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Johann Michael Sailers Gebetbücher

Eine Studie über den lebenslangen Versuch, ein Dolmetsch des betenden Herzens zu sein

0620
2007
978-3-7720-5192-0
978-3-7720-8192-7
A. Francke Verlag 
Philipp Gahn
<?page no="0"?> A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL PHILIPP GAHN Johann Michael Sailers Gebetbücher Eine Studie über den lebenslangen Versuch, ein Dolmetsch des betenden Herzens zu sein <?page no="1"?> Johann Michael Sailers Gebetbücher <?page no="2"?> PIETAS LITURGICA · STUDIA 16 Interdisziplinäre Beiträge zur Liturgiewissenschaft begründet von Hansjakob Becker herausgegeben von Ansgar Franz Die Reihe »Pietas Liturgica« erscheint in Zusammenarbeit mit »KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V.« Interdisziplinäre Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung und Erschließung des christlichen Gottesdienstes <?page no="3"?> PHILIPP GAHN Johann Michael Sailers Gebetbücher Eine Studie über den lebenslangen Versuch, ein Dolmetsch des betenden Herzens zu sein A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL <?page no="4"?> Titelabbildung: Einige Ausgaben der Sailerschen Gebetbücher. Exemplare der Bibliothek der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos, Benediktbeuren. Foto: Stefan Fiedler, Bichl. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bischöflichen Ordinariats Augsburg, des Bistums Regensburg, des Erzbischöflichen Ordinariats München sowie des Vereins „KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V.“ Theologische Dissertation an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos - Theologische Fakultät, Benediktbeuern, WS 2005/ 06 © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Vewertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8192-7 <?page no="5"?> Vorwort Der ursprüngliche Text dieser Arbeit ist als Dissertation an der Philosophisch- Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos - Theologische Fakultät - Benediktbeuern Mitte des Jahres 2005 als Dissertation eingereicht und angenommen worden. Die Literatur konnte nur bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden. Über den Zugewinn an wissenschaftlicher Erkenntnis, den man für ein solches Buch notwendig fordern darf, werden sich die folgenden Seiten auszuweisen haben. Jenen, die ohne einer detaillierten Analyse folgen zu wollen, darüber Auskunft erhalten möchten, empfehle ich, neben der Einleitung und dem Schluss sofort das dritte Kapitel aufzuschlagen und hiervon besonders den Abschnitt über die Anbetung (S. 192ff. und 205ff.) zu lesen. Der nie abgeschlossene Vorgang des Sailerschen Denkens über das Gebet, worüber diese Arbeit handelt, ist hier am offensichtlichsten zu greifen. Dass sich Sailer als katholischer Vertreter der Empfindsamkeit erweist, ist ein weiteres Ergebnis. Dieses geht freilich aus Beobachtungen hervor, die über alle Teile des Buches hin verstreut sind. Einen direkteren Weg kann ich dafür nicht weisen. Das Register kann nur behelfsweise dienen. In diesen vorangestellten Zeilen erlaube ich mir indessen, meiner persönlichen Einsicht, die im Werden der Arbeit wuchs, Ausdruck zu geben: Ich verdanke mich, weiß Gott! , vielen. Namentlich möchte ich jene erwähnen, die mir bei der Erstellung des Buches in der Hauptsache zur Seite standen. Mein Lehrer Professor Pater Angelus A. Häußling OSB hat mir mit seinen nicht selten ungewöhnlichen, immer wachen Gedanken und Fragen tatsächlich von der ersten Vorlesungsstunde an ein Maß für den Ernst des eigenen Theologisierens vorgegeben. Weil er es weiß und seine Schüler lehrte, dass in jedem Beten eines Christen auch die Kirche Christi betet, war es ihm selbstverständlich meinem für die Liturgiewissenschaft randständigen Thema dennoch ein Heimatrecht in dieser Disziplin zu geben. Ferner danke ich meinem Arbeitgeber, den Salesianern Don Boscos, ihrer Hochschule in Benediktbeuern und namentlich ihrem früheren Rektor Professor Pater Otto Wahl, dass sie mein Promotionsvorhaben befürwortet und unterstützt haben. Meine beiden Mentoren, Pater Angelus A. Häußling und Pater Otto Wahl, vollenden heuer ihr 75. Lebensjahr. Dankbar sei ihnen darum diese Arbeit in besonderer Weise zugeeignet. An Herrn Professor Kurt Küppers aus Augsburg durfte ich immer wieder mit Fragen herantreten. In einer schwierigen Phase ermutigte er mich, die Arbeit zu Ende zu führen. Dafür bin ich auch ihm sehr dankbar. Professor Ansgar Franz hat diese Arbeit in die renommierte Reihe Pietas Liturgica. Studia aufgenommen. Die Diözesen Augsburg und Regensburg, sowie die <?page no="6"?> Vorwort VI Erzdiözese München und Freising und der Verein Kultur - Liturgie - Spiritualität haben durch namhafte Druckkostenzuschüsse die Veröffentlichung dieser Arbeit gefördert. Ihnen allen habe ich zu danken. Meinen Eltern Heinz und Vittoria verdanke ich das Interesse nicht nur, aber vor allem für den Glauben und die Theologie und die von finanziellen Sorgen befreiten ersten Jahre meines Studiums. Auch die Drucklegung dieses Buches haben sie mit unterstützt. Meinem Vater sowie meinem Freund Philipp Maria Zimmer sei außerdem dafür gedankt, dass sie das mühsame Geschäft übernommen haben, die Arbeit von ihren formalen Mängeln zu reinigen. Frau Barbara Flad und Frau Dorothee Simon haben ganz am Ende noch einmal helfend eingegriffen. Meine Schwiegereltern schließlich haben nicht selten meine Familie beherbergt, um mir Zeit zum Schreiben einzuräumen und damit alle Beteiligten zu entlasten. Auch ihnen danke ich. In tiefem Dank bin ich meiner Frau Anke verbunden; nicht zuletzt deshalb, weil sie die Kopf- und Herzgewächse ihres Mannes beständig mit- und erträgt. Nun schon etliche Jahre. Bichl, im April 2007 Philipp Gahn <?page no="7"?> Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 a) Zur Entstehung der beiden Gebetbücher. Vergleichende Analysen als das Haupterkenntnismittel dieser Untersuchung. Die bibliographische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 b) Die These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 c) Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen. . . . . . . 7 Kapitel 1: Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 . . . . . . . . . . . . . . . . 21 a) Die Motivation für die Abfassung des Gebetbuchs: Der Zustand der Gebetbücher aus der Sicht Sailers. . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 b) Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Was wissen wir über den tatsächlichen Zustand der Gebetbücher? . . 29 2. Aufbau und kurze Charakteristik einiger zeitgenössischer Gebetbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Martin von Cochem, Goldener Himmels-Schlüssel, 1764 . . . . . . . . . 32 Wilhelm Nakatenus, Das Himmlisch Palm-Gärtlein, 1770. . . . . . . . . 35 Johann Christian Elias, Kern aller Gebett, 1782 . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele, 1781 . . . . . . . . . . 38 Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, 1759 . 42 Eusebius Amort, Brevier eines guten Christen, 1760 . . . . . . . . . . . . . 42 Gemüths-Erhebung zu Gott, 1760 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Johann Isi, Marianisch-Dettelbacher Weingarten, 1789. . . . . . . . . . . . 46 Karl Braun, Gebet- und Erbauungsbuch, 1783 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Karl Heinrich Seibt, Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 1779 . . . . . 49 3. Vergleich einiger Morgengebete in diesen Büchern . . . . . . . . . . . . . . . 50 Martin von Cochem, Goldener Himmels-Schlüssel, 1764 . . . . . . . . . 51 Wilhelm Nakatenus, Das Himmlisch Palm-Gärtlein, 1770. . . . . . . . . 52 Johann Christian Elias, Kern aller Gebett, 1782 . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele, 1781 . . . . . . . . . . 55 Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, 1759 . 56 Gemüths-Erhebung zu Gott, 1760 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Johann Isi, Marianisch-Dettelbacher Weingarten, 1789. . . . . . . . . . . . 59 Karl Braun, Gebet- und Erbauungsbuch, 1783 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Karl Heinrich Seibt, Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 1779 . . . . . 62 4. Vergleichende Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5. Einige Zeitgenossen über das Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 c) Die Hinwendung zum Herz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 <?page no="8"?> Inhalt VIII Kapitel 2: Die beiden Gebetbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch . . . . . . . . . . . . 79 1. Lesen und Beten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Exkurs zur Bildung des Geistlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Vorwort und Motto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3. Der Aufbau des Gebetbuchs. Kommentar zu den einzelnen Abschnitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 E RSTER T HEIL . E RSTER A BSCHNITT , enthält das Allgemeine, das Wichtigste, aus dem der Saft in alle Gebete und Betrachtungen abgeleitet wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Z WEYTER A BSCHNITT , enthält das Tägliche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 D RITTER A BSCHNITT , enthält das Sonntägliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 V IERTER A BSCHNITT , enthält das Monatliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 F ÜNFTER A BSCHNITT , enthält Verschiedenes nach Verschiedenheit der Stände. S ECHSTER A BSCHNITT , enthält Verschiedenes nach Verschiedenheit der Umstände, Handlungen, Begebenheiten u.s.w. S IEBENTER UND LETZTER A BSCHNITT , enthält Etwas für Leidende, Kranke, Sterbende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 E XKURS : Barock versus Aufklärung: ein Vergleich zweier Sterbeliturgien . . . 105 Z USÄTZE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Z WEYTER T HEIL , ENTHÄLT DAS F ESTTÄGLICHE . E RSTER A BSCHNITT , Jesus Christus, oder siebenmal sieben Anbetungen des Anbetungswürdigsten, samt Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Z WEYTER A BSCHNITT . Jesus Christus, oder die Festtage des Herrn, sammt den andern merkwürdigen Tagen, nach Ordnung des Kirchenjahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 D RITTER A BSCHNITT . Jesus Christus, oder die Festtage Mariä, der Mutter Jesu, zur Ehre Jesu Christi. V IERTER A BSCHNITT . Jesus Christus, oder die Festtage der Jünger, Geschichtschreiber und Apostel Jesu Christi, zur Ehre ihres Meisters, Herrn und Senders. F ÜNFTER A BSCHNITT . Jesus Christus, oder Gedächtnißtage einiger merkwürdigen Personen, mit denen Jesus in Verbindung stand, zur Ehre Jesu Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 S ECHSTER UND LETZTER A BSCHNITT . Jesus Christus, oder Gesänge, Lieder, Psalmen, Gebete aus der heiligen Schrift, zur Ehre dessen, der der Erfüller des alten, und der Stifter des neuen Bundes ist. . . . . 113 4. Zielgruppe der Gebetbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Das Verhältnis der beiden Gebetbücher zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs mit besonderem Blick auf die Neubearbeitung von 1831 . . . . . . . . . . . . . . . . 118 <?page no="9"?> Inhalt IX [I Allgemeine Andachtsübungen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 I.1 Andachtsübungen für alle Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Exkurs zur „guten Meinung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I.2 Die heilige Messe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 I.3 Übungen der Andacht während des Tages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I.4 Abendandacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I.5 Andachtsübungen für jeden Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I.6 Das Ende der Woche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Übungen der Andacht an Sonntagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II.1 Über die Feier des Sonntags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II.2 Hochamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II.3 Glaube, Hoffnung, Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II.4 Das Vaterunser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II.5 Besondere Vesperandacht in Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II.6 Noch einige Lobgesänge zur Vesperandacht . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Übungen für Beicht- und Kommuniontage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III.1 Das Sakrament der Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III.2 Übungen vor der Kommunion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 III.3 Übungen nach der Kommunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Übungen für die Festtage unsers Herrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV.1 Zur Adventszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV.2 Weihnachtsfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV.3 Andachtsübungen in der Fasten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 IV.4 Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 IV.5 Am heiligen Donnerstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 IV.6 Der heilige Freitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 IV.7 Der heilige Sonnabend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV.8 Ostersonntag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV.9 Ostermontag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV.10 Der Festtag der Himmelfahrt Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV.11 Pfingstfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV.12 Dreifaltigkeitssonntag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 IV.13 Fronleichnamsfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 V. [Maria]. V.1 Uebungen für die Festtage Mariä . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 V.2 Uebungen an den übrigen Festtagen Mariä . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 VI. Uebungen für einige andere Festtage und Gedächtnistage . . . . . . 164 VII. Andachtsübungen für verschiedene Stände und in verschiedenen Umständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 d) Auswertung der Analyse der Gebetbücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 <?page no="10"?> Inhalt X Kapitel 3: Das Herz, das Gemüt, die Anbetung und das immerwährende Gebet Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 . . . . . . . 175 a) Die so genannten mystischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Imitatio Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. „Mystik“, „Mystizismus“ und „Gottselige Innigkeit“ . . . . . . . . . . . . . 184 3. Die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Die Anbetung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Gott als der im Gebet zuerst Handelnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Die Andacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3. Anbetung im Zusammenhang mit der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Die Anbetung in Geist und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Geist und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Anbetung Jesu Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 d) Das Bittgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 e) Der Weg des Betens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Schluss: Die Stellung des Gebetbuchs in der Frömmigkeitsgeschichte . . . . . . 217 Anhang 1. Schreiben der Seidelschen Buchhandlung an Joseph Widmer. . . . . . . . . . 223 2. Die Illustrationen zum Vollständigen Lese- und Betbuch . . . . . . . . . . . . 