufhalten und die Frauen daher vom Grab Jesu in Richtung der Stadt laufen, vgl. Finnern, Narratologie, 285. 203 „This double stress on Galilee as the place in which the disciples will see Jesus serves to prepare for the climatic appearance in Matt 28: 16-20“, Harrington, Matthew, 411. 204 Vgl. Finnern, Narratologie, 285. 205 Vgl. Mt 2,22; 3,13; 4,12.15.18.23.25; 15,29; 17,22; 19,1; 21,11; 26,32; 27,55; 28,7.10.16. Analogie entstehen lassen, dass durch die Auferstehung Jesu vorherige Seins‐ welten aufbrechen und durcheinander gebracht werden. Ein Erdbeben als Bruch und Ausnahmezustand der Natur drückt so den Ausnahmezustand der Aufer‐ stehung Jesu aus; es lässt die Erde nicht so, wie sie vorher war. Der Auferstan‐ dene erscheint damit als eine absolute Ausnahmeerscheinung, die alles Vorhe‐ rige ins Wanken bringt und bestehende Verhältnisse sprengt. Durch die Auferstehung bleibt es nicht bei der alten Wirklichkeit, sondern es ergeben sich radikale Veränderungen. Zusätzlich trägt das Erdbeben zusammen mit der Zeit- und Ortsangabe (im Morgengrauen am Grab) dazu bei, beim intendierten Rezipienten eine unheim‐ liche und „intensive, emotionale Atmosphäre“ 200 zu erzeugen, in die hinein dann die Botschaft von der Auferstehung Jesu gesprochen wird. Indem die Auferste‐ hungsbotschaft in eben dieses Licht getaucht wird, erscheint auch die Aufer‐ stehung an sich unheimlich und gewaltig. Durch das furchterregende Erdbeben und die Gestalt des Engels fallen die Wächter um wie Tote. Die bisher Mächtigen werden damit außer Gefecht gesetzt und die Macht liegt nun beim Auferstan‐ denen (vgl. Mt 28,18). „Das Matthäusevangelium stellt die Machtfrage und es beantwortet sie unmissverständlich.“ 201 2. Szene: Zwischen dem Grab und Jerusalem (Mt 28,8-10) In der 2. Szene findet zunächst ein Ortswechsel statt. Die Frauen laufen vom Grab weg (V.8) und irgendwo zwischen dem Grab Jesu und Jerusalem begegnet ihnen der Auferstandene (V. 9 f). 202 Auffällig ist, dass der Auferstandene - genau wie der Engel vor ihm (V.7) - ein Wiedersehen zwischen sich und seinen Jüngern in Galiläa ankündigt (V.10). 203 Der Ortsname Galiläa wird im gesamten Erzähl‐ abschnitt Mt 28,1-20 an drei Stellen genannt (V.7; 10; 16) und ist damit die Orts‐ angabe, die in diesem Abschnitt am häufigsten vorkommt. 204 Im gesamten MtEv findet sich die Ortsangabe Galiläa an 16 Stellen. 205 Nach der Rück‐ kehr aus Ägypten erhält Josef von Gott den Befehl, nach Galiläa zu ziehen (Mt 2,22). Jesus wächst also in Galiläa (in Nazareth, vgl. Mt 4,13) auf. Hier beginnt das Wirken Jesu und hier beruft er seine ersten Jünger (vgl. Mt 4,18 f). In Galiläa zieht er umher, 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 119 <?page no="120"?> 206 „Die Heimat Jesu ist einfach der Raum für den hauptsächlichen Teil seiner Wort- und Tatverkündigung (5,1; 8,1)“, Fiedler, Matthäusevangelium, 429; vgl. auch Luz, Mat‐ thäus IV, 437: „Galiläa ist die Landschaft, wo Jesus sein Volk gelehrt und geheilt hat (4,23-25). Dort fand er ein großes und positives Echo.“ 207 „Galiläa steht dabei in Kontrast zu Jerusalem“, Konradt, Matthäus, 460; vgl. auch Luz, Jünger, 164: „Wahrscheinlich trifft auch darum der Auferstandene die Jünger in Galiläa (28,16), weil das der Ort seines Erdenwirkens ist“. 208 Frankemölle, Matthäus II, 539. 209 Vgl. auch Sand, Matthäus, 583; Konradt, Matthäus, 460. 210 Vgl. ausführlich Finnern, Narratologie, 287-288; vgl. auch Luz, Matthäus IV, 437. lehrt in den Synagogen und heilt Kranke (Mt 4,23-24). Auch die Bergpredigt findet auf einem Berg in Galiläa statt (Mt 5,1-7,29). Die Kapitel Mt 8,1-18,35 sind (mit ei‐ nigen Ausnahmen) in und um Galiläa verortet, wodurch nicht nur Jesu erstes Wirken, sondern sein gesamtes Wirken an Galiläa gebunden ist. 206 Indem der Auferstandene nun in Mt 28,10 - wie der Engel zuvor in Mt 28,7 - ankündigt, ausgerechnet in Galiläa (das ca. 100 km von Jerusalem entfernt ist) seinen Jüngern zu erscheinen, so zeigt dies, dass er sein irdisches Wirken nicht einfach zurück und hinter sich lässt, sondern dass er genau dort wiedergesehen werden will, wo er zu seinen Lebzeiten gewirkt hat. Der Auferstandene will seine Jünger nicht in Jerusalem, der Stadt seiner Kreuzigung, treffen, sondern dort, wo er sie zuvor berufen hat (Mt 4,18 f) und wo alles begann. 207 „Der Bogen zum Anfang des Evangeliums ist somit geschlagen“ 208 . Indem der Auferstandene bewusst an das Wirken und Handeln des Irdischen anknüpft, entsteht so eine gewisse Kontinuität des Auferstandenen zum Irdischen. Des Weiteren ist Galiläa sowohl der Ausgangspunkt für das Wirken des Ir‐ dischen, als auch der Ausgangspunkt für die weltweite Mission. Von Galiläa aus sollen die Jünger zu allen Völkern gehen (Mt 28,19). 209 3. Szene: In Jerusalem (Mt 28,11-15) In Mt 28,11 gehen einige von der Wache nach Jerusalem, um den Hohepriestern von den Ereignissen am Grab Jesu zu berichten. Daraufhin versammeln sie sich mit den Ältesten und fassen einen Beschluss (Mt 28,12). Sie bestechen die Wa‐ chen mit Geld, die Version des Leichendiebstahls der Jünger zu verbreiten, was diese auch tun (Mt 28,13-15). Jerusalem ist daher innerhalb des Erzählabschnittes Mt 28,1-20 der Ort, an dem die Figur des Auferstandenen bewusst geleugnet wird. Jerusalem und Ga‐ liläa bilden somit eine Art Gegensatz. 210 Der intendierte Rezipient weiß aus seinem Lesegedächtnis, dass Jesus in Je‐ rusalem verraten und verhaftet (Mt 26,47-56), verurteilt (Mt 27,11-26), ver‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 120 <?page no="121"?> 211 Frankemölle, Matthäus II, 539; vgl. auch Denaux, Story, 140; Klaiber, Matthäusevange‐ lium II, 286. 212 „Beim Berg der Christusbegegnung wird Mt in erster Linie an den Berg der (exempla‐ rischen) Auslegung der Tora denken (weniger an die Berge von 4,8 und 17,1 - hier fehlt jeweils der bestimmte Artikel)“, Fiedler, Matthäusevangelium, 429. 213 Konradt, Matthäus, 460. 214 Vgl. Konradt, Matthäus 460; ebenso Byrskog, der auf zwei Parallelen zwischen dem Setting der Bergpredigt und dem Setting von Mt 28,16-20 hinweist: In beiden Fällen ist der Berg durch einen Artikel als ein bestimmter Berg ausgezeichnet und in beiden Fällen findet eine Belehrung Jesu (primär) an seine Jünger statt, vgl. Byrskog, Slutet gott, all‐ ting gott, 88. spottet (Mt 27,27-31) und gekreuzigt (Mt 27,32-56) worden ist. Nicht nur der Irdische, sondern nun auch der Auferstandene hat in Jerusalem Gegner, die ihn leugnen und die bewusst gegen ihn arbeiten. Auch der Auferstandene ist damit keine von allen akzeptierte, sondern eine zugleich angefeindete Gestalt. 4. Szene: Auf einem Berg in Galiläa (Mt 28,16-20) In Mt 28,16 erfährt der intendierte Rezipient, dass der Auferstandene seine Jünger auf einen Berg in Galiläa befohlen hat und ihnen dort erscheint (V.17). Der intendierte Rezipient stutzt womöglich an dieser Stelle, da er in den vorhe‐ rigen Versen nur von einer angekündigten Erscheinung vor den Jüngern in Ga‐ liläa gelesen hat, nicht aber, dass diese Begegnung auf einem Berg stattfinden wird. Diese Bemerkung wirkt daher wie ein „narrativer Überschuß“ 211 . Der Berg wird nicht näher definiert, sondern nur als der Berg (τὸ ὄρος) bezeichnet. Der bestimmte Artikel enthält hier jedoch nicht zwingend einen Rückverweis, son‐ dern besagt nur, dass Jesus einen bestimmten Berg den Jüngern gegenüber an‐ gegeben hat. Auf dem Berg hält der Auferstandene seine letzte Rede an die Jünger und auf dem Berg endet zugleich das Evangelium. Der intendierte Rezipient kennt den Ort Berg u. a. von der dritten Versuchung Jesu (Mt 4,8 f), von der Bergpredigt (Mt 5,1; 8,1) und von der Verklärung Jesu (Mt 17,1-9). Möglicherweise ist dem intendierten Rezipient der Berg als Ort der Nähe Gottes auch aus Texten des Alten Testaments (Berg Sinai) bekannt. Der Rückbezug auf die Berg‐ predigt wird v. a. durch den Auftrag „und lehret sie alles bewahren, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,20) deutlich. 212 Damit ist der Berg als „Ort der Offenbarung kon‐ notiert“ 213 . Zudem wird ein Zusammenhang zwischen dem Berg und der Lehre sichtbar. Denn sowohl bei der Bergpredigt des Irdischen, als auch beim Lehr-Auftrag des Auf‐ erstandenen an seine Jünger spielt der Berg als exponierter Ort eine wichtige Rolle. 214 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 121 <?page no="122"?> 215 Vgl. Frankemölle, Matthäus II, 539; so auch Bornkamm, Der Auferstandene und der Irdische, 171: „»Der Berg« ist nicht ein geographisch bestimmbarer Ort, sondern typi‐ sche Offenbarungsstätte wie häufig auch sonst im Matthäus-Evangelium (vgl. 5,1; 15,29; 17,1), auch wenn man keineswegs sofort an ein Gegenbild zum Sinai denken muß.“ Nach Gundry dient jedoch der Berg als Ort der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern dazu, Jesus als den „greater Moses“ darzustellen, vgl. Gundry, Matthew, 594. Jedoch zielt der Text m. E. an dieser Stelle nicht auf einen direkten Vergleich Jesu mit Mose ab, sondern steht vielmehr im Bezug zur Bergpredigt und betont so den Offen‐ barungscharakter dieses im wortwörtlichen Sinne „herausgehobenen“ Ortes. 3.1.5 In jedem Fall ist der Berg ein herausgehobener und besonderer Ort, der Sym‐ bolcharakter als Ort der Offenbarung besitzt. 215 Der Auferstandene holt die Jünger aus ihrer „normalen“ Lebenswelt und ihrer alltäglichen Umgebung he‐ raus und befiehlt sie zu sich auf einen herausgehobenen Ort, um ihnen dort seine Rede zu halten. Zugleich wird durch die Erscheinung Jesu vor den Jüngern auf dem Berg ein weiterer Rückbezug des Auferstandenen auf das Leben - und vor allem auf die Lehre - des Irdischen geschaffen. Durch die Umgebung, in der die Figur des Auferstandenen in Mt 28,1-20 dar‐ gestellt wird sowie durch die geschilderten Naturereignisse und Zeiten ergibt sich ein Bild der Figur des Auferstandenen, das v. a. von zwei Aspekten geprägt ist: 1. Zum einen steht der Auferstandene dafür, dass er bestehende Seinswelten ins Wanken bringt, geltende Machtverhältnisse außer Kraft setzt und dass mit ihm etwas Neues auf- und anbricht. 2. Zum anderen steht der Auferstandene für eine gewisse Kontinuität mit sich selbst, indem er sich an Galiläa zurückbindet (und damit sein irdisches Wirken nicht verleugnet), indem er weiterhin in Jerusalem angefeindet wird und indem er am Ende des Evangeliums seine Jünger wieder auf einen Berg ruft. „Auf-bruch“ und Kontinuität zeichnen die Figur des Auferstandenen aus. Figur und Handlung Die Figur des Auferstandenen wird im Erzählabschnitt Mt 28,1-20 erst in V.9 vom Erzähler in die Handlung eingeführt. Als handelnde Figur ist er nur in den beiden Erzählabschnitten Mt 28,9-10 und Mt 28,16-20 präsent. Am Anfang der Erzählung, in Mt 28,1-8, „scheint der Engel im Zentrum der Aufmerksamkeit 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 122 <?page no="123"?> 216 Finnern, Narratologie, 353. 217 Eine Hilfsfigur ist eine Nebenfigur, die allein dazu da ist, die Handlung voran zu treiben, vgl. Finnern, Narratologie, 148. U. a. nennt Harvey eine solche Figur, die eine bestimmte Rolle und Funktion erfüllt, Ficelle, vgl. Harvey, Character, 55-73. 218 „Außerdem gilt in Mt 28 das Interesse des Rezipienten trotz der breiten Darstellung des Engels eigentlich dem Auferstandenen“, Finnern, Narratologie, 353. 219 Finnern, Narratologie, 352. 220 Ein Motiv bildet die kleinste Einheit innerhalb einer Erzählung, sie kann nur aus einem Subjekt und einem Prädikat bestehen, vgl. Martinez / Scheffel, Erzähltheorie, 108. zu stehen.“ 216 Aber er verkündet lediglich - als Hilfsfigur 217 - den Auferstan‐ denen. Auch die Frauen - als Nebenfiguren - kommen nur zum Grab, weil sie den Gekreuzigten suchen (V.5). Sowohl die Frauen als auch der Engel sind damit im Erzählabschnitt Mt 28,1-8 nicht die Hauptfiguren, sondern nur Neben- und Hilfsfiguren. Für den intendierten Rezipienten steht auch in diesem Erzählab‐ schnitt eindeutig der Auferstandene im Μittelpunkt. 218 In Mt 28,11-15 verhält es sich ebenso. Es geht bei der Versammlung der Hohepriester mit den Ältesten und bei der Bestechung der Wachen inhaltlich die ganze Zeit über um die Figur des Auferstandenen und wie mit ihr umzugehen ist bzw. wie sie zu leugnen ist. Es lässt sich daher zu Recht mit Finnern festhalten, dass es auch „in Mt 28,1-7 und 11-15, wo nur in der besprochenen Welt auf ihn Bezug genommen wird, […] letztlich um Jesus“ 219 geht. Obwohl der Auferstandene nur in sechs Versen als handelnde Figur selbst anwesend ist (also in nur etwas über ein Viertel des Gesamttextes), ist er in Mt 28,1-20 dennoch eindeutig die Hauptfigur. Die Figur des Auferstandenen stößt einzelne Handlungen von Figuren an und treibt den Handlungsverlauf voran, sie ist damit eine Art Impulsgeber: Der Ge‐ kreuzigte ist Anlass für die Frauen, zum Grab zu gehen (V.1). Der Auferstandene ist Anlass für den Engel, vom Himmel zu steigen und den Frauen Jesu Aufer‐ stehung zu verkündigen und den Auftrag an die Jünger zu geben (V.2-7). Der Auferstandene ist Anlass für die Frauen, schnell zu den Jüngern zu gehen (V.8- 11). Der Auferstandene ist Anlass für die Wachen, in die Stadt zu kommen und alles den Hohepriestern zu berichten (V.11). Der Auferstandene ist Anlass für die Hohepriester, sich mit den Ältesten zu versammeln und einen Entschluss zu fassen (V.12). Der Auferstandene ist Anlass für die Bestechung der Wachen und die Verbreitung des Gerüchts (V.12-15). Der Auferstandene ist Anlass für die Jünger, nach Galiläa auf den Berg zu gehen (V.16). Und der Auferstandene ist schließlich Anlass für die folgende universale Mission (V.19-20). Es findet sich in Mt 28,1-20 in Bezug auf die Figuren kein Motiv 220 , das nicht in irgendeiner Art und Weise durch die Figur des Auferstandenen veranlasst ist. 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 123 <?page no="124"?> 221 Nur die Handlung der Frauen, zum Grab zu gehen (Mt 28,1), ist nicht durch den Auf‐ erstandenen, sondern durch den Gekreuzigten motiviert. 222 Die Handlung der universalen Mission wird in Mt 28,1-20 zwar angestoßen, aber ihre Ausführung wird nicht mehr beschrieben. Sie muss vom intendierten Rezipienten wei‐ tergedacht werden. 223 Vgl. hierzu Bornmann, Der Auferstandene und der Irdische, 174: „Auch fällt kein chris‐ tologischer Hoheitsname. Zu denken wäre etwa an den Begriff des Menschen‐ sohnes, […]. […] Aber auch die Hoheitstitel κύριος (Phil 2) oder υἱός (Hebr 1) fallen nicht, und Mt 28,18 verzichtet auf alles apokalyptische und mythologische Detail.“ 3.1.6 Zudem ist die Figur des Auferstandenen nicht nur Anlass, sondern auch Ge‐ genstand und Ziel der meisten Handlungen der Figuren, denn ohne die Haupt‐ figur wären alle Handlungen inhaltlich sinnlos. Die Figur des Auferstandenen ist damit Veranlasser, Initialzündung und gleichzeitig auch Gegenstand aller Handlungen und Motive innerhalb des Erzählabschnitts Mt 28,1-20 221 und sogar noch darüber hinaus. 222 Des Weiteren lassen sich in Mt 28,1-20 zwei grundsätzliche Arten von Hand‐ lungen ausmachen, die charakteristisch für diesen Erzählabschnitt sind: Zum einen sind es Handlungen der Bewegung, des Gehens, Kommens, Hinzutretens, etc. (vgl. Mt 28,1.2.6.7.8.9.10.11.12.13.16.18.19). Hierdurch erhält die Handlung eine große Dynamik. Zum anderen sind es Kommunikationshandlungen in di‐ rekter und indirekter Rede (vgl. Mt 28,5-7.9-10.11.12.13-14.18-20). Der Er‐ zählabschnitt Mt 28,1-20 endet mit einem differenzierten und ineinander ver‐ schachtelten Kommunikationsakt der Figur des Auferstandenen. Die Rede des Auferstandenen in Mt 28,1-20 umfasst dabei drei verschiedene Sprechakte: Sie beginnt mit einer Selbstaussage (V.18), geht dann über in einen Auftrag (V.19- 20) und endet mit einer Zusage (V.20). Eine gewisse Analogie besteht an dieser Stelle zu der Rede der Hohepriester in V.13-14. Auch ihre Rede setzt sich aus den beiden Sprechaktelementen Auftrag (V.13) und Zusage (V.14) zusammen. Figur und Erzähler Der Erzähler schildert die Figur des Auferstandenen in Mt 28,1-20 mit auffallend nüchternen, einfachen und wenigen Worten. 223 Der Fokus liegt so in diesem Erzählabschnitt darauf, was der Auferstandene tut, was er sagt und wie er auf andere wirkt. Das Verhältnis der erzählten Zeit zur Erzählzeit ist in Mt 28,1-20 sprunghaft. So findet besonders am Ende der Erzählung, in V. 16, eine starke Zeitraffung statt. Hier erwähnt der Erzähler, dass die Jünger nach Galiläa auf den Berg gehen, d. h. in einem Vers wird eine Wanderung von über 100 km zusammengefasst. 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 124 <?page no="125"?> 224 Davon ausgeschlossen ist der Stammbaum Jesu, die Geburtserzählung sowie die Er‐ zählung über Johannes den Täufer Mt 1,1-3,12. 225 Klaiber, Matthäusevangelium II, 293. Die Erzählzeit ist damit um ein Vielfaches kürzer als die erzählte Zeit. In Mt 28,15 unterbricht der Erzähler die Zeit der Erzählung (Vergangenheit) und ver‐ weist auf die „heutige Zeit“, d. h. auf die (gegenwärtige) Zeit des Erzählers. Der Figur des Auferstandenen kommt in Mt 28,1-20 ein relativ großer Anteil an direkter Rede zu (vgl. v. a. Mt 28,18-20), in der die Erzählzeit und die erzählte Zeit deckungsgleich sind. Auffällig ist, dass der Erzähler bzw. die Kameraführung in Mt 28,1-20 nicht mit der Hauptfigur des Auferstandenen mitgeht, wie es der intendierte Rezipient möglicherweise erwarten könnte. Vielmehr geht die Kamera zunächst mit den Frauen mit (V.1 f), zeigt ihre Begegnung mit dem Engel (V.2-7) und geht dann weiter mit ihnen vom Grab fort (V.8). Die Kamera geht immer noch mit den Frauen mit, als plötzlich der Auferstandene ins Bild kommt (V.9-10). Anschlie‐ ßend verweilt die Kamera wieder bei den Frauen und zeigt ihr Hingehen in die Stadt (V.11). An dieser Stelle endet die Kamera-Einstellung auf die Frauen und die Kamera zeigt die folgenden Ereignisse in Jerusalem aus einer Art Außen‐ perspektive (V.11-15). Ab V. 16 geht die Kamera schließlich mit den Jüngern mit und zeigt ihr Gehen nach Galiläa zum auserwählten Berg. Auch hier ist die Kamera bei den Jüngern, als der Auferstandene erneut ins Bild kommt und ihnen begegnet (V.17-18a). Lediglich in den letzten drei Versen (V.18-20) fokussiert die Kamera ganz den Auferstandenen, der seine letzte Rede hält, wodurch die Wichtigkeit seiner Schlussworte betont wird. In Mt 28,1-20 geht die Kamera somit nicht mit der Figur des Auferstandenen mit. Der Auferstandene kommt immer wieder ins Bild und bleibt erst am Ende der Erzählung ganz im Bild. Diese Art der Kameraführung hebt sich stark von der Kameraführung in den vorherigen Kapiteln des Matthäusevangeliums ab. Dort geht der Erzähler bzw. die Kamera die gesamte Zeit über im Großen und Ganzen mit der Figur des irdischen Jesus mit. 224 Weiter ist in Mt 28,1-20 auffällig, dass der Erzähler am Ende des Erzählab‐ schnitts darauf verzichtet, selbst den Schluss des Werkes zu setzten. Er „ver‐ zichtet auf jede eigene Schlussbemerkung“ 225 . Der Erzähler lässt dem Aufer‐ standenen das letzte Wort und tritt somit am Ende bewusst hinter seine 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 125 <?page no="126"?> 226 Vgl. auch Konradt, Matthäus, 459: „Das Mt endet nicht - wie die übrigen drei kanoni‐ schen Evangelien - mit einem Kommentar des Erzählers, sondern mit einem Wort des Auferstandenen, worin sich die Bedeutung spiegelt, die Matthäus insgesamt dem Wort Jesu zuweist.“ 3.1.7 Hauptfigur zurück, wodurch zudem die Stellung der Schlussrede des Auferstan‐ denen hervorgehoben wird. 226 Fazit Im Folgenden sollen nicht alle Einzelergebnisse der sechs verschiedenen Ana‐ lysekategorien noch einmal aufgezählt werden, es geht hier vielmehr lediglich um jene Aspekte, die sich nach der Zusammenschau der Einzelergebnisse als zentral herausgestellt haben. Die vorangehenden Analysekategorien haben gezeigt, dass die Passage Mt 28,18-20 für die Analyse der Figur des Auferstandenen von besonderem Ge‐ wicht ist. Dies wird vor allem durch die Selbstcharakterisierung des Auferstandenen er‐ sichtlich, da Mt 28,18-20 eine Fülle von Informationen und Charakterisierungen der Figur des Auferstandenen beinhaltet. Auch in der Kategorie Figur und Er‐ zähler wird die Stellung von Mt 28,18-20 deutlich, indem die „Kamera“ die Figur des Auferstandenen fokussiert und der Erzähler ihm das letzte Wort im ge‐ samten Werk lässt. Die Stellung von Mt 28,18-20 wird zudem durch die Kate‐ gorie Figur und Handlung unterstrichen, in der die Rede des Auferstandenen in Mt 28,18-20 als ein drei unterschiedliche Sprechakte umfassender und in sich verschachtelter Kommunikationsakt definiert worden ist. Inhaltlich ist zudem deutlich geworden, dass der Gedanke der dem Aufer‐ standenen von Gott verliehenen Macht sowie seine herausragende Stellung und Hoheit von mehreren Perspektiven der durchgeführten Figurenanalyse be‐ leuchtet wird: Vor allem durch die Kategorie der Selbstcharakterisierung und der Aussage des Auferstandenen innerhalb der zentralen Passage Mt 28,18-20 über die ihm gegebene Exousia über Himmel und Erde wird dieser Aspekt deutlich. Dabei ist seine Macht gekoppelt an den Auftrag der weltweiten Völkermission. Der Auf‐ erstandene will, dass alle Völker in seinen Machtbereich hineingeholt werden. Nicht die Auferstehung „an sich“ steht somit im Fokus der Figurendarstellung in Mt 28,1-20, sondern die Figurendarstellung zielt auf die das ganze Werk ab‐ schließende Selbstdarstellung des Auferstandenen (28,18-20), in der dieser auf 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 126 <?page no="127"?> die ihm verliehene Macht verweist und in der er für deren Durchsetzung auf der Erde sorgt. Auch durch die Kategorie Figur und Umwelt wird - v. a. durch das Erd‐ beben-Motiv sowie durch den Berg (als herausragendem Ort) - die der Figur des Auferstandenen zugeschriebene Hoheit und Stellung sichtbar. In der Kategorie Figur und Figuren ist es der Engel, der vom Himmel steigt als himmlische Macht Gottes, die das Geschehen auf der Erde tangiert. Durch die Gegenspieler in Jerusalem wird jedoch deutlich, dass der Aufer‐ standene und seine Macht noch nicht für alle Augen offenkundig sind. Bis zum Ende dieses Äons ist seine Macht keine eindeutige. Die ihm gegebene Macht über Himmel und Erde muss sich erst noch durchsetzen; sie ist eine zugesagte, aber zugleich umstrittene und nicht von allen akzeptierte Macht. Alle Figuren, die dem Auferstandenen positiv zugeordnet werden (Engel, Frauen, Jünger) helfen bzw. sollen helfen, dass es zur Ausbreitung der Macht des Auferstandenen in der Welt kommt. Die Figuren, die dem Auferstandenen negativ zugeordnet werden (Wachen, jüdische Autoritäten) sprechen ihm dagegen alle Macht und Autorität ab und leugnen sogar seine Existenz. Ihre Verbreitung der Leugnung des Auferstandenen und damit der Verringerung seines Machtbereichs verläuft also entgegengesetzt zu der Ausbreitung der Macht des Auferstandenen durch die universale Völkermission. Der universale Missionsauftrag an die Jünger zeigt zudem, wie sich die Macht des Auferstandenen durchsetzen soll: Dadurch, dass sich Menschen an Jesus grundlegend orientieren (seine Jünger werden), durch die Taufe, durch seine Lehre und dadurch, dass der Auferstandene bei ihnen ist. Dieses Wie der Durch‐ setzung charakterisiert zugleich die von Gott verliehene Macht und damit den Auferstandenen selbst. Darüber hinaus hat sich durch die sechs vorangehenden Analysekategorien gezeigt, dass der Auferstandene in Mt 28,1-20 in Kontinuität zum irdischen Jesus gezeichnet wird und dadurch die Rückbindung an ihn betont wird. Dieser Aspekt wird v. a. in der Kategorie der Fremdcharakterisierung deutlich, indem der Engel den Auferstandenen als „den Gekreuzigten“ bezeichnet. Der Aufer‐ standene ist zudem kein Gespenst und keine völlig neue Figur, sondern er besitzt einen Körper, der wiedererkannt und berührt werden kann. Auch der in der Kategorie der Selbstcharakterisierung und in der Kategorie Figur und Umwelt untersuchte Ort Galiläa als Offenbarungsstätte und Ausgang der Weltmission stellt den engen Bezug zum Wirken des irdischen Jesus heraus. Aus diesen beiden zentralen Aspekten - der zugeschriebenen Macht des Auf‐ erstandenen und der Rückbindung des Auferstandenen an den Irdischen - er‐ geben sich im Anschluss die folgenden aufeinander bezogenen Rückfragen: 3.1 Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1 - 20 127 <?page no="128"?> 227 Vgl. Bovon, Lukas IV, 525: „Diese Beschreibung schließt jegliche Zweideutigkeit aus: Diese Wesen gehören zur Welt Gottes“. 3.2 3.2.1 Inwieweit besitzt bereits der Irdische eine (Voll-)macht? Unterscheidet sich die Exousia des Auferstandenen über Himmel und Erde von der Exousia des Irdischen? Ist die universale Mission des Auferstandenen als Ausbreitung des Herrschaftsbereichs Gottes auch schon beim Irdischen angelegt und praktiziert? Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird diesen Fragen jeweils im Einzelnen ausführlich nachgegangen werden. Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 Analog zur Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäusevangelium wird nun die Figurendarstellung des Auferstandenen im Lukasevangelium unter‐ sucht. Auch hier dienen die sechs verschiedenen Analysekriterien als Leitfaden für das Vorgehen. Fremdcharakterisierung des Auferstandenen Die Analyse der Fremdcharakterisierung des Auferstandenen im Erzählab‐ schnitt Lk 24,1-53 fokussiert die folgenden Aussagen und Reaktionen anderer Figuren im Hinblick auf die Figur des Auferstandenen: 1. Die Aussagen der zwei Engel (V.5-7), 2. die Reaktionen und Aussagen der zwei Emmaus-Jünger (V.16.18-24) sowie 3. die Reaktionen und die Aussagen der elf Jünger in Bezug auf den Auferstandenen (V.11.34.37.41.52). 1. Im Erzählabschnitt Lk 24,1-53 findet sich die erste Fremdcharakterisierung der Figur des Auferstandenen in den Worten der beiden Engel in V.5-7. Jedoch werden sie nicht explizit als Engel bezeichnet, sondern als ἄνδρες δύο ἐπέστησαν αὐταῖς ἐν ἐσθῆτι ἀστραπτούσῃ (V.4). Durch ihre Kleidung werden sie aber für den intendierten Rezipienten als Engel kenntlich und in V.23 auch als solche bezeichnet. 227 Der intendierte Rezipient kennt die Engel-Figuren vor allem vom Anfang des Luka‐ sevangeliums. Hier erscheint der als ἄγγελος κυρίου bezeichnete Engel dem Zacharias (Lk 1,11-20) und kündet ihm die Geburt seines Sohnes Johannes und dessen Bestim‐ mung an. In Lk 1,28-38 erscheint ein Engel Maria, um auch ihr die Geburt und die 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 128 <?page no="129"?> 228 Vgl. hierzu Böcher, Art. Engel, 597, vgl. auch Omerzu, Art. Engel, 292. 229 Vgl. Lk 2,9 f; Lk 2,21; Lk 4,10 f; Lk 7,24 f; Lk 9,26; Lk 12,8 f; Lk 15,10; Lk 16,22; Lk 20,36; Lk 22,43. 230 „Die Frauen gehen zum Grab, wenn es noch dunkel ist. Sie haben die Salben zum Ein‐ balsamieren mit. Es ist der letzte Gang zur Ehrung eines Toten“, Klein, Lukasevange‐ lium, 721. 231 Die Fragepartikel τί kann an dieser Stelle m. E. sowohl mit „was“ als auch mit „warum“ übersetzt werden, wenn man davon ausgeht, dass bereits klar ist, wen die Frauen suchen (nämlich τὸν ζῶντα vgl. V.5). Bovon dagegen lehnt eine Übersetzung mit „was“ ab, da seines Erachtens im Fall der Frage nach dem Objekt des Suchens an dieser Stelle ein τίνα (wen) angebrachter gewesen wäre. Er versteht die Fragepartikel „was“ somit im Sinne von „wen“, vgl. Bovon, Lukas IV, 526. Jedoch nennt der Text bereits das Objekt des Suchens (τὸν ζῶντα), sodass es bei dem Fragepartikel τί nicht mehr um die Frage gehen kann, wen sie suchen. Das „was“ sollte daher m. E. nicht im Sinne von „wen“, sondern im Sinne von „warum“ verstanden werden. Es kann dann sowohl mit „was sucht ihr den Lebenden“ als auch mit „warum sucht ihr den Lebenden“ übersetzt werden, wobei das „warum“ noch verstärkend ist. Bestimmung ihres Sohnes Jesus anzukündigen. Die Engel-Figur richtet den Willen Gottes und seine Weisungen aus. 228 Da es sich bei der Figurengruppe der Engel somit um göttliche Wesen handelt und da im Laufe der Erzählung die Vorankündigungen des Engels jeweils Bestätigung finden, kommt ihnen für den intendierten Rezipienten eine hohe Glaubwürdigkeit zu, sodass er auch den Aussagen der zwei Engel über die Figur des Auferstandenen trauen kann. Auch im weiteren Verlauf des Lukasevange‐ liums treten immer wieder Engel-Figuren auf. 229 Dabei ist es im Lukasevangelium nicht immer dieselbe Engel-Figur, die erscheint. Es treten an einigen Stellen mehrere Engelfiguren zusammen auf, an anderen Stellen wiederum nur ein Engel. Einmal wird der Engel als „Gabriel“ vorgestellt (Lk 1,19), an anderen Stellen als ἄγγελος κυρίου (u. a. Lk 1,11; Lk 2,9), mal wird die Engel-Figur auch nur ὁ ἄγγελος genannt (u. a. Lk 1,30). Ein andermal wird die Figurengruppe der Engel als „heilige Engel“ bezeichnet (Lk 9,26), mal als „Engel Gottes“ (Lk 12,8-9; Lk 15,10) und in Lk 24, 5 sind es „zwei Männer“. Dennoch gehören sie alle zur Figurengruppe der Engel und damit zum Be‐ reich Gottes. Die beiden Engel fragen die Frauen, die zum Grab Jesu gekommen sind, um den Leichnam Jesu zu salben 230 , warum sie den Lebenden bei den Toten suchen (τί ζητεῖτε τὸν ζῶντα μετὰ τῶν νεκρῶν; Lk 24,5). 231 Der Auferstandene wird von ihnen als „der Lebende“ bezeichnet. Die Bezeichnung „der Lebende“ ist dem intendierten Rezipienten bereits aus seinem Lesegedächtnis der vorhergehenden Kapitel bekannt. In Lk 20,38 wird von der Figur des irdischen Jesus ausgesagt, dass Gott nicht ein Gott der Toten, sondern der Leb‐ enden ist. Unmittelbar vor dieser Aussage fragen die Sadduzäer ihn nach der Aufer‐ stehung, woraufhin Jesus antwortet, dass diejenigen, die für würdig empfunden werden, die Auferstehung von den Toten zu erlangen, den Engeln gleich sind, nicht 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 129 <?page no="130"?> 232 Vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 971. 233 Ob die Bezeichnung „der Lebende“ darüber hinaus sogar als Titel verstanden werden kann, wie Bovon es annimmt, muss m. E. fraglich bleiben, da Jesus im LkEv an keiner Stelle mehr explizit als „der Lebende“ bezeichnet wird. In Lk 24,23 wird von ihm aus‐ gesagt, dass er lebt (οἵ λέγουσιν αὐτὸν ζῆν), wobei die Bezeichnung „der Lebende“ an dieser Stelle vermieden wird, vgl. Bovon, Lukas IV, 526. 234 „The angels stress the 'aliveness' of Jesus in contrast with the sphere of the dead in which the women seek him“, Nolland, Luke III, 1193. 235 Glöckner, Verkündigung des Heils, 207. 236 Vgl. Wolter, Lukas, 772: „ἠγέρθη ist ein Passivum divinum, das Gottes Handeln um‐ schreibt.“ mehr sterben können und Kinder Gottes sind, da sie Kinder der Auferstehung sind (Lk 20,35-36). Wenn nun die Engel den Auferstandenen als τὸν ζῶντα bezeichnen, der nicht bei „den Toten“ gesucht werden soll, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott sich an ihm als Gott der Lebenden gezeigt hat. 232 Die Bezeichnung τὸν ζῶντα ist dabei exklusiv auf den Auferstandenen bezogen. Die Engel nennen ihn nicht „Jesus, der lebt“, sondern „den Lebenden“. Das Partizip ersetzt somit an dieser Stelle den Namen Jesu. 233 Der Leichnam Jesu kann von den Frauen nicht mehr gefunden werden (vgl. Lk 24,3.23). 234 Es wird insgesamt deutlich, dass „das neue Leben des Auferstandenen nicht als »natürliche Wiederbelebung« dessen zu verstehen ist, der ins Grab gelegt wurde und dessen irdisches Leben damit einfach verlängert würde.“ 235 Insgesamt wird durch diese exklusiv auf den Auferstandenen bezogene Be‐ zeichnung deutlich, dass er sich nicht länger auf der Seite des Todes befindet, sondern auf der Seite Gottes, der ein Gott der Lebenden ist (Lk 20,38). Die zweite Aussage der Engel über die Figur des Auferstandenen in Lk 24,6 knüpft an die erste Aussage an: „Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt worden“ (οὐκ ἔστιν ὧδε, ἀλλ΄ ἠγέρθη). Dabei ist die Form ἠγέρθη ein Passivum divinum, das anzeigt, dass nicht der Auferstandene sich selbst (aktiv) auferweckt hat, sondern dass er von Gott auferweckt worden ist und dass damit Gott letzt‐ lich Urheber der Auferstehung Jesu ist. 236 Zugleich fordern die Engel die Frauen dazu auf, sich zu erinnern, was der irdische Jesus gesagt hat, als er noch in Galiläa war (V.6). Die Frauen (und gleichzeitig der intendierte Rezipient) werden auf die Voraussagen des Irdischen in Galiläa über seine Auferstehung hingewiesen. Diese Voraussagen der Auferstehung Jesu, auf die der Text anspielt, finden sich in Lk 9,22 und Lk 18,32-33. An beiden Stellen richtet sich Jesus jedoch explizit nur an seine (zwölf) Jünger, wodurch ein narrativer Widerspruch entsteht, wenn sich die 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 130 <?page no="131"?> 237 Rigato versteht dagegen die Frauen als Teil der Jüngergruppe und somit auch als Emp‐ fänger der Voraussagen Jesu in Lk 9,22 und Lk 18,32-33, vgl. Rigato, Remember, 278: „The two messengers in Lk. 24 bid the women remember the prophecy of death and resurrection that Jesus had uttered to them in Galilee. The literary correspondences remind us of the predictions made to the Twelve in particular and to the disciples ge‐ nerally (Lk. 18.31-34; 9.22). In Luke’s view, then, the women belonged to both groups.” Dass jedoch der Text an beiden Stellen die Frauen zur Jüngergruppe hinzuzählt, ist m. E. eher unwahrscheinlich. In Lk 18,31 ist explizit nur von „den Zwölfen“ die Rede und auch in Lk 9,18-22 ist wohl an die zwölf (männlichen) Jünger gedacht. 238 Vgl. Marshall, Luke, 886: „The women are assumed to have been with the disciples when Jesus made his prophecy, or to have heard from the disciples.” 239 Vgl. hierzu Bovon, Lukas IV, 528. 240 Ernst, Lukas, 652. Frauen an Jesu Worte erinnern sollen, sie diese aber nicht gehört haben. 237 Wahr‐ scheinlich wird in Lk 24,6 jedoch vom Erzähler vorausgesetzt, dass die Frauen dennoch Kenntnis über diese Ankündigungen besaßen, möglicherweise durch das Erzählen der Jünger. 238 Ein weiterer narrativer Widerspruch besteht in der Verortung dieser Worte Jesu in Galiläa (V.6). Die erste Ankündigung in Lk 9,21-22 ist vom irdischen Jesus in Galiläa ausgesprochen worden, die zweite Ankündigung in Lk 18,32-33 jedoch bereits auf dem Weg nach Jerusalem. 239 Wahrscheinlich soll mit der Erwähnung von Galiläa jedoch der Bezug des Auferstandenen zum Irdischen hergestellt werden, indem Galiläa als Ort des irdischen Wirkens Jesu genannt wird. Durch die Rückbindung des Auferstandenen an die Ankündigungen seiner ei‐ genen Auferstehung und an den Ort Galiläa wird für den intendierten Rezip‐ ienten deutlich, dass „der Auferstandene […] kein anderer [ist] als jener Jesus, der damals zu den Zwölfen […] gesprochen hat.“ 240 Es wird so die personale Identität mit dem Irdischen hervorgehoben und bestärkt. In Lk 24,7 zitieren die Engel die Ankündigung des Irdischen und leiten sie mit dem Partizip λέγων ein. Was nun folgt, ist jedoch kein richtiges Zitat, sondern eine wortgetreue, aber verkürzte Wiedergabe der beiden Ankündigungen aus Lk 9,22 und Lk 18,32-33. Dabei orientieren sich die Worte der Engel stärker an der kurzen Fassung in Lk 9,22, verwenden jedoch anstatt der Formulierung „der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tag auferstehen“ (Lk 9,22) die knappe Aussage „der Menschensohn muss ausgelie‐ fert werden in die Hände der sündhaften Menschen und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen“ (Lk 24,7). Der intendierte Rezipient kennt die Bezeichnung „Menschensohn“ bereits aus zahl‐ reichen Stellen im Lukasevangelium (vgl. Lk 5,24; 6,5; 6,22; 7,34; 9,22; 9,26; 9,58; 11,30; 12,10; 17,22; 17,24; 17,30; 18,8; 18,31; 19,10; 21,36; 22,22; 22,48; 22,69). Möglicherweise ist dem intendierten Rezipienten dieser Begriff zudem aus dem Alten Testament aus 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 131 <?page no="132"?> 241 Zum Begriff des Menschensohns und seinem Bezug zu Dan 7,13 vgl. Müller, Art. Men‐ schensohn im Neuen Testament, 1098-1100; vgl. auch Hahn, Art. ὑιός, 5. „Menschen‐ sohn“, 927-935. 242 Die Verbform τελεσθήσεται in Lk 18,31 ist eine Futur-Passiv-Form des Verbs τελέω. In seiner Grundbedeutung steht es für „etwas vollenden“, „etwas erfüllen“ und besitzt somit einen Ziel-Charakter, vgl. Hübner, Art. τελέω, 830-832. 243 Vgl. hierzu auch Klein, Lukasstudien, 124-126. 244 Kurth, Propheten, 63. Ähnlich auch Klein, Lukasstudien, 124: „Was sich an Jesus in seinem Tod und seiner Auferweckung ereignet, sieht er in völliger Übereinstimmung mit den Aussagen der Propheten.“ 245 Hahn, Theologie I, 564. Vgl. auch Eckey, Lukasevangelium II, 971 „Wie damals wird auch jetzt gegenwärtig gehalten, daß Jesu Leiden und Sterben nach Gottes Ratschluß unumgänglich war (δεῖ).“ dem Buch Daniel 7,13 bekannt. Auffällig ist, dass an allen Stellen im Lukasevangelium die Bezeichnung ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου als Selbstbezeichnung des irdischen Jesus be‐ gegnet. Die Bezeichnung ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου hat ihren Ursprung im Alten Testament und bezieht sich auf Dan 7,13. 241 In der Voraussage in Lk 18,32-33, auf die die Worte der Engel in Lk 24,7 Bezug nehmen, leitet der Irdische die Ankündigung seines Todes und seiner Auferste‐ hung mit den Worten „und es wird vollendet 242 werden alles, was geschrieben steht, durch die Propheten von dem Menschensohn“ (Lk 18,31) ein. Sein Tod und seine Auferstehung stellen damit die Erfüllung und Vollendung dessen dar, was im Alten Testament (von den Propheten) über ihn als den Menschensohn (Lk 18,31) gesagt wird. 243 „Die summarische Erwähnung der Propheten zeigt, daß Lukas nicht auf eine bestimmte Schriftstelle anspielt. Ihm geht es darum, daß der göttliche Plan hinsichtlich des Menschensohnes schon vorausgesagt worden ist, also durch die Schriften bestätigt wird.“ 244 Der Aspekt der Erfüllung wird in Lk 24,7 zusätzlich durch das Wort „muss“ (δεῖ) in der Formulierung „der Men‐ schensohn muss ausgeliefert werden“ (vgl. auch Lk 9,22) hervorgehoben und betont die „heilsgeschichtliche Notwendigkeit“ 245 . 2. Die Fremdcharakterisierung der Figur des Auferstandenen durch die beiden Emmaus-Jünger erstreckt sich über mehrere Verse hinweg und setzt sich sowohl aus Äußerungen über den Auferstandenen, als auch aus nonverbalen Reakti‐ onen auf ihn zusammen. In Lk 24,16 besteht die erste Reaktion der beiden Jünger, die auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus sind, auf den Auferstandenen darin, dass sie ihn nicht 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 132 <?page no="133"?> 246 Das Verb κρατέω bedeutet in seiner Grundform „ergreifen“, „festnehmen“, „festhalten“. Durch die passive Form ἐκρατοῦντο in Lk 24,16 wird deutlich, dass die Augen der Jünger (von außen) zurückgehalten werden, wodurch ein Erkennen der Figur des Auferstan‐ denen ihnen nicht möglich ist, vgl. Von der Osten-Sacken, Art. κρατέω, 776-778; vgl. auch Eckey, Lukasevangelium II, 976. 247 Martin, Neu-Inszenierung der Emmaus-Geschichte, 224. 248 Vgl. auch Klein, Lukasevangelium, 729; Marshall, Luke, 893: „An action by God […] rather than Satan is no doubt meant“. Dagegen ist Eckey der Ansicht, dass nicht Gott, sondern vielmehr eine teuflische Macht die Augen der Emmaus-Jünger zurückhält, vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 976. Bovon führt das Nicht-Erkennen dagegen auf die „geistige Armut der Pilger“ zurück, Bovon, Lukas IV, 558. 249 Eckey, Lukasevangelium II, 976. 250 „Sie erkennen ihn nicht, aber nicht, weil er anders aussieht, sondern weil sie ihn anders erkennen“, Klein, Lukasevangelium, 729; vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 777. 251 Despotis, Emmaus, 173. erkennen, da ihre Augen gehalten werden. 246 „Dieses Faktum ist unabdingbar für die doppelte dramatische Entwicklung: die Öffnung der Schriften […] und die Öffnung der Augen“ 247 . Sowohl aus dem erzählerischen Kontext, als auch aufgrund von Lk 24,6 (Gott steht auch hier hinter der Passivform, ohne dass er namentlich genannt wird) und Lk 24,31 (hier ist das Augen-Öffnen auch auf Gott zu beziehen) soll der intendierte Rezipient in der Passiv-Form ἐκρατοῦντο Gott als den Akteur sehen. 248 Aus der Reaktion der Emmaus-Jünger auf den Auferstandenen lässt sich je‐ doch nichts über das Aussehen seiner Figur schließen, da ihre Augen gehalten werden und sie damit letztlich „vom Erkennen abgehalten“ 249 werden. Dass der Auferstandene über ein anderes Aussehen als der Irdische verfügt, kann daher an dieser Stelle nicht ausgesagt werden. 250 Durch das Gehalten-Werden der Augen durch Gott wird deutlich, dass die generelle Fähigkeit, den Auferstandenen zu erkennen, nicht in der Hand der Erscheinungsempfänger liegt. Es macht an dieser Stelle zudem den Anschein, dass sich der Auferstandene bewusst inkognito unter die beiden Emmaus-Jünger mischt. Denn hierzu trägt sein gesamtes Verhalten ihnen gegenüber bei. Der Auferstandene rechnet nicht damit, von ihnen erkannt zu werden, sondern setzt - im Gegenteil - ihr Nicht-Erkennen bei all seinen Handlungen sogar vo‐ raus. Er weiß also davon, dass Gott die Emmaus-Jünger davon abhält, ihn zu erkennen. „The revelation of the resurrected Jesus of Nazareth is presented through the method of tragic irony.” 251 Der Auferstandene ist damit in der Ostererzählung des Lukasevangeliums keine selbstverständliche Figur, die von allen offen und direkt erkannt und ak‐ zeptiert wird. Vielmehr ist er unerkannt und dabei gleichzeitig mitten unter den Menschen, wodurch er auf den intendierten Rezipienten geheimnisvoll und un‐ 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 133 <?page no="134"?> 252 Vgl. Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 422 „Dies ist ein wichtiges erzählerisches Mo‐ ment. Lukas baut so eine Spannung auf, die im Verlauf der Erzählung gesteigert wird, bis sie gegen Ende gelöst werden kann.“ Vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 778. 253 „Eindeutige und vor allen Dingen auch mehrfache Ironieopfer sind dabei die beiden Jünger: Im Unterschied zu ihnen wissen die Leser von Anfang an, wer es ist, der ihnen - den Jüngern - da begegnet (24,15), während die beiden Jünger erst ganz am Ende er‐ kennen, wer ihr Mitwanderer war (nämlich in 24,31). Der allwissende Leser kann sich nahezu die gesamte Erzählzeit über an der Unkenntnis der Emmausjünger erfreuen oder darüber den Kopf schütteln“, Wolter, Wir aber hatten gehofft, 26. Vgl. hierzu auch Cri‐ mella, Transformation of Characters, 173-185. 254 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 779; 255 Wolter, Lukasevangelium, 779. 256 Vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 981. Im Gegensatz zu Lk 24,16, wo Eckey das Ge‐ halten-Werden der Augen einer teuflischen Macht zuschreibt, nennt er nun in Lk 24,31 Gott als den Urheber des Öffnens der Augen. durchschaubar wirkt. Durch dieses Nicht-Erkennen des Auferstandenen ent‐ steht für den intendierten Rezipienten zugleich auch eine gewisse Spannung, was den weiteren Erzählverlauf anbelangt. 252 Der Rezipient weiß ab dieser Stelle mehr als die Emmaus-Jünger und ordnet alles Sprechen und Handeln der scheinbar fremden Person in den folgenden Versen direkt dem Auferstandenen zu. 253 Die nächste Fremdcharakterisierung der Figur des Auferstandenen vollzieht sich in Lk 24,18 in einer direkten Äußerung der Jüngerfigur Kleopas über den Auferstandenen. Entscheidend für die Bewertung dieser Äußerung ist jedoch die erzählerische Situation, dass die beiden Emmaus-Jünger den Auferstandenen noch immer nicht erkennen (vgl. Lk 24,16). Kleopas fragt ihn, ob er der einzige Fremde in Jerusalem sei, der nicht weiß, was dort in diesen Tagen geschehen ist. Zudem schwingt dabei im Unterton das Unverständnis des Fragenden mit, wie überhaupt irgendjemand nichts von diesen aufsehenerregenden Ereignissen in Jerusalem mitbekommen haben kann. 254 Die Figur des Auferstandenen wird damit als Fremder bezeichnet und ihm wird unterstellt, er wisse nichts von dem Ereignis, in dessen Fokus er letztlich selbst stand. Es entsteht so für den inten‐ dierten Rezipienten an dieser Stelle eine besonders starke „narrative Ironie“ 255 . Eine weitere, für die Figurendarstellung des Auferstandenen zentrale, Reak‐ tion der Emmaus-Jünger auf den Auferstandenen besteht in Lk 24,31 darin, dass sie ihn schließlich als den Auferstandenen erkennen. Das Gehalten-Werden ihrer Augen (Lk 24,16) findet ein Ende, indem ihnen die Augen (wieder) aufgetan werden (αὐτῶν δὲ διηνοίχθησαν οἱ ὀφθαλμοὶ V.31). Auch diesmal kann der in‐ tendierte Rezipient in der Passiv-Form διηνοίχθησαν (analog zu Lk 24,16 und zu Lk 24,6) Gott als den Urheber vermuten. 256 Die Emmaus-Jünger erkennen ihn 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 134 <?page no="135"?> 257 Wolter, Lukasevangelium, 785. 258 Vgl. Lk 24,30 „und es geschah, als er sich mit ihnen zu Tisch setzte, nahm er das Brot, sagte Dank (εὐλόγησεν), brach es und gab es ihnen“; Lk 22,19a „Und er nahm das Brot, dankte (εὐχαριστήσας), brach es und gab es ihnen“. 259 Wolter, Lukasevangelium, 698. 260 Bovon, Lukas IV, 563. 261 Weitere ähnliche Speiseszenen finden sich zudem noch in Lk 7,36-50; 11-37-52 und Lk 14,1-24. damit weder an seinem Aussehen noch an seinem Sprechen, sondern an seinem Handeln. In Lk 24,35 teilen die Emmaus-Jünger den elf Jüngern mit, sie hätten den Auferstandenen am Brotbrechen erkannt. Dadurch wird insgesamt deutlich, dass „Brotbrechen und Erkennen nicht nur in zeitlicher Koinzidenz, sondern auch in sachlichem Zusammenhang stehen“ 257 . Der intendierte Rezipient kennt das gemeinschaftliche Mahl mit dem irdischen Jesus bereits aus Lk 22,14-20, wo eine fast wortgleiche Formulierung verwendet wird. 258 Es ist das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern vor seiner Verhaftung und gleichzeitig ihre „letzte gemeinsame Veranstaltung“ 259 . Es „handelt sich um ein besonderes, nicht ein gewöhnliches Mahl.“ 260 Eine weitere ähnliche Mahlgemeinschaft kennt der intendierte Rezipient auch aus Lk 9,16. 261 Hier nimmt Jesus fünf Brote und zwei Fische, sieht zum Himmel hoch, spricht Dank (εὐλόγησεν), bricht die Brote und gibt sie den Jüngern, um damit 5000 Menschen zu sättigen (vgl. Lk 9,17 „und sie aßen und wurden alle satt“). Dabei bleiben sogar noch zwölf Körbe mit Brot übrig (Lk 9,17b). Auch an dieser Stelle geht es zwar einerseits um die Sättigung und den Mahlcharakter, andererseits aber auch um die Gemeinschaft, den Dank und Lobpreis Gottes. Die gemeinsame Mahlhandlung ist daher eine gemeinschaftsstiftende und die Menschen untereinander (auch mit Gott) verbindende Handlung, die charakte‐ ristisch für den irdischen Jesus ist. Wenn nun der erzählerische Höhepunkt der Begegnung des Auferstandenen mit den Emmaus-Jüngern in der gemeinschaft‐ lichen Mahlhandlung und im dadurch bedingten Erkennen des Auferstandenen liegt, dann wird so eine Brücke vom irdischen zum auferstandenen Jesus ge‐ schlagen. Die personale Kontinuität des Auferstandenen zum Irdischen wird 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 135 <?page no="136"?> 262 Dagegen vertritt Lütterfelds die Ansicht, dass es in der Emmaus-Perikope nicht er‐ kennbar wird, ob es sich tatsächlich um den gekreuzigten und nun auferstandenen Jesus handelt, vgl. Lütterfelds, Begleiter der Emmaus-Jünger, 243: „Von einer personalen Identität des Emmaus-Begleiters mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth ist in der Tat im Text der Heiligen Schrift keine Rede“. Jedoch spricht m. E. (neben der Mahlge‐ meinschaft, die bereits den Irdischen kennzeichnet) v. a. das Wiedererkennen (γινώσκω) der Emmaus-Jünger am Brechen des Brotes, von dem sie den anderen Jün‐ gern in Lk 24,35 berichten, eindeutig dafür, dass sie ihn als den gekreuzigten Jesus er‐ kennen. Denn man kann jemanden nur (wieder-)erkennen, den man vorher bereits gekannt hat. Durch das Erkennen der Emmaus-Jünger wird so die personale Identität des Auferstandenen mit dem Irdischen deutlich. 263 „In der Emmaus-Erzählung entsteht dieser […] Schritt des Verstehens an bewusst aus‐ gezeichneten Objekten: Einerseits in der Textauslegung von »Mose und allen Pro‐ pheten« auf Christus hin (VV. 25-27), und andererseits in der Präsenz eben dieser Auslegung im lebendigen Zeichenhandel des Brotbrechens“, Deuser, Geistesgegenwart, 81. Vgl. auch Johnson, Luke, 405: „[F]rom now on, Jesus’ Presence […] will be at such fellowship meals where they break bread as Jesus had taught them“. 264 Die Formulierung τὰς γραφάς in Lk 24,32 bezieht sich dabei - wie in Lk 24,27 - auf die „ganze Schrift in ihrer Doppelstruktur des Gesetzes und der Propheten“, Bovon, Lukas IV, 561. 265 Vgl. Bauer / Aland, Art. διανοίγω, 375. damit für den intendierten Rezipienten deutlich hervorgehoben. 262 Das bei der Mahlhandlung einsetzende Erkennen der beiden Jünger zeigt dem intendierten Rezipienten zudem das Gewicht dieser Mahlhandlung. Das Erkennen des Auf‐ erstandenen ist somit durch ein gemeinschaftliches, für den irdischen Jesus markantes und typisches Handeln möglich. 263 Dieses Erkennen liegt auch in Gottes Absicht, der dazu die Augen „öffnet“. Anschließend äußern sich die beiden Emmaus-Jünger über die nun als Auf‐ erstandener erkannte Figur des ehemals fremden Weggefährten (Lk 24,32). Sie sprechen miteinander über die Reaktionen, die das Sprechen (λαλέω) und das Schriftauslegen (διανοίγω) des Auferstandenen (inkognito) bei ihnen ausgelöst haben. Der Hinweis auf das Auslegen der Schriften 264 in Lk 24,32 bezieht sich auf Lk 24,27 zurück. Auch in Lk 24,45 wird das Motiv des Schriftauslegens erneut aufgegriffen. Das Wort διανοίγω bedeutet in seiner Grundform „öffnen“, „auslegen“. 265 Im Lukas‐ evangelium begegnet es nur noch in Lk 2,23 im Rahmen eines alttestamentlichen Zi‐ tats von Exodus 13,2.12.15 sowie in Lk 24,31 und in Lk 24,45. Unmittelbar vor Lk 24,32 wird in Lk 24,31 das Wort διανοίγω verwendet, um das Öffnen der Augen der Em‐ maus-Jünger zu beschreiben. Die Augen der beiden Jünger, die ab Lk 24,16 gehalten wurden, werden nun geöffnet, sodass sie den Auferstandenen erkennen (Lk 24,31). Wenn also direkt im Anschluss in Lk 24,32 vom Auferstandenen ausgesagt wird, dass er den Emmaus-Jüngern die Schriften öffnete, so scheint auch der Sinn der Schriften 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 136 <?page no="137"?> 266 Klein, Lukasevangelium, 733. 267 Vgl. Kremer, Osterevangelien, 124: „Der Inhalt des Gesprächs wird in Form einer rhe‐ torischen Frage wiedergegeben. Diese zeugt von ihrer Betroffenheit während des Weg‐ gesprächs und besonders bei der Schriftauslegung Jesu - sie wird bewusst als »auf‐ schließen« bezeichnet“. 268 Ernst, Lukas, 664. 269 Dagegen versteht Eckey an dieser Stelle das brennende Herz als eine Wirkung des Heiligen Geistes, sodass er von einer „geisterfüllte[n] und inspirierende[n] Schriftaus‐ legung“ des Auferstandenen spricht, Eckey, Lukasevangelium II, 982. Jedoch macht Wolter m. E. zu Recht deutlich, dass der Begriff des brennenden Herzens „nicht den Heiligen Geist ins Spiel [bringt]. Es handelt sich vielmehr um eine alte Metapher für das Ergriffensein von Erregung“, Wolter, Lukasevangelium, 785. Vgl. auch Kremer, Os‐ terevangelien, 124: „ihr Herz brannte wie Feuer: es war - wie wir sagen - »entflammt« und durch seine Nähe bewegt“. So auch Crimella, Transformation of Characters, 180- 181. 270 Klein, Lukasevangelium, 731. für sie bisher verschlossen gewesen zu sein. „Die Öffnung der Augen entspricht dem Öffnen, dem Erschließen der Schrift.“ 266 Der Auferstandene öffnete ihnen die Schriften und legt ihren Sinn und ihre Bedeutung frei. Damit erscheint er für den intendierten Rezipienten gewisser‐ maßen als der Schlüssel zum Verständnis der Schriften des Alten Testaments. 267 Der Auferstandene übernimmt so die Rolle des Hermeneuten, der den Jüngern den in den Schriften angelegten Heilsplan offenlegt. Das Öffnen der Schriften ist somit ein wichtiger Schritt zum Öffnen der Augen und damit zur Erkenntnis des Auferstandenen. Die Reaktion auf das Sprechen und Schriftauslegen des Auferstandenen be‐ schreiben die Emmaus-Jünger als ein brennendes Herz (Lk 24,32 οὐχὶ ἡ καρδία ἡμῶν καιομένη ἦν [ἐν ἡμῖν]). Damit stellen sie heraus, „daß der Funke bereits während des Gesprächs mit Jesus gezündet hatte. Ihr Herz war brennend ge‐ worden“ 268 . Es ergibt sich ein erzählerischer Gegensatz zu Lk 24,25, wo der Auf‐ erstandene den Emmaus-Jüngern ein träges Herz (βραδεῖς τῇ καρδίᾳ τοῦ) un‐ terstellt. Durch die Bezeichnung des Herzens als „brennend“ wird die Begeisterung und Ergriffenheit der Jünger durch die Worte des Auferstandenen deutlich. 269 Der Auferstandene besitzt somit die Fähigkeit, die Herzen der Men‐ schen zu entflammen, sie zu begeistern und sie damit in ihrem Innersten zu berühren, denn das „Herz ist Zentrum auch des Denkens und Fühlens, des Be‐ greifens.“ 270 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 137 <?page no="138"?> 271 Was die Botschaft inhaltlich genau umfasst, bleibt hier offen. Die Botschaft selbst wird nur als ταῦτα bezeichnet (Lk 24,10). Doch diese Botschaft „schließt die Feststellung mit ein, dass Jesus lebt“, Bovon, Lukas IV, 530. 272 „Hiermit sollen nicht die Frauen disqualifiziert werden“, Schneider, Lukas II, 494; vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 773: „Auf keinen Fall will Lukas die Reaktion der Apostel darauf zurückführen, dass sie dem Bericht der Frauen keinen Glauben schenkten, weil sie Frauen generell für unglaubwürdig hielten.“ Dagegen Ernst, Lukas, 654: „Weil eine Botschaft, die sich lediglich auf das Zeugnis von Frauen berufen kann, für die antike Gesellschaft ohne besonderes Gewicht ist […] konnten die Apostel aus der Sicht des Evangelisten gar nicht von Anfang an zustimmen. […] Ihr Zweifel darf darum keinesfalls als Unglaube gedeutet werden“. 3. Die Fremdcharakterisierung der Figur des Auferstandenen durch die elf Jünger ist vorrangig geprägt durch verschiedene Reaktionen auf ihn. Lediglich an einer Stelle äußern sie sich konkret zu seiner Figur (Lk 24,34). In Lk 24,11 reagieren die elf Jünger mit Unglauben auf die Kunde der Frauen vom Auferstandenen (Lk 24,10). Dabei bezieht sich ihr Unglaube sehr wahr‐ scheinlich auf den Inhalt der Botschaft 271 und nicht auf die Frauen selbst als Überbringerinnen dieser Botschaft. 272 Die Botschaft der Frauen von den Ge‐ schehnissen am Grab und den Worten der Engel über den Auferstandenen sind für sie wie Geschwätz (ὡσεὶ λῆρος Lk 24,11). Die Jünger können es einfach nicht glauben, dass der gekreuzigte Jesus leben und sein Grab leer sein soll. Obwohl die Jünger eigentlich mit der Auferstehung Jesu rechnen sollten, die der Irdische ihnen in Lk 9,22 und Lk 18,32-33 mehrmals angekündigt hat, zweifeln sie an ihm. Dieser Zweifel und die ablehnende Haltung der Jünger bezüglich der Exis‐ tenz des Auferstandenen bringen einerseits zum Ausdruck, dass die Figur des Auferstandenen umstritten, angezweifelt und damit längst keine Selbstver‐ ständlichkeit ist. Andererseits verdeutlicht die Reaktion der Jünger, dass der Osterglaube letztlich nicht durch Wissen und durch Fakten entstehen kann. In Lk 24,34 äußern sich die elf Jünger gegenüber den aus Emmaus zurückge‐ kehrten beiden Jüngern bezüglich des Auferstandenen in einem kurzen, knappen Satz: ὄντως ἠγέρθη ὁ κύριος καὶ ὤφθη Σίμωνι. Es handelt sich dabei um zwei Aussagen, die nebeneinander stehen und durch ein καὶ miteinander verbunden werden. Die Jünger sagen nicht „der Herr ist wahrhaftig aufer‐ standen, da er Simon erschienen ist“, sondern sie stellen zunächst fest, dass der Herr wahrhaftig auferstanden ist, und anschließend, dass er Simon erschienen ist. Die Jünger bezeichnen den Auferstandenen als ὁ κύριος und stellen damit einerseits einen Bezug zum irdischen Jesus her, den sie auch κύριος nannten; 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 138 <?page no="139"?> 273 Vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 982. 274 Die Erzählung vom Fischzug des Petrus und seiner Berufung ist sehr ausführlich und „gezielt als eine Petrusgeschichte konzipiert“, Böttrich, Petrus, 54. 275 Böttrich, Petrus, 87. 276 Böttrich, Petrus, 87. gleichzeitig bringen sie mit dieser Bezeichnung eine Wertschätzung des Aufer‐ standenen zum Ausdruck. 273 Dass der Auferstandene nur Petrus aus dem Jüngerkreis erschienen ist, wird für den intendierten Rezipienten nicht unbedingt verwunderlich sein. War es doch Petrus, der nach der Botschaft der Frauen als einziger der Jünger zum Grab Jesu lief, dieses leer fand und sich darüber wunderte (Lk 24,12). Auch im übrigen Lukasevangelium kennt der intendierte Rezipient Petrus als den Jünger, der stets ein besonderes Verhältnis zu Jesus gehabt hat. Er ist der erste Jünger, den Jesus beruft (Lk 5,1-11). 274 Er ist es auch, der den irdischen Jesus als τὸν χριστὸν τοῦ θεοῦ bezeichnet (Lk 9,20). Jesus fordert Petrus beim letzten Abendmahl auf, seine Brüder zu stärken (Lk 22,32-33). Darüber hinaus ist Petrus im Lukasevangelium „Wortführer der Jünger“ 275 und „Repräsentant der Übrigen“ 276 . Jedoch ist es auch Petrus, der den Auferstandenen dreimal verleugnet (vgl. Lk 22,54- 62). Dass der Auferstandene gerade Petrus (als einzigem von den elf Jüngern) be‐ gegnet, zeigt, dass er das alte Verhältnis zwischen ihnen wiederherstellt. Aller‐ dings wird die Begegnung nicht direkt, sondern nur indirekt und zudem äußerst knapp (mit nur zwei Worten) geschildert, sodass der Text an dieser Stelle m. E. nicht den Fokus auf eine versöhnende Wiedervereinigung legt, sondern nur deutlich macht, dass Petrus, der stets eine besondere Beziehung zum Irdischen hatte, diesen aber verleugnete, nun wieder in einer besonderen Beziehung zum Auferstandenen steht. Eine weitere Fremdcharakterisierung des Auferstandenen durch die Jünger findet sich in Lk 24,37 in der Reaktion der Jünger auf die Erscheinung des Auf‐ erstandenen. Während sie über die Geschehnisse der Erscheinungen des Auf‐ erstandenen sprechen, tritt dieser selbst in ihre Mitte (Lk 24,36). Daraufhin er‐ schrecken die Jünger, geraten in Furcht und meinen, einen Geist (πνεῦμα) zu sehen. Kann aus dieser Reaktion der Jünger im Hinblick auf die Figur des Auf‐ erstandenen geschlossen werden, dass sie ein völlig anderes Aussehen als der irdische Jesus besitzt und deshalb für einen Geist oder ein Gespenst gehalten wird? Dagegen spricht jedoch die im Anschluss an Lk 24,37 bewusst betonte Körperlichkeit des Auferstandenen, auf die er die Jünger hinweist (Lk 24,39- 43). Obwohl die Jünger von der Existenz des Auferstandenen wissen (vgl. Lk 24,34 „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen“), 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 139 <?page no="140"?> 277 Schweizer, Lukas, 250. Vgl. auch Glöckner, Verkündigung, 208, der deutlich macht, „daß seine Leibhaftigkeit unter bleibender Unbegreifbarkeit steht und sich der allgemeinen Lebenserfahrung nicht mehr einordnen lässt.“ 278 Eckey führt das Erschrecken der Jünger darauf zurück, dass sie ihn für „den noch auf Erden umgehenden Geist des Verstorbenen“ halten, Eckey, Lukasevangelium II, 989. So auch Klein, Lukasevangelium, 736. Dagegen entkräftet Wolter diese Ansicht m. E. zu Recht, indem er darauf hinweist, dass der Text - sollten die Jünger ihn wirklich für seinen Totengeist halten - dann nicht von einem Geist, sondern von seinem Geist spre‐ chen würde, vgl. Wolter, Lukasevangelium, 789. Bovon erklärt die Reaktion der Jünger mit der Angst, sie hätten den toten Jesus beschworen, indem sie über ihn redeten, vgl. Bovon, Lukas IV, 584-585. 279 Vgl. Bovon, Lukas IV, 587 sowie Kremer, Osterevangelien, 141. Dagegen Eckey, Lukas‐ evangelium II, 990: „Die Gespensterfurcht ist gewichen; jetzt sind die Jünger von Wie‐ dersehensfreude und Staunen überwältigt (41a). Sie können es immer noch nicht fassen, daß er selbst da ist […]. Das kann doch nicht wahr sein! “. Vgl. auch Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 429: „Die Jünger können nur staunen.“ Jedoch kann das Verb ἀπιστέω („ungläubig sein“) m. E. nicht einfach umgangen oder abgeschwächt werden. Obwohl die Jünger Freude empfinden, sind und bleiben sie gleichzeitig immer noch ungläubig. 280 Diesen Friedensgruß hat bereits der irdische Jesus bei der Aussendung der Jünger in Lk 10,5 ihnen ans Herz gelegt, vgl. Klein, Lukasevangelium, 736. Trotz dieser (verbalen) Anspielung auf den Irdischen, erkennen ihn die Jünger zunächst nicht. fürchten sie sich und denken, er sei ein Geist. Die Reaktion der Jünger verdeut‐ licht so „die menschlich kaum zu bewältigende Größe des Ereignisses“ 277 . Daher halten sie ihn zunächst für eine irreale Erscheinung. 278 Der Auferstandene ist demnach keine mit dem menschlichen Verstand zu bewältigende und zu erken‐ nende Größe. Das bloße Wissen um ihn (vgl. Lk 24,34) trägt noch nichts zum wirklichen Erkennen bei. Zugleich wird durch die Reaktion der Jünger auf den Auferstandenen für den intendierten Rezipienten ersichtlich, dass der Aufer‐ standene sich in gewisser Art und Weise verändert hat, sodass sie - seine engsten Vertrauten - ihn zuerst nicht erkennen. Dadurch entsteht eine gewisse Distanz des Auferstandenen zu seinen Jüngern. Nachdem der Auferstandene daraufhin den Jüngern verdeutlicht, er selbst und aus Fleisch und Knochen zu sein, und sie sogar auffordert, ihn zu berühren (Lk 24,29-40), werden die Jünger ungläubig vor Freude und wundern sich (Lk 24,41). Die Reaktion des Ungläubig-Seins vor Freude ist eine in sich paradoxe Reaktion. 279 Durch sie wird - wie auch durch das Erschrecken der Jünger trotz ihres Wissens - dem intendierten Rezipienten verdeutlicht, dass der Auferstan‐ dene letztlich ein Paradoxon bleibt. Er ist sowohl nicht erkannt, als auch erkannt, umstritten und akzeptiert, er ist an-fassbar und ebenso un-fassbar. Die elf Jünger erkennen ihn nicht an seinem Handeln und Sprechen (vgl. Lk 24,36 „Friede sei mit euch“). 280 Auch nachdem der Auferstandene kundtut, 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 140 <?page no="141"?> 281 Bovon, Lukas IV, 993. 282 Vgl. Nützel, Art. προσκυνέω, 419-423. 283 „Vor dem irdischen Jesus sind die Menschen zwar immer mal wieder auf ihr Angesicht oder zu Boden gefallen (vgl. 5,12; 8,28; 41,47), doch […] gilt das προσκυνεῖν bei Lukas ausschließlich dem Erhöhten“, Wolter, Lukasevangelium, 796. Vgl. Marshall, Luke, 910: „For the first time Luke refers to worship being offered to Jesus“. So auch Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 431-432. 284 Klein, Lukasevangelium, 742-743; so auch Schneider, Lukas II, 506: „Die Erwähnung des Niederfallens (Proskynese) vor Jesus läßt Jesus jene Anbetung zukommen, die sonst nur Gott gebührt“. 285 „Only here do we learn that the disciples have responded appropriately to Jesus, whose true identity and status they at last recognize“, Green, Luke, 860. 286 Ostmeyer betont dabei, dass die wirkliche Erkenntnis des Auferstandenen sich erst nach dem Segen einstellt. „Die Jünger erkennen erst als Gesegnete“, Ostmeyer, Kommuni‐ kation mit Gott und Christus, 278. 