225 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Register 1. Verzeichnis der Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. Personen- und Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 <?page no="11"?> Einleitung Zu Beginn des Jahres 1832, nur wenige Monate vor seinem Tod, verfasste Johann Michael Sailer die Einleitung zu dem bereits 1783 zum ersten Mal erschienenen Vollständigen Lese- und Gebetbuch für katholische Christen völlig neu. Diesen über das Leben des gelehrten Seelsorgers hin ausgereiften „Vollständigen Unterricht von dem Gebete“ besiegelte er mit den folgenden Sätzen, die er unter die Überschrift „Wie man ohne Unterlaß beten könne“ stellte: „Das Wort: „Betet ohne Unterlaß,“ I Thess. V,17. lehret nur, was jeder wahre Gottesverehrer wirklich thut. Wer recht beten gelernt hat, hat ohne Unterlaß beten gelernt. Denn zwei Dinge machen den guten, frommen Menschen zum guten, frommen Menschen: die innere Fassung des Gemüthes, und das äußere Leben nach der innern Fassung des Gemüthes. […] Mein Herz bei Gott, mein Leben wie vor Gott: das ist der Spruch, das der Grundsatz der Gottseligen. Und dieser Grundsatz, in Leben übergegangen, ist und heißt das stete Gebet“. 1 Diesen einfachen Worten ist nicht heraus zu spüren, dass die Fragen, denen sie als Antwort entwachsen sind, den, der sie schrieb, sein Leben lang begleitet haben, ja, dass diese Fragen eines der Zentren seines Denkens gewesen sind. Lässt sich doch die Arbeit an seinem Gebetbuch gleichsam als eine Klammer um sein Schaffen verstehen: Im Alter von 32 Jahren hatte es ihn bekannt gemacht, indem er damals eine Position zu Gebet und geistlichem Leben einnahm, die vielen Gebildeten aus dem Herzen sprach, während sie andere zum Widerspruch reizte. So sehr übrigens, dass es ihm seine erste öffentliche Kontroverse eingetrug 2 . 80-jährig betrieb er noch eine gänzliche Neufassung, für die er sogar den Titel ändern wollte 3 . Dazwischen liegen 48 Jahre, in denen Sailer immer wieder Hand daran legte: Bis 1789 bei dem sogenannten „großen Gebetbuch“, bis 1831 bei dem Vollständigen Gebetbuch für katholische Christen, welches man den „Auszug“ oder das „kleine Gebetbuch“ nennt. 1 SW, 23, 32. Die Mitteilung über die Umstände der Abfassung der Einleitung stammt von Joseph Widmer, dem Herausgeber der Sämmtlichen Werke. 2 S. die Schrift Friedrich Nicolais, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 7, Anhang: Eine Untersuchung der Beschuldigungen, die Prof. Garve wider diese Reisebeschreibung vorgebracht hat, Berlin 1786 und Sailers Replik darauf: Das einzige Märchen in seiner Art: eine Denkschrift an Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786. Gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fried. Nikolai, München, 1787. Der ganze Vorgang ist dokumentiert in: Schiel, Bd. 1, 99ff. Ausführliche bibliographische Angaben nennt er in Bd. 2, 646, Nr. 40. 3 SW, 23, XI: „ […] dieses Andachts- und Gebetbuch, welches früher unter der Aufschrift ‚Vollständiges Lese- und Gebetbuch‘ bekannt […] war. <?page no="12"?> Einleitung 2 Erst nach der unter Mithilfe Widmers vollbrachten Fertigstellung des letzteren nahm sich der Greis die Neubearbeitung seines Frühwerks vor, wozu ihn, von Krankheit immer wieder heimgesucht, gewiss vor allem sein baldiges Ende, das er herannahen sah, drängte. Und auch der Verlag der Seidelschen Buchhandlung forcierte die Herausgabe beider Werke, zumal die monumentale Ausgabe seiner Werke bis dahin ein wirtschaftlicher Misserfolg zu werden drohte. So versprach man sich von denjenigen Büchern, die zu seinen beim Publikum beliebtesten gezählt hatten, die Rettung der verlegerischen Unternehmung. Ein Brief an Joseph Widmer vom 19. November 1830 vermerkt: „[…] indem uns alles daran gelegen seyn muß die Herausgabe der Gebetbücher zu beschleunigen, ehe wieder reichlich Zwischen- und Nachdrucke den Eingang der Originalausgabe erschweren und hemmen. Zudem muß uns deren schleunigste Erscheinung darum vorzüglich wünschenswerth seyn, weil wir bei beiden Artikeln doch auf Absatz und einigen Erfolg rechnen dürfen“ 4 . Die Herausgabe des großen Gebetbuchs konnte erst 1840, also beinahe zehn Jahre nach diesem brieflichen Drängen erfolgen. Ihr Ausbleiben dürfte die Lage des Verlegers nicht verbessert haben. Widmer und Sailer scheinen sich - so ist aus dem „Vorwort des Herausgebers“ zu schließen - bei der Überarbeitung die Sache so aufgeteilt zu haben, dass Widmer zuerst änderte und daraufhin Sailer die Neufassung der Texte überprüfte. Nach eigenen Angaben war Widmer mit dieser Arbeit bereits über die Hälfte hinausgekommen, als Sailer starb und ihm der Text „seinem prüfenden Auge und seiner nachbessernden Hand nun nicht mehr zur Aneignung unterlegt werden“ konnte 5 . Lediglich die beiden selbstverfassten Texte der Vorrede und des Unterrichts, der sich wie eine Bilanz seines Nachdenkens über das Gebet liest, gelangten noch zur Publikation. „In gerechter Scheu, dem Gott-vertrauten und Gebets-kundigen Geiste Sailers Ihm-Fremdartiges zu leihen“, entschloss Widmer sich dazu, „dasselbe so bestehen zu lassen, wie es [1789] in der dritten rechtmäßigen Ausgabe von ihm ausgegangen war“. „Vorzüglich bei diesem Werke“ sei ihm dies eine „Gewissensache“ gewesen 6 . Damit allerdings, so scheint es, war auch das, was bis dahin erarbeitet war, für die Nachwelt verloren. Denn weder in Sailers noch in Widmers Nachlass, noch in den sogenannten Ausgangsbüchern des Verlages der Seidel’schen Buchhandlung findet sich ein Hinweis auf das Manuskript. 4 S. den im Anhang publizierten Brief des Verlages an Widmer, 223. 5 Vgl. SW, 23, IX. 6 Vgl. ebd. <?page no="13"?> Zur Entstehung der beiden Gebetbücher 3 a) Zur Entstehung der beiden Gebetbücher. Vergleichende Analysen als das Haupterkenntnismittel dieser Untersuchung. Die bibliographische Situation. Hält man sich darum an das Publizierte, so ist zweifellos das Vollständige Lese- und Betbuch das gewichtigere der beiden, und insofern läge es nahe, sich in einer Arbeit wie dieser auf die Darstellung seines Aufbaus zu konzentrieren und das kleine Vollständige Gebetbuch für katholische Christen allenfalls dann heranzuziehen, wenn es um die Frage geht, wie Sailer seine weitläufig entwickelten Betrachtungen für das „einfache Volk“ reduziert oder umgeformt hat. Dagegen dürfte es, um die leitenden Gedanken herauszuarbeiten, genügen, sich auf das größere Werk zu beschränken. Tatsächlich betrachten die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich diesem Werkbereich Sailers gewidmet haben, die Gebetbücher als e i n e n Text, der als genialer Wurf der Jahre um 1783 zu gelten hat und dessen Besonderheiten sich mit einigen kräftigen Strichen herausarbeiten lassen 7 . Schließlich hatte sich Sailer, ehe andere darüber schrieben, über seine Absichten selbst klar genug in einer im Jahr der Erstausgabe erschienenen Programmschrift mit dem Titel Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollkommenen Lese- und Betbuches ausgesprochen. Wollte man nur diesen theologischen Kern des Ganzen in den Blick nehmen, so es bedürfte darum kaum, einer größeren wissenschaftlichen Arbeit. Alles, was darüber zu sagen ist, scheint bereits gesagt. Wer näher zusieht, wird indessen durchaus Entwicklungen feststellen - äußerliche ebensowohl wie innere. Viel Muse hatte Sailer auf die Abfassung der beiden Bände mit insgesamt über 1100 Seiten verwand - und verwenden können, da er in der sogenannten „ersten Brachzeit“, der Jahre 1781 bis 1784 nach seiner Entlassung aus Ingolstadt, unbelastet von Vorlesungsverpflichtungen der akademischen Lehre gewesen war. In zwei von Hubert Schiel mitgeteilten Texten 8 berichtet er darüber. Deren Inhalt lässt sich in aller Kürze etwa so zusammenfassen: Als junger Ingolstädter Professor erhielt er im Jahre 1781 den Auftrag zur Zensur derjenigen Andachtsliteratur, die entweder in Kurbayern erschienen war oder von außen in diesen Markt hineindrängte. Damit leistete die theologische Fakultät einem entsprechenden Auftrag des Kurfürsten Karl Theodor, der auch die Abgabe der Bücher angeordnet hatte, Folge. Sailer spricht von einer „Wolke von papierener Andacht“, die ihn bald nach Beginn seiner Arbeit umgab. Nur weniges darunter konnte ihm gefallen: 7 Vgl. Schrott, 1937, 244ff., Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 224ff., Johann Hofmeier, Seelsorge und Seelsorger. Eine Untersuchung zur Pastoraltheologie Johann Michael Sailers, Regensburg, 1967, 89ff., Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit. Die liturgischen Ansichten und Bestrebungen Johann Michael Sailers, Regensburg 1976, 48ff. und Bernhard Gajek, Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, 121ff. 8 Schiel, Bd. 1, 69-75. <?page no="14"?> Einleitung 4 „In den meisten Betbüchern fand ich soviel Unrichtiges, Tändelndes, Fabelhaftes, Mechanisches und dem Geiste der wahren Andacht konträres Zeug, daß mich des katholischen Volkes jammerte und ich auf der Stelle den Entschluß faßte, ein nützliches Erbauungsbuch für das Volk auszuarbeiten. […] Diese Gedanken auszuführen schaffte mir die Fürsehung bald freie Weile genug.“ 9 Gegenüber seinem Sekretär Diepenbrock erwähnte der spätere Bischof von Regensburg dagegen seinen Freund Sebastian Winkelhofer als Impulsgeber, der ihn zuerst bedrängen musste, ehe er sich zu der Arbeit herbeiließ. „Schau“, sagt nach dieser Darstellung dieser zu ihm, „dies ist eine Aufforderung Gottes an dich, ein besseres Gebetbuch zu verfassen.“ 10 Wesentlich an beiden divergierenden Darstellungen erscheint in jedem Fall, dass sein Motiv zur Ausarbeitung des Werkes über die damals verbreitete Bereitschaft der Aufklärer bilden zu wollen hinausging. Er sah darin einen Anruf Gottes, einer Not Abhilfe zu schaffen, gegen die er sich nicht verweigern durfte. Mit viel Liebe und der finanziellen Unterstützung zweier Freunde organisierte er selbst den Druck und verfasste darüber hinaus die eben erwähnte Programmschrift, die natürlich auch dazu bestimmt war, dem Buch die gehörige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Merkwürdigerweise kündigt die werbende Schrift von 1783 Gebete für die erste Auflage an, die erst 1785, im Jahr der zweiten (welche die erste Verlagsausgabe war), in einem Zusatz „für die Besitzer der ersten Ausgabe“ publiziert wurden. Dass diese Gebete bei der Drucklegung zwei Jahre zuvor noch nicht ausgearbeitet gewesen sein sollen, scheint wenig glaubhaft. Naheliegender dürfte es sein, Sailer die durchaus raffinierte Umgehung der kirchlichen Zensur, welche er zu fürchten hatte, zu unterstellen. Hatte er doch den vollständigen Text des Messordos einschließlich des eucharistischen Hochgebets, des sogenannten römischen Kanons, ins Deutsche übertragen, was damals noch als problematisch galt. 11 Die erste Auflage verzichtete nun auf die Widergabe der entscheidenden Worte des Einsetzungsberichtes, die üblicherweise als der Moment der Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi und deshalb in jeder Silbe als besonders sakrosankt verstanden wurden. Die späteren Zusätze reichten diese allerdings nach. So dürften die ebenfalls darin publizierten, viel längeren Gebete, wie etwa die „Alttestamentischen Begebenheiten in biblischen Litaneyen für den Verstand und das Herz des erbauungssuchenden Volkes“ wohl nur zur Tarnung des erst im hinteren Drittel unauffällig Abgedruckten beigegeben worden sein. Damit ließe sich auch der auffallende Umstand erklären, dass dem separat gedruckten Zusatz das Imprimatur fehlte. Hingegen konnte Sailer angesichts des großen Erfolgs, den die erste Auflage gehabt hatte, bei der Vorbereitung der zweiten Auflage, die nun alle Messtexte vollständig enthielt, sicher sein, dass er Einwendungen der Behörden nicht mehr zu erwarten habe. Ohnehin oblag die Zensur der zweiten Auflage Joseph Thomas de Haiden, seinem Mitstreiter und Vorgesetzten bei der Umsetzung der Dillinger Studienreform, zu welcher er mittlerweile von dem Trierer 9 Ebd., 68. 10 Ebd., 70f. 11 Dazu s.u. 43 und 98-100. <?page no="15"?> Zur Entstehung der beiden Gebetbücher 5 Kurfürst und Augsburger Fürstbischof Clemens Wenzeslaus berufen worden war. Von da an hatte Sailer von dieser Seite her nichts zu befürchten. In jedem Fall hat ihn die Beschäftigung mit dem größeren Werk bis zu seiner Wiederanstellung als Professor in Dillingen in Beschlag genommen. Danach blieb ihm kaum noch die Zeit, immer wieder Hand daran zu legen. Bei dem umfangreichen Text hätte es wohl zu viel Zeit erfordert, sich jeweils wieder in die Gedanken der einzelnen Betrachtungen einzuarbeiten. So hat der Wandel, dem auch Sailers Denken in dieser für die europäische Geistesgeschichte so regsamen Zeit unterlag, nach 1789, dem Jahr der dritten Auflage, in dem großen Gebetbuch keine Spuren mehr hinterlassen. Dennoch hat ihn das Werk nicht ruhen lassen. Dabei kam ihm entgegen, dass er bereits 1785 einen „gemeinnützige[n]Auszug“, eben das kleine Gebetbuch, fertiggestellt hatte. Denn in dieser handlicheren Form konnte Sailer die einzelnen Teile offenkundig viel leichter überblicken und so entsprechende Überarbeitungen eintragen. Das Ausmaß solcher oft unscheinbaren Änderungen, die sich die vorliegende Untersuchung aufzuführen bestrebt - wenn auch nicht vollständig, so doch in repräsentativer Breite - macht deutlich, dass es ihm ein großes Anliegen war, die Texte immer wieder auf ihre „Richtigkeit“, auf die Wahrheit ihrer Aussage für die jeweilige Zeit zu überprüfen, und sie seiner eigenen reifenden Erkenntnis entsprechend zu verändern. Beim Vollständigen Lese- und Gebetbuch blieb das von 1789 an bis zuletzt ein Wunsch. Doch im kleineren Werk hat Sailer neuen Sichtweisen Rechnung tragen können, ohne sich auf Kosten anderer vielfältiger Verpflichtungen zu verausgaben. Entgegen der oben angeführten in der Forschung verbreiteten Meinung ist darum festzustellen, dass sich der sogenannte Auszug zu seinem „Original“, dem großen Gebetbuch, was seinen Wert als Quelle angeht, gerade umgekehrt zum Umfang verhält. Und so konzentriert sich die vorliegende Untersuchung darauf, dass es mittels der zahlreichen Auflagen des kleinen Gebetbuchs zunächst möglich ist, den großen Entwurf von 1783 als Zeugnis einer bestimmten Form katholischer Frömmigkeit am Ende des 18. Jahrhunderts zu würdigen. Dies gleichsam wie eine Art Rückblick. Denn bis auf das Vorwort und den „Vollständigen Unterricht von dem Gebete“ ist uns die Gestalt der Neubearbeitung unbekannt. Zum anderen aber kann durch die vielen kleinen stets fortschreitenden Veränderungen im Gedankengefüge, den sich wandelnden Auffassungen vom Gebet nachgeforscht werden. Dadurch ergibt sich der folgende Aufbau: Die beiden Entwürfe des „Vollständigen Unterrichts von dem Gebet“ von 1783 und 1831 rahmen die ganze Abhandlung. Der frühere Text wird im ersten Kapitel mit ausgewählten zeitgenössischen Gebetbüchern verglichen. Für ein wirklichkeitsgesättigtes Urteil über die Sailersche Leistung ist dies unabdingbar. Der ältere Text wird im dritten Kapitel als der Endpunkt eines Denkweges dargestellt, der in einigen markanten Stationen beschrieben wird. Das mittlere ist zugleich das umfangreichste Kapitel. In ihm werden der Aufbau des großen Gebetbuchs kommentiert wiedergegeben und die Veränderungen im kleinen Gebetbuch nachgezeichnet. So werden die im Vorhergehenden angerissenen Gedanken vertieft; gleichzeitig bilden sie das Fundament, auf welches sich die einzelnen Bewegungen des Denkweges stets rückbeziehen <?page no="16"?