287 Zum „paradoxen“ Verhalten der Jünger beim Abschied vom Auferstandenen vgl. auch Zimmerling, Ein Abschied mit Konsequenzen, 270. wer er ist und auf sein Fleisch und seine Knochen hinweist, bleiben bei ihnen noch Restzweifel. Der Auferstandene besitzt jedoch einen (menschlichen) Körper, der aus Fleisch und Knochen besteht und der als der Körper des irdischen Jesus erkannt werden soll. Eine letzte Reaktion der Jünger auf den Auferstandenen besteht in Lk 24,52 darin, dass sie vor dem Auferstandenen nieder fallen, während er sie segnet und vor ihnen in den Himmel emporgehoben wird (Lk 24,51). „Die Empfänger des Segens Jesu und Zeugen der in seiner Entrückung gegenwärtig wirksamen Got‐ teskraft werfen sich anbetend vor ihm nieder“ 281 . Das Verb προσκυνέω drückt dabei eine huldigende und anbetende Haltung aus. 282 Dabei findet sich dieses Wort nur als Reaktion auf den Auferstandenen, niemals auf den Irdischen. 283 „Dem irdischen Jesus gebührt nach Lk keine Anbetung, sie gilt Gott allein (Lk 4,8). Anders steht es, wenn Jesus in den Himmel aufgenommen wird. Denn damit wird er vergöttlicht.“ 284 Nur dem Auferstandenen wird daher große Ehre und Huldigung seitens der Jünger entgegengebracht, was seine besondere, erhöhte und göttliche Stellung zum Ausdruck bringt. 285 Erst jetzt erst haben sie ihn vol‐ lends akzeptiert und sehen ihn als das, was er ist, der vom Alten Testament angekündigte Messias, den Gott auferweckt hat und der nun in seine Herrlich‐ keit eingeht (vgl. 24,26). 286 Der Erzähler berichtet, wie die Jünger anschließend mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehren (Lk 24,52). Auf den Abschied vom Auferstandenen reagieren sie nicht mit Trauer oder Schmerzen, sondern mit großer Freude. 287 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 141 <?page no="142"?> 3.2.2 Aus der Fremdcharakterisierung des Auferstandenen durch die Figuren der Engel, der Emmaus-Jünger und der elf Jünger in Lk 24,1-53 ergibt sich insge‐ samt ein Bild seiner Figur, das die folgenden fünf zentralen Aspekte umfasst: 1. Der Auferstandene wird in einem engen Bezug zum Irdischen gezeichnet. Diese Kontinuität kommt dabei durch den Verweis auf seine bereits von ihm als Irdischem angekündigte Auferstehung, den Ort Galiläa, das Abendmahl, durch die κύριος-Bezeichnung, durch die Leiblichkeit und den Körper des Auferstandenen zum Ausdruck. 2. Der Auferstandene wird als „der Lebende“ bezeichnet, der sich nicht mehr auf er Seite des Todes, sondern auf der Seite Gottes befindet. Dabei handelt es sich um eine exklusiv auf den Auferstandenen bezogene Bezeichnung. 3. Der Auferstandene ist nun der Erhöhte, dem allein - im Gegensatz zum Irdischen - Proskynese entgegengebracht wird. 4. Der Auferstandene ist der Schriftausleger und gleichzeitig der Schlüssel zu den Verheißungen des Alten Testaments über ihn. 5. Durch das Nicht-Erkennen und den Zweifel der Jünger wird zudem deutlich, dass sich der Auferstandene in gewisser Art verändert hat und dass er nun in einer Distanz zu ihnen steht und für sie unverfügbar ist. Der Auferstan‐ dene ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Paradoxon und Ge‐ heimnis, das nicht allein mit dem menschlichen Verstand erfasst werden kann. Selbstcharakterisierung des Auferstandenen Die Selbstcharakterisierung der Figur des Auferstandenen findet sich v. a. in dessen Reden und Handeln. Daher stehen die folgenden Passagen für die Un‐ tersuchung der Selbstcharakterisierung des Auferstandenen im Fokus: 1. Sein Reden und Handeln in Bezug auf die beiden Emmaus-Jünger (Lk 24,15- 31); 2. Sein Reden und Handeln in Bezug auf die elf Jünger (Lk 24,36-51). 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 142 <?page no="143"?> 288 Von den beiden Emmaus-Jüngern wird nur einer, Kleopas, im Text mit seinem Namen genannt (Lk 24,18). Nach Theobald lässt der Erzähler den anderen Emmaus-Jünger be‐ wusst anonym, um dem intendierten Rezipienten gewissermaßen die Möglichkeit zu geben, sich mit ihm zu identifizieren, vgl. Theobald, Wie sie ihn am Brotbrechen er‐ kannten, 437. 289 Die Formulierung in Lk 24,15 ἐν τῷ ὁμιλεῖν αὐτοὺς καὶ συζητεῖν bezieht sich auf die vorangehenden Ereignisse, vgl. auch Bovon, Lukas IV, 557: „Die Logik der Erzählung will, dass sie von alle dem miteinander reden, was sich zugetragen hat.“ So auch Wiefel, Lukas, 410. 290 Schweizer, Lukas, 246. 291 Bovon, Lukas IV, 557. 292 „Er ist nicht weltfern. Jetzt ist er mit den […] traurigen und ratlosen Jüngern unterwegs“, Eckey, Lukasevangelium II, 976. 293 Eckey, Lukasevangelium II, 977. 294 So Marshall, Luke, 893. 1. In Lk 24,15 nähert sich der Auferstandene den Emmaus-Jüngern 288 , die sich miteinander über die Geschehnisse der letzten Tage in Jerusalem 289 unterhalten, und geht mit ihnen in Richtung Emmaus. Wie lange er sie auf ihrem Weg be‐ gleitet, bevor er sie anspricht, wird jedoch für den intendierten Rezipienten aus der Erzählung nicht deutlich. „Woher er kommt, ist so wenig zu sagen, wie wohin er entschwindet.“ 290 Die beiden Jünger erkennen den Auferstandenen nicht, da ihre Augen „gehalten“ werden. Dabei kennzeichnet die Formulierung καὶ ἐγένετο„den Beginn einer Handlung, die entscheidend sein wird.“ 291 Der Aufer‐ standene taucht (inkognito) in die Alltagswelt der beiden Jünger ein und kommt zu ihnen auf ihren Weg. 292 Dabei stellt er sich ihnen nicht einfach in die Quere, sondern nähert sich ihnen behutsam und geht mit ihnen (συνεπορεύετο αὐτοῖς). Er läuft nicht nur mit den beiden Emmaus-Jüngern mit, sondern spricht sie an und fragt sie, worüber sie diskutieren, während sie laufen, woraufhin die Jünger mit traurigem Blick stehen bleiben (Lk 24,17). Dabei ist seine Frage „so gestellt, daß sie die Jünger überrascht, erstaunt und mitteilungswillig macht.“ 293 An dieser Stelle wird wohl vorausgesetzt, dass der Auferstandene etwas von der Unterhaltung der Emmaus-Jünger mitbekommen hat, während er sich ihnen näherte. 294 Der Auferstandene bleibt auch jetzt bewusst unerkannt und fragt die Jünger, was sie beschäftigt und worüber sie diskutieren. Er zeigt durch seine Frage Interesse an ihnen und nimmt ihnen gegenüber die Rolle eines Seelsorgers ein. Auf die Rückfrage der Jünger, ob er denn nicht wisse, was in Jerusalem in diesen Tagen geschehen sei (Lk 24,18), antwortet der Auferstandene in Lk 24,19 lediglich mit der Frage „was“ (ποῖα)? Indem der Auferstandene inkognito sowohl 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 143 <?page no="144"?> 295 Schmithals, Lukas, 233. Vgl. auch Richter / Hartlieb, Auf dem Weg nach Emmaus, 11: „In diese Situation hinein tritt Jesus an ihre Seite, lässt sie ihren Kummer erzählen und legt ihnen dann die Schrift aus.“ 296 „Daß Jesus […] als ein Prophet sowohl bei seinen Taten als auch bei seinen Worten hervorgetreten ist, wird im Lk […] immer wieder deutlich“, Nebe, Prophetische Züge, 88. 297 „Die Jünger werden als unverständig […] gescholten. Ihnen wird vorgehalten, daß sie zu schwerfällig […] sind, die Botschaft der Propheten in ihr Herz aufzunehmen und sich von ihr überzeugen zu lassen“, Eckey, Lukasevangelium II, 979; vgl. auch Bovon, Lukas IV, 561; vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 782. 298 Wolter, Wir aber hatten gehofft, 29. 299 Wolter, Wir aber hatten gehofft, 28-29. Dagegen vertritt Klein die Ansicht, dass die Vorstellung vom Befreier Israels im Titel προφήτης zusammengefasst wird, Klein, Lu‐ kasevangelium, 730. Dann müsste sich jedoch die Hoffnung der Emmaus-Jünger nicht zerschlagen, da sie Jesus immer noch für einen Propheten halten. Die Hoffnung, dass Jesus zudem auch der Befreier Israels ist, muss somit eindeutig über die Bezeichnung Jesu als ein Prophet hinausgehen. Zur Propheten-Rolle des irdischen Jesus vgl. auch O’Toole, Jesus, 32-33. nachfragt, worüber sie reden, als auch was in Jerusalem geschehen ist, lässt er sie, „seelsorgerlich handelnd, ihr volles Herz ausschütten.“ 295 Die Emmaus-Jünger berichten daraufhin über τὰ περὶ Ἰησοῦ τοῦ Ναζαρηνοῦ (Lk 24,19), den sie für einen ἀνὴρ προφήτης 296 halten und von dem sie sogar hofften, er sei der Befreier Israels (Lk 24,21). Allerdings ist diese Hoff‐ nung bei ihnen bereits geschwunden, da seit Jesu Kreuzigung bereits drei Tage vergangen sind (Lk 24,21). Auf diesen Bericht der Emmaus-Jünger reagiert der Auferstandene in Lk 24,25 mit einem Tadel. Er nennt die beiden Emmaus-Jünger unverständig (ἀνόητοι) und wirft ihnen vor, sie würden aufgrund ihres trägen Herzens (βραδεῖς τῇ καρδίᾳ) nicht alles verstehen, was die Propheten sagen. Er unterstellt ihnen somit, die Propheten aufgrund ihres trägen Herzens und ihrer Unverständigkeit nicht richtig und nicht in ihrer Gänze verstanden zu haben. 297 „Was Jesus an der Christologie der Jünger tadelt, ist jedoch ein falsches Messiasbild und dement‐ sprechend auch eine falsche Erwartung in Bezug auf die Realisierung der Heils‐ hoffnungen Israels.“ 298 Denn ihrer Ansicht nach gehören das Leiden und das Sterben Jesu nicht zur Vorstellung vom Befreier Israels. „Es stehen sich gegen‐ über ihre ursprüngliche Hoffnung, dass sie mit Jesus den erwarteten messiani‐ schen Befreier Israels vor sich haben, und ihre schlussendliche Erkenntnis, dass es sich bei Jesus doch nur wieder um einen hochgeachteten Propheten gehandelt hat, der zwar eine eindrucksvolle Lebensbilanz aufweisen kann […], der dann aber doch die ihm entgegengebrachten messianischen Hoffnungen enttäuscht hat.“ 299 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 144 <?page no="145"?> 300 Wolter, Lukasevangelium, 783. 301 Vgl. auch Eckey, Lukasevangelium II, 980: „Mit dem Eingang in seine Herrlichkeit ist angesprochen, daß der tief erniedrigte, von Gott aber aus dem Todesschlaf auferweckte Gekreuzigte, der als Auferstandener die Seinen begleitet, im Himmel inthronisiert ist.“ Zum δόξα- Begriff im Lukasevangelium vgl. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus, 281-286. 302 Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 423. 303 Bovon, Lukas IV, 562. 304 Wolter, Lukasevangelium, 783. 305 In Lk 24,26 ist zwar nur von seinem Leiden die Rede, jedoch kann der intendierte Re‐ zipient an dieser Stelle seinen Tod und seine Auferweckung als Voraussetzung zum Eingehen in die Herrlichkeit verstehen, vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 783. 306 Despotis, Emmaus, 174. Wenn der Auferstandene den beiden Jünger vorwirft, die Propheten nicht richtig zu verstehen, dann schreibt er sich damit indirekt die von den Em‐ maus-Jüngern getätigten Äußerungen bezüglich des Befreiers Israels selbst zu. Diese „Rolle wird von ihm ausdrücklich akzeptiert“ 300 . Der Auferstandene gibt den Emmaus-Jüngern zu verstehen, dass der Gesalbte all dies erleiden muss, um in seine Herrlichkeit einzugehen (Lk 24,26). Mit dem Hinweis auf das Eingehen in seine Herrlichkeit (δόξα) spielt der Auferstandene auf seine Himmelfahrt (Lk 24,51) und seine sich daraus ergebende Existenz im Himmel zur Rechten Gottes (vgl. Lk 22,69) an. 301 Er betont, „daß das Leiden des Messias der Schrift entspricht und damit dem Willen Gottes.“ 302 Es existiert somit eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit. Auffällig ist an dieser Stelle, dass er „Jesu Schicksal“ 303 nicht als Aussage for‐ muliert („Christus musste all dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen“), sondern als Frage („musste nicht Christus all dies erleiden und in seine Herr‐ lichkeit eingehen? “). Er setzt den beiden Jüngern nicht einfach eine Tatsache vor; vielmehr fordert er sie durch die Frage zum eigenständigen Nachdenken auf. Er verdeutlicht ihnen so, dass das Leiden und Sterben - anders als in der Vorstellung der Emmaus-Jünger - sehr wohl zum Befreier Israels gehört. Da der intendierte Rezipient - im Gegensatz zu den Emmaus-Jüngern - weiß, dass es sich bei dem Fremden um den Auferstandenen handelt (vgl. Lk 24,15), fasst er dessen Aussage in Lk 24,26 als Selbstaussage auf, wodurch sich eine „christologische Selbstauslegung“ 304 ergibt. Der Auferstandene bezeichnet sich somit (für den intendierten Rezipienten) ausdrücklich als ὁ χριστός, der leiden musste und erst so in seine Herrlichkeit eingehen kann, und er bezieht auch die Rolle des Befreiers Israels auf sich. 305 „After the Resurrection Jesus himself tries through his explanation of the Scriptures to prove to his companions that the passion and the resurrection of the Messiah were inherent in the divine δει.” 306 Diese Selbstaussage des Auferstandenen bestätigt für den intendierten Rezip‐ 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 145 <?page no="146"?> 307 Wolter, Lukasevangelium, 784. 308 Bovon, Lukas IV, 561. Zum genauen Bezug der alttestamentlichen Schriftverweise vgl. Jipp, Luke’s Scriptural Suffering Messiah, 255-274. Er vertritt die These, dass vor allem in den Psalmen und den Bezügen auf König David Hinweise auf Jesu Schicksal zu finden sind (auch wenn diese in Lk 24,27 noch nicht explizit - wie in Lk 24,44 - genannt werden). 309 Schweizer, Lukas, 247. ienten noch einmal die von den Engeln wiederholte Selbstaussage des Irdischen in Lk 24,7. Im Anschluss daran legt der Auferstandene den Emmaus-Jüngern die Schrift aus, wobei die Formulierung „und er fing an bei Mose und allen Propheten“ (Lk 24,27) „die Gesamtheit der heiligen Schriften Israels“ 307 umfasst. Er legt ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht, denn die „Verbindung zwischen der Verheißung und ihrer Erfüllung bedarf einer Erklärung.“ 308 Der Auferstan‐ dene begegnet dem intendierten Rezipienten in Lk 24,27 somit in seiner Rolle als Schriftenausleger und Hermeneut (vgl. Lk 24,32). Im Gegensatz zu Lk 24,32 jedoch, wo vom Öffnen der Schriften die Rede ist (διανοίγω), wird in Lk 24,27 berichtet, dass er ihnen die Schriften auslegt (διερμηνεύω). Er legt ihnen die Schriften jedoch nicht generell aus, sondern konkret im Hinblick darauf, was in den Schriften über ihn steht (τὰ περὶ ἑαυτοῦ), denn die „Schrift deutet […] die Jesusereignisse“ 309 . Damit wird für den intendierten Rezipienten deutlich, dass der Weg Jesu bereits in den Schriften angelegt ist. Der Auferstandene ist somit nicht nur der Schlüssel zu den Schriften des Alten Testaments (vgl. Lk 24,32 das Öffnen der Schriften), sondern die Schriften sind durch die in ihnen enthaltenen Verheißungen gewissermaßen auch der Schlüssel zu ihm und zum Verstehen seines Weges. Der Auferstandene nimmt somit den Emmaus-Jüngern gegenüber nicht nur die Rolle des Seelsorgers, sondern auch die Rolle des Hermeneuten ein, der durch seine Erläuterungen der Schriften die Menschen zum Verstehen und letztlich auch zum Glauben führt (vgl. Lk 24,31 das Öffnen der Augen, das im Verhältnis zum Öffnen der Schriften steht). Der Auferstandene belässt es nicht bei der Kritik an den Emmaus-Jüngern (Lk 24,25), sondern führt ihnen vor Augen, dass der Tod des von ihnen als Be‐ freier Israels geglaubten Christus heilsnotwendig war (Lk 24,26). Diese Tatsache verdeutlicht er den beiden Jüngern ausführlich und geduldig, indem er ihnen alle Schriften auf Christus hin auslegt (Lk 24,27). Der Auferstandene will, dass sie verstehen. Er konfrontiert die beiden Jünger nicht einfach mit dem Heilsplan Gottes, sondern er erklärt ihnen geduldig alle Zusammenhänge, sodass sie es selbst verstehen. Statt eines einfachen es ist so, 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 146 <?page no="147"?> 310 Im Hinblick auf die kulturellen Voraussetzungen des Textes wird hier an ein Essen im Liegen gedacht sein, vgl. Bovon, Lukas IV, 562. Dagegen vertritt Maxey die Ansicht, es sei an dieser Stelle an einen Tisch gedacht. „Many important discussions, teachings, and events occur around the table in Luke“, Maxey, Road, 121. Jedoch drückt das Verb κατακλίνω eher ein „niederlegen“ aus, vgl. Bauer / Aland, Art. κατακλίνω, 836. 311 „Man darf nicht fragen, wer das Essen zubereitet hat. Es ist da“, Klein, Lukasevangelium, 733. 312 Vgl. hierzu die Erläuterungen zum Erkennen der Jünger (Lk 24,31) im vorangehenden Kapitel zur Fremdcharakterisierung des Auferstandenen in Lk 24,1-53. Vgl. auch Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 81-82. 313 Bovon, Lukas IV, 563. Vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 981: „Zur Mahleröffnung über‐ nimmt der Gast die Rolle des Hausherrn und Gastgebers.“ 314 Maxey, Road, 122. 315 Dass derjenige, der sich am Tisch bedienen lässt, größer (μείζων) ist als derjenige, der bedient, macht der irdische Jesus in Lk 22,27 deutlich. Er selbst weist sich hierbei die Rolle des Dieners für seine Jünger zu. Damit wird er nach Wolter zum „ethischen Urbild für die von ihnen verlangte Top-down-Inversion von Status und Rolle“, Wolter, Lukas‐ evangelium, 713. macht er ihnen verständlich, warum es so ist. Seine beiden Rollen als Seelsorger und als Hermeneut laufen somit ineinander. Eine weitere für die Selbstcharakterisierung des Auferstandenen wichtige Handlung besteht in Lk 24,30 im vom Auferstandenen initiierten gemeinschaft‐ lichen Mahl. Die Emmaus-Jünger bitten ihn, bei ihnen zu bleiben, da es Abend geworden ist (Lk 24,29). Daraufhin geht er hinein, um bei ihnen zu bleiben (εἰσῆλθεν τοῦ μεῖναι σὺν αὐτοῖς). Wo er genau hineingeht, lässt der Text offen, der Kontext (die folgende Mahlhandlung) lässt den intendierten Rezipienten jedoch wahr‐ scheinlich an ein Haus denken. Er legt sich mit ihnen nieder 310 , nimmt das Brot 311 , sagt Lob und Dank, bricht es und gibt es ihnen (Lk 24,30). Mit dieser Handlung, die zugleich die Kontinuität zum irdischen Jesus betont 312 , begibt sich der Auferstandene vor den Emmaus-Jüngern in die Rolle des Gastgebers, denn er „ist es, der das Gebet spricht und das Brot teilt.“ 313 Er macht sich somit vom eingeladenen Gast zum Gastgeber, obwohl das Haus, in dem sie sich befinden nicht sein eigenes Haus ist. „Jesus, the invited guest, becomes the server in Em‐ maus.“ 314 Der Gastgeber trägt die Fürsorge und Verantwortung für seine Gäste. Indem sich der Auferstandene nun in Lk 24,30 in diese Rolle begibt, übernimmt er die Fürsorge und Verantwortung für die Emmaus-Jünger, die sich nun in der Rolle der Gäste befinden. Er kümmert sich um sie, gibt ihnen das Brot und be‐ dient sie. Er, der Gesalbte, der in seine Herrlichkeit eingeht (Lk 24,26), ist zu‐ gleich derjenige, der seine Jünger bedient und ihnen ihr Essen reicht. Dass er sich selbst diese Rolle zuschreibt, hat er bereits in Lk 22,27 seinen Jüngern deut‐ lich gemacht (ἐγὼ δὲ ἐν μέσῳ ὑμῶν εἰμι ὡς ὁ διακονῶν). 315 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 147 <?page no="148"?> 316 „Das Ziel der Begegnung ist erreicht“, Schneider, Lukas II, 499. 317 Kremer, Osterevangelien, 124. 318 Dagegen vertritt Theobald die Ansicht, die Erkenntnis der Emmaus-Jünger ergebe sich allein aus der eingenommenen Gastgeber-Rolle des Auferstandenen, die den Jüngern bereits vom irdischen Jesus bekannt sei (Lk 9,16), vgl. Theobald, Wie sie ihn am Brot‐ brechen erkannten, 438. Jedoch zielt der Text m. E. nicht darauf ab, allein durch die eingenommene Gastgeber-Rolle Jesu zur Erkenntnis der Jünger zu führen; vielmehr spielt m. E. die im Vorhergehenden berichtete ausführliche Schriftauslegung des Auf‐ erstandenen sowie die Mahlfeier an sich eine entscheidende Rolle bei der Erkenntnis des Auferstandenen, so auch Dohmen, „…als er uns die Schrift erschloss“, 254: „Die 'Entdeckung', dass es sich bei dem Fremden um den Auferstandenen handelt, wird am Brotbrechen und am Erschließen der Schrift festgemacht.“ Vgl. auch Despotis, Emmaus, 177. 319 Hartlieb / Richter, Auf dem Weg nach Emmaus, 11. 320 „Luke wants to make the point, that the Christians of his day were able to have the living Lord made known to them in the eucharist celebration in a manner that was at least analogous to the experience of the Emmaus disciples“, Nolland, Luke III, 1206. 321 Theobald, Wie sie ihn beim Brotbrechen erkannten, 437. Kurz nachdem die Emmaus-Jünger ihn an dieser Mahlhandlung erkennen (Lk 24,31), wird der Auferstandene für sie unsichtbar. 316 „Das plötzliche Ver‐ schwinden ist für den Leser das einzige Anzeichen, daß Jesus nach seinem Tod eine andere Existenzweise besitzt als vorher.“ 317 Die im Vorherigen hergestellte Nähe zu den beiden Emmaus-Jüngern weicht nun einer Distanz. Die vollständige Erkenntnis des Auferstandenen entsteht somit bei den Em‐ maus-Jüngern nur durch den Auferstandenen selbst und in der von ihm in seinem Sinne ausgelegten Deutung der Schriften sowie im Herrenmahl. 318 „So unabdingbar das gemeinsame Gespräch mit Jesus ist […], so wenig reicht die kognitive Auseinandersetzung mit Jesu Auslegung zum Verstehen. Erst wenn Gespräch, Auslegung und neuerlicher elementarer Lebensvollzug - im Brechen des Brotes beim gemeinsamen Essen - zusammenkommen, gehen den Jüngern die Augen auf, ist wahres Verstehen möglich.“ 319 Dem intendierten Rezipienten wird an dieser Stelle zugleich aufgezeigt, wie der Auferstandene auch von ihm erkannt und bei ihm präsent sein kann. 320 Die Emmaus-Jünger können den Auferstandenen zwar zum Bleiben über Nacht auffordern (Lk 24,29), festhalten können sie ihn aber nicht. Der Aufer‐ standene begegnet ihnen, wann er will, und verschwindet, wann er will. Er ist den Emmaus-Jüngern zwar nah, bleibt aber dabei gleichzeitig für sie unver‐ fügbar. Diese Mischung aus Nähe und Unverfügbarkeit ist damit charakteris‐ tisch für seine Figur. Theobald spricht von einer „eigentümliche[n] Dialektik, die auf das Geheimnis der Gegenwart des Auferweckten im eucharistischen Mahl verweist: Unerkannt anwesend, dann jedoch erkannt, aber unsichtbar! “ 321 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 148 <?page no="149"?> 322 In Lk 24,36 sind vom erzählerischen Kontext aus zwar die Emmaus-Jünger in die Be‐ gegnung mit eingeschlossen, jedoch fokussiert der weitere Erzählverlauf nur noch die elf Jünger. Vgl. Klein, Lukasevangelium, 736: „Anwesend sind die Elf und die beiden Emmausjünger. Aber an deren Anwesenheit ist nicht wirklich gedacht, sonst würden sie doch Jesus sofort wiedererkennen. Lk leistet sich solche Ungenauigkeiten.“ 323 Auffällig ist, dass an dieser Stelle vom Auferstandenen nur als αὐτὸς die Rede ist und nicht als Jesus, vgl. Bovon, Lukas IV, 583. 324 Vgl. hierzu Klein, Lukasevangelium, 736. 325 „[D]er Leib des Auferstandenen ist nicht an Raum und Zeit gebunden“, Ernst, Lukas, 666. Wolter spricht an dieser Stelle von „dramatische[n] Knalleffekte[n]“, Wolter, Lu‐ kasevangelium, 788. Da der Text jedoch von einem (lautlosen) Erscheinen ohne gewal‐ tige Ankündigung und ohne Begleitung von Naturereignissen erzählt, scheint die Be‐ zeichnung des Erscheinens Jesu in Lk 24,36 als „Knalleffekt“ m. E. nicht angemessen zu sein. 2. Ab Lk 24,36 bezieht sich das Reden und Handeln des Auferstandenen nicht mehr länger nur auf die beiden Emmaus-Jünger, sondern auf die elf Jünger. 322 Die elf Jünger sind mit einigen anderen (vgl. 24,9.33) in Jerusalem versammelt, als die beiden Emmaus-Jünger eintreffen (Lk 24,33). Die elf Jünger berichten ihnen, dass der Auferstandene Petrus erschienen ist, woraufhin die Em‐ maus-Jünger ihre Begegnung mit dem Auferstandenen schildern (Lk 24,34-35). Während sie sich über diese Geschehnisse unterhalten, tritt plötzlich der Auf‐ erstandene selbst (αὐτὸς) 323 in ihre Mitte und spricht zu ihnen εἰρήνη ὑμῖν (Lk 24,36). Den Friedensgruß εἰρήνη ὑμῖν kennt der intendierte Rezipient bereits in abgewan‐ delter Form aus Lk 10,5. Hier sendet der irdische Jesus 72 Jünger aus und fordert sie auf, immer wenn sie ein Haus betreten, zuerst „Friede (sei) diesem Haus“ zu sprechen. In Lk 24,36 ist es auffällig, dass der Auferstandene die Jünger ausgerechnet mit diesem üblichen Friedensgruß begrüßt und sie nicht etwa mit „fürchtet euch nicht“ anspricht, wie es typisch ist bei Begegnungen mit göttlichen Figuren (vgl. Lk 1,13; Lk 1,30; Lk 2,10). 324 Er begrüßt sie damit so, wie er es sie selbst bei einem Eintritt in ein Haus gelehrt hat, wobei er den Frieden nun auf die Jünger bezieht und dadurch eine Bezie‐ hung zu ihnen herstellt. Wieder ist es der Auferstandene, der - genau wie bei den beiden Emmaus-Jün‐ gern in Lk 24,15 - zu den Menschen kommt. Er befiehlt ihnen nicht, zu ihm an einen bestimmten Ort zu kommen, sondern er kommt zu ihnen, in ihren Alltag (Lk 24,15) und wortwörtlich in ihre Mitte (Lk 24,36 ἐν μέσῳ αὐτῶν). Dabei erscheint er mitten unter ihnen, ohne sich vorher zu nähern oder an sie heranzutreten. Er erscheint, genau wie er plötzlich verschwindet (Lk 24,31), aus dem Nichts. 325 Für den intendierten Rezipienten wird dadurch zum einen deutlich, dass es sich beim Auferstandenen nicht um einen gewöhnlichen Men‐ schen handelt (auch wenn er wie einer aussieht), sondern dass er „vom Himmel 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 149 <?page no="150"?> 326 Wolter, Lukasevangelium, 789; vgl. auch Rowe, The Lord in the Gospel of Luke, 189: „Hence, the change is not in the identity of the κύριος but in his somatic 'location' and mode of existence.” Vgl. auch Klostermann, Lukasevangelium, 240: „Das Auftreten Jesu ist wohl ebenso 'geisterhaft' gedacht, wie sein Verschwinden”. 327 Crimella, Transformation of Characters, 175. 328 „Jesus begins by affirming his own identity“, Nolland, Luke III, 1215. 329 Ob die Jünger dieser Aufforderung nachkommen und ihn tatsächlich berühren, be‐ schreibt der Text nicht. Wichtig ist dem Erzähler allein die Tatsache, dass der Aufer‐ standene berührt werden kann. 330 Vgl. hierzu auch Henrich, Between Text and Sermon, 432: „Luke’s contemporaries would have recognized it as proof that Jesus was no disembodied spirit.” 331 Crimella, Transformation of Characters, 182. her kommt.“ 326 Zum anderen wird für den intendierten Rezipienten durch das Erscheinen und Verschwinden des Auferstandenen erkennbar, dass der Aufer‐ standene unverfügbar ist. „Everything takes place in the polarity between ab‐ sence and presence.“ 327 Man kann den Auferstandenen nicht herbeirufen oder festhalten. Er ist nicht länger Teil dieser irdischen Welt, sondern taucht in sie ein und verschwindet aus ihr, wann er will. Auf die durch sein Erscheinen ausgelöste Furcht der Jünger reagiert der Auf‐ erstandene in Lk 24,38 mit der Frage „was seid ihr so verstört und warum steigen solche Gedanken in euren Herzen auf ? “. Genau wie in Lk 24,26 reagiert der Auferstandene auf eine ungewünschte Reaktion (in Lk 24,26 ist es das falsche Christus-Verständnis der Emmaus-Jünger) mit einer Frage an sie, anstatt sie mit einer bloßen Aussage zu konfrontieren. Auch in Lk 24,17 und Lk 24,19 ist der Auferstandene bereits ein Fragender. In Lk 24,41 ist es ebenfalls eine Frage nach etwas Essbarem, anstelle einer Aufforderung, die er an die Jünger richtet. Das Frage-Motiv zieht sich somit durch die gesamte Ostererzählung des Lukasevan‐ geliums hindurch und ist für die Figur des Auferstandenen charakteristisch. Die Figur des Auferstandenen begibt sich damit in Lk 24,1-53 stark in Kommuni‐ kation mit den anderen Figuren. Der Auferstandene versichert ihnen im Folgenden, dass er es selbst ist (Lk 24,39 ἐγώ εἰμι αὐτός). Durch diese bekräftigende Aussage ich bin es selbst wird die Kontinuität zum irdischen Jesus stark betont. 328 Der Auferstandene fordert die Jünger auf, seine Hände und Füße anzusehen und ihn anzufassen (Lk 24,39). 329 Darüber hinaus fügt er begründend hinzu, dass ein Geist nicht über Knochen und Fleisch verfügt, so wie der Auferstandene es tut (Lk 24,39). 330 „The presence of Jesus is neither an illusion nor an hallucination of the disciples.“ 331 Während 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 150 <?page no="151"?> 332 Die Erwähnung, dass der Auferstandene beim Sprechen den Jüngern seine Hände und Füße zeigt, erscheint als eine weitere Bekräftigung seiner Identität mit dem irdischen Jesus, gerade da „die Erzählung auch ohne diese Erklärung funktionieren kann“, Bovon, Lukas IV, 587. 333 Vgl. Bovon, Lukas IV, 586: „die Male, die er zeigt, machen es möglich zu erkennen, wer er ist.“ Jedoch wird in Lk 24,39-43 nirgends erwähnt, dass der Auferstandene überhaupt Male besitzt, die er ihnen zeigen könnte. Der Text selbst spricht nur von „Händen und Füßen“ (vgl. Lk 24,39-40), nicht von „Malen an Händen und Füßen“. 334 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 737. 335 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 790: „Unausgesprochen […] vorausgesetzt ist dabei, dass sich an Jesu Händen und Füßen Wundmale befanden, die davon herrührten, dass er bei seiner Hinrichtung nicht lediglich am Kreuz festgebunden, sondern mit Hilfe von Nä‐ geln an ihm fixiert wurde, die durch die Hand- und die Fußknochen getrieben worden waren“. 336 „Daran wird deutlich, dass der Erscheinende Jesus nur dadurch identifizierbar ist, dass er sich als Gekreuzigter zu erkennen gibt“, Wolter, Lukasevangelium, 790. 337 Kremer, Osterevangelien, 140. der Auferstandene all dies zu seinen Jüngern spricht, zeigt er ihnen seine Hände und seine Füße (Lk 24,40). 332 Auffällig ist in Lk 24,40, dass keine Wundmale des Auferstandenen erwähnt werden, obwohl die Demonstration der Leiblichkeit des Auferstandenen und die damit he‐ rausgestellte Identität des Auferstandenen mit dem irdischen Jesus sehr umfangreich und detailliert geschildert wird. Der Auferstandene sagt nicht „seht meine Male an Händen und Füßen“ (wodurch ein direkter Bezug zur Kreuzigung hergestellt werden würde), sondern lediglich „seht meine Hände und Füße“ (Lk 24,39). Bovon 333 , Klein 334 , Wolter 335 , u. a. verstehen die Erwähnung der Hände und Füße des Auferstandenen dennoch als gezielte Anspielung auf die bei der Kreuzigung entstandenen Wundmale und damit auf die Betonung der Identität mit dem gekreuzigten Jesus. Jedoch ist der Verzicht auf das Erwähnen der Male in Lk 24,39 m. E. so gravierend, dass es dem Text sehr wahrscheinlich nicht darum geht, den Auferstandenen explizit als den Gekreu‐ zigten darzustellen, wie u. a. Wolter es annimmt 336 , sondern den Auferstandenen als den Lebenden (vgl. Lk 24,5) zu schildern, der einen menschlichen Körper besitzt. Indem in dem Erzählabschnitt Lk 24,36-43 die Kontinuität zum irdischen Jesus stark her‐ vorgehoben wird, ist der Auferstandene natürlich derselbe, der zuvor ans Kreuz ge‐ schlagen wurde; nur zielt der Text m. E. nicht auf eine ausdrückliche Darstellung des Auferstandenen als dem Gekreuzigten. Dass der Auferstandene die Jünger auffordert, ausgerechnet seine Hände und Füße anzusehen, weist daher eher voraus auf die fol‐ gende Aufforderung des Auferstandenen, ihn anzufassen. Denn Hände und Füße sind „die Körperteile, die sich leicht berühren lassen und dadurch beweisen, daß nicht ein leibloser Geist vor ihnen steht.“ 337 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 151 <?page no="152"?> 338 Vgl. Bovon, Lukas IV, 588: „Lukas legt hier die Tischgemeinschaft und sogar die eu‐ charistische Liturgie nahe.“ 339 Derselben Ansicht ist auch Wolter, Lukasevangelium, 791: „Davon, dass Lukas die Szene mit eucharistie-theologischen Neben- oder gar Haupttönen ausgestattet hat, ist nichts zu erkennen“. 340 Vgl. hierzu auch Müller, Lukas als Erzähler, 217-218. 341 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 738: „Er ist derselbe, der er einst war.“ 342 Klein, Lukasevangelium, 738. 343 Die Partikel ἔτι kann innerhalb eines erzählerischen Kontextes in der Vergangenheit mit „noch“ wiedergegeben werden, vgl. Bauer / Aland, Art. ἔτι, 639. Als die Jünger immer noch ungläubig vor Freude sind, fragt er sie, ob sie hier etwas zu essen haben (Lk 24,41), woraufhin sie ihm ein Stück gebratenen Fisch geben und er diesen vor ihnen isst (Lk 24,42-43). Dass an dieser Stelle ein Bezug zu einer eucharistischen Mahlgemeinschaft hergestellt wird, wie u. a. Bovon es annimmt 338 , legt der Text m. E nicht nahe. 339 Denn es ist weder von einer Tischgemeinschaft die Rede (wie in Lk 24,30), noch teilt der Auferstandene selbst das Essen aus (wie in Lk 24,30). Vielmehr dient das Essen des Fisches in Lk 24,42-43 als zusätzliche Bekräftigung seiner Leib‐ lichkeit. 340 Diese umfangreiche und ausführliche Demonstration der Leiblichkeit des Auferstandenen wird somit durch das Essen des Fisches noch verstärkt. Für den intendierten Rezipienten soll an dieser Stelle ganz deutlich werden, dass es sich bei der Figur des Auferstandenen in der Zeit vor der Himmelfahrt nicht um irgendein Geistwesen handelt, sondern dass der Auferstandene derselbe ist wie der Irdische und dass er immer noch einen menschlichen Körper besitzt, der erkannt und berührt werden kann und der dazu fähig ist, Nahrung aufzu‐ nehmen. 341 Der nächste größere Abschnitt zur Selbstcharakterisierung des Auferstan‐ denen findet sich in Lk 24,44-49 in seiner Rede an die Jünger. Es handelt sich dabei um die letzte Rede des Auferstandenen, die sich zugleich über sechs Verse erstreckt und so ein „entsprechend hohe[s] Gewicht“ 342 erhält. Dabei leitet der Auferstandene die Rede mit den folgenden Worten ein: „Das sind meine Worte, die ich gesagt habe, als ich noch bei euch war. Es muss erfüllt werden alles, was im Gesetz des Mose und in den Propheten und in den Psalmen über mich steht“ (Lk 24,44). Dabei fällt auf, dass der Auferstandene die Jünger an die Worte er‐ innert, die er zu ihnen sprach, als er noch bei ihnen war (ἔτι 343 ὢν σὺν ὑμῖν). Bedeutet dies jedoch im Umkehrschluss, dass er nun nicht mehr bei ihnen ist? Der Auferstandene hätte an dieser Stelle auch sagen können „als ich noch mit euch in Galiläa war“. Da er sein Dasein in Lk 24,44 jedoch nicht an einen be‐ stimmten Ort knüpft, sondern es generalisiert, ergibt sich für den intendierten 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 152 <?page no="153"?> 344 Vgl. auch Marshall, Luke, 904: „ἔτι ὢν σὺν ὑμῖν draws a distinction between the earthly life of Jesus and his present state in which he is no longer with them“. Vgl. Plummer, Luke, 561: „Not that the new intercourse will be less close or continuous, but it will be of a different kind.” 345 Henrich, Between Text and Sermon, 433. 346 Ernst, Lukas, 669. 347 Bovon, Lukas IV, 590. 348 Implizit wird damit zugleich ausgedrückt, dass die Jünger die Schriften bisher nicht richtig verstanden haben und sie daher Jesu Tod und sein Erscheinen nicht richtig deuten konnten, vgl. Wolter, Lukasevangelium, 792. Rezipienten an dieser Stelle ein narrativer Widerspruch. Denn die Figur des Auferstandenen ist ja im Erzählabschnitt Lk 24,1-53 anwesend; sie spricht, isst und lässt sich anfassen (vgl. Lk 24,39-43). Gleichzeitig behauptet der Aufer‐ standene jedoch von sich selbst, nicht mehr bei ihnen zu sein. Durch diese Aus‐ sage wird dem intendierten Rezipienten vor Augen geführt, dass der Auferstan‐ dene nun nicht mehr in derselben Art und Weise anwesend ist wie früher, sondern dass er nun über eine andere Art von Präsenz verfügt, was durch sein Erscheinen aus dem Nichts und sein Verschwinden (vgl. Lk 24,31; Lk 24,36) ver‐ deutlicht wird. 344 „Jesus himself makes a clear distinction between the time of his earthly ministry and this intense, brief period before his ascension.” 345 Der Auferstandene ist nun nicht mehr in der Art und Weise bei seinen Jüngern, wie er es vor seinem Tod war; „jetzt ist er auf eine andere Weise »bei ihnen«“ 346 . Die Figur des Auferstandenen besitzt zwar einen Körper aus Fleisch und Knochen (vgl. Lk 24,39), ist dabei aber gleichzeitig unverfügbar. Mit seiner Aussage „Es muss erfüllt werden alles, was im Gesetz des Mose und in den Propheten und in den Psalmen über mich steht“ (Lk 24,44b) erinnert der Auferstandene die Jünger an seine Ankündigungen, die er machte, bevor er nach Jerusalem einzog (Lk 18,31b). In Lk 18,31b ist die Aussage jedoch im Futur gehalten (τελεσθήσεται), wodurch zum Ausdruck kommt, dass die Erfüllung noch in der Zukunft liegt. In Lk 24,44 ist die Aussage durch ein „muss“ verstärkt (δεῖ πληρωθῆναι). Zu Mose und den Propheten, die der Auferstandene den Em‐ maus-Jüngern auf den Gesalbten hin ausgelegt hat (vgl. Lk 24,27), fügt er in Lk 24,44 noch die Psalmen hinzu. Die Schriften „sind dreigeteilt, und alle Teile enthalten Prophezeiungen, die zur Vollendung gelangen müssen.“ 347 Dabei spricht der Auferstandene von sich selbst nicht als dem Menschensohn (wie er es in Lk 18,31b tut) oder dem Gesalbten (vgl. Lk 24,26; Lk 24,46), sondern einfach mit einem schlichten Pronomen (περὶ ἐμοῦ). Nachdem der Auferstandene die Jünger an seine Worte erinnert hat, öffnet er auch ihnen - genau wie bereits den Emmaus-Jüngern in Lk 24,32 - den Sinn für das Verständnis der Schriften (Lk 24,45). 348 Genau wie in Lk 24,32 kommt 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 153 <?page no="154"?> 349 Klein, Lukasevangelium, 738. Vgl. auch Grundmann, Lukas, 452: „Er wird zum Schlüssel der Schrift und wird von der Schrift her erhellt.“ 350 Vgl. auch Kremer, Osterevangelien, 143: „Jesus öffnet Herz und Verstand der Anwe‐ senden, indem er sie auf die volle Bedeutung der Aussagen aufmerksam macht und ihnen dadurch den »Sinn« der Schriften aufschlüsselt.“ 351 Crimella, Transformation of Characters, 184. 352 Ernst, Lukas, 669. 353 Wolter, Lukasevangelium, 791. 354 „Mit einem Satz fasst der Auferstandene die wichtigsten Aussagen der Schrift über den Messias zusammen“, Kremer, Osterevangelien, 143. durch das Wort διανοίγω („öffnen“) zum Ausdruck, dass der Auferstandene „der Schlüssel zur Schrift“ 349 ist. 350 „Through the prism of Easter, the disciples under‐ stand Jesus in the light of the Scriptures, but they also understand the Scriptures in the light of Jesus.” 351 Auch den elf Jüngern gegenüber nimmt er die Rolle des Hermeneuten ein, der durch seine Auslegung der Schriften zu ihrer vollstän‐ digen Erkenntnis des Auferstandenen und damit zu ihrem Osterglauben beiträgt (vgl. Lk 24,52). Nachdem der Auferstandene ihnen erklärt und verdeutlicht hat, wie die Schriften des Alten Testaments richtig verstandenen werden müssen und was sie über ihn ankündigen, weist er sie auf das Muss des göttlichen Heilsplans hin. „Er allein vermag den »roten Faden« aufzuzeigen, der sich vom Anfang bis zum Ende hinzieht.“ 352 Dafür zeigt er ihnen (wie bereits in Lk 9,22 und in Lk 18,32- 33 und wie die Engel den Frauen in Lk 24,7 berichteten), dass in den Schriften geschrieben steht, dass der Gesalbte leiden und am dritten Tage von den Toten auferstehen wird (Lk 24,46). Wenn man Lk 24,45 ausklammert und an das Ende von Lk 24,44 direkt Lk 24,46 f setzt, so wird deutlich, dass es sich bei der ange‐ kündigten Erfüllung der Schriften inhaltlich um das Leiden, Sterben, und Auf‐ erstehen des Gesalbten sowie die Verkündung der Umkehr handelt. Der Aufer‐ standene erläutert den Jüngern, „wie es dazu gekommen ist, dass Jesus, von dem sie wussten, dass er gekreuzigt und begraben worden war, nun vor ihnen steht.“ 353 Er macht ihnen somit deutlich, dass sowohl seine Kreuzigung als auch seine Auferstehung Teil eines übergeordneten göttlichen Plans ist, der bereits im Alten Testament angelegt ist. Der Auferstandene ist damit das Zentrum dieses göttlichen Heilsplans (vgl. Lk 24,46). Auffällig ist im Abschnitt Lk 24,44-46, dass der Auferstandene den Jüngern den göttlichen, in den Schriften angelegten Heilsplan sehr ausführlich und de‐ tailliert erläutert. Er hätte ihnen auch lediglich den Kern der Botschaft 354 aus Lk 24,46 mit einem Verweis auf die Schriften vorbringen können („so ist es in den Schriften geschrieben, dass der Gesalbte leiden wird und dass er am dritten Tage von den Toten auferstehen wird“). Aber er konfrontiert sie - genau wie 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 154 <?page no="155"?> 355 Es handelt sich in Lk 24,46-47 um zwei parallele ACI-Konstruktionen, die beide vom γέγραπται abhängig sind. 356 Die Metanoia als Weg zur Sündenvergebung ist ein Grundgedanke im Lukasevangelium (so auch schon in Lk 3,3), vgl. Jeremias, Sprache des Lukasevangeliums, 322. bei den Emmaus-Jüngern in Lk 24,25-27 - nicht einfach mit Tatsachen und Fakten, sondern er will, dass die Jünger den Heilsplan selbst verstehen und von sich aus nachvollziehen können. Daher erinnert der Auferstandene seine Jünger zunächst an seine Ankündigungen und paraphrasiert sie sogar noch einmal. Zusätzlich zu der Erinnerung an seine Worte, öffnet er ihnen den Sinn für das Verständnis der Schriften (Lk 24,45) und sorgt so dafür, dass die Jünger auch wirklich von sich aus erkennen können, wie der Heilsplan in den Schriften an‐ gelegt ist. Erst nachdem die Jünger an die von ihm angekündigte Erfüllung der Schriften erinnert werden und nachdem ihnen der Sinn der Schriften deutlich ist, nennt der Auferstandene ihnen den Kern des Heilsplans. Der Auferstandene ist damit derjenige, der erklärt, verdeutlicht, erinnert, auslegt und sich dabei insgesamt viel Zeit für seine Jünger nimmt. Ihm ist es nicht egal, was seine Jünger denken, sondern er will, dass sie von sich aus ver‐ stehen. Damit befindet sich der Auferstandene in zwei Relationen zu den Schriften: Zum einen ist er selbst Gegenstand der Schriften, zum anderen ist er derjenige, der die Schriften aufschließt. Er ist damit Schlüssel zur Schrift, genau wie die Schrift Schlüssel zu ihm ist. Anschließend weist der Auferstandene seine Jünger darauf hin, dass zudem geschrieben steht 355 , dass in seinem Namen Umkehr zur Sündenvergebung unter allen Völkern verkündigt werden soll, beginnend in Jerusalem (Lk 24,47). Der intendierte Rezipient kennt den Zusammenhang von Umkehr und Sündenverge‐ bung bereits aus einigen Stellen des Lukasevangeliums. In Lk 3,3 ist es Johannes der Täufer, der die Taufe als Umkehr zur Sündenvergebung verkündigt. Aber vor allem kennt der intendierte Rezipient das Motiv der Umkehr aus dem Handeln des irdischen Jesus. In Lk 5,32 macht Jesus deutlich, dass er nicht gekommen ist, um die Gerechten zur Umkehr zu rufen, sondern die Sünder. Auch im Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,7) lautet die Quintessenz des irdischen Jesus, dass Freude im Himmel sein wird über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben. Das Motiv der Umkehr zur Sündenvergebung 356 ist somit unmittelbar an das Wirken des irdischen Jesus geknüpft. Wenn nun der Auferstandene seine Jünger dazu auffordert, in seinem Namen unter allen Völkern die Umkehr zur Verge‐ bung der Sünden zu verkündigen, dann sollen sie das weiterführen, was er als 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 155 <?page no="156"?> 357 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 738: „Sah der Irdische nach Lk seinen Auftrag darin, Sünder zur Buße zu rufen, so soll dieses Werk durch die Apostel fortgesetzt werden.“ 358 Mann, Der Ruf zur Umkehr, 69. 359 Wolter, Lukasevangelium, 793. 360 Schmithals, Lukas, 237. 361 Vgl. hierzu auch Ernst, Lukas, 670. 362 Vgl. hierzu auch Korn, Geschichte Jesu, 153. Vgl. auch Rusam, Das Alte Testament bei Lukas, 333: „Syntaktisch stellt sich dieser Satz so dar, dass es auch für die Predigt der μετάνοια […] im Namen des Christus eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit geben müsse.“ 363 Schneider, Lukas II, 502. 364 „Zur schriftgemäßen Erfüllung des göttlichen Heilsratschlusses gehört auch die den Jüngern aufgetragene Mission“, Eckey, Lukasevangelium II, 991. Vgl. auch Marshall, Luke, 905-906. Irdischer getan hat. 357 Er macht sich dabei nicht selbst zum Inhalt der Verkün‐ digung, sondern stellt ausdrücklich die Umkehr zur Sündenvergebung in den Vordergrund. „Der Auftrag zur Umkehr ist die Mitte der Missionspredigt, aus der dann alles Weitere folgt.“ 358 Der Auferstandene „macht die Jünger zu seinen Beauftragten. Er verpflichtet und autorisiert sie damit zum κηρύσσειν.“ 359 Indem der Auferstandene in Lk 24,47 den Aufruf zur Umkehr ausdrücklich auf alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη) bezieht, gewinnt er eine universale Perspektive und allgemeine Gültigkeit. Der Auferstandene beansprucht damit für die Fort‐ setzung seines Handelns durch die Jünger eine große Reichweite. Dennoch sollen sie in Jerusalem beginnen, wodurch Jerusalem, „die Heilige Stadt Israels, Ausgangspunkt der christlichen Botschaft“ 360 und damit besonders hervorge‐ hoben wird. Damit wird Jerusalem als Endpunkt des irdischen Jesus zugleich Anfangspunkt der vom Auferstandenen ausgerufenen nachösterlichen Verkün‐ digung durch die Jünger. 361 Dadurch, dass der Auferstandene den Aufruf zur Verkündigung an die Schriften bindet (vgl. Lk 24,46 γέγραπται), erhält seine Aufforderung eine zu‐ sätzliche Autorität. 362 Sie wird nicht nur dem Auferstandenen selbst in den Mund gelegt, sondern als Teil des Heilsplans gekennzeichnet, den der Auferstandene den Jüngern nennt. So wird für den intendierten Rezipienten deutlich, „daß zur endgültigen Erfüllung aller Verheißungen auch die weltweite Verkündigung […] gehört.“ 363 Zur Erfüllung der Schriften zählt neben Jesu Leiden, seinem Tod, seiner Auferstehung (vgl. Lk 24,46) und seinem Eingehen in die Herrlichkeit (Lk 24,26) somit noch die weltweite Umkehr-Verkündigung in seinem Namen. 364 „Zu dem Zeitpunkt, da Jesus diese Worte spricht, hat er bereits gelitten und ist auferstanden. Mit der Auferstehung ist das Christusgeschehen aber noch nicht vollendet. Die Verkündigung der Umkehr zur Vergebung der Sünden an alle 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 156 <?page no="157"?> 365 Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 119. 366 Taeger, Der Mensch und sein Heil, 184. 367 Vgl. Wiefel, Lukas, 417. 368 Zum Zeugenbegriff im Lukasevangelium vgl. auch Morgenthaler, Lukas und Quintilian, 363-385. 369 Dabei spricht Wasserberg an dieser Stelle von den Jüngern als „Zeugen im Wartestand“, die nicht zur Mission ausgesandt werden, sondern denen ihre Missionstätigkeit ledig‐ lich in Aussicht gestellt wird, Wasserberg, Aus Israels Mitte, 206. Ähnlich auch Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 121, die deutlich macht, dass „kein Zeitpunkt für die Er‐ füllung der jesuanischen Verheißung genannt“ wird und die Jünger angehalten werden, in Jerusalem auf die Sendung des Geistes zu warten. So auch Dömer, Heil Gottes, 106. 370 Wiefel, Lukas, 417. 371 Vgl. Marshall, Luke, 906: „Here, therefore, Jesus appoints them as his witnesses […], since they have been able to see his death and can testify to his resurrection“. Vgl. Klein, Lukasevangelium, 739: „Was sie erlebt haben, werden sie bezeugen.” So auch Wiefel, Lukas, 417. Dagegen vertritt u. a. Grundmann die Ansicht, dass der Zeugenbegriff auch die Verkündigung der Umkehr miteinschließt, vgl. Grundmann, Lukas, 453. Völker steht noch aus.“ 365 Damit ist die „Mission […] im göttlichen Heilsplan begründet.“ 366 Gleichzeitig wertet dies den Verkündigungsauftrag ungemein auf, da er nun auf einer Linie mit Kreuz und Auferstehung steht. 367 Nach dem Hinweis auf den in den Schriften angelegten Heilsplan trägt der Auferstandene seinen Jüngern auf, Zeugen hierfür zu sein (ὑμεῖς μάρτυρες τούτων Lk 24,48). 368 Es ist dem Auferstandenen wichtig, Zeugen für sich und seine Sache zu haben. Die Jünger können Jesu Tod und seine Auferstehung be‐ zeugen. Sie sollen damit als Zeugen und in seinem Namen die Umkehr zur Sün‐ denvergebung unter allen Völkern verkündigen. 369 Dabei „verbürgen sie für das, was sie sagen, ihr Wort und setzen ihr Leben ein.“ 370 Das τούτων in Lk 24,48 bezieht sich somit in erster Linie auf Lk 24,46. 371 Die Jünger können bezeugen, dass der irdische Jesus, der am Kreuz gestorben ist, wieder von Gott auferweckt worden ist. Sie haben damit eine wichtige Funktion für all diejenigen, die dem Auferstandenen nicht selbst begegnet sind und für den intendierten Rezipienten. Sowohl mit dem Auftrag an seine Jünger zur universalen Verkündigung der Umkehr zur Sündenvergebung als auch mit der Einsetzung seiner Jünger in den Zeugenstand regelt der Auferstandene das weitere Vorgehen für die Zeit nach seiner Himmelfahrt (Lk 24,51). Er trägt damit Sorge, dass die Botschaft von der Sündenvergebung in die Welt hinausgetragen wird und der Aufruf zur Umkehr der Menschen auf universaler Ebene in seinem Namen weitergeführt wird. Er will, dass sich die Menschen verändern und zu Christen werden. Hierbei liegt der Fokus ganz eindeutig auf dem Umkehr-Motiv; es geht dem Auferstandenen vorrangig um die Umkehr der Menschen und nicht nur um eine Ausweitung seines Geltungsbereichs. 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 157 <?page no="158"?> 372 Das Verb καθίζω meint dabei wörtlich „niedersetzen“, „sich setzen“, vgl. Schröger, Art. καθίζω, 551-553. 373 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 739: „Gemeint ist der Heilige Geist, was aber nicht aus‐ drücklich gesagt wird.“ So auch Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 121: „Der Leser des Lukasevangeliums kann […] vermuten, dass auch in Lk 24,49 der Heilige Geist ge‐ meint ist.“ 374 Vgl. auch Lk 1,17. 375 Zur syntaktischen Struktur von Lk 1,35 vgl. Wolter, Lukasevangelium, 92. 376 Vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 992; Wolter, Lukasevangelium, 794; 377 „Der Geist ist also nicht nur Erleuchtung und Aufhellung, sondern auch Ermutigung und Stärkung“, Ernst, Lukas, 671. In Lk 24,49 führt der Auferstandene seine Rede an die Jünger weiter, indem er ihnen nun konkrete Versprechen und Handlungsanweisungen gibt. Er sichert ihnen zu, die Verheißung seines Vaters (τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πατρός μου) auf sie zu senden. Zugleich fordert er sie dazu auf, in der Stadt ( Jerusalem) zu bleiben 372 , bis sie mit Kraft aus der Höhe (ἐξ ὕψους δύναμιν) bekleidet werden. Der intendierte Rezipient soll an dieser Stelle die beiden Begriffe τὴν ἐπαγγελίαν und δύναμιν als Umschreibung für den Heiligen Geist verstehen. 373 Denn eine Verbindung von Heiligem Geist und Kraft kennt der intendierte Rezipient bereits aus Lk 1,35. 374 Hier sichert der Engel Maria zu, dass der πνεῦμα ἅγιον auf sie kommen wird und die δύναμις ὑψίστου sie überschatten wird. Dabei sind diese beiden Aussagen als Paral‐ lelismus membrorum konstruiert 375 , wodurch in Lk 1,35 der „Heilige Geist“ mit der „Kraft des Höchsten“ gleichgesetzt werden kann. In Lk 4,14 ist zudem ausdrücklich ausgesagt, dass Jesus nach seiner Versuchung durch den Teufel (Lk 4,1-13) in der „Kraft des Geistes“ wieder nach Galiläa kam (ἐν τῇ δυνάμει τοῦ πνεύματος Lk 4,14). Der Heilige Geist als eine Verheißung Gottes (Lk 24,49) kennt der intendierte Rezipient aus Lk 11,13, wo explizit davon die Rede ist (ὁ πατὴρ ἐξ οὐρανοῦ δώσει πνεῦμα ἅγιον). Möglicherweise stellt der intendierte Rezipient an dieser Stelle auch eine Ver‐ bindung zu Joel 3,1-2 her, wo von der verheißenen Ausgießung des Geistes über alles Fleisch durch Gott die Rede ist. 376 Indem der Auferstandene in Lk 24,49 den Heiligen Geist als „Kraft aus der Höhe“ (ἐξ ὕψους δύναμιν) umschreibt, macht er dabei zugleich deutlich, wie der Heilige Geist für den intendierten Rezipienten inhaltlich zu fassen ist. Er ist eine Kraft, die die Jünger wortwörtlich bekleiden wird (ἐνδύειν τὴν δύναμιν). 377 Sie werden also vom Auferstandenen mit dem Beistand und der Kraft des Geistes ausge‐ stattet und gestärkt werden, um ihren Verkündigungsauftrag (Lk 24,47) aus‐ führen zu können. Der Geist wird somit anstelle des Auferstandenen bei den Menschen auf der Erde sein, während sich der Auferstandene im Himmel be‐ findet. Die Verkündigung soll in Jerusalem ihren Anfang nehmen (vgl. Lk 24,47); zugleich sollen die Jünger in Jerusalem auf das Senden des Geistes durch den 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 158 <?page no="159"?> 378 Vgl. Wiefel, Lukas, 417: „Für diesen von jetzt an zu erfüllenden Auftrag werden sie ausgerüstet.“ 379 Klein, Lukasevangelium, 739. 380 Eckey, Lukasevangelium II, 992. 381 „Die Jünger sind demnach […] bei der Ausführung des Auftrags nicht allein“, Kremer, Osterevangelien, 145. 382 Vgl. hierzu auch Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 116: „Er selbst kann daher nicht mehr bei ihnen sein, aber er verheißt seinen Anhängern, ihnen den Heiligen Geist zu senden. Dies zeigt, wie sorgfältig Lukas die Rolle des Heiligen Geistes als Vertreter Jesu […] einführt.“ 383 Vgl. Gen 1,28 Gott segnet Adam und Eva; Gen 9,1 Gott Noah und seine Familie nach der Sintflut; Gen 12,1-3 Gott segnet Abraham und seine Nachkommen bei ihrem Auf‐ bruch. 384 Vgl. Dtn 33 Moses letzte Segnung der Stämme Israels. 385 Zum Segensmotiv im Alten Testament und im Lukasevangelium vgl. auch Zimmerling, Ein Abschied mit Konsequenzen, 270-272. 386 Bovon, Lukas IV, 616. Auferstandenen warten (vgl. Lk 24,49). Es besteht somit ein eindeutiger Zusam‐ menhang zwischen dem Auftrag an die Jünger und dem Senden des Heiligen Geistes. 378 Dabei werden „Beauftragung und Geistverleihung […] zeitlich aus‐ einandergehalten, aber sachlich einander zugeordnet.“ 379 Die Medium-Form ἐνδύσησθε in Lk 24,49 ist durch das verstärkende ἐγώ zu Beginn des Satzes eindeutig dem Auferstandenen und nicht Gott zuzuordnen. Damit wird für den intendierten Rezipienten insgesamt deutlich, dass der Auf‐ erstandene der Übermittler des Heiligen Geistes ist. Zwar ist der Heilige Geist immer noch Verheißung und damit „Gabe des Vaters (11,13)“ 380 , aber der Auf‐ erstandene ist es, der ihn letztlich den Jüngern sendet. Insgesamt ergibt sich in Lk 24,47-49 ein Bild vom Auferstandenen, der Vor‐ kehrungen für die Situation nach seiner Himmelfahrt trifft, sich um seine Jünger sorgt 381 und der sich eindeutig als Geistträger und Übermittler des Geistes prä‐ sentiert. Der Geist wird damit zu einer Art Stellvertreter Jesu in der Zeit nach seiner Himmelfahrt. 382 Die letzte Handlung des Auferstandenen besteht in Lk 24,50-51 darin, dass er seine Jünger hinaus bis nach Bethanien führt, seine Hände hebt und sie segnet (Lk 24,50). Während des Segnens scheidet er von ihnen und wird in den Himmel emporgehoben (Lk 24,51). Sehr wahrscheinlich ist dem intendierten Rezipienten das Segens-Motiv aus den Schriften des Alten Testaments, v. a. aus dem Buch Genesis 383 und Deuteronomium 384 , bekannt. 385 Der Segen ist eine vertraute und „uralte Geste“ 386 . Aus dem Lukasevange‐ lium kennt der intendierte Rezipient den Segen nur aus Lk 2,34, der Segnung der Eltern Jesu durch Simeon. Auffällig ist, dass an keiner Stelle im Lukasevangelium - außer in Lk 24,50-51 - Jesus die Menschen segnet. Dadurch wird sein Segnen der Jünger als 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 159 <?page no="160"?> 387 Kremer sieht in dem Segens-Motiv eine Rückbindung an den irdischen Jesus, vgl. Kremer, Osterevangelien, 146: „Jesus wird ganz irdisch gezeichnet.“ Da aber nirgends im Lukasevangelium davon die Rede ist, dass der irdische Jesus Menschen segnet, kann das Segens-Motiv des Auferstandenen in Lk 24,50-51 nicht an das Handeln des Irdi‐ schen anknüpfen. Der Segen ist somit nur dem Auferstandenen vorbehalten. 388 Lohfink, Himmelfahrt, 169. 389 Bovon, Lukas IV, 617. 390 Vgl. hierzu auch Kremer, Osterevangelien, 146; sowie Dillman / Paz, Lukas-Evangelium, 431: „die Macht seines Segens ist die bleibende Verbindung zwischen ihm, der jetzt im Himmel ist, und den Jüngern auf der Erde.“ 391 Die passive Form ἀνεφέρετο weist aufgrund des erzählerischen Kontextes und der Er‐ wähnung des „Himmels“ eindeutig auf Gott als Akteur hin, so auch Eckey, Lukasevan‐ gelium II, 993: „Gott hat den Auferstandenen den Jüngern entzogen und in sein ewiges Leben aufgenommen.“ 392 Zum göttlichen Status des Auferstandenen vgl. Klumbies, Himmelfahrt, 194. 393 Dabei schildert der Erzähler die Himmelfahrt des Auferstandenen „knapp und zurück‐ haltend - sachlich, ohne jede Ausschmückung“, Zimmerling, Ein Abschied mit Konse‐ quenzen, 269. 394 Klumbies, Himmelfahrt, 185. 395 So auch Korn, Geschichte Jesu, 168: „Die Himmelfahrt demonstriert damit die Erhöhung Jesu, die aber schon bei den Auferstehungserscheinungen vorausgesetzt ist.“ Wolter spricht an dieser Stelle von einer „himmlische[n] Hoheitsstellung“ Jesu, vgl. Wolter, Wir aber hatten gehofft, 31. letzte Abschiedshandlung bei seiner Himmelfahrt besonders bedeutsam. 387 Der Er‐ zähler hat „dem am Ende seines Evangeliums stehenden Schlußsegen Jesu eine lite‐ rarisch besonders hervorgehobene Stellung gegeben.“ 388 Der Auferstandene hebt beim Segen die Hände (Lk 24,50), wodurch zum Aus‐ druck kommt, dass „die Segnung mehr als ein Wort [ist]. Sie ist eine wirkungs‐ volle Geste, eine performative Handlung, die Wohlwollen und Schutz von Seiten Gottes kommuniziert und im Augenblick des Weggangs oder der Trennung Kontinuität und Treue zusichert.“ 389 Die Segnung der Jünger drückt damit zu‐ gleich die Fürsorge des Auferstandenen für seine Jünger aus. 390 Das Verschwinden des Auferstandenen wird in Lk 24,51 in doppelter Weise geschildert. Zum einen wird berichtet, dass er während der Segnung von ihnen scheidet (καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εὐλογεῖν αὐτὸν αὐτοὺς διέστη ἀπ΄ αὐτῶν). Zum anderen wird geschildert, wie er in den Himmel emporgehoben wird 391 (καὶ ἀνεφέρετο εἰς τὸν οὐρανόν). Sowohl durch sein Verschwinden als auch durch die Nennung des Himmels als Zielort seines Verschwindens wird die Unver‐ fügbarkeit und Göttlichkeit 392 des Auferstandenen hervorgehoben. 393 Er ist nicht länger Teil der irdischen Welt, sondern hat seinen Platz im Himmel (vgl. Lk 22,69). Insgesamt werden durch Lk 24,50-51 die „hoheitlichen Züge“ 394 des Auf‐ erstandenen betont. 395 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 160 <?page no="161"?> 396 Lk 24,17.19.25.26.36.38.39a.39b.39c.41.44a.44b.46.47a.47b.48.49a.49b. 397 Lk 24,17.19.26.38.41. Im Hinblick auf den Redeanteil der Figur des Auferstandenen im Erzählab‐ schnitt Lk 24,1-53 sind einige generelle Aspekte festzuhalten: Zum einen ist der Redeanteil des Auferstandenen außergewöhnlich hoch. Denn ab Lk 24,15 - wenn der Auferstandene in die Handlung eingeführt wird - lassen sich 18 Ein‐ zelaussagen 396 des Auferstandenen ausmachen (vier davon in der Emmaus-Ge‐ schichte Lk 24,15-35 und 14 im Erzählabschnitt Lk 24,36-53). Damit kommt ihm im gesamten Erzählabschnitt Lk 24,1-53 im Vergleich zu den anderen Figuren mit Abstand der höchste Redeanteil zu. Zum anderen fällt auf, dass von den 18 vom Auferstandenen getätigten Aussagen fünf 397 als (z. T. rhetorische) Fragen formuliert sind, d. h. im Durchschnitt ist mehr als jede vierte Aussage des Auf‐ erstandenen eine Frage. Diese Fakten unterstreichen einmal mehr, was sich be‐ reits aus der bisherigen Selbstcharakterisierung seiner Figur ergeben hat: Der Auferstandene zeigt insgesamt große Anteilnahme an den Menschen, begibt sich mit ihnen in Kommunikation und begegnet ihnen in der Rolle des Herme‐ neuten und Seelsorgers. Aus der durchgeführten Analyse zur Selbstcharakterisierung des Auferstan‐ denen in Lk 24,1-53 ergeben sich insgesamt die folgenden sechs Aspekte: 1. Der Auferstandene wird sehr nah an den Menschen gezeichnet. Er kümmert sich um sie, fragt sie, lässt sie erzählen, erklärt und verdeutlicht ihnen Sachver‐ halte. Er will, dass die Menschen von sich aus verstehen und zeigt damit ein echtes Interesse an ihnen. Dabei kommen nicht die Menschen zu ihm, sondern er kommt zu den Menschen in ihren Alltag und mitten in ihre Mitte hinein. Diese Nähe zu den Menschen wird v. a. in der Emmaus-Perikope sichtbar, aber auch in der Begegnung mit den Jüngern sowie in seiner letzten Rede und seiner letzten Segenshandlung. 2. Gleichzeitig wird der Auferstandene aber auch als unverfügbar, nicht mehr Teil der irdischen Welt, göttlich und erhöht charakterisiert. Dies wird v. a. durch sein plötzliches Erscheinen und Verschwinden, durch die Formulierung „als ich noch bei euch war“ (Lk 24,44a), aber auch - und vor allem - durch seine Him‐ melfahrt deutlich. Der Auferstandene, der zwar eine große Nähe zu den Men‐ schen aufweist, steht gleichzeitig in einer Distanz zu ihnen. 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 161 <?page no="162"?> 3.2.3 3. Der Auferstandene wird in Lk 24,1-53 in Kontinuität zum Irdischen ge‐ zeichnet. Dies wird u. a. durch den Hinweis auf seinen menschlichen Körper, durch das ausdrückliche ἐγώ εἰμι αὐτός in Lk 24,39, durch die Mahlgemeinschaft mit den Emmaus-Jüngern, durch den Verkündigungsauftrag an die Jünger und die Abgrenzung von einer reinen „Geistexistenz“ deutlich. 4. Zudem wird der Auferstandene durch seine Selbstcharakterisierung in zwei verschiedene Verhältnissen zur Schrift gesetzt: Einerseits ist der Auferstandene Gegenstand der Schrift, andererseits ist er Ausleger, Schlüssel und damit Her‐ meneut der Schrift. Vor allem in seiner Funktion als Hermeneut erhält er in Lk 24,1-53 eine große Bedeutung: Er legt sowohl den Emmaus-Jüngern als auch seinen elf Jüngern die Schriften des Alten Testaments aus, öffnet für sie ihren Sinn und schafft somit die Grundlage für die Erkenntnis des Auferstandenen und damit für den Osterglauben. 5. Der Auferstandene bezeichnet sich selbst als Χριστός und schreibt sich - wenn auch indirekt - die Rolle des Befreiers Israels zu. 6. Darüber hinaus wird der Auferstandene als Übermittler des Geistes darge‐ stellt. Er ist es - und nicht Gott der Vater - der den Jüngern den Heiligen Geist senden und sie damit bekleiden wird. Gleichzeitig wird der Auferstandene durch den Geist nach seiner Himmelfahrt vertreten. Figur und Figuren Im folgenden Kapitel wird das Verhältnis des Auferstandenen zu den anderen Figuren innerhalb der Erzählung genauer untersucht, denn die Beziehung des Auferstandenen zu anderen Figuren sagt immer auch etwas über den Aufer‐ standenen selbst aus. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Figuren, die im Text lediglich als von anderen Figuren besprochene Figuren auftauchen, und den handelnden Figuren. Es wird daher das Verhältnis des Auferstandenen 1. zu den Frauen; 2. zu den Engeln; 3. zu den Emmaus-Jüngern 4. zu den elf Jüngern; 6. zu Petrus im Besonderen behandelt. Anschließend folgt die Untersuchung der Be‐ ziehung des Auferstandenen zu den besprochenen Figuren (Gott, alle Völker, und die Jüdischen Autoritäten). 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 162 <?page no="163"?> 398 Der intendierte Rezipient kennt diese Frauen aus Lk 8,2-3 und weiß, dass sie zu den Jüngern Jesu zählen, vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 764. Zur ausführlichen Erläu‐ terung der einzelnen Frauennamen in Lk 24,10 vgl. Bovon, Lukas IV, 529. 399 „Sie haben die Salben zum Einbalsamieren mit. Es ist der letzte Gang zur Ehrung eines Toten“, Klein, Lukasevangelium, 721. 400 Unsicher ist, ob in der Formulierung in Lk 23,49 πάντες οἱ γνωστοὶ αὐτῷ auch die elf Jünger eingeschlossen sind, sie damit genau wie die Frauen Zeugen seiner Kreuzigung werden. Wolter hält dies für „nicht undenkbar“, Wolter, Lukasevangelium, 764; so auch Eckey, Lukasevangelium II, 957; Klein, Lukasevangelium, 715. Anders als die Frauen werden die elf Jünger in Lk 23,49 jedoch nicht gesondert aufgeführt, was ungewöhnlich erscheinen mag. Da aber an keiner Stelle im Lukasevangelium davon die Rede ist, dass die elf Jünger Jesus vor seiner Verurteilung und Kreuzigung verlassen, ist es m. E. sehr wahrscheinlich, dass unter der Formulierung πάντες οἱ γνωστοὶ αὐτῷ letztlich auch die elf Jünger zu fassen sind. Bei der Grablegung Jesu werden sie jedoch - im Gegensatz zu den Frauen - nicht mehr genannt. 401 Bovon, Lukas IV, 524. 402 Crimella, Transformation of Characters, 178. 