> Einleitung 6 lassen. Die Arbeit ist also nicht in historische und systematische Kapitel aufgeteilt. Stattdessen wird in jeweils unterschiedlicher Gewichtung stets nach einer Verbindung der beiden Zugangsweisen gesucht. Die Analyse des großen Gebetbuchs stützt sich vor allem auf die erste Auflage. Bei der Umstellung einzelner Abschnitte oder Elemente werden die beiden folgenden Auflagen herangezogen. Die dritte Auflage wird dabei im Allgemeinen nach der bis auf den „Vollständigen Unterricht von dem Gebete“ textgleichen Fassung aus den Sämmtlichen Werken des Jahres 1840 (d.i. die vierte Auflage) berücksichtigt. Dank der reichhaltigen Sammlung an Saileriana, die die Bibliothek der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos in Benediktbeuern beherbergt, lagen dieser Untersuchung acht verschiedene Auflagen des kleinen Gebetbuchs zugrunde, die systematisch Text für Text miteinander verglichen werden konnten: [1.] München, (Lentner), 1785 2., rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, München (Lentner), 1787 3., rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, München (Lentner), 1789 5., rechtmäßige, verbesserte Auflage, München (Lentner), 1793 Neue, verbesserte und vermehrte Auflage, München (Lerch), 1814 12 9., rechtmässige Auflage, München (Lentner), 1816 11., mit besonderem Fleiße durchgesehene Ausgabe, München (Lentner), [1818] 12., verbesserte und vermehrte Auflage, Sulzbach (Seidel), 1831 (= SW Bd. 22) Umfragen in anderen Bibliotheken zufolge sind weitere Ausgaben zwischen 1793 und 1813 nicht nachweisbar. b) Die These So ist der Wandel trotz der verlorengegangenen Handschrift der Neufassung auch aus dem am Tage Liegenden herauszulesen, und seine Untersuchung hat zu der These dieser Arbeit geführt: Sailers ebenso in seiner Wissenschaft wie in der fortgesetzten Bearbeitung der Gebetbücher andauernde Beschäftigung mit der Sache des Betens ließ ihn, auf dem Boden einer Sprache, die in Reinheit aus dem Herzen hervorgehen wollte, einen eudämonistisch verengten Gebetsbegriff nach und nach aufbrechen und am Ende zur Anbetung und dem immerwährenden Gebet als der idealen Weise aller Frömmigkeit gelangen. Bei der Persönlichkeit, die Sailer ohne Zweifel war, kommt diese Entwicklung einem Paradigma der Epoche gleich, das den über den Untersuchungsrahmen hinaus gehenden Schluss zulässt, es werde in dem Weg von der Ablehnung der überkommenen barocken Frömmigkeit hin zu einer wiederum der Tradition des geistlichen Lebens verbundenen Andacht in Anbetung und immerwährendem Gebet ein Fundament gelegt, von dem aus die katholische Frömmigkeit des deutsch- 12 Die Ausgabe des Verlegers Lerch aus dem Jahr 1814 ist identisch mit derjenigen Lentners, die ein Jahr früher erschienen war. Es handelt sich dabei wohl um einen Raubdruck. <?page no="17"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 7 sprachigen Raums im 19. Jahrhundert den noch im 18. Jahrhundert geübten Formen neu und positiv gegenübertreten konnte. Das Anliegen der Arbeit geht darum über den Bezug zur Person Sailers hinaus und ihr Interesse gilt weniger biographischen Details als vielmehr dem Theologen. Genauer: sie gilt jenem bestimmten Weg, den seine Theologie im Gespräch mit den damaligen Zeitströmungen eingeschlagen hatte. Um es begrifflich zu pointieren: Nicht soll Personengeschichte im Detail betrieben werden 13 , sondern Frömmigkeitsgeschichte und Frömmigkeitstheologie. Freilich bilden selbstverständlich Vorkommnisse im Leben Sailers und nähere Beziehungen zu Personen, die ihm begegnet sind, eine wichtige methodische Stütze. Doch soll ihre Darstellung vor allem dem Anliegen der Frömmigkeitsforschung und darum nur mittelbar der Erkenntnis über unseren Autor zu Gute kommen. Von daher wird auf die Erforschung manch interessanter Teilfragen verzichtet, die man bei einer werkgeschichtlich orientierten Themenstellung mit Recht erwarten würde. So ist hier über die Entstehung des Gebetbuchs nicht mehr zu erfahren, als das, was soeben darüber berichtet wurde und zum größten Teil der einschlägigen Forschung längst bekannt ist. Auch werden die Illustrationen zum Gebetbuch nur in einem Anhang dem Studium allgemein zugänglich gemacht, ohne dass darauf im Haupttext näher eingegangen würde. Auf die Ausstattung hatte Sailer, wie wir aus dem Briefwechsel mit Lavater wissen 14 , großen Wert gelegt; und sogar Daniel Chodowiecki steuerte dazu einen Stich bei. Dennoch ist ihr Aussagewert für sich genommen nicht von hoher Bedeutung. Ebenso werden die Spuren, sofern sich Fragen auftun, die eine vertiefte Einbettung Sailers über die Frömmigkeitsgeschichte hinaus in die allgemeine Geistesgeschichte nahe legen, nicht weiter verfolgt. Sailers Verhältnis zur Romantik etwa ist durchaus für die allgemeine religiöse Entwicklung von größerem Interesse. Aber auch hier schien eine Beschränkung auf die Aspekte der Frömmigkeits- und Gebetbuchforschung zu reiferen Ergebnissen zu führen, als dies bei einer immer stärkeren Ausweitung des Gesichtskreises der Fall hätte sein können. c) Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen Bei der so angedeuteten Perspektive mag sich der Leser zunächst fragen, was genau mit einem Begriff wie „Frömmigkeitstheologie“ gemeint sein soll? - Es war der Kirchenhistoriker Berndt Hamm, der sich darum verdient gemacht hatte, am Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts Begriff und Sache der Wissenschaft ins Bewusstsein gerückt zu haben. 15 Der Ideenund, in einem engeren Sinn, der 13 Einführend zu Sailer: Georg Schwaiger, Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, München [u.a.], 1982. Grundlegend und bis heute nicht überholt das zweibändige Quellenwerk: Hubert Schiel, Johann Michael Sailer, Regensburg, 1948-1952. 14 Zu der Verbindung der beiden Männer miteinander s. S. 186. 15 Vgl. Berndt Hamm, Frömmigkeit als Gegenstand theologischer Forschung. Methodisch-historische Überlegungen am Beispiel von Spätmittelalter und Reformation. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 74 (1977), 464-497. <?page no="18"?> Einleitung 8 Theologiegeschichte zugehörig richtet er den Blick dabei weniger auf die „Geschichte bedeutender Männer und Frauen“ 16 als auf einen Transformationsprozess „zwischen der Hochtheologie und der Frömmigkeitspraxis des Volkes“ 17 . Durch diesen soll die Beziehung der beiden zueinander sichtbar gemacht und zur „Erhellung der Geschichte theologischer Theoriebildung“ 18 beigetragen werden. Auf diese Weise könne es, so Hamm, gelingen, mitunter die Abhängigkeit, in jedem Fall aber die Zusammengehörigkeit einer inneren Frömmigkeit des religiösen Subjekts mit der sich in verschiedenen Formen und Strukturen äußernden Frömmigkeit von Gruppen, Gemeinschaften oder sonst gearteten Kreisen aufzuzeigen. Aus der kirchengeschichtlichen Forschung herrührend stellt der Begriff also eine Vermittlung zur Systematischen Theologie her. Für die eigene Forschung richtete und richtet Hamm dabei den Blick auf das Spätmittelalter und die Reformationszeit und arbeitete heraus, dass Frömmigkeitstheologie genau dort herrschend zu werden beginnt, wo ein Überschuss an Rationalität in der wissenschaftlichen Theologie dem gläubigen Vollzug im Wege zu stehen scheint. Deshalb weißt er auch in einer neueren Untersuchung darauf hin, dass das Phänomen nicht auf diesen Zeitabschnitt beschränkt bleibt. Bedeutende Analogien lassen sich beispielsweise auch für das 17. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Pietismus beobachten. 19 Überbordend rational ausgerichtet ist ganz sicher auch die katholische Theologie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Insofern bietet es sich geradezu an, das skizzierte Anliegen für unsere Arbeit aufzunehmen. Schon Ignaz Weilner hatte, das Phänomen erkennend, knapp dreißig Jahre vor Hamm von Sailers „Frömmigkeitstheorie“ gesprochen und deren geistesgeschichtliche Wurzeln zu erhellen versucht. 20 Sailer kann also sicherlich in der intendierten Weise als ein Frömmigkeitstheologe bezeichnet und sein Gebetbuch unter dieser Prämisse betrachtet werden. Nun läge es nahe, die Transformationen der akademischen Theologie Sailers auf die Ebene der Andachtsliteratur in der Beziehung zu einem einzigen herausragenden Werk konzentriert nachzuzeichnen. Eine solche Stellung im gesamten Schaffen Sailers besitzt ohne Zweifel das moraltheologische Hauptwerk Handbuch der christlichen Moral. Dennoch folgen wir, unserem Untersuchungszweck entsprechend, einer anderen Vorgehensweise - so reizvoll diese Beschränkung wäre, weil sie die tatsächlich vorhandenen Verbindungen zur Moraltheologie viel 16 Ebd., 467. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus Hans Richard Gerhard Günther, Idee einer Geschichte der Frömmigkeit. In: Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, 190 (1948), 7. 17 Ebd., 496. Vgl. zum Begriff der Transformation: Christoph Burger, Transformation theologischer Ergebnisse für Laien im späten Mittelalter und bei Martin Luther. In: Praxis Pietatis, Stuttgart u.a., 1999, 47-64. 18 Ebd., 473. 19 Vgl. Bernd Hamm, Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. und 16. Jahrhundert. In: Praxis Pietatis, Stuttgart u.a., 1999, 9-46, hier: 9. In diesem Aufsatz findet sich auch eine Reflexion über Rezeption und Kritik des Begriffes Frömmigkeitstheologie. 20 Vgl. Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 258. <?page no="19"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 9 breiter zeigen würde, als es hier geschehen kann. Dabei bliebe aber ein für unser Verständnis noch wesentlicheres Charakteristikum Sailers außer Acht, das in unserem Vorgehen gleichsam mitthematisiert werden soll, weil es in vielen Fällen der Beweggrund war, der ihn zur Abfassung seiner Schriften drängte. Für gewöhnlich pflegt man Sailer gerne ein streng systematisches Denken abzusprechen. Diese Feststellung ist zutreffend, darf aber nicht dazu verleiten, dafür Blockaden innerhalb der Grenzen seines Intellekts verantwortlich zu machen. Vielmehr kommt dadurch seine theologische Charaktereigenschaft zum Ausdruck, und eben diese sollte darum einen Ausgangspunkt unserer Betrachtung bilden. Sailers Denken entwickelte sich stets bezogen auf konkrete Gesprächspartner, und seine Schriften können auch als Einwürfe zu einem höchst angeregten, bisweilen aufgeregten Gespräch mit seinen Zeitgenossen verstanden werden. Das gab seinen Werken auch die immanente Form einer immer wieder neu ansetzenden Anrede. Schließlich ist es kein Zufall, dass man beim Lesen seiner Schriften oft den Eindruck hat, es handle sich dabei - einerlei ob der Zusammenhang eine Vorlesung oder ein Andachtsbuch ist - um ein Versatzstück aus einer Predigt. Es ist stets der kerygmatische Anspruch, unter welchem er steht und von dem aus er sich an seine Leser- und Zuhörerschaft wand, diese oft mehr emotional als rational fordernd, mehr noch als den Verstand das Herz berührend. Wenn also nicht allein die transformierten Inhalte zum Gegenstand der Untersuchung werden sollten, sondern auch die Sprache und die Adressaten seiner Rede, so musste, sollte der Kontext des Gespräches erfasst und die Gegenreden zu seiner Stimme hörbar werden, die Auswahl aus seinem Schrifttum zumindest ein wenig ausgeweitet werden. Nur so erhält die zu imaginierende Zuhörerschaft Sailers ihre durchaus nicht homogene Kontur. Während beispielsweise die Glückseligkeitslehre oder das Handbuch der christlichen Moral vor allem verstanden werden können als eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants, bilden andererseits die vielen minderwertigen Gebetbücher, die bei der Aufgabe des Zensierens durch seine Hände gegangen waren, den ersten Anstoß für seinen eigenen Versuch, der sein innerstes Anliegen befördern sollte: die Heranbildung einer echten Frömmigkeit. Diesem Spannungsbogen zwischen einer intellektuellen Auseinandersetzung und dem alltäglich geübten geistlichen Leben muss auch die Auswahl der Schriften Sailers Rechnung tragen, die der Untersuchung als Bezugspunkte dienen. Übrigens müsste, Sailers Aussage zufolge, eine Liste der zensierten Bücher im Bayerischen Hauptstaatsarchiv liegen. Eine solche konnte dort aber nicht gefunden werden. So wissen wir nicht, welche Vorlagen es konkret waren, die in ihm jenen mächtigen Anstoß zur Abfassung seines Gebetbuchs freisetzten. Es bleibt uns darum nichts anderes übrig, als bei dem angestellten Vergleich der früheren Gebetbücher darauf zu achten, dass für die Zeit möglichst repräsentative Beispiele ausgewählt werden, notgedrungen das Subjektive einer solchen Entscheidung mit in Kauf nehmend 21 . Auch die rhetorischen Figuren, die seine Rede formen, sollen Aufmerksamkeit erhalten. Wenn Sailer, wie behauptet, unter dem Anspruch der Verkündigung steht, 21 S. S. 31ff. <?page no="20"?> Einleitung 10 so müssen wir vermuten, dass uns diese ebenso wie seine inhaltlichen Aussagen auf die Spur des Sinnes seiner Texte führen. Ist doch die Predigt eine spezifische Form der Rede, die mittels dieser dem gestellten Thema zu entsprechen versucht. Unbeschadet der Tatsache, dass eine genauere rhetorische Analyse nicht geleistet werden kann, geht unser Interesse darum über eine bloße Dichotomie von Form und Inhalt - von einem aus einer bedeutungslosen Schale abzulösenden Kern hinaus. Die Sprechweise bewegt sich selbst auf den Zielpunkt der Aussage zu und figuriert so diesen 22 . Sailer war jemand, der sich auf die Kunst der Rede verstand, der einen unverwechselbaren Stil entwickelte und deshalb auf seine Schüler selber stilprägend wirkte. In seinen frühen Jahren - das wird in dieser Arbeit deutlich werden - erhielt er dabei die entscheidenden Anregungen aus der literarischen und philosophischen Empfindsamkeit. Später beobachten wir, wie sich mancher Ausdruck, manche Texte hin zu den Sprachformen der Romantik wandelten. Freilich mangelte es bisher an den notwendigen Vorarbeiten, um den Texten auch sprachwissenschaftlich immer gebührend begegnen zu können. Gebetbücher sind auch dort eine nur wenig beachtete Literaturgattung. Erst neuerdings konnte Oliver Pfefferkorn eine Habilitationsschrift vorlegen, in welcher er eine Textsortenanalyse für evangelische Andachtsbücher des 16. und 17. Jahrhunderts durchführte 23 . Der aus der Textlinguistik stammende und sich nur langsam auf historische Texte ausweitende Begriff der Textsorte wäre wohl im Stande für die philologischen Aspekte unseres Vorhabens ein genaueres Instrumentarium zur Verfügung zu stellen. Die Arbeit Pfefferkorns konnte aber nicht herangezogen werden, da sie erst nach Abschluss der hier durchgeführten Analysen publiziert wurde. Es sei darum weiterführenden Arbeiten überlassen, den Textsorten eine größere Beachtung zu schenken. Ehe man sich nun auf so etwas wie die Frömmigkeitstheologie Sailers einlässt, bleibt zu klären, was unter Frömmigkeit hier eigentlich verstanden werden soll. Hamm selbst bevorzugt einen möglichst weiten Begriff: „Von ‚Frömmigkeit‘ kann man immer dann sprechen, wenn es - entweder auf der Theorieebene programmatischer Überlegung und gezielter Anleitung oder auf der Ebene der praktischen Realisierung - um die Verwirklichung bestimmter religiöser Glaubensweisen, Verkündigungen, Lehren, Ideen, Wertvorstellungen, Sorgen und Hoffnungen im konkreten Lebensvollzug durch eine bestimmte Lebensgestaltung geht. Konstitutiv für Frömmigkeit (‚pietas‘ oder ‚devotio‘) ist immer das Moment des aneignenden Vollzugs von Religion durch eine formgebende Gestaltung des Lebens - wobei diese Umsetzung von Religion in Lebensgestaltung beispielsweise als Meditationspraxis eines Mönchs, als Rosenkranzgebet einer Bürgersfrau oder als Altarstiftung einer Dorfgemeinde ihren Ausdruck finden kann.“ 24 22 Zu dem Zusammenhang zwischen Thema und Rhema s. Johannes Erben, Deutsche Grammatik. Ein Abriß, Ismaning, 1980, Abschnitt 630ff.: „Das, worüber gesprochen wird (‚Thema‘), wird jeweils durch weitere Mitteilungen und neue Aussagen darüber (‚Rhema‘) näher bestimmt.“ 23 Oliver Pfefferkorn, Übung der Gottseligkeit. Die Textsorten Predigt, Andacht und Gebet im deutschen Protestantismus des späten 16. und 17. Jahrhunderts, Frankfurt [u.a.], 2005. 24 Vgl. Bernd Hamm, Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. und 16. Jahrhundert. In: Praxis Pietatis, Stuttgart u.a., 1999, 11. <?page no="21"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 11 Diese Definition hat den Vorteil, sowohl keinen „Frömmigkeitsbegriff [zu] kreieren, der nicht in Kontinuität zur Sprachgewohnheit“ 25 steht, als auch unter dem Blickwinkel der Umsetzung ein wertvolles Erkenntnismittel an die Hand zu geben. Wird diese Transformation als das leitende Interesse des Sailerschen theologischen Bemühens erkannt, ist damit auch ein Schlüssel zum Verständnis seines Gebetbuchs gegeben: Die ständig fortgeführte Revision der Texte zeigt die Wichtigkeit an, die er der Sache beimaß; so sehr dass es wohl nicht vermessen ist zu behaupten: Das große und das kleine Gebetbuch gehören zu seinen Hauptwerken. Eng ist in dieser Umschreibung Hamms also die Verwiesenheit der Frömmigkeit auf die Theologie gefasst, so wie der Ausdruck Frömmigkeitstheologie andererseits über den Zielpunkt der betreffenden Theologie Auskunft gibt. Dabei entschwindet allerdings, indem der Rahmen dieser so verstandenen Frömmigkeit bewusst allgemein gehalten bleibt, der innere Gehalt des Begriffs. Hamm versucht seine Notwendigkeit vor allem von der Etymologie her zu gewinnen. Besonders auf Luthers Wortgebrauch hebt er ab. Diesem eignet die besondere Verbindung des im bürgerlichen Rechtsraum vorgefundenen „Rechtschaffen“ mit seiner theologischen Erkenntnis der Rechtfertigung. Ein solches Verständnis verhalf der von ihm gegründeten Konfession mitunter zur Ausbreitung im Bürgertum. 26 Später hat sich freilich diese politische Dimension verloren, so dass sie in einer modernen Definition keine Rolle mehr spielen kann. Mit dem Verlust dieses Bezugsrahmens tritt aber eine Leerstelle ein, die nur mit einem allgemeinen, undeutlichen Verweis auf „Religion“, nicht aber auf deren konkrete Gemeinschaft gefüllt wird. Auf diese Weise kann Hamm aber innerhalb seines Forschungsanliegens nicht deutlich machen, inwiefern sich Frömmigkeit von Religiosität oder Spiritualität unterscheidet. Genau diese Begriffe haben jedoch seit geraumer Zeit die Fachdiskussion besetzt, so dass man sie - sich ihres unterschiedlichen Bedeutungsgehalts nur noch vage bewusst - im gewöhnlichen Sprachgebrauch für austauschbar hält 27 . Wenn indessen jener Rahmen, worin sich Frömmigkeit und Theologie bewegen und worauf sie sich beziehen, nicht mehr recht sichtbar wird, ist dann nicht zu befürchten, 25 Vgl. Berndt Hamm, Frömmigkeit als Gegenstand theologischer Forschung. Methodisch-historische Überlegungen am Beispiel von Spätmittelalter und Reformation. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 74 (1977), 465, Anm. 4. In diesem früheren Aufsatz war für Hamm vor allem der Begriff der Verwirklichung herrschend. Wohl nach den ergänzenden Studien von Burger liegt der Schwerpunkt des Verständnisses nun auf der Transformation, der Umsetzung. 26 Vgl. dazu Heide Wunder, „iustitia, Teutonice fromkeyt“. Theologische Rechtfertigung und bürgerliche Rechtschaffenheit; ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines theologischen Konzepts. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Gütersloh 1998, 307-332. 27 Zwei Beispiele unter vielen: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Peter Dinzelbacher, Paderborn, Bd. 2, 2000 zeigt bereits im Titel die Verschiebung der Begrifflichkeit an, der sich der gesamte Ansatz unterwirft. „Religiosität / Frömmigkeit / Spiritualität“ (25) werden undifferenziert als eine Einheit betrachtet. Ähnlich verfährt Andreas Holzem, „Volksfrömmigkeit“. Zur Verabschiedung eines Begriffs. In: Theologische Quartalschrift. 182 (2002), 258-270. Der Autor verwendet die Begriffe als Synonyme. So etwa in dieser Weise: „Eine ‚Frömmigkeit der Vielen‘ kann nur dann als Gegensatz zu einer ‚Religiosität der Eliten‘ verstanden werden […].“ (260). Der Gegensatz betrifft die „Vielen“ und die „Eliten“ - nicht die Religiosität und die Frömmigkeit. <?page no="22"?> Einleitung 12 dass wichtige Merkmale bei der Beobachtung jener Transformation außer Acht bleiben? Eine weitere Schwierigkeit mit dem Begriff tritt auf, wenn man versucht, unseren Gegenstand der Untersuchung als ein Zeugnis der persönlichen Frömmigkeit sowohl in Bezug auf den Autor als auch in Bezug auf dessen Leser in den Blick zu bekommen. Einerseits muss man diese von einer so zu nennenden privaten, allein auf das Subjekt der Andacht konzentrierten Frömmigkeit abgrenzen. Diese Differenzierung hat neuerdings für das frühe Mittelalter Stephan Waldhoff als nicht sinnvoll abgewiesen und nennt dafür gute Gründe, die sich aus dem Zusammenhang der Epoche ergeben. 28 Wo aber - anders als im frühen Mittelalter - die Stellung des Subjekts sowohl im Kosmos als auch und vor allem in der Gesellschaft zum zentralen Paradigma wird, kann dies für all diejenigen, die die stille, d.h. einsame Andacht pflegen, nicht ohne Folgen bleiben. Und in der Tat lassen sich Beispiele einer rein selbstbezogenen Andacht für unseren Untersuchungszeitraum ohne weiteres finden. Es scheint für uns darum legitim, an der pointierenden Unterscheidung zwischen privater und persönlicher Frömmigkeit festzuhalten. Auf der anderen Seite - und diese Schwierigkeit ist bedeutender - muss man, wenn von persönlicher Frömmigkeit gesprochen wird, deren Gegenpol vor Augen haben. Lange war man gewohnt, diesen „Volksfrömmigkeit“ zu nennen. Indessen hat vor allem Wolfgang Brückner in vielen Publikationen dessen Preisgabe zu Gunsten der Lateinischen „Praxis pietatis“ gefordert. Thesenartig formuliert er: „‚Volksfrömmigkeit‘, das gibt es nicht; es gibt nur Frömmigkeit der Gläubigen und Aberglaube der Falschgläubigen. […] Was aber Aberglaube sei im Gegensatz zum Glauben, das lässt sich nicht konfessionell und überhaupt nicht geschmäcklerisch definieren, sondern nur auf der Grundlage von anthropologischen Kategorien.“ 29 Diese Grundeinstellung, die für die katholische Theologie deswegen besonders bedeutsam ist, weil der Autor bei der letzten Neuauflage des Lexikons für Theologie und Kirche das Redaktionsreferat für die Religiöse Volkskunde übernommen hatte, speist sich vor allem aus einer Kritik an der Herkunft des Begriffs von der Epoche der Aufklärung her: „Die heutige Nomenklatur, zumal im Deutschen, meint jedoch entsprechend der Volks- Doktrin, wie sie sich seit Johann Gottfried Herder in den Geistes- und Sozialwissenschaften herausgebildet hat, dass es da einen urständigen Mutterboden heilgebliebener Volksmenschlichkeit von alters her gäbe, auf dem die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Erneuerungsbewegungen gerade unserer Tage ihre Reformationen und Revolutionen errichten konnten. Die Missionspredigt des Mittelalters wie die Konfessionskatechese der katholischen Reform hingegen besaßen keine ideologischen Vorstellungen 28 Vgl. Stephan Waldhoff, Alcuins Gebetbuch für Karl den Großen. Seine Rekonstruktion und seine Stellung in der frühmittelalterlichen Geschichte der libelli precum. Münster, 2003, 9-15. 29 Wolfgang Brückner, Probleme der Frömmigkeitsforschung. Religiöse Volkskunde im öffentlichen Bewusstsein am Beispielfeld Lexikon. In: Ders. Frömmigkeit und Konfession, Würzburg, 2000, 91. <?page no="23"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 13 von Volksfrömmigkeit und keine Berührungsängste mit einer von den Sinnen getragenen ‚religio carnalis‘, vielmehr haben sie gerade diese Verleiblichung des Glaubenslebens als anthropologische Grundvoraussetzung aller, auch ihrer eigenen Religiosität und Christlichkeit gesehen.“ 30 Hier wird ein wertvolles Anliegen sichtbar. Die unselige Trennung zwischen einer Elitenfrömmigkeit und einer Frömmigkeit vor allem der niederen Stände verstellt den Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten. Im Anschluss daran und konsequent hat man in der kirchengeschichtlichen Forschung deshalb den Begriff der „Breitenreligiosität“ 31 zu installieren versucht. Brückner möchte dagegen die alte schon von den Jesuiten verwendete „Praxis pietatis“ in den Blick nehmen und plädiert daher für eine Reduktion auf den Begriff der Frömmigkeit: „Das [sc. Praxis pietatis] lässt sich allein mit ‚Frömmigkeit‘ übersetzen, weil diese es nicht bloß mit ‚Volk‘ und ‚Volkstümlichkeit‘ zu tun hat, sondern die Aufgabe aller gelebten religiositas ist.“ 32 Im Sinne einer Unterscheidung, wie sie Hamm anbietet, ließe sich wohl sagen, dass die Religiöse Volkskunde das Feld der äußeren Frömmigkeit in den Blick nimmt, während die theologische Wissenschaft für die innere Frömmigkeit zuständig ist. Unberücksichtigt bleibt aber sowohl bei Brückner als auch bei Hamm die schlichte Erkenntnis, dass Religiosität ohne die Koordinaten einer konkreten Religion nicht möglich ist 33 . Diese verfügt aber, zumal was das Christentum mit seinen Konfessionen angeht, über eine ebenso das Glaubensgut vermittelnde als auch verkörpernde Institution, die dem einzelnen Gläubigen gegenübertritt und ohne deren Existenz er seinen Glauben schlechterdings nicht im Stande wäre zu entfalten. Es liegt darum auf der Hand: Die wissenschaftliche Definition von Frömmigkeit kommt ohne einen klaren Bezug auf das, was die jeweilige Religion konkret und gewissermaßen „handgreiflich“ vorgibt, nicht aus. Um über die Frömmigkeit sowohl bestimmter Personen als auch bestimmter Gruppen Auskunft zu erhalten, bedarf es zuerst eines Bewusstseins über die Frömmigkeit derjenigen Institution, die beide trägt und in ihrem Glauben erhält - und das ist die Kirche. Der einzelne Christ empfängt, was seine Religion lehrt, von der Kirche, und darum entwickelt sich sein religiöses Verhalten auch nicht ohne sie. Stimmt das? 30 Ebd., 83f. 31 Andreas Holzem, „Volksfrömmigkeit“. Zur Verabschiedung eines Begriffs. In: Theologische Quartalschrift. 182 (2002), 262ff. 32 Wolfgang Brückner, Probleme der Frömmigkeitsforschung. Religiöse Volkskunde im öffentlichen Bewusstsein am Beispielfeld Lexikon. In: Ders. Frömmigkeit und Konfession, Würzburg, 2000, 83. 33 Vgl. dazu das Diktum des Philosophen George Santayana: „Der Versuch zu sprechen, ohne eine konkrete Sprache zu sprechen, ist ebenso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch, ohne Bezug auf eine bestimmte Religion religiös zu sein“ (Reason in Religion). Der genaue Nachweis ist mir unbekannt. Zitiert nach: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main, 1987, 44. Nicht zufällig brachte diese Einsicht den Ethnologen Geertz dazu, sich auf die dichte Beschreibung kultureller Mikrosysteme zu konzentrieren, damit die wissenschaftliche Erkenntnis über fremde Kulturen und Religionen immer auf die konkrete Gestalt und ihrer Bedingungen bezogen bleibt. <?page no="24"?> Einleitung 14 Mit Richard Schaeffler können wir dieses Verhältnis des einzelnen Christen zu seiner Kirche als einen Dialog betrachten. Demnach ist die Kirche selbst „Kommunikationsgemeinschaft.“ Nicht so, als bestünde diese, damit alle am Gespräch Beteiligten zu einer Uniformität ihrer Aussagen gelangen: „Das Ziel dieses Dialogs besteht darin, daß alle, in der Diversität ihrer Aussagen, entdecken, daß sie vom Gleichen sprechen, aber so, daß sie einander an die Identität eines Anspruchs erinnern, den sie auf unverwechselbare Weise zu beantworten haben.“ 34 Hier ist allgemein vom Glauben die Rede. Ist aber aufgrund des dogmatische Axioms von der Entsprechung von Glaube und Gebet, der Lex credendi und der Lex orandi 35 der Übertrag auf jenen innersten Akt der Frömmigkeit, den wir Gebet nennen, nicht genau deshalb gefordert? Das, was in dieser Kommunikationsgemeinschaft zuallererst geschieht, ist der Austausch, ist die Erzählung darüber, wie Gott erfahren wurde: die Erzählung dessen, was diese Gemeinschaft begründet und sie durch die Zeiten getragen hat. Die Anamnese ist also nicht nur eine Grundvoraussetzung für das Faktum des Glaubens, sondern auch für dessen Vollzug. Sie gehört darum - auch dies hat Schaeffler in anderem Zusammenhang gezeigt - zum Wesen des Betens. 36 Jede Frömmigkeitsforschung mindert also die Erkenntnisfähigkeit gegenüber ihrem Gegenstand, wenn sie dessen ekklesiologische Dimension nicht beachtet. Bei Brückner verwundert dieser Mangel um so mehr, da er sich selbst dezidiert auf die Arbeit des Volkskundlers Georg Schreiber rückbezieht, der in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen die damalige ideologische Engführung der religiösen Volkskunde von einer spezifisch „kirchlichen Volkskunde“ sprechen wollte. Diese „umklammert alles Volkshafte, das aus der kirchlichen Wurzel aufstrebt […und] umschließt alles Kirchliche, das im Volkstum seine Prägung fand.“ 37 34 Richard Schaeffler, Die Kirche als Erzähl- und Überlieferungsgemeinschaft. In: Kirche sein, Freiburg [u.a.], 1994, 210. Dieses Verhältnis zwischen dem persönlichen Glauben und dem Glauben der Kirche besteht nach Schaeffler ebenso für die wissenschaftliche Theologie und der Kirche. „Die vieldiskutierte Frage nach dem Verhältnis zwischen ‚Kirchlichkeit‘ der Theologie und ihrer Autonomie als Wissenschaft läßt sich daher, unter sprachphilosophischen Gesichtspunkten, so beantworten: Die ‚Kirchlichkeit‘ der Theologie beruht nur sekundär auf der Rechtsaufsicht kirchlicher Autoritäten über die Ausübung theologischer Lehre; primär beruht sie darauf, daß die theologische Argumentation ihren Sachbezug und Bedeutungsgehalt nur durch ihren Bezug auf die religiöse Sprache der religiösen Überlieferungsgemeinschaft gewinnt und behält.“ (Ders., Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott; eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf, 1989, 313). Dazu ausführlicher: Ders., Wahrheit und Institution. Sprachphilosophische Überlegungen zu einem theologischen Thema. In: Die Theologie und das Lehramt, Freiburg [u.a.], 1982, 152-200. 35 Vgl. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, herausgegeben von Heinrich Denzinger, deutsch von Peter Hünermann, Freiburg [u.a.], 1991, Nr. 249. 36 Vgl. Ders., Kleine Sprachlehre des Gebets, Einsiedeln [u.a.], 1988, 50ff. 37 Georg Schreiber, Nationale und Internationale Volkskunde, Düsseldorf, 1930, 54. Genauer hat er sich darüber in dem Artikel: Kirchliche Volkskunde. In: Deutsche Volkskunde, Berlin, 1928 (= Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaften, H. 2), 1-9 verbreitet. <?page no="25"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 15 Den Dreh- und Angelpunkt der Erforschung einer Volksfrömmigkeit bildet deshalb die den Glauben vermittelnde Kirche, und zwar nicht allein und wohl auch nicht in erster Linie als „katechetische Anstalt“, sondern in der Weise, wie sie selbst ihre eigene Frömmigkeit äußert. Ausgangspunkt für Schreibers kirchliche Volkskunde ist darum die Wirkung der Liturgie auf die Volksfrömmigkeit. Dort nämlich, wo die Kirche tut, was sie wesentlich ausmacht - ihr Liturgie genanntes öffentliches Gebet - entfaltet sie auch ganz offensichtlich die größte Wirksamkeit auf das Leben der Gläubigen. Im Gesamtrahmen der Frömmigkeit der Kirche ist deshalb an dem Begriff der Volksfrömmigkeit weiterhin festzuhalten - auch wenn er in unserer Darstellung als Folie für eine persönliche Frömmigkeit im Hintergrund verbleibt. Er bezeichnet dann nicht einen verengten Gegensatz zu der Frömmigkeit vermeintlicher Eliten. „Volksfrömmigkeit“, so hat es Balthasar Fischer im Rückgriff auf den italienischen Frömmigkeitsforscher Giuseppe de Luca treffend gesagt, „heißt solche Frömmigkeit nicht, weil es sie nur unterhalb der gebildeten Schichten gäbe, sondern weil es sie auch unterhalb der gebildeten Schichten gibt, weil sie nur eine Voraussetzung hat: das Gott liebende Herz eines getauften Menschen. Man könnte auch sagen, in dem Sinne, wie hier von Volk gesprochen wird, sind alle Volk, das Schulkind ebensowohl wie der Theologieprofessor.