1 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den Frauen Mit der Figurengruppe der Frauen, die in Lk 24,10 näher beschrieben werden als „Maria Magdalena, Johanna, Maria des Jakobus und die übrigen“ 398 , beginnt die Erzählung in Lk 24,1. Sie kommen am ersten Tag der Woche in der Morgen‐ dämmerung mit wohlriechenden Ölen zum Grab Jesu. 399 Der intendierte Rezipient kennt die Gruppe der Frauen bereits aus dem vorherigen Kapitel Lk 23. Hier sind sie es, die Jesus aus Galiläa gefolgt sind und bei seiner Kreu‐ zigung von ferne zusehen und ihn so in seiner Todesstunde nicht im Stich lassen (Lk 23,49). Auch bei seiner Grablegung sind es die Frauen (und nicht die Jünger), die anwesend sind und zuschauen (Lk 23,55). Nach der Grablegung kehren sie um, um wohlriechende Öle für die Einbalsamierung seines Leichnams vorzubereiten (Lk 23,56). Dem intendierten Rezipienten bietet sich somit das Bild von den Frauen als treuen Nachfolgerinnen und Anhängerinnen Jesu, die ihn (im Gegensatz zu den Jün‐ gern 400 ) sogar bis zu seiner Grablegung begleiten und auch nach seiner Verurteilung und Verspottung zu ihm stehen. Wenn die Frauen nun in Lk 24,1 frühmorgens zum Grab Jesu gehen, um seinen Leichnam zu salben und ihm so die letzte Ehre zu erweisen, dann wird das Bild des intendierten Rezipienten von den Frauen als treuen Anhängerinnen und „Jesu Freundinnen“ 401 noch bestärkt. Obwohl die Frauen als treue Anhängerinnen Jesu dargestellt werden, sind sie ratlos und verstehen nicht, wieso Jesu Leichnam nicht mehr im Grab liegt. „However, seeing the empty tomb does not awaken faith but only perplexity.“ 402 Sie erinnern sich nicht an die Ankündigungen Jesu von seiner Auferstehung (Lk 24,6-7); erst nach dem Hinweis durch die Engel erinnern sie sich (Lk 24,8). 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 163 <?page no="164"?> 403 Der Erzähler verzichtet an dieser Stelle auf eine konkrete Schilderung dessen, was die Frauen den Jüngern erzählen. Er nennt ihre Botschaft nur zusammenfassend ταῦτα πάντα (Lk 24,9). Aufgrund des Kontextes kann aber angenommen werden, dass die Frauen alle Geschehnisse (inklusive der Worte der Engel über den Auferstandenen) den Jüngern mitteilen. Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 772: „ταῦτα πάντα bezeichnet alles, was Lukas in V.1-8 erzählt hat.“ 404 Die Frauen erhalten keinen Auftrag an die Jünger, der für den weiteren Erzählverlauf von Bedeutung wäre. Die Reaktion der Jünger auf ihre Nachricht ist Unglaube (Lk 24,11). Der Figurengruppe der Frauen kommt damit in Lk 24,1-53 keine tragende Rolle zu. 405 „Er identifiziert die beiden Männer hier zwar nicht expressis verbis, aber doch durch ihr strahlendes Gewand als Engel“, Wolter, Lukasevangelium, 771; vgl. auch Dill‐ mann / Paz, Lukas-Evangelium, 417. 406 Bereits in Lk 2,9 wird die Ankunft des Engels mit der Verbform ἐπέστη beschrieben (vgl. Lk 24,4 ἐπέστησαν). Die Frauen fungieren in Lk 24,10 zudem als Botinnen. Ohne dass es ihnen von den Engeln aufgetragen wurde, gehen sie zu den Jüngern und berichten ihnen von den Geschehnissen am Grab und der Auferstehung Jesu. 403 Die Jünger glauben den Frauen jedoch nicht und halten ihre Aussagen für Geschwätz (Lk 24,11). Damit sind die Frauen einerseits zwar die ersten Botinnen der Auferste‐ hung Jesu, andererseits haben sie und ihre Botschaft für den weiteren Erzähl‐ verlauf keinerlei Bedeutung, denn auch ohne ihre Botschaft an die Jünger (Lk 24,10) ist die Erzählung in sich stimmig. 404 Im Gegensatz zu Petrus, den Emmaus-Jüngern und den elf Jüngern begegnet der Auferstandene den Frauen nicht, obwohl sie in Lk 23 und Lk 24 als treueste Nachfolgerinnen Jesu gezeichnet werden. Warum er ihnen nicht erscheint, kann nicht geklärt werden. Die Frauen stehen zwar in einer engen Beziehung zu Jesus (vgl. Lk 8,2-3), spielen aber in Lk 24 eine eher untergeordnete Rolle. Der Auferstandene besitzt mit der Figurengruppe der Frauen treue Anhän‐ gerinnen und Freundinnen, ist jedoch selbst für sie keine Selbstverständlichkeit, mit der sie gerechnet und auf die sie gewartet haben. 2 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den Engeln Die beiden Männer in hellschimmernden Kleidern werden in Lk 24,4 zwar nicht als „Engel“ bezeichnet, können aber durch ihr Auftreten für den intendierten Rezipienten als Engel identifiziert werden. 405 Erst in Lk 24,23 werden sie aus‐ drücklich „Engel“ (ἄγγελοι) genannt. Sie treten in Lk 24,4 an das Grab zu den ratlosen Frauen heran, ohne dass ihr Erscheinen dabei dramatisch und auf‐ wendig angekündigt oder beschrieben wird. 406 Woher die beiden Engel kommen, lässt der Text offen. Sie erinnern die Frauen an die Ankündigungen des Irdi‐ schen, dass er am dritten Tage auferstehen wird (Lk 24,6-7). 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 164 <?page no="165"?> 407 In Lk 24,44-46 ist es der Auferstandene selbst, der die Jünger an seine Aussagen als Irdischer und an seinen (in den Schriften) vorgezeichneten Weg erinnert. 408 Vgl. hierzu das Kapitel Fremdcharakterisierung. 409 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 730: „Er war ein Mann, ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem Volk. Das ist die Zusammenfassung der Tätigkeit Jesu in Wort und Wunder.“ Vgl. auch Bovon, Lukas IV, 559: „[…], das ist in Kürze, was der Evangelist bis zum Passionsbericht erzählt hat.“ 410 „Diese Verankerung des Geschicks Jesu im Zeugnis der gesamten Schrift, die es allererst möglich macht, mit Bezug auf Leiden und Auferstehung des Messias von einem 'musste' zu sprechen, erlaubt es darum, die defizitäre Christologie der beiden Jünger als eine defizitäre Deutung der Schrift zu charakterisieren“, Wolter, Wir aber hatten gehofft, 29. Dadurch, dass die Engel die Frauen an Aussagen des Irdischen erinnern und ihnen damit die Botschaft von Jesu Auferstehung überbringen, handeln sie ge‐ wissermaßen im Sinne des Auferstandenen. Nicht der Auferstandene selbst, sondern die beiden Engel klären die Frauen (an seiner Stelle) über die neue Si‐ tuation und den bereits angekündigten Weg Jesu auf. 407 Die Figur des Auferstandenen besitzt somit in den beiden Engeln zwei gött‐ liche Repräsentanten, die über seinen Weg Bescheid wissen und in seinem Sinne handeln. Dadurch wird zugleich auch die Göttlichkeit des Auferstandenen be‐ tont. Wichtig im Hinblick auf das Verhältnis der Engel zum Auferstandenen ist vor allem ihre Bezeichnung des Auferstandenen als „der Lebende“ (Lk 24,5). 408 3 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den Emmaus-Jüngern Da die Äußerungen der Emmaus-Jünger über den Auferstandenen (und den Ir‐ dischen) sowie das Sprechen und Handeln des Auferstandenen ihnen gegenüber bereits ausführlich in den vorangehenden Kapiteln Fremdcharakterisierung und Selbstcharakterisierung thematisiert worden sind, soll hier nur grundsätzlich etwas über ihr Verhältnis ausgesagt werden. Die Emmaus-Jünger kannten sehr wahrscheinlich den irdischen Jesus, von dem sie aussagen, dass er ein ἀνὴρ προφήτης war (Lk 24,19). 409 Wie das Ver‐ hältnis der beiden Emmaus-Jünger zum irdischen Jesus im Einzelnen gewesen ist, lässt der Text aber unbeantwortet. Der Auferstandene tritt an die Emmaus-Jünger inkognito heran (Lk 24,15) und verbringt mit ihnen die Zeit bis zum Abend (vgl. Lk 24,29). Dabei legt er ihnen die Schrift aus und verdeutlicht ihnen ausführlich, wie der in den Schriften angelegte Heilsplan des Gesalbten aussieht und dass sein Leiden Teil des Plans ist (vgl. Lk 24,26-27). 410 Auf ihre Bitte hin bleibt er abends bei ihnen und wechselt sogar in die Rolle des Gastgebers, der das Brot bricht, Dank sagt und es verteilt. Erst in diesem Augenblick erkennen die beiden Emmaus-Jünger, wer die ganze 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 165 <?page no="166"?> 411 Vgl. auch Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 81: „Die Erzählung von Kleopas zeigt auch, daß die bloße Nachricht von der Auferstehung nach Lukas’ Meinung nicht genügt.“ 412 Wolter, Wir aber hatten gehofft, 29. 413 Wolter, Wir aber hatten gehofft, 29. 414 Wolter sieht dagegen als Fokus der Emmaus-Perikope eine Art christologische Diskus‐ sion zwischen den Emmaus-Jüngern und dem Auferstandenen. Seiner Ansicht nach dienen die Emmaus-Jünger als Negativ-Folie, vor der sich die wahre Christologie des Auferstandenen abzeichnet, vgl. Wolter, Israel, 28-30. Auch Maxey betont in seinem Aufsatz die „falschen“ Ansichten der Emmaus-Jünger, die im Anschluss von Jesus kor‐ rigiert werden, vgl. Maxey, Road to Emmaus, 115-123. M. E. legt der Text jedoch den Schwerpunkt nicht so sehr auf eine negative Charakterisierung der Emmaus-Jünger als „Ironieopfer“ (Wolter, Wir aber hatten gehofft, 26) und ihrer vermeintlich falschen Christologie. Vielmehr zielt der Text m. E. auf das Öffnen der Augen der Emmaus-Jünger in Lk 24,31 und der Antwort auf die Frage (v. a. im Hinblick auf den intendierten Re‐ zipienten) wie es bei ihnen zur Erkenntnis und zum Osterglauben kommt. 415 Wiefel, Lukas, 410. Zeit mit ihnen gelaufen ist (Lk 24,31-32). Dabei ist die Beziehung des Aufer‐ standenen zu den Emmaus-Jüngern insgesamt geprägt durch eine große Nähe des Auferstandenen zu den Emmaus-Jüngern, gleichzeitig aber auch durch eine gewisse Distanz (durch das Nicht-Erkennen der Emmaus-Jünger und das Ver‐ schwinden des Auferstandenen). Vor allem aber zeigt sich durch das Verhältnis der Emmaus-Jünger zum Auf‐ erstandenen, wie der Auferstandene erkennbar wird und wie diese Erkenntnis entsteht. Ihre Erkenntnis (das Öffnen der Augen in Lk 24,31) stellt sich erst nach dem Auslegen der Schriften durch den Auferstandenen (Lk 24,27) und nach dem gemeinsamen Mahl (Lk 24,30) ein. 411 M. E. verwendet der Text die beiden Em‐ maus-Jünger nicht bloß, um an ihnen zu zeigen, wie ihre „defizitäre Christo‐ logie“ 412 durch den „christologische[n] Gegenentwurf des lukanischen Jesus“ 413 widerlegt wird, sondern vor allem, wie die beiden Jünger zur Erkenntnis und damit letztlich zum Osterglauben gelangen, nämlich durch den Auferstandenen selbst. 414 Durch die Beziehung des Auferstandenen zu den beiden Emmaus-Jüngern wird somit einerseits sichtbar, dass sich der Auferstandene nicht hoheitsvoll und fern von den Menschen gibt, sondern dass er mitten unter die Menschen kommt, „die Seinen unerkannt auf ihrem Wege“ 415 begleitet, etwas von ihren Sorgen und von ihrem Denken wissen will und sich Zeit für sie nimmt. Andererseits wird durch ihr Verhältnis deutlich, dass der Auferstandene dabei für sie stets unver‐ fügbar bleibt. 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 166 <?page no="167"?> 416 Vgl. Lk 9,22 und Lk 18,32-33. 417 Crimella, Transformation of Characters, 181-182. 418 „Nevertheless, the full recognition of Jesus only comes in the final scene”, Crimella, Transformation of Characters in Lk 24, 182. Vgl. Hierzu auch Kremer, Osterevangelien, 147: „Angesichts der Himmelfahrt und wohl vor allem unter dem Eindruck der vor‐ hergehenden Offenbarung erkennen sie Jesu göttliche Majestät.” 4 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den elf Jüngern Durch das Verhältnis des Auferstandenen zu seinen elf Jüngern in Lk 24 macht der Text sichtbar, wie auch bei ihnen der Osterglaube entsteht und dass es sich dabei nicht um einen reinen Faktenglauben handelt. Dabei stellt sich ihre Er‐ kenntnis als langer Prozess dar, der erst in Lk 24,52 zum Ziel kommt. Der Auferstandene zeigt Interesse an seinen Jüngern und ihm ist an ihrem Verständnis seines Weges gelegen. Diese Haltung ihnen gegenüber kommt in Lk 24,36-50 deutlich zum Ausdruck: Der Auferstandene erscheint mitten unter den Jüngern (Lk 24,36), fragt sie nach ihrer Reaktion (Lk 24,38), fordert sie auf, ihn zu berühren (Lk 24,39-40), überzeugt sie durch das Essen eines Fisches von seiner (leiblichen) Existenz (Lk 24,43), erinnert sie an vorherige Ankündigungen (Lk 24,44), erklärt ihnen die Schrift und seinen in ihr angelegten Weg (Lk 24,45- 46), fordert sie auf zur Verkündigung unter allen Völkern (Lk 24,47), ernennt sie als Zeugen (Lk 24,48), verspricht ihnen, den Heiligen Geist als Beistand zu schi‐ cken (Lk 24,49) und segnet sie (Lk 24,50). Die vollständige Erkenntnis des Auferstandenen und der Glaube an seine Auferstehung setzen jedoch bei den Jüngern nicht sofort ein. Zunächst glauben sie den Frauen, die von der Auferstehung Jesu berichten, nicht (Lk 24,11), ob‐ wohl sie eigentlich aufgrund der Ankündigungen des Auferstandenen mit der Auferstehung rechnen müssten. 416 Auch nachdem der Auferstandene Petrus er‐ scheint, zweifeln die Jünger noch immer an seiner Existenz, als der Auferstan‐ dene plötzlich in ihre Mitte tritt (Lk 24,36). Sogar die Aufforderung des Aufer‐ standenen, ihn zu berühren, kann die Jünger nicht endgültig überzeugen (Lk 24,41). „[T]he reaction of his disciples (all of them including Peter) is again that of frightened astonishment, of doubt, of perplexity“ 417 . Erst nachdem der Auf‐ erstandene ihnen die Schrift und seinen Weg erläutert, sie segnet und dabei in den Himmel emporgehoben wird, zeigen die Jünger die „angemessene“ Reaktion ihm gegenüber: sie fallen vor ihm nieder (Lk 24,52). 418 Die Jünger stehen somit in Lk 24 in einer „Spannung zwischen dem Glauben und der Glaubensverwei‐ 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 167 <?page no="168"?> 419 Bovon, Lukas IV, 587. 420 „When the risen Jesus leads his disciples to Bethany, the darkness of doubt as to his identity is dispelled: this is the third stage. Jesus has opened their minds to understan‐ ding the Scriptures and thus to the interpretation of the past, the present, and the future”, Crimella, Transformation of Characters, 177. 421 Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 429. 422 Dagegen ist Böttrich der Meinung, dass der Osterglaube „im gemeinsamen Austausch über die persönlichen Erfahrungen“ entsteht, vgl. Böttrich, Petrus, 132. Jedoch findet bereits in Lk 24,10 und Lk 24,33-35 ein Austausch der Jünger mit den Frauen und den Emmaus-Jüngern über persönliche Erfahrungen in Bezug auf den Auferstandenen statt, ohne dass bei den Jüngern in irgendeiner Weise der Osterglaube entsteht. Denn als der Auferstandene ihnen erscheint, zweifeln sie an ihm (vgl. Lk 24,37). 423 Petrus weiß von der Auferstehung Jesu durch die Ankündigungen des Irdischen (Lk 9,22; 18,32-33). Darüber hinaus wird er von den Frauen, die „all dies“ verkündigen (Lk 24,10), nochmals an die Auferstehungsankündigung des Irdischen erinnert, die sich nun bewahrheitet haben soll. Zusätzlich findet Petrus das Grab leer vor (Lk 24,12). Die Petrus-Figur besitzt demnach die meisten „Fakten“ über die Auferstehung, kommt je‐ doch durch sie allein nicht zur Erkenntnis (vgl. Lk 24,12 καὶ ἀπῆλθεν πρὸς ἑαυτὸν θαυμάζων τὸ γεγονός). gerung“ 419 , die jedoch ganz am Ende in Lk 24,52 zugunsten des Glaubens auf‐ gelöst wird. 420 Durch die Beziehung des Auferstandenen zu seinen Jüngern kommt somit insgesamt zum Ausdruck, dass der Auferstandene selbst bei seinen engsten Ver‐ trauten eine umstrittene Figur ist. Er „entzieht sich physikalisch-biologischer Nachweisbarkeit“ 421 und kann nicht mit dem bloßen Wissen und dem Verstand erfasst und erkannt werden. Die vollständige Erkenntnis setzt erst durch die Präsenz des Auferstandenen und das Auslegen der in seinem Sinne verstan‐ denen Schriften (vgl. Lk 24,44-45) ein (vgl. Lk 24,52). 422 Der Osterglaube ist damit kein Faktenglauben. 5 Das Verhältnis des Auferstandenen zu Petrus im Besonderen Anders als die anderen zehn Jünger lässt Petrus die Botschaft der Frauen nicht gänzlich kalt (vgl. Lk 24,11 „diese Worte erschienen vor ihren Augen wie Ge‐ schwätz“), sondern macht ihn neugierig. Er läuft in Lk 24,12 nach der Botschaft der Frauen zum Grab Jesu, schaut hinein, sieht nur die Leinenbinden und wun‐ dert sich darüber (θαυμάζων τὸ γεγονός). Er will sich selbst von der Botschaft der Frauen überzeugen, versteht jedoch trotz des leeren Grabes und der Aufer‐ stehungsbotschaft der Frauen (Lk 24,10) nicht, dass Jesus (wie er ihnen ange‐ kündigt hat) auferstanden ist. Trotz der eindeutigen Faktenlage 423 findet er nicht zum Glauben an die Auferstehung Jesu, wodurch für den intendierten Rezip‐ ienten ganz deutlich wird, dass der Glaube an den Auferstandenen nicht durch 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 168 <?page no="169"?> 424 Böttrich versteht die Notiz über die Erscheinung des Auferstandenen vor Petrus in Lk 24,34 als der Emmaus-Geschichte vorgelagert und geht so davon aus, dass der Text bewusst Petrus als den ersten Osterzeugen darstellt, vgl. Böttrich, Petrus, 133. Wolter macht hingegen deutlich, dass rein vom Erzählverlauf die Emmaus-Jünger die ersten sind, von denen eine Begegnung mit dem Auferstandenen geschildert wird. Zugleich weist er aber auch darauf hin, dass die Notiz in Lk 24,34 „unbestimmt genug [ist], um den Lesern die Vorstellung zu ermöglichen, dass Jesus noch vor den Emmaus-Jüngern dem Petrus erschienen ist“, Wolter, Lukasevangelium, 786. Damit weist Wolter m. E. zu Recht auf einen grundlegenden Fakt hin: Allein vom Text kann die genaue zeitliche Reihenfolge der Erscheinungen nicht abschließend geklärt werden. Rein narrativ kann sich die Erscheinung vor Petrus zwischen V.12 und V.13 (und damit vor den Emmaus‐ jüngern) abgespielt haben oder parallel zu V.32-33 (und damit nach den Emmaus-Jün‐ gern). Die ungenaue Formulierung in Lk 24,34 lässt daher m. E. einen Bedeutungsspiel‐ raum offen. Für den Text hat die Frage nach der Ersterscheinung sehr wahrscheinlich nicht dieselbe Bedeutung wie für seine modernen Ausleger. 425 Böttrich, Petrus, 54. Vgl. hierzu auch Cullmann, Petrus, 25. 426 Zur Sonderstellung des Petrus auch im Lukasevangelium vgl. Cullmann, Petrus, 25- 34. irgendwelche Vorkenntnisse entstehen und mit dem Verstand erfasst werden kann. Auffällig ist zudem, dass in Lk 24 Petrus die einzige Figur ist, der der Aufer‐ standene allein begegnet. Sein Erscheinen vor Petrus wird jedoch nicht aus‐ führlich geschildert, sondern nur in einem Satz durch die Jünger den Em‐ maus-Jüngern berichtet (Lk 24,34). Ob diese Begegnung vor oder nach der Begegnung mit den Emmaus-Jüngern stattfindet, ob es sich bei Petrus somit um den ersten Osterzeugen handelt und ihm so eine besondere Würdigung seitens des Auferstanden zukommen würde, muss vom Text her letztlich offen bleiben. 424 Die Figur des Petrus ist dem intendierten Rezipienten aus den vorherigen Kapiteln des Lukasevangeliums gut bekannt. Jesus kommt in Lk 4,38-39 in das Haus des Petrus und heilt seine Schwiegermutter. Er gehört zu den ersten Jüngern Jesu und steht in der Erzählung vom wundersamen Fischzug (Lk 5,1-11), die „gezielt als eine Petrus‐ geschichte konzipiert ist“ 425 , eindeutig im Vordergrund. Bei der Auflistung der Jünger in Lk 6,12-16 steht Petrus an erster Stelle. Petrus ist es, der Jesus in Lk 9,20 als erster als τὸν χριστὸν τοῦ θεοῦ identifiziert. Darüber hinaus erscheint er als Sprecher und Wortführer des Jüngerkreises (so u. a. in Lk 8,45; Lk 12,41; Lk 18,28-30). 426 Vor Jesu Gefangennahme spricht Jesus Petrus gezielt an (Lk 22,31-32) und erklärt ihm, für ihn gebeten zu haben, dass sein Glaube nicht aufhöre. Daraufhin verspricht Petrus, sogar mit Jesus ins Gefängnis und in den Tod zu gehen (Lk 22,33). Jesus kündigt ihm jedoch seine dreimalige Verleugnung an (Lk 22,34), die sich in Lk 22,57-60 auch bewahr‐ heiten wird, auch wenn Petrus anschließend große Reue zeigt (Lk 22,61-62). Petrus steht somit im Lukasevangelium zwar in einem besonders engen Verhältnis zu Jesus, erschüttert dieses jedoch durch seine dreimalige Verleugnung. 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 169 <?page no="170"?> 427 Maxey, Road to Emmaus, 123. 428 Vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 772; Bovon, Lukas IV, 527. 429 „Er hat sich an ihm als Gott der Lebenden erzeigt […], ihn aus dem Todesschlaf zum ewigen Leben erweckt und aus dem Grab entrückt“, Eckey, Lukasevangelium II, 971. 430 Bovon, Lukas IV, 559. Wenn nun der Auferstandene ausgerechnet Petrus (allein) erscheint, dann wird damit für den intendierten Rezipienten erkennbar, dass der Auferstandene das vorherige enge und besondere Verhältnis zwischen Petrus und ihm nach dessen Verleugnung wieder herstellt Insgesamt wird durch die Beziehung des Auferstandenen zu Petrus im Er‐ zählabschnitt Lk 24,1-53 erkennbar, dass der Auferstandene nicht allein durch Fakten und Beweise rational verstanden und geglaubt werden kann. „Intellec‐ tual assent and understanding are insufficient to recognize what God is doing.“ 427 An Petrus wird besonders verdeutlicht, dass selbst das leere Grab nicht zum Osterglauben führt. 6 Das Verhältnis des Auferstandenen zu den besprochenen Figuren Gott In Lk 24 ist von Gott an fünf Stellen die Rede, dabei wird er zweimal nur indirekt genannt (Lk 24,6; Lk 24,51), zweimal als θεός (Lk 24,19 und Lk 24,53) und einmal als πατρός μου (Lk 24,49) bezeichnet. In Lk 24,6 ist Gott der Akteur der Passiv‐ form ἠγέρθη. 428 Jesus ist durch und von Gott auferweckt worden und hat sich nicht selbst auferweckt. 429 Diese Passiv-Form drückt so eine Abhängigkeit des Auferstandenen von Gott aus, der Jesu Auferstehung erst ermöglicht hat. Auch in Lk 24,51 ist Gott der Akteur der Himmelfahrt des Auferstandenen (ἀνεφέρετο). Daraus ergibt sich, dass Gott im Erzählabschnitt Lk 24,1-53 an zwei Stellen im Blick auf den Auferstandenen ins Geschehen eingreift: Er weckt Jesus von den Toten auf (Lk 24,6) und hebt ihn hinauf in den Himmel (Lk 24,51). Auferweckung und Himmelfahrt bilden so zwei einschneidende Ereignisse in‐ nerhalb der Erzählung, bei denen jeweils Gott agiert und die in einer gewissen Parallelität zueinander stehen. In Lk 24,19 beschreiben die Emmaus-Jünger den irdischen Jesus als einen prophetischen Mann, mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk. Der irdische Jesus lebte damit „im Angesicht Gottes“ 430 . Für das Verhältnis des Auferstandenen zu Gott ist jedoch besonders Lk 24,49 von Interesse. Denn hier verspricht der Auferstandene seinen Jüngern, das, was 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 170 <?page no="171"?> 431 Zum Verständnis der Formulierung τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πατρός μου (Lk 24,49) als „Heiliger Geist“ vgl. Bovon, Lukas IV, 595-596. 432 Eckey, Lukasevangelium II, 992. 433 Ernst, Lukas, 671. 434 „Diese im eigentlichen Sinn theo-logische Coda am Schluss der lk Jesusgeschichte kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie nicht nur mit einer summarischen Mitteilung über das Gotteslob der Jünger endet, sondern dass 'Gott' auch ihr letztes Wort ist“, Wolter, Lukasevangelium, 797. 435 So auch Strecker, Theologie, 431: „Das Verhältnis Vater-Sohn ist subordinatianisch.“ sein Vater ihm verheißen hat (den Heiligen Geist) 431 , zu ihnen zu senden. Zum einen bezeichnet der Auferstandene hier Gott ausdrücklich als πατρός μου und drückt so sein Verhältnis als sein Sohn aus. Zum anderen wird durch die Aussage des Auferstandenen deutlich, dass nicht Gott, sondern der Auferstandene den Jüngern den Heiligen Geist senden wird und dass er damit auf einer Ebene mit Gott steht. „Der Geist ist Gabe des Vaters (11,13), die Jesus übermittelt.“ 432 Der Auferstandene verfügt somit - als Geistträger - über die Fähigkeit und die „Verfügungsgewalt“ 433 , den Heiligen Geist senden zu können zu wem und wann er will, und ist darin Gott nicht unterstellt. Auffällig ist zudem, dass das Lukasevangelium in Lk 24,53 mit den Worten εὐλογοῦντες τὸν θεόν schließt. Mit dem fortdauernden Gotteslob durch die Jünger im Jerusalemer Tempel endet die Erzählung. „Gott“ ist ihr letztes Wort. 434 Der Auferstandene bewirkt durch sein Handeln in Bezug auf die Jünger (vgl. Lk 24,36-51) letztlich die in Lk 24,53 beschriebene Haltung der Jünger Gott ge‐ genüber. Durch die Beziehung des Auferstandenen zu Gott können im Hinblick auf die Charakterisierung des Auferstandenen folgende Aspekte festgehalten werden: Der Auferstandene ist der Sohn Gottes und befindet sich durch seine Sohnschaft und seine Auferweckung durch Gott in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm. 435 Zugleich wird aber auch deutlich, dass der Auferstandene durch seine Funktion als Geistträger und Geist-Sender letztlich auf derselben Ebene mit Gott steht. Auferweckung und Himmelfahrt (durch Gott als Akteur) sind dabei für den Auferstandenen die beiden zentralen Ereignisse innerhalb von Lk 24,1-53. Alle Völker Die Bezeichnung πάντα τὰ ἔθνη findet sich in Lk 24,47 im Kontext der den Jün‐ gern vom Auferstandenen aufgetragenen Verkündigung. Die Jünger sollen in seinem Namen Buße zur Sündenvergebung unter allen Völkern predigen, wobei sie in Jerusalem anfangen sollen. Die unbestimmte Figurengruppe der „Völker“ erhält durch den Zusatz „alle“ eine universale Reichweite, die der Auferstandene für sich beansprucht. Jedoch macht der Auferstandene zugleich deutlich, dass 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 171 <?page no="172"?> 436 „Der Ausdruck ἀρξάμενοι / ον ἀπό impliziert aber, dass die Verkündigung zwar in Jerusalem beginnen, dann aber auch über die Stadt hinausgehen soll (vgl. den ent‐ sprechenden Sprachgebrauch in […] Lk 23,5; 24,27 […])“, Wolter, Lukasevangelium, 793. Schweizer ist der Ansicht, der Beginn der Mission in Jerusalem betone die „Kon‐ tinuität mit der bisherigen Geschichte Gottes“, Schweizer, Lukas, 251; vgl. auch Bovon, Lukas IV, 593: „Wie alles in Jerusalem zusammengeflossen und dort ans Ziel gekommen ist […], so wird alles in Jerusalem seinen Anfang nehmen und von dort ausgehen“. 437 Zur Übersetzung des Begriffs ὁι ἄρχοντες (Lk 24,20) vgl. Merk, Art. ἄρχων, 401-404. 438 „Die Schuld am Kreuzestod des in seinem Wirken als Prophet ausgewiesenen Mannes aus Nazareth tragen die Repräsentanten des Tempelstaates (23,13.23)“, Eckey, Lukas‐ evangelium II, 978. 439 Klein, Lukasevangelium, 730. zunächst mit der Verkündigung in Jerusalem begonnen werden und sie erst an‐ schließend unter allen Völkern ausgeweitet werden soll. 436 Dem Auferstandenen ist es vor allem wichtig, dass alle Völker umkehren (μετάνοια Lk 24,47). Jüdische Autoritäten Unter die Figurengruppe der jüdischen Autoritäten fasse ich die folgenden Fi‐ guren zusammen: Die Hohepriester und Herrscher 437 (Lk 24,20) sowie die Figu‐ rengruppe der sündhaften Menschen (Lk 24,7). Die Figurengruppe der jüdischen Autoritäten steht in Lk 24 in keiner direkten Beziehung zum Auferstandenen; der Text lässt offen, ob sie überhaupt von der Auferstehung Jesu wissen. In Lk 24,20 machen die Emmaus-Jünger deutlich, dass die Hohepriester und Herrscher die volle Verantwortung für Jesu Verurteilung und Kreuzigung tragen. 438 „Die Hochgestellten der jüdischen Religion erscheinen als die entscheidenden Feinde Jesu.“ 439 In Lk 24,7 beziehen sich die Engel in ihrer Rede an die Frauen auf die Worte des Irdischen, die er in Lk 9,22 und Lk 18,32-33 getätigt hat. Hier geht es um das Leiden des Menschensohns und seinem Verworfen-Werden von den Äl‐ testen, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten. Wenn die Engel in ihrer Paraphrase von Lk 9,22 und 18,32-33 nun von „sündhaften Menschen“ (Lk 24,7 ἀνθρώπων ἁμαρτωλῶν) sprechen, ist dies zugleich schon eine Interpretation ihrerseits, denn in Lk 9,22 handelt es sich noch um Berufs- und Ständebezeich‐ nungen ohne Wertung und in 18,32 ist lediglich von den „Völkern“ die Rede. Die Engel stellen somit in Lk 24,7 einen bewussten Gegensatz zwischen dem Men‐ schensohn und den sündhaften Menschen dar. Die Figurengruppe der jüdischen Autoritäten steht damit in Lk 24,1-53 exemplarisch für die Gegnerschaft des irdischen Jesus und bildet als Gruppe sündhafter Menschen einen Gegensatz zum Auferstandenen. Gleichzeitig sind sie dabei aber auch Teil des Heilsplans (vgl. Lk 24,7 und Lk 24,46) und leisten 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 172 <?page no="173"?> 440 Zur Bedeutung der Formulierung ὄρθου βαθέως vgl. u. a. Klein, Lukasevangelium, 721; Eckey, Lukasevangelium II, 970. 441 „Dieser Tag ist der Tag des Anfangs. Mit ihm erstrahlt ein neues Licht […].“, Dill‐ mann / Paz, Lukas-Evangelium, 416. 442 Vgl. Marshall, Luke, 886: „But whereas Mark refers forward to a meeting in Galilee, Luke looks back to what Jesus said in Galilee.” Vgl. auch Bovon, Lukas IV, 527-528: „Wie bei Markus dient Galiläa als Wendepunkt, doch während die Gegend bei Markus auf die Zukunft einer unmittelbar bevorstehenden Begegnung hin offen ist, steht sie bei Lukas als Ort prophetischen Lehrens Jesu.“ Zur Bedeutung Galiläas im Lukasevan‐ gelium vgl. auch Völkel, Art. Γαλιλαῖος, 560-561. 3.2.4 somit gewissermaßen ihren „Beitrag“ dazu, dass der in den Schriften angelegte göttliche Plan sich erfüllt und aus dem irdischen der auferstandene Jesus werden kann. Figur und Umwelt In diesem Abschnitt wird die dargestellte Umwelt der Figur des Auferstandenen näher untersucht. Dabei wird der Erzählabschnitt Lk 24,1-53 in fünf Szenen unterteilt, die jeweils v. a. im Hinblick auf genannte Orte und Zeiten analysiert werden. 1. Szene (V.1-12) Vom Grab nach Jerusalem und zum Grab zurück Die erste Zeit- und Ortsangabe des Erzählabschnitts Lk 24,1-53 findet sich in Lk 24,1. Die Frauen kommen am ersten Tag der Woche in der frühen Morgen‐ dämmerung zum Grab. Der Text datiert durch die Formulierung ὄρθου βαθέως das Gehen der Frauen zum Grab ausdrücklich auf den Sonntag‐ morgen. 440 Der Beginn der Erzählung am frühen Morgen des ersten Wochentags kann vom intendierten Rezipienten gewissermaßen als ein Neubeginn ver‐ standen werden. Die Szene beginnt dort, wo das vorherige Kapitel aufgehört hat: am Grab des gekreuzigten Jesus (vgl. Lk 23,53-55) und damit an einem Ort des Todes und der Trauer. Durch den gewählten Zeitpunkt (zu Beginn des Tages und zu Beginn der Woche) wird jedoch für den intendierten Rezipienten bereits erkennbar, dass - auch wenn die Szene am Grab beginnt - gewissermaßen ein Neuanfang in der Luft liegt. 441 In Lk 24,6 wird der Ort Galiläa genannt, jedoch nur innerhalb eines Rück‐ blicks der Engel, die die Frauen auf die Worte des irdischen Jesus in Galiläa verweisen. Damit wird der Ort Galiläa eng mit dem Wirken des irdischen Jesus verknüpft. 442 Die Engel kündigen an dieser Stelle kein Treffen mit dem Aufer‐ 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 173 <?page no="174"?> 443 Zur Bedeutung von Jerusalem und Galiläa im Lukasevangelium vgl. Lohmeyer, Galiläa und Jerusalem bei Lukas, 7-12. 444 Klein, Lukasevangelium, 724. So auch Eckey, Lukasevangelium II, 972: „Was er gesehen hat, erscheint ihm erstaunlich, ruft aber keinen Glauben hervor.“ 445 Zur Diskussion um den Ort Emmaus und seine Lage in neutestamentlicher Zeit, vgl. Riesner, Wo lag das neutestamentliche Emmaus, 201-219; vgl. auch Despotis, Emmaus, 171-172. 446 Vgl. hierzu Bovon, Lukas IV, 555-557. 447 Zwar wird in Lk 24,17 beschrieben, wie die beiden Emmaus-Jünger mit traurigem Blick stehen bleiben, jedoch kann aus der Bemerkung Καὶ ἤγγισαν εἰς τὴν κώμην (Lk 24,28) geschlossen werden, dass der Auferstandene und die Emmaus-Jünger dennoch während ihrer Unterredung (Lk 24,19-27) weitergelaufen sind. 448 Zum Weg-Motiv im Lukasevangelium vgl. auch Despotis, Emmaus, 175-176. 449 „A prevalent setting throughout Luke is the journey. Jesus teaches and proclaims his message as he travels to Jerusalem”, Maxey, Road, 113. standenen in Galiläa an und stellen Galiläa so in keinen direkten Bezug zum auferstandenen Jesus. 443 In Lk 24,9 wird berichtet, wie sich die Frauen vom Grab abwenden und zurück in die Stadt Jerusalem zu den elf Jüngern gehen. Nach V. 12 läuft Petrus zum Grab. Doch obwohl er den Leichnam Jesu nicht mehr im Grab finden kann, sondern nur noch die Leinentücher, in die sein Leichnam gelegt wurde, schließt er daraus nicht auf die Auferstehung Jesu. In Lk 24,1-12 steht daher das leere Grab nicht für die Auferstehung Jesu, denn „das leere Grab bewirkt Nachdenken, aber noch nicht Glauben.“ 444 2. Szene (V. 13-32) Zwischen Jerusalem und Emmaus Die zweite Szene spielt auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus und endet schließlich ab Lk 24,28 im Dorf Emmaus. 445 Der Auferstandene begegnet den beiden Emmaus-Jüngern auf dem Weg zwischen der Stadt Jerusalem und dem Dorf Emmaus, das etwa 11 km von Jerusalem entfernt ist. 446 Der Erzähler liefert hierfür dem intendierten Rezipienten sogar eine detaillierte Ortsangabe (Lk 24,13 ἀπέχουσαν σταδίους ἑξήκοντα ἀπὸ Ἰερουσαλήμ). Die beiden Em‐ maus-Jünger laufen (πορευόμενοι V.13) und auch der Auferstandene läuft schließlich mit ihnen (συνεπορεύετο V.15). Alle drei Figuren befinden sich somit in einem dynamischen Zustand auf einem Weg. 447 Das Weg-Motiv wird damit an dieser Stelle ganz deutlich hervorgehoben. 448 Das Motiv des Laufens (πορεύομαι) in Verbindung mit der Jesus-Figur ist dem inten‐ dierten Rezipienten aus den vorherigen Kapiteln bereits bekannt. 449 Der zwölfjährige Jesus läuft mit seinen Eltern von Nazareth nach Jerusalem (Lk 2,42). Der erwachsene Jesus läuft von Kapernaum an einen einsamen Ort (Lk 4,42). Er läuft mit den Menschen (Lk 7,6). Jesus läuft zusammen mit seinen Jüngern in eine Stadt Namens Nain (Lk 7,11). 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 174 <?page no="175"?> 450 Vgl. hierzu auch Schürmann, Lukasevangelium II, 4, der die Ansicht vertritt, das Wan‐ dern Jesu charakterisiere ihn als „Fremdling auf Erden“. 451 Durch die Formulierung εἰς πάντα τὰ ἔθνη (Lk 24,47) wird eine universale Perspektive geschaffen, die über Jerusalem und Israel weit hinausgeht, vgl. Wolter, Lukasevange‐ lium, 793. 452 Ernst, Lukas, 670; vgl. auch Diefenbach, Komposition, 134: „Im Unterschied zu den Sy‐ noptikern Markus und Matthäus spielt sich nach lukanischer Darstellungsweise das Ostergeschehen um und in Jerusalem ab. Selbst der Ortswechsel in V. 50 […] mündet letztlich in die Bemerkung von der Rückkehr der Jüngerschaft nach Jerusalem“. 453 Hartmann, Art.: Ἱεροσόλυμα, 437. Jesus läuft mit ihnen durch Samarien und Galiläa nach Jerusalem (Lk 9,57; Lk 10,38; Lk 17,11; Lk 19,28.36). Jesus selbst macht sogar deutlich, dass er laufen muss (Lk 13,33). Sein Laufen und damit sein Weg sind bereits beschlossen (Lk 22,22 ὅτι ὁ υἱὸς μὲν τοῦ ἀνθρώπου κατὰ τὸ ὡρισμένον πορεύεται). Vor seiner Gefangennahme läuft Jesus zum Ölberg (Lk 22,39). Das Motiv des Auf-dem-Weg-Seins Jesu ist somit ein Motiv, das sich durchs gesamte Lukasevangelium hindurchzieht. 450 Der Weg Jesu von Galiläa bis hin nach Jerusalem ans Kreuz ist damit der Weg, der für den Menschensohn vorgesehen ist (vgl. Lk 22,22). Wenn nun auch der Auferstandene sich wieder auf den Weg macht und mit den Menschen zusammen läuft, dann wird dadurch auch die Kontinuität des auferstandenen zum irdischen Jesus betont. Der Auferstandene ist damit nicht an bestimmte Stätten gebunden (wie z. B. Jerusalem), sondern er begegnet Menschen auf ihrem individuellen Weg, in diesem Fall ganz unspektakulär auf einer Straße hinaus in ein Dorf. In Lk 24,18 spricht Kleopas den von ihm nicht erkannten Auferstandenen auf die Ereignisse in Jerusalem an und nennt sie im Folgenden. Diese Ereignisse sind nach der Darstellung des Kleopas von großem öffentlichem Interesse (Lk 24,18- 19). Damit ist Jerusalem als der Ort des Leidens und Sterbens Jesu charakterisiert. Im Gegensatz zu Galiläa - dem Ort des Wirkens des irdischen Jesus - ist Jeru‐ salem Ort der Passion des irdischen Jesus. 3. Szene (V.33-49) In Jerusalem Die dritte Szene ist in Jerusalem angesetzt. Hier erscheint der Auferstandene seinen Jüngern (Lk 24,36). In Jerusalem hält der Auferstandene seine letzte Rede und gibt seinen Jüngern Anweisungen (Lk 24,46-49). Auffällig ist besonders, dass der Auferstandene seine Jünger dazu auffordert, mit der Verkündigung der Umkehr zur Sündenvergebung in Jerusalem zu beginnen, bevor sie die Mission auf alle Völker ausweiten (Lk 24,47). 451 Damit ist „Jerusalem […] nicht nur der Endpunkt des Weges Jesu, sondern auch der Anfang der kirchlichen Mission“ 452 . Die Stadt Jerusalem erhält dadurch eine Sonderstellung als „Zentrum der Heils‐ geschichte“. 453 Jerusalem ist damit nicht länger nur Ort der Passion des Irdischen, 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 175 <?page no="176"?> 454 Zur herausragenden Rolle der Stadt Jerusalem im Lukasevangelium vgl. auch Maxey, Road, 113. 455 Klein, Lukasevangelium, 742. Vgl. auch Bovon, Lukas IV, 615: „Bethanien (Lk 24,50) befindet sich tatsächlich am östlichen Fuß des Ölbergs“. 456 Auch in Lk 21,37 und Lk 22,39 geht Jesus hinaus an den Ölberg. Zwar wird an diesen Stellen der Ort Bethanien nicht direkt genannt, da sich Bethanien aber unmittelbar beim Ölberg befindet, kann davon ausgegangen werden, dass sich Jesus auch in Lk 22,39 und 21,37 in Bethanien oder in großer Nähe zu Bethanien aufhält. 457 Das Verb ἀναφέρω macht allein durch die voranstehende Partikel ὰνά deutlich, dass sich eine Bewegung nach oben, hinauf vollzieht, vgl. auch Bovon, Lukas IV, 618. Der Himmel befindet sich somit explizit über der Erde. sondern zugleich auch Ort der Erscheinungen des Auferstandenen und Aus‐ gangspunkt der von ihm angestoßenen weltweiten Mission. 454 4. Szene (V.50-51) In Bethanien Der Auferstandene führt in Lk 24,50 seine elf Jünger hinaus aus Jerusalem nach Bethanien. „Der Weg von Jerusalem nach Bethanien führt am Ölberg vorbei auf einen Bergrücken.“ 455 Der intendierte Rezipient kennt Bethanien bereits aus Lk 19,29. Der irdische Jesus kommt vor seinem Einzug nach Jerusalem nach Bethanien zu dem Berg, der Ölberg genannt wird. Vor seinem Einzug in Jerusalem, seinem Verrat, seiner Gefangennahme, seiner Verurteilung und seiner Kreuzigung hält er sich in Bethanien beim Ölberg auf. 456 Bethanien und der Ölberg erscheinen so als eine Art Rückzugsort des irdischen Jesus (vgl. v. a. Lk 21,37 tagsüber lehrt Jesus im Tempel, die Nacht verbringt er am Ölberg). Ausgerechnet an diesen Ort führt der Auferstandene nun seine Jünger. Seine Himmelfahrt soll nicht in Jerusalem vor den Menschenmassen, die alle von seiner Kreuzigung wissen (vgl. Lk 24,18-19), geschehen, sondern nur im Kreise seiner Jünger an einem von Jerusalem abgelegenen Ort. Auf diese Weise ist seine Himmelfahrt deutlich abgehoben von seiner Kreuzigung, die ein öffentliches Geschehen von großem Interesse darstellt, von dem sogar jeder Fremde in Je‐ rusalem gehört hat. In Lk 24,51 wird berichtet, dass der Auferstandene - noch während er seine Jünger segnet - in den Himmel hinaufgehoben wird. 457 Der Auferstandene ver‐ schwindet am Ende nicht einfach, so wie er es bereits in Lk 24,31 getan hat, sondern er wird ausdrücklich an einen anderen Ort - den Himmel - hinaufge‐ tragen. Der Himmel ist somit der finale Platz des Auferstandenen, wodurch für 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 176 <?page no="177"?> 458 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 742-743: „Anders steht es, wenn Jesus in den Himmel aufgenommen wird. Denn damit wird er vergöttlicht.“ Der Himmel wird im Lukas‐ evangelium ausdrücklich mit Gott verbunden. Gott ist der „Gott des Himmels“ (vgl. Lk 10,21). Auch die Engel haben ihren Platz im Himmel (vgl. Lk 2,15). 459 Zum Verständnis des Himmels im antiken Weltbild als das „Oben“ im Gegensatz zum „Unten“ der Welt, vgl. Schoenborn, Art. οὐρανός, 1329. 460 Diese Formulierung kann sowohl lokal (im Tempel) als auch im übertragenen Sinn (bei den Angelegenheiten meines Vaters) verstanden werden. Vgl. hierzu u. a. Klein, Lukas‐ evangelium, 155; Wolter, Lukasevangelium, 149-150. 461 Klein, Lukasevangelium, 155. den intendierten Rezipienten seine Göttlichkeit zum Ausdruck kommt. 458 Zu‐ gleich wird hierdurch aber für den intendierten Rezipienten auch eine gewisse Entfernung und Distanz des Auferstandenen zu den Menschen erkennbar, denn der Auferstandene befindet sich nun nicht mehr auf der Erde und bei den Men‐ schen, sondern im Himmel, einem besonderen und herausragenden, aber auch von der Erde abgesonderten Ort. 459 5. Szene (V.52-53) In Jerusalem Nach der Himmelfahrt des Auferstandenen wird berichtet, dass die Jünger mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehren (Lk 24,52), dem Ort, an dem die Verkündigung der Umkehr zur Vergebung der Sünden ihren Anfang nehmen soll (vgl. Lk 24,47). Der gesamte Erzählabschnitt Lk 24,1-53 schließt in V.53 mit dem Hinweis darauf, dass die Jünger allezeit im Tempel waren und Gott priesen. Der intendierte Rezipient kennt den Jerusalemer Tempel aus vielen verschiedenen Stellen im Lukasevangelium. In Lk 2,27 bringen Josef und Maria ihr Kind in den Tempel. Simeon, der auf Weisung des Geistes in den Tempel gekommen ist, nimmt das Jesuskind in die Arme und lobt ihn als Retter und als Licht, das die Völker er‐ leuchtet (Lk 2,30-32). In Lk 2,46 f hält sich Jesus als Zwölfjähriger mitten unter den Lehrern im Tempel auf, hört ihnen zu und fragt sie. Jesus selbst erklärt seine Anwe‐ senheit im Tempel damit, dass er in dem, was seines Vaters ist, sein muss (Lk 2,49 ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου δεῖ εἶναί με). 460 Der Tempel wird daher an dieser Stelle als Ort Gottes bezeichnet, denn dort wird „Gottes Sache verhandelt und sein Wort, die Schrift, studiert“ 461 . In Lk 19,45 geht Jesus in den Jerusalemer Tempel, um die Händler hinaus‐ zuwerfen; anschließend lehrt er täglich dort (Lk 19,47; Lk 20,1; Lk 21,37-38; Lk 22,53). Der irdische Jesus hat somit ein enges Verhältnis zum Jerusalemer Tempel als Ort Gottes und der Lehre seines Wortes. Wenn nun die Jünger allezeit im Jerusalemer Tempel bleiben und Gott preisen, dann setzen sie damit in gewisser Weise das fort, was der irdische Jesus getan hat. Mit dem Tempel beginnt die Geschichte Jesu (Lk 2,27) und mit dem Gotteslob der Jünger endet sie (Lk 24,53). Es schließt sich somit der Kreis. Der Auferstandene hat seine Jünger zwar nicht explizit aufgefordert, sich im Tempel aufzuhalten, hat es ihnen jedoch selbst vorgelebt (vgl. Lk 19,47; Lk 20,1; 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 177 <?page no="178"?> 462 Klein, Lukasevangelium, 743. 3.2.5 Lk 21,37-38; Lk 22,53). „Hatte der zwölfjährige Jesus gesagt, daß er dort sein muß, wo seines Vaters Sache betrieben wird (2,49), so tun es jetzt die Jünger. Ihr Platz ist im Tempel und ihr Tun ist Gotteslob.“ 462 Insgesamt ergeben sich somit durch die Analyse der Umwelt des Auferstan‐ denen die folgenden Aspekte für seine Charakterisierung 1. Das Weg-Motiv bringt zum Ausdruck, dass der Auferstandene nicht an be‐ stimmte Orte gebunden ist, sondern zu den Menschen auf ihren je eigenen (Lebens-)Weg kommt und mit ihnen geht. 2. Darüber hinaus wird die Göttlichkeit des Auferstandenen betont durch sein Hinaufgetragen-werden in den Himmel, den Machtbereich Gottes und Ort der himmlischen Figuren. Damit gehört er nun einer anderen Sphäre an und befindet sich (oben im Himmel) in einem gewissen Abstand zu den Men‐ schen (unten auf der Erde). 3. Auffällig ist auch hier, dass der Ort des leeren Grabes Jesu in keiner Weise für die Erkenntnis und den Glauben an den Auferstandenen steht. 4. Der Auferstandene steht in einem engen Verhältnis zur Stadt Jerusalem. War sie Stätte des Leidens und Todes des irdischen Jesus, so ist sie nun Ort der Erscheinung des Auferstandenen und ausdrücklich gewünschter An‐ fangsort der Mission. Zugleich kommt im Motiv des Jerusalemer Tempels auch die Bindung an den Gott Israels zum Ausdruck. Figur und Handlung In diesem Abschnitt soll die Figur des Auferstandenen innerhalb der Handlung von Lk 24,1-53 genauer untersucht werden. Es soll ermittelt werden, wie die Figur in die Handlung eingeführt wird, ob sie durchgängig die Hauptfigur ist und welche Rolle und Funktion ihr in der Handlung zukommt. Die Figur des Auferstandenen tritt erst in Lk 24,15 in die Handlung ein. In der ersten Szene (Lk 24,1-12) kommt sie lediglich als besprochene Figur in den Worten der Engel vor (Lk 24,5-8). Ihr Auftreten als handelnde Figur wird dabei nicht spektakulär ausgestaltet, es wird auch nicht in irgendeiner Art und Weise durch Naturereignisse vorbereitet, sondern die Figur des Auferstandenen nähert sich einfach den Emmaus-Jüngern auf ihrem Weg (vgl. Lk 24,15 καὶ αὐτὸς Ἰησοῦς ἐγγίσας συνεπορεύετο αὐτοῖς). Die Szene der beiden Emmaus-Jünger 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 178 <?page no="179"?> 463 Schweizer, Lukas, 246. 464 Insgesamt ergibt sich, dass die Figur des Auferstandenen in 33 von 53 Versen präsent ist, also in 62,26 % der Erzählung. 465 Vgl. Lk 24,15 Jesus nähert sich den Emmaus-Jüngern; vgl. Lk 24,36 Jesus tritt selbst mitten unter die Jünger. 466 Vgl. Lk 24,16 die Augen der Emmaus-Jünger werden gehalten, sodass sie ihn nicht er‐ kennen; vgl. Lk 24, 37 die Jünger erschrecken und meinen, sie sähen einen Geist. In Lk 24,41 sind sie immer noch ungläubig vor Freude und wundern sich. beginnt bereits in Lk 24,13. Hier befinden sich die beiden auf dem Weg nach Emmaus, wobei sie sich miteinander unterhalten. Der Auferstandene kommt in V.15 in ihre Handlung hinein, indem er sich ihnen zunächst nähert und sie dann direkt anspricht (Lk 24,17). So „fügt Jesus sich in ihre Gemeinschaft ein.“ 463 Hierdurch wird noch einmal deutlich, dass der Auferstandene in einer großen Nähe zu den Menschen und ihren Wegen dargestellt wird, dabei jedoch zurück‐ haltend agiert. Ebenso wie er in ihre Handlung eintritt, verschwindet er jedoch auch wieder aus ihr (Lk 24,31). Diese Mischung aus Nähe und gleichzeitiger Distanz ist damit charakteristisch für seine Figur. Der Auferstandene verlässt die Handlung in Lk 24,51 durch seine Himmel‐ fahrt. Jedoch ist seine Himmelfahrt nicht zugleich auch das Ende der Erzählung. Vielmehr schließt die Erzählung mit einem Blick auf die Jünger und ihr Dasein im Tempel (Lk 24,52-53). Auch wenn der Auferstandene nur in Lk 24,15-31 und Lk 24,36-51 als han‐ delnde Figur anwesend ist, ist er dennoch im gesamten Erzählabschnitt Lk 24,1- 53 eindeutig die Hauptfigur. 464 Die Frauen kommen nur seinetwegen zum Grab (Lk 24,1-8) und auch die Engel erscheinen, um vom Auferstandenen zu künden (Lk 24,4-7). Auch in Lk 24,9-12 dreht sich letztlich alles um die Figur des Auf‐ erstandenen. Hinsichtlich seiner Rolle und Funktion innerhalb der Handlung lässt sich eine Auffälligkeit feststellen: Sowohl der Handlungsabschnitt der Emmaus-Perikope (Lk 24,15-31), als auch der Handlungsabschnitt der Begegnung des Auferstan‐ denen mit seinen elf Jüngern (Lk 24,36-52) ist von der Struktur und vom Hand‐ lungsverlauf in Bezug auf den Auferstandenen her sehr ähnlich und lässt ein bestimmtes „Muster“ aus sechs Schritten erkennen: 1. Es erfolgt zunächst ein (plötzliches) Erscheinen des Auferstandenen. 465 2. Daraufhin setzt seitens der anderen Figuren ein Nichterkennen oder Zwei‐ feln als Reaktion ein. 466 3. Es folgt ein ausführliches Schriftauslegen des Auferstandenen, angefangen bei Mose und den Propheten im Hinblick darauf, was in den Schriften über 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 179 <?page no="180"?> 467 Vgl. Lk 24,27, hier legt der Auferstandene ihnen die Schriften aus; vgl. Lk 24, 44-45, dort werden neben Mose und den Propheten auch noch die Psalmen erwähnt. Auch ist hier von einem Öffnen des Verständnisses der Schriften die Rede. 468 Vgl. Lk 24,26, hier folgt der Hinweis auf den Heilsplan unmittelbar vor der Schriftaus‐ legung; vgl. Lk 24,46, hier folgt der Hinweis auf den Heilsplan unmittelbar nach der Schriftauslegung. 469 Vgl. Lk 24,30. Im Abschnitt Lk 24,36-52 findet zwar auch eine Mahlhandlung statt, je‐ doch ist es hier nur der Auferstandene, der gebratenen Fisch ist (vgl. Lk 24,42-43). Beide Mahlhandlungen weisen ansonsten keine Parallelen auf, wodurch sie nicht miteinander vergleichbar sind. 470 Vgl. Lk 24,31, hier werden den Emmaus-Jüngern ihre Augen wieder geöffnet, sodass sie den Auferstandenen erkennen; vgl. Lk 24,52 hier fallen die Jünger vor dem in den Himmel auffahrenden Auferstandenen nieder und beten ihn an. 471 Vgl. Lk 24,31, hier wird der Auferstandene unsichtbar vor ihnen; vgl. Lk 24,51, an dieser Stelle wird der Auferstandene vor ihnen in den Himmel hinaufgehoben. 472 Dillman / Paz sprechen von einem „Prozeß des Glaubenlernens“, Dillman / Paz, Lukas-Evangelium, 425. ihn ausgesagt wird. 467 An beiden Stellen ist das Schriftauslegen unmittelbar verknüpft mit dem Hinweis des Auferstandenen auf den Heilsplan, dessen Teil das Leiden des Gesalbten ist. 468 4. Daran schließt im Fall der Emmaus-Perikope eine Mahlhandlung an. 469 5. Nun folgt seitens der anderen Figuren endlich das vollständige und restlose Erkennen des Auferstandenen. 470 6. Daraufhin verschwindet der Auferstandene vor den Figuren. 471 Mit diesem Schema verfolgt der Erzähler im Hinblick auf den intendierten Re‐ zipienten sehr wahrscheinlich die Absicht, ihm aufzuzeigen, wie der Glaube an den Auferstandenen entstehen kann, nämlich letztlich nur durch den Aufer‐ standenen selbst in Verbindung mit dem richtigen Auslegen der Schriften und (wie im Fall der Emmaus-Jünger) dem Herrenmahl. 472 Durch die Analyse der Figur in ihrem Bezug zur Handlung ergeben sich damit die beiden folgenden Aspekte hinsichtlich der Charakterisierung des Aufer‐ standenen: 1. Der Auferstandene kommt in die Szene der Emmaus-Jünger hinein und fügt sich in ihre Handlung ein. Zugleich verschwindet er wieder aus ihrer Hand‐ lung des gemeinsamen Mahls, sodass sich in Bezug auf seine Figur eine Ambivalenz aus Nähe und Distanz feststellen lässt. 2. Durch die (fast) synchrone Struktur der beiden Abschnitte Lk 24,15-31 und Lk 24,36-51 in Bezug auf die Handlung des Auferstandenen und die Reak‐ tionen der anderen Figuren wird deutlich, dass der Auferstandene die Men‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 180 <?page no="181"?> 473 Dagegen verwenden andere Figuren dem Auferstandenen gegenüber sehr wohl (Ho‐ heits)-Titel, vgl. Lk 24,5 „der Lebende“; Lk 24,7 „der Menschensohn“; Lk 24,19 „ein pro‐ phetischer Mann“, Lk 24,21 „Befreier Israels“; Lk 24,34 „Herr“. Auch der Auferstandene verwendet eine bestimmte Bezeichnungen für sich selbst, vgl. Lk 24, 26.46 „der Ge‐ salbte“. 474 „The camera moves from a musing Peter to unnamed traveling disciples. Jesus meets them incognito”, Nolland, Luke III, 1200. 3.2.6 schen durch seine Anwesenheit und v. a. durch seine Funktion als Herme‐ neut zur Erkenntnis und damit letztlich zum Osterglauben führt. Figur und Erzähler Im Folgenden soll die Beziehung der Figur zum Erzähler näher untersucht werden. Dabei sind v. a. diese Fragen leitend: Mit welchen sprachlichen Mitteln schildert der Erzähler die Figur? Aus welcher Perspektive stellt der Erzähler die Figur dar? Wie sieht seine Kameraführung aus? Im gesamten Erzählabschnitt hält sich der Erzähler in Bezug auf die Figur des Auferstandenen stark zurück. Er äußert sich fast nie direkt über die Figur, son‐ dern lässt den Auferstandenen selbst sprechen und handeln. Einzig in Lk 24,3 nennt er ihn κύριος, ansonsten spricht er einfach nur von Ἰησοῦς (Lk 24,15) oder nennt das Personalpronomen. Der Erzähler verwendet - ausgenommen von Lk 24,3 - keine Hoheitstitel für den Auferstandenen. 473 Wer der Auferstandene ist, erfährt der intendierte Rezipient vielmehr durch das Reden und Handeln des Auferstandenen selbst sowie wie durch andere Figuren. Darüber hinaus steht der Erzähler in Lk 24,28 in einem engen Verhältnis zur Figur des Auferstan‐ denen; er kennt sogar seine Gedanken (Lk 24,28 καὶ αὐτὸς προσεποιήσατο πορρώτερον πορεύεσθαι). Dieses enge Verhältnis des Erzählers zur Figur des Auferstandenen wird jedoch in den anderen Szenen nicht fortgeführt, sondern beschränkt sich auf Lk 24,28. Die Kameraführung des Erzählers geht in Lk 24,1-53 mit den anderen Figuren und nicht mit dem Auferstandenen mit. In Lk 24,13 ff begleitet die Kamera die beiden Emmaus-Jünger auf ihrem Weg. 474 Der Auferstandene kommt ins Bild (Lk 24,15) und verschwindet anschließend wieder daraus (vgl. Lk 24,31). Die Kamera bleibt bei den Emmaus-Jüngern und begleitet sie noch ein Stück weit (Lk 24,32-33). Auch in Lk 24,34-36 ist die Kamera zunächst bei den elf Jüngern, die sich über den Auferstandenen unterhalten, bevor dieser selbst ins Bild kommt (Lk 24,36). Parallel zur Emmaus-Perikope verschwindet auch in Lk 24,51 der Auferstandene wieder aus dem Blickfeld der Kamera (hinauf in den Himmel) 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 181 <?page no="182"?> 475 Im Vergleich dazu geht die Kamera ab der Taufe Jesu (Lk 3,21) durchgehend mit dem irdischen Jesus mit. 3.2.7 und die Kamera geht weiter mit den elf Jüngern mit (Lk 24,52-53). Durch diese spezielle Art der Kameraführung wird dem intendierten Rezipienten vor Augen geführt, dass die Figur des Auferstandenen unverfügbar und nicht mehr an diese Welt gebunden ist. 475 Die Kameraführung schließt in Lk 24,53 mit einem Blick auf den Jerusalemer Tempel und die stetige Präsenz (διὰ παντὸς) der elf Jünger, die Gott an diesem Ort loben. Durch das Verhältnis des Erzählers zur Figur des Auferstandenen wird deut‐ lich, dass der Auferstandene unverfügbar ist, erscheint und verschwindet, wann er will. Er befindet sich nun gewissermaßen in einem anderen Zustand, losgelöst von Gesetzen von Raum und Zeit und nicht länger unter den Bedingungen des menschlichen Lebens. Fazit Im Folgenden soll nicht eine Auflistung aller Einzelergebnisse der Figurenana‐ lyse erfolgen, es werden vielmehr die zentralen Aspekte zur Figur des Aufer‐ standenen in Lk 24,1-53 herausgestellt und gebündelt. In Lk 24,1-53 liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf der letzten Szene: Der Auferstandene wird in Lk 24,51 im Kreise seiner Jünger in Bethanien von Gott in den Himmel emporgehoben und damit allen Bedingungen des menschlichen Lebens enthoben. Gott handelt in Lk 24,1-53 nur an zwei Stellen am Auferstan‐ denen: Er weckt ihn von den Toten auf (Lk 24,6) und hebt ihn in den Himmel empor (Lk 24,51). Die Himmelfahrt ist somit die finale Handlung Gottes am Auferstandenen im Erzählabschnitt Lk 24,1-53. Auf die Himmelfahrt als Zielpunkt der Erzählung läuft in Lk 24 vieles zu: Der Auferstandene selbst ordnet die Himmelfahrt in den Heilsplan Gottes ein, indem er in Lk 24,26 den Emmaus-Jüngern verdeutlicht, dass der Gesalbte all dies er‐ leiden muss, um so in seine Herrlichkeit einzugehen. Nach Leiden, Tod und Auferstehung ist die Himmelfahrt des Auferstandenen damit ein weiterer Teil des Heilsplans, der bereits in den Schriften des Alten Testaments angelegt ist. In seiner Rolle als Hermeneut öffnet der Auferstandene sowohl den Em‐ maus-Jüngern, als auch seinen elf Jüngern die Schriften und legt den Heilsplan Gottes für sie frei. Der Auferstandene ordnet sich selbst in diesen Heilsplan ein und macht sich damit zum zentralen Gegenstand seiner Hermeneutik. Erst da‐ durch (und nicht etwa durch das leere Grab oder durch Erzählungen und Be‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 182 <?page no="183"?> richte anderer Figuren) ist bei den Jüngern echtes Verstehen möglich. Das Öffnen der Schriften entspricht dem Öffnen der Augen. Zudem löst die Himmelfahrt des Auferstandenen die narrativen Spannungen und Ambivalenzen in Lk 24,1-53 in Bezug auf seine Figur: Einerseits wird der Auferstandene sehr menschlich dargestellt, seine Leiblichkeit wird besonders hervorgehoben; durch das ἐγώ εἰμι αὐτός in Lk 24,39 wird deutlich, dass der auferweckte Jesus kein anderer als der irdische Jesus ist. Gleichzeitig wird aber auch erkennbar, dass sich der Auferstandene in gewisser Weise verändert und gewandelt hat. Er erscheint und verschwindet plötzlich und wird von seinen engsten Vertrauten nicht mehr erkannt. Auch die Kamera des Erzählers geht nicht mehr mit ihm, sondern mit den anderen Figuren mit. Der Auferstandene wird einerseits nah an den Menschen gezeichnet, er kommt zu ihnen und begibt sich stark in Kommunikation mit ihnen. Gleichzeitig verschwindet er wieder von ihnen, spricht von Zeiten, als er noch bei ihnen war, und fährt letztlich hinauf in den Himmel. Diese Ambivalenz aus Nähe und Distanz ist für seine Figurendarstellung charakteristisch. Die Himmelfahrt löst die Ambivalenz aus Nähe und Distanz schließlich zu‐ gunsten der Distanz auf, indem Gott den Auferstandenen den Umständen des menschlichen Lebens und dem Kreise seiner Jünger entzieht und ihn in den Himmel zu seiner Rechten emporhebt. Daraus wird insgesamt deutlich, dass im Lukasevangelium nicht einfach von der Figur des Auferstandenen gesprochen werden kann, sondern dass vielmehr in Lk 24,1-53 von einer Figur in zwei verschiedenen Stadien die Rede ist: Dem Auferstandenen vor der Himmelfahrt und dem Auferstandenen nach der Him‐ melfahrt. Der Auferstandene durchläuft so eine Art „Durchgangsphase“, bevor er in Lk 24,51 in den Himmel und damit in seine Herrlichkeit eingeht. In dieser „Durchgangsphase“ weist er noch eine starke Ähnlichkeit zum Irdischen auf, ist dabei aber bereits verändert. Er besitzt noch seinen menschlichen Körper, der Nahrung aufnehmen kann, verschwindet und erscheint jedoch wie ein Geist. Er betont, dass er es selbst ist, löst aber bei seinen Jüngern Schrecken und Skepsis aus. Er ist den Menschen nah, gleichzeitig aber auch wieder fern. Der Auferstandene vor der Himmelfahrt ist damit nicht der Auferstandene des intendierten Rezipienten. Für den intendierten Rezipienten wird deutlich, dass sich der auferstandene Jesus nun im Himmel zur Rechten Gottes befindet und dass sich eine leibliche Existenz des Auferstandenen nur auf die Zeit vor seiner Himmelfahrt beschränkt. Jedoch existieren gewisse „Brücken“ zwischen dem Auferstandenen vor und dem Auferstandenen nach der Himmelfahrt, die in die Zukunft und damit auch in die Zeit des intendierten Rezipienten hinein‐ reichen und die so auch für den Rezipienten eine Bedeutung haben. Eine solche 3.2 Figurenanalyse des Auferstandenen in Lk 24,1 - 53 183 <?page no="184"?> 476 Mt 28,5 οἶδα γὰρ ὅτι Ἰησοῦντὸν ἐσταυρωμένον ζητεῖτε. Lk 24,5 τί ζητεῖτετὸν ζῶντα μετὰ τῶν νεκρῶν. 3.3 3.3.1 „Brücke“ ist zum einen der Auftrag des Auferstandenen zur Umkehr zur Sün‐ denvergebung, den die Jünger - als Zeugen des Auferstandenen vor der Him‐ melfahrt - in der Zeit nach seiner Himmelfahrt allen Völkern in seinem Namen predigen sollen. Eine weitere „Brücke“ ist der Geist, den der Auferstandene vor der Himmelfahrt verspricht, den Jüngern nach seiner Himmelfahrt zu senden. Zwei weitere „Brücken“ bilden die Schriften und das Herrenmahl. Beide zeigen dem intendierten Rezipienten gewissermaßen auf, wie die Erkenntnis des Auf‐ erstandenen und mit ihr der Osterglaube bei den Menschen entstehen kann und wie damit eine Art Zugang zum Auferstandenen möglich ist. Ausgehend von diesen vier „Brücken“ zwischen dem Auferstandenen vor und dem Auferstandenen nach der Himmelfahrt, soll nun im Folgenden zurückge‐ fragt werden, inwieweit die Umkehr zur Sündenvergebung, der Geist, die Schriften und Mahlhandlungen bereits beim irdischen Jesus eine Rolle spielen und inwie‐ fern sie damit auch eine Art „Brücke“ zwischen dem irdischen und dem aufer‐ standenen Jesus bilden. Vergleich beider Figurendarstellungen Im Folgenden sollen die beiden Darstellungen der Figur des Auferstandenen im MtEv und im LkEv miteinander verglichen werden. Der Vergleich wird dabei ebenfalls in die sechs Kategorien Fremdcharakterisierung, Selbstcharakterisie‐ rung, Figur und Figuren, Figur und Umwelt, Figur und Handlung sowie Figur und Erzähler unterteilt. Insgesamt werden im Vergleich nicht alle Einzelheiten der Figurendarstellungen thematisiert, vielmehr wird der Fokus auf wichtige Un‐ terschiede zwischen den beiden Figurendarstellungen gelegt. Fremdcharakterisierung des Auferstandenen Der Auferstandene im MtEv wird von den Engeln ausdrücklich als der Gekreu‐ zigte bezeichnet (Mt 28,5). Dagegen nennen die Engel im LkEv den Auferstan‐ denen den Lebenden (Lk 24,5). Dabei sind beide Aussagen der Engel fast völlig parallel im Aufbau und beide stehen im Kontext des Suchens der Frauen. 476 Die Jünger reagieren im MtEv auf den Auferstandenen mit Zweifel. Dabei wird ihr Zweifel bis zum Schluss nicht aufgelöst, sondern bleibt neben der Pros‐ 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 184 <?page no="185"?> 3.3.2 kynese bestehen. Im LkEv reagieren die Jünger auf den Auferstandenen eben‐ falls mit Zweifel. Ihr Zweifel löst sich jedoch am Ende in Proskynese auf. Die Erkenntnis der Figur des Auferstandenen wird im MtEv nicht weiter the‐ matisiert. Entweder wird sie (wie im Fall der Frauen) einfach vorausgesetzt, oder der Auferstandene wird (bis zum Schluss von einigen Jüngern) angezweifelt. Im LkEv ist die Erkenntnis des Auferstandenen dagegen eine wichtige Einsicht, die für die Jünger v. a. nach dem Auslegen der Schriften und dem Offenlegen des Heilsplans sowie beim Mahl möglich ist. Selbstcharakterisierung des Auferstandenen Die Erscheinung des Auferstandenen wird im MtEv ausführlich und dramatisch durch Naturereignisse, die Erscheinung des Engels und die Reaktion der Wachen angekündigt. Im LkEv erscheint der Auferstandene dagegen unspektakulär und „leise“, indem er sich den Emmaus-Jüngern auf ihrem Weg nähert. Im MtEv kommen die Jünger nach der durch die Frauen weiter gegebenen Anweisung auf den Berg, wodurch noch einmal die hoheitliche Stellung des Auferstandenen zum Ausdruck kommt. Im LkEv kommen dagegen nicht die Jünger zum Auferstandenen, sondern der Auferstandene kommt zu ihnen und erweist sich damit als nah an den Menschen. Er kommt zu ihnen auf ihren Weg, anstatt sie (wie im MtEv) an einem herausragenden Ort zu „empfangen“. Damit lassen sich hinsichtlich der beiden Figurendarstellungen zwei unterschiedliche Bewegungen feststellen: Im MtEv vollzieht sich eine Bewegung von unten nach oben, indem die Jünger zum Auferstandenen hinauf auf einen Berg kommen. Im LkEv lässt sich dagegen eher eine Bewegung auf horizontaler Ebene ausmachen, indem der Auferstandene zu den Jüngern auf ihren Weg von Jerusalem nach Emmaus kommt und dann mit ihnen geht. Der Auferstandene im MtEv erweist sich als bevollmächtigter Auftraggeber, der die Jünger anweist, die Völker all das halten zu lehren, was er ihnen zuvor befohlen hat. Der Auferstandene im LkEv betätigt sich dagegen stärker als Her‐ meneut, der den Menschen die Schriften und den in ihnen enthaltenen Heilsplan Gottes verdeutlicht. Der Auferstandene wird somit im LkEv in einen starken Bezug zu den Schriften des Alten Testaments gesetzt; im MtEv besteht ein sol‐ cher Bezug nicht. Im LkEv ist der Auferstandene der in den Schriften angekündigte Messias und damit Teil und Zentrum des göttlichen Heilsplans, der bereits in den Schriften angelegt ist und in den sich der Auferstandene selbst einordnet. In Mt 28 spielt 3.3 Vergleich beider Figurendarstellungen 185 <?page no="186"?