“ 38 In dem Wissen darum, „daß dort, wo das persönliche Beten verkümmert oder gar erstirbt, bald auch das liturgische Beten nicht mehr atmen und gedeihen kann“ 39 , kommt aber auch dem Begriff der persönlichen Frömmigkeit eine Notwendigkeit für den wissenschaftlichen Disput zu. Ist ja auch diese kein Phänomen, das für sich alleine besteht. Eingebetet in das Gesamtgewebe der Frömmigkeit muss sie immer in Relation genommen werden zur Volksfrömmigkeit, die gemeinsam gewissermaßen den Humus bilden auf dem die Frömmigkeit der Kirche wächst. Gerade das aufklärerische Erbe legt dies Spannungsfeld offen. Solange konnte man nämlich, das, was Volksfrömmigkeit umfasst, mit einer Praxis pietatis gleichsetzen, als sich das betende Subjekt in seiner Rolle noch nicht fragwürdig war. Zu allen Zeiten finden wir Gebetbücher für höhere oder niedrigere Stände. Meistens aber bezogen sie sich ganz selbstverständlich auf die traditionellen Formen der Andacht und der Liturgie. Erst in dem für uns zur Debatte stehenden Zeitraum sind diese in weiten Kreisen problematisch geworden. Den Einzelnen, oft den besagten geistigen Eliten, die sich schwer taten mit dem Beten, stand nunmehr, real oder eingebildet, ein Volk gegenüber, das diese Probleme gar nicht zu teilen schien. Die 38 Balthasar Fischer, Liturgie und Volksfrömmigkeit. In: Ders., Frömmigkeit der Kirche, Bonn, 2000, 45. Vgl. auch Giuseppe de Luca, Introduzione [alla storia della pietá]. In: Archivio italiano per la storia della pietá 1 (1951), II-LXVI. Guiseppe de Luca hat in der hierzulande beinahe gänzlich unbekannten großen Einleitung zum ersten Band des von ihm herausgegebenen Periodikums Archivio italiano per la storia della pietà die Programmatik entwickelt, die Geschichte der Frömmigkeit aus den Gegensätzen von Liebe zu Gott und Hass gegen Gott (der nicht verwechselt werden darf mit Unwissenheit oder Gleichgültigkeit) zu begreifen: „Contrariorum eadem est ratio, tema dell’Archivio sarà, con la pietà o presenza amato di Dio, l’empietà che è presenza odiata di Dio.“ Ebd. XXXIV ([XXIV]). 39 Balthasar Fischer, Die Dimension des persönlichen Betens in der christlichen Existenz. In: Ebd., 59. <?page no="26"?> Einleitung 16 oft beißende Kritik der intellektuellen Schicht wurzelte in dieser Not der geistlichen Einsamkeit. Es ist psychologisch leicht verständlich, welches Muster der Bewältigung derselben dabei entwickelt wurde: Um sich zu behaupten, mag es nötig erschienen sein, sich kritisch von dieser so empfundenen „Menge“ abzugrenzen, sie zu diffamieren oder - so einer Menschenfreund bleibt - zu versuchen, sie in einem als wahr erkannten Sinne zu bilden. Je mehr indessen in diesem letzteren Fall das Motiv echter Nächstenliebe eine wesentliche Rolle spielte, umso eher konnte es geschehen, dass solche vermeintlichen Bildungsversuche die Entwicklung dessen, der ihn unternommen hatte, ebenfalls beförderten und ihm die Einsicht gewährten, es sei das Volk, so wie es bete, doch nicht zu verachten. Und das ist der Fall Sailers. Die Persönlichkeit des Beters braucht, um klarer konturiert zu werden, als Gegenüber die religiösen Ausdrucksformen eines Umfelds, das von ihm als „Alle“ empfunden wird und welches wir Volk nennen. So sehen wir auf diese Weise Johann Michael Sailer, wenn er sich schon den barocken Devotionsformen nicht mehr vorbehaltlos zuwenden konnte, doch dem früher Abgelehnten oder nicht Beachteten sich wieder annähern. Von der ländlichen Frömmigkeit seiner frühen Kindheit geprägt, vor allem aber durch den Geist der Jesuitenschule und den Umgang mit Freunden, gab er an seine Leser zurück, was und wie er zu beten gelernt hatte. Wir können in dieser Untersuchung kaum etwas darüber sagen, wie die Menge der Käufer mit seinem Buch umgegangen ist. Und dennoch werfen wir einen Blick in das Movens der Frömmigkeit des Volkes, dessen Sailer, wie er sagte, jammerte 40 und dem er versuchte, seine Stimme zu geben: Ist doch ein Buch, zumal wie das Sailersche Gebetbuch, immer ein Anruf an den Einzelnen, dessen Antwort weder für die Kirche als ganze noch für eine konkrete Gemeinschaft, die mit dem Einzelnen verbunden ist, belanglos bleibt. Spiegel jener Übereinstimmung des inneren und äußeren Kultes, um die es immer wieder zu ringen gilt, damit sich die Frömmigkeit der Kirche aufbaut. Der so verstandene und hier verwendete Begriff der Frömmigkeit weiß um diese alte, dem kirchlichen Verständnis von „pius“ und „pietas“ eigene Bedeutung 41 und führt, anders als es die Konnotation „rechtschaffen“ erlaubt, zu einer hierarchischen Stufung seiner Gegenstände: Zentrale Handlung des Frommen ist immer das Gebet, in dem sich der Glaube zuerst verwirklicht. Alle weiteren frommen Übungen und Äußerungen hängen von ihm ab und ordnen sich ihm zu. Wenden wir uns unter dieser Hinsicht der Andachtsliteratur zu, so erkennen wir wie bedeutend es war, dass Aloys Schrott, der Verfasser eines auch heute noch beachtenswerten Aufsatzes über die Andachtsliteratur, sein Bemühen darum korrekt verortete, indem er seine Ausführungen mit den Worten begann: „Je mehr sich die Kirchengeschichte auf ihr eigenes Wesen als einer theologischen Wissenschaft besinnt, um so deutlicher wird es, dass das innere übernatürliche Leben der Kirche der eigentlichste und zentralste Gegenstand ihres Forschens sein muß. Das 40 Vgl. S. 4. 41 Vgl. Walter Dürig, Pietas liturgica. Studien zum Frömmigkeitsbegriff und zur Gottesvorstellung der abendländischen Liturgie, Regensburg, 1958, 89-97. <?page no="27"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 17 Leben Gottes in der Geschichte der in Christus erlösten Menschheit wird sich aber dort am deutlichsten offenbaren, wo die Kirche ihre innerste Berufung auslebt: die Gemeinde der Anbeter Gottes im Geist und in der Wahrheit zu sein.“ 42 Insofern Schrott den Sinn dessen zu erkennen gibt, was die Kirche öffentlich oder unsichtbar in allen ihren Gliedern ihrem Wesen nach tut: nämlich beten, ist diese Aussage nicht alleine für die Theologie, sondern auch für jede anthropologische Wissenschaft, die sich mit dem Phänomen der Frömmigkeit befassen möchte, von grundlegender Bedeutung. Erhalten wir dadurch doch eine konkrete Anweisung, wonach wir zu suchen, was wir zu erfragen haben. Nicht zunächst: was glaubt, was lehrt die Kirche über diesen Glauben, sondern: w i e betet sie? Von der sichtbaren Seite der Handlungen her - Schaeffler nennt sie „Knechts- und Entäußerungsgestalten göttlicher Worte und Handlungen“ 43 - ist deshalb darauf zu antworten, dass das Gebet der Kirche vor allem in den Tagzeiten geübt wird, zu welchem sich die Religiosen und Kleriker verpflichtet wissen. Doch wenn wir, wie soeben behauptet, daran festhalten, dass auch das liturgische Gebet erlahmt, wenn ihm nicht das persönliche Gebet dessen vorausgeht und folgt, der es übt, so muss es auch eine weniger sichtbare Seite geben, auf welcher der Einzelne alleine steht und betet. Wiederum hat Balthasar Fischer aufgezeigt, dass die Regel des heiligen Benedikt, die für das abendländische Verständnis des Tagzeitengebets normativ wurde, auch in dem Zueinander der beiden Pole die Haltung findet, die das Gebet der Kirche insgesamt ausmacht: das immerwährende Gebet, von dem oben die Rede war. Den liturgischen Akt des Betens nämlich - so versteht es Fischer - betrachtet Benedikt lediglich als den „Mutterboden des aus der Tiefe des Herzens aufsteigenden immerwährenden Gebets, von dem alle Tage der Mönche bestimmt sind“ 44 . Die Frage „Wie betet die Kirche? “ ins Grundsätzliche gewendet ist also zu beantworten: Die Kirche betet - genauso wie Sailer es von demjenigen aus, der recht beten gelernt habe, formuliert hatte - immer. Insofern darum ein Christ bestrebt ist, fromm zu sein, kann dies für uns jetzt nur noch heißen, dass er sich im obigen Sailerschen Sinne darum müht, sein Beten über die einzelnen Akte hinaus in Leben übergehen zu lassen, ihm Dauer zu verleihen und so versucht (oft mehr unbewusst als bewusst), in Beziehung zu gelangen mit dem immerwährenden Gebet der Kirche. Dass diese Intention bestimmte Lebensformen und -haltungen im Alltag zeitigt, ist ein wichtiges, doch letztlich sekundäres Erkennungsmerkmal des Phänomens. In erster Linie kann sich die Beobachtung dagegen im Detail darauf richten, welche Formen des Gebetes der fromme Christ selbst wählt und wie sich diese zu den Formen der Liturgie verhalten. - Weiter ist sein Umgang mit den von der Kirche festgesetzten Zeiten inter- 42 Schrott, 1937, 1. 43 Richard Schaeffler, Spiritus sapientiae et intellectus - spiritus scientiae et pietatis. Religionsphilosophische Überlegungen zum Verhältnis von Weisheit, Wissenschaft und Frömmigkeit und ihrer Zuordnung zum Geiste. In: Weisheit Gottes - Weisheit der Welt, St. Ottilien, Bd. 1, 1987, 25. 44 Balthasar Fischer, Das Verhältnis von festgelegtem Gemeinschaftsgebet und freiem Gebet des einzelnen in der Regel des heiligen Benedikts. In: Ebd., 29, der ganze betreffende Abschnitt 26-29. <?page no="28"?> Einleitung 18 essant. Er verbindet ferner seine Vorstellung von der Kirche sowohl mit Personen oder ganzen Gruppen, die ihm diese bedeuten, als auch mit konkreten Gebäuden und ihrem Inventar oder mit besonderen Orten. Schließlich versucht der Christ im Sinn der Kirche zu beten und erzeugt damit einen Reflex ihrer Glaubenswahrheiten. Aus der Priorität des Betens mit der Kirche gegenüber allen anderen frommen Werken lässt sich also der Gattung des Gebetbuchs als Zeugnis persönlicher Frömmigkeit mit dem folgenden Fragemuster, das sich aus dem Vergleich mit der in dieser Untersuchung verwendeten Andachtsliteratur herausgebildet hat, begegnen: a) Sind in dem Werk Offizien, Litaneien oder Weisen, den Rosenkranz zu beten, enthalten? So unterschiedlich diese Formen nämlich auch sein mögen, so sehr sind sie geeignet, das immerwährende Gebet zu figurieren. Leitet sich die erste ohnehin direkt von dem normgebenden Tun des Klerus ab, so bilden die beiden anderen für die Volksfrömmigkeit ebenso einen Ersatz wie sie auch den Aspekt des Individuellen, des auf die eigene Person Beschränkten in sich tragen. Versucht der Rosenkranz mit der Anzahl seiner Gesätze einerseits den Psalter abzubilden 45 , so bekennt er in jedem „Gegrüßet seist du, Maria“ andererseits das Bewusstsein für die allgemeine Situation der sündhaften Verstrickung, der sich die so geübte persönliche Conversio entgegenstellt. Nicht anders gehen Litaneien mit den Tagzeiten oft eine enge Verbindung miteinander ein, in dem sie sich als inständiges Bittgebet an diese anschließen und so bisweilen zu einem festen Bestandteil des Offiziums geworden zu sein scheinen. Nicht selten können sie auch die Tagzeiten ersetzen. Gerade darin zeigt sich aber auch die Zugehörigkeit zum Gebet, das der Einzelne übt, weil sie einer Aneinanderreihung von Stoßgebeten, jener intensivsten Form persönlichen Gebets der Mönche, gleichen. b) Was bedeutet der Dauer verleihende Rhythmus des Kirchenjahres: das Jahresostern, der Sonntag, der die Woche heiligt und ihr den Sinn gibt, die weiteren Herrenfeste ebenso wie alle anderen Feste der Heiligen? c) Rechnet das Gebetbuch mit dem Kirchgang des Beters? Spricht es das dort befindliche Inventar an (z.B. Weihwasserkessel, Altar)? d) Gliedert sich der Beter in eine Bruderschaft oder eine andere religiöse Verbindung ein? e) Bildet eine bestimmte Wallfahrt den Bezug zwischen Verfasser und Beter? f) Welche Glaubenswahrheiten werden auf welche Weise ausgedrückt? Denn grundsätzlich gilt: Wenn sich auch beide oftmals überschneiden, so ist ein Katechismus, dessen Gattung die Glaubensinhalte viel direkter und umfassender darstellen kann, kein Gebetbuch. Auch das Glaubensbekenntnis ist kein Traktat sondern eben Bekenntnis - vor sich selber, vor Gott und der Welt. Als solches ist es auch immer eine Vergewisserung darüber, in welchem Sinn man einzustimmen bereit ist in das große, eine Gebet. 45 Vgl. dazu Rainer Scherschel, Der Rosenkranz, das Jesusgebet des Westens, Freiburg [u.a.], 1982, 97ff. u.ö. <?page no="29"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 19 g) Schließlich: Nimmt das Gebet Maß am Urbuch des Christentums, der Heiligen Schrift? Wandelt das Gebetbuch Bibeltexte in Gebet und orientiert es sich dabei in der Auswahl an der Liturgie (z.B. an den Sonntagen im Jahreskreis, Bezüge zu Texten, die das Offizium enthält)? „Von allen geistlichen Büchern, die im Laufe der Jahrhunderte geschrieben und gelesen wurden,“ schreibt Kurt Küppers über das Gebetbuch des Wilhelm Nakatenus, „konnte keines auch nur im entferntesten an die Bedeutung der Bibel und der Hochachtung, die ihr als dem ‚Wort Gottes‘ entgegengebracht wurde, heranreichen. Daher ist es geradezu selbstverständlich, daß auch im Himmlisch Palm-Gärtlein die Bibel eine besondere Rolle spielt.“ 46 Warum kann man das von so vielen anderen Andachtsbüchern nicht sagen? Welche Autorität genießt gerade dort, wo sie eher selten zur Sprache kommt, die Heilige Schrift? Eben dieser letzte Aspekt macht uns deutlich, dass wir im Bereich der Andachtsliteratur vielen Defiziten begegnen werden, für die eine ausschließende Begrifflichkeit wie „Glaube und Aberglaube“ nicht sachgerecht ist. Persönliche Frömmigkeit, da es sich dabei um einen immer wieder neu begonnenen Versuch des religiösen Subjekts handelt, befindet sich immer unterwegs, immer in der Entwicklung, ist immer dabei, seine Entsprechung zu s u c h e n ; und das heißt nicht, dass dieses Unternehmen stets glückt. Der Erfüllung der genannten Kriterien kann der Fromme weit hinterherhinken, kann sich einseitig an gewisse Andachtsformen halten, während andere und wichtigere vernachlässigt werden. Das macht eine Frömmigkeit noch nicht grundsätzlich falsch. Deshalb geht es bei der Erforschung von Gebetbüchern nicht um eine oberflächliche Überprüfung der Rechtgläubigkeit eines Autors. Denn nicht immer ist der institutionelle Rahmen oder das dogmatische Gebäude in seiner Weite und Breite bewusst, welche für unsere Autoren den persönlichen Bezugspunkt zur Kirche bilden könnten. Deren Frömmigkeit unter Beibehaltung dieses Parameters zu untersuchen, bedeutet deshalb vielmehr, die Felder, an denen die Kirche als der Raum, der die christliche Frömmigkeit ermöglicht, überhaupt erst erfahrbar wird, zu entdecken. Falsche Frömmigkeit erkennen wir nur dort, wo es sich nicht mehr um den Sinn des Ganzen handelt, wo der Einzelne nicht mehr einzustimmen versucht in das Gebet, das Generationen vor ihm gebetet haben: wo er denen, die vor ihm waren, die Frömmigkeit abspricht und die von ihm gefundenen Formen als ausschließliches Maß setzt. Falsche Frömmigkeit ist eine Sache des Geistes, besser: des Mangels an Geist, nicht des Unvermögens und der Ignoranz einzelnen Weisen des Betens gegenüber. Menschliches Unvermögen und Ignoranz finden sich nämlich mehr oder weniger allenthalben, ohne dass das Fundament eines ganzen Andachtsbuches dadurch schon kippen würde. Frömmigkeitsforschung in diesem Sinn, ist die Erforschung der Geschichte der Kirche in ihrer stillen Alltäglichkeit. Das rechte Maß dazu bieten immer die Quellen und Formen der Kirche als Ausdruck ihres Glaubens, zu denen sich das persönliche Gebet wie ein Kommentar zum Werk verhält und sich mit diesem verbindet. Der Kommentar ist wichtig, weil er das Vorgegebene mit Leben erfüllt und die Aneignung vollzieht und als 46 Küppers, Palm-Gärtlein, 86. <?page no="30"?> Einleitung 20 solche eben jenen „Mutterboden“ bildet, von dem Fischer sprach. Doch bleibt der Kommentar immer das Kleingedruckte, das beiseite Gesprochene, der Durchblick auch, den man sich zu verschaffen versucht, ehe man fortfährt, sich im Tun der Kirche weiter zu bestreben. <?page no="31"?> Kapitel 1: Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 Vom Gebet ohne Unterlass, jener Stelle aus dem ersten Thessalonicherbrief, worauf in dem 1831 ganz neu verfassten Unterricht so schlicht wie feierlich alles hinauslief, ist zur Zeit der ersten Auflage noch kaum die Rede. Allenfalls zitiert Sailer 1783, in einem mit „Was heißt beten, insoweit es soviel als bitten ist“ überschriebenen Abschnitt neben „einige[n] besondere[n] Ermunterungen zum freudigen, anhaltenden und vertrauensvollen Gebet in allerley Bedürfnissen“ als deren letzte die Stelle aus dem Paulusbrief 1 . Was später heißen wird: „Wer recht beten gelernt hat, der hat ohne Unterlaß beten gelernt“ und „Mein Herz bei Gott, mein Leben wie vor Gott“ 2 klingt 1783 nur ganz verhalten an, wo dem „Unterricht von dem Gebet“ ein angeblich von Augustinus stammendes Wort als Motto vorangestellt wird: „Wer recht zu beten weis, der weis auch recht zu leben. Wer recht zu leben weis, der weis auch recht zu beten.“ 3 Schon ein Jahr zuvor war dem von ihm herausgegebenen Kern aller Gebete 4 dieses Motto beigegeben. Im Vorwort dazu schreibt er: „[…] wenn auch das Herz empfände, was der Mund ausspricht: ach! unser Leben müßte auch anders beschaffen, unser Wandel müßte christlich vollkommen seyn. Wer recht zu beten weis: weis auch recht zu leben.“ 5 Was sich am Ende von Sailers Denk- und Lebensweg zu einer Einheit verschmolz, bildete also schon 1783 kein echtes Gegensatzpaar. Leben und Beten gehörten ihm auch damals zusammen. Dass aber das Leben ein einziges Gebet sei, wird hier allerdings noch kaum ausgesprochen. Im Augenblick der ersten Reflexion sind für Sailer vor allem die einzelnen Akte, nicht die Grundhaltung sichtbar. Eine Vision vom Leben als Gebet dürfte ihm darum zu diesem Zeitpunkt allein in dieser einen Richtung vorgeschwebt haben: Die immerzu wahrhaftig empfundenen Akte des Betens sollen stets wahrhaftige Akte des Handelns zeitigen. 6 So handelt er in 1 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, Der ganze Abschnitt: 3-11. Unterabschnitt: 9-11. Das Thessalonicher-Zitat: 10. 2 Vgl. SW, 23, 32. 3 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 3. Nach der freundlichen Auskunft der Redaktion des Augustinus-Lexikons, Würzburg, stammt dieses beliebte Zitat wohl nicht von dem Kirchenvater. 4 Kern aller Gebete, sammt einer Zugabe, 1782. Es handelt sich um die Herausgabe des bekannten Gebets des evangelischen Theologen Caspar Neumann. 5 Ebd., 6. 6 Dass ein solcher Grundton bereits 1783 vernehmbar ist, sei allerdings nicht verschwiegen. So z.B. Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 73: „Mein Reden und Schweigen, mein Denken und Wünschen, mein Thun und Leiden, mein Hoffen und Fürchten, sey eine ewige Anbetung deines heiligen Namens, so wie Dich einst Jesus Christus, dein Sohn, unser Herr, auf Erden in Geist und Wahrheit angebetet, und uns mit Wort und Beyspiel unterrichtet hat, Dich in Geist und Wahrheit anzubeten“. <?page no="32"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 22 seinem Unterricht der Reihe nach die unterschiedlichen Weisen des Betens ab: das Bittgebet, den Dank, den Lobpreis und endet, insoweit es einen Umgang mit Gott in sich begreift, mit einer Betrachtung über das Gebet im Allgemeinen 7 . Da beginnt der junge akademische Lehrer dann aufzuzählen, bemüht sich zu systematisieren - und bleibt am Ende doch ohnmächtig gegenüber seinem Gegenstand, weil er nicht zu einer in sich stimmigen und abgerundeten Darstellung gelangen kann. Ausführlich äußert er sich zum Bittgebet und wählt dieses aus, um es mit der vorausgesetzten Empfindung des Mangels zum Prinzip des Betens zu machen: „Dieß Verlangen nach fremder Hülfe ist der Grund des Gebets, der Grund des Bittens.“ 8 Ganz den Argumentationsmustern der Zeit verpflichtet, erwächst dann aus der Ursache eine Kette von Wirkungen, die nur dieses eine zu beweisen haben: das Gebet sei eine natürliche Regung der Seele: „Erstens: empfind ich in mir ein Bedürfniß. Es fehlt mir etwas. Es drückt mich etwas. Es schmerzt mich etwas. Zweytens: empfind ich in mir ein Verlangen, daß mir der Schmerz gelindert, der Mangel ersetzt, die Last weggehoben werde. Drittens: empfind ich meine Kraftlosigkeit mir selbst zu helfen. Ich bin zu schwach, kann mir nicht geben, was ich brauche; kann von mir nicht wegschieben, was mich drückt; kann den Schmerz nicht lindern. Viertens: regt sich in mir das Zutrauen auf den, von dem ich glaube, daß er helfen kann und will. Fünftens: trag ich mein Elend und meine Sehnsucht nach Hülfe diesem mächtigen und liebevollen Wesen vor. Wenn ich bete, empfinde und sag ich vor Gott: ‚Herr! ich bin im Elend! Herr! ich möchte von diesem Elend befreyet seyn. Herr! ich kann mir selbst nicht helfen. Herr! Du kannst mir helfen. Herr! Du willst mir helfen. Herr! Ich hoffe, Du wirst mir helfen. Herr! ach! hilf mir.‘ Die Eigenschaften eines vollkommenen Gebetes sind folgende.“ 9 So irritierend hölzern fortfahrend führt Sailer daraufhin fünf Eigenschaften an. Erstens sei das Gebet nicht ohne lebendigen Glauben und zweitens mit „reiner Seele und edler Freyheit der Kinder Gottes“ zu verrichten. Drittens seien „Demut und Ehrerbietung“, viertens „Inbrunst und Herzensfreudigkeit“ notwendig und schließlich müsse fünftens das Gebet ebenso anhaltend wie ergeben in den Willen Gottes sein 10 . Der Gattung des Traktats entsprechend werden auch die weiteren Teile abgehandelt: Die Richtigkeit des Dankgebetes wird durch Aufzählung von 7 Ebd., 17ff. 8 Ebd., 3. 9 Ebd., 4f. 10 Vgl. ebd., 5-10. <?page no="33"?> Frömmigkeit: Begriffliche und methodische Vorentscheidungen 23 Gründen zur Dankbarkeit erwiesen, seine Eigenschaften werden auf verschiedene Weisen gezeigt 11 . Hingegen scheinen Argumente zur Begründung des Lobpreises nicht das geeignete Mittel zu sein. Sprechende Zeugnisse aus der Hl. Schrift werden stattdessen angeführt 12 . Sodann versucht der letzte Abschnitt über das Gebet im Allgemeinen in eine Zusammenfassung zu münden: Das Gebet, sagt Sailer, sei „ein Gespräch des Herzens mit unserem Vater im Himmel“ 13 . Und wieder reiht er aneinander: „1. Der Glaube an Jesum Christum ist Gebet […]. 2. Die Hoffnung auf Gott, das Vertrauen auf Christum ist Gebet […]. 3. Liebe Gottes ist Gebet, und das herrlichste Gebet […]. 4. Anbetung Gottes ist Gebet […]. 5. Lobpreisen ist Gebet, Bitten ist Gebet, Danken ist Gebet […]. 6. Ergebung in den Willen Gottes ist Gebet […]. 7. Gehorsam gegen Gott ist Gebet […]. 8. Nachahmung Gottes und Christi ist Gebet […]. 9. Kindliche Gottesfurcht ist Gebet […]. 10. Menschenliebe ist Gebet […]. 11. Lebendiges Verlangen, die Ehre Gottes überall zu befördern [ist Gebet …]. 12. Abtödtung, Selbstverläugnung zur Beförderung eigener oder fremder Seligkeit ist Gebet […]. 13. Herzliche Reue über alle begangene Sünden, ernstlicher Vorsatz, sich vollkommen zu bessern, ist Gebet.“ Vor allem aber sollen diese Herzensgespräche stets „mit Glauben, Hoffnung und Liebe angefangen, […] fortgesetzt, und vollendet werden“. 14 Man liest sich müde daran. Leicht wird man durchschauen, dass die Rhetorik eher dazu dient, das Konzept für ein Gebetbuch vorzustellen, als dass es von der Sache her wirklich gefordert wäre. Jedenfalls entsprechen die dreizehn Punkte den sogleich nachfolgenden Übungen, die Sailer aus den drei theologischen Tugenden entwickelt. Doch nicht nur künstlich wirkt die Darstellung, sondern dort auch naiv, wo Sailer die Gesprächssituation zwischen zwei Menschen einfach auf das Gebet überträgt; und schließlich wird sie auch widersprüchlich: „Das Gebet ist ein Gespräch. Zu einem Gespräche werden wenigst zwo Personen erfordert. Also auch zum Gebet; Gott und der Mensch. Der Mensch fragt, Gott antwortet ihm. Der Mensch klaget, Gott hilft ihm. Der Mensch weinet, Gott tröstet ihn. Der Mensch bittet um Stärke, Gott stärket ihn. Der Mensch danket, Gott erfreuet ihn mit neuer Freude. Gott ist zwar dem Auge unsichtbar, aber der Glaube heftet die Seele an ihn, als wenn Er sichtbar wäre. Das Gebet ist ein Gespräch des Herzens.“ 15 Das sind einfache Gegenüberstellungen, die nur mit Mühe überdecken können, dass der Traktat zunächst den Mangel als Beweggrund des Gebetes ausgemacht hatte, dessen natürliche Folge, wie breit angeführt, die Klage war. Nun aber wird das Herz zum Ort des Betens und alle seine Regungen werden gleich-gültig auf Gott hin ausgerichtet. Doch als Preis für diese Unausgeglichenheit verliert die Metapher ihren Sinn und ihre Kraft: Das Herz, auf einige menschliche Akte reduziert, wirkt in dem Unterricht der ersten Auflage wie ein dem Mund und den Stimmbändern gleichgeordnetes Organ, wohin sich deren Funktionen auf einmal hin verla- 11 Vgl. ebd., 11-14. 12 Vgl. ebd., 14-16. 13 Vgl. ebd., 17-21. Hier 18. 14 Ebd., 19-21. 15 Ebd., 17. <?page no="34"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 24 gert haben - und nun redet statt jener eben dieses. Doch besteht die Notwendigkeit der uneigentlichen Rede genau darin, dass sie Vorgänge beschreibt, deren sachliche Erklärung sich uns entzieht; also beispielsweise wie denn die Zwiesprache mit Gott möglich ist und wo sie sich ereignet. Ein einfaches Rede-Antwort-Schema, in welchem sich der Mensch aus empfundenem Mangel heraus an Gott wendet und Gott tröstend und stärkend antwortet, vermag hingegen nicht zu verdeutlichen, dass mit dem Wort „Herzensgespräch“ vor allem eine innere Haltung ausgedrückt werden kann. Weit entfernt scheint darum Sailer in den frühen Jahren noch von einem „Geistes- und Herzensgebet“ zu sein, das er als „beharrende Einigung mit Christus“ 16 , die 48 Jahre später der Leitgedanke der völligen Neubearbeitung hätte werden sollen, verstand. a) Die Motivation für die Abfassung des Gebetbuchs: Der Zustand der Gebetbücher aus der Sicht Sailers Der Eindruck solcher Sprödigkeit mindert oder ändert sich, sobald man nach den zeitgenössischen Tendenzen forscht, in welchen sich die Gedanken zum Gebet zu behaupten hatten. Sailer, so entdeckt man schnell, leistete mit seinem Entwurf in Theorie und Praxis einen bedeutenden Beitrag zu dem Thema, der eine vorangehende Entwicklung zusammenfasste. Seine Vorgänger übertraf er sowohl in ihrem Aufbau als auch stilistisch und nicht zuletzt durch den Reichtum seiner Gedanken. So wurde er für die folgende Zeit mitunter zur Richtschnur, in jedem Fall zum Bezugspunkt. Es gibt nicht viele Schriften aus dieser Zeit wie seine Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollkommenen Lese- und Betbuches 17 . Durch eine mitreißende Polemik entstehen ebenso die klaren Umrisse eines Feindbildes, wie durch eine logisch aufgebaute Abhandlung die eines entschiedenen Gegenentwurfs. Noch heute wird der unbedarfte Leser seine scharfen Vorwürfe nicht ohne innere Anteilnahme lesen und die von Sailer angeführten Zitate nur kopfschüttelnd quittieren, da es offenbar einmal Zeiten gegeben haben müsse, in denen das Gebet ein solch niedriges Niveau hatte annehmen können. Zur Probe sei eine Stelle aus der Sailerschen Kampfschrift ausführlicher angeführt: Das ‚Betbücher-Publikum‘ (Leute, die sich mit Betbüchern abgeben) besteht größtentheils aus Personen des andächtigen Weibergeschlechtes. Der Mann, wie man sagt, betet ohnehin nicht so viel, am wenigsten aber aus einem Betbuche. Nun wo ist der Nutzen, den die betenden Frauen und Jungfrauen aus den Betbüchern ziehen? Den Baum erkennt man aus den Früchten. Wir wollen die Kraft der Betbücher aus den Wirkungen an Betenden unpartheyisch beurtheilen. Die Nachbarinn trägt ein mit Silber beschlagenes Betbuch mit in die Kirche. Die Blätter sind abgenutzt und durch Fingerschmutz beynahe unleserlich gemacht. Sie kniet nieder, öffnet Buch und Mund, und spricht: ‚Allerliebster Herr, ich grüße dich 33000mal; allersüßester Herr, ich küsse dich mit dem Kuß 16 Sailer, SW, Bd. 23 XI. 17 Der vollständige Titel lautet: Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollkommenen Lese- und Betbuches, sammt der skeletischen Anzeige eines vollständigen Lese- und Betbuches, das bereits unter der Presse ist, München, 1783. <?page no="35"?> Die Motivation für die Abfassung des Gebetbuchs 25 der Liebe; allerzärtlichster Herr, ich wünsche dir Glück, wie dir alle Seraphinen Glück wünschen.‘ - So betet sie, wies im Buche gedruckt ist. Sie geht wieder nach Hause. Ihr Herz ist so kalt gegen Gott, wie vorher, ihr Verstand so leer, wie vorher. Denn wie sollte sie dadurch weiser und frömmer werden, daß sie Jesum 33000mal grüßt, küßt, und mit Glückwünschungen überhäuft? Was kann sie bey diesen Worten denken? Eine andere betet aus dem Betbuche: ‚Heiliger Sebastian! ich lobe dich vor dem ganzen himmlischen Hof. Ich erinnere dich an die Gutthaten, die dir der Himmel, da du auf der Erde warest, erwiesen hat. Ich nehme meine Zuflucht zu dir. Ich begebe mich unter deinen Schutz. Ich opfere mich auf zu deinem Dienst. Erhöre mein Flehen. Ich bitte dich um Erhaltung meiner Gesundheit, und dann um ein glückseliges Sterbstündlein. Ich werde dir dafür eine wächserne Hand oder ein wächsernes Herz auf deinen Altar, und drey Kreuzer in Stock legen.‘ Sie geht aus der Kirche; und sie ist immer noch, was sie vorher war, so ungeduldig bey der geringsten Widerwärtigkeit; so lieblos gegen die Dienstboten; so mürrisch gegen ihres gleichen; so hart gegen den Mann; so roh gegen die Kinder, und so undankbar gegen Gott. Dieß Gebet hat sie wohl nicht liebevoller, freudiger, besser machen können. Denn es war kein Gebet; die unverständlichen Gebetformeln, ‚ich opfere mich zu deinem Dienst, ich ergebe mich unter deinen Schutz, ich lobe dich vor dem himmlischen Hof,‘ lassen den Verstand und das Herz keinen Antheil an dem nehmen, was die Lippen aussprechen. Wieder eine andere spricht aus dem Betbuche: ‚Heilige Jungfrau Maria! ich preise dich durch das Haupt deines Sohnes, das mit Dörnern durchstochen ist. Ich liebe dich durch das Herz deines Sohnes, das auf dem Ölberg und am Kreuz die allergrößten Bitterkeiten ausgestanden hat. Steh mir in deinen Nöthen bey.‘ So liest sie, und weis nicht, was sie liest. So betet sie, und weis nicht, um was sie bittet. Der Glaube an den Vater im Himmel, die Liebe gegen den Erlöser und die Miterlösten kann bey diesen Wortgebeten nicht zunehmen. Das unverbesserte Betragen des Betbücher- Publikums erweckt also gegen die Betbücher selbst ein gerechtes Vorurtheil. […] Auch fromme, gottesfürchtige Seelen, die nach der Gerechtigkeit hungert und dürstet, finden in derley Betbüchern keine Nahrung, können keine finden, weil keine darinn ist.“ 18 Es ist nicht zu leugnen, dass in diesen Gebeten ein phrasenhafter Wortreichtum überdecken muss, was an geistlichem Gehalt fehlt. Wer über die pathologischen Formen der Frömmigkeit forschen wollte, würde hier Anknüpfungspunkte finden. Es darf jedoch ebenso nicht übersehen werden, dass die subtil geführte Feder des begabten jungen Schriftstellers durch seine Auswahl und den verbindenden Text ein plastisches Bild von bestimmten Betern und deren Vorlagen zeichnet: Prächtig von außen, abgegriffen und zerschunden im Innern der Bücher. Geschäftig, innerlich leer und ohne Gefühl für ihre Mitwelt die Frauen, die sich an diesen Büchern abgearbeitet haben! - Auch in unseren Tagen kann die Anführung solch eindeutiger „Beweise“ für den Missstand im Andachtswesen dazu verleiten, diese für die Schilderung der gesamten damaligen Lage zu halten 19 . Dabei übersieht man leicht, 18 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 10-13. 