> dagegen ein göttlicher Heilsplan für die Figur des Auferstandenen überhaupt keine Rolle. Eine Leiblichkeit des Auferstandenen wird im MtEv zwar implizit vorausge‐ setzt, aber nicht eigens betont. Im LkEv wird dagegen die Leiblichkeit des Auf‐ erstandenen besonders hervorgehoben, v. a. indem der Auferstandene die Jünger auffordert, seine Hände und Füße zu berühren, und gebratenen Fisch isst. Der Auferstandene im MtEv präsentiert sich selbst als Machtträger, der be‐ stehende Seinswelten ins Wanken bringt und geltende Machtverhältnisse außer Kraft setzt. Der Auferstandene im LkEv präsentiert sich dagegen als der Ambi‐ valente, der sowohl nah an den Menschen als auch zugleich distanziert ist, der menschlich und zugleich nicht-menschlich ist. Der Auftrag des Auferstandenen im MtEv zielt auf eine Erweiterung seines „Machtbereichs“. Alle Völker sollen zu ihm in Relation gebracht werden. Der Auftrag des Auferstandenen im LkEv zielt dagegen auf die Umkehr zur Verge‐ bung der Sünden unter allen Völkern. Im MtEv ist die universale Mission des Auferstandenen an seinen Vollmachts‐ anspruch geknüpft und durch ihn legitimiert; er umfasst alle Völker. Im LkEv ist dagegen die universale Mission des Auferstandenen an den Heilsplan in den Schriften geknüpft und durch ihn legitimiert; auch hier umfasst der Missions‐ auftrag alle Völker, jedoch beginnend mit Jerusalem. Der Auferstandene im MtEv sichert den Jüngern seinen bleibenden Beistand zu. Der Auferstandene im LkEv verspricht, den Jüngern den Geist (als Beistand) zu senden. Im MtEv bleibt der Auferstandene bei den Menschen (Mt 28,20 „und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende dieses Aeons“). Der Auferstandene im LkEv wird dagegen in den Himmel emporgehoben und „verlässt“ die Menschen so. Auch hier werden erneut zwei umgekehrte Bewegungen erkennbar: Im MtEv vollzieht sich gewissermaßen eine Bewegung von oben nach unten, indem der Auferstandene bei den Menschen auf der Erde bleibt. Im LkEv vollzieht sich die Bewegung andersherum, nämlich von unten nach oben, indem der Auferstan‐ dene von den Menschen weg, in den Himmel emporgehoben wird. Der Auferstandene im MtEv befindet sich in einem Stadium (dieser Aeon), weist aber bereits auf ein zukünftiges Stadium hin (nach dem Ende dieses Aeons - Beginn des neuen Aeons). Diese Welt bis zum Ende des Aeons ist damit für den Auferstandenen eine Art Zwischenzustand, in dem sich die ihm über‐ tragene Macht erst noch beweisen muss und angefochten wird. Seine Macht ist noch keine eindeutige. Der Auferstandene im LkEv befindet sich dagegen in zwei Stadien: Vor und nach der Himmelfahrt. Lk 24,1-50 ist damit eine Art „Durchgangsstadium“ zwischen irdischer und himmlischer Existenz Jesu. 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 186 <?page no="187"?> 3.3.3 3.3.4 Für den intendierten Rezipienten des MtEv gelten die Vollmachtsaussage des Auferstandenen, sein universaler Missionsauftrag und die Zusage seines Mit-Seins (allezeit). Für den intendierten Rezipienten des LkEv gelten die vier „Brücken“ vom Auferstandenen vor zum Auferstandenen nach der Himmelfahrt: Umkehr zur Sündenvergebung, Geist, Schriften, Herrenmahl. Dabei fällt auf, dass die Aspekte, die jeweils vom Text aus in die Zukunft weisen und damit für den intendierten Rezipienten von unmittelbarer Relevanz sind, im MtEv stärker christologischer Natur sind, d. h. sie beziehen sich alle hauptsächlich auf den Auferstandenen als Figur. Im LkEv sind diese vier Brücken dagegen stärker ek‐ klesiologischer Natur. Figur und Figuren Das Verhältnis des Auferstandenen zu den anderen Figuren ist im MtEv insge‐ samt geprägt durch Funktionalität (in seiner Beauftragung der Frauen und der Jünger) und Fürsorge (in der Zusage seines Mit-Seins). Das Verhältnis des Auf‐ erstandenen zu den anderen Figuren ist im LkEv dagegen stärker geprägt durch Nähe (v. a. durch intensive Kommunikation) und Distanz. Im MtEv handelt Gott am Auferstandenen an zwei Stellen: Er weckt ihn von den Toten auf und überträgt ihm alle Macht im Himmel und auf Erden. Im LkEv handelt Gott ebenfalls am Auferstandenen an zwei Stellen: Er weckt ihn von den Toten auf und hebt ihn in den Himmel empor. Die Gegnerschaft des Auferstandenen (Hohepriester, Älteste, Soldaten) spielt im MtEv eine große Rolle; sie sind Feinde auch des Auferstandenen, die durch ihre Lüge der Ausbreitung seines Machtbereichs entgegenwirken. Dagegen spielt die Gegnerschaft des Auferstandenen im LkEv eine eher untergeordnete Rolle. Figur und Umwelt Im MtEv ist für den Auferstandenen sowohl der Ort Galiläa als auch der Berg von besonderer Bedeutung. Dort erscheint der Auferstandene seinen Jüngern. Im LkEv spielt dagegen Galiläa nur eine Nebenrolle, wichtig ist für den Aufer‐ standenen v. a. Jerusalem (und der Tempel) als Anfangsort der weltweiten Mis‐ sion und Ort der Erscheinung des Auferstandenen vor seinen Jüngern. Im MtEv ist Jerusalem hingegen der Ort, an dem der Auferstandene geleugnet wird, wo‐ 3.3 Vergleich beider Figurendarstellungen 187 <?page no="188"?> 477 Diese Handlungsstruktur beinhaltet 1. Das plötzliche Erscheinen des Auferstandenen; 2. Das Zweifeln oder Nicht-Erkennen als Reaktion der anderen Figuren; 3. Das Auslegen der Schriften durch den Auferstandenen; 4. Eine Mahlhandlung im Fall der Emmaus-Pe‐ rikope; 5. Das Erkennen des Auferstandenen durch die anderen Figuren sowie 6. Das Verschwinden des Auferstandenen. 3.3.5 3.3.6 durch sich im MtEv in Bezug auf die Figur des Auferstandenen ein Gegensatz zwischen Jerusalem und Galiläa ergibt. Charakteristisch für den Auferstandenen im LkEv ist darüber hinaus das Weg-Motiv, das sich beim Auferstandenen im MtEv nicht findet. Der Aufer‐ standene im MtEv geht nicht mit den Jüngern mit, sondern lässt sie zu sich auf den Berg kommen. Figur und Handlung Im LkEv lässt sich im Hinblick auf den Auferstandenen eine bestimmte Hand‐ lungsstruktur 477 ausmachen, die sich bei den Emmaus-Jüngern zeigt und die sich in der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern in Jerusalem wieder‐ holt. Ein solches Grundmuster lässt sich beim Auferstandenen im MtEv nicht finden. Charakteristisch für den Auferstandenen im LkEv ist zudem, dass er in Hand‐ lungen bestimmter Figuren (wie das Laufen der Emmaus-Jünger und das Dis‐ kutieren seiner elf Jünger) hineinkommt und ebenso wieder aus ihrer Handlung verschwindet, wodurch eine Ambivalenz aus Nähe und Distanz sichtbar wird. Im MtEv wird ein Hineinkommen und Verschwinden des Auferstandenen in Bezug auf Handlungen anderer Figuren nicht beschrieben. Die letzte Szene, die Erscheinung des Auferstandenen vor seinen Jüngern auf dem Berg, endet viel‐ mehr mit einer Rede des Auferstandenen, die drei verschiedene Sprechakte um‐ fasst und mit der das MtEv schließt. Figur und Erzähler Im Blick auf das Verhältnis des Erzählers zur Figur des Auferstandenen im MtEv und LkEv fällt v. a. das Ende der Erzählung auf: Im MtEv tritt der Erzähler am Ende hinter die Figur des Auferstandenen zurück und lässt ihm das letzte Wort. Im LkEv hat dagegen der Erzähler das letzte Wort, wenn er nach der Himmel‐ fahrt des Auferstandenen vom Handeln und Dasein der Jünger berichtet. 3 Figurenanalyse des Auferstandenen 188 <?page no="189"?> 3.3.7 Zudem ist im LkEv eine größere Nähe des Erzählers zur Figur des Auferstan‐ denen auszumachen, da der Erzähler sogar die Gedanken seiner Figur schildert. Im MtEv herrscht dagegen eine größere Distanz des Erzählers zur Figur des Auferstandenen. Im MtEv schildert der Erzähler die Figur des Auferstandenen mit auffallend nüchternen Worten und verwendet für ihn keine Hoheitstitel. Im LkEv nennt der Erzähler die Figur des Auferstandenen ebenfalls nur Jesus oder verwendet für ihn ein Pronomen; jedoch bezeichnet er ihn an einer Stelle explizit als Kyrios (Lk 24,3). Fazit Aus dem Vergleich beider Figurendarstellungen des Auferstandenen im MtEv und LkEv ist deutlich geworden, dass es sich um zwei völlig verschiedene Fi‐ gurenzeichnungen handelt: Der Auferstandene im MtEv ist der hoheitsvolle Machtträger, der bestehende Seinswelten ins Wanken bringt und dessen Vollmacht sich in diesem Aeon durch die universale Mission durchsetzen soll. Als eben dieser Vollmächtige ist er bis zum Ende des Aeons bei den Menschen. Gleichwohl bleibt er der Gekreuzigte, als der er durch den Engel nach der Auferstehung bezeichnet wird. Der Auferstandene im LkEv ist der in den Schriften angekündigte Messias, der den Heilsplan Gottes erfüllt, als Hermeneut den Menschen diesen Heilsplan offenlegt und in seiner Zeit vor der Himmelfahrt eine Ambivalenz aus Mensch‐ lichkeit und Distanz aufweist, bevor er schließlich durch die Himmelfahrt allen Bedingungen menschlichen Lebens enthoben und durch den Geist gewisser‐ maßen „vertreten“ wird. Dabei ist der Auferstandene nach Lk 24 der Lebende schlechthin. 3.3 Vergleich beider Figurendarstellungen 189 <?page no="190"?> 1 Ähnlich geht auch Lange vor, der - ausgehend von der Aussage des Auferstandenen in Mt 28,16-20 - in die vorherigen Kapitel des Evangeliums zum Wirken des irdischen Jesus zurückfragt und dabei verschiedene Aspekte wie die Exousia Jesu oder die For‐ mulierung „im Himmel und auf der Erde“ (Mt 28,18) genauer untersucht, vgl. Lange, Erscheinen des Auferstandenen, 24-339. 4 4.1 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Figurenanalyse des auferstandenen Jesus in Beziehung gesetzt werden zur Darstellung des irdischen Jesus im jeweiligen Evangelium. Hierfür wird gezielt hinsichtlich bestimmter Merkmale, die sich bei der Analyse des Auferstandenen herausgestellt haben, zur Darstellung des Ir‐ dischen in den vorherigen Kapiteln des jeweiligen Evangeliums zurückge‐ fragt. 1 Bei allen Rückfrage-Punkten handelt es sich um solche Merkmale, die nicht nur für die Figur des Auferstandenen charakteristisch sind, sondern zu‐ gleich vom Text aus in die Zukunft weisen und somit für den intendierten Re‐ zipienten von unmittelbarer Relevanz sind. Durch den Rückbezug zur Darstellung des Irdischen sollen mögliche Kohä‐ renzen, Akzentverschiebungen und Unterschiede im Verhältnis der Darstellung des Irdischen zur Darstellung des Auferstandenen sichtbar werden. Dabei ist der Rückblick auf die Darstellung des irdischen Jesus methodisch auch weiterhin im Bereich der Narratologie verankert. Auf eine ausführliche Figurenanalyse des Irdischen in den jeweiligen Kapiteln wird jedoch verzichtet, da der Rückblick unter zuvor - nämlich durch die Figurenanalyse des Aufer‐ standenen - festgelegten inhaltlichen Aspekten erfolgt. Im Matthäusevangelium Aus der vorangehenden Figurenanalyse des Auferstandenen in Mt 28,1-20 haben sich zwei konkrete Aspekte ergeben, hinsichtlich derer nun zur Darstel‐ lung des Irdischen zurückgefragt wird. Erstens soll untersucht werden, ob der irdische Jesus bereits mit universaler Vollmacht ausgestattet worden ist oder ob sich seine Exousia in irgendeiner Art und Weise von seiner Exousia als Aufer‐ standener unterscheidet. Zweitens soll gefragt werden, ob und inwieweit die <?page no="191"?> 2 Zur Bedeutung der Formulierung „Himmel und Erde“ im MtEv vgl. Pennington, Heaven and Earth, 331-348. 3 Hartmann, Auf den Namen des Herrn Jesus, 137. 4 Die Ansicht, dass bereits der Irdische diese universale Vollmacht besessen hat, wird u. a. vertreten von Kremer, Osterevangelien, 84: „Diese [Machtfülle] besitzt Jesus nach Matthäus schon während seines öffentlichen Wirkens.“; vgl. auch Gnilka, Matthäus‐ evangelium II, 507: „Jesus spricht von der ihm übertragenen Vollmacht. Diese Übertra‐ gung liegt schon zurück, […] erfolgt also nicht erst jetzt.“. Die Ansicht, dass allein der Auferstandene über die universale Vollmacht verfügt, wird dagegen u. a. vertreten von Finnern, Narratologie, 335: „Der Rezipient kann aus dem Zusammenhang schließen, dass dieser Zeitpunkt erst mit der Auferstehung eingetreten ist“; vgl. auch Trilling, Matthäus, 343: „Alle Vollmacht im Himmel und auf Erden ist ihm übergeben worden. Überreich hat der Vater den Gehorsam des Sohnes belohnt.“ Vgl. auch Lindemann, Evangelien, 398. Vgl. auch Srecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 211, der die Ansicht vertritt, die Exousia sei „dem Kyrios in der Auferstehung zuteil“ geworden. Luz vertritt eine Art „Kompromisslösung“, indem er annimmt, der irdische Jesus habe die Vollmacht lediglich für bestimmte Bereiche besessen und diese sei erst nach seiner Auferstehung ausgeweitet worden, Luz, Matthäus I, 442. 4.1.1 universale Völkermission schon beim Irdischen angelegt oder praktiziert worden ist. Beide Aspekte sind in Mt 28 eng miteinander verknüpft und stehen dort in einem inhaltlichen Zusammenhang. Die Exousia des Irdischen Der Auferstandene charakterisiert sich in Mt 28,18 durch seinen Ausspruch ἐδόθη μοι πᾶσα ἐξουσία ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ [τῆς] γῆς als der mächtige Welten‐ herr, dem Gott seine Macht über Himmel und Erde 2 übertragen hat und der damit „ungefähr die Position von Gottes Vizeregenten mit kosmischer Vollmacht“ 3 innehat. Durch die passive Formulierung ἐδόθη μοι wird deutlich, dass es sich bei der Exousia des Auferstandenen um eine ihm von Gott übertragene, also um eine universale Vollmacht handelt. In Bezug auf die Frage, ob bereits der irdische Jesus über diese von Gott übertragene universale Vollmacht verfügt, gehen die Forschungsmeinungen stark auseinander. 4 Ausgehend von dieser Fragestellung sollen nun unmittelbar einschlägige Texte aus den vorangehenden Kapiteln des Matthäusevangeliums herangezogen werden, in denen entweder von der Exousia des irdischen Jesus explizit die Rede ist oder die diese Thematik implizit aufgreifen. Die Textstellen werden dabei nacheinander als Erzählpassagen in‐ nerhalb einer Gesamt-Erzählung inhaltlich ausgewertet. Schließlich werden die Einzelbeobachtungen gebündelt und im Hinblick auf eine Entscheidung ausge‐ wertet. 4.1 Im Matthäusevangelium 191 <?page no="192"?> 5 Jedoch wird aus Mt 5,1 nicht ersichtlich, ob Jesus auch das Volk lehrt, oder nur seine Jünger. In Mt 7,28 f wird jedoch schließlich die Reaktion des Volkes beschrieben, wo‐ durch erkennbar wird, dass sie ebenfalls Adressaten der Lehre Jesu sind. Streng ge‐ nommen existiert damit jedoch zwischen Mt 5,1 und Mt 7,28-29 eine narrative Unge‐ reimtheit in Bezug auf die Frage nach den Adressaten der Bergpredigt. Dafür, dass die Adressaten neben dem Jüngerkreis als zweiten Kreis auch die Volksmenge umfassen, plädieren u. a. Luz, Matthäus I, 266; Luck, Matthäus, 52; Sand, Matthäus, 99; Paschke, Particularism and Universalism, 53 f; Stiewe / Vouga, Bergpredigt, 10; Zeilinger, Zwi‐ schen Himmel und Erde, 32. 6 „Wahrscheinlich ist, daß mit der Formulierung ἀναβαίνω εἰς τὸ ὄρος Assoziationen an den Aufstieg des Mose auf den Sinai verbunden sind (Ex 19,3.12; 24,15.18; 34,1 f.4)“, Luz, Matthäus I, 267. 4.1.1.1 Im Hinblick auf seine Lehre (Mt 7,29; Mt 21,23 - 27) Mt 7,29 Mt 7,29 bildet den Abschluss der Erzähleinheit, die die Bergpredigt Jesu umfasst (Mt 5,1-7,29). Der gesamte Erzählabschnitt Mt 5,1-7,29 wird dabei von Worten des Erzählers eingeleitet (Mt 5,1-2) sowie ebenfalls durch Worte des Erzählers abgeschlossen (Mt 7,29). Von Mt 5,3 bis Mt 7,27 erstreckt sich eine Rede Jesu, die unterschiedliche Inhalte thematisiert. Seine Rede wird an keiner Stelle unter‐ brochen, die Reaktionen der anderen Figuren werden erst ganz am Ende er‐ wähnt (Mt 7,28). Empfänger seiner Rede sind die Jünger, aber auch das Volk (Mt 5,1; 7,28). 5 Im Fokus stehen damit im Erzählabschnitt Mt 5,1-7,29 eindeutig Jesu Worte und der Inhalt seiner ausführlichen Rede. Von Mt 5,3-7,27 charakterisiert sich die Jesus-Figur durch ihre Rede selbst; in Mt 5,1-2 trägt auch Jesu Handeln zur Selbstcharakterisierung bei, indem er auf einen Berg hinaufgeht, sich setzt und seine Jünger, die sich zu ihm setzen, lehrt. Die Verse Mt 7,28-29 sagen zum einen etwas über die Figur des Irdischen in seinem Verhältnis zu den anderen Figuren aus, zum anderen tragen sie durch die Reaktionen der anderen Figuren und die Worte des Erzählers über den Irdi‐ schen zu seiner Fremdcharakterisierung bei. Mt 7,29 ist damit eine explizite Cha‐ rakterisierung der Jesus-Figur durch den Erzähler. Unter dem Aspekt Figur und Umwelt ist der Berg als herausragender Ort, der in Mt 28,16 f wieder aufgenommen wird, von besonderer Bedeutung. Jesus lehrt nicht im Tempel und auch nicht auf der Straße bei den Menschen, sondern hebt sich durch seine Ortswahl bewusst ab. Ob der Erzähler an dieser Stelle ganz bewusst auf den Berg Sinai im Alten Testament anspielt und der intendierte Rezipient mit seinem Weltwissen diese Anspielung versteht, bleibt unklar, ist aber nach Luz wahrscheinlich. 6 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 192 <?page no="193"?> 7 Zur Bedeutung des Wortes ἐκπλήσσω vgl. Bauer / Aland, Art. ἐκπλήσσω, 492. 8 „Die Reaktion der Volksscharen ist, daß sie über seine Lehre außer sich geraten […]. Sie bestätigen allerdings, daß er in der Vollmacht seiner Lehre die Schriftgelehrten über‐ trifft“, Gnilka, Matthäusevangelium I, 284. 9 Wiefel, Matthäus, 105. 10 Grundmann versteht bereits die Worte ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν als „autoritative Aussage, deren Grund nur in der Person selbst liegt“, und damit als Ausdruck der Vollmacht Jesu, vgl. Grundmann, Matthäus, 154. 11 So u. a. Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 242: „Der, der das ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν der Antithesen ausspricht […], besitzt die beispiellose und revolutionäre Kühnheit, sich in Gegensatz zur Tora zu stellen.“ Ähnlich auch Menninger, Israel and the Church, 114- 126. Deines spricht dagegen von einer Transformation der Tora durch das Evangelium und macht deutlich, dass die Tora in ihrer bisherigen Funktion nichts mehr zur escha‐ tologischen Gerechtigkeit beitragen kann, sie aber dennoch als Ausdruck von Gottes Willen erhalten bleibt, Deines, Gerechtigkeit, 645-651. 12 Gnilka, Matthäusevangelium I, 200. In Mt 7,28-29 schildert der Erzähler die Reaktion des Volkes nach der Rede Jesu als ein Entsetzen 7 über seine Lehre. In Mt 7,29 wird die Begründung für ihr Entsetzen geliefert (γάρ) mit dem Hinweis, dass Jesus mit Macht lehrt und nicht wie die Schriftgelehrten. 8 Der Begriff ἐξουσία begegnet hier zum ersten Mal im MtEv. In Mt 7,29 wird jedoch - anders als in Mt 28,18 - der Gedanke, dass Gott ihm diese Macht gegeben hat, nicht betont. Dabei bezieht sich das Verb διδάσκω in Mt 7,29 auf die vorangehende Lehre Jesu in seiner Bergpredigt. Da in Mt 7,29 somit von der Exousia Jesu im Kontext seiner Bergpredigt gesprochen wird, soll nun die Rolle der Jesus-Figur innerhalb der Bergpredigt genauer untersucht werden. Innerhalb der Bergpredigt Jesu fallen hinsichtlich der Frage nach seiner Au‐ torität und Exousia besonders die sechs sog. „Antithesen“ (Mt 5,21-48) auf. Jesus stellt hier sechsmal den „in der Tora enthaltenen oder ihr zugeordneten Aus‐ sage[n]“ 9 (also der These, die mit ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη eingeleitet wird) seine Worte ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν 10 entgegen (die eigentliche Antithese) und leitet damit jeweils seine eigenen Thesen ein. Schon lange wird in der Forschung diskutiert, ob sich die Aussagen Jesu den jeweiligen Geboten der Tora entgegensetzen, sie sozusagen überbieten und damit zu Recht als „Antithesen“ bezeichnet werden können 11 oder ob Jesus die in der Tora enthaltenen Gebote vielmehr im Sinn des „zu verkündigenden Gotteswillen[s]“ 12 auslegt und man sie daher besser als 4.1 Im Matthäusevangelium 193 <?page no="194"?> 13 So Varenhorst, »Ihr sollt überhaupt nicht schwören«, 225. Zeilinger bezeichnet sie als „Stellungnahmen Jesu“, Zeilinger, Zwischen Himmel und Erde, 71. 14 So u. a. Varenhorst, »Ihr sollt überhaupt nicht schwören«, 233; Grundmann, Matthäus, 155 f; Gnilka, Matthäusevangelium I, 199 f; Schaller, Character and Function, 71 f; Stiewe / Vouga, Bergpredigt, 9; Bachmann, „Antithese gegenüber der Bibel“? , 95, Zur Problematik des Begriffs Antithese vgl. auch Zeilinger, Zwischen Himmel und Erde, 71. 15 Deines, Gerechtigkeit, 333. 16 Luz, Matthäus I, 319. 17 Luz, Matthäus I, 321. 18 Zur genaueren Untersuchung von Mt 5,17-20 als hermeneutische Prinzipien der Berg‐ predigt vgl. Betz, Studien, 34-48. 19 Dass Jesus die Gebote der Tora v. a. verschärft und radikalisiert, hebt besonders Luz in seinem Kommentar ausführlich hervor, vgl. Luz, Matthäus I, 333-410. Dagegen ist u. a. Broer der Ansicht, dass Jesus - der Tora übergeordnet - das alttestamentliche Gesetz zwar nicht grundsätzlich, aber dennoch ad hoc außer Kraft setzt, vgl. Broer, Freiheit vom Gesetz, 127. 20 Luz, Erfüllung, 423; ähnlich auch Betz, The Sermon on the Mount, 205: „This means that the love-command directs the interpretation of the Torah commandments. Correctly interpreted, these Torah commandments are 'fulfilled' in the sense that with the love-commandment, the whole Torah is fulfilled.“ 21 Varenhorst, »Ihr sollt überhaupt nicht schwören«, 233; vgl. auch Sand, Das Gesetz und die Propheten, 55, der die Tora durch Jesu „Antithesen“ als eine „Tora, die durch Jesus neu ausgelegt wird und in der Liebe einen neuen inneren Maßstab erhält“ versteht. „Kommentarworte“ 13 bezeichnet. 14 Für den zweiten Ansatz spricht m. E. v. a. Mt 5,17-20. Denn hier demonstriert Jesus die „Unveränderbarkeit der Tora“ 15 und macht damit deutlich, dass er „nicht Diener, sondern Herr der Torah [ist], aber er übt seine Herrschaft so aus, daß er die Torah uneingeschränkt gültig sein läßt.“ 16 Diese den sogenannten „Antithesen“ vorangestellte Aussage Jesu gibt so die „klare Stoßrichtung“ 17 der folgenden Worte Jesu vor. 18 Durch die Einlei‐ tungsformeln der These (ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη) und der darauf folgenden Anti‐ these (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν) begibt sich die Figur des irdischen Jesus zwar von der Form her in einen Kontrast zu dem, was zu den Alten gesagt worden ist. In‐ haltlich setzt er sich dem jedoch nicht explizit entgegen, sondern verschärft und radikalisiert es vielmehr. 19 Der Erzähler will also keinen inhaltlichen Gegensatz herstellen, ihm „geht es vielmehr darum, den gesamten Willen des Vaters ins Licht des von Jesus ins Zentrum gestellten alttestamentlichen Liebesgebots zu rücken.“ 20 Dennoch kommt gerade in dem ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν die besondere Au‐ torität Jesu zum Ausdruck. Daraus ergibt sich, dass Jesus durch seine sechs Kommentarworte die Tora v. a. radikalisiert und insgesamt „aktualisierend und eventuell korrigierend Stellung nimmt, um den Willen Gottes in der Gegenwart zur Geltung zu bringen.“ 21 Die formale Autorität der Tora wird so in „lebendige 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 194 <?page no="195"?> 22 Luz, Matthäus I, 332. 23 Zur Argumentationsmethode der Antithesen und ihrem Ursprung im zeitgenössischen Judentum vgl. Zeilinger, Zwischen Himmel und Erde, 71; vgl. auch Frankemölle, Matt‐ häus I, 226. 24 Luz, Matthäus I, 333. 25 So auch Gnilka, Matthäusevangelium I, 200: „Die Autorität, mit der Jesus spricht, kann nicht so bestimmt werden, daß er sich gegen die Autorität des Mose gewendet habe. Vielmehr liegt sie in der Art und Weise seines Vortrags. Er stützt seine Meinung, den zu verkündigenden Gotteswillen, nicht mit Schriftstellen ab, wie das bei den Schul‐ häuptern üblich war, sondern redet in freier Vollmacht.“ Vgl. auch Kingsbury, Matthew, 82: What he teaches […] ist the will of God in terms of its original intention; vgl. hierzu auch Lange, Erscheinen des Auferstandenen, 29-30.33. 26 Vgl. Luz, Matthäus I, 332. „Hier liegt der Grund, daß in keiner einzigen Antithese Jesu Forderungen in irgend einer Weise begründet werden. Sie werden nur hingestellt. Dann sind sie auf ihre Kraft angewiesen, den Hörer / innen einzuleuchten und sie zu neuen Menschen zu verwandeln.“ 27 Vgl. hierzu auch Grundmann, Matthäus, 245: „Und es ist zugleich die Lehrweise Jesu, der nicht wie ein Prophet den Spruch Jahwes ausruft oder wie ein Weiser allgemeine Wahrheit formuliert oder wie ein Schriftgelehrter andere Autoritäten zitiert und sich mit ihnen auseinandersetzt und dabei sich auf Stücke aus der Schrift beruft; er spricht in eigener Autorität“. Torah“ 22 verwandelt. Ein Gegensatz zur Tora, wie ihn das rhetorische Stilmittel der Antithese zunächst vermuten lassen könnte 23 , wird daher von der Figur des irdischen Jesus in Mt 5,21-48 nicht geschaffen. Auch wenn sich die Jesus-Figur in Mt 5,21-48 nicht der Mose-Figur entge‐ genstellt und so „als zweiter Mose die Torah des ersten Mose“ 24 abschafft, son‐ dern sie vielmehr im Willen Gottes für die Gegenwart auslegt, zeigt sich hier dennoch seine besondere Autorität. 25 Dabei macht Luz zu Recht deutlich, dass Jesus seine Autorität nicht aus der Schrift ableitet, sich nicht auf Gott oder seine eigene Stellung beruft, sondern seine Autorität ganz in dem liegt, was er sagt. 26 Diese besondere Autorität Jesu, aus der heraus er spricht, gründet sich in der ihm von Gott übertragenen Exousia. Er muss sich daher für seine Aussagen auf niemanden berufen oder Schriftbeweise erbringen. 27 Durch seine Lehre in der Bergpredigt, ganz besonders durch seine sechs Aus‐ legungen von zentralen Geboten der Tora, wird für den intendierten Rezipienten deutlich, dass der Irdische eine außergewöhnliche Fähigkeit, Autorität und Macht im Hinblick auf seine Lehre besitzt. Der Irdische präsentiert sich damit durch seine Rede an das Volk und die Jünger und durch die darin enthaltenen Anweisungen, Aussprüche und Lehren als mächtiger Lehrer. In Mt 7,29 erwähnt der Erzähler somit nichts Neues oder Unbekanntes, son‐ dern er fasst mit seiner Aussage über den Irdischen und die Reaktion der anderen Figuren die vorherige Selbstpräsentation der Jesus-Figur zusammen. Die Selbst‐ 4.1 Im Matthäusevangelium 195 <?page no="196"?> 28 Wiefel, Matthäus, 157. 29 „What amazed them so much about Jesus’ teaching was not his use of proverbs, parables, hyperboles, and other standard pedagogic devices of his day; what astonished them was his claim to authority, a theme that climaxes in 28: 18”, Keener, Matthew, 256. 30 Luck, Matthäus, 51. Vgl. hierzu auch Luz, Matthäus I, 541: „Diese 'Macht' zeigte sich zuerst in seiner Lehre“. 31 Luz, Matthäus III, 208. charakterisierung des Irdischen wird so durch die Fremdcharakterisierung des Erzählers bestätigt und explizit formuliert. In Mt 28,18 ist es der Auferstandene selbst, der von seiner Exousia spricht, in Mt 7,29 ist es der Erzähler. An beiden Stellen ist jedoch der Ort derselbe, beide Reden werden auf einem Berg gehalten, einem hervorgehobenen und herausragenden Ort. Gleichzeitig wird durch die Formulierung des Erzählers καὶ οὐχ ὡς οἱ γραμματεῖς αὐτῶν (Mt 7,29) der irdische Jesus von der Figurengruppe der Schriftgelehrten abgegrenzt, ja ihnen sogar gegenübergestellt. Die Macht Jesu, mit der er lehrt, „steht […] hier im Gegensatz zur Lehre der Schriftgelehrten, denen solche Vollmacht fehlt.“ 28 Das Entsetzen als Reaktion der Menge bezieht sich nicht auf einzelne Inhalte seiner Bergpredigt oder auf seine Sprachgewalt, sondern auf die von ihm bean‐ spruchte Autorität und seine Exousia, aus der heraus er sie lehrt. 29 Insgesamt ist durch die nähere Betrachtung der Figur des irdischen Jesus in der Bergpredigt sowie durch den abschließenden Erzählerkommentar (Mt 7,28- 29) deutlich geworden, dass bereits der irdische Jesus eine Exousia besessen hat. Diese Macht „ist tatsächlich die seiner Lehre“ 30 . Sie konkretisiert sich somit in dem, was er die Menschen lehrt und wie er die Tora für seine Gegenwart auslegt, um den in ihr enthaltenen Willen Gottes freizulegen. Mt 21,23-27 Der Erzählabschnitt Mt 21,23-27 ist eingerahmt von der Erzählung über den verdorrten Feigenbaum (Mt 21,18-22) und dem Gleichnis Jesu von den unglei‐ chen Söhnen (Mt 21,28-32). Für das Verständnis der Erzählung Mt 21,23-27 ist für den intendierten Rezipienten zudem der vorangehende Kontext der Tem‐ pelreinigung Jesu (Mt 21,12-17) sowie sein Einzug in Jerusalem (Mt 21,1-10) wichtig. Der Abschnitt Mt 21,23-27 ist geprägt durch ein Streitgespräch zwi‐ schen der Figur des irdischen Jesus und den Figuren der Hohepriester und Äl‐ testen, den „Jerusalemer Aristokraten, als höchste Repräsentanten von Tempel und Volk“ 31 . Die Kommunikation zwischen beiden Seiten ist jeweils nur durch erklärende Einschübe des Erzählers unterbrochen, bzw. eingeleitet (vgl. Mt 21,23a; 21,25b-26). Der Fokus liegt daher in diesem Erzählabschnitt hauptsäch‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 196 <?page no="197"?> 32 Hierbei ist v. a. das Verhältnis der Figur des irdischen Jesus zur Figur Johannes des Täufers als eine Art Parallelsetzung wichtig sowie das Verhältnis Jesu zur Figuren‐ gruppe der Hohepriester und Ältesten als seiner Gegner, vgl. hierzu auch Frankemölle, Matthäus II, 320. 33 Luz, Matthäus III, 208. 34 Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium II, 216: „Die Frage nach der Vollmacht Jesu ist um‐ fassender und darf nicht auf seinen Tempelprotest eingeschränkt werden. […] Die An‐ frage ist darum vor allem eine Frage nach der Vollmacht seiner Lehre.“ Die Ansicht, dass sich das ταῦτα in Mt 21,23 nur auf die Lehre beschränkt, wird u. a. vertreten durch Luck, Matthäus, 231 sowie Sand, Matthäus, 428. Luz ist dagegen der Meinung, das ταῦτα beziehe sich in erster Line nur auf das Tun Jesu (v. a. die Tempelreinigung) und nicht auf seine Lehre, vgl. Luz, Matthäus III, 209; so auch Frankemölle, Matthäus II, 321. Wiefel lässt die Frage gänzlich offen, vgl. Wiefel, Matthäus, 365. Durch die der Frage jedoch unmittelbar vorangehende Formulierung Καὶ ἐλθόντος αὐτοῦ εἰς τὸ ἱερὸν προσῆλθον αὐτῷ διδάσκοντι (Mt 21,23) bezieht sich das ταῦτα m. E. notwendigerweise auf das διδάσκοντι zurück, da es die der Frage direkt vorangehende Handlung Jesu beschreibt. Zudem macht Gnilka m. E. zu Recht deutlich, dass die Geschichte der Tem‐ pelreinigung bereits weiter zurückliegt und durch die Erzählung vom verdorrten Fei‐ genbaum unterbrochen worden ist (Mt 21,18-22), vgl. Gnilka, Matthäusevangelium II, 216. Die Frage der Hohepriester und Ältesten zielt somit v. a. auf die Exousia seiner Lehre, die er in Mt 21,23 im Tempel ausübt. 35 Vgl. Luz, Matthäus III, 209. lich auf der Selbstcharakterisierung des Irdischen durch sein Sprechen sowie auf dem Verhältnis seiner Figur zu den anderen Figuren. 32 Jedoch ist auch die Umwelt der Erzählung von Belang: Jesus lehrt im Tempel, dem „Zentrum Israels“ 33 , in dem er zuvor alle Verkäufer und Händler vertrieben und Blinde und Lahme geheilt hatte (Mt 21,12-17). Er nutzt den Tempel im Gegensatz zu den Verkäu‐ fern und Händlern zur Lehre (Mt 21,23). Die Frage der Hohepriester und Ältesten ἐν ποίᾳ ἐξουσίᾳ ταῦτα ποιεῖς zielt auf seine im Vorangehenden erwähnte Lehre im Tempel. 34 Die Hohepriester und Ältesten, die selbst eine Autorität v. a. über den Tempel besitzen 35 , halten Jesu öffentliche Lehre im Tempel für anmaßend und fragen ihn nach dem Woher seiner Exousia. Insgesamt geht es an dieser Stelle in erster Linie nicht um die Frage, worüber der Irdische Vollmacht besitzt, sondern woher und von wem er diese Vollmacht erhalten hat (Mt 21,23 καὶ τίς σοι ἔδωκεν τὴν ἐξουσίαν ταύτην). Durch die Frage nach dem Ursprung der Exousia spielt der Geberge‐ danke automatisch mit hinein. Es geht also darum, wer ihm diese Macht über‐ tragen hat und in wessen Vollmacht er somit handelt. Jesus antwortet der Figurengruppe der Hohepriester und Ältesten mit einer Gegenfrage und fragt sie nach dem Woher der Taufe des Johannes (Mt 21,24- 4.1 Im Matthäusevangelium 197 <?page no="198"?> 36 „Jesus’ answer (21: 24-25) is more than a clever ploy to avoid an answer. It exposes the power of Jesus’ actions and teaching by exposing the failure of Priests and Elders to give an authoritative teaching when asked for it”, Repschinsky, Controversy Stories, 196. 37 Luz, Matthäus, 209. 38 Zur Verwendung des Wortes „Himmel“ als Umschreibung für „Gott“ vgl. Strack / Bil‐ lerbeck, Matthäus, 862. 39 „Schon durch die der Antwort vorangestellte inhaltliche Ausführung der Überlegungen wird die darauffolgende Antwort negativ qualifiziert“, Sand, Matthäus, 428; vgl. auch Keener, Matthew, 506: „The Gospel tradition’s irony is almost satirical: the aristocrats fear the crowds“. 40 Vgl. Keener, Matthew, 506-507; Luck, Matthäus, 231: „Dabei ist für Matthäus voraus‐ zusetzen, daß das Geschick Jesu und das des Täufers nicht voneinander zu trennen sind (17,10-13).“ Zum Verhältnis der Jesus-Figur zu Johannes dem Täufer im Matthäusevan‐ gelium vgl. auch Frankemölle, Johannes der Täufer und Jesus, 196-218. 41 Wiefel, Matthäus, 365. 42 Vgl. auch Carter, Matthew and the Margins, 424: „The gospel links John and Jesus clo‐ sely […]. To decide about John is to decide about Jesus.” 43 Vgl. hierzu Luz, Matthäus III, 209. Zusätzlich weiß der intendierte Rezipient bereits von der ihm von Gott übertragenen Vollmacht Jesu (vgl. v. a. Mt 7,29; 9,6; 11,25-27), vgl. hierzu Frankemölle, Matthäus II, 321. 25). 36 Hierbei nennt er ihnen die zwei Alternativen ἐξ οὐρανοῦ ἢ ἐξ ἀνθρώπων (Mt 21,25). „Die Frage Jesu stürzt die Hohepriester und Ältesten in Verlegen‐ heit.“ 37 Denn wenn sie antworten, die Taufe des Johannes komme vom Himmel und sei somit göttlich 38 , dann würde Jesus sie nach ihrer Verweigerung der Taufe fragen. Antworten sie aber, sie sei von den Menschen, dann müssten sie die Reaktion der Volksmenge fürchten, die Johannes den Täufer für einen Propheten hält. Die Gedanken der Hohepriester und Ältesten werden vom Erzähler aus‐ führlich geschildert (Mt 21,25b-26); dies dient dazu, die Verlegenheit dieser Fi‐ gurengruppe für den intendierten Rezipienten hervorzuheben und sie damit gewissermaßen bloßzustellen. 39 Für die Figur des irdischen Jesus ist besonders der Bezug zur Figur Johannes’ des Täufers von Bedeutung. Indem Jesus die Antwort auf die Frage nach seiner Vollmacht an die Frage nach dem Woher der Taufe des Johannes knüpft, wird eine gewisse Parallelität beider Figuren sichtbar. 40 „Als Gegenstück zum Wirken Jesu erscheint das des Johannes“ 41 . Beide möglichen Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der Taufe des Johannes (göttlich oder menschlich) sind somit auch auf den Ursprung der Exousia Jesu zu übertragen. 42 Die „richtige“ Antwort lautet damit in beiden Fällen ἐξ οὐρανοῦ. Johannes der Täufer hat von Gott die Exousia erhalten, die Menschen zu taufen, genau wie der irdische Jesus von Gott die Exousia erhalten hat, (im Tempel) zu lehren. 43 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 198 <?page no="199"?> 44 Mit der Bezeichnung τὴν ἰδίαν πόλιν (Mt 9,1) ist die Stadt Kapernaum gemeint, vgl. Luz, Matthäus II, 36; Gnilka, Matthäusevangelium I, 324-325. 45 Vgl. hierzu auch Luz, Matthäus II, 35. Gnilka schlägt dagegen eine Dreiteilung des Ab‐ schnitts vor (Zusammentreffen mit dem Gelähmten V.2; Diskussion mit den Schriftge‐ lehrten V.3-6 sowie der Geheilte und die Volksmenge V.7-8), vgl. Gnilka, Matthäus‐ evangelium I, 324. 46 Von der Figurengruppe der Schriftgelehrten werden lediglich die Gedanken geschildert (Mt 9,3), die Jesus aber bemerkt (Mt 9,4). 4.1.1.2 Im Hinblick auf seine Sündenvergebung (Mt 9,2 - 8) Um sich nicht die Blöße zu geben und um nicht die Reaktion des Volkes fürchten zu müssen, enthalten sich die Hohepriester und Ältesten einer Ant‐ wort, worauf Jesus es ihnen gleichtut (Mt 21,27). Insgesamt wird durch den Erzählabschnitt Mt 21,23-27 (und hier besonders durch die Selbstcharakterisierung des irdischen Jesus sowie sein Verhältnis zur Figur des Johannes) für den intendierten Rezipienten deutlich, dass die Figur des irdischen Jesus über eine Exousia im Hinblick auf seine Lehre (im Tempel) ver‐ fügt, die ihm nicht von den Menschen, sondern von Gott übertragen worden ist. Der Erzählabschnitt Mt 9,2-8 schießt an die Erzählung von der Heilung der zwei Besessenen in Gadara an (Mt 8,28-34). Jedoch findet nun ein Ortswechsel statt, Jesus fährt mit einem Boot hinüber in seine Stadt (Mt 9,1). 44 An den Erzählab‐ schnitt Mt 9,2-8 schließt die Erzählung über die Berufung des Matthäus und das gemeinsame Mahl mit den Zöllnern an (Mt 9,9-13). Der Erzählabschnitt Mt 9,2-8 setzt sich insgesamt aus sechs inhaltlichen Ab‐ schnitten zusammen: 1. Ein Gelähmter wird zu Jesus getragen (V.2a). 2. Jesus spricht zu ihm (V.2b). 3. Es ereignet sich eine Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten (V.3-6a). 4. Jesus spricht zum Gelähmten (V.6b). 5. Der Ge‐ lähmte geht nach Hause (V.7). 6. Die Reaktion der Volksmenge wird geschildert (V.8). 45 Im Hinblick auf die Darstellung des irdischen Jesus in Mt 9,2-8 ist besonders seine Selbstcharakterisierung (und hier v. a. seine Rede) von Belang. Auffällig ist hierbei, dass die Jesus-Figur die einzige der Figuren ist, die im gesamten Erzähl‐ abschnitt spricht. Vom Gelähmten, den (gläubigen) Menschen, die ihn zu Jesus tragen, einigen der Schriftgelehrten 46 sowie der Volksmenge wird keine direkte Rede wiedergegeben. So liegt der Fokus eindeutig auf der Jesus-Figur und ihren Worten. Zudem ist unter dem Gesichtspunkt der Fremdcharakterisierung die Reaktion der Volksmenge auf das Handeln und Reden des irdischen Jesus zu berücksichtigen. Auch das Verhältnis der Jesus-Figur zu den Schriftgelehrten sowie zum Gelähmten und denjenigen, die ihn tragen und deren Glauben er sieht (Mt 9,2), spielt in Mt 9,2-8 eine wichtige Rolle. 4.1 Im Matthäusevangelium 199 <?page no="200"?> 47 Vgl. Klaiber, Matthäusevangelium I, 174 „[S]chon die Tatsache, dass die Leute den Kranken zu Jesus brachten, [ist] Ausdruck ihres Glaubens.“ 48 Dabei wird nach Klaiber durch die passive Formulierung ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι in Mt 9,2 deutlich, dass letztlich Gott hinter der Sündenvergebung steht, vgl. Klaiber, Mat‐ thäusevangelium I, 174-175. 49 Wiefel, Matthäus, 175. So auch Gnilka, Matthäusevangelium I, 326: „Die Zusage der Sündenvergebung an den Gelähmten deutet auf den Zusammenhang von Krankheit, Schuld und Sünde. Die Krankheit des Mannes darf aber nicht individuell als Strafe für begangene Sünden aufgefaßt werden […]. Vielmehr gehört zum Heilsein des Menschen beides: Die Befreiung von Krankheit und Sünde.“ Dagegen vertritt Sand die Ansicht, es werde an dieser Stelle keinesfalls der enge Zusammenhang von Krankheit und Sünde angesprochen. Der Ausspruch der Sündenvergebung an den Gelähmten mache viel‐ mehr die „Nahtstelle“ sichtbar, mit der zwei ursprünglich unabhängige Erzählungen (der Heilung und der Vollmacht zur Sündenvergebung) miteinander verknüpft worden seien, vgl. Sand, Matthäus, 193. Dass jedoch ein Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit im zeitgenössischen Judentum und damit im unmittelbaren Umfeld des Textes bestand, ist nicht zu bestreiten. Zum Kausalzusammenhang von Krankheit und Sünde in jüdischer Literatur vgl. auch Strack / Billerbeck, Matthäus, 495-496. Jesu Aus‐ spruch zur Sündenvergebung spricht damit ganz gezielt den Gelähmten an und trägt zu seiner Heilung bei, vgl. Luz, Matthäus II, 36: „Die Sünde trennt den Menschen von Gott; sie ist auch der Grund von Krankheit.“ 50 Sand, Matthäus, 194; vgl. auch Wiefel, Matthäus, 175. Ein Gelähmter wird in Mt 9,2 auf seinem Bett zu Jesus getragen. Die Figuren, die den Gelähmten zu Jesus tragen, werden nicht explizit genannt, jedoch weiß der intendierte Rezipient, dass sie einen Glauben besitzen, was Jesus direkt er‐ kennt (Mt 9,2). 47 Daraufhin spricht Jesus zum Gelähmten: θάρσει, τέκνον, ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι (Mt 9,2). 48 Das dem Gelähmten an dieser Stelle von Jesus zugesprochene Heil „wird ganzheitlich verstanden: Es umfaßt Gesund‐ werden und Sündenvergebung.“ 49 Dem intendierten Rezipienten ist an dieser Stelle sicherlich aus seinem Weltwissen der im zeitgenössischen Judentum be‐ stehende Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde bekannt, der in Mt 9,2 vorausgesetzt wird. Jesus spricht den Gelähmten von seinen Sünden frei und heilt ihn damit von seinem Gelähmt-Sein, was im Folgenden demonstriert wird (vgl. Mt 9,6). Jesu Ausspruch zur Sündenvergebung provoziert die (gedankliche) Reaktion der Schriftgelehrten οὗτος βλασφημεῖ (Mt 9,3). Die Figurengruppe der Schrift‐ gelehrten nimmt auch in Mt 9,2-8 wieder die Funktion der „prominenten Gegner Jesu“ 50 ein. Denn durch Jesu Ausspruch „maßt [er] sich an, was Gott 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 200 <?page no="201"?> 51 Grundmann, Matthäus, 267. Vgl. hierzu auch Strack / Billerbeck, Matthäus, 495: „Die Sündenvergebung bleibt überall das ausschließliche Recht Gottes“; sowie Pasala, „Drama“ of the Messiah, 170: „When the Scribes murmur against the authority of Jesus, they understand that Jesus has taken upon himself the prerogative which was reserved only to God“. 52 Luck, Matthäus, 115. 53 Gnilka, Matthäusevangelium I, 326. 54 Zur Bedeutung des Sehens als eine Form des Erkennens, vgl. Gnilka, Matthäusevange‐ lium I, 326. 55 Luck, Matthäus, 116. 56 „Die Doppelfrage Jesu bindet beides, seelische und leibliche Heilung, zusammen“, Wiefel, Matthäus, 175. Sand ist dagegen der Meinung, die Doppelfrage Jesu müsse vom Standpunkt eines Skeptikers verstanden werden, der „sichtbare Bestätigung eines un‐ sichtbaren Vorgangs verlangt“, Sand, Matthäus, 193. Für den Skeptiker sei es deshalb leichter, das Vergebungswort auszusprechen als eine Heilung zu vollziehen, deren Wir‐ kung direkt sichtbar werde, vgl. Sand, Matthäus, 193. Jedoch liegt die Pointe der Frage Jesu m. E. gerade darin, dass beides nicht voneinander getrennt werden kann, vgl. auch Luck, Matthäus, 116: „Da Krankheit und Sünde genauso zusammenhängen wie Ge‐ rechtigkeit und Leben, ist das eine nicht ohne das andere möglich.“ Keener hält dagegen den Ausspruch der Sündenvergebung für wichtiger als die Heilung und koppelt beides somit nicht unmittelbar aneinander, vgl. Keener, Matthew, 289: „Jesus knows that sup‐ pliants need forgiveness even more than physical healing […]. Thus Jesus turns his attention to forgiveness first.“ 57 Vgl. Luz, Matthäus II, 37. allein vorbehalten ist.“ 51 Sein Ausspruch ist damit nach Meinung der Schriftge‐ lehrten „Gotteslästerung“ 52 und „Inanspruchnahme eines göttlichen Privilegs durch einen Menschen“ 53 . Die Figur des irdischen Jesus durchschaut 54 jedoch ihre Gedanken und wirft ihnen vor, Böses in ihren Herzen zu erwägen (Mt 9,4). Daraufhin stellt Jesus ihnen die Frage, was leichter sei: der Ausspruch der Sündenvergebung oder die Heilung selbst (Mt 9,5). Dabei will er von ihnen wissen, „was unter Bezug auf den Vorwurf der Gotteslästerung leichter oder schwerer wiegt.“ 55 Sündenver‐ gebung und Heilung sind jedoch unweigerlich miteinander verbunden, denn Krankheit und Sünde bedingen einander. 56 Die zentrale Aussage des irdischen Jesus und damit der Höhepunkt des Er‐ zählabschnitts Mt 9,2-8 folgt nun in Mt 9,6. Dabei ist der Ausspruch eine syn‐ taktisch abgebrochene Konstruktion, denn nach dem Vollmachtsausspruch Jesu endet der Satz in Mt 9,6a abrupt (ἵνα δὲ εἰδῆτε ὅτι ἐξουσίαν ἔχει ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐπὶ τῆς γῆς ἀφιέναι ἁμαρτίας). Es schließt die mit τότε λέγει einge‐ leitete Aufforderung an den Gelähmten an. Der intendierte Rezipient muss beim Lesen nach dem Satz-Bruch in Mt 9,6 notwendigerweise kurz inne halten. 57 Dadurch wird einmal mehr die Bedeutung und der Stellenwert der Voll‐ 4.1 Im Matthäusevangelium 201 <?page no="202"?> 58 „This power may be understood as both the ability and the authority of the son of man“, Repschinski, Controversy Stories, 70. 59 Vgl. Luz, Matthäus II, 37; Gnilka, Matthäusevangelium I, 327. Jeremias vertritt dagegen die Ansicht, dass an dieser Stelle die Formulierung ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ursprünglich nicht als Titel, sondern eher im Sinne von ein Mensch verstanden werden müsse, vgl. Jeremias, Theologie, 248-250. So auch Beare, Matthew, 223. Gnilka macht jedoch m. E. zu Recht darauf aufmerksam, dass „in unserem Evangelium kein einziges Menschens‐ ohnwort, das nicht das Hoheitsprädikat verwendete“, existiert, Gnilka, Matthäusevan‐ gelium I, 327. 60 Wiefel, Matthäus, 175. 61 Grundmann, Matthäus, 268. 62 Nach Pasala dient diese narrative Wiederholung hingegen dazu, zu zeigen, „that men have learned to obey“, Pasala, „Drama“ of the Messiah, 175. Jedoch zielt der Text m. E. nicht so sehr auf das Gehorchen des Gelähmten, sondern vielmehr auf die Heilung des Gelähmten durch Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung. machts-Aussage Jesu innerhalb von Mt 9,2-8 betont. 58 Dadurch, dass an dieser Stelle von einer Exousia des Menschensohns im Blick auf die sonst allein Gott vorbehaltene Sündenvergebung die Rede ist, ist der Gebergedanke an dieser Stelle implizit vorhanden. Es wird somit deutlich, dass der Irdische diese Exousia von Gott erhalten hat und es sich damit um eine göttliche Vollmacht handelt. Im Blick auf den Vollmachts-Ausspruch Jesu fallen drei Aspekte auf: 1. Der Vollmachts-Ausspruch begegnet hier zum ersten Mal ausdrücklich (und auf seine Figur bezogen) aus dem Munde Jesu. 2. Der irdische Jesus spricht von sich selbst als dem Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) und macht damit seine besondere Stellung deutlich. 59 3. Der irdische Jesus bringt zum Ausdruck, dass sich seine Vollmacht zur Sün‐ denvergebung auf die Erde bezieht. „Unausgesprochener Gegensatz ist »im Himmel«.“ 60 Der Geltungsbereich seiner Exousia bezieht sich damit ein‐ deutig auf die Erde (ἐπὶ τῆς γῆς). Der irdische Jesus besitzt somit eine Voll‐ macht zur Sündenvergebung in dem Bereich, in dem er wirkt, nämlich auf der Erde. Schließlich fordert der irdische Jesus den Gelähmten auf, aufzustehen, sein Bett zu nehmen und nach Hause zu gehen (Mt 9,6b). Diese Aufforderung ist „voll‐ mächtiges Wort“ 61 . Der Erzähler wiederholt in Mt 9,7 fast wortwörtlich noch einmal Jesu Aufforderung, um zu zeigen, dass der Gelähmte diesem Apell auch wirklich nachkommt. Durch diese narrative Wiederholung wird zudem für den intendierten Rezipienten das Wunder der Heilung durch Jesu Vollmacht deutlich vor Augen geführt. 62 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 202 <?page no="203"?> 63 „Das wird nicht als Mißverständnis des Menschensohnanspruchs durch die Zeugen des Vorgangs zu deuten sein, sondern, der Verbindung von Christus- und Gemeindeaus‐ sagen entsprechend, wie sie bei Matthäus vorliegt, als das Bekenntnis, daß die Gemeinde des Christus, die in seine Nachfolge berufen ist (8,23), auch an seiner Vollmacht teilbe‐ kommt“, Grundmann, Matthäus, 268; vgl. Wiefel, Matthäus, 176; vgl. Gnilka, Matthä‐ usevangelium I, 327. Dagegen Keener, Matthew, 289: „Jesus’ unique authority on earth to forgive sins sets him apart from other people“. 64 Vgl. auch Bornkamm / Barth / Held, Überlieferung und Auslegung, 260: „Der Lobpreis Gottes durch die Menge bezieht sich hier nicht mehr auf das Wunder als solches, son‐ dern auf den Tatbestand, daß Gott solche Vollmacht den Menschen gegeben hat (Mt. 9,8).“ Dagegen bezieht Pasala die Macht, die Gott den Menschen gegeben hat, nicht auf die Sündenvergebung, sondern auf die Macht, zu gehorchen. „Therefore, the authority that has been given to men is not the authority to forgive sins, as many have understood it but the authority 'to obey'“, Pasala, „Drama” of the Messiah, 175. Jedoch spricht der Text ganz ausdrücklich in Mt 9,8 von einer solchen Macht (τὸν δόντα ἐξουσίαν τοιαύτην) und bezieht sich damit m. E. ganz eindeutig auf die Macht Jesu zur Sünden‐ vergebung in Mt 9,6. So auch Bornkamm, Studien, 273: „Eindeutig ist damit dieselbe Vollmacht gemeint wie in V. 6 dem Menschensohn verliehene ἐξουσία, auf Erden Sünden zu vergeben.“ 4.1.1.3 Im Hinblick auf seine Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen (Mt 10,1) Die Reaktion der Volksmenge besteht in Furcht und Lobpreis Gottes (Mt 9,8). Das Lob der Volksmenge bezieht sich darauf, dass Gott den Menschen solche Vollmacht zur Sündenvergebung gegeben hat. Daraus wird für den intendierten Rezipienten deutlich, dass die Vollmacht zur Sündenvergebung (auf der Erde) nicht nur auf die Figur des irdischen Jesus bezogen ist, sondern auf alle Men‐ schen ausgeweitet wird. 63 Die Vollmacht Gottes zur Sündenvergebung wird auf den irdischen Jesus übertragen und zugleich auch auf alle Menschen. 64 Durch die Vollmacht zur Sündenvergebung befindet sich die Jesus-Figur in dieser Hin‐ sicht mit der Figurengruppe des Volkes auf einer Ebene. Insgesamt ist durch den Erzählabschnitt Mt 9,2-8 deutlich geworden, dass die Figur des irdischen Jesus die Exousia besitzt, auf Erden die Sünden zu ver‐ geben. Diese Vollmacht ist dabei zugleich auf alle Menschen ausgeweitet. Sie richtet sich auf den Bereich der Erde und steht so Mt 28,18 gegenüber, wo von der Vollmacht des Auferstandenen ausgesagt ist, dass sie sich auf den Himmel und die Erde bezieht. Von einer universalen Vollmacht, wie sie in Mt 28,18 ge‐ schildert wird, kann damit für die Figur des irdischen Jesus in Mt 9,2-8 noch nicht die Rede sein. Die Textstelle Mt 10,1 bildet den Anfang der Jüngerberufung und der sich daran anschließenden Aussendung durch den irdischen Jesus. In Mt 10,1 berichtet der Erzähler, dass Jesus seine zwölf Jünger zu sich ruft und ihnen die Exousia über‐ 4.1 Im Matthäusevangelium 203 <?page no="204"?> 65 So Luz, Matthäus II, 83; Bornkamm, Studien, 297. 66 Zum Auftrag Jesu vgl. Luck, Matthäus, 126-128. 67 „Bevor die Zwölf ihren Dienst antreten, ihren missionarischen Dienst, müssen sie zuerst zum Herrn kommen, um von ihm Berufung und Vollmacht zu erhalten. Dann erst können sie ihre Mission, ihren Auftrag erfüllen, dann erst können sie zu den Menschen gehen“, Rienecker, Matthäus, 129. 68 Schneider, Vollmacht zur Heilung, 12. 69 Zur Vollmacht des irdischen Jesus im Hinblick auf seinen Taten vgl. Bornkamm, Studien, 243-288. 70 Vgl. Foerster, Art. ἐξουία, 566; vgl. auch Gundry, Matthew, 185: „That authority is the same as Jesus’ authority“. Eine Parallele zu Mt 10,1 bildet gewissermaßen die Textstelle Mt 9,1-8. Denn auch hier besitzt der irdische Jesus die Vollmacht, auf Erden Sünden zu vergeben und lässt ebenfalls die Menschen an dieser Vollmacht partizipieren. 71 Wiefel, Matthäus, 191. trägt zur Austreibung unreiner Geister sowie zur Krankenheilung. Anschlie‐ ßend listet der Erzähler in Mt 10,2-4 die Namen der zwölf Jünger auf. Jedoch steht an dieser Stelle nicht die Einsetzung des Zwölferkreises im Vordergrund. 65 Es folgt ab Mt 10,5 die Aussendungsrede der Figur des Irdischen an seine zwölf Jünger, die er in Mt 10,1 mit Exousia im Hinblick auf die Austreibung unreiner Geister und Krankenheilung ausgestattet hat. Mt 10,1 bildet damit gewisser‐ maßen die Grundlage und Basis der folgenden Aussendungsrede des irdischen Jesus. Die Thematik der Übertragung einer Exousia an seine Jünger fällt haupt‐ sächlich in den Bereich der Selbstcharakterisierung Jesu durch sein Handeln. Auch der Aspekt Figur und Figuren ist an dieser Stelle relevant, da es unmittelbar um das Verhältnis zwischen der Figur des Irdischen und seinen zwölf Jüngern geht. Die Figur des irdischen Jesus sendet in Mt 10,1-42 seine zwölf Jünger aus, damit sie zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gehen sollen (πρὸς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ Mt 10,6). Sie sollen dabei die nahe Him‐ melsherrschaft verkündigen (Mt 10,7), Kranke heilen, Tote auferwecken, Aus‐ sätzige reinigen und Dämonen austreiben (Mt 10,8). 66 Hierzu erteilt er ihnen die Vollmacht. 67 Wenn die Figur des irdischen Jesus anderen Figuren eine Vollmacht zur Geis‐ teraustreibung und Krankenheilung erteilt, dann bedeutet dies für den inten‐ dierten Rezipienten im Umkehrschluss, dass auch der Irdische selbst über die Macht verfügt, Dämonen auszutreiben und dass er die „einzigartige Vollmacht zur Heilung“ 68 besitzt (vgl. Mt 4,23; 8,1-4; 8,5-13; 8,14-17; 8; 28-34; 9,1-8; 9,18- 26; 9,27-34; 9,35). 69 Denn nur wenn der Irdische über diese Exousia verfügt, kann er auch andere Figuren an ihr teilhaben lassen. 70 Nun „geht die Vollmacht zu solchem Tun an die ausgesandten Zwölf über (V.8).“ 71 Die Jünger haben damit 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 204 <?page no="205"?> 72 „Die Jünger partizipieren an seiner eigenen Vollmacht; das machen die Rückverweise auf 4,23; 9,35 und 8,16 deutlich“, Luz, Matthäus II, 83; vgl. auch Sand, Matthäus, 217: „Sie erhalten »Vollmacht«, d. h. Anteil an der Vollmacht Jesu“; Grundmann spricht durch die Vollmachtsübertragung von den Jüngern nun als „Mitarbeitern“, Grundmann, Matthäus, 287. 73 Vgl. Luck, Matthäus, 125. Frankemölle spricht von einer „Vollmacht zur Beauftragung der Jünger, Menschen zu heilen“, Frankemölle, Matthäus II, 542. 74 Fiedler, Matthäusevangelium, 243. 4.1.1.4 Das Problem von Mt 11,27 Anteil an der Exousia des Irdischen für diese Bereiche. 72 Aber es sagt zudem auch über die Figur des Irdischen aus, dass er über die Macht verfügt, anderen eine Vollmacht zu erteilen. 73 Durch die Erteilung der Vollmacht an seine Jünger in Mt 10,1 ist damit im Hinblick auf die Figur des irdischen Jesus deutlich geworden, dass der Irdische eine Exousia in Bezug auf sein Handeln besitzt, die sich v. a. in der Krankenhei‐ lung und in der Dämonenaustreibung konkretisiert, und dass er darüber hinaus auch andere Figuren an dieser Exousia teilhaben lassen kann. Der Vers Mt 11,27 bildet die Mitte des Abschnitts Mt 11,25-30, der zusammen‐ fassend als „Selbstoffenbarung des Gottessohns und die Einladung zu ihm“ 74 bezeichnet werden kann. Der Erzählabschnitt Mt 11,25-30 lässt sich in drei Ab‐ schnitte unterteilen: Mt 11,25-26 beinhaltet das Gotteslob des irdischen Jesus, Mt 11,27 die Aussage, dass ihm alles von seinem Vater übergeben worden ist und Mt 11,28-30 die Einladung des Irdischen. Der Vers Mt 11,27 ist somit ge‐ rahmt von einem Gotteslob und einer Einladung Jesu. An die Rede Jesu in Mt 11,25-30 schließt die Erzählung vom Ährenraufen am Sabbat (Mt 12,1-8). Mt 11,25-30 ist damit als zusammenhängender Redekomplex der Figur des irdi‐ schen Jesus charakterisiert. Der Erzählabschnitt Mt 11,25-30 wird von einem Einleitungssatz des Erzäh‐ lers eingeführt (Ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ ἀποκριθεὶς ὁ Ἰησοῦς εἶπεν Mt 11,25a). Da‐ rauf folgt die dreiteilige Rede der Figur des Irdischen. Die Selbstcharakterisierung der Figur des irdischen Jesus ist daher in diesem Erzählabschnitt leitend. Zudem ist unter dem Aspekt Figur und Figuren v. a. das Verhältnis des Irdischen zu Gott von Bedeutung, denn sowohl im Gotteslob (Mt 11,25-26), als auch in der Über‐ tragungsaussage (Mt 11,27) geht es v. a. um die Beziehung des Irdischen als Sohn 4.1 Im Matthäusevangelium 205 <?page no="206"?> 75 Die Anrede πατήρ findet sich in Mt 11,25-27 an fünf Stellen, davon dreimal in Mt 11,27. In Mt 11,25 ist es „Vater, Herr des Himmels und der Erde“; in Mt 11,26 nur „Vater“ und in Mt 11,27 „mein Vater“ sowie „Vater“. 76 Vgl. Luz, Matthäus II, 198: „Das Leitwort πατήρ verbindet die ersten drei Teilsätze, das Leitwort υἱός die Teilsätze 2-4. Das dritte Logion V28-30 hat keine verbindenden Stichworte zu den anderen“. 77 So u. a. Konradt, Matthäus, 461, der Mt 11,27 als eine Vorwegnahme von Mt 28,18b ver‐ steht und durch Mt 28,18b das πάντα aus Mt 11,27 genauer spezifiziert sieht. Ebenso auch Bornkamm, Der Auferstandene und der Irdische, 174-175. 78 Vgl. Luz, Matthäus II, 210. 79 Vgl. Schniewind, Matthäus, 151: „Unser Wort klingt an Kap. 28,18 an; was dort der Auf‐ erstandene sagt, sagt hier schon Jesus als der Irdische. Er hat schon als der Irdische die 'Vollmacht' von Gott empfangen, die dem König eigen ist“; Luck, Matthäus, 143: „Daß ihm »alles« übergeben worden ist vom Vater, nimmt den Schluß des Matthäus vorweg (28,18-20). Es ist bereits der erhöhte Jesus Christus, der hier spricht, und der sich an die Menschen wendet“; vgl. Sand, Matthäus, 252; Fiedler, Matthäusevangelium, 245. 80 Popkes, Art. παραδίδωμι, 43. 81 „Die verstärkte Form von »geben« (=einem Machtbereich überstellen, bevollmächtigen) drückt aus, daß Jesus vom Vater als Bevollmächtigter eingesetzt ist (Mt 28,18)“, Sand, Matthäus, 252. zu Gott, seinem Vater 75 , weshalb Mt 11,25-26 und Mt 11,27 inhaltlich sehr eng zusammenhängen. 76 Der irdische Jesus sagt in Mt 11,27 über sich selbst und in Bezug auf sein Verhältnis zu seinem Vater aus, dass ihm alles vom Vater übergeben worden ist (Πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός μου). Hinsichtlich der Frage nach der Exousia des irdischen Jesus ist hierbei das Wort πάντα entscheidend. Es stellt sich die Frage, was mit dem Wort πάντα gemeint ist und was es genau beinhaltet. Beinhaltet das πάντα auch eine (universale) Macht des irdischen Jesus? 77 Für diese Sichtweise sprechen verschiedene Beobachtungen am Text: Zunächst kann (und muss) das πάντα umfassend verstanden werden. 78 In dem πάντα kann daher theoretisch alles - und somit auch eine Vollmacht - einge‐ schlossen sein. Zudem wäre dann über die Vollmacht des Irdischen ausgesagt, dass sie nicht begrenzt, sondern universal ist, und Mt 11,27 wäre dann eine Art Vorwegnahme von Mt 28,18. 79 Darüber hinaus bezeichnet das Verb παραδίδωμι „den Vorgang, daß etwas / jemand in die Verfügung eines anderen übertragen wird“ 80 , was nach Sand primär an eine Übertragung eines Machtbereichs denken lässt. 81 Wenn man somit nur die Aussage Jesu in Mt 11,27a für sich allein betrachtet, dann sprechen sowohl das πάντα, als auch das Verb παραδίδωμι für die Über‐ tragung einer unbegrenzten Exousia durch den Vater an den irdischen Jesus. Bezieht man jedoch den unmittelbaren Kontext von Mt 11,27 mit ein (Mt 11,25-26 sowie Mt 11,27c), dann sprechen eine Reihe von Argumenten gegen 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 206 <?page no="207"?> 82 Der Ausdruck ἐξουςία kommt im Erzählabschnitt Mt 11, 25-30 nicht vor. 83 Luz, Matthäus II, 210. 84 Vgl. auch Wiefel, Matthäus, 224: „In der einleitenden Bevollmächtigungs- oder Beauf‐ tragungsaussage kann das πάντα im Sinne von Macht verstanden werden […]. Der vom Offenbarungsgeschehen bestimmte Kontext läßt jedoch stärker an die göttlichen Ge‐ heimnisse denken“; so auch Luz, Matthäus II, 211: „Das allgemeine πάντα spricht eher für die erste, der Kontext aber entschieden für die zweite Deutung.“ So auch Gundry, Matthew, 216. Carter bezieht dagegen das πάντα auf einen anderen Aspekt: „The all things refers, in context, to God’s commissioning of Jesus as God’s agent to reveal God’s saving purpose and reign”, Carter, Matthew and the Margins, 258. 85 Frankemölle, Matthäus II, 124. Jeremias spricht an dieser Stelle von „Lehre, Erkenntnis und heiligem Wissen“, Jeremias, Theologie, 65; Trilling spricht von der „ganze[n] Of‐ fenbarung“, Trilling, Matthäus, 256; vgl. auch Wellhausen, Das Evangelium Matthei, 57: „Es handelt sich in diesem Zusammenhange nicht um Macht, sondern um Er‐ kenntnis, um Einsicht in die göttlichen Dinge, in das wahre Wesen der Religion“; vgl. auch Beare, Matthew, 266-267. 86 Luz, Matthäus II, 210. 87 So auch Luz, Matthäus II, 211. die Annahme, es gehe an dieser Stelle um die Übertragung einer unbegrenzten Exousia an den irdischen Jesus: Im unmittelbaren Kontext von Mt 11,27a geht es hauptsächlich um das Er‐ kennen und Offenbaren von Dingen (ἀποκαλύπτω). In Mt 11,25 preist die Figur des irdischen Jesus den Vater als „Herrn des Himmels und der Erde“, weil er diese Dinge vor den Weisen und Klugen verborgen und den Unmündigen (νηπίοις) offenbart hat. An die Übertragungs-Aussage in Mt 11,27a schließt un‐ mittelbar und mit einem καὶ verbunden der Ausspruch des Irdischen an, nie‐ mand kenne den Sohn außer dem Vater und niemand kenne den Vater außer dem Sohn und demjenigen, dem der Sohn es offenbaren will (καὶ ᾧ ἐὰν βούληται ὁ υἱὸς ἀποκαλύψαι Mt 11,27). Der unmittelbar anschließende Kontext von Mt 11,27a spricht somit dafür, dass es in dem Ausspruch Πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός μου nicht um eine Machtübertragung geht - die auch im Kontext an keiner Stelle erwähnt wird 82 - sondern vielmehr darum, dass ihm „die himm‐ lischen Geheimnisse vom Vater anvertraut worden“ 83 sind. 84 Der Figur des irdi‐ schen Jesus ist somit von Gott „die Totalität der Offenbarung“ 85 übertragen worden. Wird das πάντα in Mt 11,27a also im Sinne von alle Erkenntnis und alles Wissen verstanden, dann begründet Mt 11,27a auch die darauf folgenden Aus‐ sagen in Mt 11,27b und c: „Wenn alle Erkenntnis dem Sohn vom Vater geschenkt wurde, so können Vater und Sohn sich wechselseitig als Gleiche erkennen.“ 86 Zudem bezieht sich Mt 11,27a dann unmittelbar auf Mt 11,25 f zurück und der Abschnitt Mt 11,25-27 bildet inhaltlich eine Einheit. 87 4.1 Im Matthäusevangelium 207 <?page no="208"?> 88 Vgl. auch Byrskog, der die Exousia des Irdischen als stets auf bestimmte Handlungen bezogen versteht und erst die Exousia des Auferstandenen als umfassend und universal charakterisiert, Byrskog, Slutet gott, allting gott, 90-91. 89 Luz, Matthäus IV, 442; ähnlich auch Bornkamm, der bereits dem Irdischen eine Voll‐ macht zuschreibt, die sich jedoch erst beim Auferstandenen über Himmel und Erde universal ausweitet, vgl. Bornkamm, Der Auferstandene und der Irdische, 174-175. 4.1.1.5 Ergebnis Der Kontext von Mt 11,27a spricht somit letztlich eindeutig dafür, dass es hier um die Offenbarung aller Geheimnisse und aller Erkenntnis des Vaters an den Sohn geht, der dies wiederum jedem offenbaren kann, dem er will. Von einer Übertragung einer universalen Exousia und einer sich daraus ergebenden Vor‐ wegnahme von Mt 28,18 kann daher an dieser Stelle nicht die Rede sein. Durch die Untersuchung der Erzählabschnitte Mt 7,29; Mt 21,23-27; Mt 9,2-8; Mt 10,1 sowie Mt 11,27 hat sich gezeigt, dass der irdische Jesus eine Exousia besitzt im Hinblick auf seine Lehre, seine Sündenvergebung sowie im Hinblick auf seine Krankenheilung und Dämonenaustreibung. Seine Exousia bezieht sich somit auf die drei Bereiche Lehre, Sündenvergebung und Heilung. Darüber hinaus begegnet seine Exousia bzw. die Rede von ihr immer in konkreten Handlungs‐ zusammenhängen. Weiter ist von der Exousia des Irdischen ausgesagt, dass sie von Gott kommt (vgl. Mt 21,23-27), dass sie sich auf den Geltungsbereich der Erde bezieht (vgl. Mt 9,2-8) und dass der irdische Jesus andere Figuren an der Exousia zur Sündenvergebung und Heilung partizipieren lässt (vgl. Mt 9,2-8; Mt 10,1). Der Aspekt, dass der Irdische seine Exousia von Gott erhalten hat und damit letztlich in seiner Vollmacht handelt, spielt in allen Stellen ausdrücklich (vgl. Mt 21,23-27) oder unterschwellig (Mt 7,29; Mt 9,2-8; Mt 10,1) mit hinein. Im Vergleich zur Aussage des Auferstandenen ἐδόθη μοι πᾶσα ἐξουσία ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ [τῆς] γῆς (Mt 28,28) fällt somit im Blick auf die Darstellung des irdischen Jesus auf, dass von einer universalen, Himmel und Erde umfassenden Vollmacht für den Irdischen noch nicht die Rede sein kann. Die Exousia des Irdischen bezieht sich auf die Erde, die Exousia des Auferstandenen auf Himmel und Erde. Zudem bezieht sich die Exousia des Irdischen auf drei wesentliche Bereiche, die Exousia des Auferstandenen ist dagegen unbegrenzt. 88 Die Exousia des Irdischen „wird nun durch die Auferstehung gebündelt, ausgeweitet und absolut. Die gesamte Macht im ganzen Kosmos liegt jetzt beim auferstandenen Jesus.“ 89 Aber auch die Exousia des Auferstandenen ist - jedenfalls bis zum Ende des Äons - nicht unbestritten und noch nicht offenkundig. Es kann damit insgesamt im Blick auf das Verhältnis der Figurendarstellung Irdischer - Auferstandener im Matthäusevangelium festgehalten werden, dass 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 208 <?page no="209"?> 90 Zur Problematik des Begriffs μαθητεύω vgl. Reinbold, »Gehet hin und machet zu Jün‐ gern alle Völker«? , 176-205. 91 So u. a. Schweizer, Matthäus, 347: „Von der Verkündigung an Israel aber ist hier über‐ haupt keine Rede“. Eine gegenteilige Position wird u. a. von White vertreten, der die Ansicht vertritt, die in Mt 28,19 geforderte Mission richte sich primär an die Juden, vgl. White, The Eschatological Conversios of 'All the Nations' in Matthew 28,19-20, 375: „First, 'all the nations' in Mt. 28,19 includes those who are already circumcised (the lost sheep of the house of Israel)”. 92 So u. a. Gnilka, Matthäusevangelium II, 508-509; Carter, Matthew and the Margins, 552; Konradt, Israel, 339; 451; Lindemann, Evangelien, 398; Frankemölle, Matthäus II, 546-547; Trilling, Matthäus, 343; Wiefel, Matthäus, 496; Kremer, Osterevangelien, 85; Sand, Matthäus, 596: „Allerdings: Es handelt sich nicht um einen Universalismus ohne Israel oder gar gegen Israel.“ Nach Luz schließt der Missionsbefehl jedoch „eine weitere Israelmission zwar nicht explizit aus, aber große Hoffnungen verbindet Matthäus wohl nicht mehr damit“, Luz, Matthäus IV, 451. 93 Dabei bildet das Jesaja-Zitat in Mt 12,18-21 eine Ausnahme: Es handelt sich um ein vom Erzähler an dieser Stelle platziertes Zitat, das eng auf das vorangehende Handeln des irdischen Jesus bezogen ist. 4.1.2 sich die Exousia des Irdischen anders zeigt als die Exousia des Auferstandenen. Die Exousia des Irdischen zeigt sich in bestimmten Handlungskontexten und ist auf verschiedene konkrete Bereiche bezogen. Erst als Auferstandener wird ihm schließlich die absolute und universale Exousia zugeschrieben. Die Mission des Irdischen Der auferstandene Jesus erteilt seinen Jüngern in Mt 28,19 den Auftrag, alle Völker (πάντα τὰ ἔθνη) zu Jüngern zu machen. 90 Bei der Analyse der Figur des Auferstandenen stellte sich die Frage, ob sich die vom Auferstandenen thema‐ tisierte Mission nur an die Völker richtet 91 oder ob Israel miteingeschlossen ist 92 . Dabei zeigte sich, dass die Mission nach Mt 28,19 sowohl Nicht-Juden als auch Juden umfasst. Sie richtet sich damit an πάντα τὰ ἔθνη, ohne die Juden auszu‐ schließen. Die künftige Mission soll die ganze Welt erreichen. Ausgehend von dieser Aufforderung des Auferstandenen in Mt 28,19 soll nun in die vorangeh‐ enden Kapitel des Matthäusevangeliums zurückgefragt werden, wie sich die Aussagen der Figur des irdischen Jesus dazu verhalten. Bei diesem Rückbezug beschränke ich mich auf Aussagen der Figur des irdischen Jesus. 93 Zunächst werden hierfür Texte herangezogen, in denen Israel im Fokus der Mission steht; anschießend werden Texte untersucht, in denen etwas über eine Völkermission ausgesagt ist. 4.1 Im Matthäusevangelium 209 <?page no="210"?> 94 Vgl. Carter, Matthew and the Margins, 234. 95 Zum Aufbau und zur Struktur des Erzählabschnitts Mt 10,5-15 vgl. Gnilka, Matthäus‐ evangelium I, 359. 96 Luz, Matthäus II, 90; so auch Fiedler, Matthäusevangelium, 227; Sand, Matthäus, 220; Gnilka, Matthäusevangelium I, 362. Anders dagegen von Dobbeler, Restitution Israels, 30, der diese Wendung partitiv auffasst und auf die „Not derjenigen in Israel, die unter einer Führungsschicht zu leiden haben“ bezieht. 4.1.2.1 Israel als Adressat der Mission Mt 10,5-6 Die beiden Verse Mt 10,5-6 bilden eine Aufforderung der Figur des irdischen Jesus an seine zwölf - im Vorherigen einzeln genannten (Mt 10,2-4) - Jünger, nicht zu den Völkern und in samaritanische Städte zu gehen (Mt 10,5b εἰς ὁδὸν ἐθνῶν μὴ ἀπέλθητε καὶ εἰς πόλιν Σαμαριτῶν μὴ εἰσέλθητε), sondern sich den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel zuzuwenden (Mt 10,6 πορεύεσθε δὲ μᾶλλον πρὸς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ισραήλ). Zwei Imperative nennen damit das, was die Jünger nicht tun sollen, ein dritter (positiv formu‐ lierter) Imperativ drückt aus, was sie stattdessen tun sollen. 94 Μt 10,5-6 bildet den Anfang der Aussendungsrede Jesu an seine Jünger, die er zuvor mit der Exousia über unreine Geister und zur Krankenheilung ausgestattet hat. Nun teilt er ihnen mit, wen ihre Mission umfassen soll und wie sie genau auszusehen hat. Sie sollen gehen (πορεύομαι) und die nahe Himmelsherrschaft verkündigen (Mt 10,7). Dabei sollen sie Kranke heilen, Tote auferwecken, Aussätzige rein machen und Dämonen austreiben (Mt 10,8). Zudem sollen sie während ihrer Mission auf eine Entlohnung verzichten und nur das Nötigste mit sich tragen (Mt 10,8b-10). Daran schließen sich noch weitere Instruktionen an (Mt 10,11- 15). 95 Im Hinblick auf die Figur des Irdischen und ihr Verhalten in Bezug auf Israel sind v. a. die Aspekte Selbstcharakterisierung und Figur und Figuren wichtig, da Mt 10,5-6 ein Ausspruch Jesu ist, der sich an die Figurengruppe der Jünger richtet, die wiederum zur Figurengruppe der verlorenen Schafe aus dem Hause Israel gehen sollen. Mit den verlorenen Schafen des Hauses Israel (Mt 10,6 πρὸς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ισραήλ) meint der irdische Jesus jedoch nicht eine bestimmte Figurengruppe innerhalb Israels, wie Sünder oder Deklassierte, „sondern (ex‐ plikativ) ganz Israel“ 96 , also alle Juden. Dem intendierten Rezipienten ist der Vergleich Israels mit einer verlorenen Schafherde bereits aus Mt 9,36 bekannt. Hier berichtet der Erzähler, dass der irdische Jesus Erbarmen mit der Volks‐ menge bekommt, da sie geplagt und niedergeschlagen ist wie Schafe, die keinen 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 210 <?page no="211"?> 97 Soweit ich sehe wird in der Forschung ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Mt 10,6 und Mt 9,36 angenommen, vgl. z. B. Konradt, Israel, 83; Frankemölle, Mat‐ thäus II, 76; Fiedler, Matthäusevangelium, 227. 98 Konradt, Matthäus, 162. Vgl. Auch Nolland, Matthew, 415: „Jesus comes as, in the first instance, a thoroughly Jewish and restrictedly Jewish messiah.” 99 Gnilka, Matthäusevangelium I, 362; Harrington, Matthew, 143: „Just as Jesus was sent to the lost sheep of the house of Israel, so his disciples were sent on the same mission.“ Wong spricht von einem „exklusiv partikularistischen, jüdischen Missionsbefehl“, Wong, Theologie, 87; vgl. auch Garbe, Hirte Israels, 40: „In diesem Zusammenhang erscheint erstmals ausdrücklich die Begrenzung der Wirksamkeit Jesu und seiner Jünger auf Israel“. 100 „Wie Jesu eigene Sendung (15,24) gilt auch die der Jünger vor Ostern ausschließlich Israel“, Konradt, Matthäus, 162. 101 Luz, Matthäus II, 91. 102 Luz, Matthäus II, 91. 103 Vgl. Wong, Theologie, 87. 104 „Die Jünger werden in den Dienst der messianischen Zuwendung des Hirten Israels zu seiner Herde gestellt“, Konradt, Israel, 82. 105 Fiedler, Matthäusevangelium, 228. Hirten haben. Mit der Bezeichnung des Volkes Israel als τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ισραήλ in Mt 10,6 wird daher gezielt auf Mt 9,36 ange‐ spielt. 97 Jedoch belässt der Irdische es nicht bei einer einfachen Aufforderung, an wen sich die Mission zu richten hat; vielmehr nennt er seinen Jüngern zu‐ gleich auch, an wen sich diese Mission nicht richten soll, nämlich an die Völker. So kommt es zu einer „Begrenzung des Radius der Mission“ 98 . Jesus konkretisiert dies weiter, indem er auch die samaritanischen Städte ausschließt. Dadurch ent‐ steht an dieser Stelle ein „eindeutig partikularistische[r] Sendungsauftrag“ 99 . Dadurch, dass er den Jüngern zunächst deutlich macht, zu wem sie nicht gehen sollen und erst anschließend die Adressaten der Mission nennt, stellt er die Völker in einen direkten Gegensatz zu Israel. 100 Dieser Gegensatz wird durch die Formulierung vielmehr (μᾶλλον δέ) verstärkt. Der Ausschluss der Völker aus der Mission durch die Formulierung μὴ ἀπέλθητε sowie μὴ εἰσέλθητε in Mt 10,5 ist somit endgültig und „nicht, etwa durch ein νῦν, eingeschränkt.“ 101 Auf den intendierten Rezipienten wirkt dieser Gegensatz damit „schroff “ 102 . Der Auftrag an die Jünger zur Israelmission gilt bis zur Parusie des Menschensohns (Mt 10,23b). 103 In Mt 10,5-6 ist damit ganz deutlich die von der Figur des irdischen Jesus geforderte Mission auf Israel fokussiert und grenzt die Völker klar aus. 104 Damit ist in Mt 10,5-6 ausschließlich „Israel […] Empfänger der Himmelreichsbot‐ schaft“ 105 . 4.1 Im Matthäusevangelium 211 <?page no="212"?> 106 Vgl. Garbe, Hirte Israels, 145, der v. a. den Umfang der Israelmission betont: „[D]ie Auf‐ gabe der Mission in Israel ist so umfangreich, dass ihr sie nicht werdet beenden können, bis der Menschensohn kommt.“ 107 Gnilka, Matthäusevangelium I, 379. Dem intendierten Rezipienten ist diese Formel aus dem Mund der Figur des Irdischen bereits aus Mt 5,18 bekannt. Dort diente sie zur Einleitung seiner Aussagen über die andauernde Gültigkeit des Gesetzes im Kontext der Bergpredigt (Mt 5,18-20), um mit ihr die „Wichtigkeit und Eindringlichkeit“ seiner Worte zu betonen, Sand, Matthäus, 107. 108 Wilk, Jesus und die Völker, 126. 109 „Das Kommen des Menschensohnes wird für eine textintern noch ausstehende Zukunft angekündigt“, Garbe, Hirte Israels, 146. Mt 10,23 Der Vers Mt 10,23 ist Teil der Aussendungsrede des irdischen Jesus an seine zwölf Jünger (Mt 10,5-42); er beendet den Abschnitt, in dem es um die ange‐ kündigte Verfolgung der Jünger geht (Mt 10,16-23). Der Fokus liegt dabei auf Jesu Selbstcharakterisierung durch seine Rede und auf dem Aspekt Figur und Figuren. Der irdische Jesus verdeutlicht seinen Jüngern, dass er sie bei ihrer Israelmission wie Schafe mitten unter die Wölfe sendet (Mt 10,16). Er kündigt ihnen Verfolgungen, Bestrafungen und Hass der Menschen an (Mt 10,17-18.22). Dennoch werden sie durch den Geist Gottes reden (Mt 10,19-20) und sollen bis zum Ende durchhalten (Mt 10,22). Wenn sie in einer Stadt verfolgt werden, sollen sie in die nächste Stadt fliehen (Mt 10,23a). Jesus prophezeit ihnen, dass sie mit den Städten Israels nicht zuende kommen werden, bis der Menschensohn kommt (Mt 10,23 ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν, οὐ μὴ τελέσητε τὰς πόλεις τοῦ Ἰσραὴλ ἕως ἂν ἔλθῃ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου). 106 Den Ausspruch, dass sie mit den Städten Israels bis zur Parusie nicht zuende kommen werden (Mt 10,23), leitet der irdi‐ sche Jesus mit der „feierlichen Amen-Formel“ 107 ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν ein und unterstreicht so das Gewicht dieser Aussage. In Mt 10,6 fordert der Irdische seine Jünger ausdrücklich auf, nicht zu den Völkern, sondern zu den Juden zu gehen. In Mt 10,23 nennt er ihnen nun den Zeitraum ihrer Misson; dieser umfasst „die Zeitspanne bis zum 'Ende'“ 108 und damit bis zur Wiederkunft des Menschensohns. Für den vom Text intendierten Rezipienten steht die Parusie noch aus, wodurch die vom irdischen Jesus gefor‐ derte Israelmission (Mt 10,6), die bis zur Parusie andauern soll (Mt 10,23), auch in seine Zeit hineinreicht und in dieser Fokussierung Gültigkeit beansprucht. 109 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 212 <?page no="213"?> 110 Vgl. Fiedler, Matthäus, 232: „Mit der Aussage, dass bis dahin die Himmelreich-/ Chris‐ tusbotschaft noch nicht überall in Israel akzeptiert sein würde, hält er sich den Spiel‐ raum offen“; vgl. auch Sand, Matthäus, 225; Luz geht dagegen davon aus, dass an dieser Stelle die Nähe der Parusie betont wird, vgl. Luz, Matthäus II, 113: „Der Trost besteht gerade in der Nähe seines Kommens.“ 111 Vgl. auch Nolland, Matthew, 428: „Despite what is coming in 24: 14; 26: 13; 28: 19, Mat‐ thew preserves an emphasis here on the mission in Jewish Palestine right up to the eschatological coming of the Son of Man.“ 112 Dagegen ist Luck der Ansicht, der Fokus von Mt 10,23 liege nicht auf der bis zur Parusie andauernden Israelmission, sondern vielmehr auf der Begrenzung der Drangsal der Jünger. „Der kommende Herr wird ihr selbst ein Ende machen“, Luck, Matthäus, 129. Jedoch kann man m. E. nicht darüber hinweg sehen, dass Mt 10,23 einerseits in einem unmittelbaren Kontext zu Mt 10,5-6 steht - wo es um die ausdrücklich geforderte Is‐ raelmission geht - und dass in Mt 10,23 explizit die Städte Israels genannt sind. Es ist damit m. E. nicht im Sinne des Textes, die Begrenzung durch die Parusie ausschließlich auf die Drangsal der Jünger und nicht auf die Dauer der Israelmission zu beziehen, so auch Garbe, Hirte Israels, 145. 113 „Die Benennung der Frau als »Kanaanäerin« […] und die Aussage »jenes Gebiet« weisen die Frau als Heidin aus“, Sand, Matthäus, 315. 114 Sand, Matthäus, 315. Wann genau die Parusie und mit ihr das Ende der Israelmission eintritt, sagt der Text nicht. 110 Zusammenfassend ergänzt und präzisiert Mt 10,23 die Aussage zur Israel‐ mission in Mt 10,5-6. Die in Mt 10,6 geforderte Israelmission wird in Mt 10,23 zeitlich genauer definiert; sie soll nicht aufhören, bis der Menschensohn zum Gericht am Ende der Zeit wiederkommt. 111 Der Fokus liegt also auch in Mt 10,23 eindeutig auf der fortdauernden Mission Israels. 112 Mt 15,24 Der Ausspruch des Irdischen, οὐκ ἀπεστάλην εἰ μὴ εἰς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ (Mt 15,24b), ist Teil des Erzählabschnitts Mt 15,21- 28, in dem es um die Begegnung einer heidnischen Frau 113 mit Jesus geht, und kann nur innerhalb dieses Kontextes verstanden werden. In Mt 15,21 berichtet der Erzähler, dass Jesus sich in die Gegend von Tyrus und Sidon und damit „auf heidnische[s] Territorium“ 114 begibt. Eine kanaanäische Frau kommt zu ihm und bittet ihn schreiend um Hilfe für ihre Tochter, die von einem Geist besessen ist (Mt 15,22). Zunächst antwortet Jesus ihr nicht; erst als seine Jünger ihn bitten, die Frau wegzuschicken, damit sie ihnen nicht hinterherschreit, spricht er zu ihr (Mt 15,23). Er macht ihr klar, dass er nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt ist (Mt 15,24). Daraufhin fällt sie vor ihm nieder und bittet ihn nochmals um Hilfe (Mt 15,25). Auf ihre Reaktion hin antwortet der irdische Jesus ihr mit einem Bildwort, dass es nicht gut sei, den Kindern das Brot wegzunehmen 4.1 Im Matthäusevangelium 213 <?page no="214"?> 115 Vgl. Sand, Matthäus, 315; Gnilka, Matthäusevangelium II, 29: „Es handelt sich eindeutig um heidnisches Gebiet.“ 116 Wiefel, Matthäus, 285. 117 Konradt, Israel, 68. und es den Hunden vorzuwerfen (Mt 15,26). Die Frau stimmt ihm zwar zu, er‐ widert aber, dass die Hunde dennoch etwas von den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen, fressen (Mt 15,27). Auf diesen Ausspruch der heidnischen Frau antwortet Jesus mit den Worten ὦ γύναι, μεγάλη σου ἡ πίστις̇ γενηθήτω σοι ὡς θέλεις. Der Erzähler ergänzt, dass die Tochter zur selben Stunde gesund wird (Mt 15,28). Im Vordergrund der Analyse steht der Aspekt Figur und Figuren, da es um das Verhältnis der Figur des irdischen Jesus zur kanaanäischen Frau auf der einen Seite und zur Figurengruppe der verlorenen Schafe aus dem Hause Israels auf der anderen Seite geht. Die grundsätzliche Haltung der Figur des Irdischen zur Figurengruppe der Heiden (und hier exemplarisch der kanaanäischen Frau) und zur Figurengruppe der Juden steht somit im Fokus von Mt 15,21-28. Zudem ist der Aspekt der Selbstcharakterisierung des Irdischen hier von zentraler Bedeu‐ tung, da sein Reden und sein Handeln für den Handlungsverlauf entscheidend sind und deshalb genauer untersucht werden. Der Aspekt der Fremdcharakte‐ risierung des Irdischen kommt durch die Reaktion der Frau auf Jesus sowie durch ihre Anrede zum Tragen, der Aspekt Figur und Umwelt durch die Gebietsan‐ gaben innerhalb des Erzählabschnitts. Jesus geht aus Jerusalem hinaus in heidnisches Gebiet. Die Städte Tyros und Sidon befinden sich nordwestlich von Galiläa. 115 „Diese geographische Zuord‐ nung ist für die Erzählung selbst von unmittelbarer Bedeutung, da es sich um die Begegnung mit einer dort wohnenden Heidin handelt.“ 116 Der intendierte Rezipient wird durch die Formulierung des Erzählers καὶ ἰδοὺ (Mt 15,22) auf das nun folgende Geschehen aufmerksam gemacht. Eine heidnische Frau kommt schreiend zu Jesus. Die Anrede Jesu durch die kanaa‐ näische Frau ist dabei vielsagend. Sie - als Nichtjüdin - nennt ihn „Herr, Sohn Davids“ (Mt 15,22 ἐλέησόν με, κύριε υἱὸς Δαυίδ). Damit erkennt sie einerseits die Israel-Gebundenheit Jesu und seine Funktion als „Messias Israels“ 117 an, an‐ dererseits bringt sie mit dieser Anrede zum Ausdruck, dass Jesus auch für sie 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 214 <?page no="215"?> 118 Vgl. Sand, Matthäus, 315: „Die von der Frau gewählte Bezeichnung Jesu als »Sohn Da‐ vids« nimmt die Begrenzung seines Dienstes auf Israel (V.24.26) vorweg“; so auch Wilk, Jesus und die Völker, 145: „[S]ie ist sich demnach bewußt, daß sie vor dem messiani‐ schen Hirten Israels steht“; vgl. Luck, Matthäus, 180: „Aber er ist auch für sie bereits der »Herr«“. 119 Luz, Matthäus II, 434. 120 Wilk, Jesus und die Völker, 145. 121 In Mt 15,24 spricht Jesus (anders als in Mt 10,5 f) ausdrücklich selbst von seiner Sendung zu Israel, vgl. hierzu Trilling, Israel, 100. 122 Zur genaueren Zuordnung der Figuren sowie zur Deutung des Bildgehalts innerhalb des Bildwortes vgl. Konradt, Israel, 67; Wilk ist dagegen der Ansicht, das Brot stehe für die Wundertätigkeit Jesu, da in dem Bild vom Brot die Speisungswunder (Mt 14,15- 21; Mt 15,32-38) anklingen, vgl. Wilk, Jesus und die Völker, 145. Jedoch ist die Be‐ schränkung auf die Wundertätigkeit Jesu im Brot-Bild m. E. zu eng gefasst und wird mit dem allgemeineren Begriff Heil treffender zum Ausdruck gebracht, so auch Gnilka, Matthäusevangelium II, 31, der vom Brot als der „Heilsfülle“ spricht; zum Begriff des Hundes als Bild für die Heiden vgl. auch Luz, Matthäus II, 435-436. 123 Konradt, Israel, 68. der „Herr“ ist. 118 „Sie weiß also, daß Jesus zu Israel gesandt ist; und gerade darin, daß sie trotzdem zu ihm schreit, zeigt sich ihr Glaube.“ 119 Die Figur des irdischen Jesus macht im Textverlauf eine Wandlung in Bezug auf seine Haltung zu den Heiden durch. Zunächst vertritt er die „israelbezogene Rolle“ 120 , in der er sich ausschließlich zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt weiß (Mt 15,24). Dem intendierten Rezipienten ist diese Haltung bereits aus Mt 10,5 sowie aus Mt 10,23 bekannt. Diese gegenüber der Frau ge‐ äußerte Ansicht unterstreicht Jesus, indem er der heidnischen Frau zunächst nicht antwortet und nicht auf ihre Bitte eingeht (Mt 15,23 ὁ δὲ οὐκ ἀπεκρίθη αὐτῇ λόγον). Trotz der Ablehnung Jesu und der von ihm geltend gemachten Stellung zu Israel (Mt 15,24) 121 gibt die Frau aber keine Ruhe, sondern fällt vor ihm nieder und bittet ihn nochmals, als „Herr“, ihr zu helfen (Mt 15,25 κύριε, βοήθει μοι). Daraufhin verdeutlicht Jesus seine Haltung zu den Heiden ein wei‐ teres Mal, diesmal durch ein Bildwort vom Brot, das nicht den Kinder wegge‐ nommen und den Hunden gegeben werden dürfe. Die Kinder stehen an dieser Stelle für Israel, die Hunde für die Heiden, das Brot kann mit dem Heil identi‐ fiziert werden. 122 Jesus verdeutlicht der Frau mit diesem Bildwort, dass er ge‐ sandt ist, „um als der '(Haus-)Herr' im 'Haus Israels' die 'Kinder' mit Brot zu versorgen.“ 123 Dazu, dass der irdische Jesus von seiner Haltung gegenüber den Heiden ab‐ weicht, kommt es v. a. durch die schlagfertige Erwiderung der Frau auf Jesu Bildwort. Denn sie argumentiert - nachdem sie sein Bildwort und den in ihm ausgesagten Vorrang Israels anerkennt (Mt 15,27 ναὶ κύριε) - dass die Hunde dennoch etwas vom Brot (und damit vom Heil) abbekommen, nämlich die Bro‐ 4.1 Im Matthäusevangelium 215 <?page no="216"?> 124 Vgl. hierzu Gundry, Matthew, 315: „[F]or a falling scrab hardly upsets the task of feeding the children“. 125 So auch Wilk, Jesus und die Völker, 146: „Gerade indem Jesus und die Jünger ihre Sen‐ dung an Israel erfüllen, fällt auch 'Heiden' Gutes zu“; vgl. Konradt, Sendung, 404: „Die Frau argumentiert letztendlich damit, daß das von Jesus, dem κύριος, dargereichte Heil, letztendlich über Israel hinaus auch auf die »Heiden« ausstrahlt“; vgl. auch Fiedler, Matthäusevangelium, 282: „Sie stimmt damit einerseits Jesus zu, der den Heilsvorrang Israels fest hält. Andererseits erinnert sie ihn an die universelle Offenheit des bib‐ lisch-jüdischen Gottesglaubens. Hierin weiß sie sich und ihre Tochter angenommen.“ 126 Konradt, Israel, 69. 127 Vgl. Konradt, Israel, 69-70. 128 Carter, Matthew and the Margins, 324. 129 Luz, Matthäus II, 436. 130 Konradt, Israel, 68. cken, die vom Tisch ihrer Herren fallen (Mt 15,27). 124 Dadurch drückt sie implizit aus, dass auch die Heiden (die Hunde) von der Tischgemeinschaft Jesu (als Herr) mit den Israeliten (als Kindern) profitieren. 125 „Ihretwegen wird Brot gereicht, davon profitieren die 'Heiden'.“ 126 Das Heil ist damit kein Besitz, sondern eine Gabe. 127 Die universale Völkermission ist in diesem Bildwort eine Art Begleit‐ erscheinung der Israelmission, denn Essen geschieht nicht ohne Krümeln und die Israelmission bleibt nicht ohne Konsequenz für die Völker. „Her witty response opens up new possibilities for Jesus and her daughter.“ 128 Jesus spricht der Frau einen großen Glauben zu, der sich in einem „bedingungs‐ lose[n] Zutrauen […], das sich in ständig wiederholten Bitten äußert“ 129 , zeigt. Ihr geschieht nun, wie sie will, und ihre Tochter wird wieder geheilt (Mt 15,28). Damit wird der Zusammenhang zwischen Glauben und Heil stark betont. Die heidnische Frau zeigt „einen Glauben, der schon jetzt in Jesus nicht nur den Messias Israels erkennt, sondern den, der als Messias Israels der Heilsbringer auch für die Völker ist.“ 130 Der Glaube der Frau und ihr Vertrauen auf Jesus sind letztlich wichtiger als ihre Herkunft. Es deutet sich damit an dieser Stelle an, dass der Glaube als Kriterium und nicht die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv entscheidend ist. Insgesamt wird in dem Erzählabschnitt Mt 15,21-28 die ausdrückliche Ein‐ grenzung der Mission auf Israel - wie sie in Mt 10,5 und Mt 10,23 begegnet - aufgelockert. Zwar besitzen die Israeliten als „Kinder“ einen Heilsvorrang, der durch die Fokussierung der Mission Jesu auf die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel zum Ausdruck kommt (Mt 15,24.26). Dennoch ist der Glaube der Frau als entscheidendes Kriterium innerhalb der Erzählung ein Fingerzeig auf die Entgrenzung und Universalität der Heilszuwendung. Die Zuwendung des 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 216 <?page no="217"?> 131 Luz, Matthäus II, 433. Vgl. hierzu auch Luck, Matthäus, 180: „Die Macht des Wirkens Jesu reicht über den Kreis hinaus, für den es ursprünglich bestimmt ist“; vgl. auch Wiefel, Matthäus, 287: „Ohne daß die Begrenzung der Sendung Jesu auf Israel aufge‐ hoben wird, leuchtet hier auf, was die Hinwendung zu den Heiden bestimmt: der Glaube als einzige Heilsbedingung.“ Dagegen Trilling, Israel, 104: „Doch ist das sozusagen ein individueller Glaube, der mit dem heilsgeschichtlichen Problem der Stellung Israels zu den Heiden in keiner unmittelbaren Verbindung steht.“ 132 Vgl. hierzu Luz, Matthäus II, 244-245; wie auch Frankemölle, Matthäus II, 138-140. 133 Vgl. Frankemölle, Matthäus II, 137-138. Der Anknüpfungspunkt des Zitates ist das Schweigegebot Jesu in Mt 12,16; jedoch geht das Zitat weit darüber hinaus, vgl. auch Luz, Matthäus II, 244. 4.1.2.2 Die Völker als Adressaten der Mission irdischen Jesus zu einer heidnischen Figur ist zwar noch eine Ausnahme, aber „diese Ausnahme hat Zukunft.“ 131 Mt 12,18-21 In dem Jesaja-Zitat Mt 12,18-21 werden an zwei Stellen die Völker (ἔθνη) er‐ wähnt; zum einen im Kontext der künftigen Rechtsprechung durch Jesus (Mt 12,18), zum anderen im Kontext der zukünftigen Hoffnung der Völker auf Jesus (Mt 12,21). Das Zitat ist dabei eingebettet in den größeren Kontext des Ähren‐ raufens und der Heilung eines Mannes am Sabbat (Mt 12,1-13). An das Zitat schließt die Erzählung von der Macht Jesu über die bösen Geister an (Mt 12,22- 30). Eingeleitet wird das Zitat durch einige Worte des Erzählers, die unmittelbar an den vorherigen Erzählabschnitt und die dort beschriebenen Pläne der Pha‐ risäer, Jesus zu töten (Mt 12,14), anknüpfen. Als Jesus diese Pläne erfährt, geht er fort aus der Synagoge, in die er sich in Mt 12,9 begeben hatte. Eine große Menge folgt ihm dabei und Jesus heilt sie alle (Mt 12,15). Dabei fordert er sie gleichzeitig dazu auf, diese Heilungen nicht offenbar zu machen, damit das fol‐ gende Jesaja-Zitat erfüllt werde (Mt 12,16-17). Nun bietet der Erzähler das Zitat, wobei er es sinngemäß und nicht wortwörtlich wiedergibt. 132 Die Figur des Ir‐ dischen sowie die Figurengruppe der Menge, die Jesus folgt, kommen in Mt 12,15-21 selbst nicht zu Wort. Der Erzählabschnitt Mt 12,15-17 ist somit eine Rede des Erzählers über die Figur des Irdischen und sein Handeln, mit der er ab Mt 12,18-21 ein Zitat aus Jesaja 42,1-4 verknüpft. Dabei bezieht sich jedoch innerhalb des Zitates nur der Vers 19 direkt auf das im Vorangehenden beschriebene Handeln des Irdischen, indem ausgesagt ist, man werde die Stimme des Knechtes Gottes nicht auf den Gassen hören. 133 Der Rest des Zitats fügt sich nicht in den unmittelbaren Zusammenhang ein, enthält aber dennoch eine wichtige Aussage über das Verhältnis des Knechtes Gottes 4.1 Im Matthäusevangelium 217 <?page no="218"?> 134 Vgl. hierzu Wiefel, Matthäus, 232: „Es wird ein Bild des Gottesknechts gezeichnet, das Züge aufweist, die auf die Geschichte Jesu zu beziehen sind, aber über den unmittelbaren Zusammenhang hinausgreifen.“ 135 Zum intendierten Rezipienten und seinem Bezug zu Jesaja vgl. auch Frankemölle, Mat‐ thäus II, 138-139. 136 Der Begriff παῖς kann sowohl „Kind“, als auch „Knecht“ bedeuten. In Anlehnung an Jesaja und den bei ihm verwendeten Titel des „Gottesknechts“ (vgl. u. a. Jes 41,8 f; 42,1 f; 44,1 f) liegt an dieser Stelle m. E. eine Übersetzung des Begriffs παῖς mit „Knecht“ anstelle von „Kind“ näher, vgl. auch Bühner, Art. παῖς, 12-13. 137 An dieser Stelle setzt der Erzähler voraus, dass sich die Formulierung παῖς μου in Mt 12,18a auf die Jesus-Figur bezieht, vgl. auch Gnilka, Matthäusevangelium I, 452; Keener, Matthew, 360: „In this passage Matthew reads Jesus as Isaiah’s 'servant of Yahweh'“; Beare, Matthew, 275: „Matthew clearly identifies him with Jesus“. zu den Völkern (Mt 12,21). 134 Für den intendierten Rezipienten wird das Zitat in Mt 12,18-21 ausdrücklich als ein Jesaja-Zitat erkennbar durch die Bemerkung des Erzählers (Mt 12,17 ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν διὰ Ἠσαίου τοῦ προφήτου λέγοντος). 135 In dem Jesaja-Zitat ist es nun nicht der Erzähler oder die Figur des irdischen Jesus oder die des Propheten Jesaja, die spricht. Vielmehr spricht Gott durch den Propheten Jesaja, was in der Formulierung διὰ Ἠσαίου in Mt 12,17 sowie durch die Rede in Ich-Form deutlich wird. Das Zitat selbst gliedert sich in eine Aussage über den Knecht (παῖς) 136 , den Gott erwählt hat, sein Geliebter, an dem seine Seele Gefallen gefunden hat (Mt 12,18a). 137 Es folgen vier Prophezeiungen künf‐ tiger Geschehnisse: Gott wird seinen Geist auf ihn legen und er wird den Völkern den Urteilsspruch verkündigen (Mt 12,18b). Dabei wird er nicht streiten noch schreien und niemand wird seine Stimme auf den Straßen hören (Mt 12,19). Er wird das geknickte Rohr nicht brechen und auch den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er das Recht zum Sieg führt (Mt 12,20). Und die Völker werden auf seinen Namen hoffen (Mt 12,21). Der Erzähler zitiert in Mt 12,18-21 somit ein Zitat des Propheten Jesaja und in Jesajas Worten meldet sich die Stimme Gottes. Daher greifen hier in Bezug auf die Frage nach der Darstellung des Irdischen alle drei Aspekte ineinander: Figur und Figuren, Figur und Erzähler sowie der Aspekt der Fremdcharakterisie‐ rung. Nach Mt 12,18b soll den Völkern das Gericht verkündigt werden. (καὶ κρίσιν τοῖς ἔθνεσιν ἀπαγγελεῖ). Zur Bedeutung von κρίσις vertritt Luz die Ansicht, dieser Ausdruck stehe an dieser Stelle wie im gesamten MtEv für „Urteilsspruch“ und begründet seine Entscheidung überzeugend mit dem Hinweis auf Mt 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 218 <?page no="219"?> 138 Vgl. Luz, Matthäus II, 247-248; so auch Wiefel, Matthäus, 232. Ähnlich auch Luck, der κρίσις hier als „Gericht“ versteht, vgl. Luck, Matthäus, 147-148. Frankemölle übersetzt κρίσις dagegen mit „Recht“ und sieht hier einen Verweis auf die Bergpredigt in Mt 5- 7, vgl. Frankemölle, Matthäus II, 141. Jedoch liefert er für seine Entscheidung keine Begründung und stellt sich gegen den Sprachgebrauch von κρίσις in Mt 11 und 12. 139 Luck, Matthäus, 148. 140 Wiefel, Matthäus, 233. 141 „Der letzte Satz bestärkt zudem die umfassende Heilshoffnung“, Fiedler, Matthäusevan‐ gelium, 252. 142 Anders Luz, der hier vom „Urteilsspruch Gottes“ spricht, vgl. Luz, Matthäus II, 249. Genauer wäre hier jedoch wohl, vom „Urteilsspruch Jesu“ zu sprechen (vgl. Mt 12,18). 143 „The note of justice and hope for the nations (Gentiles), not for Israel alone, goes beyond the immediate context and anticipates the destined extension of the gospel in later days”, Beare, Matthew, 275; vgl. auch Carter, Matthew and the Margins, 271: „Response to Jesus determines participation in God’s future”. 144 Sand, Matthäus, 260. 11,22.24 und Mt 12,41-42. 138 Dieser Urteilsspruch über die Völker wird dabei sehr wahrscheinlich positiv ausfallen, wenn die Völker auf seinen Namen hoffen werden (Mt 12,21). „So wird sich Gottes Recht und Gerechtigkeit auf alle Völker hin durchsetzen.“ 139 Dabei ist die Verkündigung des Urteilsspruches noch nicht Realität, sie steht vielmehr noch aus und ist damit ein Ereignis und eine Ver‐ heißung, die auf die Zukunft zielt. Dennoch rücken hier die Völker in den Fokus der zukünftigen Partizipation am „endzeitliche[n] Heil“ 140 . Das Jesaja-Zitat schließt in Mt 12,21 mit einer Aussage, dass die Völker auf seinen Namen (den des Knechtes) hoffen werden (καὶ τῷ ὀνόματι αὐτοῦ ἔθνη ἐλπιοῦσιν). Diese Aussage ist eng mit Mt 12,18b verknüpft und lässt den inten‐ dierten Rezipienten an einen positiven Urteilsspruch über die Völker denken, auf den die Völker hoffen können. 141 Der zukünftige Urteilsspruch Jesu ist damit die Hoffnung der Völker. 142 Jesaja spricht in der Vergangenheit und benennt von hier aus Künftiges; Mt 12,19 erfüllt sich bereits in dem Handeln der Figur des Irdischen (vgl. Mt 12,15-17). Die in Mt 12,18.21 dargestellte Hoffnung der Völker auf seinen Urteilsspruch liegt dagegen noch in der Zukunft. 143 Insgesamt besteht damit ein Verhältnis und eine Beziehung des irdischen Jesus zu den Völkern, die auf die Zukunft ausgerichtet ist und in der der „Erwählte […] die Erfüllung der Hoffnung aller Völker“ 144 darstellt. Zusammenfassend lässt sich aus dem Jesaja-Zitat Mt 12,18-21 im Hinblick auf die Völker festhalten, dass die Jesus-Figur (im Zitat von Gott als παῖς μου bezeichnet vgl. Mt 12,18a) auch für die Völker Hoffnung auf endzeitliches Heil sein wird. Sie ist noch keine Realität, aber durch ein Zitat des Propheten Jesaja, in dem das zukünftige Handeln Jesu und seine Beziehung zu den Völkern vo‐ 4.1 Im Matthäusevangelium 219 <?page no="220"?> 145 Vgl. Frankemölle, Matthäus II, 141: „Damit ist dem Leser die Bedeutung des mt Jesus für Juden und Heiden nochmals als mit der Schrift übereinstimmend ins Bewußtsein gerufen.“ 146 Luz, Matthäus II, 248. 147 Fiedler, Matthäusevangelium, 363. 148 Mit der Formulierung τοῦτο τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας in Mt 24,14 ist „sowohl die (Weitergabe der) Himmelreich-Botschaft Jesu als auch das Evangelium der basileia Christi“ gemeint, Fiedler, Matthäusevangelium, 364. 149 Das Wort οἰκουμένη bezeichnet dabei den gesamten Erdkreis, die Menschheit und die bewohnte Erde, vgl. Balz, Art οἰκουμένη, 1229-1233; vgl. auch Frankemölle, Matthäus II, 397. 150 Die Formulierung εἰς μαρτύριον πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν ist dabei positiv besetzt und „zielt auf die Gewinnung der Völker“, Gnilka, Matthäusevangelium II, 318. rausgesehen wird, fest im Heilsplan verankert. 145 Die im Jesaja-Zitat angekün‐ digte Hoffnung der Völker auf das in Jesus begründete Heil „durchbricht also die Zeitebene der Jesusgeschichte und weist als Signal voraus auf ihr Ziel.“ 146 Mt 24,14 Der Vers Mt 24,14 ist Teil der Endzeitrede Jesu, die sich von Mt 24,1 bis Mt 25,46 erstreckt und in der die Figur des irdischen Jesus zu seinen Jüngern über die Ereignisse am Jüngsten Tag, das Kommen des Menschensohns (vgl. Mt 24,29 f; Mt 25,31 f), die Wehen als Anzeichen des Jüngsten Tages (vgl. Mt 24,3 f) sowie über die gebotene Haltung der Wachsamkeit (vgl. Mt 24,32 f; 25,1 f) spricht. Der Vers 14 ist damit Teil des Abschnitts der Rede Jesu, in dem es um die Wehen der Endzeit geht. Die Jünger fragen Jesus, was das Zeichen für sein Kommen und für das Ende der Welt sein wird und wann sich dies alles ereignen wird (Mt 24,3 εἰπὲ ἡμῖν, πότε ταῦτα ἔσται καὶ τί τὸ σημεῖον τῆς σῆς παρουσίας καὶ συντελείας τοῦ αἰῶνος; ). Daraufhin nennt Jesus ihnen eine Reihe von zukünftigen Ereig‐ nissen, wie Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, falsche Propheten etc. (Mt 24,5- 12), die sich zunächst ereignen müssen, bevor schließlich das Ende eintritt (vgl. Mt 24,6b δεῖ γὰρ γενέσθαι, ἀλλ΄ οὔπω ἐστὶν τὸ τέλος). „Dass es das alles gibt, ist kein Zufall, sondern von Gott so gesteuert“ 147 . Seinen Jüngern sichert er aber gleichzeitig die Verheißung zu, wer bis zum Ende durchhalte, werde gerettet (Mt 24,13 ὁ δὲ ὑπομείνας εἰς τέλος οὗτος σωθήσεται). Als letztes Ereignis vor dem Ende der Welt beschreibt Jesus seinen Jüngern das folgende: Das Evange‐ lium vom Reich 148 wird auf der ganzen Welt 149 verkündet werden zum Zeugnis 150 für alle Völker (Mt 24,14 καὶ κηρυχθήσεται τοῦτο τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας ἐν ὅλῃ τῇ οἰκουμένῃ εἰς μαρτύριον πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν, καὶ τότε ἥξει τὸ τέλος). Zum ersten Mal wird hier im MtEv explizit und aus dem Munde Jesu die uni‐ versale Völkermission, die in der Verkündigung des Evangeliums in der ge‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 220 <?page no="221"?> 151 Vgl. hierzu Garbe, Hirte Israels, 124. 152 Luz, Matthäus III, 407. 153 „Damit ist die Verkündigung des Evangeliums unter allen Völkern zur Voraussetzung für das Ende der Welt gemacht“, Wong, Theologie, 145; vgl. auch Hahn, Mission, 104: „Es geht […] um Jesu eigene Verheißung dessen, was zwischen seiner Auferstehung und Wiederkunft geschehen soll.“ 154 Wiefel, Matthäus, 412. 155 „Jetzt, wo das Evangelium überall in der Welt verkündet wird, wird das Ende kommen (V 14b). Die Leser / innen rechnen bei dieser Ankündigung damit, daß es bald kommt, denn nichts anderes wird vor dem Ende mehr geschehen“, Luz, Matthäus III, 425. 156 Luck, Matthäus, 259; vgl. auch Wiefel, Matthäus, 413: „Erst nach der Konfrontation der ganzen Welt mit dem Evangelium kommt das Ende.“ 157 Konradt, Israel, 88. samten Welt zum Zeugnis für alle Völker besteht, angekündigt. 151 Dabei „spricht Jesus überwiegend in futurischen Hauptsätzen von der Zukunft.“ 152 Mt 24,14 ist damit Teil der Rede des irdischen Jesus an seine Jünger, in der er Aussagen über die Figurengruppe der Völker (τὰ ἔθνη) trifft. Daher spielen hier v. a. die Aspekte Selbstcharakterisierung und Figur und Figuren eine Rolle. Die in Mt 24,14 von der Figur des Irdischen beschriebene Verkündigung des Evangeliums auf der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker ist das letzte Zeichen vor dem Ende der Welt (vgl. Mt 24,14 καὶ τότε ἥξει τὸ τέλος). 153 Damit gewinnt es im Vergleich zu den anderen Zeichen eine besondere und hervor‐ gehobene Stellung; die universale Völkermission, die „nicht nur Israel“ 154 um‐ fasst, bildet sozusagen den Höhepunkt der Wehen und läutet als letztes Zeichen die Endzeit ein. 155 Denn bevor das Ende kommt, muss nach den Worten der Figur des Irdischen „das Evangelium von der Gottesherrschaft erst auf dem ganzen Erdkreis allen Völkern verkündigt werden“ 156 . Die universale Völkermission ist damit fest im Heilsplan verankert und hat ihren Platz in den Wehen der Endzeit. Auch wenn sie zu Lebzeiten Jesu noch nicht fokussiert oder durchgeführt wird, ist sie dennoch eine zukünftige feste Größe. In Mt 24,14 fordert die Figur des irdischen Jesus seine Jünger somit nicht auf, die universale Völkermission durchzuführen (im Gegensatz zum ausdrücklichen Auftrag an seine Jünger zur Israelmission in Mt 10,5-6). Vielmehr schildert er den „explizit benannten weltweiten Horizont der Mission“ 157 als einen zukünf‐ tigen und zu Gottes Plan der endzeitlichen Zeichen dazugehörigen Zustand, in den alle anderen Zeichen münden und mit dem die Parusie des Menschensohns und das Ende der Welt eingeläutet werden. 4.1 Im Matthäusevangelium 221 <?page no="222"?> 158 Der Hirten-Vergleich ist dabei in der Forschung unterschiedlich bewertet worden. Luz vertritt z. B. die These, der Hirte unterscheide zwischen Schafen (auf der rechten Seite) und Zicklein (auf der linken Seite). Letztere seien im damaligen Judentum in der Regel zur Schlachtung vorgesehen, weshalb der Hirte sie aussortiert, vgl. Luz, Matthäus III, 533-534; so auch Fiedler, Matthäusevangelium, 378. Frankemölle sieht in diesem Bei‐ spiel dagegen die „abendliche Trennung von Schafen und Böcken“, Frankemölle, Mat‐ thäus II, 424; so auch Luck, Matthäus, 274. Sand geht vielmehr von einer Trennung zwischen Mutterschafen und Schafböcken aus, vgl. Sand, Matthäus, 512. Letztlich spielt jedoch m. E. die „korrekte“ Auflösung dieses Hirten-Beispiels für das Textverständnis des intendierten Rezipienten keine tragende Rolle. Wichtig ist, dass es um die Teilung einer Menge durch den Hirten anhand unterschiedlicher Kriterien geht, was der inten‐ dierte Rezipient auf den Menschensohn und die Gerechten und Verfluchten aus der Menge aller Völker übertragen kann. 159 Zur Rolle der Werke der Barmherzigkeit im MtEv vgl. Frankemölle, Matthäus II, 423. 160 Luz, Matthäus III, 541. Mt 25,32 Die Aussage der Figur des irdischen Jesus über die Völker in Mt 25,32 ist eben‐ falls Teil seiner Endzeitrede (Mt 24,3-25,46). Zuvor spricht er über die verschie‐ denen Zeichen der Endzeit, wobei die Völkermission das letzte Zeichen vor dem Ende der Welt darstellt. Ab Mt 25,1 verdeutlicht Jesus seinen Jüngern die Hal‐ tung der Wachsamkeit und das nahe Endgericht in dem Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25,1-13) sowie in der Parabel von den Talenten (Mt 25,14-30). Im Anschluss daran schildert Jesus das kommende Weltgericht (Mt 25,31-46): Der Menschensohn wird wiederkommen in seiner Herrlichkeit (Mt 25,31) und alle Völker werden vor ihm versammelt sein. Er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet 158 (Mt 25,32: καὶ συναχθήσονται ἔμπροσθεν αὐτοῦ πάντα τὰ ἔθνη, καὶ ἀφορίσει αὐτοὺς ἀπ΄ἀλλήλων, ὥσπερ ὁ ποιμὴν ἀφορίζει τὰ πρόβατα ἀπὸ τῶν ἐρίφων). Die Schafe wird er dabei zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken (Mt 25,33). Den Schafen auf seiner Rechten - den Gerechten (Mt 25,37) - spricht der Menschensohn das Reich und das ewige Leben als Erbe zu (vgl. Mt 25,34.46), denn sie haben einen Dienst an ihm getan, indem sie sich um den Geringsten gekümmert und sich so als barmherzig erwiesen haben (vgl. Mt 25,40). 159 Ent‐ sprechend andersherum verläuft es mit den Böcken - den Verfluchten (Mt 25,41) - zu seiner Linken. Da sie sich nicht um den Geringsten gekümmert haben und somit auch keinen Dienst am Menschensohn geleistet haben, werden sie als Konsequenz ihres Handelns die ewige Strafe erhalten (Mt 25,46). Mit diesem „doppelten Ausgang der Weltgeschichte“ 160 schließt die Endzeitrede Jesu. Im Hinblick auf die Stellung der Figurengruppe der Völker zur Figur des ir‐ dischen Jesus, der in Mt 25,32 von sich als kommendem Menschensohn spricht, 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 222 <?page no="223"?> 161 Vgl. Frankemölle, Matthäus II, 425, der zu Recht festhält, dass, wenn in Mt 24,14 das Evangelium auf dem ganzen Erdkreis zum Zeugnis für alle Völker (Israel miteinge‐ schlossen) verkündet werden soll, es naheliegt, die Formulierung πάντα τὰ ἔθνη im Sinne von alle Menschen ( Juden, Heiden und Christen) zu verstehen; so auch Fiedler, Matthäusevangelium, 378; Sand, Matthäus, 512; Gnilka, Matthäusevangelium II, 371. Luz lässt die Frage dagegen offen, ob in der Formulierung πάντα τὰ ἔθνη in Mt 25,32 auch Israel miteingeschlossen ist, vgl. Luz, Matthäus III, 532. 162 Luz, Matthäus III, 533. 163 Vgl. Luck, Matthäus, 273: „Der Ruf in die Jüngerschaft gilt der ganzen Welt und allen Völkern (28,18 f). So wird sich auch das Gericht vor allen Völkern (25,32) abspielen.“ Dagegen ist Frankemölle der Ansicht, es gehe in Mt 25,34 f allein um die Taten der Menschen, die unabhängig von der Annahme des Evangeliums für den Ausgang des Gerichts entscheidend sind, „mag dies auch für christliche Ohren anstößig klingen“, Frankemölle, Matthäus II, 422. M. E. ist Mt 25,34 aber nicht aus dem Kontext zu lösen, in dem eindeutig von der vorangehenden universalen Mission die Rede ist (vgl. Mt 24,14). 164 Luz, Matthäus III, 531. ist der Aspekt Figur und Figuren sowie der Aspekt der Selbstcharakterisierung Jesu in seiner Rede an die Jünger zentral. Hat der irdische Jesus in Mt 24,14 noch eine generelle Aussage zur erwarteten Völkermission in der Zukunft gemacht, so setzt er nun in Mt 25,32 die Figuren‐ gruppe der Völker ausdrücklich in ein (zukünftiges) Verhältnis zu sich als dem kommendem Menschensohn. Alle Völker werden am Ende der Welt vor ihm versammelt werden. Hierzu gehören (genau wie in Mt 28,18) sowohl das Volk Israel als auch alle anderen Völker der ganzen Erde. 161 Dann wird er über sie Gericht halten und sie in zwei Gruppen (Gerechte und Verfluchte) unterteilen, wobei er „sein Urteil bereits zu Beginn“ 162 fällt. Israel erhält keine Sonderbe‐ handlung, sondern alle Völker sind vor ihm gleich und setzen sich aus Gerechten und Verfluchten zusammen. Es kommt damit in keiner Weise auf die Zugehö‐ rigkeit zu einem bestimmten Kollektiv an. Spricht der Irdische vom kommenden Weltgericht, dem alle Völker bei‐ wohnen werden, so setzt dieses Endgericht eine vorangegangene Völkermission implizit voraus (vgl. Mt 24,14). Denn ohne die Verkündigung des Evangeliums an alle Völker haben diese gar nicht die Möglichkeit, die vom Menschensohn gestellten Anforderungen zu erfüllen, die letztlich über den Ausgang des Ge‐ richts entscheiden (vgl. Mt 25,40.45). 163 „Nun ist das Ende da, das dort angesagt war. Das heißt, daß inzwischen alle Völker das »Evangelium des Reichs« gehört und angenommen bzw. abgelehnt haben.“ 164 Die zeitliche Abfolge der Ereignisse steht damit fest, zunächst findet die Völkermission als letztes Zeichen vor dem Weltende statt (Mt 24,14). Anschließend erscheint der Menschensohn und hält über alle Völker sein Gericht (Mt 25,32 f). 4.1 Im Matthäusevangelium 223 <?page no="224"?> 165 „Das Matthäusevangelium legt Wert auf die Feststellung, Jesus habe zu seinen Lebzeiten keine Mission unter den Völkern betrieben, und er habe auch seinen Jüngern untersagt, damit zu beginnen“, Lienemann-Perrin, Mission, 39. Vgl. auch Garland, Reading Mat‐ thew, 112, der von einer „priority of the mission to Israel during the lifetime of Jesus“ spricht. 166 Sand, Matthäus, 220. 4.1.2.3 Ergebnis Dennoch wird für den intendierten Rezipienten aus dieser Textstelle deutlich, dass die Partizipation der Völker am Gericht noch nicht Wirklichkeit ist, sondern ein zukünftiges Ereignis am Ende der Welt und zur Parusie des Menschensohns. Über die jetzige Beziehung des Irdischen zur Figurengruppe der Völker verliert der Irdische in seiner Rede an die Jünger kein Wort. Nicht der Ist-Zustand wird hier angesprochen, sondern der Wird-Zustand. Damit ist die universale Völkermission (Mt 24,14) sowie die Teilhabe der Völker am Gericht über das ewige Leben oder die ewige Strafe (Mt 25,32) eine Zukunftsperspektive, die der irdische Jesus in seiner Rede an die Jünger anreißt. Sie ist fester Bestandteil der kommenden endzeitlichen Abläufe, wodurch sie in der Gegenwart des irdischen Jesus bereits angelegt ist. Aus der Untersuchung unterschiedlicher Texte des Matthäusevangeliums, in denen zum einen Israel (Mt 10,5-6; Mt 10,23; Mt 15,24) und zum anderen die Völker (Mt 12,18-21; Mt 24,14; Mt 25,32) Gegenstand der Mission sind, hat sich insgesamt Folgendes ergeben: Die universale Völkermission, wie sie vom Auf‐ erstandenen in Mt 28,19 gefordert wird, ist zur Zeit des irdischen Jesus noch keine Realität. 165 Der Irdische fokussiert ausschließlich die Israel-Mission und weiß sich allein zu Israel gesandt (Mt 15,24). Seine Jünger sollen nicht zu den Völkern gehen, sondern nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel (Mt 10,5-6.23), wodurch sich für die Figur des Irdischen eine „Exklusivität der Sendung“ 166 ergibt. Trotz dieser eindeutigen Israel-Fokussierung der Mission des Irdischen ist aber die universale Völkermission bereits beim irdischen Jesus angelegt, auch wenn sie noch nicht zur vollen Ausprägung kommt. Dies zeigt sich v. a. in der Hinwendung Jesu zur heidnischen Frau (Mt 15,21-28) sowie in seinen Aussagen von der kommenden universalen Völkermission (Mt 24,14) und dem komm‐ enden Weltgericht über alle Völker (25,32). Das Jesaja-Zitat des Erzählers, das sich auf Jesu Handeln bezieht, stellt dabei die kommende Völkermission in den übergeordneten Rahmen des göttlichen Heilsplans (Mt 12,18-21). Denn Gott hat bereits durch den Propheten Jesaja von der zukünftigen Partizipation aller Völker am Heil seines Sohnes gesprochen. Alle Aussagen über eine universale 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 224 <?page no="225"?> 167 Vgl. hierzu auch Konradt, Sendung, 399-425, der die These entfaltet, die Aufeinander‐ folge beider Missionsbefehle (in Mt 10,5 f an die Juden und in Mt 28,19 an die Völker) stelle ein „integrales Moment der narrativen Konzeption“ der matthäischen Christo‐ logie dar, Konradt, Sendung, 399. Dagegen ist von Dobbeler der Meinung, Jesu Auftrag zur Israelmission in Mt 10,5 f und sein Auftrag zur universalen Völkermission in Mt 28,18-20 stehen in keinerlei Widerspruch zueinander, da sie sich hinsichtlich ihres Zwecks voneinander unterscheiden. „Im Blick auf Israel geht es um die Restitution des Volkes, im Blick auf die Heidenwelt um die Bekehrung zu dem lebendigen Gott. […] Man könnte daher […] von zwei Kreisen mit einer gemeinsamen Schnittmenge spre‐ chen. Diese Schnittmenge wäre demnach die Tora in der Interpretation Jesu“, von Dob‐ beler, Restitution Israels, 41. Jedoch wird diese Aussage m. E. dem Text selbst nicht gerecht, indem von Dobbeler versucht, einen narrativen Widerspruch im Text möglichst zu glätten und so die „Konkurrenzsituation“ beider Missionsbefehle zu entschärfen. Vielmehr muss aber genau dieser narrative „Widerspruch“ ernst genommen werden und im Hinblick auf eine erst nachösterliche Einbeziehung der Völker und einen vor‐ österlichen Heilspartikularismus zugunsten Israels aufgelöst werden; vgl. auch Stre‐ cker, Theologie, 388, der von einer „Diskrepanz zwischen Partikularismus und Univer‐ salismus der Verkündigung“ spricht. 168 Cortes-Fuentes, Not like the Gentiles, 23. Völkermission liegen jedoch in der Zukunft und sind u. a. an einen bestimmten Zeitpunkt (vgl. Mt 24,14 „vor dem Ende der Welt“) geknüpft. Dadurch wird für den intendierten Rezipienten ganz deutlich, dass die universale Völkermission als Teil des Heilsplans für die Zukunft eindeutig vorgesehen ist, sie sich jedoch zur Zeit des irdischen Jesus noch nicht - oder nur in Ansätzen (vgl. Mt 15,21- 28) - verwirklicht hat. 167 Erst der Auferstandene ruft zur universalen Völkermission auf und weitet damit seinen Auftrag zur Israel-Mission, den er seinen Jüngern als Irdischer gegeben hat (Mt 10,5-6), auf die gesamte Welt aus. „The Gospel according to Matthew concludes with an open door.“ 168 Die Zukunfts-Aussagen des Irdischen über eine universale Mission werden so zu Gegenwarts-Aussagen des Aufer‐ standenen. Dabei verfällt aber keineswegs der Anspruch Israels, denn die universale Völkermission ist „nicht Antwort auf die vermeintlich kollektive Ablehnung Jesu in Israel, sondern sie geht als Zielpunkt der mit der Erwählung Abrahams 4.1 Im Matthäusevangelium 225 <?page no="226"?> 169 Konradt, Israel, 398; vgl. auch Bornkamm, Studien, 292, der die Ansicht vertritt, „dass über dem universalen Missionsauftrag des Auferstandenen nicht jener andere des Ir‐ dischen als erledigt abgetan werde, die Anfänge nicht verschüttet werden und nichts von dem von Jesus ausgegangenen Wort und Geschehen verloren gehe. Denn nur der zu Israel gesandte, wenn auch von ihm abgelehnte Messias (21,33 ff; 22,1 ff.) ist für Mat‐ thäus der Herr, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, und der Aufer‐ standene kein anderer als der Irdische (28,16 ff.).“ Vgl. hierzu auch Frankemölle, Tora Gottes, 395-397; dagegen vertritt Lange die Ansicht, dass Israel eindeutig aus dem Missionsbefehl in Mt 28,19 ausgeschlossen ist und es sich so an dieser Stelle um einen „'Universalismus' gegen Israel“ handelt, Lange, Erscheinen des Auferstandenen, 302; Wilk trennt dabei ganz klar zwischen dem Missionsauftrag an Israel in Mt 10,5 f und dem Missionsauftrag an die (nichtjüdischen) Weltvölker in Mt 28,19, sodass sich seines Erachtens Mt 28,19 allein an die Weltvölker richtet. Beide Aufträge sind seines Erach‐ tens durch das Motiv der Abrahamskindschaft miteinander verbunden vgl. Wilk, Ein‐ gliederung, 52-59; Wilk, Völker, 129. Trilling versteht dagegen den Missionsauftrag an Israel in Mt 10,5 f als durch Mt 28,19 aufgehoben und überholt, vgl. Trilling, Israel, 103. 170 Konradt, Israel, 395. 4.1.3 begonnenen Heilsgeschichte organisch aus der Zuwendung zu Israel hervor.“ 169 Denn aus dem Bildwort von den Kindern, den Hunden und dem Brot in Mt 15,21-28 ist deutlich geworden, dass die Völkermission eine Art Begleiterschei‐ nung der Israelmission darstellt. Der Akzent liegt damit auf der „vorösterlichen israelbezogene[n] Partikularität der Heilszuwendung, die mit der erst nachös‐ terlichen Einbeziehung der Völker einhergeht“ 170 . Darüber hinaus deutete sich durch den Glauben der heidnischen Frau (Mt 15,25-28) bereits ein Kriterium für den Heilsempfang an, das abseits von der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv liegt. Implizit wurde damit deutlich, dass der Glaube und das Sich-Einlassen auf Jesus letztlich mehr zählen als die Herkunft. Fazit Im Vorangehenden wurde untersucht, wie sich die Aussagen zur Exousia und zur universalen Völkermission - die beide für die Figur des Auferstandenen charakteristisch sind - zur Figurendarstellung des irdischen Jesus verhalten. Dabei konnte insgesamt festgestellt werden, dass hinsichtlich beider Aspekte eine Akzentverlagerung in der Figurenzeichnung des Irdischen zum Auferstan‐ denen stattfindet. Die Exousia des Irdischen zeigt sich im Kontext der Lehre, der Sündenvergebung und der Heilung. Die Mission des Irdischen richtet sich auf die Figurengruppe der Juden. Die vom Irdischen in Anspruch genommene Exousia und die von ihm praktizierte bzw. angestoßene Mission sind also par‐ tikular. Erst in der Figurendarstellung des Auferstandenen wird diese Partiku‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 226 <?page no="227"?> 171 „Die ursprünglich allein an Israel gerichteten Worte des irdischen Jesus gelten seit Os‐ tern für alle Menschen, und sie gelten so für alle Zeit“, Lindemann, Evangelien, 405. 4.2 larität in beiden Fällen ausgeweitet. Der Irdische stößt die Israelmission an, der Auferstandene die universale Völkermission. 171 Der Irdische beansprucht die Exousia in verschiedenen Handlungskontexten, der Auferstandenen nimmt die universale Exousia über Himmel und Erde in Anspruch. Jedoch sind die uni‐ versale Mission und die universale Macht auch für den Auferstandenen noch nicht gegenwärtige Realität, sondern müssen sich beide erst noch durchsetzen. Darüber hinaus wurde durch den Rückblick ein weiterer, m. E. zentraler, As‐ pekt erkennbar: Die universale Macht des Auferstandenen soll sich durch die Mission auf der ganzen Welt durchsetzen und ausweiten, denn der Auferstan‐ dene will, dass alle Völker in seinen Machtbereich hineingeholt werden. Die beiden Aspekte Macht und Mission sind somit in der Figurendarstellung des Auferstandenen untrennbar aneinander gekoppelt, was auch durch das οὖν in Mt 28,19 deutlich wird. Andeutungsweise zeichnet sich beim Irdischen nur in Mt 10,1-8 die Verbindung von Macht und Mission ab, indem der irdische Jesus die Jünger, die er zur Israelmission beauftragt, an seiner Macht über die unreinen Geister und zur Krankenheilung partizipieren lässt. Abschließend lässt sich daher festhalten, dass sich die Figurenzeichnung des Irdischen von der Figurenzeichnung des Auferstandenen hinsichtlich der beiden Aspekte Macht und Mission voneinander unterscheidet. Es zeigt sich somit ins‐ gesamt eine Akzentverlagerung in der Darstellung des irdischen und des auf‐ erstandenen Jesus. Im Lukasevangelium Aus der Analyse der Figur des Auferstandenen in Lk 24,1-53 haben sich vier wesentliche Aspekte ergeben, hinsichtlich derer nun zur Darstellung des irdi‐ schen Jesus in den vorherigen Kapiteln des Evangeliums zurückgefragt werden soll. Bei allen vier Rückfragen handelt es sich um Aspekte, die einerseits für die Darstellung des Auferstandenen von besonderer Relevanz sind und die zugleich als „Brücke“ zwischen dem Auferstandenen vor und dem Auferstandenen nach der Himmelfahrt fungieren und damit auch für den intendierten Rezipienten von Bedeutung sind. Erstens soll untersucht werden, ob und inwiefern Mahlgemeinschaften be‐ reits bei der Darstellung des irdischen Jesus zentral sind. Zweitens geht es um das Umkehr-Motiv und seine Verwendung in Bezug auf den Irdischen. In einem 4.2 Im Lukasevangelium 227 <?page no="228"?> 172 Eine genaue Untersuchung aller Mahlszenen, in denen Jesus bei anderen Figuren zu Gast ist, bietet Hotze, G.: Jesus als Gast. Studien zu einem christologischen Leitmotiv im Lukasevangelium, FzB 111, Würzburg 2007. Vgl. auch Bolyki, J.: Jesu Tischgemein‐ schaften, WUNT 96, Tübingen 1998. 173 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 338. 4.2.1 4.2.1.1 Lk 9,10 - 17 dritten Schritt wird gefragt, inwieweit sich bereits der Irdische in den göttlichen Heilsplan einordnet und die Schriften des Alten Testaments auf sich bezieht. Abschließend wird in einem vierten Schritt das Verhältnis des irdischen Jesus zum Heiligen Geist näher betrachtet. Die Mahlgemeinschaft beim Irdischen Der Auferstandene lässt sich von den Emmaus-Jüngern überreden, über Nacht bei ihnen zu bleiben (Lk 24,29). Dabei wechselt er in die Rolle des Gastgebers, indem er - während er mit den beiden Jüngern am Tisch sitzt - das Brot nimmt, einen Lobpreis spricht, das Brot bricht und es ihnen gibt (Lk 24,30). An dieser Handlung erkennen die beiden Emmaus-Jünger schließlich den Auferstan‐ denen; die gemeinsame Mahlhandlung und die Rolle Jesu öffnen ihnen somit die Augen (Lk 24,31). Im Lukasevangelium werden zahlreiche Mahlgemeinschaften des irdischen Jesus mit anderen Figuren geschildert. So ist der Irdische u. a. zu Gast bei Mahl‐ gemeinschaften mit Pharisäern (vgl. Lk 7,36-50; 11,37-54; 14,1-24) oder Zöll‐ nern (vgl. Lk 5,27-32; 15,2; 19,1-10). Auch kommen im Lukasevangelium Mahl‐ gemeinschaften in bildhafter Sprache vor (vgl. Lk 14,15-24; Lk 12,35-40). 172 Da die Figur des auferstandenen Jesus in der Emmaus-Erzählung von der Rolle des Gastes in die Rolle des Gastgebers wechselt, soll im Folgenden der Fokus auf Textabschnitten liegen, in denen der irdische Jesus ebenfalls als Gastgeber auf‐ tritt. Die Erzählung der Speisung der Fünftausend schließt sich an den Bericht über die Aussendung der zwölf Jünger in Lk 9,1-6 an. Die Jünger, die von Jesus aus‐ gesandt werden, um das Reich Gottes zu predigen und die Kranken zu heilen (Lk 9,2), kommen nach Lk 9,10 zurück und berichten Jesus von ihrem Tun. Die eigentliche Mahlgemeinschaft ereignet sich erst in Lk 9,16-17; die vorangeh‐ enden Verse dienen nach Wolter als Einleitung der Erzählung (Lk 9,10-11) und als Exposition, in der die Problemlage geschildert wird (Lk 9,12-14a), bevor dann im Zentrum der Erzählung (Lk 9,14b-17b) die Problemlage beseitigt wird. 173 Zur 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 228 <?page no="229"?> 174 Zur Stadt Bethsaida vgl. auch Fitzmyer, Luke I, 765-766. 175 Vgl. hierzu Klein, Lukasevangelium, 335: „Er nimmt die Menschen auf, wie man einen Gast aufnimmt, und akzeptiert sie damit.“ 176 Wolter, Lukasevangelium, 340. 177 Zum narrativen Widerspruch von Lk 9,11 und Lk 9,12 vgl. auch Wolter, Lukasevange‐ lium, 340, der hier von einer „gewisse[n] erzählerische[n] Inkohärenz“ spricht. Dagegen nimmt Eckey an, der Erzähler habe sich Bethsaida als eine „abgelegene Stadt in der Einöde“ vorgestellt, Eckey, Lukasevangelium I, 414. Dagegen spricht jedoch m. E. das Wort πόλις in Lk 9,10. Denn das Wort bezeichnet eindeutig eine Stadt, vgl. Hutter, Art. πόλις, 308-310. 178 Vgl. Lk 24,29 καὶ κέκλικεν ἤδη ἡ ἡμέρα. 179 Wolter, Lukasevangelium, 341. 180 Bovon, Lukas I, 471. Analyse der Jesus-Figur in Bezug auf die Mahlgemeinschaft sind innerhalb des Erzählabschnittes v. a. die Selbstcharakterisierung Jesu durch sein Handeln und seine Worte von Bedeutung. Aber auch das Verhältnis Jesu zu den beiden Figu‐ rengruppen der Jünger und der Menge sagt viel über die Darstellung des Irdischen aus. Die Erzählung beginnt in Anknüpfung an Lk 9,1-6 mit der Rückkehr der Jünger. Jesus zieht sich mit ihnen in die Stadt Bethsaida 174 zurück; die Menge erfährt jedoch davon und folgt ihm. Jesus empfängt 175 sie, spricht zu ihnen vom Reich Gottes und heilt die Kranken (Lk 9,10-11).Genau wie in der Emmaus-Ge‐ schichte geht der eigentlichen Mahlhandlung somit die Verkündigung Jesu voran (vgl. Lk 24, 25-27). Der Erzähler „baut […] die Szene für die folgende Episode auf.“ 176 An dieser Stelle existiert jedoch ein narrativer Widerspruch. Denn nach Lk 9,11 befinden sich Jesus, die Jünger und die Menge in der Stadt Bethsaida. In Lk 9,12 schlagen aber die Jünger Jesus vor, die Menschenmenge in die umliegenden Dörfer zu schicken, um dort Unterkunft und Verpflegung zu suchen, da sie sich hier an einem unbewohnten Ort befinden (ὅτι ὧδε ἐν ἐρήμῳ τόπῳ ἐσμέν). 177 Eine weitere Parallele zur Emmaus-Erzählung ist der Zeitpunkt der Mahlhandlung. In Lk 9,12 existiert eine beinahe wortwörtliche Überein‐ stimmung zu Lk 24,29, indem davon die Rede ist, dass der Tag anfängt, sich zu neigen (Ἡ δὲ ἡμέρα ἤρξατο κλίνειν). 178 Jesus reagiert auf die Aufforderung der Jünger, die Menge fortzuschicken, in Lk 9,13 mit der - für den intendierten Re‐ zipienten - überraschenden Antwort: δότε αὐτοῖς ὑμεῖς φαγεῖν. „Die Zwölf sollen gegenüber der Volksmenge die Gastgeberrolle einnehmen, denn bei ihnen - und nicht anderswo - sollen die Menschen satt werden“ 179 . Daraufhin erwidern die Jünger, dass sie lediglich über fünf Brote und zwei Fische verfügen, und schlagen Jesus vor, für die etwa 5000 Menschen Essen zu kaufen (Lk 9,13- 14). Jesus geht nicht weiter auf „den rationalistischen Einwand seiner Jünger“ 180 ein, sondern fordert seine Jünger auf, die Volksmenge dazu zu veranlassen, sich 4.2 Im Lukasevangelium 229 <?page no="230"?> 181 „In diesen Gruppen ist eine direkte Kommunikation möglich. Jede einzelne Person wird handlungsfähig“, Cornelius-Bundschuh, Zwölf Körbe voll, 340. 182 Vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 341. 183 Wolter, Lukasevangelium, 341. 184 Bovon, Lukas I, 471. 185 „In der Mitte der Erzählung stehen das Volk und die Jünger im Hintergrund. Jetzt han‐ delt allein Jesus“, Bovon, Lukas I, 472. 186 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 342. 187 Zur Bedeutung des Verbes εὐλογέω vgl. Patsch, Art. εὐλογέω, 198-201. 188 In Lk 9,16 besteht das Mahl selbst aus Brot und Fisch und nicht nur aus Brot, wie in Lk 24,30. Zudem sieht Jesus in Lk 9,16 zuvor zum Himmel auf, was eine Kontaktauf‐ nahme mit Gott darstellt, vgl. hierzu Wolter, Lukasevangelium, 343. In beiden Fällen stimmt aber die Reihenfolge und die Verwendung der vier Verben λαμβάνω, εὐλογέω, κλάω, δίδωμιüberein (vgl. Lk 9,16; Lk 24,30). in Speisegruppen von je fünfzig Leuten niederzulegen (Lk 9,14). 181 Damit weist der Erzähler nun Jesus die Rolle des Gastgebers zu. 182 Genau wie in der Em‐ maus-Erzählung agiert Jesus nicht von Anfang an in der Gastgeberrolle; in der Emmaus-Geschichte schreibt er sich diese Rolle selbst zu (vgl. Lk 24,30), in Lk 9,10-17 weist ihm der Erzähler diese Rolle zu. Zudem wird an dieser Stelle deutlich, dass sich Jesus hinter seine Jünger stellt und hinter ihrer Tätigkeit steht. Dem intendierten Rezipienten stellt sich hier unweigerlich die „spannende Frage“ 183 , wie die Jesus-Figur und die Jüngergruppe die 5000 Menschen mit nur fünf Broten und zwei Fischen sättigen sollen. Zwar sollen die Jünger nach Lk 9,13 die Gastgeberrolle einnehmen, aber ohne Jesus vermögen sie es nicht. Jesus wird so zum eigentlichen Gastgeber der Mahlhandlung „durch die Vermittlung der Zwölf “ 184 . In Lk 9,16 erfolgt nun ein Kameraschwenk des Erzählers allein auf die Jesus-Figur und ihr Handeln. 185 Jesus nimmt die fünf Brote und zwei Fische, sieht hinauf zum Himmel, segnet sie, bricht sie und gibt sie den Jüngern, damit sie sie an die Menge austeilen. Dem intendierten Rezipienten ist aus seinem Welt‐ wissen sehr wahrscheinlich die Praxis bekannt, dass der (jüdische) Hausvater das Brot nimmt, dankt, bricht und austeilt. 186 Jesus übernimmt so an dieser Stelle die Rolle des Hausvaters und Gastgebers, der seiner Familie / seinen Gästen das Brot reicht und für sie sorgt. Auch hier wird eine weitere Parallele zur Em‐ maus-Erzählung sichtbar, denn in beiden Mahlgemeinschaften handelt die Jesus-Figur in der Reihenfolge, dass er zuerst das Brot nimmt, ein Lobgebet spricht 187 , das Brot bricht und es den Gästen reicht. 188 Durch die große Teilneh‐ merzahl an der Mahlgemeinschaft drückt der Erzähler zudem aus, „daß es in Jesu inklusiver Tischgemeinschaft weder qualitative (Sünder, Frauen, Heiden) 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 230 <?page no="231"?> 189 Bolyki, Tischgemeinschaften, 102; vgl. auch Bösen, Jesusmahl, 84: „Im Überblick zeigen sie Jesu Offenheit für die Gesamtheit seines Volkes. Für ihn gibt es keine Grenze zwi‐ schen oben und unten“. Vgl. März, Mahlgemeinschaften Jesu, 51: „Die Mahlpraxis Jesu aber ist auf die Teilnahme aller ausgerichtet, um das Mahl zum Erfahrungsraum der alle Grenzen überschreitenden Gottesherrschaft zu machen.“ 190 Wolter, Lukasevangelium, 343. 191 Wolter, Lukasevangelium, 343. 192 Bovon, Lukas I, 473. Vgl. auch Cornelius-Bundschuh, Zwölf Körbe voll, 341: „Alle werden satt, obwohl dies den ökonomischen Realitäten widerspricht.