19 Vgl. Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg 1976, 50: „Daß Sailer nicht übertrieben hat, ergibt die Einsicht in zeitgenössische Gebetbücher. In einer Ausgabe des ‚Der Große Baum-Garten‘ betitelten Gebetbuches findet sich […] eine große Anzahl weiterer Gebete, die Sailer ebenso leicht als abschreckende Beispiele hätte abdrucken können. ‚Lobgrüßlein zu Jesu, Maria, Anna und Joachim‘; ‚Eifrige Bitte zu St. Antonio, unter der hl. Messe fürzutragen‘; ‚Liebkosung des Christkindleins‘; ‚Oster-Grüßlein, in dieser Octav <?page no="36"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 26 dass Sailers eigener Versuch offenbar in der direkten Auseinandersetzung mit einer überschaubaren Gruppe von Titeln steht 20 . Dass diese ihm symptomatisch für den Zustand des Andachtswesens schien, ist psychologisch verständlich, hält aber - wie wir gleich sehen werden - einer empirischen Überprüfung nicht Stand. Doch weder wirbt Sailer um die Zustimmung von uns Heutigen, noch geht es ihm um wohlabgewogene Sachlichkeit. Seine Intention ist es ausdrücklich nicht, einen Überblick über die vorhandenen Gebetücher zu geben, um diese dann insgesamt zu verwerfen 21 . Hingegen sieht er einen bestimmten Adressatenkreis durch das bestehende Angebot kaum oder gar nicht angesprochen. Diesem will er sich zuwenden, indem er einen anderen - da er zwischen beiden eine Opposition vermuten darf - bewusst in ein negatives Licht setzt. Wer dieser durch ihn positiv angesprochene Adressatenkreis ist, muss nicht langwierig eruiert werden. Sailer nennt ihn sofort im ersten Abschnitt der Einleitung seiner Ankündigungsschrift: „Wer sich beredet, dass er selber denken kann“ 22 - zunächst also diejenigen, die sich für gebildet genug hielten, an dem intellektuellen Disput der Zeit teilzunehmen. Nur sind jene anderen, welche hiervon negativ abgegrenzt werden sollen, keineswegs die Ungebildeten, das sogenannte einfache Volk. Im Gegenteil: die eine der oben beschriebenen Damen trägt ein mit Silber beschlagenes, und darum äußerlich gewiss nicht schlicht zu nennendes Gebetbuch mit sich, während einer anderen eine Dienstbotenschaft unterstellt wird, was gleichfalls Stand und Vermögen voraussetzt. Vor allem aber weist der gewundene Stil darauf hin, dass, wer so betet, sich zumindest innerlich an den höfischen Formen des 18. Jahrhunderts ausrichtet 23 . Und Beter im Sailerschen Sinn sollen nichts gemein haben mit dieser Art von als nicht ernsthaft und falsch empfundener Frömmigkeit. Damit wendete sich Sailer entschieden von einem Großteil der Leserinnen ab und den männlichen Lesern zu („Der Mann, wie man sagt, betet ohnehin nicht so viel, am wenigsten aber aus einem Betbuche“). Welche Folgen dies für sein Lesepublikum hatte, vermögen wir in dieser Studie nicht zu sagen. etlichemal zu beten‘ und viele andere.“ Freilich geht der Einwurf Probsts schon insofern an der Sache vorbei, da es sich bei „Dem großen Baumgarten“ des Martin von Cochem um kein Gebetbuch der Sailerzeit handelt, sondern, wiewohl es die Frömmigkeit des 18. Jahrhunderts prägte, aus dem 17. Jahrhundert stammt. 20 Vgl. Schiel, Bd. 1, 68: „Ich […] habe unter mehr als zwanzig Büchern keines gangbar gefunden, als ein Evangelienbuch und das Büchlein von der Nachfolgung Jesu Christi […]“. Die Stelle steht im Zusammenhang mit der hier auf S. 3 berichteten Zensurtätigkeit. Offenbar hatte Sailer nicht mehr als zwanzig bis dreißig Bücher in Händen, was dann viel ist, wenn man über dieses Quantum ein Gutachten zu erstellen hat. Andererseits wird er bei dieser Menge noch keinen umfassenden Überblick über das Angebot an Andachtsbüchern beanspruchen dürfen. 21 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 5: „Wenn ich von Betbüchern rede, in denen weder der Geist des Christenthums, noch des christlichen Beters wehet, so nehme ich von dieser Klasse alle Erbauungsschriften und Betbücher aus, die sich selbst davon ausnehmen. Gott ist mein Zeuge, ich bin unendlich weit entfernt, das Gute, das da ist, verdächtig zu machen.“ 22 Ebd., 7. 23 So auch bei: Bernhard Gajek, Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, 124. <?page no="37"?> Die Motivation für die Abfassung des Gebetbuchs 27 Sailer nennt die Verfasser und die Titel der von ihm angegriffenen Gebetbücher nicht 24 , doch ist es nicht schwer, in den zitierten Gebeten die Rhetorik des Martin von Cochem zu erkennen. Auf dieses Feindbild hat sich die Kritik der katholischen Aufklärung 25 und mit ihr auch die Sailers fixiert: Offen (freilich den Namen, weniger aus Gründen der Diskretion, sondern eher aus Verachtung oder weil er als bekannt vorausgesetzt werden konnte, verschweigend) zeiht er ihn an späterer Stelle der Lüge: „Armut an Wahrheit, Reichtum an Lüge, d.h. das Wahre, das Wesentliche des Christenthums ist so dürftig angebracht, das Falsche, das Übertriebene, das Zufällige, das Sinnliche so hervorstechend, so angehäuft, so herrschend, daß der Unbehutsame in Versuchung gerathen muß, das Zufällige für wesentlich zu halten, weil jenes (verhältnißweise zu reden) hundertmal angepriesen wird, bis dieses einmal, und da mit Schlacken versetzt, vorkommt. […] Dieß Gebet steht nicht nur in dem großen Werke des bekannten Verfassers, sondern auch in allen gleichgestimmten kleinen und großen Betbüchern, die noch heut zu Tage neu aufgelegt und verschenkt werden, und deren Herausgeber Ihn, den Verfasser des erwähnten Gebetes unter allerley Formen ausgeschrieben haben. Wie müßte es einem, dem Christus und sein Evangelium theuer ist, zu Herze seyn, wenn man auf einem Blatte derley Gebetformeln, und auf dem andern den Kern des Evangeliums hinschriebe, und die große Disharmonie zwischen jenen und diesem bemerkte! “ 26 Nun mag man heute das Werk Martin von Cochems anders und differenzierter beurteilen. Auch in dieser Studie wird noch ein Vergleich zwischen Passagen Sailers und einem seiner Werke anzustellen sein, der die Stärken des Kapuziners deutlich werden lässt 27 . Doch selbst wenn man in Betracht zieht, dass Sailer ein unbefangenerer Blick auf die Werke des Martin von Cochem weniger leicht als uns Heutigen möglich war, und wenn man ihn zumal als einen Repräsentanten der Frömmigkeit auch noch des 18. Jahrhunderts gelten lässt (was zwar wegen seines Einflusses legitim ist, doch immerhin besteht zwischen ihrer beider Leben ein Abstand von etwa einhundert Jahren), so muss man den Vorwurf, das vorgefundene Niveau sei das der „meisten Betbücher“, und vor allem, diese seien „in den Häusern und Händen der“ - abwertend verstandenen - „Menge“ zu finden 28 , als überzogen zurückweisen. Ein Blick auf die Verbreitung des beinahe ebenso beliebten Himmlisch Palm-Gärtlein des Wilhelm Nakatenus, das von dieser Kritik nicht nur nicht getroffen, sondern von Sailer zumindest stillschweigend positiv beachtet und 24 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 9: „Ich will die Betbücher nicht nennen, deren innerer Gehalt dieser Behauptung das Siegel der Wahrheit aufdrückt. Man kann sie in den Häusern und Händen der Menge finden. Jeder kann die Vergleichung anstellen, jeder sehen, und Urtheil fällen.“ 25 S. dazu Küppers, Palm-Gärtlein, 353f. Vgl. auch die Sailer ganz entsprechende Bemerkung von Matthäus Fingerlos, Versuch einer Pastorallehre, München, 1805, 2 Bde, 113: „… und daher kömmt es, daß sie [die meisten Bürger und Landleute] nach Büchern nicht lüstet, und also auch, ausser einen Pater Kochem keines besitzen.“ 26 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 26 und 28. Hervorhebung von Sailer. 27 S. u. 105. 28 S. Anm. 24. <?page no="38"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 28 beurteilt werden musste 29 , widerlegt dies. Der Aufbau der Gebetbücher von Sailer und Nakatenus haben wenig miteinander gemein: Ganz vom Gebet der Tagzeiten und der Litaneien geprägt ist das ältere; von der Entfremdung gegenüber diesen und der Suche nach persönlicheren Formen zeugt Sailers Werk. Im Schema und zum Teil auch im Inhalt kommen sich beide aber trotzdem näher. Vom Vertrauen auf die Wirksamkeit des Wortes der Hl. Schrift konnte der Jesuitenschüler Sailer nur lernen. Diesem und dem ebenso ausführlichen Gebrauch der Kirchenväter, deren Autorität Nakatenus in seinem Gebetsunterricht 30 sprechen lässt, konnte Sailer kaum so ablehnend gegenüberstehen wie er es bei Martin von Cochem tat. Es ist festzuhalten: Die Sailersche Polemik verschafft uns keinen Überblick über das damalige Andachtswesen. So sinkt ihr Wert als historische Quelle. Andererseits zeigt sie sich gerade in ihrem tendenziösen Charakter als wichtiges Dokument jenes Umbruchs, der in dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland vor sich ging. Dieser erfasste die weitesten Bereiche des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens und auch die Formen der persönlichen Frömmigkeit. „Die von Sailer verrufene Frömmigkeit […] übersetzt höfische Gesten des Rokoko ins Religiöse. Dessen Verlagerung ins Innige, Gefühlsselige und Persönlich-Vertraute, die scheinbare Beschränkung aufs Subjektive atmen preziöse Rhetorik.“ 31 Wenn Sailer darum hier in einer Schärfe, die seinen sonstigen Werken weitgehend fehlt, gegen einen großen Teil der auf seine Generation gekommenen Gebetbücher derart anschreibt, so dass er nichts anderes wünscht als deren Verdrängung; und wenn wir in der Rückschau feststellen müssen, dass seine Schrift sich tatsächlich - nicht als Ursache oder Auslöser, aber doch den Vorgang begleitend - wie der Abgesang auf eine bestimmte Tradition des Betens ausnimmt, dann ist es angebracht danach zu fragen, worin denn der Kern und Geist der vorhergehenden Gebetbücher bestanden hatte. Die Haltung, die die Betenden im Gebrauch ihrer Bücher eingenommen haben, ging mit diesen unter. Aber welche Lücke hinterließ dieser Untergang? b) Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts Um nicht mehr zu versprechen als zu halten sein wird: Dieser Unterabschnitt stellt lediglich einen Versuch dar, gewisse Tendenzen aufzuzählen. Der Forschung ist es bis heute weder gelungen, grundlegende Hilfsmittel wie Bibliographien und Kompendien noch eine befriedigende Anzahl von einzelnen Untersuchungen hervorzu- 29 Zur Verbreitung von Nakatenus’ Schriften im Vergleich zu denen des Martin von Cochem (und Leonhard Goffinés) vgl. Küppers, Palm-Gärtlein, 367. 30 Das dort verwendete Schema geht für Nakatenus nachweislich (s. ebd., 238) zurück auf den Großen Katechismus des Petrus Canisius (Canisius/ Streicher I/ 1, 174-176). Für Sailer ist die Vertrautheit damit zweifellos vorauszusetzen. Eine direkte Abhängigkeit ist jedoch nicht nachweisbar. 31 Bernhard Gajek, Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, 124. S. auch schon oben S. 35. <?page no="39"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 29 bringen, mittels derer man zu gesicherten Aussagen über Zeit- und geographische Räume der Entstehung auch nur der hauptsächlichen Linien des Andachtswesens im 18. Jahrhundert gelangen könnte. Wer die Erbauungsliteratur der letzten 500 Jahre studiert, ist weit mehr als in anderen Bereichen auf den Zufall, der einem diesen und jenen Titel in die Hände spielt, angewiesen. Die nach wie vor gründlichste Arbeit zu diesem Feld legte Aloys Schrott bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts vor 32 . An diesem Aufsatz muss sich auch heute noch orientieren, wem bei Streifzügen durch die allgemein zugänglichen Bibliothekskataloge die Übersicht verloren zu gehen droht. 1. Was wissen wir über den tatsächlichen Zustand der Gebetbücher? Die von Schrott so genannte katholische Restauration, reicht von der Reformationszeit bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach ihm bleiben zunächst die Autoren beherrschend, die auch schon für das 17. Jahrhundert wichtig waren 33 . Ferner beobachtet er, dass die letzte Phase des Zeitraums wohl von einer großen Masse an Gebetbüchern, weniger jedoch von neuen Elementen der Andacht geprägt gewesen sei. So stellt er fest: „Grundlegende Neuerungen hat […] das Gebetbuch des 18. Jahrhunderts nicht aufzuweisen. Doch läßt sich in verschiedenen Punkten eine Weiterentwicklung feststellen. Sie bezieht sich vor allem auf die Andacht zu Christus, zur Gottesmutter und zu den Heiligen. Auch die Bemühungen um eine volkstümliche Meßandacht, die dem Wesen des heiligen Opfers am besten entspräche, treten mehr hervor.“ 34 Besonders die Herz-Jesu-Andacht (und mit ihr die Andacht zum Herzen Mariä) verdiente es nach ihm hervorgehoben zu werden, da sie im 18. Jahrhundert weite Verbreitung fand und, so Schrott, kaum noch in einem Gebetbuch fehle 35 . Ebenso werde der Kreuzweg nun Allgemeingut in den Gebetbüchern, deren Mess- und Kommunionandachten zudem an Umfang zunähmen. Insgesamt urteilt er bei Erwähnung der Sailerschen Ankündigungsschrift über diese Phase der Frömmigkeitsgeschichte: „Die Andachten und Belehrungen, die ins Volksgebetbuch Aufnahme begehren, sind so zahlreich geworden, daß diese Auseinandersetzung einmal kommen mußte. Die Aufklärung brachte die Frage ins Rollen. Sailer läßt uns sehen, daß eine gewisse Reform notwendig war.“ 36 Knapp fünfzehn Jahre später hat Schrott sein Wissen nochmals in einem Aufsatz zusammengefasst und einige Charakteristika des nachtridentinischen Gebetbuchs 32 Schrott 1937, 1-28, 211-257. 33 Vgl. ebd., 238. Schrott nennt Petrus Canisius, Franz Coster, Wilhelm Nakatenus, Nikolas Elffen, Alexander Wille, Martin von Cochem, Simon Verrepäus, Ludwig Blosius, sowie Gertrud von Helfta. 34 Ebd., 240. 35 Vgl. ebd., 241 und für das Folgende die weiteren Seiten bis 244. 36 Ebd., 245. <?page no="40"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 30 herausgestrichen 37 . Mit einigen Schlagwörtern umreißt er die damaligen Tendenzen: K a t e c h i s m u s f r ö m m i g k e i t nennt er diejenige Entwicklung, in welcher neben den Gebeten mehr und mehr Texte zu stehen kommen, die das Wissen über den Glauben vermitteln möchten. Der Beter soll Kenntnisse erlangen, die sein Gebet kräftigen. Aber auch die Gebete selbst bleiben von dogmatischen Formeln nicht unbeeinflusst. Und als weiteres, sehr folgenreiches neues Moment der Neuerung kommt die B e t r a c h t u n g hinzu, die vor allem die Einübung der Tugenden zum Ziel hat. Die in den tridentinischen Reformdekreten hervorgehobene Realpräsenz Christi in den eucharistischen Gaben, die Bedeutung des e u c h a r i s t i s c h e n O p f e r s und des We i h e p r i e s t e r t u m s zeitigte nach Schrott eine Frömmigkeit, die das liturgische Geschehen vom Volk entrückte und nur mittelbar über Messandachten und Messerklärungen den Bezug zu ihm aufrechterhielt: „Das Meßopfer ist gleichsam das Schauspiel, an dem man andächtig betrachtend teilnimmt. Man sieht und hört, was auf dem Altare geschieht. Hierzu gibt der Priester dem Volke die Erklärung. So wurde […] im Glauben des Volkes aus der Feier des eucharistischen Opfers mehr und mehr eine Andacht, und es entschwand das Bewußtsein, daß das Meßopfer auch religiöse Tat ist, nämlich ein Mitopfern.“ 38 Auch die B e i c h t u n d K o m m u n i o n f r ö m m i g k e i t hält Schrott für eine direkte Folge aus der tridentinischen Reform. Beide gingen eine starke Verbindung miteinander ein und betonten so die Sünde des einzelnen Christen und das Heilmittel dagegen. Unberücksichtigt sei indessen der Charakter des Opfermahles geblieben. Schrott fast zusammen: „[Es] wurde nun eine bleibende Forderung der Frömmigkeit, häufig, sogar täglich die Kommunion zu empfangen, ohne daß dabei die Forderung erhoben würde, auch häufig oder täglich das heilige Opfer mitzufeiern.