“ 193 Klein vertritt die Ansicht, die Brotvermehrung ereigne sich bereits während der Seg‐ nung und des Brotbrechens durch Jesus in Lk 9,16, vgl. Klein, Lukasevangelium, 336: „Indem Jesus die Brote und Fische entgegennimmt und sie, zum Himmel aufblickend, segnet und bricht, werden sie wunderhaft vermehrt“. Dagegen nimmt Wolter eine Brotvermehrung erst während des Austeilens durch die Jünger an, vgl. Wolter, Lukas‐ evangelium, 343: „Lukas will ganz offensichtlich den Eindruck erwecken, dass die Nah‐ rungsmittel sich unter den Händen der Jünger so sehr vermehren, dass […] hinterher mehr vorhanden ist als vorher.“ So auch Radl, Lukas, 603. Schmithals geht sogar so weit, den Jüngern selbst eine Wundertätigkeit zuzuschreiben, vgl. Schmithals, Lukas, 110: „Für Lukas sind die Zwölf Apostel also mit einer besonderen Wundergabe ausgestattet“. M. E. kann jedoch der genaue Zeitpunkt der Brotvermehrung allein vom Text her nicht eindeutig geklärt werden. Dem Text geht es nicht um das Wann oder das genaue Wie der Brotvermehrung, sondern um die Betonung der Wundertätigkeit Jesu; so auch Eckey, Lukasevangelium I, 416. 194 Wolter, Lukasevangelium, 343; vgl. auch Wiefel, Lukas, 175: „Die Lobpreisung, die über den Broten gesprochen wird, ist als Segnung des Brotes verstanden. Auf sie führt er die Vermehrung des Brotes zur wunderbaren Sättigung zurück.“ So auch Bovon, Lukas I, 472: „Durch seinen Segen überträgt er seine Kraft auf die Brote und die Fische […] und ermöglicht das Wunder.“ noch quantitative Schranken gibt.“ 189 Nach Wolter besteht zwischen Lk 9,16 und Lk 9,17 eine „narrative Leerstelle“ 190 , denn der intendierte Rezipient erfährt nicht, was die Jünger mit dem Brot machen. In Lk 9,17 wird nur berichtet, wie alle essen, satt werden und sogar noch zwölf Körbe mit Brotresten übrig bleiben. Das letzte Wort der Erzählung ist damit die „bedeutungsschwere[…] Zahl Zwölf “ 191 (κόφινοι δώδεκα). Der Text will an dieser Stelle die Fülle der Gaben und „den Überfluß anschaulich machen: Fünftausend Menschen bekommen zu essen und alle werden satt, es bleibt sogar eine große Menge […] übrig.“ 192 Wann und wie genau die Vermehrung des Brotes stattfindet, kann m. E. nach dem Text nicht eindeutig bestimmt werden. 193 Deutlich wird aber die Frage nach dem Warum. Denn weil „Jesus die fünf Brote und zwei Fische gesegnet hat, reichen sie für 5000 Leute.“ 194 Nur die Jünger wissen überhaupt von diesem Brotwunder, denn nur sie kennen nach Lk 9,13 den anfänglichen Essensbestand. Daher fehlt am Ende der Erzählung auch eine Akklamation seitens der Volksmenge. Petrus 4.2 Im Lukasevangelium 231 <?page no="232"?> 195 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 343. 196 Schmithals, Lukas, 147. 4.2.1.2 Lk 12,35 - 40 dagegen spricht sie in seinem an die Erzählung anschließenden Christusbe‐ kenntnis in Lk 9,20b aus. 195 Insgesamt ist die Erzählung in Lk 9,10-17 von verschiedenen Passions-An‐ spielungen umgeben. So ist z. B. in Lk 9,7-9 - also unmittelbar vorher - eine Notiz über Herodes eingefügt, in der er Nachforschungen über Jesus anstellt und ihn zu sehen begehrt. In Lk 9,21-22 folgt die erste Leidensankündigung Jesu sowie wenig später seine zweite Leidensankündigung (Lk 9,43-45). Dadurch wird für den intendierten Rezipienten deutlich, dass der irdische Jesus, der sich selbst auf dem Weg zum Kreuz befindet, dafür sorgt, dass das Volk satt wird. Zudem ist die Mahl-Erzählung in Lk 9,10-17 umgeben von der Frage: Wer ist Jesus? Diese Frage wird aus unterschiedlichen Perspektiven heraus gestellt. In Lk 9,7-9 stellt Herodes die Frage nach Jesu Identität (τίς δέ ἐστιν οὗτος περὶ οὗ ἀκούω τοιαῦτα; Lk 9,9). In Lk 9,18 stellt Jesus seinen Jüngern selbst die Frage, was die Leute denken, wer er sei (τίνα με λέγουσιν οἱ ὄχλοι εἶναι; ). Innerhalb der Mahl-Erzählung in Lk 9,10-17 beantwortet Jesus durch seine Selbstcharak‐ terisierung die Frage nach seiner Identität: Jesus ist der Gastgeber, der die Men‐ schen im Überfluss an seinen Gaben teilhaben lässt. Die Mahl-Erzählung in Lk 9,10-17 steht insgesamt in einem engen Bezug zur Emmaus-Erzählung: In beiden Erzählungen agiert Jesus nicht von Anfang an in der Rolle des Gastgebers. In beiden Erzählungen findet die Mahlhandlung am Abend statt, in beiden Erzählungen folgt die Mahlhandlung auf die Verkündi‐ gungs-Tätigkeit Jesu und in beiden Fällen vollzieht sich die Mahlhandlung nach demselben Ablauf in vier Schritten. Dabei macht Jesus innerhalb der Mahlhand‐ lung in Lk 9,10-17 ganz deutlich, wer er ist, nämlich der Gastgeber der die Men‐ schen als Gäste empfängt und ihnen das zum Leben Nötige gibt. Von einer eschatologischen Mahlgemeinschaft spricht der irdische Jesus in Lk 12,37. Diejenigen Knechte, die der Herr bei seiner Wiederkunft wachend vor‐ findet, werden von ihm zu Tisch gebeten und bedient werden. Der Ausblick auf diese kommende eschatologische Mahlgemeinschaft Jesu mit seinen wachenden Knechten ist Teil des ersten von drei Gleichnissen, die alle von der „Wachsamkeit im Blick auf das unberechenbare Kommen des Menschensohns“ 196 handeln. Die Jesus-Figur spricht diese Gleichnisse ausdrücklich zur Figurengruppe der Jünger (vgl. Lk 12,22). Innerhalb seines ersten Gleichnisses in Lk 12,35-38 agieren je‐ doch die Figur des Herren (κύριος) und die Figurengruppe der Knechte (οἱ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 232 <?page no="233"?> 197 In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Figurengruppe der Menschen (vgl. Lk 12,36) und der Figurengruppe der Knechte (vgl. Lk 12,37) um ein und dieselbe Figurengruppe handelt, so auch Ernst, Lukas, 408. 198 Wolter, Lukasevangelium, 462. 199 Die Beschreibung seines Handelns leitet die Figur des irdischen Jesus dabei in Lk 12,37b mit den Worten ἀμὴν λέγω ὑμῖν ein, wodurch die Relevanz der nun folgenden Hand‐ lungen herausgestellt wird, vgl. auch Ernst, Lukas, 408: „Das »Amen, ich sage euch« […] läßt aufhorchen.“ 200 Ernst spricht an dieser Stelle von einem „[U]nwahrscheinlich[en] und das Bild spren‐ gend[en] […] Lohn“, Ernst, Lukas, 408. 201 Das Umgürten kann in diesem Kontext der Mahlgemeinschaft wahrscheinlich als das Umlegen einer Schürze verstanden werden, vgl. Ernst, Lukas, 408. 202 Klein, Lukasevangelium, 463; vgl. auch Bovon, Lukas II, 328: „Erstaunt wohnen wir einer Umkehrung der Rollen bei […]: Christus wird vom Herrn zum Knecht.“ δοῦλοι). Es liegt hier somit eine Erzählung innerhalb einer Gesamt-Erzählung vor. Auf der ersten Erzählebene geht es um die Figuren Jesus - Jünger; auf der zweiten Erzählebene um die Figuren Herr - Knechte. Damit müssen in Lk 12,35- 40 zwei Ebenen innerhalb der Erzählung unterschieden werden. Bei der Analyse sind somit v. a. das Verhältnis der Jesus-Figur (als κύριος) zu den anderen Figuren sowie die Selbstcharakterisierung Jesu in seinem zukünftigen Handeln als Herr an seinen Knechten leitend. In Lk 12,35 fordert der irdische Jesus seine Jünger dazu auf, dass ihre Lenden umgürtet und ihre Lichter brennend sein sollen. Nach dieser Aufforderung an die Jünger setzt nun in Lk 12,36 das Gleichnis ein und damit folgt der Wechsel auf die zweite Erzählebene: Die Jünger sollen gleich (ὅμοιοι) den Menschen sein, die auf ihren Herrn warten, wenn er von der Hochzeitsfeier aufbricht, damit sie ihm sofort (εὐθέως) öffnen können, wenn er kommt und anklopft (Lk 12,36). Nun folgt der Ausblick auf die Mahlgemeinschaft des Herren mit seinen Knechten 197 , die wach geblieben sind, auch wenn der Herr erst „richtig spät“ 198 kommt (Lk 12,38). Das Gleichnis schließt in Lk 12,38 mit dem Ausruf über die wachsamen Knechte μακάριοί εἰσιν ἐκεῖνοι. In Lk 12,37b spricht die Jesus-Figur genauer von dem zukünftigen Handeln des Herrn in Bezug auf seine wachsamen Knechte 199 : Zunächst wird er sich um‐ gürten, sie dann sich (zu Tisch) niederlegen lassen und schließlich herantreten und sie bedienen. Diese sich in drei Teilhandlungen untergliedernde Mahlge‐ meinschaft ist dabei der Lohn für das Warten und Wachbleiben der Knechte. 200 Wichtig im Hinblick auf die Jesus-Figur ist v. a. seine Rolle als zukünftiger Diener der Knechte innerhalb der eschatologischen Mahlgemeinschaft. Denn dadurch, dass er sich umgürtet 201 , die Knechte zu Tisch bittet und sie bedient (διακονέω) macht er „die Diener zu Herren und dient selbst.“ 202 Er nimmt somit an dieser 4.2 Im Lukasevangelium 233 <?page no="234"?> 203 Wolter, Lukasevangelium, 462. 204 Schneider, Lukas, 289. 205 Schmithals spricht hier von einer „bildhafte[n] Verheißung, daß dem Wachsamen das Heil der Gottesherrschaft beschieden sein wird“, Schmithals, Lukas, 148. Stelle eine Umkehr der Figuren-Verhältnisse vor. Die ehemals Dienenden (οἱ δοῦλοι) werden nun vom Herrn selbst bedient. Durch die Verwendung der futurischen Verbformen περιζώσεται, ἀνακλινεῖ und διακονήσει in Lk 12,37b weist der irdische Jesus innertextlich „seinen Hö‐ rern eine Erzählperspektive zu, in der die Rückkehr des Herrn noch aussteht, und lenkt ihren Blick in die Zukunft.“ 203 Zugleich richtet sich der Erzähler mit diesem der Jesus-Figur in den Mund gelegten Gleichnis auch an den intendierten Rezipienten, der sich in der Zeit zwischen der Himmelfahrt und der Parusie Jesu befindet, und fordert ihn damit implizit zu einer bestimmten Verhaltensweise auf. Insgesamt dient die Gleichnis-Erzählung der Jesus-Figur an seine Jünger in Lk 12,35-38 über die eschatologische Mahlgemeinschaft des Herrn mit seinen Knechten zur Schilderung des Lohns, der für die geforderte Haltung der „Wach‐ samkeit und Bereitschaft“ 204 im Zusammenhang der Parusie von den Jüngern (und vom intendierten Rezipienten) erwartet werden kann. 205 Die Jesus-Figur schreibt sich dabei innerhalb der Mahlgemeinschaft selbst ausdrücklich die Rolle des Dieners zu. Zugleich macht Jesus auch in Lk 12,35-40 - genau wie in Lk 9,10-17 - deut‐ lich, wer er ist. Denn Jesus formuliert durch sein Gleichnis eine Zielperspektive: Er selbst wird bis in alle Zeit in der Rolle des Gastgebers bleiben, der die Men‐ schen versorgt. So zeigt sich schon hier, was nicht nur in Emmaus, sondern bis in alle Zukunft sein wird: Jesus als künftiger Gastgeber wird die Menschen mit der Gabe des Lebens versorgen. 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 234 <?page no="235"?> 206 Vgl. u. a. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu,100-118; Bovon vermutet den Ursprung der Mahl-Erzählung in Lk 22,14-20 in Antiochia „in der von Hellenisten gegründeten Gemeinschaft“, Bovon, Lukas IV, 239; vgl. auch Léon-Dufour, Abendmahl, 34, der die Ansicht vertritt, der Autor des Doppelwerkes spreche von der letzten Mahlhandlung „wie von etwas, das seinen Lesern wohlbekannt ist“. 207 „Die Einleitung der Mahlszene betont den Charakter des Mahls als Festmahl zum Pe‐ sachfest (V. 14) und blickt zugleich auf das Leiden Jesu, aber auch auf das Königreich Gottes voraus, in dem Jesus erneut das Pesach zu feiern hofft“, Löhr, Abendmahl, 63. 208 Jesu Rede besteht dabei aus zwei Teilen (Lk 22,15-18 und Lk 22,19-20). Beide Teile sind wiederum unterteilt in das Wort über das Passa (Lk 22,15-16) und das Becherwort (Lk 22,17-18) sowie in das Wort vom Brot (Lk 22,19) und vom Wein (Lk 22,20), vgl. Klein, Lukasevangelium, 663. 4.2.1.3 Lk 22,14 - 20 Die Voraussetzung für die Untersuchung und das Verständnis des folgenden Textabschnitts ist die Annahme, dass dem intendierten Rezipienten die Herren‐ mahlstradition und auch die Deuteworte Jesu sehr wahrscheinlich aus seiner Umwelt und / oder Gemeinde bekannt sind. 206 Der Text setzt daher eine solche Kenntnis des Herrenmahls aus dem liturgischen Alltag voraus, auch wenn er keine eindeutige Anspielung auf ein einschlägiges Vorwissen der intendierten Rezipienten macht. Die Szene Lk 22,14-20, in der der irdische Jesus zusammen mit seinen Jüngern das letzte Mahl zu sich nimmt, schließt unmittelbar an die Erzählung über die Tötungs-Pläne der Hohepriester und Schriftgelehrten sowie den geplanten Verrat des Judas an (Lk 22,1-6). Im Anschluss an die Mahlszene folgen Ge‐ spräche Jesu mit seinen Jüngern (Lk 22,24-38) und sein Aufenthalt in Gethse‐ mane (Lk 22,39-45). Damit ist es die letzte Mahlszene vor dem Tod Jesu im Lu‐ kasevangelium. 207 Auf dieser Erzählung vom letzten gemeinschaftlichen Mahl Jesu im Jüngerkreis liegt ein besonderes Gewicht. Die Mahlszene selbst wird in Lk 22,7-13 eingeleitet und vorbereitet durch eine Zeitangabe des Erzählers (Ἦλθεν δὲ ἡ ἡμέρα τῶν ἀζύμων, [ἐν] ᾗ ἔδει θύεσθαι τὸ πάσχα Lk 22,7) und die sich daraus ergebene Vorbereitung des Pas‐ samahls durch Petrus und Johannes (Lk 22,8-13). Mit den Worten Καὶ ὅτε ἐγένετο ἡ ὥρα leitet der Erzähler in Lk 22,14 die Mahlszene ein; Jesus und seine Jünger (hier als Apostel bezeichnet) legen sich nieder an den vorbereiteten Tisch im vorgesehenen großen Saal mit Polstern (Lk 22,12). Von Lk 22,15 bis Lk 22,20 folgt eine Rede des irdischen Jesus an seine Jünger, die er durch gezielte Hand‐ lungen unterstreicht. 208 Daher liegt in der folgenden Analyse der Schwerpunkt hauptsächlich auf der Selbstcharakterisierung der Jesus-Figur. Aber auch die 4.2 Im Lukasevangelium 235 <?page no="236"?> 209 Bauer / Aland denken in Lk 22,12 an ein „mit Teppichen od. Speisepolstern belegtes Zimmer“, Bauer / Aland, 1539. 210 Klein, Lukasevangelium, 665. 211 Theobald geht so weit, zu behaupten, das Passamahl in Lk 22,14-20 stelle „den gottge‐ wollten Zielpunkt seiner Tora-Frömmigkeit dar, die ihn ein Leben lang geprägt“ habe, Theobald, Paschamahl und Eucharistiefeier, 137 f. Dass Jesu letztes Mahl ein Passamahl ist, steht an dieser Stelle nicht zur Debatte, jedoch hat das Passamahl durch die Akzen‐ tuierung in Lk 22,19-20 m. E. lediglich den Charakter eines Rahmens, in den Jesus seine ganz eigene Deutung stellt. Vgl. auch Bovon, Lukas IV, 245-246: „Die Stimmung lässt vielleicht an das Pascha denken, aber hier spielt sich nicht das Pascha ab.“ Es geht somit nicht in erster Linie um das gemeinsame Passa-Feiern Jesu mit seinen Jüngern und die dadurch demonstrierte Tora-Frömmigkeit Jesu, sondern vielmehr um die Voraussage der Hingabe Jesu für die Seinen und die damit verbundene Verheißung eines neuen Bundes. Beides wird für die Jünger sichtbar und erlebbar in den Elementen Brot und Wein. Umwelt der Figur sowie sein Verhältnis zu den anderen Figuren sind von Bedeu‐ tung. Im Hinblick auf die Umwelt, in der sich die Jesus-Figur während der Mahl‐ szene in Lk 22,14-20 befindet, ist besonders die Information aus dem Mund des Irdischen in Lk 22,12 von Belang. Denn hier trägt er seinen beiden Jüngern Petrus und Johannes auf, das Passalamm in einem explizit als „groß“ (μέγας) bezeichneten Saal, der mit Polstern versehen ist, zu bereiten. Auch das Verb στρωννύω macht deutlich, dass es sich um einen prunkvollen Raum handelt. 209 Im Gegensatz zu dem Mahl mit den Emmaus-Jüngern oder der Mahlszene in der Wüste (Lk 9,10-17) findet gerade dieses letzte „Festmahl“ 210 Jesu mit seinen Jüngern in einer ungewohnt feierlichen und festlichen Atmosphäre statt, durch die die Bedeutung dieses Mahls für den intendierten Rezipienten hervorgehoben wird. Der Erzähler nennt in Lk 22,7 eine Zeit, in der das anschließende Mahl statt‐ findet. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern ist damit ausdrücklich durch die Formulierung πάσχα φαγεῖν in Lk 22,15 in den Rahmen des Passamahls einge‐ bettet. 211 Dem intendierten Rezipienten ist das Passafest bereits aus Lk 2,41 be‐ kannt; hier ist das Fest Anlass für den zwölfjährigen Jesus und seine Eltern, nach Jerusalem zu reisen. Jesus kommt nun in Lk 22,14-20 mit seinen Jüngern zu‐ sammen, um das Passamahl zu feiern (vgl. Lk 22,15). Im Hinblick auf das Verhältnis des irdischen Jesus zu seinen Jüngern während der Mahlszene ist v. a. Lk 22,19-20 von großer Aussagekraft. Jesus handelt hier nach dem vorgegebenen und dem intendierten Rezipienten aus dessen Umwelt bekannten Ritus, dass der jüdische Hausvater das Brot nimmt, es segnet, bricht 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 236 <?page no="237"?> 212 Zu dem dem intendierten Rezipienten wahrscheinlich bekannten jüdischen Ritus des Brotbrechens vgl. Bösen, Jesusmahl, 45. 213 Bösen, Jesusmahl, 45. 214 Klein, Lukasevangelium, 666. 215 Vgl. hierzu ausführlich Wolter, Lukasevangelium, 704. 216 Schwank, »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird«, 288. 217 Wolter verwendet hierfür den Begriff „Realsymbol“ im Gegensatz zum „Vertretungs‐ symbol“, vgl. Wolter, Lukasevangelium, 704. 218 Bovon, Lukas IV, 245. Vgl. auch Eckey, Lukasevangelium II, 886: „Wer dieses mit Jesus identifizierte Brot ißt, erhält Anteil an der versöhnenden Kraft seines Opfertodes.“ 219 Vgl. Schweizer, Lukas, 223: „Dem hingegebenen Leib entspricht das vergossene Blut.“ 220 Zur Formulierung ὑπὲρ ὑμῶν in Lk 22,19b vgl. Schwank, »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird«, 282-290. und den Gästen reicht. 212 Jedoch „durchbricht Jesus den Ritus.“ 213 Denn er nimmt das Brot und den Kelch mit Wein und weist jedem der beiden Elemente der Mahlhandlung eine ganz eigene Bedeutung zu, die in unmittelbarem Bezug zur Figurengruppe der Jünger steht. Denn indem Jesus das Brot und den Wein auf sich und sein Sterben bezieht, haben die Jünger in „der Entgegennahme und dem Essen des Brotes […] Anteil an dem Segen, der in der Hingabe Jesu für die Seinen besteht.“ 214 Der Aspekt des Hingebens für die Jünger ist besonders verstärkt durch die zweimalige Verwendung des Verbes δίδωμι in Lk 22,19a und Lk 22,19b. 215 „Er gibt sich ganz, restlos“ 216 . Durch das ἐστιν in Lk 22,19 wird zudem deutlich, dass dem Brot nicht nur Symbolcharakter für Jesu Leib zugewiesen wird, sondern dass Jesus vielmehr in dem Brot unter den Jüngern vergegenwärtigt wird. 217 Das Brot „entspricht dem Leib, stellt ihn dar“ 218 . Die entsprechende Identifikation gilt auch für den Kelch in Lk 22,20b. 219 Der ausdrückliche Bezug auf die Jünger wird v. a. durch das ὑπὲρ ὑμῶν in Lk 22,19b (sowie später auch durch das ὑπὲρ ὑμῶν in Lk 22,20b) deutlich. 220 Jesus bezieht das Brot auf seinen Leib, den er für sie hingibt. Mit dem ὑμῶν sind in erster Linie seine Jünger gemeint, der intendierte Rezipient kann das ὑπὲρ ὑμῶν jedoch auch auf sich beziehen. Nachdem Jesus in Lk 22,19 das Brot des Passamahls auf seinen Leib bezogen hat, der für die Jünger hingegeben wird (τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου τὸ ὑπὲρ ὑμῶν διδόμενον Lk 22,19b), bezieht er nun 4.2 Im Lukasevangelium 237 <?page no="238"?> 221 Zum Begriff und Verständnis von διαθήκη in Lk 22,20 vgl. Hegermann, Art. διαθήκη, 722-723. Der Text spielt hier auf den bereits von Jeremia vorhergesagten neuen Bund in Jer 31,31-34 an, dessen Kenntnis vom intendierten Rezipienten an dieser Stelle vo‐ rausgesetzt wird. Der Bund bedeutet eine „Selbstverpflichtung und Setzung oder Ver‐ pflichtung Gottes, die für die Menschen, denen sie gilt, verbindlich ist und sie in die Pflicht nimmt“, Eckey, Lukasevangelium II, 887. Vgl. auch Bovon, Lukas IV, 247: „Der dargebotene Kelch bildet den neuen Bund, der in Jesu Blut geschlossen und für euch vergossen worden ist.“ 222 Léon-Dufour, Abendmahl, 300. 223 Schröter, Abendmahl, 49. 224 „Der Wiederholungsbefehl - die so genannte Anamnesisformel - […] ist ein Hinweis auf die regelmäßige Wiederholung der Herrenmahlsfeier“, Stratomeier, Das Abend‐ mahl - Ursprung und Anfänge, 69. 225 Wolter, Lukasevangelium, 703. 226 Klein spricht hier von einem „Gedächtnismahl mit eschatologischem Ausblick“, Klein, Lukasevangelium, 665. Jedoch ist das in Lk 22,14-20 geschilderte Mahl Jesu mit seinen Jüngern selbst nicht als Gedächtnismahl konzipiert; vielmehr fordert Jesus die Jünger erst zum Gedächtnismahl auf. 227 Bovon, Lukas IV, 246. 228 Vgl. Hotze, Jesus als Gast, 264. Eine gute Übersicht über die Rollenverteilung der Figuren bei Mahlfeiern in den Darstellungen der Synoptiker bietet Bolyki, Tischgemeinschaften, 13-20. 229 „Jesu Ankündigung bedeutet nicht, dass ab jetzt kein Passa mehr gefeiert wird, sondern dass er erst wieder im Reich Gottes an einer Passafeier teilnehmen wird“, Wolter, Lu‐ kasevangelium, 701. den Kelch mit Wein auf den neuen Bund 221 in seinem Blut, das für sie vergossen wird (τοῦτο τὸ ποτήριον ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ αἵματί μου τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον Lk 22,20b). Indem Jesus sowohl das Brot als auch den Wein auf sein Sterben und damit auf seine Hingabe für die Jünger bezieht, erhält beides symbolischen Charakter. Insgesamt ist so das Handeln und Reden Jesu in Lk 22,19-20 eine „mimische Darstellung seines Todes.“ 222 Es folgt nach der Brotrede in Lk 22,19b eine Aufforderung Jesu an die Jünger, diesen Vorgang zu seinem Gedächtnis zu wiederholen. Damit gibt er „Anwei‐ sungen an die Zurückbleibenden“ 223 . Sie sollen dies (τοῦτο) zu seinem Ge‐ dächtnis regelmäßig tun (τοῦτο ποιεῖτε εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν Lk 22,19). 224 Dadurch soll es in der Zeit seiner Abwesenheit unter den Jüngern zu einer „ver‐ gegenwärtigenden Erinnerung“ 225 Jesu kommen. 226 Es geht daher an dieser Stelle nicht um eine „Nostalgie noch Melancholie einer unwiederbringlichen Vergan‐ genheit“ 227 , sondern um eine aktive Vergegenwärtigung Jesu in den Elementen des Mahls. Die Jesus-Figur nimmt in Lk 22,14-20 durch ihr Sprechen und Handeln ein‐ deutig die Rolle des Gastgebers ein. 228 Der Irdische macht seinen Jüngern deut‐ lich, dass dieses Passamahl sein letztes vor seiner Parusie ist (Lk 22,16). 229 Auch 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 238 <?page no="239"?> 230 Vgl. hierzu auch Bösen, Jesusmahl, 34. 231 „Jesus verbindet den unvermeidlichen Abschied mit seiner Botschaft von Gottes Herr‐ schaft und Reich“, Eckey, Lukasevangelium II, 884. 232 Bovon, Lukas IV, 244. 233 Schröter spricht hier von einer „Abschiedsszene mit testamentarischen Verfügungen für die kommende Zeit“, Schröter, Abendmahl, 51. 234 Léon-Dufour, Abendmahl, 298. 235 Verstärkt wird diese Aussage noch dadurch, dass das Verb (ἐπιθυμῶ) durch das Sub‐ stantiv (ἐπιθυμία) verdoppelt wird, vgl. Bovon, Lukas IV, 242. 236 „Jesu Verlangen nach diesem Mahl ist übergroß“, Bösen, Jesusmahl, 29. 237 Vgl. Flender, Heil und Geschichte, 78: „Nicht mehr die Einkehr Jesu bei den Menschen wird behandelt, sondern sein Abschied von den Seinen vorbereitet.“ kündigt er seinen Jüngern an, keinen Wein mehr zu trinken, bis das Reich Gottes kommt (Lk 22,18b). Jesus kündigt somit zweimal das Ende der Mahlgemein‐ schaften zwischen ihm und den Jüngern an, um dann zugleich eine neue kom‐ mende Mahlgemeinschaft im Reich Gottes anzukündigen. 230 Damit erhält das Mahl gleichzeitig auch einen Hinweis auf das Kommen des Reiches Gottes. 231 Zugleich verdeutlicht Jesus dadurch seinen Jüngern „fest und klar, dass er von seinem Tode an abwesend sein wird, bis das Reich kommen wird.“ 232 Es ist da‐ durch eindeutig als ein Abschiedsmahl gekennzeichnet, bei dem der irdische Jesus noch ein letztes Mal mit seinen Jüngern zum Essen zusammenkommt und über seinen Tod und die Zeit danach spricht. 233 Jesus macht zudem seinen Jüngern gegenüber deutlich, dass er ein „heftiges Verlangen, dieses letzte Pascha mit seinen Jüngern zu feiern“ 234 , besitzt (Lk 22,15 ἐπιθυμίᾳ ἐπεθύμησα 235 τοῦτο τὸ πάσχα φαγεῖν μεθ΄ ὑμῶν). 236 Noch einmal möchte er vor seinem nahe bevorstehenden Leiden und seinem Tod (vgl. Lk 22,15 πρὸ τοῦ με παθεῖν) mit seinen Jüngern das Passamahl und damit auch seinen Abschied sowie den gleichzeitigen hoffnungsvollen eschatologischen Ausblick (vgl. Lk 16b; Lk 18b) feiern. 237 Insgesamt unterscheidet sich die letzte Mahlfeier in Lk 22,14-20 von anderen Mahlszenen innerhalb des Lukasevangelium durch verschiedene Charakteris‐ tika: Die Vorbereitung des Mahls wird ausführlich und detailliert beschrieben (vgl. Lk 22,7-13). Darüber hinaus ist diese letzte Mahlhandlung des Irdischen wesentlich feierlicher dargestellt, indem sie in einem großen, gepolsterten Saal stattfindet (vgl. Lk 22,12) und nicht - wie etwa in Lk 9,10-17 - in der Wüste. Sie ist zudem die einzige Mahlhandlung, in der der Gastgeber die Gäste aus‐ drücklich dazu auffordert, eine solche Mahlgemeinschaft selbständig fortzu‐ 4.2 Im Lukasevangelium 239 <?page no="240"?> 238 „Die letzte Besonderheit fällt völlig aus dem Rahmen der sonstigen Mahlzeiten Jesu bei der Einkehr in einem Haus. Durch die geheimnisvolle Identifikation von Gastgeber und Speise wird dieses Gastmahl Jesu kurz vor seinem Leiden transzendiert und auf eine symbolische, liturgisch-sakramentale Ebene gehoben“, Hotze, Jesus als Gast, 264. 239 Eckey, Lukasevangelium II, 885. 4.2.1.4 Ergebnis führen. Vor allem aber ist es die einzige Mahlhandlung im Lukasevangelium, in der sich die Figur des Gastgebers mit der Speise selbst identifiziert. 238 Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass innerhalb der in Lk 22,14-20 dargestellten Mahlhandlung die Jesus-Figur die Rolle des Gastge‐ bers übernimmt und die Figurengruppe der Jünger als Gäste fungiert. Insgesamt besitzt das letzte Passamahl Jesu mit seinen Jüngern mehrere Funktionen: Es fungiert als Abschiedsmahl, enthält aber gleichzeitig auch eine eschatologische Verheißung. Zudem dient es der Identifikation Jesu mit den Elementen des Mahls, besitzt also Symbolcharakter und beinhaltet zugleich durch seine „Stif‐ tungsworte“ 239 eine Aufforderung an die Jünger, diese Mahlgemeinschaft nach Jesu Tod fortzuführen. Genau wie in Lk 9,10-17 und Lk 12,35-40 macht Jesus auch in dieser Mahl‐ szene deutlich, wer er ist. Aber anders als in den beiden vorherigen Textstellen präsentiert sich Jesus nicht nur als gegenwärtiger und zukünftiger Gastgeber der Menschen; vielmehr identifiziert er sich hier zudem mit der Speise selbst. Damit ist Jesus in Lk 22,14-20 beides: Gastgeber und Gabe zugleich. Im Blick auf die Emmaus-Erzählung wird zudem (für den intendierten Rezipienten) deut‐ lich, warum die Erkenntnis der Emmaus-Jünger genau in dem Moment einsetzt, in dem der Auferstandene das Brot bricht. Der Rezipient versteht also, weshalb die Emmaus-Jünger verstehen. Denn genau wie der irdische Jesus in Lk 22,19 seinen Jüngern aufgetragen hat, von ihnen in den Elementen des Mahls verge‐ genwärtigt zu werden, geschieht es in Lk 24,30-31 mit den Emmaus-Jüngern. Im Moment des Brotbrechens erkennen sie den Auferstandenen. Alle drei Mahlszenen des irdischen Jesus, in denen er in der Rolle des Gastgebers agiert, sagen viel über die Jesus-Figur aus, zeigen auf, wer er ist und stehen in einem Bezug zur Mahlhandlung des Auferstandenen mit den Emmaus-Jüngern in Lk 24,30-31. So wird aus Lk 9,10-17 deutlich, dass Jesus der gegenwärtige Gastgeber ist, der den Menschen im Überfluss Anteil an seinen Gaben gewährt. Aus Lk 12,35-40 wird erkennbar, dass Jesus diese Gastgeber-Rolle bis in alle Zukunft - und weit über Emmaus hinaus - hinein einnehmen wird, um die Menschen mit der Gabe des Lebens zu versorgen. Auch der Auferstandene begibt sich aktiv in die Rolle des Gastgebers und weist damit eine Kontinuität zu seinem 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 240 <?page no="241"?> 4.2.2 Handeln als Irdischer auf. Denn genau wie Jesus als Irdischer seinen Jüngern in Lk 12,35-40 durch ein Gleichnis ankündigt, auch in Zukunft in der Rolle des Gastgebers der Menschen aufzutreten, handelt er nun als Auferstandener in Lk 24,30. In Lk 22,14-20 wird noch ein weiterer, entscheidender Aspekt sichtbar: Der irdische Jesus identifiziert sich als Gastgeber mit der Gabe selbst. Dadurch spannt sich wiederum der Bogen zur Emmaus-Erzählung: Was der irdische Jesus in Lk 22,19 zu seinen Jüngern sagt, ereignet sich nun bildhaft in Lk 24,31. Denn die Emmaus-Jünger nehmen die Gegenwart des Auferstandenen erst im Mo‐ ment des Brot-Brechens wahr, genau wie er seinen Jüngern in Lk 22,19 seine Gegenwart im Brot zu seinem Gedächtnis zugesagt hat. Dadurch schafft der Text eine Kontinuität und „Brücke“ in der Darstellung des irdischen und des auferstandenen Jesus. Die Metanoia beim Irdischen In Lk 24,47 ruft der Auferstandene seine Jünger dazu auf, in seinem Namen unter allen Völkern die Metanoia zur Sündenvergebung zu verkündigen. Genau wie die Passion und Auferstehung Jesu ist auch die Umkehr-Predigt fest im Heilsplan verankert (vgl. Lk 24,46 οὕτως γέγραπται). Indem der Auferstandene seinen Jüngern vor seiner Himmelfahrt den Auftrag zur universalen Metanoia-Verkün‐ digung nach seiner Himmelfahrt erteilt, bildet die Umkehr-Predigt gewisser‐ maßen auch eine „Brücke“ zwischen dem Auferstandenen vor und nach der Himmelfahrt. Im Hinblick auf die Bedeutung der Metanoia in Lk 24,47 sind v. a. drei Aspekte wichtig: Erstens soll die Umkehr aktiv von den Jüngern im Namen Jesu ver‐ kündigt werden (κηρύσσω), was bedeutet, dass der Anstoß zur Metanoia von Jesus her kommt. Auffällig ist dabei, dass die Metanoia als einziger Inhalt der Verkündigung genannt wird. Jesus fordert seine Jünger nicht dazu auf, alle Völker zu Jüngern zu machen, sie zu taufen und zu lehren, wie es der Aufer‐ standene im Matthäusevangelium tut. Kern der Verkündigung ist einzig und allein die Metanoia. Die Verkündigung der Umkehr bezieht sich dabei auf einen universalen Geltungsbereich (vgl. Lk 24,47 πάντα τὰ ἔθνη). Zweitens wird deut‐ lich, dass bereits in dem Begriff μετάνοια (Umkehr) ein aktives Verhalten des 4.2 Im Lukasevangelium 241 <?page no="242"?> 240 Vgl. hierzu Taeger, Heil, 130-135. 146-147. „Die Metanoia ist bei Lukas […] nicht bloß ein (erster) Teil des Bekehrungsvorgangs, sondern die Bekehrung selbst erscheint als »Sinneswandel«, »Überzeugungswechsel«. […] Weil die Metanoia den grundsätzlichen Überzeugungswechsel und Erkenntnisfortschritt bezeichnen kann, ist dieser Begriff besonders auch dort am Platz, wo die Darstellung des Lukas ins Grundsätzliche gerät“, Taeger, Heil, 146. 241 Die Metanoia-Predigt Johannes des Täufers in Lk 3,3 wird daher bei den folgenden Untersuchungen nicht mitberücksichtigt werden. 242 „Der […] sogleich eingeführte Levi […] erscheint […] als Exempel der Nachfolge“, Wiefel, Lukas, 119. So auch Schweizer, der von Levi als „Musterbeispiel für 'Umkehr'“ spricht, vgl. Schweizer, Lukas, 73. 4.2.2.1 Lk 5,27 - 32 Menschen mitinbegriffen ist. Die Umkehr als Sinnes- und Verhaltenswandel 240 ist damit die menschliche Reaktion auf die Metanoia-Verkündigung. Drittens wird durch die Verbindung der Metanoia-Verkündigung mit der Sündenverge‐ bung (μετάνοιαν εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) deutlich, dass die Vergebung der Sünden und damit das Heil eine Folge der Metanoia ist. Andersherum ist die aktive Umkehr des Menschen zugleich die Bedingung für die Sündenvergebung. Damit wird an dieser Stelle deutlich, dass die Verkündigung der Metanoia beim aufer‐ standenen Jesus im Grunde ein Appell zu einer aktiven Handlung des Menschen ist, der so mit seiner Umkehr zu seinem Heilsempfang beitragen kann. Im Folgenden soll nun gefragt werden, inwiefern der Aspekt der Umkehr bereits im Reden und Handeln des irdischen Jesus zentral ist und ob die für Lk 24,47 charakteristischen drei Momente der Metanoia (Anstoß durch Jesus, Um‐ kehr als Reaktion des Menschen und Sündenvergebung als Folge) bereits beim Irdischen zu finden sind. Hierfür konzentriere ich mich v. a. auf diejenigen Texte, in denen der Metanoia-Aspekt zentral ist und die sich auf die Jesus-Figur be‐ ziehen. 241 In Lk 5,32 äußert sich Jesus zum ersten Mal zur Metanoia, indem er deutlich macht, dass er gekommen ist, um die Sünder zur Umkehr zu rufen und nicht die Gerechten (οὐκ ἐλήλυθα καλέσαι δικαίους ἀλλ΄ ἁμαρτωλοὺς εἰς μετάνοιαν). Diese Äußerung des irdischen Jesus bildet den Abschluss der Erzählung von der Berufung des Zöllners Levi in Lk 5,27-31 und steht in einem engen Bezug zu ihr. Denn in Lk 5,27-29 ereignet sich das, was Jesus in Lk 5,32 mit eigenen Worten zusammenfasst. 242 Jesus sieht den Zöllner Levi am Zoll sitzen und fordert ihn auf, ihm nachzufolgen (Lk 5,27). Daraufhin verlässt Levi alles, steht auf und folgt ihm nach (Lk 5,28). Der Zöllner Levi bereitet nun für Jesus in seinem Haus ein großes Mahl zu und Jesus liegt zusammen mit ihm, vielen Zöllnern und anderen zu Tisch (Lk 5,29). Auf die Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 242 <?page no="243"?> 243 Die dabei verwendete Imperfekt-Form ἠκολούθει drückt aus, dass es sich nicht um ein einmaliges Geschehen handelt, sondern um eine grundlegende Einstellung, vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 227. 244 Eine kleine narrative Ungereimtheit ergibt sich jedoch an dieser Stelle für den inten‐ dierten Rezipienten. Der Text berichtet, dass Levi alles verlässt (vgl. Lk 5,28 καὶ καταλιπὼν πάντα). Jedoch wird im weiteren Verlauf der Erzählung erwähnt, dass er dennoch ein Haus besitzt, in dem er ein großes Mahl veranstalten kann (vgl. Lk 5,29). Bovon löst diesen narrativen Widerspruch, indem er annimmt, dass es bei der Berufung nicht darum geht, sich von allem zu trennen, sondern vielmehr alles zur Verfügung zu stellen, vgl. Bovon, Lukas I, 258. So auch Sand, Lukas, 197: „Der Ausdruck »er verließ alles« darf nicht auf die vorgegebene Situation an der Zollstätte begrenzt werden, son‐ dern will vielmehr eine grundsätzliche Wandlung des Lebens im Sinne einer Abkehr vom Alten und der Hinwendung zum Neuen verständlich machen.“ Auf den Punkt bringt es m. E. Fitzmyer, mit seiner Aussage: „To ask how Levi could have abandoned everything and then provide a banquet to which Jesus was invited is to miss the whole point of the passage“, Fitzmyer, Luke I, 589. 245 Sand, Lukas, 197. gibt Jesus ihnen nun die Antwort, dass er gekommen sei, die Sünder zur Buße zu rufen (Lk 5,31-32). In dieser Erzählung der Berufung des Zöllners Levi ist daher v. a. die Selbstcharakterisierung der Jesus-Figur durch sein Handeln und Sprechen sowie das Verhältnis Jesu zu Levi und der Figurengruppe der Zöllner sowie zur Figurengruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten von Bedeutung. Die Erzählung beginnt in Lk 5,27 mit zwei Handlungen der Jesus-Figur. Zu‐ nächst sieht Jesus Levi am Zoll sitzen, dann spricht er ihn gezielt an. Dabei verschwendet Jesus nicht viele Worte. Weder begrüßt er ihn, noch verkündigt er ihm das Reich Gottes, wie er es oftmals tut (u. a. in Lk 9,11 vor der Volks‐ menge). Er spricht zu ihm lediglich die beiden Worte ἀκολούθει μοι (Lk 5,27). Die nun geschilderte Reaktion des Zöllners Levi ist für den intendierten Rezip‐ ienten beeindruckend. Denn allein aufgrund der Aufforderung Jesu, ihm nach‐ zufolgen, verlässt Levi alles, steht auf und folgt Jesus nach. 243 Zwei Schritte er‐ eignen sich somit vor der eigentlichen Nachfolge Levis. Zuerst verlässt er alles, was er hat 244 , wodurch die Radikalität der Nachfolge Jesu unterstreichen wird. Die Nachfolge ist damit ein radikaler Lebenswandel, der vom Menschen fordert, das alte Leben hinter sich zu lassen und sich ganz auf Jesus einzulassen. „Jesus verhandelt nicht, er gestattet keine Rückfrage, er fordert vielmehr den Menschen ganz“ 245 . Zweitens spielt dabei auch der Aspekt der Bewegung eine Rolle. Das Aufstehen - im Gegensatz zum Sitzen in Lk 5,27 - verdeutlicht bildhaft die Tren‐ nung vom alten Leben und zeigt einen Bruch an. Das Nachfolgen bedeutet, in eine bestimmte Richtung zu gehen und sich ganz auf Jesus einzulassen. In diesem Sinne dient die Reaktion Levis als vorweggenommenes Beispiel für die von Jesus 4.2 Im Lukasevangelium 243 <?page no="244"?> 246 So auch Schmithals, der die beiden Begriffe Nachfolge und Umkehr in Lk 5,27-32 zu‐ einander in Beziehung setzt, vgl. Schmithals, Lukas, 72. 247 Vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevangelium, 229: „Die Pharisäer werfen den Jüngern also vor, dass sie sich in der Gesellschaft der von Gott Verworfenen aufhalten und sich damit auch selbst nicht an Gottes Urteil orientieren.“ in Lk 5,32 erwähnte Umkehr von Sündern. Von Lk 5,32 her kann man somit Jesu Ruf in die Nachfolge als Ruf zur Metanoia verstehen. 246 Zur Darstellung der Jesus-Figur in Lk 5,27-32 ist eine genauere Betrachtung der Figuren-Kommunikation in Lk 5,29-31 hilfreich. In Lk 5,29 berichtet der Text, dass Levi für Jesus in seinem Haus ein großes Gastmahl zubereitet, bei dem auch viele Zöllner und andere anwesend sind. Die Jesus-Figur befindet sich damit in Lk 5,29 mit großer Wahrscheinlichkeit im Hause Levis. In V. 30 stehen nun zwei andere Figurengruppen, die sich nicht mit Levi, Jesus und weiteren Zöllnern beim Gastmahl befinden, im Fokus: Die Jünger und die Pharsisäer und Schriftgelehrten. Die Jünger werden von den Pharisäern und Schriftgelehrten gefragt, wieso sie mit Zöllnern und Sündern Mahlgemeinschaft halten. Dabei befinden sie sich wahrscheinlich außerhalb des Hauses, indem Jesus mit Levi am Tisch sitzt. Obwohl sich die Frage der Pharisäer und Schriftgelehrten in Lk 5,30 nicht an Jesus, sondern an seine Jünger richtet, und obwohl Jesus sich an einem anderen Ort befindet und die Frage damit eigentlich nicht gehört haben kann, antwortet plötzlich Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten auf diese Frage. Damit wird er nicht wie eine gewöhnliche Figur gezeichnet, denn er weiß, was gesagt wird, er ist präsent wo auch immer sich der Dialog befindet. Wie eine Art „Über-Figur“ greift er in den Dialog und in die Szenerie ein und betont so das Ziel seines Gekommen-Seins. In Lk 5,32 nennt der Text eine umfassende Selbstcharakterisierung der Figur des irdischen Jesus. Er sagt selbst von sich aus, dass der alleinige Zweck seines Gekommen-Seins in dem Aufruf zur Metanoia von Sündern besteht. Der Fokus des Erzählabschnitts Lk 5,27-32 liegt somit eindeutig auf der Selbstcharakterisierung des irdischen Jesus in Lk 5,32. Seine omnipräsente und übernatürliche Figurenzeichnung an dieser Stelle heben die Bedeutung seiner Selbstaussage dabei stark hervor. Die Frage der Pharisäer und Schriftgelehrten, warum die Jünger mit Zöllnern und Sündern gemeinsam essen und trinken (διὰ τί μετὰ τῶν τελωνῶν καὶ ἁμαρτωλῶν ἐσθίετε καὶ πίνετε; Lk 5,30) zeigt, dass hier die Figurengruppe der Zöllner mit den Sündern gleichgesetzt wird. 247 Die Antwort Jesu auf die gar nicht ihm gestellte Frage besteht in der generellen Feststellung, dass nicht die ge‐ sunden, sondern die kranken Menschen eines Arztes bedürfen (Lk 5,31). Daran schließt er nun die Selbstaussage an, dass er gekommen sei, um die Sünder und 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 244 <?page no="245"?> 248 Anders als in Lk 24,47 (alle Völker) wird hier mit einer Figurengruppe der Gerechten gerechnet, die keiner Umkehr bedürfen. Damit lässt sich an dieser Stelle ein Unterschied zu Lk 24,47 ausmachen. Womöglich werden in Lk 5,32 die Gerechten von der Metanoia ausgeklammert, da sie sich bereits auf dem richtigen Weg befinden und daher keiner Umkehr bedürfen, vgl. auch Nützel, Jesus als Offenbarer Gottes, 44. 249 Marshall, Luke, 220. 250 Jesus stellt der Figurengruppe der Sünder in Lk 5,32 die Figurengruppe der Gerechten gegenüber, zu denen er sich ausdrücklich nicht gesandt sieht. Damit sind allein die Sünder Adressaten der Metanoia. Trotzdem findet hier keine Abwertung der Figuren‐ gruppe der Gerechten statt. „Das Positive, die Annahme der Sünder, ist dominant“, Klein, Lukasevangelium, 226. 251 So u. a. auch Wiefel, Lukas, 120: „Jesu Ruf gibt Gelegenheit zur Umkehr, die, als Gesin‐ nungswandel verstanden, die Vergebung erhält.“ 252 Vgl. Taeger, Heil. 135; so auch Fitzmyer, Luke I, 589. nicht die Gerechten 248 zur Buße zu rufen (Lk 5,32). Das Rufen entspricht dabei dem Verkündigen in Lk 24,47 und beschreibt den Impuls zur Metanoia. Damit schreibt sich die Jesus-Figur selbst die Rolle eines Arztes zu, der sich um die Kranken (die Sünder und somit auch die Zöllner vgl. Lk 5,30) kümmert. Beim Zöllner Levi hat sich die „Heilung“ durch Jesus als „Arzt“ bereits eingestellt (Lk 5,28). „Jesus is not directing attention to himself, but justifying his concern for the sick, and at the same time challenging his listeners to self-examination regarding their own sickness“ 249 . Indem Jesus gerade und ausdrücklich 250 die Sünder zur Metanoia ruft, legt sich für den intendierten Rezipienten an dieser Stelle der Gedanke der Sündenvergebung als Folge der Umkehr eines Sünders nahe. Denn welche Folge sollte die Umkehr eines Sünders mit sich ziehen, wenn nicht die Vergebung seiner Sünden? 251 Man kann daher mit Taeger festhalten, dass die Metanoia hier ausdrücklich auf die Sündenvergebung zielt. 252 Insgesamt dient Lk 5,27-32 dazu, anhand des Zöllners Levi ein konkretes Beispiel für die Metanoia eines Menschen aufzuzeigen. Dabei ist die Metanoia eng mit dem Gedanken der Nachfolge verknüpft und wird hier näher charak‐ terisiert als Orientierung am Weg Jesu. Zudem ist anhand dieser Erzählung ein gewisser Ablauf im Hinblick auf die Metanoia deutlich geworden: Zunächst geht der erste Impuls von Jesus aus, indem er Levi zur Nachfolge auffordert. Levi reagiert auf diese Aufforderung Jesu mit seiner Umkehr, der die beiden Schritte Alles-Verlassen und Aufstehen vorangehen. Die Folge seiner Umkehr konkretisiert sich anschließend in einem großen Gastmahl. Die nicht explizit genannte, aber implizit anklingende Folge seiner Umkehr ist die Sündenvergebung. Im Blick auf Lk 24,47 lassen sich daher grundsätzliche Parallelen ausmachen: In beiden Fällen geht der Metanoia ein Anstoß oder Impuls voran (in Lk 5,27 ruft Jesus Levi zur Nachfolge / in Lk 5,32 ruft er die Sünder zur Metanoia; in Lk 24,47 fordert Jesus die Verkündigung der 4.2 Im Lukasevangelium 245 <?page no="246"?> 253 Wolter, Lukasevangelium, 474. 254 Eckey, Lukasevangelium II, 617. 255 Eckey, Lukasevangelium II, 619. 4.2.2.2 Lk 13,1 - 5 Metanoia in seinem Namen). In beiden Fällen folgt dem Anstoß die aktive Um‐ kehr des Menschen sowie seine Sündenvergebung (in Lk 24,47 ausdrücklich ge‐ nannt; in Lk 5,32 implizit anklingend). Damit weist Lk 5,27-32 genau wie Lk 24,47 drei Momente der Metanoia auf und steht so in einer großen Nähe zu Lk 24,47. Die zentrale Selbstaussage Jesu in Lk 5,32, Ziel seines Kommens sei die Metanoia, bildet so mit der Aufforderung Jesu in Lk 24,47, die Metanoia in seinem Namen weiter zu verkündigen, eine Art Rahmen um das Lukasevange‐ lium. Ein weiterer Textabschnitt, in dem die Metanoia im Fokus steht, ist Lk 13,1-5. Es handelt sich gewissermaßen um eine Negativfolie zu Lk 24,47: Anstelle der positiven Konsequenz der Sündenvergebung wird hier die negative Konsequenz herausgestellt. Eingebettet sind die beiden Aussagen des irdischen Jesus über die Folgen einer nicht vollzogenen Umkehr in Lk 13,3.5 in den Kontext zweier Katastrophen. „In beiden Fällen werden die Begebenheiten […] mit einer An‐ wendung versehen, die mit λέγω ὑμῖν eingeleitet wird und in der es […] um Umkehr […] geht.“ 253 Dabei sind beide Aussagen Jesu in Lk 13,3.5 fast wortwört‐ lich identisch. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf den Aussagen Jesu zur Metanoia und damit auf seiner Selbstcharkterisierung. In Lk 13,1 berichten einige (τινες), die im Text nicht näher genannt werden, über „ein vom römischen Präfekten Pilatus veranlaßtes Gemetzel römischer Soldaten an galiläischen Pilgern auf dem Weg zur Darbringung ihrer Opfertiere oder währned des Opfervorgangs im Tempel“ 254 . Der zweite Vorfall wird in Lk 15,4 vom irdischen Jesus und nicht mehr von der Figurengruppe der τινες er‐ zählt. Hierbei handelt es sich um ein Unglück, bei dem ein Turm am Siloah-Teich einstürzte und unter sich 18 Menschen begrub. Damit werden im Textabschnitt Lk 13,1-5 zwei tragische Ereignisse genannt, bei denen Menschen zu Tode kamen. In beiden Fällen „interessiert nicht die für eine narrative Ausgestaltung geeignete Nachricht, sondern der Gebrauch, den Jesus von ihr macht.“ 255 Jesus fügt an beide Nachrichten über die Unglücke jeweils zunächst einen Verweis auf die Frage nach der Sünde / Schuld der getöteten Personen an, um anschließend in einer direkten Anrede zur Umkehr zu mahnen, um ebenso ein Schicksal zu vermeiden. Der Verweis Jesu auf die Frage nach der Sünde / Schuld der Getöteten ist in beiden Fällen ähnlich aufgebaut. In Lk 13,2 geht es um die (rhetorische) Frage, 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 246 <?page no="247"?> 256 Vgl. auch Bovon, Lukas II, 378: „Der Sinn ist für Lukas derselbe, da die Schuld eine Schuld in Bezug auf Gott ist.“ 257 „Die beiden rhetorischen Fragen beziehen sich auf eine Leidensdeutung, die auf dem weisheitlichen […] Grundsatz des Zusammenhangs von Tun und Ergehen basiert und Leidenserfahrungen als Strafe für Vergehen gegen den Willen Gottes versteht“, Wolter, Lukasevangelium, 476. Vgl. auch Poser, Umkehr, 33: „Auslösend für die Aussagen Jesu ist ein an ihn herangetragener Bericht von einem Massaker des Pilatus am Tempel in Jerusalem und die mit diesem Ereignis implizit präsente Annahme, die Ermordeten hätten sich Schwerwiegendes zu Schulden kommen lassen, weil sie dies getroffen habe“. ob die getöteten Galiläer mehr gesündigt haben als alle anderen Galiläer (ὅτι οἱ Γαλιλαῖοι οὗτοιἁμαρτωλοὶ παρὰ πάντας τοὺς Γαλιλαίους ἐγένοντο). In Lk 13,4 wirft Jesus die Frage auf, ob die 18 vom Turm erschlagenen Menschen schuldiger gewesen sind als alle anderen Menschen, die in Jerusalem wohnen (ὅτι αὐτοὶὀφειλέται ἐγένοντο). Dabei kann man an dieser Stelle von der Bedeutung her Sünde und Schuld gleichsetzen. 256 Beide Fragen zielen auf den in der dama‐ ligen Zeit (auch dem intendierten Rezipienten) bekannten Tun-Ergehen-Zu‐ sammenhang. 257 Mit dem energischen nein (vgl. Lk 13,3.5 οὐχί) als Antwort macht Jesus deutlich, dass die Getöteten keinesfalls sündiger als alle anderen Menschen (in Galiläa und in Jerusalem) gewesen sind, was aber zugleich nicht bedeutet, dass sie nicht sündig gewesen wären. Vielmehr sind sie sündig, aber alle anderen Menschen sind genauso sündig und verdienen im Prinzip dasselbe Schicksal (vgl. Lk 13,3 ὁμοίως ἀπολεῖσθε; Lk 13,5 ὡσαύτως ἀπολεῖσθε). Die be‐ reits Gestorbenen werden somit vom irdischen Jesus als exemplarische Beispiele dargestellt, um die Konsequenzen einer nicht erfolgten Umkehr zu demonst‐ rieren. Damit setzt der irdische Jesus den Tun-Ergehen-Zusammenhang zwi‐ 4.2 Im Lukasevangelium 247 <?page no="248"?> 258 So verstehen es u. a. Eckey, Lukasevangelium II, 619; Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 257; Bovon, Lukas II, 376. Nach Bovon verwirft Jesus den Tun-Ergehen-Zusammen‐ hang, indem er die Getöteten nicht als schuldiger als die anderen Menschen versteht. „Jesus verweigert den Vergleich; er verwirft diese mechanische Folge von Vergehen und Strafe. Gewiß, er leugnet weder die Schuld dieser Galiläer noch die eines jeden Men‐ schen, aber er weist es ab, sie auf Grund ihres tragischen Endes für größer zu erklären“, Bovon, Lukas II, 376. Damit weist Bovon m. E. zu Recht darauf hin, dass alle in Lk 13,1- 5 angesprochenen Menschen gleichermaßen sündig sind. Dass Jesus damit zugleich den Zusammenhang zwischen Vergehen und Strafe leugnet, kann aber m. E. nicht ge‐ schlussfolgert werden. Denn Jesus selbst nimmt in Lk 13,3.5 den Zusammenhang zwi‐ schen Sündig / Schuldig-Sein und Tod eindeutig auf: Die Strafe (Ergehen) für das Sündig-Sein (Tun) ist der Tod. Dass die Getöteten genauso sündig wie alle anderen Menschen gewesen sind, setzt daher den Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht außer Kraft. Vielmehr haben die (bereits) Getöteten in Lk 13,1-2.4 m. E. eine Art Beispiel-Funk‐ tion (vgl. Lk 13,3.5 ὁμοίως / ὡσαύτως), um den Menschen ihr eigenes drohendes Schicksal vor Augen zu halten und sie zur Metanoia zu bewegen. Ähnlich auch Wolter, Lukasevangelium, 476: „Die beiden nahezu gleichlautenden Antworten bestreiten nicht, dass es einen Zusammenhang von Tun und Ergehen, von Sünde und Unheil gibt“. Dass jedoch - wie Klein es annimmt - „in der Grausamkeit des Machthabers Gott selbst sein Gericht durchführ[…]t“ (Klein, Lukasevangelium, 475), nimmt m. E. den im Text selbst genannten Zusammenhang von Sünde und Tod nicht ernst. 259 Poser, Umkehr, 33. 260 Poser, Umkehr, 33. 261 „Ihnen droht vielmehr dasselbe Unheilsgeschick, wenn sie sich Jesu Aufforderung zur Umkehr verweigern“, Wolter, Lukasevangelium, 476. 262 Taeger, Heil, 136. schen Sünder-Sein und Tod nicht außer Kraft 258 , sondern nimmt ihn auf und verwendet ihn als Argument, um die Menschen zur Metanoia zu bewegen (vgl. Lk 13,3.5 ἐὰν μὴ μετανοῆτε πάντες ὁμοίως / ὡσαύτως ἀπολεῖσθε). „Statt eines (selbstgerechten) Blaming the Victim sollen die Anwesenden […] auf ihr eigenes Leben schauen“ 259 . Den übrigen (sündigen) Menschen droht damit ebenfalls der Tod. Ihr Leben wird „bei einem einfachen 'Weiter so' in einer kollektiven Kata‐ strophe enden“ 260 . Allein die (aktive) Umkehr des Menschen kann dieses Schicksal verhindern. 261 Die Menschen haben „die Alternative Verderben oder Metanoia“ 262 . Nach seiner Umkehr ist der Mensch von seinen Sünden befreit und damit aus dem Zusammenhang Sünde-Tod herausgenommen. Beide Beispiele von Unglücken in Lk 13,2 und Lk 13,4 nehmen das Bild des Sündig-Seins bzw. Schuldig-Seins auf. Daraus folgt, dass der intendierte Rezipient in den Anwen‐ dungssätzen Jesu in Lk 13,3 und Lk 13,5 die angesprochenen Menschen, die dort nicht nochmals als sündig charakterisiert werden, dennoch als Sünder identifi‐ ziert, denen ebenfalls der Tod droht. Damit macht der irdische Jesus deutlich, dass letztlich alle Menschen Sünder sind und dass einzig und allein die aktive Handlung der Umkehr den Menschen 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 248 <?page no="249"?> 263 Bovon, Lukas II, 379. 264 Sand, Lukas, 419. 4.2.2.3 Lk 15,1 - 32 von seinen Sünden befreien und ihn somit retten kann. „Wenn der Mensch diesen existentiellen Schritt nicht unternimmt, wird er sich verlieren.“ 263 Damit wird das aktive Mitwirken des Menschen besonders stark hervorgehoben. Kehrt der Mensch um, ist er gerettet, kehrt er nicht um, ist er verloren. Genau wie in Lk 24,47 steht so Metanoia in einem engen Zusammenhang mit der Sündenver‐ gebung. In Lk 13,1-5 ist die Metanoia der einzige Inhalt der Botschaft des irdi‐ schen Jesus, genau wie der auferstandene Jesus in Lk 24,47 allein die Verkündi‐ gung der Metanoia fordert. In beiden Fällen richtet sich der Aufruf zur Metanoia an alle Menschen und klammert nicht, wie etwa in Lk 5,32 und Lk 15,7 die Fi‐ gurengruppe der Gerechten aus. Denn „alle sind schuldig und müssen sich be‐ kehren.“ 264 Insgesamt führt der Textabschnitt Lk 13,1-5 dem intendierten Rezipienten vor Augen, wie lebenswichtig die Metanoia ist und dass sie den einzigen Weg zur Sündenvergebung und zum Heil bildet. Als Negativfolie zu Lk 24,47 zeigt der Abschnitt, was mit dem Menschen, der nicht umkehrt, passieren wird. Der Auferstandene nennt in Lk 24,47 die positive Konsequenz der Metanoia - die Vergebung der Sünden. Der Irdische hebt in Lk 13,1-5 dagegen die negative Konsequenz einer nicht erfolgten Metanoia hervor - den Tod. Daraus wird deutlich, dass der Mensch aktiv durch sein Handeln an seinem Schicksal mit‐ wirken kann. Damit weist auch Lk 13,1-5 - genau wie Lk 24,47 - die drei Mo‐ mente der Metanoia auf: Der Impuls zur Metanoia, dem in Lk 24,47 das Verkünden entspricht, wird hier durch Jesu doppelte Aufforderung zur Umkehr deutlich. Stärker noch als in Lk 24,47 wird hier der aktive Part des Menschen hervorge‐ hoben. Auch die Sündenvergebung als Folge wird in Lk 13,1-5 durch den Zu‐ sammenhang von Sünde und Tod ersichtlich. Denn der Mensch, der umkehrt, ist nicht länger ein Sünder und damit droht ihm nicht dasselbe Schicksal wie den sündigen Menschen aus Galiläa und Jerusalem, die den Tod fanden. Innerhalb des Textabschnitts Lk 15,1-32 befinden sich die drei Gleichnisse vom verlorenen Schaf (Lk 15,3-7), der verlorenen Drachme (Lk 15,8-10) und dem 4.2 Im Lukasevangelium 249 <?page no="250"?> 265 Nach Haacker weisen alle drei Gleichnisse die vierteilige Struktur auf: 1. Etwas geht verloren, 2. etwas wird wiedergefunden, 3. Freude als Reaktion darauf, 4. Aufruf zur Mitfreude, vgl. Haacker, Mitfreude, 114. Jedoch sieht Haacker das Zentrum der drei Gleichnisse nicht in der Umkehr der Sünder, sondern in der „Werbung um die abseits stehenden Frommen“, Haacker, Mitfreude, 116. Dass alle drei Gleichnisse aber ganz eindeutig die Umkehr des Sünders und damit das Finden des Verlorenen fokussieren, wird in der folgenden Untersuchung zu zeigen versucht. 266 „Lukas präsentiert also auch in diesem Teil seiner Jesusdarstellung die Pharisäer ganz gezielt als Gegenbild zu den Jüngern“, Wolter, Lk 15 als Streitgespräch, 31. 267 Müllner, Das Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Schaf, 193. 268 Zum engen Zusammenhang von Lk 15,4-7 und Lk 15,8-10 und zur bewussten Ab‐ grenzung dieser Texteinheit zu Lk 15,11-32 vgl. Wolter, Lk 15 als Streitgespräch, 35- 36. 269 Im Grunde existieren drei Ebenen, zählt man Lk 15,1-2 noch hinzu. Müllner nennt diese Ebenen „narrativ entfaltete Kommunikationssituation (V. 15,1-2), Gleichniserzählung (V. 4-6) und Deutungsangebot (V. 7)“, Müllner, Das Gleichnis vom verlorenen und wie‐ dergefundenen Schaf, 199. 270 Wolter, Lukasevangelium, 526. verlorenen Sohn (Lk 15,11-32). 265 Allen Gleichnissen voran steht die Ausgangs‐ situation in Lk 15,1-2: Die Figurengruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten kritisiert Jesu Umgang und seine Mahlfeiern mit den Sündern (vgl. 15,2 οὗτος ἁμαρτωλοὺς προσδέχεται καὶ συνεσθίει αὐτοῖς). 266 „Das ganze Kapitel 15 ist also in die konfliktive Situation hinein gesprochen, die Jesu Praxis, mit Zöllne‐ rInnen ebenso wie mit anderen SünderInnen Mahlgemeinschaft zu pflegen, zum Thema macht.“ 267 Im Folgenden werden die beiden ersten Gleichnisse zusammen behandelt, da zwischen ihnen erhebliche Parallelen bestehen. Anschließend wird dem Gleichnis vom verlorenen Sohn ein eigener Abschnitt gewidmet. 268 Lk 15,3-10 Im Textabschnitt Lk 15,3-10 lassen sich zwei unterschiedliche Ebenen ausma‐ chen 269 : Zum einen die Ebene des Gleichnisses (Lk 15,3-6 sowie Lk 15,8-9), zum anderen die Ebene der Anwendung, in der sich die Jesus-Figur direkt an die Figurengruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten wendet (vgl. Lk 15,2 sowie Lk 15,10). So werden „die Sinnwelten des Gleichnisses und des Kontextes mit‐ einander verknüpft.“ 270 Im Folgenden wird jeweils zwischen der Gleichnis-- Ebene und der Anwendungs-Ebene unterschieden, da die zwischen beiden Ebenen liegende Diskrepanz nicht vertuscht werden soll und da die Metanoia zudem nur in der Anwendungs-Ebene eine wirkliche Rolle spielt. Für die Frage nach dem Verständnis der Metanoia beim irdischen Jesus ist daher hauptsächlich das Sprechen Jesu und damit seine Selbstcharakterisierung von Bedeutung; aber auch die in Lk 15,2 geschilderte Reaktion und Äußerung der Pharisäer und 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 250 <?page no="251"?> 271 Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 526. Wiefel ist dagegen der Ansicht, dass die Leser sich bei dem Gleichnis vom verlorenen Schaf an das Alte Testament erinnern und „bei dem verlorenen Schaf an die aus dem Gottesvolk herausgefallenen Menschen denken“ müssen, vgl. Wiefel, Lukas, 283. Jedoch lässt sich m. E. in Lk 15,3-7 keine gezielte An‐ spielung des Textes auf das Alte Testament ausmachen, die für das Verständnis des Textes von Bedeutung wäre; vielmehr ist der Text aus sich selbst heraus und im Kontext von Lk 15,1-2 verständlich. Möglicherweise stellt der Rezipient zwar einen Bezug zu Psalm 23 (und zu Gott als dem guten Hirten, der sich um seine Schafe kümmert) her, so Eckey, Lukasevangelium II, 682. Jedoch trägt auch dieser Bezug m. E. letztlich nichts zum Verständnis des Textes bei, was nicht auch aus dem Text selbst ersichtlich wäre. 272 Bovon, Lukas III, 26. 273 Vgl. auch Sand, Lukas, 453: „der Angeredete muß sich selbst mit dem unbekannten Hirten, der völlig im Hintergrund bleibt, identifizieren.“ So auch Müllner, Das Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Schaf, 198: „Die intertextuellen HörerInnen werden damit direkt von Jesus angesprochen und dazu eingeladen, sich mit dem Pro‐ tagonisten der erzählten Geschichte in Beziehung zu setzen.“ 274 Eckey, Lukasevangelium II, 682. 275 Vgl. hierzu Wolter, Lukasevangelium, 525. 276 Wolter, Lukasevangelium, 525. Vgl. auch Bovon, Lukas III, 28: „Ein Verlust - das sehen wir an uns selber - macht das Verlorene wertvoller“. Schriftgelehrten über Jesu Verhalten den Sündern gegenüber - seine Fremdcha‐ rakterisierung - ist für die Untersuchung von Interesse. Im folgenden Abschnitt wird zunächst die Gleichnis-Ebene genauer unter‐ sucht: Jesus stellt im ersten Gleichnis den Pharisäern und Schriftgelehrten die Frage, wer von ihnen, der hundert Schafe hat und eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Einöde zurücklassen würde, um dem einen hinterher zu gehen, solange bis er es gefunden hat (πορεύεται ἐπὶ τὸ ἀπολωλὸς ἕως εὕρῃ αὐτό Lk 15,4). Das verlorene Schaf steht in dieser Erzählung für den Sünder. 271 Es ist nicht mehr bei seinem Hirten und seiner Herde, sondern allein und „sich selbst und dem Tod überlassen.“ 272 Jesus bezieht durch seine Formulierung τίς ἄνθρωπος ἐξ ὑμῶν in Lk 15,4 den im Gleichnis genannten Hirten auf die Pha‐ risäer und Schriftgelehrten, an die er sein Gleichnis richtet. Sie sollen sich so mit dem Hirten identifizieren und versuchen, sein Handeln nachzuvollziehen. 273 Gleichzeitig ist das „Hirtenbild im Gleichnis […] transparent für Jesu eigenes Handeln“ 274 und erklärt und verdeutlicht ihnen so sein in Lk 15,2 von den Pha‐ risäern und Schriftgelehrten kritisiertes Verhalten. Für den intendierten Rezip‐ ienten wird das von Jesus geschilderte Verhalten des Hirten, der seine gesamte Herde in der Einöde (ἐν τῇ ἐρήμῳ Lk 15,4) zurücklässt, um das eine verlorenen Schaf so lange zu suchen, bis er es findet, ungeheuerlich erscheinen. Denn an dieser Stelle prallen zwei Wertesysteme aufeinander: Die größere Zahl wird ge‐ ringer geachtet als die kleinere Zahl. 275 „Es ist das Verlorensein des einen Schafes, das es wertvoller macht als die 99 nicht-verlorenen Schafe.“ 276 4.2 Im Lukasevangelium 251 <?page no="252"?> 277 Dass es sich bei der Frau um eine „relativ arme Hausfrau“ handelt, die das Geld von ihrem Mann bekommen hat, wie Klein es behauptet, geht m. E. jedoch zu weit über den Text selbst hinaus, vgl. Klein, Lukasevangelium, 524. 278 Dillman / Paz, Lukas-Evangelium, 283. 279 In Lk 15,4 wird das Motiv des Suchens dagegen weniger ausführlich beschrieben, dafür jedoch das Motiv des Findens und der Freude. 280 „Das Geld war die Basis zum Überleben. Die Frau sucht nach dem Überlebensmittel“, Jochum-Bortfeld, Gott zur Sprache bringen, 326. 281 „Wer dem Engagement des Hirten zugunsten des Verlorenen auf der Basis 1: 99 zuge‐ stimmt hat […], wird erst recht dem Engagement der Frau auf der Basis 1: 9 zustimmen“, Wolter, Lukas, 526. 282 Bovon, Lukas III, 32. 283 Ein gewisser Unterschied zwischen den beiden Gleichnissen besteht aber darin, dass der Hirte mit seiner Suche im Blick auf die 99 Schafe ein Risiko eingeht, die Frau im Blick auf die Drachmen aber nicht. 284 Dabei ist nach Jülicher das Tragen des Schafes auf den Schultern des Hirten (Lk 15,5) eine „bedeutsame Aeusserung der Finderfreude“, Jülicher, Gleichnisreden Jesu II, 319; dagegen sieht Linnemann darin eine alltägliche Geste, vgl. Linnemann, Gleichnisse Jesu, 73. Parallel dazu ist auch das zweite Gleichnis aufgebaut: Ausgangspunkt des Gleichnisses ist eine Frau, die zehn Drachmen besitzt und eine Drachme davon verliert. Genau wie der Hirte die neunundneunzig Schafe alleine lässt, um das eine zu suchen, sucht die Frau so lange im gesamten Haus, bis sie die verlorene Drachme wiederfindet (Lk 15,8). 277 Anschließend ruft sie - genau wie der Hirte - die Nachbarinnen und Freundinnen zusammen, damit sie sich mit ihr freuen (vgl. συγχάρητέ μοι Lk 15,9). „Auf der Ebene der Gleichnisse entsprechen die Rollen des Hirten und der Frau der Rolle Jesu in der Ausgangsposition; die Rolle des verlorenen Schafes bzw. der verlorenen Drachme der der Zöllner und Sünder und die Rolle der Freundinnen und Nachbarinnen der der Pharisäer und Schrift‐ gelehrten.“ 278 Das Suchen der Frau wird dabei mit drei Unterhandlungen aus‐ führlich beschrieben 279 : Sie zündet ein Licht an, fegt das Haus und sucht sorg‐ fältig (Lk 15,8). Dabei unterstreicht das Adverb ἐπιμελῶς in Lk 15,8 ihr Engagement und das Bemühen ihrer Suche und führt dem intendierten Rezip‐ ienten vor Augen, wie kostbar 280 die verlorene Drachme für sie ist. 281 „Im vo‐ rangehenden Gleichnis findet man kein Gegenstück zu diesem Adverb.“ 282 In beiden Gleichnissen wird somit insgesamt das Motiv des Suchens stark hervor‐ gehoben. 283 Die Folge des Wiederfindens ist in beiden Gleichnissen die Freude. Der Su‐ chende freut sich über das Finden des Verlorenen. Diese Freude wird dabei aus‐ führlich geschildert: Der Hirte trägt das Schaf auf seinen Schultern und freut sich (Lk 15,5). 284 Wenn er mit dem Schaf nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn dazu auf, sich mit ihm zu freuen (συγχάρητέ μοι, ὅτι 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 252 <?page no="253"?> 285 Vgl. auch Schmithals, Lukas, 164, nach dessen Ansicht der Vers Lk 15,6 „das Schwer‐ gewicht des Gleichnisses definitiv vom Suchen auf die Freude über das Wiedergefun‐ dene verlagert.“ 286 Von ihrer Freude ist jedoch nur an einer Stelle in Lk 15,9 die Rede und nicht, wie im vorherigen Gleichnis, an zwei Stellen (in Lk 15,5 und Lk 15,6). Schweizer sieht dagegen beim Gleichnis von der verlorenen Drachme die „Freude noch stärker übersteigert“, da sie - nicht wie in Lk 15,7 - im Futur stehe, sondern im Präsens, Schweizer, Lukas, 162. Jedoch hinkt seine Argumentation m. E., denn im Vers Lk 15,10, der parallel zu Lk 15,7 angelegt ist, begegnet ebenfalls die (himmlische) Freude in einer Futur-Form. Der Vers Lk 15,9 darf deshalb nicht mit Lk 15,10 verglichen werden, sondern vielmehr mit seinem Gegenstück in Lk 15,6. Dort ist ebenfalls die Freude im Präsens und als Aufruf geschil‐ dert (vgl. συγχάρητέ in Lk 15,6 und Lk 15,9). Dafür, dass das Motiv der Freude stärker im ersten Gleichnis hervorgehoben wird, spricht m. E. der Vers Lk 15,5. Denn er hat im zweiten Gleichnis keine Entsprechung und schildert die Freude des Hirten, wenn er sich das wiedergefundene Schaf über seine Schultern legt. 287 Eckey, Lukasevangelium II, 683. 288 Jülicher, Gleichnisreden Jesu II, 323. 289 Bovon, Lukas III, 33; vgl. auch Marshall, Luke, 604: „The thought is of the angels rejo‐ icing along with God“. εὗρον τὸ πρόβατόν Lk 15,6). 285 Die Folge ihrer erfolgreichen Suche ist die Freude der Frau, zu der sie ebenfalls ihre Nachbarinnen und Freundinnen aufruft. 286 „Der intensiven Suche der Frau entspricht ihre große Freude über das Wieder‐ finden der Münze, die nun noch wertvoller erscheint als vor dem Verlust.