“ 39 Wenig originell sei die Zeit gewesen, was ihren Gebetsschatz anbelangt hätte. Lediglich die Wertschätzung für die einzelnen Formen veränderte sich. Die immer schon beliebten und volkstümlichen Litaneien und Rosenkränze nähmen nun anstelle der Tagzeiten den ersten Rang ein 40 . Verallgemeinernd macht Schrott drei Wesenszüge für den anvisierten Zeitraum aus: Die Gebetbücher wünschten damals die persönliche Besserung des einzelnen Christen zu befördern. Dieser sollte in Glaubensdingen belehrt werden, um für den Kampf gegen den Irrglauben gefestigt zu sein. Schließlich sei das Unverständnis gegenüber den liturgischen Handlungen so allgemein gewesen, dass Schrott 37 Aloys Schrott, Die Reform des Trienter Konzils im Spiegel der nachfolgenden Andachtsliteratur. In: Das Weltkonzil von Trient, Freiburg u.a., 1951, 349-357. 38 Ebd., 352. 39 Ebd., 354. 40 Vgl. auch das Urteil von Schrotts Kollegen Josef Andreas Jungmann, Christliches Beten in Wandel und Bestand, München, 1969, 146f.: „Auch das gemeinsame Beten, das sich in der Liturgie nicht zurechtfindet, schafft sich eine neue Ausdrucksform: in einer neuen Art responsorischer Psalmodie, den Litaneien.“ <?page no="41"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 31 von der „aliturgischen Form“ 41 der damaligen Frömmigkeit sprechen kann. Sie habe nur als Ersatz für die Volksteilnahme bei der Messe dienen können: „An die Stelle der sakralen und liturgischen Gemeinschaft tritt die Ausweitung der Prozessionen, der Wallfahrten und religiösen Bruderschaften als Weiterbildung der älteren Zunftbruderschaften.“ 42 2. Aufbau und kurze Charakteristik einiger zeitgenössischer Gebetbücher Die von Schrott in seinem späteren Aufsatz zusammengefassten Thesen beruhen auf einem großen Wissen um die Quellen. Dennoch bedarf es, um die Urteilskraft zu schärfen, weiterer Überprüfungen am Konkreten. An dieser Stelle scheint es deshalb nötig, von einigen ausgewählten Gebetbüchern Aufbau und Inhalt zu analysieren. Dies nicht um den Schlagwörtern Schrotts weitere hinzuzufügen, sondern um uns selbst ein quellengestütztes Bild über die unmittelbaren Vorgänger des Sailerschen Gebetbuchs zu machen. Das erste Kriterium für die Auswahl war deshalb nicht das Jahr der Erstausgabe 43 , sondern ob die einzelnen Titel in der Zeit zwischen ca. 1760 und 1780 handelsüblich waren. Weiter wurde versucht für gewisse Gruppen von Gebetbüchern Repräsentanten zu finden. Denn die zum Teil recht unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Titel werden deutlich machen, dass es sich bei der Erbauungsliteratur vor den Versuchen der Erneuerung, zu denen das Sailer-Gebetbuch zweifellos gehört, nicht um ein homogenes Einerlei gehandelt hat, sondern dass sowohl die Adressaten, als auch die intendierten Zwecke und durch beides das Niveau stark schwanken konnten. So repräsentieren die in Ausdruck und Orthographie der späteren Zeit angepassten Gebetbücher von Wilhelm Nakatenus und Martin von Cochem die aus dem 17. Jahrhundert überkommene Frömmigkeit, die - wie wir von Schrott schon wissen - im 18. Jahrhundert ungebrochen gegenwärtig blieb. Komprimierter als diese beiden, aber im Geist durchaus verwandt ist der Kern aller Gebett des Johann Christian Elias. In seiner Schlichtheit unterscheidet es sich aber von diesen und konnte darum bescheideneren Bedürfnissen entsprechen. Das dieser Untersuchung zugrundegelegte Exemplar der Königlichen Halszierde einer GOtt liebenden Seele hätte Sailer meinen können, als er karikierend „die Nachbarinn“ beschrieb, die das mit Silberbeschlägen ausgestattete Buch in die Kirche trägt 44 . Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich mehr der Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts verpflichtet zu sein. Wer es allerdings genauer betrachtet, entdeckt in dem Buch Tendenzen der Individualisierung, die ohne weiteres mit dem subjektbezogenen Denken der Epoche zusammengehen. In seiner Art überraschend neu ist das Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, das Eusebius Amort im Jahr 1759 herausgegeben hat. Entgegen unseren Vor- 41 Schrott 1937, 350. 42 Ebd. 43 Die genaueren Angaben zu Erstausgabe und Verbreitung können aus dem Literaturverzeichnis ersehen werden. 44 S. S. 24f. <?page no="42"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 32 urteilen, die wir nun nach der Lektüre Schrotts haben müssen, ist es ein Zeugnis für das ernsthafte Bestreben des Klerus, das Verstehen des liturgischen Geschehens bei der Messe im Volk nicht nur zu befördern, sondern auch die Messtexte selber als Quellen der Frömmigkeit darzubieten. In einem engen Zusammenhang mit ihm steht das Brevier eines guten Christen, das gewissermaßen als die große Ergänzung zu dem kleinen Büchlein, welches gleichwohl das Zentrum der christlichen Frömmigkeit anvisiert, betrachtet werden kann. Einen wohl sehr durchschnittlichen Titel hält man dagegen mit der Gemüths- Erhebung zu GOtt in Händen. Weder durch eine besondere Anordnung, noch durch sonst irgendwelche Auffälligkeiten sticht es hervor. Gerade wegen dieser Durchschnittlichkeit dürfte es uns aber als Markstein für das allgemeine Niveau der damaligen Frömmigkeit gute Dienste leisten. Von eher lokaler Prägung ist der Marianisch-Dettelbacher Weingarten. Auch deshalb ist er interessant, weil es, vom Pfarrer eines unterfränkischen Wallfahrtsortes verfasst, zeigt, wie der konkrete Bezug zu Raum und Ort eines Heiligtums konstitutiv für die Frömmigkeit bestimmter Beter war. Gegenübergestellt werden all diese zwei von Sailer ausdrücklich empfohlenen Gebetbüchern: Heinrich Brauns Katholisches Gebeth- und Erbauungsbuch und Karl Heinrich Seibts Katholisches Lehr- und Gebetbuch 45 . Aufgrund ihrer betonten Sachlichkeit und der inhaltlichen Konzentration dürften sie bei anderen, den Veränderungen aufgeschlosseneren Zeitgenossen, Anklang gefunden haben. Es wird nun eine Übersicht über den Aufbau der einzelnen Titel gegeben. Anhand der Angaben über den Umfang und die Position im Werk erhält man eine Vorstellung von der jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung, die in einer anschließenden kurzen Charakteristik näher kommentiert wird. Martin von Cochem, Goldener Himmels-Schlüssel, 1764 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Morgen-, Abend- und tägliche Gebete Enth.: Gebete zur Hl. Dreifaltigkeit, Anrufung der Mutter Gottes, des Schutzengels, des Namenspatrons. Gute Meinungen angepasst an die verschiedenen Stände und Tage. Bei den täglichen Gebeten. Verehrung Christi besonders unter dem Gedenken der Passion (z.B. Hl. Blut). Diese sind u.a. dafür gedacht während der Vormesse gebetet zu werden. 3,6 2. Gebete zur Messe Besonders am Kirchenraum und liturgischen Geschehen orientiert. Selbstaufopferung unter dem Gedanken einer Quantifizierung und Maximierung des eigenen Heils und das der anempfohlenen Seelen. Nach den Eöffnungsgebeten, einer Guten Meinung beginnen die Gebete beim Akt der Wandlung. 2,7 45 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 5: „Ich ergreife vielmehr diese Gelegenheit, alle gute, und wahrhaft brauchbare Betbücher, vorzüglich das Seibtische und das Braunische […] zu empfehlen.“ <?page no="43"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 33 3. Vesper für Verstorbene Für die Sonntagsvesper. Fünf Psalmen, Hymnus (über die Schrecken des Fegefeuers), Magnifikat, Oration, Heiligenanrufung,Gebet, Aufopferung. 1,6 4. Beichtgebete 2,8 5. Kommuniongebete 3,1 6. Gebete zum Altarsakrament Besonders zu Prozessionen 3,6 7. Zur Hl. Dreifaltigkeit Enth.: Einige selbstverfasste sog. „Psalmen“. Gedacht für die (Sonntags-)Vesper. 2,7 8. Zum Namen Jesu 1,8 9. Zum Leiden Christi Enth.u.a.: Die sieben Fälle, Kreuzweg, Fünf-Wundenverehrung. 6,3 10. Zur Mutter Gottes Schwerpunkt: Gebete zur schmerzhaften Mutter Gottes. 4,5 11. Zu den Heiligen 9,0 12. Kirchenjahr Enth. daneben auch die persönlichen Feiertage in den je verschiedenen Ständen. 25,3 13. Allgemeine und besondere Nöte 5,3 14. Für unterschiedliche Stände 5,7 15. Vorbereitung zu einem seligen Tod 8,4 16. Für die Verstorbenen 13,6 Kurze Charakteristik: Das neben dem Großen Baumgarten bekannteste der Gebetbücher des Martin von Cochem 46 baut inhaltlich besonders auf einer Passions- und Marienfrömmigkeit sowie der eucharistischen Verehrung und dem Gebet sowohl um ein seliges Ende als auch um Erlösung der bereits Verstorbenen aus dem Fegefeuer auf. Das zeigt sich nicht nur an der Gewichtung der entsprechenden Teile, es kommt auch in den anderen Abschnitten immer wieder vor. Aufgrund seiner weiten Verbreitung 47 muss es - wie Sailer richtig vermerkt 48 - als Multiplikator dieser typisch barocken Frömmigkeit angesehen werden 49 . Auch 46 Seine Bibliographie ist brauchbar erfasst in: Konradin Roth, Pater Martin von Cochem. 1634-1712, Versuch einer Bibliographie, Koblenz, 1980. 47 S. dazu im Vergleich zum ebenfalls massenhaft aufgelegten Gebetbuch des Nakatenus: Küppers, Palm-Gärtlein, 367. 48 S. o. S. 27. 49 Zur Eingrenzung dessen, was hier als typisch für das Barock angesehen wird s. die immer noch beachtliche Studie von Anton Ludwig Mayer, Liturgie und Barock. In: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft, 15 (1936), S. 67-154. <?page no="44"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 34 wenn hier weniger die von Schrott sogenannte Katechismusfrömmigkeit sichtbar wird, so dürften ihm dennoch für die meisten seiner Bemerkungen zum nachtridentinischen Andachtswesen gerade Gebetbücher dieser Art vor Augen gestanden haben. Auffällig ist allerdings, dass, wie bei beinahe allen hier aufgeführten Titeln, die Selbstaufopferung eine gewichtige Rolle spielt und die Betrachtung des Leidens Christi nicht - wie Schrott behauptet - den Hauptakzent der Gebete bildet. Wenn man die starke Tendenz zu einer quantifizierenden Frömmigkeit 50 - und dies gewiss mit Recht - kritisieren möchte, so darf nicht übersehen werden, wie groß dabei das Verdienst um die Bildung einer Gemeinschaft im christlichen Sinn wiegt. Der Beter wird auch über den Tod nicht nur seiner Angehörigen hinaus, sondern wegen aller „armen Seelen im Fegefeuer“ dazu ermuntert, das Gebet für den Nächsten zu pflegen, so wie er sich des Gebetes der anderen, besonders in der Stunde des Todes, sicher sein darf. 51 Andererseits beinhaltet das Buch viele Gebete, die sich den Situationen der einzelnen Beter 52 in ihren jeweiligen Ständen und Lebenssituationen anpassen. Es vereinigt also individualisierende mit den gemeinschaftsbildenden Elementen. Eine wichtige Rolle spielt die Heiligung in der Zeit: Das Kirchenjahr, die Verehrung der Heiligen, die Tagesheiligung durch Morgen- und Abendgebete und etliche andere dargebotene oder sonst empfohlene Andachten begegnen auf Schritt und Tritt und machen weit über ein Drittel des Buches aus. Freilich - und dies ist typisch - ist es dem Autor mehr darum zu tun, zu beständigem Gebet zu ermuntern, als darum, die Zeiten untereinander zu gewichten. So droht, der kritischen Anmerkung Sailers ganz entsprechend, der wesentliche Kern, worauf sich die christliche Frömmigkeit zu richten hat, in dem Vielerlei unterzugehen. Die Permanenz des Gebetes scheint besser in den Litaneien figuriert. Sie sind - wiederum üblicherweise - weit zahlreicher als die dargebotenen Tagzeiten. Jedenfalls spielen Letztere, wenn sie nicht gerade als das offizielle und darum umso kräftigere Gebet der Kirche für die Verstorbenen auftreten, kaum eine tragende Rolle. Über einige Psalmen hinaus, die in den wenigen Offizien oder als Bußpsalmen angeboten werden, ist das biblische Gebet, wie bei den meisten folgenden Büchern, kaum präsent. Bemerkenswert ist schließlich, dass die Wahrnehmung der konkreten Örtlichkeit des Gebetes immer wieder betont wird: Das Kirchengebäude und alle anderen Lokalitäten werden so als die Orte einer geschichtlichen Handlung von Heil und Unheil präsent gehalten. Die liturgische Handlung ist dem frommen Beter gewiss 50 Einen weiten Überblick zu diesem Aspekt der Frömmigkeitsgeschichte verschafft Franz Neiske, Frömmigkeit als Leistung? Überlegungen zu großen Zahlen im mittelalterlichen Totengedenken. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 80 (1990), S. 35-48 und der Aufsatz eines Autorenkollektivs um Arnold Angenendt, Gezählte Frömmigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1-71, für unseren Zusammenhang bes. 40-71. 51 Vgl. hierzu den Exkurs über zwei Sterbeliturgien S. 105. 52 Um nicht zu verwirren, setzte ich stets den Maskulin Plural als den im Deutschen immer noch gebräuchlichen Generalis. Mit gewissem Recht hätte allerdings ebenso gut der Feminin Plural stehen können, da der ganz überwiegende Teil der Leser weiblich gewesen sein dürfte. <?page no="45"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 35 ferne - darin ist Schrott zuzustimmen. Doch dabei betend im gleichen Raum zu verharren, ist für Martin von Cochem von großer Wichtigkeit. Schon hier zeigt sich deshalb, dass der Begriff aliturgisch zur Kennzeichnung der inneren Haltung der nachtridentinischen Gebetbücher nur teilweise der gemeinten Sache gerecht werden kann. Welch hohe Bedeutung es für den intendierten Leser hat, vor allem bei der Hl. Messe anwesend zu sein, ist allerorten ausgesprochen. Wilhelm Nakatenus, Das Himmlisch Palm-Gärtlein, 1770 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Festkalender 1,7 2. Unterricht vom Gebet 1,1 3. Tagzeiten Marienoffizium und Offizium für die Verstorbenen, danach werden anhand eines Wochenplans alternativ je zwei Offizien angeboten: Von der Hl. Dreifaltigkeit, von allen Heiligen (So.), Vom Hl. Geist, ein zweites Offizium für die Verstorbenen (Mo.), vom Namen Jesu, von Joachim und Anna (Di.), vom Schutzengel, von den hll. Ignatius und Franz Xaver (Mi.), vom Altarsakrament, von der hl. Barbara (Do.), vom hl. Kreuz, von Mariä Schmerzen (Fr.), von der unbefleckten Empfängnis, vom hl. Joseph (Sa.). 38,5 4. Morgen-, Abend- und tägliche Gebete Stark belehrend, immer wieder von Unterweisungen durchzogen. 5,5 5. Messgebete Wiederum mit katechetischen Stücken. Zwei Weisen der Messbetrachtung: Selbstaufopferung und Vergegenwärtigung des Leidens Christi. 3,6 6. Andachtsübungen zur Herzenswunde Christi, dem hl. Kreuz, den hl. drei Königen, zur hl. Ursula. 1,5 7. Gebete und Unterweisungen für allgemeine Nöte und besondere Anlässe. 7,7 8. Beichtgebete 5,6 9. Kommuniongebete 5,5 10. Unterweisungen (einen Stand zu erwählen und über das Predigthören) 1,4 11. Kirchenjahr 13,0 12. Krankengebete 6,9 13. Unterricht vom Betrachten 3,2 14. „Rüst-Häußlein“ (Glaubensunterweisung) 4,9 <?page no="46"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 36 Kurze Charakteristik: Das Himmlisch Palm-Gärtlein des Wilhelm Nakatenus 53 , das, ebenso wie die Werke des Martin von Cochem, die weiteste Verbreitung gefunden hat, spricht einen Adressatenkreis an, bei dem wohl ein gewisses Maß an Bildung vorauszusetzen ist, mindestens aber ein Bildungshunger. Die zahlreichen Belehrungen über Glaubenspunkte und die Unterweisung in geistlichen Übungen legen dies nahe 54 . Auf den ersten Blick ist die gebotene Tagzeitenliturgie mit den jeweils angehängten Litaneien besonders auffällig. Nach Nakatenus soll auch der Laie das vollziehen, was das offizielle Gebet der Kirche ist, soll sich daran nähren und sich einfügen in deren Rhythmus. Als Vorbild dienen ihm allerdings nicht die Klöster, sondern der Weltklerus, der das Breviergebet einzeln und in der Stille übt. Und so gilt auch für das Gebetbuch des Nakatenus: „Individualistische Frömmigkeit