“ 287 Im Folgenden wird nun die Anwendungs-Ebene näher betrachtet: Die An‐ wendung beider Gleichnisse ist ebenfalls in beiden Fällen fast parallel aufgebaut. In beiden Fällen leitet die Jesus-Figur die Anwendung mit einer direkten Anrede an die Pharisäer und Schriftgelehrten ein (vgl. λέγω ὑμῖν Lk 15,7.10). In beiden Fällen wird die zukünftige göttliche Freude über die Metanoia eines Sünders in einem eschatologischen Kontext genannt. Denn „Gottes Freude über den Ge‐ winn eines Sünders ist grösser als die über den Besitz vieler Gerechter“ 288 . In Lk 15,7 ist es die Freude im Himmel, in Lk 15,10 ist es die Freude vor den Engeln Gottes, die nach Bovon als eine Freude verstanden werden kann, „die den ganzen himmlischen Hof erfaßt“ 289 . Wichtig ist aber, dass Jesus in beiden Gleichnis-An‐ wendungen von einer aktiven Umkehr eines Sünders spricht (vgl. ἐπὶ ἑνὶ ἁμαρτωλῷ μετανοοῦντι Lk 15,7.10). In Lk 15,7 und Lk 15,10 schwingt durch Formulierung ἐπὶ ἑνὶ ἁμαρτωλῷ μετανοοῦντι der Aspekt der Sündenvergebung als Folge der Metanoia mit, auch wenn sie - anders als in Lk 24,47 - nicht extra erwähnt wird. Ein Unterschied zwischen beiden Anwendungen stellt aber die Erwähnung der Figurengruppe der neunundneunzig Gerechten im Kontrast zu dem einen Sünder in Lk 15,7 dar. In Lk 15,10 wird nur der Sünder genannt. „Die 4.2 Im Lukasevangelium 253 <?page no="254"?> 290 Sand, Lukas, 454. 291 Zur Spannung zwischen den beiden Gleichnissen und den jeweiligen Anwendungen vgl. auch Wolter, Lk 15 als Streitgespräch, 36. 292 Sand, Lukas, 453. 293 „Das verlorene Tier hat Angst und ist erschöpft, es tut nichts, um die Aufgabe seines Retters zu erleichtern. Es ist schwerer, als man denkt, und riecht nicht eben gut“, Bovon, Lukas III, 26. Vgl. hierzu auch Eckey, Lukasevangelium II, 683, der in Lk 15,10 von einem unpassenden Vergleich spricht, da eine Münze „nur gefunden, aber nicht zu‐ rückkehren kann“. 294 Klein, Lukasevangelium, 524. Bemerkung über die Gerechten fehlt vollständig, die Aufmerksamkeit des Hö‐ rers wird voll und ganz auf den umkehrwilligen Sünder gerichtet.“ 290 Bei der Anwendung der Gleichnisse in Lk 15,7 und Lk 15,10 fällt jedoch auf, dass die Gleichnis-Ebene und die Anwendungs-Ebene nicht wirklich zusammen passen. So wird in beiden Fällen auf der Gleichnis-Ebene die Passivität des Ver‐ lorenen und das Suchen des Hirten / der Frau betont. Auf der Ebene der Anwen‐ dung steht jedoch die Aktivität des Sünders, der umkehrt, und damit eindeutig eine Eigenaktivität im Vordergrund. 291 Denn die Formulierung ἐπὶ ἑνὶ ἁμαρτωλῶ μετανοοῦντι in Lk 15,7 und Lk 15,10 drückt aus, „daß der Sünder von Gott nicht wider seinen eigenen Willen eingefangen wird, anders als das verlorene Schaf muß er selbst die Initiative ergreifen.“ 292 Beide Gleichnisse schildern einen Vor‐ gang, bei dem das Verlorene passiv bleibt und nicht selbständig umkehrt. Sowohl beim verlorenen Schaf als auch bei der verlorenen Drachme ist natürlich eine aktive Umkehr ausgeschlossen. 293 Das Schaf und die Drachme können nur ge‐ funden werden und nicht selbständig zum Besitzer zurückkehren. Es stellt sich aber für den intendierten Rezipienten die Frage, wieso der Text ausgerechnet diese beiden Beispiele nennt, die doch in Wirklichkeit keine Beispiele für eine Metanoia darstellen. Alles in allem bleibt für den intendierten Rezipienten so eine Unstimmigkeit zurück, denn die „Passivität des Gefunden-Werdens steht mit der Aktivität des Buße-Tuns in Spannung“ 294 . Zwischen der Gleichnis-Ebene und der Anwendungs-Ebene besteht damit eine eindeutige und für den inten‐ dierten Rezipienten nicht zu übersehende Diskrepanz. Das Motiv der Freude verbindet jedoch beide Ebenen miteinander. Auf der Gleichnis-Ebene ist es die Freude über das Finden des Verlorenen, auf der Anwendungs-Ebene ist es die Freude über die Umkehr eines Sünders. Die Fremdcharakterisierung Jesu durch Äußerungen der Pharisäer und Schriftgelehrten in Lk 15,2 steht zu dem Gleichnis vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme in engem Zusammenhang. Denn die Pharisäer und Schriftgelehrten kritisieren Jesu engen Umgang mit den Sündern und seine Mahlfeiern mit ihnen (οὕτος ἁμαρτωλοὺς προσδέχεται καὶ συνεσθίει αὐτοῖς 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 254 <?page no="255"?> 295 Wolter, Lukasevangelium, 526. 296 Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 526. 297 Vgl. auch Sand, Lukas, 454: „Jesus hat sein eigenes Tun unter Hinweis auf die Sünder‐ liebe Gottes gerechtfertigt.“ 298 Vgl. auch Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 283. 299 „Das Suchen des Hirten und der Frau ist ein Bild für Gottes Handeln, das in Jesu Wirken erkennbar ist“, Jochum-Bortfeld, Gott zur Sprache bringen, 324. Lk 15,2). Genau dieser Umgang aber erscheint nun durch das Gleichnis vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme in einem neuen Licht. „Das Kommen der Zöllner und Sünder zu Jesus und seine Tischgemeinschaft mit ihnen wird als ein Umkehrgeschehen dargestellt, das in Gottes himmlischer Welt dieselbe Freude auslöst, wie sie sich beim Wiederfinden von Verlorenem ein‐ stellt.“ 295 Jesus versucht daher in Lk 15,7 und Lk 15,10, den Pharisäern und Schriftgelehrten nahezulegen, die Zöllner und Sünder als Verlorene anzusehen. 296 Damit will Jesus ihnen sein eigenes Verhalten den Sündern gegenüber (vgl. Lk 15,2) erklären und rechtfertigen. 297 Die Rolle des Hirten und der Frau in den Gleichnissen beziehen sich somit auf Jesu Handeln den Sündern / Verlorenen gegenüber. 298 Insgesamt ergibt sich aus der Untersuchung beider Erzählabschnitte, dass in beiden Fällen auf der Gleichnis-Ebene der Aspekt des Suchens stark hervorge‐ hoben wird. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass zwischen der Gleichnis-Ebene und der Anwendungs-Ebene eine gewisse Spannung besteht, denn die in der Anwendung betonte aktive Umkehr findet sich nicht im Gleichnis wieder; in beiden Gleichnissen liegt die Aktivität beim Suchenden und nicht beim Verlorenen. Da der Aspekt des Suchens im Gleichnis so stark betont wird, hat ihn der intendierte Rezipient beim Lesen der Anwendung des Gleichnisses (Lk 15,7.10) noch deutlich vor Augen. In der Anwendung selbst liegt in beiden Fällen der Fokus auf der aktiven Umkehr eines Sünders. Daher kann der intendierte Rezipient in den beiden Textabschnitten Lk 15,1-7 und Lk 15,8-10 insgesamt drei Momente der Metanoia ausmachen: Der Metanoia geht ein Impuls Jesu voraus (im Bild dargestellt durch das Suchen des Hirten / der Frau). 299 Dem ent‐ spricht Jesu Verhalten den Sündern gegenüber (vgl. Lk 15,2). Letztlich bleibt aber die Umkehr (anders als im Bild) eine aktive Handlung des Menschen. Schließlich zieht die Metanoia eines Sünders seine Sündenvergebung nach sich. Damit finden sich die drei Momente der Metanoia, die in Lk 24,47 vom Auferstandenen in einem Satz zusammen genannt werden, in beiden Gleichnissen vom verlo‐ renen Schaf und der verlorenen Drachme wieder. Eine gewisse Akzentverschie‐ bung besteht allerdings darin, dass - anders als in Lk 24,47 - in Lk 15,7 die Metanoia nicht betont auf alle bezogen wird, sondern dass daneben eine Figu‐ 4.2 Im Lukasevangelium 255 <?page no="256"?> 300 Vgl. auch Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 260: „Der Vater dieser Parabel verweist auf Gott. Genauer: die Liebe, die sich in dieser Parabel ereignet, ist die Liebe Gottes.“ 301 Bovon, Lukas III, 46. Vgl. auch Marshall, Luke, 609: „He has sinned by squandering his money and ignoring whatever obligation, legal or moral, that he had to his father.“ 302 Fiedler, Jesus und die Sünder, 157. rengruppe der Gerechten genannt wird, die der Metanoia nicht bedarf und von ihr gleichsam ausgespart wird. Lk 15,11-32 Der Erzählabschnitt Lk 15,11-32 schließt an den vorherigen Erzählabschnitt Lk 15,1-10 an, in dem in zwei Gleichnissen das Suchen und Finden des Verlo‐ renen veranschaulicht worden ist. Lk 15,11-32 stellt ebenfalls ein Gleichnis dar, das zwar bedeutende Unterschiede zu den beiden vorherigen Gleichnissen auf‐ weist, aber inhaltlich in dieselbe Richtung geht. Es lassen sich - genau wie in Lk 15,1-7 und Lk 15,8-10 auch hier zwei Erzählebenen ausmachen. Der irdische Jesus erzählt das Gleichnis der Figurengruppe der Pharisäer und Zöllner (vgl. Lk 15,2; Lk 15,11a). Auf der Gleichnis-Ebene agieren jedoch die Figuren des Va‐ ters und der beiden Söhne. Dabei kann der intendierte Rezipient die Vater-Figur mit Gott identifizieren. 300 Für die Untersuchung ist v. a. das Reden Jesu und damit seine Selbstcharakterisierung wichtig. Auf der Gleichnis-Ebene selbst steht das Verhältnis der jeweiligen Figuren zueinander im Vordergrund. Die Gleichnis-Erzählung setzt ein mit zwei Söhnen, von denen sich der eine Sohn sein Erbe auszahlen lässt, in die Welt hinauszieht und seinen gesamten Besitz verschleudert (vgl. Lk 15,13). Sein Verhalten, das Geld des Vaters zu ver‐ schleudern, wird als verwerflich charakterisiert. „Die Schuld des jüngeren Sohnes besteht weniger in seiner Erbforderung und seinem Weggehen als viel‐ mehr im Verprassen seines Erbes.“ 301 Der eigentliche Impuls zu seiner Umkehr geschieht nun nicht - wie in den beiden vorherigen Gleichnissen - auf passive Art und Weise, indem das Verlo‐ rene gesucht, gefunden und zurückgebracht wird. Der Vater, der seinen Sohn verloren hat, macht sich nicht auf den Weg, um ihn zu suchen. Vielmehr tragen verschiedene andere Aspekte zur Umkehr des verlorenen Sohnes bei: Zunächst und vor allem sind es die äußeren Faktoren, die den Sohn zum Umdenken zwingen. „Das Elend bringt den Sohn zur Räson.“ 302 Von seinem Erbteil ist schnell nichts mehr übrig (vgl. Lk 15,13-14). Zudem kommt eine große Hungersnot 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 256 <?page no="257"?> 303 Dem intendierten Rezipienten ist wahrscheinlich aus seinem religiösen und sozialen Umfeld bekannt, dass Schweine für Juden als unrein angesehen werden (vgl. Lev 11,7; Dtn 14,8), wodurch der Abstieg des Sohnes zusätzlich betont wird. „Für einen frommen Juden ist er verflucht“, Eckey, Lukasevangelium II, 687. 304 Wolter, Lukasevangelium, 533; vgl. auch Jülicher, Gleichnisreden Jesu II, 345: „Tiefer ins Elend kann er nicht sinken“. 305 „Die Verlorenheit im fernen Land wird vom jüngeren Sohn selbst als Mangel emp‐ funden“, Schnider, Verlorenen Söhne, 52. Vgl. auch Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 164: „Der verlorene Sohn ist sich in dieser Etappe der Geschichte seiner Ver‐ lorenheit, seiner Sünde und Entfremdung schon bewußt.“ 306 Klein, Lukasevangelium, 530. 307 Der Text beschreibt einen inneren Monolog des Sohnes, vgl. Lk 15,17 εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθὼν ἔφη˙. Dadurch erfährt der intendierte Rezipient von den Gedanken der Figur. Vgl. auch Bovon, Lukas III, 48: „Dieser literarische Kniff ermöglicht dem Verfasser, die in‐ nere Entwicklung seiner Figuren darzustellen und der Erzählung eine neue Richtung zu geben.“ 308 Ernst, Lukas, 458; so auch Green, Luke, 581, der diesen Moment als „turning point in the younger sons’s story“ bezeichnet. 309 „Der Sohn hat ein wahres Bekenntnis seiner Sünde im Sinn“, Bovon, Lukas III, 48. 310 Bovon, Lukas III, 48. über das Land, wodurch der Sohn sich gezwungen sieht, die Schweine 303 eines Bürgers zu hüten, um überhaupt überleben zu können. Das Gleichnis hebt seinen Hunger - das elementarste Bedürfnis - hervor, der so stark ist, dass er am lieb‐ sten selbst das Futter für die Schweine essen würde (Lk 15,16), wobei selbst das ihm verwehrt bleibt. Damit sinkt er „sozial noch weiter ab […]: Er konkurriert mit den Schweinen ums Essen“ 304 . Er sieht sich selbst bereits im Hunger zu‐ grunde gehen (ἐγὼ δὲ λιμῷ ὧδε ἀπόλλυμαι Lk 15,17). In dieser trostlosen und scheinbar ausweglosen Situation geht der Sohn in sich (vgl. Lk 15,17 εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθὼν). 305 „Völlig am Boden, kommt der junge Mann zu sich selbst.“ 306 Er denkt 307 zurück an seinen Vater und an das im Vergleich zu seiner Situation gute Leben von dessen Tagelöhnern. Dabei ist das In-sich-Gehen des Sohnes „der Anfang der Umkehr.“ 308 Daraufhin beschließt der Sohn, zu seinem Vater zurückzugehen und sich ihm als Sünder vor dem Himmel und vor seinem Vater 309 zu offenbaren und ihn zu bitten, für ihn als Tagelöhner arbeiten zu dürfen. „Ohne genauer festzustellen, worin seine Sünde besteht, wird sich der jüngere Sohn doch bewußt, daß er die von Gott gewollte Ordnung gestört und seinem Vater Unrecht getan hat.“ 310 Damit erkennt er sich selbst als Sünder, der keine Vergebung erwartet, denn er geht nicht davon aus, vom Vater in seine frühere Stellung wieder aufgenommen 4.2 Im Lukasevangelium 257 <?page no="258"?> 311 Nach Mann wird durch das in Lk 15,17-18 geschilderte Verhalten des Sohnes „deutlich, was Umkehr im tiefsten meint und einschließt. Es ist zunächst die Einsicht, daß man sich […] innerlich und äußerlich vom Vater getrennt hat […]. Es ist sodann die Einsicht, daß in dieser Situation nur eines nötig ist, nämlich zum Vater zurückzukehren“, Mann, Ruf zur Umkehr, 69. 312 „Er erklärt, daß er seine Ehre, seine Identität, ja seine Sohnschaft verloren hat“, Bovon, Lukas III, 49. 313 Roose, Umkehr, 4. 314 Bovon, Lukas III, 48. 315 „Dieser sieht ihn bereits von ferne kommen, als hätte er immer auf ihn gewartet“, Klein, Lukasevangelium, 531. 316 Roose, Umkehr, 5. 317 Vgl. Eckey, Lukasevangelium II, 690, der v. a. den Kuss als ein Versöhnungszeichen ver‐ steht. So auch Winger, Lost and Found, 84: „And with a kiss of peace He grants His forgiveness.” 318 „Er selbst wird in seine Sohnschaft restituiert“, Schnider, Die verlorenen Söhne, 51. zu werden. 311 In Lk 15,21 setzt er seine Gedanken aus Lk 15,18-19 in die Tat um, indem er seinem Vater gegenüber sein Sünder-Sein gesteht und sich nicht mehr als wert erachtet, sein Sohn zu sein. 312 Seiner eigentlichen Umkehr und der „ent‐ scheidenden Wende“ 313 in Lk 15,20 gehen damit die vier folgenden Momente voran: Die äußere Situation, das In-sich-Gehen des Sohnes, seine Gedanken an den Vater und die Erkenntnis, ein Sünder zu sein. Erst danach macht er sich auf den Weg (vgl. Lk 15,20 καὶ ἀναστὰς ἦλθεν). Die Formulierung ἀναστὰς„hebt den Beginn der Handlung, den Aufbruch hervor.“ 314 Innerhalb des Gleichnisses wird damit - anders als in Lk 15,1-10 - der aktive Part des Sohnes bei einer Umkehr besonders betont. Er wird nicht gefunden, sondern kehrt von sich aus zum Vater zurück. Ein gewisser Impuls des Vaters lässt sich dennoch im Text ausmachen: Zwar sucht der Vater nicht wie der Hirte oder die Frau nach dem Verlorenen, aber er ist in den Gedanken des Sohnes präsent (vgl. Lk 15,17) und läuft seinem Sohn aus weiter Entfernung entgegen (vgl. Lk 15,20). 315 „Die große Distanz zwi‐ schen Vater und Sohn wird also einerseits durch die Rückkehr des Sohnes, an‐ dererseits durch das Entgegenkommen des Vaters überwunden.“ 316 Die Folge seiner Umkehr ist die überschwängliche Freude des Vaters und die damit eingeschlossene Vergebung seiner Sünden, die in einem großen Fest zum Ausdruck kommt. Noch bevor der Sohn überhaupt irgendetwas von dem her‐ vorbringen kann, was er sich vorgenommen hatte (vgl. Lk 15,18), demonstriert der Vater bereits mit einer Umarmung und einem Kuss seine Versöhnung. 317 Der Vater hebt ihn - wider der Erwartungen des Sohnes - in seine vorherige Funk‐ tion als sein Sohn zurück, kleidet ihn ein (vgl. Lk 15,22) und lässt ein Kalb schlachten (vgl. Lk 15,23). 318 Damit vergibt der Vater seinem Sohn seine Ver‐ gehen, er weist ihn weder zurück, noch lässt er ihn als Tagelöhner bei sich ar‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 258 <?page no="259"?> 319 „Doch der Vater lässt dieses Selbstbild des Sohnes nicht so stehen. Auf das Sündenbe‐ kenntnis antwortet er mit Gesten, die dem Sohn seine Würde zurückgeben. […] Hier wird dem entehrten Sohn wieder ein Platz an der Seite des Vaters gegeben“, Bieler, Predigt über Lukas 15,11-32, 356. 320 „Sein Protest richtet sich also gegen die unerwartete, außergewöhnliche Zuwendung des Vaters, die den rechtlos Heimkehrenden vom Verlorenen zum Sohn macht“, Pöhl‐ mann, Abschichtung des Verlorenen Sohnes, 204. 321 Die Reaktion des älteren Sohnes auf das Verhalten des Vaters dem jüngeren Sohn ge‐ genüber kann auf die erste Erzählebene übertragen werden: Dort sind es die Pharisäer, die Jesu Umgang mit den Sündern kritisieren (vgl. Lk 15,2). Denn sie sehen in den Sün‐ dern und Zöllnern nicht - wie Jesus es tut - die Verlorenen, die gefunden worden sind, vgl. hierzu auch Wolter, Lk 15 als Streitgespräch, 44. 322 Pöhlmann, Der Verlorene Sohn und das Haus, 188. 323 Winger, Lost and Found, 83. 324 Wobei Wolter zu Recht auf die Spannung des Ausdrucks „gefunden“ im Kontext von Lk 15,11-32 hinweist, denn der Sohn wird innerhalb des Gleichnisses nicht gefunden, sondern kehrt selbständig um, vgl. Wolter, Lk 15 als Streitgespräch, 36-37. beiten. 319 Seine Freude über den als verlorenen geglaubten Sohn überwiegt so stark, dass er ihm seine Sünden vergibt und ihn wieder zu sich aufnimmt. Dem intendierten Rezipienten wird an dieser Stelle v. a. durch die zornige Reaktion des älteren Bruders die Trageweite und Bedeutung der Umkehr bewusst. 320 Denn der ältere Sohn wirft dem Vater vor, ungerecht zu handeln, indem er den jün‐ geren Sohn, der sich versündigt hat, wieder bei sich aufnimmt und ihm sogar ein Kalb schlachtet. 321 „Die bedingungslose Wiedereinsetzung des Sohnes in seine verwirkten Rechte […] ist der befremdliche Zug der Erzählung“ 322 . Dabei tauschen die beiden Söhne gewissermaßen am Ende der Erzählung die Rollen: Nicht mehr der jüngere, sondern der ältere Sohn scheint nun der Verlorene zu sein. „And so, even while staying at home he ends up more lost than his prodigal brother - lost in his own self-righteousness and self-made sainthood.” 323 Insgesamt veranschaulicht das Gleichnis vom Verlorenen Sohn m. E. besser und präziser als die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme die aktive Umkehr eines Sünders. Dabei ist das Gleichnis durchzogen von den beiden Gegensatz-Paaren verloren und gefunden 324 , tot und lebendig sein (vgl. Lk 15,32). Dem Sünder-Sein wird das Verloren- und tot- Sein zugeordnet, der Sünder, der umkehrt, wird dagegen als gefunden und lebendig beschrieben. Damit zeigt sich zum einen ein Zusammenhang zu Lk 13,1-5, denn auch dort wird als Konsequenz des Sünder-Seins der Tod genannt, die Folge der Metanoia aber ist das Leben. Zum anderen wird durch die Begriffe verloren sein und ge‐ funden werden eine starke Verbindung zu den beiden vorherigen Gleichnissen in Lk 15,1-10 aufgebaut, in denen ebenfalls das Verloren-Sein mit dem Sündig-Sein und das Gefunden-Werden mit der Umkehr identifiziert werden. 4.2 Im Lukasevangelium 259 <?page no="260"?> 325 Dabei wird jedoch von Lazarus keine Rede, sondern nur sein Handeln berichtet, vgl. auch Block, Parable of the Rich Man and Lazarus, 67: „The poor man says not a single word in the parable though he is the focal figure.“ 326 Innerhalb der Beispielerzählung dient die Figur des reichen Mannes für den intendierten Rezipienten als negative Identifikationsfigur, vgl. hierzu auch Wolter, Lukasevange‐ lium, 557. 327 „Die prunkvollen Kleider des Reichen, sein Purpurmantel und seine Tunika aus Byssus waren somit von erlesenem Geschmack“, Bovon, Lukas III, 117. 4.2.2.4 Lk 16,19 - 31 Genau wie in Lk 24,47 lassen sich zudem auch in Lk 15,11-32 die drei für die Metanoia konstitutiven Momente finden: Der Impuls zur Metanoia ist - anders als in Lk 24,47 - schwächer ausgeprägt, aber dennoch durch den Gedanken an den Vater und dessen Entgegenlaufen vorhanden. Die aktive Umkehr des Sohnes wird in diesem Gleichnis besonders stark hervorgehoben, indem sein In-sich-Gehen und die Erkenntnis seines eigenen Sünder-Seins genannt werden. Auch das in Lk 24,47 ausdrücklich erwähnte Moment der Sündenvergebung als Folge der Metanoia findet sich in diesem Gleichnis in der Reaktion des Vaters wieder, wodurch auch Lk 15,11-32 in einem engen Verhältnis zu Lk 24,47 steht. Der Textabschnitt Lk 16,19-31 dient (ähnlich wie Lk 13,1-5) als Negativfolie zu Lk 24,47, indem er die negativen Konsequenzen aufzeigt, die sich für denjenigen ereignen, der nicht umkehrt. Dabei ist Lk 16,19-31 eine Erzählung der Figur des irdischen Jesus an seine Jünger (vgl. Lk 16,1). Innerhalb der Erzählung agieren hauptsächlich die Figuren des armen Lazarus 325 , des reichen Mannes 326 und Ab‐ rahams. Der irdische Jesus will seinen Jüngern mit dieser Erzählung sein Ver‐ ständnis von Metanoia näherbringen. Dafür wählt er auch hier wieder ein Bei‐ spiel, um seinen Jüngern die existentielle Bedeutung der Metanoia sowie ihre Konsequenzen zu verdeutlichen. Dabei ist auffällig, dass Jesus zur Verdeutli‐ chung der Metanoia ein Bild wählt, das stark alttestamentliche Anklänge besitzt und in dem Mose und den Propheten eine entscheidende Funktion bei der Me‐ tanoia zukommt. Da es sich in Lk 16,19-31 um eine Erzählung des Irdischen an seine Jünger handelt, mit der er ihnen etwas Bestimmtes mitteilen will, ist der Aspekt der Selbstcharakterisierung Jesu an dieser Stelle von Bedeutung. Inner‐ halb der Erzählung spielt v. a. das Verhältnis der Figuren zueinander eine we‐ sentliche Rolle. Als Ausgangssituation schildert Jesus die Lage des reichen Mannes, der sich in Purpur und feinstes Leinen kleidet 327 , und der alle Tage in Freuden lebt (vgl. 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 260 <?page no="261"?> 328 „Woher der Mann seinen Reichtum hat und wie er ihn verwaltet, interessiert den Er‐ zähler nicht. Er wird von der realen Wirklichkeit dieser Welt abgesetzt dargestellt. Er hat den Himmel hier auf Erden“, Klein, Lukasevangelium, 553. 329 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 559. 330 Block, Parable of the Rich Man and Lazarus, 64. 331 Dabei wird Lazarus von den Engeln in Abrahams Schoß getragen (Lk 16,22); der reiche Mann wird begraben (Lk 16,22). „Die warme Konnotation (die Unterstützung der Engel als Seelenträger und die einladende Brust Abrahams) steht im Gegensatz zur kalten Notiz »und er wurde begraben«“, Bovon, Lukas III, 120. 332 Wolter, Lukasevangelium, 559. 333 Roose, Umkehr, 5. 334 Dabei spielt v. a. das Verhalten des reichen Mannes Lazarus gegenüber eine Rolle, aber auch sein Leben in „übermäßigem Luxus“, Bovon, Lukas III, 118. Lk 16,19). 328 Im Kontrast zur Figur des reichen Mannes wird in Lk 16,20 f die Lage des armen Lazarus beschrieben, der voller Hunger und mit Geschwüren am Körper übersät zusammen mit Hunden auf der Straße liegt. Beide Figuren stehen bereits zu Lebzeiten in einer Verbindung zueinander, weil Lazarus vor der Tür des reichen Mannes liegt und begehrt, von dessen Essensresten satt zu werden. Damit trennt die Tür räumlich und symbolisch beide Figuren vonei‐ nander: Lazarus befindet sich draußen im Elend, der reiche Mann dagegen drinnen in Freude (vgl. Lk 16,19 εὐφραινόμενος). Mit Wolter kann man an dieser Stelle von einer narativen Leerstelle sprechen 329 , da die nicht geschilderte Re‐ aktion des reichen Mannes auf das Verlangen des Lazarus, von seinen Essens‐ resten satt zu werden, bereits etwas über den reichen Mann selbst aussagt: Er lebt in Saus und Braus, weigert sich aber, dem direkt vor seiner Tür liegenden armen und kranken Lazarus zu helfen. „He knew the man and his plight, even down to his name, but did nothing.” 330 Ab Lk 16,22 ändert sich jedoch die Lage beider Figuren grundlegend. Es wird zunächst vom kurz nacheinander eintreffenden Tod der beiden erzählt (vgl. 16,22). 331 „Damit kreuzen sich die narrativen Linien, die das Ergehen der beiden erzählen und die nun über den Tod hinaus verlängert werden.“ 332 Wieder wird eine räumliche und symbolische Trennung beider Figuren geschildert: Der reiche Mann befindet sich nun im Η ades, wo er Qualen erleidet (vgl. Lk 16,23 ὑπάρχων ἐν βασάνοις); der arme Lazarus dagegen im Schoße Abrahams (Lk 16,23). „Die Situationen zu Lebzeiten werden dabei 'automatisch' in ihr Gegenteil umgekehrt.“ 333 Beide Bereiche sind stark voneinander abgegrenzt und durch eine große Kluft voneinander getrennt (vgl. Lk 16,26). Das Verhalten des reichen Mannes, der sich des armen Lazarus nicht angenommen hat, wird nun mit der Hölle bestraft. Sein Sünder-Sein wird an dieser Stelle durch sein Verhalten de‐ finiert. 334 Die Konsequenz daraus ist ein qualvolles Dasein in der Totenwelt. Die in Lk 16,26 geschilderte große Kluft (ἐν πᾶσιν τούτοις μεταξὺ ἡμῶν καὶ ὑμῶν 4.2 Im Lukasevangelium 261 <?page no="262"?> 335 Vgl. auch Lehtipuu, Lazarus, 234: „This permanent and insurmountable barrier under‐ lines the finality of the reversal: no one can repent after death“. 336 Klein, Lukasevangelium, 555. 337 „Denn durch den Kontext wird […] sein Tod als Schuld im Mißachten des atl. Sitten‐ gesetzes (V. 29-31) bestimmt. Letzteres hätte ihn auf Lazarus als den leidenden Nächsten und auf Umkehr verwiesen“, Horn Glaube und Handeln, 181. 338 Lehtipuu, Lazarus, 231. 339 Bovon, Lukas III, 124. χάσμα μέγα ἐστήρικται) führt dem intendierten Rezipienten (bildlich) vor Augen, dass es kein Erbarmen mit den Sündern nach dem Tod gibt und dass sie nach dem Tod nicht einfach die Seiten wechseln können. Es gibt also definitiv ein Zu-spät für die Umkehr eines Menschen. 335 „Ein Weg von dem einen Ort zum anderen ist nicht möglich.“ 336 Der reiche Mann wird hier durch sein negatives Verhalten dem armen Mann gegenüber (das wiederum nur als Leerstelle exis‐ tiert) als Sünder qualifiziert, der es im Leben versäumt hat, umzukehren und der daher nun die Zeit nach seinem Tod in der Hölle verbringen muss. 337 „He did not listen to 'Moses and the prophets; ' he did not repent which would have meant sharing his wealth with his poor neighbor.“ 338 Die Metanoia ist hier stark ver‐ haltensbezogen definiert, indem implizit vorausgesetzt wird, dass eine Umkehr auch ein entsprechendes positives Verhalten den Armen und Kranken gegen‐ über umfasst. Eine Ungereimtheit ergibt sich jedoch in Lk 16,19-31 im Hinblick auf die Figur des Lazarus: Nach seinem Tod findet er in Abrahams Schoß Trost und er erfährt „die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die in uns ein Gefühl des Wohlseins und der Genugtuung schafft.“ 339 Jedoch erwähnt der Text nicht, dass er zu Lebzeiten eine Metanoia vollzogen hat und deshalb - als Folge seiner Metanoia - nun im Himmel die Vergebung seiner Sünden erfährt. Das Motiv der Sündenvergebung spielt hier überhaupt keine große Rolle. Die Umkehr bezieht sich v. a. auf die Verhältnisse. „Argumentiert wird hier mit dem Prinzip des ge‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 262 <?page no="263"?> 340 Roose, Umkehr, 8. Jedoch unterschätzt Roose in ihren Überlegungen m. E. die Möglich‐ keit der aktiven Mitwirkung des Menschen an seinem Schicksal. Roose vertritt die An‐ sicht, „dass jeder Mensch den gleichen Anteil an Gutem und Schlechten 'zugeteilt' be‐ kommt. Wer bereits im Diesseits sein Gutes bekommt, dem steht im Jenseits nur noch das Schlechte zu. Wer umgekehrt im Diesseits nur Schlechtes zugeteilt bekommt, darf im Jenseits das Gute genießen.“ Damit ist das Schicksal des Menschen nach seinem Tod bereits vorgezeichnet und alles erfolgt nach einem bestimmten Prinzip. Gegen diese Vorstellung spricht jedoch m. E. ganz vehement Lk 16,30. Denn hier sollen die Brüder des reichen Mannes zur Metanoia aufgefordert werden, damit sie eben nicht dasselbe Schicksal des reichen Mannes erleiden müssen. Das bedeutet, der Mensch - auch wenn er wie der reiche Mann im Überfluß lebt - kann durch seine aktive Metanoia (die auch Konsequenzen für sein Verhalten hat) dem Hades und der Strafe entgehen. Daher kann aus Lk 16,19-31 nicht einfach, wie Roose es macht, gefolgert werden, dass sich nach dem Tod die Verhältnisse umkehren, damit jedem Menschen insgesamt gleich viel Gutes und Schlechtes widerfährt. Auch geht es in Lk 16,19-31 nicht nur um „den inneren Zusammenhang des Reichtums der einen mit der Armut der anderen“ und damit um eine Sozialkritik, so Kessler, »Sie haben Mose und die Propheten«, 48. M. E. steht auch in Lk 16,19-31 vielmehr der Aspekt der Metanoia im Vordergrund. Denn der Mensch kann durch seine aktive Umkehr an seinem Schicksal mitentscheiden und sich dadurch aus dem Zusammenhang des Sündig-Seins und der Strafe befreien. Die aktive Metanoia des Menschen besitzt somit die Macht, den Menschen vor seinem eigenen vorgezeich‐ neten Schicksal zu retten. 341 So auch Jeremias, Gleichnisse Jesu, 185: „Der arme Lazarus ist also nur eine Nebenge‐ stalt, eine Kontrastfigur.“ 342 Damit zeigt sich eine Parallele zu den beiden Gleichnissen in Lk 15,3-10 sowie zu Lk 5,27-32. In allen drei Fällen wird die Metanoia erst ganz am Ende der Erzählung ge‐ nannt. rechten Ausgleichs.“ 340 Demjenigen, dem es auf Erden schlecht geht, wird es im Himmel gut gehen (vgl. Lk 16,25). Lazarus wird daher nicht als ein positives Beispiel für die Metanoia eines Sünders vorgestellt (wie es u. a. beim verlorenen Sohn der Fall war), sondern er dient im Grunde nur als Kontrastfigur zum rei‐ chen Mann. 341 Der reiche Mann aber dient dem intendierten Rezipienten als negatives Beispiel für einen Menschen, der die Metanoia zu Lebzeiten versäumt und ein selbstgefälliges Leben im Luxus führt. Anhand dieses Beispiels will Jesus seinen Jüngern die Notwendigkeit der Metanoia zu Lebzeiten für die Menschen verdeutlichen. Die Frage nach dem Anstoß zur Metanoia wird innerhalb der Beispielerzäh‐ lung in Lk 16,19-31 stark diskutiert. Der reiche Mann bittet Abraham, dass La‐ zarus als Auferstandener zu seinen Brüdern geht und sie zur Umkehr bewegt, damit sie nicht dasselbe Schicksal erleiden müssen wie er. Damit wird die Me‐ tanoia erst ab V. 27 überhaupt thematisiert, vorher spielt sie keine Rolle. 342 Nach der Ansicht der Figur des reichen Mannes kommt der Impuls zur Umkehr von einem von den Toten Auferstandenen. Der Anstoß wäre somit ein „wunder‐ 4.2 Im Lukasevangelium 263 <?page no="264"?> 343 Bovon, Lukas III, 126. 344 Nach Taeger spielt der Text an dieser Stelle bereits auf die Auferstehung Jesu an. Denn „der Weg dazu führt über Mose und die Propheten, ohne die auch die Auferstehung nicht überzeugen wird. […] Durch die rechte Interpretation der Schrift wird die Auf‐ erstehung verständlich“, Taeger, Heil, 137. 345 Klein, Lukasevangelium, 555. 346 Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 562. 347 Dennoch bleibt für den intendierten Rezipienten an dieser Stelle eine Unstimmigkeit. In Lk 5,32 nennt Jesus die Metanoia explizit als Zweck seiner Sendung, in Lk 16,31 ist an eine Metanoia gedacht, zu der allein Mose und die Propheten den Impuls geben. Diese Unstimmigkeit könnte damit zusammenhängen, dass in Lk 16,31 Abraham die sprechende Figur ist und er daher auf Mose und die Propheten hinweist. Zusätzlich ist zu bemerken, dass Jesus in Lk 16,19-31 derjenige ist, der diese Erzählung formuliert und erzählt und dass er damit nicht gänzlich vom Impuls zur Metanoia ausgeklammert ist. hafte[s] Zeichen, das vom Glauben abgekoppelt wäre und das insbesondere den Gehorsam ersparen würde.“ 343 Davon grenzt sich jedoch Abraham mit seiner Position klar ab: Nach Abrahams Ansicht sind es Mose und die Propheten, die gehört werden sollen (vgl. Lk 16,29 ἀκουσάτωσαν αὐτῶν) und die den Men‐ schen zur Umkehr bewegen. Dem widerspricht der reiche Mann jedoch aus‐ drücklich (vgl. Lk 16,30 οὐχί, πάτερ Ἀβραάμ). Nicht Mose und die Propheten, sondern nur ein von den Toten auferstandener Mensch kann seiner Meinung nach bei seinen Brüdern den nötigen Anstoß zur Umkehr geben (vgl. Lk 16,30 ἀλλ΄ ἐάν τις ἀπὸ νεκρῶν πορευθῇ πρὸς αὐτοὺς μετανοήσουσιν.) Abraham be‐ harrt jedoch auf seiner Ansicht: Wenn sie Mose und die Propheten nicht hören, dann wird sie auch kein Auferstandener zur Umkehr bewegen (vgl. Lk 16,31). 344 Für die Bedeutung der Metanoia beim irdischen Jesus ist diese Textstelle inte‐ ressant, da sie ausdrücklich Mose und den Propheten - und nicht wie in allen anderen Textstellen der Jesus-Figur - den Impuls zur Metanoia eines Menschen zuschreibt. Aber eine Konkurrenzsituation besteht hier ganz sicher nicht. Mose und die Propheten sind die „'Schriften' jener Zeit. Diese sind zu hören. Sie ent‐ halten alles.“ 345 Durch sie, aber auch durch Jesus, zeigt sich der Wille Gottes; 346 und wer darauf hört, der erhält einen wichtigen ersten Impuls zu seiner Um‐ kehr. 347 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Beispielerzählung Jesu vom reichen Mann und armen Lazarus den Jüngern (und dem intendierten Re‐ zipienten) die negativen Folgen einer verpassten Metanoia aufzeigen soll, die der Mensch nach seinem Tod erfährt. Lk 16,19-31 dient so - genau wie Lk 13,1- 5 - als Negativfolie zu Lk 24,47. Die Frage, woher der Impuls zur Metanoia kommt, wird in Lk 16,19-31 ausführlich durch die Figuren des reichen Mannes und Abrahams diskutiert. Der Anstoß zur Metanoia kommt dabei letztlich durch 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 264 <?page no="265"?> 348 Zur Ethisierung des Umkehrrufes im Lukasevangelium vgl. auch Horn, Glaube und Handeln, 233-235. 4.2.2.5 Ergebnis das Hören von Mose und den Propheten und den dadurch offenkundigen Got‐ teswillen. Die Metanoia wird in Lk 16,19-31 zudem stark verhaltensorientiert bewertet: kehrt der Mensch um, so zieht seine Umkehr automatisch auch Kon‐ sequenzen für sein Verhalten mit sich. 348 Deutlich wird zudem aus Lk 16,19-31, dass die Umkehr eines Menschen nur zu Lebzeiten möglich ist. Anders als in Lk 24,47 lassen sich in Lk 16,19-31 nur zwei der drei Momente der Metanoia ausmachen: Der Anstoß zur Metanoia wird ausführlich beschrieben; die aktive Umkehr des Menschen wird an sein Verhalten geknüpft. Der Aspekt der Sün‐ denvergebung als positive Folge der Umkehr wird in Lk 16,19-31 dagegen nur vage angedeutet. Denn wäre der reiche Mann noch zu Lebzeiten umgekehrt, dann wäre ihm ein qualvolles Dasein im Hades erspart geblieben, auch wenn er zuvor bereits gesündigt hätte. Damit steht Lk 16,19-31 insgesamt in großer Nähe zu Lk 13,1-5 und dient damit letztlich als Negativfolie zur Aussage des Auferstandenen über die Metanoia in Lk 24,47. Die Untersuchung des Metanoia-Verständnisses in der Darstellung des irdischen Jesus hat ergeben, dass der Metanoia beim Irdischen - genau wie auch beim Auferstandenen - insgesamt ein großes Gewicht und ein hoher Stellenwert zu‐ kommt. Die Umkehr des Menschen wird vom irdischen Jesus als ein lebens‐ wichtiger Schritt dargestellt, der allein den sündigen Menschen vor Tod und Strafe retten kann (vgl. Lk 13,1-5; Lk 16,19-31). Genau wie beim Auferstan‐ denen in Lk 24,47 kommt auch beim Irdischen dem Menschen, der umkehrt, eine aktive Mitwirkung für seine Sündenvergebung und damit für den Empfang des Heils zu. Das Heil ist damit gewissermaßen an die aktive Tat des Menschen gebunden. Genau wie beim Auferstandenen wird auch bereits beim Irdischen als Folge der Metanoia die Vergebung der Sünden genannt, auch wenn es an keiner Stelle so ausdrücklich wie in Lk 24,47 beschrieben wird. Der Anstoß zur Metanoia, dem beim Auferstandenen das Verkünden entspricht, ist auch bereits in der Darstellung des Irdischen vorhanden, auch wenn dieser Aspekt in den verschiedenen Textstellen unterschiedlich präsent ist. Insgesamt lässt sich fest‐ halten, dass die drei für die Metanoia konstitutiven Momente aus Lk 24,47 (An‐ stoß zur Metanoia, aktive Umkehr des Menschen, Sündenvergebung als Folge) auch bereits beim irdischen Jesus zu finden sind. Jedoch wird diesen drei Mo‐ menten in den jeweiligen Textstellen ein unterschiedlich starkes Gewicht zu‐ gemessen. So wird v. a. in der Erzählung vom armen Lazarus (Lk 16,19-31) die 4.2 Im Lukasevangelium 265 <?page no="266"?> 4.2.3 Frage nach dem Anstoß zur Metanoia betont; die aktive Umkehr des Menschen kommt besonders im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) sowie in Lk 13,1-5 zum Ausdruck. Die Sündenvergebung als Folge der Umkehr wird v. a. in Lk 15,1-10 und in Lk 5,32 hervorgehoben. Beim irdischen Jesus wird jedoch zudem der verhaltensorientierte Aspekt der Metanoia betont (vgl. Lk 16,19-31). Genau wie beim Auferstandenen ist damit die Metanoia auch beim Irdischen das zentrale Ziel des Menschen, von dem letztlich alles abhängt. Der Mensch hat die Chance, aktiv zu seinem Heil beizutragen. Nicht umsonst ruft der Auf‐ erstandene einzig und allein zur Metanoia auf und nicht umsonst ist die Meta‐ noia Zentrum zahlreicher Gleichnisse und Erzählungen des Irdischen. Mit der ausdrücklichen Selbstaussage des irdischen Jesus in Lk 5,32, in der er explizit den Zweck seiner Sendung als Ruf an die Sünder zur Metanoia versteht, schließt sich der Kreis zu Lk 24,47. Denn was der Irdische bereits in Lk 5,32 als Kern seiner Sendung genannt hat, das fordert nun der Auferstandene von seinen Jüngern, es in seinem Namen weiterzuführen. Lk 5,32 und Lk 24,47 bilden damit eine Rahmung um das gesamte Evangelium. Die Einordnung in den göttlichen Plan beim Irdischen Auffällig in Bezug auf die Figurendarstellung des auferstandenen Jesus in Lk 24 ist seine Selbsteinordnung in den göttlichen Heilsplan, der bereits in den Schriften des Alten Testaments angelegt ist. Vor allem die folgenden drei As‐ pekte sind hierbei leitend: 1. An zwei Stellen weist der Auferstandene ausdrücklich auf das heilsgeschicht‐ liche Muss des in den Schriften über ihn Geschriebenen hin (vgl. Lk 24,26.44). In beiden Fällen verknüpft der Auferstandene das heilsgeschichtliche Muss an eine ausführliche Erläuterung der Schriften. Den Emmaus-Jüngern legt er in Lk 24,27 - angefangen bei Mose und allen Propheten - die Schriften des Alten Testaments daraufhin aus, was sie über ihn aussagen. Auch den zwölf Jüngern öffnet er in Lk 24,45 das Verständnis für die Schriften. Der Auferstandene knüpft so das δεῖ des Heilsplans jeweils an eine ausführliche Schriften-Auslegung. Damit macht er den anderen Figuren deutlich, was geschehen muss und warum es geschehen muss: Jesus musste sterben und auferstehen, weil es in den Schriften so angelegt ist und zum göttlichen Plan gehört. Im Hintergrund steht 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 266 <?page no="267"?> 349 Schulz, Gottes Vorhersehung bei Lukas, 108. 350 Der Fokus liegt damit - gerade im Hinblick auf Lk 24 - darauf, wie die Jesus-Figur sich selbst in den göttlichen Plan einordnet und nicht darauf, wie der Erzähler die Jesus-Figur mit diesem Plan in Verbindung bringt. 4.2.3.1 Die Bedeutung des δεῖ in den Selbstaussagen Jesu dabei die „Konzeption der Vorsehungsgeschichte als eines geschlossenen, kausal gegliederten Geschehensablaufes.“ 349 2. In Lk 24,46 sowie in Lk 24,26 nennt der Auferstandene seinen Jüngern als (inhaltliche) Elemente des Heilsplans seine Passion und Auferstehung. Beide Elemente haben sich dabei bereits in der Figur des Auferstandenen ereignet. In Lk 24,46 nennt der Auferstandene darüber hinaus als weitere Elemente des Heilsplans die weltweite Verkündigung der Metanoia in seinem Namen sowie in Lk 24,49 die Verheißung des Vaters, den Geist auf die Menschen zu senden. Diese beiden Teile des Heilsplans liegen zum Zeitpunkt der Erzählung in Lk 24 noch in der Zukunft. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat sich bereits ein Teil des Plans durch die Jesus-Figur erfüllt. Aber auch die Zusage der noch aus‐ stehenden Teile des Heilsplans sind an ihn gebunden: Er wird den Geist senden und in seinem Namen soll die Verkündigung der Metanoia weitergeführt werden. 3. Im Hinblick auf die Reaktion der anderen Figuren auf Jesu Selbsteinordnung in den Heilsplan in Lk 24 lies sich folgendes feststellen: Die zwölf Jünger rea‐ gieren auf die Einordnung des Auferstandenen in den Heilsplan und seine Er‐ läuterung der Schriften mit Verständnis (vgl. Lk 24,45). Haben sie vorher noch Zweifel an ihm gehabt (vgl. Lk 24,36-43), so sind diese nach der Erklärung seiner Rolle innerhalb des Heilsplans verschwunden (vgl. Lk 24,52 sie beten ihn an). Auch bei den Emmaus-Jüngern entspricht das Öffnen der Schriften (Lk 24,32) gewissermaßen dem Öffnen der Augen in Lk 24,31. In der folgenden Untersuchung soll nun gefragt werden, ob und inwiefern sich bereits der irdische Jesus in einen göttlichen Plan einordnet und wie die anderen Figuren darauf reagieren. Hierfür liegt der Fokus auf denjenigen Stellen, in denen die Figur des Irdischen die Schriften des Alten Testaments zu sich selbst in eine Beziehung setzt oder das δεῖ auf sich und ihr Handeln bezieht. 350 Der irdische Jesus ordnet sich selbst in einen übergreifenden Plan Gottes ein. Dieser Plan kommt sprachlich besonders in der Formulierung mit δεῖ zum Aus‐ druck. Im Folgenden werden nacheinander alle Stellen, an denen der irdische Jesus auf das göttliche Muss in Bezug auf sich und sein Handeln hinweist, ge‐ 4.2 Im Lukasevangelium 267 <?page no="268"?> 351 So auch Eckey, Lukas-Evangelium I, 175-176; Wiefel, Lukas, 84; Schmithals, Lukas, 47. Ernst ist dagegen der Ansicht, die Formulierung ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου δεῖ εἶναί με bezeichne nicht den Tempel als Ort, sondern das, was im Tempel geschieht, nämlich die Unterweisung des göttlichen Willens, vgl. Ernst, Lukas, 125. Bovon, Klein und Wolter halten dagegen beide Varianten offen und vertreten so die Ansicht, die Formu‐ lierung ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου δεῖ εἶναί με könne sowohl lokal verstandenen werden als Tempel, aber gleichzeitig auch im Sinne von einer Beschäftigung mit den Sachen meines Vaters, vgl. Bovon, Lukas I, 160; Klein, Lukasevangelium, 155-156; Wolter, Lu‐ kasevangelium, 149-150. M. E. zielt jedoch die Formulierung eindeutig auf den Tempel als Ort, da sich die Jesus-Figur bereits in Lk 2,46-48 im Tempel befindet und die Un‐ terhaltung zwischen Jesus und seinen Eltern im Tempel stattfindet (vgl. Lk 2,48-51). Die Eltern finden Jesus nach langer Suche schließlich im Jerusalemer Tempel, wo‐ raufhin er ihnen vorwirft, sie hätten wissen müssen, dass er dort zu finden sei, da er genau dort sein muss (vgl. Lk 2,49 οὐκ ᾔδειτε ὅτι ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου δεῖ εἶναί με). Das δεῖ bezieht sich daher m. E. an dieser Stelle eindeutig auf den Tempel als Ort. 352 Bovon, Lukas I, 160. 353 Schulz, Gottes Vorhersehung bei Lukas, 108. nauer untersucht. Der irdische Jesus zeigt sich somit als jemand, der einer be‐ stimmten Verpflichtung nachkommt. Aus dem jeweiligen Kontext geht dabei hervor, dass Gott das Subjekt des δεῖ ist. In Lk 2,49 weist der zwölfjährige Jesus seine Eltern, die verzweifelt nach ihm suchen und ihn schließlich im Jerusalemer Tempel finden, darauf hin, dass er dort sein muss (vgl. Lk 2,49 οὐκ ᾔδειτε ὅτι ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου δεῖ εἶναί με; ). Die Formulierung ἐν τοῖς τοῦ πατρός μου δεῖ εἶναί με weist dabei auf den Tempel als Ort hin. 351 Die Figur des irdischen Jesus muss sich also im Tempel aufhalten und sich mit „dem, was seinem himmlischen Vater eigen ist“ 352 , beschäftigen. „Unter dem Zwang des Müssens, in dem sich die Vorsehungsführung Gottes bekundet, steht das Leben Jesu überhaupt: Jesus muß im Tempel sein“. 353 Im Vergleich zu Lk 24 erläutert der Irdische an dieser Stelle sein Muss nicht mit der Schrift, wie er es in Lk 24,27 tut, sondern setzt es einfach voraus. In beiden Fällen verwendet Jesus (in Lk 2,49 als Irdischer; in Lk 24,26 als Auferstandener) das δεῖ im Kontext einer rhetorischen Frage, die letztlich darauf abzielt, die Unwissen‐ heit der anderen Figuren (in Lk 2,49 seine Eltern; in Lk 24,26 seine Jünger) zu kritisieren, die das Müssen Jesu nicht verstehen. In Lk 4,43 spricht Jesus davon, dass er auch den anderen Städten das Evangelium vom Reich Gottes verkündigen muss (vgl. Lk 4,43 καὶ ταῖς ἑτέραις πόλεσιν εὐαγγελίσασθαί με δεῖ τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ). Dabei begründet er diese Aus‐ sage damit, dass er dazu (von Gott) gesandt worden ist (ὅτι ἐπὶ τοῦτο ἀπεστάλην, Lk 4,43). Subjekt seines Sendungsauftrags sowie des δεῖ ist damit eindeutig Gott. Jesus befindet sich in Lk 4,43 noch in Kapernaum (vgl. Lk 4,31) 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 268 <?page no="269"?> 354 „Doch auch das dankbare Volk vermag ihn nicht von dem ihm vorgeschriebenen Weg abzubringen. Jesus hat einen göttlichen Plan auszuführen […], er folgt nicht dem Zufall oder der freien Entscheidung, sondern weiß sich zu seinem Werk gesandt“, Ernst, Lukas, 183. Dillmann / Paz verstehen dagegen die Antwort Jesu vielmehr als Wahrung seiner Handlungsfreiheit, vgl. Dillmann / Paz, Lukas-Evangelium, 90: „Mit seiner Antwort (V. 43) wahrt Jesus seine Handlungsfreiheit.“ Jedoch macht die Antwort Jesu durch das δεῖ m. E. gerade deutlich, dass Jesus selbst keine eigentliche Handlungsfreiheit besitzt, son‐ dern einem göttlichen Plan folgen muss. 355 Wolter, Lukasevangelium, 208. 356 „The Lukan Jesus is consciously aware that his destiny is part of the Father’s plan”, Fitzmyer, Luke I, 779. 357 Vgl. Lk 9,18; Lk 17,22. 358 Vgl. hierzu Schneider, Heilsgeschichte, 106-107. 359 „Vor seinem Kommen in einzigartiger Hoheit muß (δεῖ) der Menschensohn sich jedoch in der ihm von Gott auferlegten Passion bewähren“, Eckey, Lukasevangelium II, 747. 360 Bovon, Lukas II, 480. und macht der Menschenmenge nun deutlich, dass er auch zu anderen Städten gehen muss, um seinen Sendungsauftrag auszuführen. 354 In Lk 4,42 zieht er sich zunächst an einen einsamen Ort zurück; das Volk aber sucht und findet ihn und will ihn festhalten, damit er nicht von ihnen fortgeht (vgl. Lk 4,42 καὶ κατεῖχον αὐτὸν τοῦ μὴ πορεύεσθαι ἀπ΄ αὐτῶν). Durch das δεῖ in Lk 4,43 verdeutlicht Jesus dem Volk, dass „die Trennung von Kapharnaum nicht auf seinen freien Ent‐ schluss zurückgeht, sondern unter dem Diktat seines ihm von Gott erteilten Sendungsauftrags steht, dem er sich nicht entziehen kann.“ 355 Auch hier ver‐ meidet der irdische Jesus einen Hinweis auf die Schriften. In Lk 9,22 und in Lk 17,25 weist der irdische Jesus auf das Muss der kommenden Passion hin. 356 In beiden Fällen richtet er sich an seine Jünger 357 und spricht von der Notwendigkeit seines Leidens (vgl. Lk 9,22; Lk 17,25) und - in Lk 9,22 - seiner Auferstehung. Dabei spricht der Irdische von sich selbst als dem υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου (Lk 9,22; Lk 17,24). 358 In Lk 17,25 ist seine Aussage eingebettet in den Kontext des kommenden Reiches Gottes und zeigt dabei an, dass der Menschen‐ sohn vor dem Kommen des Gottesreiches erst leiden und verworfen werden muss (vgl. Lk 17,25 πρῶτον δὲ δεῖ αὐτὸν πολλὰ παθεῖν καὶ ἀποδοκιμασθῆναι ἀπὸ τῆς γενεᾶς ταύτης). 359 Damit nennt der irdische Jesus seinen Jüngern seine kommende Passion sowie seine Auferstehung als wichtige Elemente einer gött‐ lichen Verpflichtung, die zwar beide noch in der Zukunft liegen, aber die not‐ wendigerweise eintreten werden. „Gott hat nämlich einen Plan […], der das Leiden des Menschensohns vorhersieht und integriert.“ 360 An beiden Stellen vermeidet die Jesus-Figur jedoch eine Erklärung durch die Schriften des Alten Testaments, wie er es in Lk 24 als Auferstandener tut. 4.2 Im Lukasevangelium 269 <?page no="270"?> 361 Nach Bovon stehen diese drei Tage für die drei Lebensabschnitte Jesu, wobei das Morgen das Wandern beschreibt und das Übermorgen die „Schlußetappe in Jerusalem“, Bovon, Lukas II, 453. 362 Wolter, Lukasevangelium, 497. 363 Klein, Lukasevangelium, 494. 364 „Die Wanderung folgt dem Plan Gottes, ist ausgerichtet auf sein Ziel“, Bovon, Lukas II, 452. 365 Zum δεῖ in Lk 19,5 vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 612: „Darüber hinaus können die Leser dem δεῖ entnehmen, dass die Einkehr bei Zachäus auf derselben Ebene in der von Gottes Plan bestimmten Jesusgeschichte liegt wie die Verkündigung der Gottes‐ herrschaft (4,43) sowie Leiden und Auferstehung Jesu“. 366 „Als Erzählfigur bietet Zachäus eine Art Quersumme der Gruppen des dritten Evange‐ liums, deren Nähe als ἁμαρτωλοί der lukanische Jesus ständig gegen Widerstände ver‐ teidigen muß“, Von Bendemann, Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ,161. Ein weiteres δεῖ in Bezug auf die Figur des irdischen Jesus findet sich in Lk 13,33. Hier richtet sich Jesus an die Figurengruppe der Pharisäer, die ihm von den Tötungsplänen des Herodes berichten, und erklärt ihnen, dass er heute, morgen und übermorgen 361 noch wandern muss, da seine Passion in Jerusalem statt‐ finden wird (vgl. Lk 13,33 πλὴν δεῖ με σήμερον καὶ αὔριον καὶ τῇ ἐχομένῃ πορεύεσθαι, ὅτι οὐκ ἐνδέχεται προφήτην ἀπολέσθαι ἔξω Ἰερουσαλήμ). „Nicht weil Herodes ihm nachstellt, sondern weil er seinen Auftrag erfüllen muss und weil er nur in Jerusalem - mit V. 32e gesagt - 'vollendet werden' kann, ist Jesus zum weiteren πορεύεσθαι genötigt (δεῖ).“ 362 Der Irdische befindet sich in Lk 13,33 auf dem Weg nach Jerusalem (vgl. Lk 13,22 Καὶ διεπορεύετο κατὰ πόλεις καὶ κώμας διδάσκων καὶ πορείαν ποιούμενος εἰς Ἱεροσόλυμα). Dabei ist Jesu Weg nach Jerusalem „klar vorgezeichnet […] weil er dort sein Ende finden wird.“ 363 Damit beschreibt der irdische Jesus an dieser Stelle seine gegenwärtigen Hand‐ lungen (das Wandern 364 ) und seine zukünftigen Handlungen, bzw. das zukünf‐ tige Geschehen im Blick auf seine Person (seine Passion in Jerusalem), als eine (göttliche) Verpflichtung, der er nachkommen muss. Auch hier fehlt - genau wie in den vorhergehenden Stellen - eine nähere Begründung aus der Schrift. Ein weiteres δεῖ im Hinblick auf den Irdischen findet sich in Lk 19,5 im Zusam‐ menhang der Berufungs-Erzählung des Zöllners Zachäus (vgl. Lk 19,1-10). Hier befielt Jesus Zachäus, der auf einen Baum geklettert ist, um Jesus besser sehen zu können, vom Baum hinabzusteigen, denn er muss heute in seinem Haus ein‐ kehren (vgl. Lk 19,5 σήμερον γὰρ ἐν τῷ οἴκῳ σου δεῖ με μεῖναι). Bezieht man die ausdrückliche Selbstaussage Jesu in Lk 5,32, das Ziel seiner Sendung sei die Umkehr-Predigt an die Sünder, mit ein, dann erklärt sich das δεῖ an dieser Stelle. 365 Jesus muss bei Zachäus - der in dieser Erzählung als Sünder charak‐ terisiert ist, vgl. Lk 19,7 366 - einkehren, denn das Ziel seiner Sendung ist es, 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 270 <?page no="271"?> 367 Vgl. auch Eckey, Lukasevangelium II, 784, „Jesu Einkehr und Aufenthalt im Haus des Zollpächters entspricht Gottes Heilswillen (δεῖ).“ 368 Wolter, Lukasevangelium, 612. 369 Vgl. auch Ernst, Lukas, 603: „Die dunklen Andeutungen scheinen auf die jetzt einset‐ zende Kampfzeit, d. h. auf die Passion, hinzuweisen.“ So auch Eckey, Lukasevange‐ lium II, 901: „Hier wird nur auf die dunkle Seite seines Geschicks angespielt.“ Dafür, dass der Text an dieser Stelle mit dem Jesaja-Zitat auf Jesu Passion anspielt, spricht zudem, dass bereits im darauffolgenden Erzählabschnitt Lk 22,39 die Passionszeit Jesu mit seinem Aufenthalt in Gethsemane beginnt. 370 Klein, Lukasevangelium, 679. 371 Vgl. hierzu auch Ernst, Lukas, 603. 372 Klein, Lukasevangelium, 679. So auch Rese, Alttestamentliche Motive, 157-158: „Jesus erleidet im Kreuzestod das Schicksal eines Übeltäters, obwohl er unschuldig ist. So er‐ füllt sich das durch Jes 53,12 Vorhergesagte.“ Sünder zur Umkehr zu bewegen und das Verlorene zu suchen und zu retten (vgl. Lk 5,32 sowie auch Lk 19,10 ἦλθεν γὰρ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ζητῆσαι καὶ σῶσαι τὸ ἀπολωλός). 367 „Jesus identifiziert seine Selbsteinladung bei Zachäus damit als integralen Bestandteil seines Sendungsauftrags.“ 368 Das Handeln der Jesus-Figur in Bezug auf die Sünder ist damit genauso eine (göttliche) Verpflichtung wie seine Passion und seine Auferstehung. Zudem wird durch Jesu Umgang mit Sündern, der darauf zielt, Sünder zur Umkehr zu bewegen und sie so zu retten, für den intendierten Rezipienten deutlich, dass diese göttliche Verpflichtung auf das Heil der Menschen abzielt. Anders als in allen vorherigen Stellen ist das δεῖ in Bezug auf den Irdischen in Lk 22,37 das einzige Mal an die Schriften gebunden. Jesus spricht in Lk 22,37 zu seinen Jüngern erneut von seiner (nun sehr nahe bevorstehenden) Passion 369 , indem er ihnen erklärt, dass nun das in Jesaja Geschriebene an ihm vollendet werden muss (vgl. Lk 22,37a τοῦτο τὸ γεγραμμένον δεῖ τελεσθῆναι ἐν ἐμοί). „Die Schrift muss erfüllt werden, und zwar an ihm.“ 370 Jesus führt dann das Zitat von Jesaja an (καὶ μετὰ ἀνόμων ἐλογίσθη, Lk 22,37b), das sich in seiner Figur erfüllen wird. Er wird in seiner Passion mit den Gesetzlosen (ἄνομος) auf eine Stufe gestellt werden, indem er von den Menschen wie ein Räuber verschmäht, an‐ geklagt und getötet werden wird (vgl. Lk 22,52 ὡς ἐπὶ λῃστὴν ἐξήλθατε μετὰ μαχαιρῶν καὶ ξύλων). 371 „Jesus wird von Übeltätern zum Übeltäter gemacht. Das ist die Zeit der Ungerechtigkeit und damit die Zeit, in der das, was Jesus betrifft, zum Ziel kommt“ 372 . Das Jesaja-Zitat findet somit durch die gesamte Passion der Jesus-Figur, angefangen von seiner Gefangennahme bis hin zu seiner Kreuzi‐ 4.2 Im Lukasevangelium 271 <?page no="272"?> 373 Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 719: „Das Wort erfüllt sich nicht erst durch Jesu Kreuzigung […], sondern schon durch die Art und Weise seiner Gefangennahme“. Dabei macht Rese zu Recht darauf aufmerksam, dass das Zitat auf einen Vorgang in der (nahen) Zukunft anspielt und deshalb an dieser Stelle den Charakter einer Weissagung besitzt, vgl. Rese, Alttestamentliche Motive, 155. 374 Ähnlich auch Klein, Lukasevangelium, 676 („denn auch das, was mich angeht, kommt zum Ziel“); Eckey, Lukasevangelium II, 900 („denn auch das, was sich [in der Schrift] auf mich bezieht, hat seine Erfüllung“) sowie Bovon, Lukas IV, 257 („denn so kommt, was mich betrifft, an das Ziel“). Die Formulierung γὰρ τὸ περὶ ἐμοῦ τέλος ἔχει lässt jedoch noch weitere mögliche Bedeutungen zu. So versteht u. a. Ernst die Formulierung im Sinne von meine Sache hat ein Ende und bezieht sie auf die Passion, vgl. Ernst, Lukas, 603. Durch die enge Verbindung zum vorherstehenden τοῦτο τὸ γεγραμμένον δεῖ τελεσθῆναι ist aber m. E. das τὸ περὶ ἐμοῦ - wie Eckey es vorschlägt - im Sinne von „dem, was in der Schrift über mich steht“, zu verstehen. Das τέλος ἔχει bezieht sich dann auf das vorhergehende δεῖ τελεσθῆναι und drückt so die Erfüllung und das Ziel dessen, was in der Schrift über die Jesus-Figur steht, aus. 375 „Lukas scheint sich die Kontinuität der Heilsgeschichte als Lauf […] oder als Weg […] vergegenwärtigt zu haben“, Robinson, Weg des Herrn, 39. 376 Schulz, Vorhersehung, 105. 377 Schulz, Vorhersehung, 107. Vgl. auch Conzelmann, Mitte der Zeit, 142-143: „Das her‐ vorragendste Indiz des ganzen Vorstellungskreises ist der Gebrauch des δεῖ. […] Der Gebrauch breitet sich […] auf andere Vorgänge im Laufe der Heilsgeschichte aus. Nicht nur das Sterben, sondern das ganze Wirken Jesu ist ja in der kerygmatischen Aussage impliziert“. gung (Lk 22,47-23,49), seine Erfüllung. 373 Damit kommt das, was über ihn ge‐ schrieben steht, zum Ziel und zur Vollendung (γὰρ τὸ περὶ ἐμοῦ τέλος ἔχει Lk 22,37). 374 An zentralen Stellen seines Lebens weist der irdische Jesus darauf hin, dass er bestimmten Verpflichtungen nachkommen muss. So muss er im Tempel sein, das Evangelium verkünden, nach Jerusalem wandern, Sünder retten, die Schrift erfüllen, Leiden, Sterben und Auferstehen. All diese einzelnen Verpflichtungen lassen zusammengesehen einen übergeordneten Plan erkennen, der seinen Ur‐ sprung bei Gott hat - denn Gott ist stets das Subjekt des δεῖ - und der sich auch in den Schriften findet (vgl. Lk 22,37). 375 Damit wird für den intendierten Re‐ zipienten deutlich, dass alle Stellen, an denen der Irdische sich und sein Handeln durch das δεῖ als die Erfüllung einer (göttlichen) Verpflichtung beschreibt, im Grunde jeweils verschiedene Elemente dieses Plans darstellen. Dabei zielt dieser Plan Gottes letztlich auf das Heil des Menschen (vgl. Lk 19,5). Man kann daher von einem Heilsplan Gottes sprechen „durch den ein bestimmter kontinuierli‐ cher Geschichtsablauf seine Richtung erhält.“ 376 Nach Schulz kennzeichnet das δεῖ dabei die „Planmäßigkeit vorsehungsgeschichtlicher Ereignisse“ 377 . Dem in‐ tendierten Rezipienten wird dadurch ganz deutlich, dass die „universale Vorse‐ hungsgeschichte […] planmäßig, trotz und durch alle menschlichen Wider‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 272 <?page no="273"?> 378 Schulz, Vorhersehung, 108. 379 Dabei liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Darstellung der Jesus-Figur in Lk 4,16-21. 380 Rese, Alttestamentliche Motive, 143. 381 Bovon, Lukas I, 210. 4.2.3.2 Lk 4,16 - 21 stände“ 378 verläuft. Im Vergleich zur Darstellung des auferstandenen Jesus fällt aber auf, dass Jesus als Irdischer den Menschen zwar vom Muss des Heilsplans erzählt, ihnen dabei aber nicht die ausführlichen Hintergründe aus den Schriften darlegt, wie er es als Auferstandener in Lk 24,27.45 tut. An allen Stellen (außer in Lk 22,37) verwendet der Irdische das δεῖ sogar, ohne überhaupt einen Bezug zu den Schriften des Alten Testaments herzustellen. Damit betont Jesus als Ir‐ discher v. a. das Was des Heilsplans. Als Auferstandener legt er den Fokus dann aber v. a. auf das Warum des Heilsplans, um auf das Verstehen seitens der an‐ deren Figuren abzuzielen. Eine weitere Textstelle, an der sich der irdische Jesus ganz bewusst in den gött‐ lichen Plan einordnet, ist seine „Antrittspredigt“ in Lk 4,16-21. Hier verwendet er zwar nicht das δεῖ, aber er bezieht den Aspekt der Schrifterfüllung auf sich und sein Handeln (Lk 4,21 πληρόω). Genau wie in Lk 22,37 stellt er einen Zu‐ sammenhang her zwischen einem Zitat aus Jesaja und sich selbst. Im Folgenden soll zunächst das Handeln und Sprechen der Jesus-Figur (also seine Selbstcha‐ rakterisierung) genauer untersucht werden. 379 Anschließend wird der Fokus auf das Jesaja-Zitat gelegt und in einem dritten Abschnitt werden kurz die Reakti‐ onen der anderen Figuren auf Jesus (also seine Fremdcharakterisierung) ausge‐ wertet. Im Erzählabschnitt Lk 4,16-21 befindet sich die Jesus-Figur am Sabbat in einer Synagoge in Nazareth (vgl. Lk 4,16). Es handelt sich um das erste öffent‐ liche Auftreten Jesu, wodurch diesem Erzählabschnitt an sich schon eine Art „Schlüsselstellung“ 380 zukommt. Im Folgenden baut der Erzähler ganz bewusst eine Spannung und eine Erwartung für den intendierten Rezipienten auf, um seine volle Aufmerksamkeit auf das Handeln und Sprechen der Jesus-Figur zu lenken. Der Erzähler berichtet in Lk 4,16-17, dass Jesus sich in der Synagoge erhebt, um vorzulesen (ἀνέστη ἀναγνῶναι Lk 4,16). Man überreicht ihm das Buch des Propheten Jesaja, er schlägt es auf und findet eine bestimmte Stelle (Lk 4,17 εὗρεν τὸν τόπον οὗ ἦν γεγραμμένον). Der Erzähler verrät nicht, „ob Jesus im Voraus gebeten worden war, die Lektüre und die Predigt zu über‐ nehmen, wie es an sich üblich war. Er scheint dies anzunehmen, sonst hätte er sicher die ungewöhnliche Initiative Jesu als solche signalisiert.“ 381 Jesus steht 4.2 Im Lukasevangelium 273 <?page no="274"?> 382 Im Text selbst wird jedoch nicht explizit ausgesagt, dass Jesus (laut) vorliest, sondern nur, dass er die folgende Stelle findet (εὗρεν τὸν τόπον οὗ ἦν γεγραμμένον). Aber der intendierte Rezipient „liest den Text, als ob er ihm durch Jesus vorgelesen würde, denn in dem Augenblick, in dem er selbst mit der Lektüre fertig ist, legt auch Jesus die Rolle wieder zusammen (V. 20)“, Wolter, Lukasevangelium, 191. 383 „Geistverleihung und Salbung sind identisch, und Geistbesitz ist die Folge der Geist‐ salbung“, Wolter, Lukasevangelium, 192. 384 Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 86. 385 „Neben den 'Augen' (V 20) werden jetzt die 'Ohren' genannt“, Bovon, Lukas I, 213. 386 Zum semantischen Gehalt des Verbes πληρόω vgl. auch Varenhorst, Gefüllte Verhei‐ ßungen, 90-91. 387 Vgl. auch Green, Luke, 207: „In 4: 18-18 Jesus interprets his baptism as a Spirit anointing for his mission“. 388 Klein, Lukasevangelium, 189. also am Sabbat in einer Synagoge, hält das Jesaja-Buch in seinen Händen und beginnt zu lesen. 382 Die volle Aufmerksamkeit des intendierten Rezipienten liegt so durch die vom Erzähler aufgebaute Spannungskurve auf dem folgenden Je‐ saja-Zitat. Das Zitat, das Jesus nun vorliest, beginnt mit der Hauptaussage πνεῦμα κυρίου ἐπ΄ἐμὲ οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν με (Lk 4,18). 383 Von dieser Aussage hängen alle weiteren fünf Infinitivsätze in Lk 4,18-19 ab. Der vom Erzähler aufgebaute Spannungsbogen ist mit dem Zitat jedoch noch nicht an sein Ende gekommen, vielmehr baut V. 20 eine weitere Spannungskurve auf: Jesus schlägt das Buch zu, reicht es dem Diener und setzt sich wieder. Alle Augen in der Synagoge richten sich nun ganz auf ihn und er hat die volle Aufmerksamkeit der in der Synagoge anwesenden Personen sowie des intendierten Rezipienten (Lk 4,20 καὶ πάντων οἱ ὀφθαλμοὶ ἐν τῇ συναγωγῇ ἦσαν ἀτενίζοντες αὐτῷ). „Die Dramatik deutet an, dass etwas Außergewöhnliches geschehen wird.“ 384 Jesus spricht nun in Lk 4,21 zu ihnen, dass sich heute diese Schrift vor ihren Ohren 385 erfüllt 386 hat (σήμερον πεπλήρωται ἡ γραφὴ αὕτη ἐν τοῖς ὠσὶν ὑμῶν). Innerhalb des Erzählabschnittes Lk 4,16-21 steht damit der Vers Lk 4,21 eindeutig im Mit‐ telpunkt, die im Vorherigen aufgebaute Spannungskurve findet ihren Höhe‐ punkt in diesem Ausspruch Jesu. Dem intendierten Rezipienten stellt sich nun die Frage, was genau sich aus dem Jesaja-Zitat bereits heute erfüllt hat. Aus seinem bisherigen Lesegedächtnis kann der Rezipient die Aussage „der Geist des Herrn ist auf mir“ aus dem Zitat in Lk 4,18 mit der Taufe Jesu in Lk 3,21-22 in Verbindung bringen. 387 Denn dort wird ausdrücklich beschrieben, wie im Mo‐ ment der Taufe der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf Jesus hinunterfährt und Gott aus dem Himmel zu ihm spricht (vgl. Lk 3,22 σὺ εἶ ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός, ἐν σοὶ εὐδόκησα). „Jesus ist der Geistträger seit seiner Taufe.“ 388 Für den intendierten Rezipienten entsteht hier jedoch ein Widerspruch im Hinblick auf das σήμερον in Lk 4,21 und die Taufe Jesu in Lk 3,21-22. Denn wenn bereits 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 274 <?page no="275"?> 389 Bovon, Lukas I, 213. 390 Bovon, Lukas I, 213. 391 Vgl. Bovon, Lukas I, 191; vgl. dazu auch Fitzmyer, Luke I, 529: „In quoting Second Isaiah, Jesus is presented as consciously aware of the influence of the Spirit on him.“ Vgl. auch Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 87, die die Ansicht vertritt, dass „Jesus selbst nun in der Antrittspredigt seine fundamentale Geistträgerschaft verkünden und mitteilen” kann. 392 So auch Wasserberg, Aus Israels Mitte, 156: „Die jesajanische Freudenbotschaft, die Jesus in der Synagoge zu Nazaret mit seinem Kommen für erfüllt erklärt, ist also die öffentliche Inkraftsetzung dessen, was bereits zuvor mit der Geisttaufe geschehen ist.“ 393 Dabei ist anzumerken, dass der Inhalt aus Lk 4,18 - der an dieser Stelle als ein zusam‐ menhängendes Jesaja-Zitat ausgegeben wird - in dieser Form nicht existiert, sondern vielmehr ein Konstrukt des Erzählers ist. Die Aussagen aus Lk 4,18 sind eine Kombi‐ nation von Jes 61,1-2 und 58,6. Vgl. hierzu ausführlich Wolter, Lukasevangelium, 191. 394 Roose, Jenseits der Verlorenen, 242. 395 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 192; so auch Rese, Alttestamentliche Motive, 149: „Man kann in dieser Zeile eine zusammenfassende Überschrift für die folgenden Aussagen sehen“. ab Lk 3,22 der Geist Gottes auf Jesus ruht und damit die Verheißung aus dem Jesaja-Buch seine Erfüllung gefunden hat, wieso spricht Jesus dann in Lk 4,21 davon, dass sich das Jesaja-Zitat „heute“ erfüllt hat? Bovon löst diese scheinbare Ungereimtheit, indem er zwischen dem Akt der Taufe und damit der „sichtbare [n] Erfüllung der Schrift“ 389 und der Deutung durch Jesus bei seiner Antritt‐ spredigt und damit der „hörbare[n] Botschaft von dieser Erfüllung“ 390 unter‐ scheidet. Damit muss zwischen dem Ereignis selbst und seiner Deutung unter‐ schieden werden. 391 Die Verheißung aus Jesaja erfüllt sich so für die in der Synagoge anwesenden Menschen heute, im Augenblick ihres Hörens (vgl. ἐν τοῖς ὠσὶν ὑμῶν Lk 4,21). 392 Das Jesaja-Zitat in Lk 4,18-19 393 gliedert sich in insgesamt fünf Infinitivsätze, von denen der erste Satz von der Hauptaussage πνεῦμα κυρίου ἐπ΄ ἐμὲ οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν με abhängt. Die weiteren vier Infinitivsätze hängen von ἀπέσταλκέν με ab. Der erste Infinitivsatz spricht von der Verkündigung des Evangeliums an die Armen (εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς). Im Verlauf des Evangeliums wird dies ein ganz zentraler Aspekt des Wirkens Jesu sein (vgl. Lk 6,20; 7,22). „Die Hin‐ wendung Jesu zu den Armen und die damit verbundene scharfe Kritik an den Reichen sind bekanntlich ein Charakteristikum des Lukasevangeliums.“ 394 Auf dieser ersten Aussage liegt damit der Fokus; alle weiteren Aussagen können im Grunde als Entfaltung dieser Hauptaussage verstanden werden. 395 Im zweiten Infinitivsatz geht es darum, den Gefangenen zu verkünden, dass sie frei sein 4.2 Im Lukasevangelium 275 <?page no="276"?> 396 Roose sieht an dieser Stelle - genau wie beim vierten Infinitivsatz - ein metaphorisches Verständnis der Aussage gegeben. Es gehe nicht um die physische Befreiung, sondern um die Befreiung von den Sünden. Als Argument hierfür nennt sie das Wort ἄφεσις, das auf die Sündenvergebung hinweise (vgl. Lk 24,47), vgl. Roose, Jenseits der Verlo‐ renen, 242-243. Jedoch ist diese sprachliche Argumentation m. E. ungenügend, um da‐ raus ableiten zu können, hier gehe es um die Befreiung von der Sünde. Zwar wird im Evangelium nicht von der Befreiung eines Gefangenen durch Jesus berichtet, aber der Text lässt es hier m. E. offen. Nach Wolter kommt es gar nicht so sehr darauf an, auf welche Handlungen Jesu das Zitat genau anspielt. Vielmehr gilt es seiner Ansicht nach, das Zitat in seiner Gesamtheit zu verstehen als Zusammenfassung des Sendungsauf‐ trags Jesu, der in der Verkündigung des Reiches Gottes besteht, vgl. Wolter, Lukas‐ evangelium, 192. 397 Klein, Lukasevangelium, 189. 398 Baarlink fasst das Zitat in drei Hauptaussagen zusammen: 1. Die Verkündigung des Evangeliums an die Armen; 2. Hilfe für Gefangene, Unterdrückte und Leidende; 3. Ver‐ kündigung des Gnadenjahrs, vgl. Baarlink, Verkündigtes Heil, 204. 399 Roose, Jenseits der Verlorenen, 242; vgl. auch Haacker, Der Geist und das Reich, 333: „Einzelne Elemente der Jesaja-Prophetie erfüllen sich nach der Darstellung des Evan‐ gelisten in später berichteten Handlungen Jesu“. 400 Dagegen ist u. a. Korn der Ansicht, das „Heute“ in Lk 4,21 beziehe sich auf alle Aussagen des Zitats und lasse sich zeitlich nicht genau festmachen. Er sieht so das gesamte Jesaja- Zitat als bereits erfüllt an, indem er Erfüllung als präsentische und zugleich zukünftige Momente umfassenden Begriff versteht. „Damit ist eigentlich seine Historisierung und Verobjektivierung ausgeschlossen. Die Erfüllung ist an das anredende und treffende Wort gebunden, das durch Jesus ermöglicht wird“, Korn, Die Geschichte Jesu in verän‐ derter Zeit, 79. sollen (κηρύξαι αἰχμαλώτοις ἄφεσιν). 396 Der dritte Infinitivsatz nennt Blinde, die wieder sehen werden (τυφλοῖς ἀνάβλεψιν). Solche Blindenheilungen wird der irdische Jesus in Lk 7,21 und Lk 18,35-43 durchführen. Der vierte Infinitiv‐ satz handelt von Gebrochenen, die in Freiheit entlassen werden (ἀποστεῖλαι τεθραυσμένους ἐν ἀφέσει). Der letzte Infinitivsatz spricht von der Verkündigung des Gnadenjahrs des Herrn (κηρύξαι ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν). „Jesu Wort und Wirken bringen Gottes Gnade nahe.“ 397 Damit nennt das Jesaja-Zitat fünf zu‐ künftige Aspekte des Wirkens Jesu, die sich auf die Figurengruppen der Armen, Gefangenen, Blinden und Gebrochenen beziehen. 398 „So „umreißt der lukanische Jesus programmatisch sein zukünftiges Wirken.“ 399 Der intendierte Rezipient weiß aus seinem Lesegedächtnis, dass die erste Aussage des Zitates bereits durch Jesu Taufe erfüllt ist. Alle anderen Aussagen werden sich - wie es der Rezipient noch erfahren wird - im Laufe des Evange‐ liums nach und nach erfüllen. 400 Damit enthält das an dieser Stelle vom Irdischen vorgelesene Jesaja-Zitat sowohl Elemente, die sich bereits ereignet haben, sowie Elemente, die sich zukünftig noch ereignen werden. 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 276 <?page no="277"?> 401 Die Sendung des Heiligen Geistes wird in Lk 24,49 als eine Verheißung des Vaters be‐ schrieben (vgl. τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πατρός μου) und ist damit ebenfalls Teil des gött‐ lichen Heilsplans. Zur Schrift als Vorankündigung des Jesusgeschehens vgl. auch Rusam, Das Alte Testament bei Lukas, 494-496. 402 Dagegen vertritt Flender die Ansicht, die Erhöhung Jesu bedeute „nicht nur das Ende der alttestamentlichen Heilsgeschichte, sondern sie ist zugleich die überbietende Er‐ füllung der Verheißung des Alten Testaments“, Flender, Heil und Geschichte, 95. Jedoch macht der Auferstandene in Lk 24,46-47 ganz deutlich, dass mit seiner Auferstehung der Heilsplan nicht vollendet ist, sondern dass die weltweite Umkehr-Predigt in seinem Namen ebenfalls fest im Heilsplan der Schriften verankert und damit eine Verheißung des Alten Testaments ist, die über die Erhöhung Jesu in die Zeit der Kirche hinausreicht. Die Erhöhung Jesu ist daher nicht das Ende der Heilsgeschichte, sondern ein ganz zentrales Element. Erst mit der Parusie wird der göttliche Heilsplan an sein Ende kommen, vgl. hierzu auch Conzelmann, Mitte der Zeit, 140: „Der entsprechende Grenz‐ punkt am andern Ende ist die Parusie.“ 403 „Das Heil ist in Christus und mit Christus gekommen, es ist anwesend im Wirken des Geistes und es wird beim Wiederkommen des Christus seine Vollendung finden“, Ernst, Herr der Geschichte, 87. Damit besteht eine Parallele zur Darstellung des Auferstandenen in Lk 24,46- 49. Denn dort nennt Jesus ebenfalls Elemente des (in den Schriften angelegten) Heilsplans, die sich bereits erfüllt haben und Elemente, die sich noch erfüllen werden und damit in Lk 24 noch offen stehen. In seiner Passion und seiner Auf‐ erstehung haben sich die zentralen Momente des Heilsplans bereits ereignet (vgl. Lk 24,26; Lk 24,44-46). In Lk 24,47 und Lk 24,49 nennt der Auferstandene zwei weitere Elemente des Heilsplans, die noch in der Zukunft liegen: Die welt‐ weite Verkündigung der Metanoia im Namen Jesu durch die Jünger sowie die Sendung des Heiligen Geistes. 401 Für den intendierten Rezipienten wird damit klar, dass der göttliche Heilsplan, von dem die Schriften künden, nicht durch Jesu Auferstehung zu seinem Ende gekommen ist. 402 Vielmehr reicht die uni‐ versale Umkehr-Verkündigung in die Zeit des Rezipienten hinein und wird erst durch die Wiederkunft Christi am Ende aller Tage ihr Ende finden. 403 Damit ordnet Jesus sowohl als Irdischer als auch als Auferstandener sich selbst und sein Tun in den Heilsplan ein, wobei er in beiden Fällen auf sich bereits (in ihm) Ereignetes, aber auch auf zukünftig sich noch (durch ihn bzw. in seinem Namen) Ereignendes hinweist. Auffällig ist, dass in Lk 4,18 gerade der Heilige Geist, der seit seiner Taufe auf dem irdischen Jesus ruht, ein Element des Heils‐ plans ist, das sich bereits ereignet hat. Beim Auferstandenen ist es jedoch gerade der Heilige Geist, dessen Sendung auf die Jünger noch in der Zukunft liegt und damit noch offen steht. Die Menge reagiert auf Jesu Worte zunächst mit Verwunderung (vgl. Lk 4,22 ἐθαύμαζον ἐπὶ τοῖς λόγοις τῆς χάριτος τοῖς ἐκπορευομένοις ἐκ τοῦ στόματος αὐτοῦ). Ihre Reaktion schlägt schließlich um in Wut und Zorn Jesus gegenüber 4.2 Im Lukasevangelium 277 <?page no="278"?> 404 Bovon, Lukas I, 215. 405 Vgl. hierzu Flender, Heil und Geschichte, 133: „Aber dieser Prediger ist vor allen anderen dadurch ausgezeichnet, daß er das Heilswort seiner Predigt auf sich selbst bezieht. Er ist der mit dem Geist des Herrn gesalbte Messias, in dem sich die prophetische Verhei‐ ßung erfüllt.“ 406 Wasserberg, Aus Israels Mitte, 157. Ein weiteres Indiz ihres Nicht-Verstehens ist nach Wasserberg die Annahme der Menge, Jesus sei der Sohn Josefs (vgl. Lk 4,22). „Die Va‐ terschaft bestimmt also den Unterschied, ob in Jesus lediglich ein Mensch […] oder zugleich der Sohn Gottes erkannt wird“, Wasserberg, Aus Israels Mitte, 157. 407 Bovon, Lukas I, 216. (Lk 4,28), die Menschen jagen ihn aus der Stadt hinaus und wollen ihn von einem Abhang stürzen (vgl. Lk 4,29). „Jesus kommt in der Kraft des Geistes (V 14), doch alle seine Hörer […] packt die Wut (V 28). Deren Grund erklärt Lukas nicht, nur ihr Entstehen vom Erstaunen (V 22) bis zur Empörung (V 28).“ 404 Jesus teilt der Menge in Lk 4,18-21 mit, wer er ist, indem er das Jesaja-Zitat auf sich selbst bezieht und deutlich macht, dass sich der Ausspruch Jesajas in ihm erfüllt hat bzw. erfüllen wird. In seiner ersten Predigt verkündigt Jesus sich somit selbst. 405 Die Menge erkennt jedoch Jesus nicht als denjenigen, auf dem der Geist Gottes ruht und in dessen Person sich der göttliche Heilsplan erfüllt. „Sie haben Jesu Selbstanspruch offenkundig nicht verstanden.“ 406 Jesus dagegen geht einfach mitten durch die wütende Menschenmenge hin‐ durch (vgl. Lk 4,30 αὐτὸς δὲ διελθὼν διὰ μέσου αὐτῶν ἐπορεύετο). Mit dieser Handlung Jesu wird für den intendierten Rezipienten nochmals Jesu Stellung deutlich: Er ist nicht einfach ein Mensch, der von einem Abhang gestoßen werden kann, sondern wie ein Geist geht er einfach mitten durch die Menge hindurch, „unberührt und meisterhaft“ 407 . Die wütenden Menschen, die ihn töten wollen, können ihm nichts anhaben. Die Darstellung der Jesus-Figur in Lk 4,30, die sich allen Naturgesetzen enthebt, führt daher zusammen mit dem Jesaja-Zitat in Lk 4,18-19 und dem Erfüllungs-Ausspruch Jesu in Lk 4,21 dem intendierten Rezipienten eindrücklich vor Augen, wer Jesus ist. Der intendierte Rezipient erkennt ihn, die Menschenmenge nicht. Insgesamt trägt der Erzählabschnitt dazu bei, dem intendierten Rezipienten aufzuzeigen, dass Jesus als Irdischer sich in seinem ersten öffentlichen Auftritt präsentiert als derjenige, auf dem der Geist Gottes ruht und mit dem sich darum bereits ein Element des göttlichen Heilsplans - von dem Jesaja spricht - erfüllt hat. Zusätzlich wird dem intendierten Rezipienten hier bereits aufgezeigt, welche weiteren Elemente des Heilsplans sich in der Zukunft in der Jesus-Figur erfüllen werden. Damit ordnet sich Jesus sowohl am Anfang als auch am Ende des Evangeliums (als Irdischer und als Auferstandener) in den göttlichen Heils‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 278 <?page no="279"?> 408 „Dort, in Jerusalem, wird sich alles über ihn Geschriebene erfüllen“, Klein, Lukasevan‐ gelium, 594. 409 Zur Bedeutung der Menschensohn- Bezeichnung im LkEv vgl. Schneider, Heilsge‐ schichte, 112-113. 410 Wolter, Lukasevangelium, 603. 411 Vgl. auch Klein, Lukasevangelium, 594: „Das Leiden wird sehr genau beschrieben“. 4.2.3.3 Lk 18,31 - 34 plan ein, weist auf bereits in ihm Erfülltes hin und kündigt sich noch in der Zukunft durch ihn Erfüllendes an. Der kurze Erzählabschnitt Lk 18,31-34 beinhaltet die dritte Leidensankündi‐ gung des irdischen Jesus. Im Vergleich zu den vorherigen Ankündigungen (Lk 9,21-22.43-45) ist diese um einiges ausführlicher und zudem die einzige Lei‐ densankündigung, in der der irdische Jesus seine kommende Passion und Auf‐ erstehung ganz konkret in den von den Propheten beschriebenen Heilsplan stellt. Daher liegt im Folgenden das Augenmerk auf der Selbstcharakterisierung der Jesus-Figur, die über sich und ihr (zukünftiges) Geschick zur Figurengruppe der Jünger spricht, sowie auf den Reaktionen der Jünger und damit Jesu Fremd‐ charakterisierung. Die Jesus-Figur wendet sich an die Figurengruppe der zwölf Jünger und spricht sie direkt an (vgl. Lk 18,31 ἰδοὺ). Er spricht von ihrem gemeinsamen Hinaufgehen nach Jerusalem 408 (vgl. ἀναβαίνομεν εἰς Ἰερουσαλήμ Lk 18,31) und davon, dass alles vollendet werden wird, was von dem Menschensohn 409 durch Propheten geschrieben ist (vgl. καὶ τελεσθήσεται πάντα τὰ γεγραμμένα διὰ τῶν προφητῶν τῷ υἱῷ τοῦ ἀνθρώπου Lk 18,31). Damit begibt sich der Text auf eine „heilsgeschichtliche Deutungsebene […]: dass sich in der Geschichte Jesu die prophetischen Verheißungen erfüllen.“ 410 Der irdische Jesus spricht hier von allen Propheten, anstatt - wie in Lk 4,17-21 oder in Lk 22,37 - nur auf Jesaja zu verweisen. Als Auferstandener beruft sich Jesus dagegen an zwei Stellen auf die Gesamtheit des Alten Testaments (ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς, vgl. Lk 24,27) und nennt Mose und die Propheten (vgl. Lk 24,27) sowie Mose, die Propheten und die Psalmen (vgl. Lk 24,44). Außerdem spricht Jesus als Irdischer in Lk 18,31 von einer Vollendung des Geschriebenen (τελεσθήσεται), als Auferstandener spricht er in Lk 24,44 von der Erfüllung des Geschriebenen (πληρωθῆναι). In Lk 18,32-33 folgt nun die nähere Erläuterung dessen, was nach den An‐ kündigungen der Propheten mit Jesus als dem Menschensohn geschehen muss, damit das Geschriebene seine Vollendung findet. Der Fokus liegt dabei ganz klar auf seiner Passion, die sich in Jerusalem abspielen wird (vgl. Lk 18,31) und die hier mit sechs Handlungen ausführlich 411 geschildert wird: Jesus wird an die 4.2 Im Lukasevangelium 279 <?page no="280"?> 412 Auffällig ist an dieser Stelle, dass der Text den Fokus darauf legt, was die Völker (die Römer) - und nicht die Juden - Jesus antun werden, vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 604. Zugleich wird dem intendierten Rezipienten durch diese Schilderung deutlich, dass die Völker innerhalb der Passion Jesu ebenfalls „nur Akteure sind, die nach einem ihrer freien Entscheidung vorausgehenden Plan handeln mußten. Gott hat es so gewollt, darum geschieht es so“, Ernst, Lukas, 507. 413 Vgl. auch Korn, Geschichte Jesu, 94: „Zugleich mit dem Motiv von der Notwendigkeit des Leidens für Jesus als Messias tritt […] auf seiten der Jünger Unverständnis dafür auf.“ 414 „The language is strong. The disciples were not able to understand any of these things“, Marshall, Luke, 691. 415 „Unverständlich ist den Zwölf Aposteln, wieso sich dem Alten Testament zufolge das angesagte Leidensgeschick an Jesus vollziehen soll“, Schmithals, Lukas, 183. 416 „Diese Schilderung des Unverständnisses wirkt umso stärker, als dieser Leidensankün‐ digung schon zwei an die Jünger vorangegangen sind“, Bindemann, Jünger und Brüder, 80. Zusätzlich weist Bindemann an dieser Stelle auf die Ironie in Verbindung mit Lk 18,35-43 hin. Denn die Blindenheilung ist eng an die Leidensankündigung gerückt und drückt damit implizit aus, dass Blinde von Jesus geheilt werden und ihm nachfolgen, während seine eigenen Jünger blind für seinen Weg sind, vgl. Bindemann, Jünger und Brüder, 80. Die Figurengruppe der Jünger wird hier somit als unverständig und „blind“ charakterisiert. 417 Wiefel, Lukas, 323-324. So auch Von Bendemann, der die Ansicht vertritt, ausgehend vom ῥῆμα in Lk 18,34 - das auf die kommenden Ereignisse zielt - spanne sich ein Bogen, der in die letzte Rede des Auferstandenen in Lk 24,46 münde. „Von Lk 18,31-33 her werden der vorläufige Abschluß und das Ziel des dritten Evangeliums anvisiert“, Von Bendemann, Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, 154-155. Völker ausgeliefert, verspottet, misshandelt, angespuckt, gegeißelt und schließ‐ lich getötet werden. 412 Seine Auferstehung wird dagegen nur kurz erwähnt (vgl. Lk 18,33 καὶ τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ ἀναστήσεται). Damit offenbart der irdische Jesus seinen Jüngern an dieser Stelle ausdrücklich seine kommende Passion und seine Auferstehung als zentrale Elemente des Heilsplans. Die Reaktion der Jünger auf diese Selbstoffenbarung Jesu und die Ankündi‐ gung seiner Passion und Auferstehung als göttliches Muss ist völliges Unver‐ ständnis (vgl. Lk 18,34). 413 Der Text betont dabei ihre Verständnislosigkeit be‐ sonders stark, indem ihre Reaktion dreimal auf unterschiedliche Art geschildert wird 414 : Die Jünger verstehen nichts davon (καὶ αὐτοὶ οὐδὲν τούτων συνῆκαν); diese Sache bleibt vor ihnen verschlossen (καὶ ἦν τὸ ῥῆμα τοῦτο κεκρυμμένον ἀπ΄ αὐτῶν); und sie erkennen das Gesagte nicht (καὶ οὐκ ἐγίνωσκον τὰ λεγόμενα). 415 Trotz der beiden vorausgehenden Leidensankündigungen Jesu in Lk 9,21-22.43-45 verstehen die Jünger immer noch nicht, worauf Jesus hinaus‐ will. 416 „Das Unverständnis der Jünger […] weist indirekt auf die Ostergeschichte voraus.“ 417 Denn im Vergleich zur Darstellung des auferstandenen Jesus in Lk 24 lässt sich eine deutliche Akzentverschiebung hinsichtlich der Reaktionen der 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 280 <?page no="281"?> 418 Dabei verweist der auferstandene Jesus in Lk 24,44 sogar auf Lk 18,31-34, indem er die Jünger an seine Worte als Irdischer erinnert, dass alles erfüllt werden muss, was von ihm in den Schriften geschrieben steht, vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 603. 419 Zusätzlich drückt sich ihr Verständnis auch in ihrer Anbetung Jesu aus, der in den Himmel emporgehoben wird (vgl. Lk 24,52). 420 Wolter, Lukasevangelium, 605. So auch Eckey, Lukasevangelium II, 775: „Der Zustand dieses Unverständnisses sollte bis zum Ostertag dauern. Erst in der Begegnung mit dem Auferstandenen wird ihnen der Sinn seines Leidens und Sterbens offenbar“. 421 Eine Ausnahme bildet dabei zwar der Hinweis auf Jesaja in Lk 22,37, jedoch folgt auch hier keine ausführliche Auslegung der Schrift. 4.2.3.4 Ergebnis Jünger ausmachen. In Lk 18,31-34 sowie in Lk 24,36-53 ist die Rahmen-Situa‐ tion identisch: In beiden Erzählabschnitten richtet sich die Jesus-Figur an die Figurengruppe der Jünger. In beiden Fällen informiert Jesus (in Lk 18 als Irdi‐ scher, in Lk 24 als Auferstandener) die Jünger über das Muss des göttlichen Heilsplans im Hinblick auf sein Geschick; 418 dabei verweist er in beiden Fällen auf die Schrift (vgl. Lk 18,31; Lk 24,44). Die Reaktion der Jünger fällt jedoch völlig unterschiedlich aus: Während sie in Lk 18,34 überhaupt nicht verstehen, was Jesus meint, setzt bei ihnen schließlich in Lk 24,45 das Verstehen ein (τότε διήνοιξεν αὐτῶν τὸν νοῦν τοῦ συνιέναι τὰς γραφάς). 419 „Erst nach der Aufer‐ stehung wird dieses Unverständnis aufgehoben, und zwar nachdem Jesus den Jüngern von der Schrift her erklärt, was es mit seinem Geschick auf sich hat […]. Erst dadurch begreifen sie, was es mit Jesus auf sich hat.“ 420 Insgesamt stehen damit im Erzählabschnitt Lk 18,31-34 folgende drei As‐ pekte im Mittelpunkt: Die Vollendung des Heilsplans durch die Jesus-Figur als dem Menschensohn (Lk 18,31). Die Passion und Auferstehung als zentrale Ele‐ mente dieses Heilsplans (Lk 18,32-33) sowie das völlige Jünger-Unverständnis (Lk 18,34). Gerade letzteres stellt eine große Nähe zu Lk 24 her, indem die Re‐ aktionen auf die Selbstoffenbarung Jesu in beiden Fällen unterschiedlich aus‐ fallen. Hinsichtlich der Frage, inwieweit sich Jesus bereits als Irdischer in den göttli‐ chen Plan einordnet, sind insgesamt drei Aspekte deutlich geworden: 1. An zahlreichen Stellen ordnet sich bereits der irdische Jesus in den Heilsplan ein, indem er durch das δεῖ ausdrückt, dass etwas mit ihm geschehen muss bzw. dass er etwas tun muss. Dabei bilden die unterschiedlichen δεῖ-Stellen zusam‐ mengesehen eine übergreifende Linie seines Wirkens, durch die der Plan Gottes sichtbar wird. Anders als als Auferstandener verknüpft er als Irdischer diese δεῖ-Aussagen jedoch nicht an eine Auslegung der Schriften. 421 4.2 Im Lukasevangelium 281 <?page no="282"?> 422 Flender, Heil und Geschichte, 124. 4.2.4 2. Bei seinem ersten öffentlichen Auftreten bezieht der irdische Jesus ein Je‐ saja-Zitat auf sich und macht deutlich, dass sich das Zitat (im Hinblick auf seinen Geistbesitz) bereits (heute) erfüllt hat. Genau wie als Auferstandener macht er den Menschen somit deutlich, dass sich bereits etwas in seiner Figur ereignet hat und dass sich noch weitere Aspekte durch ihn in der Zukunft ereignen werden. Der Heilsplan kann damit gewissermaßen als eine Art Weg verstandenen werden, den Jesus gehen muss (δεῖ) und auf dem er nach und nach bestimmte (bereits in den Schriften) festgelegte Stationen abschreitet und sie so nach und nach erfüllt. Auf diesem Weg befinden sich u. a. das Sein im Tempel (vgl. Lk 2,49), das Verkünden des Evangeliums (vgl. Lk 4,43; Lk 4,18), sein Geistbesitz (vgl. Lk 4,18.21), sein Wandern nach Jerusalem (vgl. Lk 13,33), seine Krankenheilungen (vgl. Lk 4,18), die Ausübung der Sündenvergebung (vgl. Lk 19,5 sowie evtl. auch Lk 4,18), seine Schrifterfüllung (Lk 22,37), seine Passion (vgl. Lk 9,22; Lk 17,25; Lk 22,37; Lk 18,31-34) und Auferstehung (vgl. Lk 9,22; Lk 18,31-34). Auch mit Jesus als dem Auferstandenen endet dieser Weg des Heils noch nicht. Denn die Sendung des Geistes (vgl. Lk 24,49) wird sich in der Apostelgeschichte erfüllen (vgl. Apg. 2,1-36); die Verkündigung der Metanoia in seinem Namen (vgl. Lk 24,47) reicht sogar bis in die Zeit des intendierten Rezipienten hinein, weit da‐ rüber hinaus und wird erst mit der Parusie ihren Abschluss finden. 3. Die Reaktionen der anderen Figuren auf die Selbsteinordnung des Irdischen in den Heilsplan reichen über Verwunderung (Lk 4,22), Unverständnis (Lk 18,34) bis hin zu Wut (Lk 4,28-29). Vor allem der Hinweis auf die heilsgeschichtliche Notwendigkeit seiner Passion und Auferstehung ruft bei den Jüngern völlige Verständnislosigkeit hervor (vgl. Lk 18,34). Erst als Auferstandener kann Jesus in seiner Rolle als Hermeneut die Jünger zum Verständnis führen (vgl. Lk 24,45.52). Der Heilige Geist beim irdischen Jesus In Lk 24,49 verspricht Jesus als Auferstandener, seinen Jüngern den Geist nach seiner Himmelfahrt zu senden. Bis dahin sollen sie in Jerusalem bleiben (ὑμεῖς δὲ καθίσατε ἐν τῇ πόλει). Durch die Zusage der Sendung des Geistes wird für den intendierten Rezipienten zugleich deutlich, dass der „durch den Geist ge‐ zeugte und mit dem Geist begabte Christus“ 422 über den Geist verfügen kann. Auffällig ist jedoch, dass der Heilige Geist in Lk 24,49 nicht explizit genannt 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 282 <?page no="283"?> 423 In diesem Kapitel wird der Geist, der als „Heiliger Geist“ (Lk 1,15.35.41.67; Lk 2,25; Lk 3,22; 4.1), „Geist“ (Lk 4,1.14), „Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35), oder als „Geist des Herrn“ (Lk 4,18) bezeichnet wird, als eine Figur behandelt, die handelt und zu anderen Figuren in einer Beziehung steht, auch wenn sie selbst nicht spricht und über ihr Aussehen lediglich in Lk 3,22 etwas ausgesagt wird. 424 Vgl. auch Mainville, Biblische Rede vom Geist, 67: „Der Geist ist besonders aktiv in den ersten vier Kapiteln des Lukasevangeliums.“ 425 Vgl. hierzu Böhlemann, Jesus und der Täufer, 71: „Zunächst fällt auf, daß das Motiv der Geisterfülltheit Jesu fast ausschließlich in den ersten vier Kapiteln vorkommt […]. Da dort aber die Geschichte Jesu in Gegenüberstellung zu Johannes dem Täufer erzählt wird und das gleiche Motiv auch bei diesem begegnet (1,15), ist zu folgern, daß Lukas die Geisterfülltheit Jesu gerade im Vergleich mit Johannes betonen will.“ Zur parallelen Darstellung der Figuren Jesus und Johannes in Lk 1,5-80 vgl. auch Müller, Mehr als ein Prophet, 91-151; Green Theology, 51-55. 4.2.4.1 Die Funktionen des Geistes für den irdischen Jesus wird, sondern vom Auferstandenen als „Verheißung des Vaters“ (τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πατρός) sowie als „Kraft aus der Höhe“ (ἐξ ὕψους δύναμιν) bezeichnet wird. Die folgende Untersuchung wird sich - ausgehend von Lk 24,49 - daher auf die zwei Fragen konzentrieren: Welche Rolle spielt der Geist für den irdischen Jesus? Inwieweit lässt sich der Gedanke der Weitergabe des Geistes schon in der Darstellung des irdischen Jesus finden? Im Folgenden werden die ersten vier Kapitel des Lukasevangeliums genauer untersucht im Hinblick auf die Funktionen des Geistes für die Jesus-Figur. Dafür wird zunächst die Beziehung des Geistes zu Jesus und zu Johannes in Lk 1 analysiert. Dabei sind die Aussagen des Engels und somit die Fremdcharakteri‐ sierung der Figuren Jesus und Johannes entscheidend. Anschließend werden die Aussagen der drei Figuren Elisabeth, Zacharias und Simeon über den irdischen Jesus - und damit ebenfalls seine Fremdcharakterisierung - näher betrachtet. Es folgt die Untersuchung der Beziehung Jesu zum Geist im Bericht über seine Taufe. Anschließend wird gefragt, wie sich Jesu Geistträgerschaft äußert. Ge‐ rade bei den letzten beiden Punkten steht v. a. das Verhältnis der Jesus-Figur zur Figur des Geistes 423 im Zentrum. Es fällt auf, dass sich die meisten Textstellen, in denen der Heilige Geist mit dem Irdischen in Verbindung gebracht wird, am Anfang des Evangeliums, in den Kapiteln 1-4 befinden. 424 Hierbei ist zudem eine deutliche Parallele zwi‐ schen der Darstellung der Figur Johannes des Täufers und der Jesus-Figur aus‐ zumachen. 425 Schon im ersten Kapitel des Evangeliums werden beide, Jesus und Johannes, mit dem Geist in Verbindung gebracht. In Lk 1,13 verheißt der Engel des Herrn Zacharias, dass dessen unfruchtbare Frau Elisabeth ihm einen Sohn 4.2 Im Lukasevangelium 283 <?page no="284"?> 426 Müller, Mehr als ein Prophet, 109. 427 „Jesus wird nicht nur, wie Johannes 'geisterfüllt vom Mutterleib an' (V. 15) sein, sondern 'geistgewirkt' (V. 35)“, Müller, Mehr als ein Prophet, 112. 428 Haacker, Der Geist und das Reich, 330. 429 Dagegen vertritt Mainville die Ansicht, an dieser Stelle gehe es nicht um die Zeugung Jesu durch den Geist, sondern um den Schutz der Umgebung, in der das Kind gezeugt wird, vgl. Mainville, Biblische Rede vom Geist, 67. Sie begründet ihre Ansicht mit den beiden Verben ἐπέρχομαι und ἐπισκιάζω, die im MtEv niemals zeugen bedeuten, son‐ dern für die göttliche Protektion des Volkes verwendet werden. M. E. ist für das Ver‐ ständnis von Lk 1,35 jedoch nicht die Bedeutung der hier verwendeten Verben im MtEv ausschlaggebend; vielmehr muss der unmittelbare Kontext von Lk 1,35 beachtet werden. In Lk 1,34 fragt Maria den Engel, der ihr in Lk 1,31 eine Schwangerschaft ver‐ heißt, wie genau dies funktionieren soll, da sie von keinem Mann weiß (πῶς ἔσται τοῦτο, ἐπεὶ ἄνδρα οὐ γινώσκω). Wenn also nun der Engel auf die Frage Marias nach dem Vater des Kindes antwortet, der Heilige Geist werde über sie kommen, dann wird hier m. E. zweifellos auf die Zeugung Jesu durch den Geist hingewiesen und nicht auf den Schutz der Umgebung, in der das Kind aufwächst. Vgl. auch Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 71: „Durch den Heiligen Geist wurde er selbst empfangen (Lk 1,35)“; M. E. bringt Klein die Rolle des Geistes in Lk 1,35 auf den Punkt: „Die Antwort des Gottesboten will das Wie der Entstehung dieses Gottessohnes aufzeigen. […] An die Stelle des menschlichen Vaters tritt Gottes Geist“, Klein, Lukasevangelium, 98-99. So auch Bovon, Lukas I, 76: „Beide Verben besitzen als solche keine sexuelle Kompo‐ nente, erklären hier aber, wie die göttliche Kraft die männliche Zeugung ersetzen wird.“ Vgl. auch Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 62: „Da es in V. 35, wie der Bezug zu V. 34 zeigt, um die Entstehung eines Kindes der Maria geht, muss es sich hier um eine Tätigkeit des Heiligen Geistes handeln, die eben zu dieser Kindesentstehung hinführt.“ 430 Böhlemann, Jesus und der Täufer, 71. gebären wird, der Johannes genannt werden wird. Schon vom Mutterleib an wird Johannes vom Heiligen Geist erfüllt sein (vgl. Lk 1,15 καὶ πνεύματος ἁγίου πλησθήσεται ἔτι ἐκ κοιλίας μητρὸς αὐτοῦ). „In ihrem Aufbau sind sich die beiden Geburtsankündigungen sehr ähnlich.“ 426 In Abgrenzung zu Johannes be‐ tont der Text nun aber Jesu Beziehung zum Geist als noch enger und bedeu‐ tender; Jesus wird sogar als geistgezeugt dargestellt (vgl. Lk 1,35). 427 „Die Geburt Jesu wird als ein Wunder des Heiligen Geistes angekündigt“ 428 . Derselbe Engel Gabriel, der bereits Zacharias aufgesucht hat (vgl. Lk 1,19 ἐγώ εἰμι Γαβριὴλ), erscheint nun in Lk 1,28 Maria und verheißt ihr die Geburt Jesu (vgl. Lk 1,31- 33). Der Heilige Geist erhält dabei eine entscheidende schöpferische Funktion: Er wird über Maria kommen (πνεὺμα ἅγιον ἐπελεύσεται ἐπι σὲ, Lk 1,35) und die „Kraft des Höchsten“ wird sie überschatten (καὶ δύναμις ὑψίστου ἐπισκιάσει σοι Lk 1,35). 429 „Schon hier läßt sich […] die 'geistliche' Überlegenheit Jesu über Johannes erkennen.“ 430 Die Parallelität in der Darstellung von Jesus und Jo‐ hannes im ersten Kapitel des Evangeliums drückt damit aus, dass zwar beide Figuren in einer engen Beziehung zum Geist stehen, dass Jesus aber durch seine 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 284 <?page no="285"?> 431 Böhlemann, Jesus und der Täufer, 21. 432 Zusätzlich werden Zacharias und Elisabeth vom Text als „gerecht“ (vgl. Lk 1,6) be‐ zeichnet, Simeon sogar als „gerecht“ und „gottesfürchtig“ (vgl. Lk 2,25). Durch diese Charakterisierung der drei Figuren betont der Text zusätzlich die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen über die Jesus-Figur für den intendierten Rezipienten. 433 Durch das Erfüllt-Sein vom Geist wird ihrer nachfolgenden Rede eine „himmlische Herkunft“ und damit eine göttliche Autorität zugeschrieben, vgl. Wolter, Lukasevan‐ gelium, 97. Geistzeugung letztlich noch viel stärker geistbestimmt ist als Johannes. „Wäh‐ rend […] Johannes 'nur' von dem prophetischen Geist […] erfüllt sein wird, sind es der schöpferische Geist und die Kraft Gottes, die die Geburt Jesu bewirken und ihn dadurch selbst heiligen.“ 431 Der Geist hat somit nach Lk 1,35 eine schöp‐ ferische Funktion. Der Ausdruck δύναμις ὑψίστου, den der Engel in Lk 1,35 für den Geist ver‐ wendet, schlägt gleichzeitig einen Bogen zu Lk 24,49, wo der auferstandene Jesus seinen Jüngern verheißt, sie mit „Kraft aus der Höhe“ (ἐξ ὕψους δύναμιν) auszustatten. Der Engel verheißt somit Maria die Kraft des Höchsten; der Auf‐ erstandene verheißt seinen Jüngern die Kraft aus der Höhe. Bei Maria ist der Zweck der Geistverheißung die Zeugung Jesu; beim Auferstandenen ist der Zweck der Geistverheißung die weltweite Metanoia-Verkündigung in seinem Namen (vgl. Lk 24,47). Der Text schafft damit einen Rahmen, der die Zeitspanne vor Jesu Geburt bis nach Jesu Himmelfahrt umfasst. Zugleich wird durch Lk 1,35 für den intendierten Rezipienten deutlich, dass der Geist als eine Kraft letztlich hinter dem ganzen Jesusgeschehen steht. Denn die Geisteskraft stößt das Wirken des irdischen Jesus an. Und indem Jesus als Auferstandener verspricht, seinen Jüngern diese Kraft zu senden, stößt die Geisteskraft wiederum ihre weltweite Mission an. Damit ist der Geist die treibende Kraft hinter dem Jesus‐ geschehen und der weltweiten Mission. Die drei Figuren Elisabeth, Zacharias und Simeon äußern sich in Lk 1-2 über die Jesus-Figur. Allen gemeinsam ist, dass sie vor ihrer Äußerung jeweils vom Heiligen Geist erfüllt werden. Dadurch werden ihre Aussagen über die Jesus-Figur für den intendierten Rezipienten glaubhaft und mit göttlicher Au‐ torität versehen. 432 Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers, wird nach Lk 1,41 vom Heiligen Geist erfüllt (καὶ ἐπλήθη πνεύματος ἁγίου ἡ Ελισάβετ) 433 und spricht dann nach Lk 1,43 von Maria als der Mutter ihres „Herrn“ (ἡ μήτηρ τοῦ κυρίου μου), sie charakterisiert also mit dieser Äußerung Jesus als ihren Herrn. Zacharias wird nach Lk 1,67 vom Heiligen Geist erfüllt (Καὶ Zαχαρίας […] ἐπλήσθη πνεύματος ἁγίου). Direkt im Anschluss spricht er einen Lobgesang (Lk 1,68-79), „in dem die jeweilige Rolle der beiden Kinder deutlich verteilt 4.2 Im Lukasevangelium 285 <?page no="286"?> 434 Mainville, Biblische Rede vom Geist, 67. 435 Vgl. Bovon, Lukas I, 144: „Selten wird so klar wie hier, daß die Christologie des Lukas (τὸν χριστὸν κυρίου [V26]) vor allem Soteriologie ist (τὸ σωτήριόν σου [V30]).“ 436 Wolter, Lukasevangelium, 137. 437 „Mit Ausnahme von Maria werden alle Figuren, die sich in den beiden ersten Kapiteln über Jesus geäußert haben, aus dem narrativen Setting des Evangeliums verschwinden. Sie wurden punktuell vom Geist Gottes erfüllt, wie die alttestamentlichen Pro‐ pheten […]. Der Inhalt ihrer Sprüche war streng christologisch ausgerichtet, und in jedem einzelnen Fall hatte der Geist die einzige Funktion, sie zu legitimieren“, Mainville, Biblische Rede vom Geist, 67-68. 438 Durch die Aorist-Form βαπτισθέντος in Lk 3,21 wird die Abgeschlossenheit dieser Handlung deutlich. Dagegen weist die Präsens-Form προσευχομένου in Lk 3,21 auf eine länger andauernde Handlung hin, vgl. hierzu Klein, Lukasevangelium, 170; vgl. auch Fitzmyer, Luke I, 483: „Luke omits the mention of the coming out of the water.“ Zum Verb προσέυχομαι im Lukasevangelium vgl. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus, 290-294. wird“ 434 . Jesus bezeichnet er - wie bereits Elisabeth - als κύριος (Lk 1,76). Jo‐ hannes hingegen charakterisiert er als denjenigen, der Jesus den Weg bereiten wird (vgl. Lk 1,76). Über Simeon wird in Lk 2,25 ausgesagt, dass der Heilige Geist mit ihm ist (καὶ πνεῦμα ἦν ἅγιον ἐπ΄ αὐτόν). Er nimmt nach Lk 2,28 das Jesus-Kind im Je‐ rusalemer Tempel auf seine Arme und spricht einen Lobpreis, in dem er Jesus als Gottes Heil (τὸ σωτήριόν) bezeichnet (Lk 2,30) sowie als Licht für die Völker (Lk 2,32). 435 Simeons „Geistbesitz ist vor allen Dingen erzählerisch notwendig, denn ohne ihn könnten die Leser kaum verstehen, wodurch Simeon befähigt ist, in dem kleinen Kind […] den Messias zu erkennen“ 436 . Alle drei Figuren sprechen damit angemessen von der Jesus-Figur als dem „Herrn“ bzw. „Heiland“, nachdem sie vom Heiligen Geist erfüllt worden sind bzw. der Heilige Geist mit ihnen ist. Ihr Geistbesitz verhilft ihnen so zur richtigen und wahren Erkenntnis Jesu. 437 Jesus als Geistträger wird also mit Hilfe des Geistes erkannt. Der Geist hat damit die Funktion inne, zur wahren Erkenntnis der Jesus-Figur zu verhelfen. Ausdrücklich (und bildhaft) als Geistträger charakterisiert wird der irdische Jesus bei seiner Taufe in Lk 3,21-22. Dabei wird zwischen zwei Handlungen unterschieden: Der eigentlichen Taufe Jesu und seinem Gebet (vgl. Lk 3,21). Wie viel Zeit zwischen beiden Handlungen vergeht, ob er sich für sein Gebet an einen einsamen Ort zurückzieht oder ob er dabei von anderen Figuren umgeben ist, lässt der Text offen. 438 Jedoch öffnet sich nicht bei seiner Taufe, sondern erst bei seinem Gebet der Himmel und der Heilige Geist kommt in der Gestalt einer Taube auf ihn herab (vgl. Lk 3,22 καὶ καταβῆναι τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον σωματικῷ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 286 <?page no="287"?> 439 Dabei geht von Bear davon aus, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Gebet Jesu und dem Geistempfang besteht, da Jesus in seinem Gebet Gott um den Heiligen Geist als Kraft gebeten habe, vgl. von Bear, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, 60- 61. Jedoch lässt der Text m. E. den Inhalt des Gebets bewusst offen, da Jesu Gebet in Lk 3,21 nur knapp und in Verbindung mit seiner Taufe erwähnt wird und der Fokus ab Lk 3,22 v. a. auf dem Herabkommen des Geistes liegt. 440 Der intendierte Rezipient soll die Stimme aus dem Himmel Gott zuordnen. Dadurch erhält der Rezipient einen direkten Einblick in Gottes Gedanken, vgl. hierzu Green, Luke, 186: „Heaven itself has opened, providing us with direct insight into God’s own view of things.“ Vgl. hierzu auch Braumann, Das Mittel der Zeit, 132. 441 Erlemann ist der Meinung, Jesu Geistbesitz beginne erst mit seiner Taufe in Lk 3,21- 22, vgl. Erlemann, Unfassbar, 162. Auch Bovon tendiert in diese Richtung, vgl. Bovon, Lukas I, 180: „Daß der Geist Gottes bei der wunderbaren Geburt Jesu gehandelt hat, heißt für Lukas nicht, daß der Messias völlig ausgestaltet ist. Für seine Mission (mehr als für ihn selbst) bekommt er jetzt die Zustimmung und die Beigabe der göttlichen Kraft.“ Dagegen sprechen u. a. Krieger, Eckey und Hahn von einem Geistbesitz Jesu von Beginn an, vgl. Krieger, Der Heilige Geist bei Lukas und Johannes, 467: „Als der, der den Geist von Anfang an besitzt, ist Jesus zugleich der, der den Geist spendet.“ Vgl. auch Eckey, Lukasevangelium I, 201: „Als aus dem Geist gezeugter [1,35) ist Jesus perma‐ nenter Träger des Geistes. Das Kommen des Geistes auf […] Jesus ist ein öffentliches Zeichen. Es dient zur Deutung des Mannes vor den Leuten.“ Vgl. Hahn, Theologie I, 560: „Im Unterschied zu Markus ist der irdische Jesus nicht erst Geistträger von seiner Taufe an, sondern ebenso wie bei Matthäus […] ist sein gesamtes Menschsein von der Empfängnis geistgewirkt und geistbestimmt.“ M. E. ist jedoch an dieser Stelle Klein zu‐ zustimmen, der die Ansicht vertritt, dass Jesus zwar seit Lk 1,35 geistbegabt ist, er aber durch seine Taufe in Lk 3,21-22 eine „zusätzliche Ermächtigung, die nicht in Jesu Wesen gründet“, erfährt, vgl. Klein, Lukasevangelium, 170. Durch das Herabkommen des Geistes und die öffentliche Proklamation Jesu durch die Himmelsstimme wird Jesus dem intendierten Rezipienten nun offiziell als Gottessohn und Geistträger vorgestellt, vgl. Klein, Lukasevangelium, 171. Gunkel spricht an dieser Stelle von einer Demonst‐ ration und Veranschaulichung der schon bestehenden Verbindung Jesu zum Geist, vgl. Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 73. εἴδει ὡς περιστερὰν ἐπ αὐτόν). 439 Zugleich spricht eine Stimme aus dem Himmel zur Jesus-Figur: σὺ εἶ υἱός μου ὁ ἀγαπητός, ἐν σοὶ εὐδόκησα. 440 Durch diese Szene hebt der Text die enge Verbindung zwischen Jesus und dem Geist hervor und charakterisiert Jesus eindeutig als denjenigen, auf dem der Geist Gottes ist. 441 Die beiden Figuren Geist und Jesus verbinden sich so mit dem symbol‐ haften Hinunterkommen des Geistes als Taube auf Jesus und gehen eine enge Beziehung ein, die um einiges stärker ist als das Erfüllt-Sein durch den Geist, wie es auch andere Figuren - unter ihnen Johannes - erleben (vgl. Lk 1,15; Lk 1,41; Lk 1,67). Wie genau sich Jesu Geistträgerschaft gestaltet, wird für den intendierten Rezipienten v. a. in Lk 4,1.und Lk 4,14 deutlich. Hier geht Jesus, der „voll von Geist“ ist (πλήρης πνεύματος Lk 4,1), „im Geist“ in die Wüste (ἤγετο ἐν τῷ 4.2 Im Lukasevangelium 287 <?page no="288"?> 442 Der Heilige Geist wird damit charakterisiert als „etwas, was Jesus bestimmt, in dem Jesus seine Wege geht und durch das Jesus […] auch in der Wüste geführt wird“, Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas, 77. 443 Haacker, Der Geist und das Reich, 330. 444 „Jetzt zeigt sich, daß der Gottesgeist und Jesus völlig einig sind“, Eckey, Lukasevange‐ lium I, 211. 445 Mainville, Biblische Rede vom Geist, 68. Die enge Beziehung zwischen Geist und Jesus kommt zudem ihrer Ansicht nach durch die Formulierung in Lk 4,1 zum Ausdruck, dass Jesus „voll von Heiligem Geist“ ist (πλήρης πνεύματος). Der Ausdruck weise im Ge‐ gensatz zum Erfüllt-Sein vom Heiligen Geist - wie es bspw. über Johannes in Lk 1,15 ausgesagt wird - auf die Uneingeschränktheit seines Geistbesitzes hin, vgl. Mainville, Biblische Rede vom Geist, 68. Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 179. Wolter spricht sogar vom Geist als dem „eigentlichen Subjekt des Handelns Jesu“, Wolter, Lukasevan‐ gelium, 179. 446 Erlemann, Unfassbar, 162. 447 Nach Wolter spielt Lk 4,18a gezielt auf die Taufe Jesu in Lk 3,21-22 an, die wiederum durch das Jesaja-Zitat als Salbung gedeutet werden kann, vgl. Wolter, Lukasevangelium, 192, vgl. auch Klein, Lukasevangelium, 189. πνεύματι ἐν τῇ ἐρήμῳ Lk 4,1). In Lk 4,14 wird berichtet, dass Jesus in der Kraft des Geistes zurück nach Galiläa kommt (ὑπέστρεψεν ὁ Ἰησοῦς ἐν τῇ δυνάμει τοῦ πνεύματος εἰς τὴν Γαλιλαίαν). Durch den Geist lässt sich Jesus somit an be‐ stimmte Orte führen und leiten. 442 Damit „lenkt und beflügelt der Geist die Schritte Jesu“ 443 und trägt maßgeblich zu seinem irdischen Handeln und Wirken bei. Das Verhältnis beider Figuren zueinander ist damit sehr eng und aufeinander bezogen. Sie werden in Lk 4,1.14 beinahe zusammen gedacht, denn das Handeln beider Figuren ist letztlich auf ein gemeinsames Ziel ausgelegt. 444 Jesus handelt im und durch den Geist und der Geist handelt ausschließlich in Bezug auf die Jesus-Figur. „Der Geist Gottes ist Bestandteil seines Wesens.“ 445 Auch in Lk 4,18 kommt durch das Jesaja-Zitat, dass der irdische Jesus auf sich bezieht, die enge Verbindung zwischen Jesus und dem Geist zum Ausdruck. Jesus selbst spricht hier das aus, was bereits in Lk 3,21-22 bei seiner Taufe über ihn berichtet worden ist: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat (οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν με), den Armen das Evangelium zu verkünden“ (Lk 4,18). Damit präsentiert er sich selbst „als der verheißene Geistträger“ 446 . Der irdische Jesus äußert sich an dieser Stelle zum einzigen Μ al selbst über seine Geistträ‐ gerschaft als Folge seiner Geistsalbung bei der Taufe. 447 Der Geist autorisiert ihn zu seinem weiteren irdischen Handeln und zeigt sich somit an dieser Stelle als 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 288 <?page no="289"?> 448 Mainville, Biblische Rede vom Geist, 68. Vgl. auch Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi, 133: „Der Geist bevollmächtigt ihn zu diesem Handeln. Aber es ist Gottes Heil‐ iger Geist, der den Messias bevollmächtigt.“ Zu Jesus als Geistgesalbtem in Lk 4,18 vgl. auch Berger, Art. Geist, 178. 449 Im bisherigen Verlauf dieser Arbeit ist die Apostelgeschichte bewusst ausgeklammert worden, da die Figurenanalyse des auferstandenen Jesus im MtEv und im LkEv im Vordergrund stand und da hierdurch beide Jesus-Figuren in den jeweiligen Evangelien gut miteinander vergleichbar wurden. Da die Aussage der Figur des Johannes in Lk 3,16 sowie die Selbstaussage Jesu in Lk 24,49 jedoch unmittelbar auf die Pfingst-Erzählung in der Apostelgeschichte anspielen (Apg 2,1-5) und sie daher für die Untersuchung an dieser Stelle von Bedeutung ist, wird die Apostelgeschichte hier hinzugezogen. 450 Das Feuer weist dabei in bildlicher Metapher auf die Geistausgießung in Apg 2,3-4 hin, vgl. Bovon, Lukas I, 177. Dagegen ist Eckey der Ansicht, die Erwähnung des Feuers beziehe sich auf das „vernichtende Gerichtsfeuer […], einen Feuersturm, der alle hin‐ wegrafft, die ihr Leben nicht von Grund auf ändern“, Eckey, Lukasevangelium I, 193. Jedoch wird durch die Erwähnung des Feuers bei der Geistausgießung in Apg 2,3 m. E. deutlich, dass die Formulierung „mit Heiligem Geist und mit Feuer“ in Lk 3,16 insgesamt auf die Pfingst-Erzählung anspielt und nicht auf das Gericht. So auch Klein, Lukas‐ evangelium, 167: „Beide Worte ergänzen sich, der Geist kommt in Feuerzungen (Apg. 2,4).“ 451 Wolter, Lukasevangelium, 164. 4.2.4.2 Jesus und die Weitergabe des Geistes „wirkende Kraft Gottes, die das Kommen und die Mission Jesu legitimiert“ 448 . Die Funktion des Geistes ist damit das Führen und Leiten der Jesus-Figur. Vom irdischen Jesus selbst wird an keiner Stelle berichtet, dass er den Geist an andere Figuren weitergibt. Jedoch kündigt Johannes der Täufer in Lk 3,16 Jesus als jemanden an, der mit Heiligem Geist und Feuer taufen und damit den Geist weitergeben wird. Im Folgenden liegt somit der Schwerpunkt auf der Fremd‐ charakterisierung der Jesus-Figur durch Johannes den Täufer in Lk 3,16. Von dort erfolgt zusätzlich ein Blick auf die Selbstcharakterisierung des auferstandenen Jesus in Lk 24,49 sowie auf die Pfingst-Erzählung in der Apostelgeschichte (Apg 2,1-5). 449 Noch vor der Taufe Jesu in Lk 3,21-22 sagt Johannes der Täufer über Jesus aus, dass er das Volk in der Zukunft mit Heiligem Geist und Feuer 450 taufen werde (αὐτὸς ὑμᾶς βαπτίσει ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρί Lk 3,16). Anlass für seine Aus‐ sage über Jesus ist die Erwartung des Volkes, Johannes sei möglicherweise der Christus (μήποτε αὐτὸς εἴη ὁ χριστός Lk 3,15). Um diese falsche Erwartung zu widerlegen und das „Missverständnis richtig[zu]stellen“ 451 , zeigt er dem Volk nun sein Verhältnis zu Jesus und ihre Rollenverteilung auf. Durch seine Aus‐ sagen wird dem intendierten Rezipienten so bereits zu Anfang des Evangeliums eindrücklich vor Augen geführt, wer Johannes ist und wer Jesus ist und in wel‐ 4.2 Im Lukasevangelium 289 <?page no="290"?> 452 Marshall, Luke, 145. Dabei verdeutlicht das μέν…δέ in Lk 3,16 die Hierarchie zwischen den beiden Figuren Johannes und Jesus, vgl. Bovon, Lukas I, 176; Eckey, Lukasevange‐ lium I, 192: „Dem angekündigten Ranghöheren und Mächtigeren gegenüber stellt Jo‐ hannes seine eigene Unterlegenheit drastisch mit einem Bildwort heraus.“ 453 „Für Johannes den Täufer ist die Taufe mit Geist noch zukünftige […] Tat“, Berger, Art. Geist, 178. 454 Erlemann, Unfassbar, 45-46. 455 „Vor dem Kommenden ist er geringer als der niedrigste Sklave, ungeeignet selbst zum Lösen des Sandalenriemens“, Wiefel, Lukas, 92. Vgl. hierzu auch Block, Luke I, 320. 456 Dabei spielt seine Aussage über Jesus auf die Pfingsterzählung in Apg 2,1-4 an, vgl. Hahn, Theologie I, 569; Bovon, Lukas I, 177. 457 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 794: „Während V. 47b-48 […] den Bogen in eine unbe‐ stimmte Zukunft schlägt und keine narrative Einlösung verlangt, kündigt 49a ein Ge‐ schehen an, das nicht unerzählt bleiben kann. Hier wird damit die lk Jesusgeschichte auf eine narrative Fortsetzung hin geöffnet.“ cher Beziehung sie beide zueinander stehen. „John contrasts […] his own activity with that of the One who is to come.“ 452 Über Jesus sagt Johannes aus, dass er stärker sei als er selbst (ἔρχεται δὲ ὁ ἰσχυρότερός μου) und dass er das Volk mit Heiligem Geist und Feuer taufen werde (Lk 3,16). 453 „An die Stelle des äußerli‐ chen Wasserritus tritt bei Jesus die Weitergabe des Geistes“ 454 . Sich selbst cha‐ rakterisiert er in Abgrenzung zu Jesus als denjenigen, der nur mit Wasser tauft (ἐγὼ μὲν ὕδατι βαπτίζω) und der es nicht wert sei, Jesus die Riemen seiner Schuhe zu lösen (Lk 3,16). 455 Über sich selbst sagt Johannes damit im Umkehr‐ schluss aus, dass er (auch wenn er vom Geist erfüllt ist, vgl. Lk 1,15) es nicht vermag, dem Volk den Heiligen Geist weiterzugeben. Hierzu ist allein Jesus fähig. Zur Zeit des irdischen Jesus charakterisiert ihn Johannes damit vorgrei‐ fend als Geistträger, der den Geist an das Volk weitergeben wird. 456 Jesus selbst nimmt diesen Faden erst wieder als Auferstandener in Lk 24,49 auf, indem er seinen Jüngern zusagt, nach seiner Himmelfahrt auf sie die „Ver‐ heißung des Vaters“ herabzusenden und sie mit „Kraft aus der Höhe“ auszu‐ statten. Damit greift er die Aussage Johannes des Täufers aus Lk 3,16 auf und wiederholt sie in Form einer Selbstverheißung, jedoch ohne eine Taufe oder das Taufen mit Feuer zu erwähnen. Genau wie in Lk 3,16 wird die Weitergabe des Geistes durch Jesus jedoch auch nach seiner Auferstehung noch keine Realität, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Zukunft nach seiner Himmel‐ fahrt. 457 Anders als in der Aussage des Johannes nennt Jesus als Auferstandener zusätzlich den Ort, an dem er den Menschen den Geist senden wird, nämlich in Jerusalem (vgl. Lk 24,49 ὑμεῖς δὲ καθίσατε ἐν τῇ πόλει). Weder der irdische noch der auferstandene Jesus vor seiner Himmelfahrt geben damit den Geist bereits an die Menschen weiter. Es ist „bezeichnend, daß Jesus den Geist nur verheißt. Selbst als Auferstandener kündigt er die Sendung des Geistes nur an und erteilt 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 290 <?page no="291"?> 458 Krieger, Der Heilige Geist bei Lukas und Johannes, 467. 459 Eine weitere Ankündigung der Geist-Weitergabe des auferstandenen Jesus, die Bezug nimmt auf Lk 3,16 und Lk 24,49, findet sich in Apg 1,4-5. 460 Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi, 135; vgl. auch Haacker, Der Geist und das Reich, 330: „Die nachösterliche Geistbegabung der Jünger wird als Geschenk des Er‐ höhten gedeutet“. 461 In Apg 2,33 weist Petrus in seiner Rede ausdrücklich auf die Verheißung des Geistes durch den auferstandenen Jesus hin. 4.2.4.3 Ergebnis den Geist nicht schon vor der Himmelfahrt.“ 458 Nur als Auferstandener spricht Jesus selbst von der Weitergabe des Geistes in Form einer Selbstverheißung. Als Irdischer verliert er darüber selbst kein Wort, lediglich Johannes weissagt es über ihn. Damit weisen beide Ankündigungen der Geist-Weitergabe Jesu an die Men‐ schen (in Lk 3,16 in Form einer Fremdcharakterisierung durch Johannes, in Lk 24,49 in Form einer Selbstcharakterisierung des auferstandenen Jesus) auf ein Ereignis in der Zukunft hin, das sich weder beim irdischen Jesus noch beim auferstandenen Jesus vor seiner Himmelfahrt realisiert. 459 Erst der Auferstan‐ dene nach seiner Himmelfahrt sendet den Heiligen Geist dann tatsächlich - wie in Lk 24,49 angekündigt - auf die Menschen in Jerusalem. „Der Geist, der zuvor den Messias Jesus bevollmächtigt hatte, wird zur Gabe an seine Nachfolger“ 460 . Dieses Ereignis wird schließlich in Form einer Erzählung in der Apostelge‐ schichte 2,1-5 geschildert. 461 Die Aussage des Johannes in Lk 3,16 bildet so gewissermaßen eine Brücke zur Selbstaussage des auferstandenen Jesus in Lk 24,49. Die Selbstaussage des Auferstandenen bildet wiederum eine weitere Brücke zur Pfingst-Erzählung in Apg 2,1-4. Für den intendierten Rezipienten wird also im Blick auf die Frage nach Jesu Weitergabe des Geistes ein roter Faden erkennbar, der sich von Lk 3 über Lk 24 bis hin zu Apg 2 zieht. Im Lukasevangelium selbst wird damit von keiner Weitergabe des Geistes durch Jesus berichtet, auf sie wird lediglich hin‐ gewiesen. In den ersten vier Kapiteln des Lukasevangeliums werden dem Geist vier ver‐ schiedene Funktionen zugeschrieben, die in Verbindung zur Jesus-Figur stehen: So hat er eine schöpferische Funktion inne, indem der irdische Jesus als geist‐ gezeugt charakterisiert wird. In Abgrenzung zu Johannes - der noch vor seiner Geburt als geisterfüllt beschrieben wird - ist Jesu Verhältnis zum Geist damit wesentlich enger als das von Johannes. Daneben hat der Geist aber auch die Funktion, anderen Figuren zur Erkenntnis Jesu zu verhelfen. Denn der irdische Jesus wird von Elisabeth, Zacharias und Simeon als Herr und Messias erkannt. 4.2 Im Lukasevangelium 291 <?page no="292"?> 4.2.5 Diese Erkenntnis vollzieht sich dabei durch den Heiligen Geist, der die drei Fi‐ guren zuvor erfüllt. Der Geistträger wird also auch mit Hilfe des Geistes erkannt. Eine dritte Funktion des Geistes besteht darin, dass er den irdischen Jesus für sein weiteres Wirken ausrüstet. Durch seine Taufe wird der irdische Jesus ein‐ deutig als Geistträger vorgestellt und macht seine Geistträgerschaft und Sal‐ bung - die ihn zu seinem irdischen Wirken autorisiert - bei seiner Antrittspre‐ digt öffentlich. Schließlich besitzt der Geist noch die Funktion, das Handeln des irdischen Jesus zu bestimmen und zu lenken. Dabei ist durch die Beschreibung des Geistes als eine Kraft zudem eine Rah‐ mung sichtbar geworden, die die Kapitel von Lk 1,35 bis Lk 24,49 umfasst. Der Geist als Kraft stößt damit sowohl das Jesusgeschehen, als auch die weltweite Mission durch die Jünger an. Zur Zeit des irdischen Jesus sagt Johannes bereits Jesu Weitergabe des Geistes voraus. Dieses Geschehen wird jedoch weder beim irdischen, noch beim aufer‐ standenen Jesus vor seiner Himmelfahrt Realität. Erst nach seiner Himmelfahrt sendet der himmlische Jesus seinen Jüngern den Geist (Apg. 2). Es könnte sein, dass diese Gegebenheit mit der Vorstellung der Geistzeugung zusammenhängt, die sich nicht mit einer Weitergabe des Geistes vereinbaren lässt. Dies muss aber eine Vermutung bleiben, da sich gezeigt hat, dass der Geist ganz verschiedene Funktionen besitzt, die sich auf der Vorstellungsebene nicht ausgleichen lassen. Fazit In den vorangehenden Kapiteln wurden vier für die Figurendarstellung des auf‐ erstandenen Jesus besonders charakteristische Aspekte im Hinblick auf die Dar‐ stellung des irdischen Jesus untersucht. So wurde gefragt, welche Rolle das ge‐ meinschaftliche Mahl bereits in der Darstellung des Irdischen spielt, inwiefern die Metanoia-Verkündigung schon bei der Figur des irdischen Jesus präsent ist, ob sich Jesus selbst auch bereits als Irdischer in den göttlichen Heilsplan ein‐ ordnet und wie das Verhältnis des Irdischen zum Heiligen Geist beschrieben wird. Dabei hat sich insgesamt gezeigt, dass in der Figurenzeichnung Jesu als Irdi‐ scher und als Auferstandener hinsichtlich der vier eben genannten Aspekte ei‐ nige Akzentverschiebungen auszumachen sind: So begibt sich auch der irdische Jesus aktiv in die Rolle des Gastgebers, der die Menschen Anteil an seinen Gaben haben lässt. Als Irdischer identifiziert er sich aber zudem mit der Speise selbst, wodurch sich wiederum ein Bogen zum Auferstandenen spannt, der von den Emmaus-Jüngern ausgerechnet im Mo‐ 4 Das Verhältnis der Darstellungen des Auferstandenen zu denen des Irdischen 292 <?page no="293"?> ment des Brot-Brechens erkannt wird. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass der Metanoia-Verkündigung schon in der Darstellung des irdischen Jesus eine zent‐ rale Rolle zukommt. Genau wie beim Auferstandenen weist der Aspekt der Um‐ kehr auch schon beim Irdischen die drei Momente Anstoß zur Metanoia, aktive Umkehr des Menschen und Sündenvergebung als Folge der Metanoia auf. Beim Auferstandenen ist jedoch noch das universale Moment der Metanoia stärker betont. Auch im Blick auf die Selbsteinordnung in den Heilsplan sind in der Darstellung der Jesus-Figur als Irdischer und als Auferstandener gewisse Ak‐ zentverschiebungen festzustellen. Auch der irdische Jesus ordnet sich und sein Wirken in den übergeordneten göttlichen Plan ein und betont dabei v. a. das Muss seines Handelns und damit das Was des Heilsplans. Als Auferstandener knüpft er das Muss jedoch noch an eine ausführliche Schriftenauslegung und macht damit nicht nur das Was, sondern auch das Warum des Heilsplans deut‐ lich. Nur als Auferstandener gewährt Jesus seinen Jüngern damit Einblicke in den Heilsplan. Einen auffallenden Unterschied in der Figurenzeichnung lässt sich jedoch im Blick auf die Reaktionen auf die Jesus-Figur ausmachen: Beim irdischen Jesus zieht seine Selbsteinordnung in den Heilsplan völliges Unver‐ ständnis seitens der anderen Figuren nach sich. Beim auferstandenen Jesus und seiner Selbsteinordnung in den Heilsplan setzen schließlich die Erkenntnis und das Verstehen ein. Im Blick auf Jesu Verhältnis zum Heiligen Geist überwiegen die Gemeinsamkeiten in der Figurenzeichnung, indem Jesus sowohl als Irdischer als auch als Auferstandener als Geistträger charakterisiert wird. Die Weitergabe des Geistes wird zur Zeit des Irdischen von Johannes angekündigt, vom Aufer‐ standenen vor seiner Himmelfahrt in einer Selbstaussage bekräftigt und erst vom himmlischen Jesus in der Apostelgeschichte realisiert. Insgesamt hat sich somit gezeigt, dass im Lukasevangelium - anders als im Matthäusevangelium - eine im Wesentlichen kohärente Figurenzeichnung der Jesus-Figur besteht. Dieses Ergebnis liegt wohl auch deshalb nahe, da das Lu‐ kasevangelium noch auf ein weiteres Stadium ausblickt, nämlich auf den auf‐ erstandenen Jesus nach der Himmelfahrt. Eine weitere Wende liegt somit in der Himmelfahrt Jesu, durch die sich weitere graduelle Unterschiede für die Jesus-Figur ergeben. Damit hat sich unter dem Aspekt der Figurenanalyse ge‐ zeigt, dass das Lukasevangelium in heilsgeschichtliche Etappen unterteilt und im Hinblick auf die Jesus-Figur zwischen einem irdischen, auferstandenen und himmlischen Jesus unterscheidet. 4.2 Im Lukasevangelium 293 <?page no="294"?> 5 Gesamtfazit In der vorliegenden Arbeit ging es um die Darstellungen des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium sowie um den jeweiligen Rückbezug dieser Darstellungen zur Figurenzeichnung des Irdischen. Beide Fragen sollten dazu beitragen, das christologische Profil beider Evangelien genauer zu erfassen und sichtbar zu machen. Hierfür wurde ein Erzählmodell und ein Figurenanalysemodell - jeweils in kritischer Abgrenzung zu in der Forschung gängigen Modellen - entwickelt. Mit dem Erzählmodell als Basis und dem Figurenanalysemodell als Leitfaden sind schließlich die beiden Darstellungen des Auferstandenen im MtEv und im LkEv nacheinander untersucht worden. Dabei wurden zwei Figuren des Aufer‐ standenen sichtbar, die zwar Gemeinsamkeiten aufweisen, sich aber auch in vielen zentralen Aspekten unterscheiden: Im MtEv wird der auferstandene Jesus als hoheitsvoller Machtträger charakterisiert, dessen Vollmacht sich in diesem Aeon durch die universale Mission durchsetzen soll und der die bestehenden Seinswelten ins Wanken bringt. Dabei ist und bleibt er der Gekreuzigte, wie er von dem Engel nach seiner Auferstehung bezeichnet wird, und befindet sich bis zum Anbruch des neuen Aeons durch seine Beistandszusage in einer stetigen Nähe zu seinen Jüngern. Dagegen begegnete im LkEv ein völlig anderer Aufer‐ standener, der sich viel stärker in Kommunikation mit den anderen Figuren be‐ gibt, ihnen als Hermeneut seine Rolle im göttlichen Heilsplan verdeutlicht, seine Jünger zur Metanoia-Predigt in seinem Namen aufruft und ihnen verspricht, den Geist zu senden. Im Gegensatz zum Auferstandenen im MtEv ist er nach Lk 24 der Lebende schlechthin. Dabei hat sich gerade in der Figurenzeichnung des Auferstandenen im LkEv gezeigt, dass bei der Darstellung des Auferstandenen nochmals in zwei (heilsgeschichtliche) Phasen unterschieden wird. Vor seiner Himmelfahrt ist er der Auferstandene, der bereits eine Ambivalenz aus Nähe und Distanz aufweist, nach seiner Himmelfahrt ist er der Himmlische, der allen Be‐ dingungen des menschlichen Lebens enthoben ist, sich in einer Distanz zu den Menschen befindet und gewissermaßen vom Geist „vertreten“ wird. Ausgehend von diesen beiden unterschiedlichen Figurendarstellungen des auferstandenen Jesus wurde hinsichtlich bestimmter, für die Figurenzeichnung des Auferstandenen charakteristischer Aspekte in die vorherigen Kapitel des jeweiligen Evangeliums zur Darstellung des irdischen Jesus zurückgefragt. Im <?page no="295"?> MtEv standen hierbei die Fragen nach seiner universalen Vollmacht sowie nach der von ihm geforderten universalen Völkermission im Vordergrund. Im LkEv wurde hinsichtlich seiner Rolle in Mahlgemeinschaften, der von ihm gefor‐ derten Metanoia-Verkündigung, seiner Einordnung in den Heilsplan sowie seines Verhältnisses zum Heiligen Geist zurückgefragt. Dabei waren es im LkEv gerade diese vier Aspekte, die eine Art „Brücke“ zwischen dem auferstandenen und dem himmlischen Jesus bilden und die so bis in die Zeit des intendierten Rezipienten hineinreichen. Bei diesen gezielten Rückfragen zur Darstellung des Irdischen hat sich ins‐ gesamt gezeigt, dass in beiden Evangelien Unterschiede und Akzentverschie‐ bungen zwischen der Darstellung Jesu als Irdischem und als Auferstandenem auszumachen sind. Im MtEv sind diese Unterschiede jedoch noch stärker aus‐ geprägt als im LkEv. In beiden Evangelien liegt somit keine gänzlich kohärente Figurenzeichnung Jesu vor. Die Auferstehung ist damit eine Art „Bruch“ in der Figurenzeichnung; mit ihr verändert sich die Jesus-Figur. Nach seiner Auferste‐ hung ist Jesus zwar noch derjenige, der er vorher war, aber dennoch zugleich ein ganz anderer. Durch die Analyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium haben sich somit insgesamt zwei völlig unterschiedliche Bilder des Auferstan‐ denen aufgetan, die sich u. a. durch das Johannesevangelium noch ergänzen ließen. Daraus ist deutlich geworden, dass sich das Bild des Auferstandenen nicht auf eine Vorstellung einengen oder in ein bestimmtes Raster fassen lässt. Bemerkenswert ist aber, dass beide Evangelien - trotz der gravierenden Unter‐ schiede in der Figurenzeichnung des Auferstandenen - letztlich darin überein‐ stimmen, dass sie den Auferstandenen mit dem Irdischen identifiziert wissen wollen. 5 Gesamtfazit 295 <?page no="297"?> Literaturverzeichnis Die bibliographischen Abkürzungen richten sich soweit wie möglich nach der Redaktion der RGG 4 (Hg.): Abkürzungen Theologie und Religionswissen‐ schaften nach RGG 4 , UTB 2868, Tübingen 2007. In den Anmerkungen wird die angeführte Literatur jeweils als Kurztitel ange‐ geben. 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Literaturverzeichnis 314 <?page no="315"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Erzählmodell nach Genette (eigene Darstellung) . . . . . . . . 20 Abb. 2 Erzählmodell nach Chatman (eigene Darstellung) . . . . . . . 22 Abb. 3 Erzählmodell nach Marguerat und Bourqin (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Abb. 4 Erzählmodell nach Eco (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . 25 Abb. 5 Erzählmodell nach Schmid (eigene Darstellung) . . . . . . . . . 26 Abb. 6 Erzählmodell nach Martinez und Scheffel (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Abb. 7 Erzählmodell nach Finnern (eigene Darstellung) . . . . . . . . 30 Abb. 8 Erzählmodell nach Fludernik (eigene Darstellung) . . . . . . . 31 Abb. 9 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 <?page no="316"?> ISBN 978-3-7720-8609-0 www.francke.de Der auferstandene Jesus Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium Anna Cornelius Anna Cornelius Wer ist der auferstandene Jesus? Und was hat er mit dem Irdischen zu tun? Diesen beiden Fragen widmet sich das Buch. Es behandelt diese Fragen aber nicht „an sich“, sondern in der Auseinandersetzung mit zwei Texten, die den Irdischen und den Auferstandenen vorkommen lassen, dem Matthäus- und dem Lukasevangelium. Für die Analyse dieser Texte wird eine literaturwissenschaftliche Verfahrensweise, die Figurenanalyse, erläutert und genutzt. Zunächst wird das Bild beider Evangelien vom Auferstandenen nachgezeichnet. Im Anschluss wird in beiden Evangelien zur Darstellung des Irdischen zurückgefragt, um Kontinuitäten und Akzentverschiebungen freizulegen. Dabei zeigt sich: Jesus - der Auferstandene und der Irdische, der matthäische und der lukanische - begegnet eben nicht als ein und dieselbe Figur. 23 23 23 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Kathy Ehrensperger, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp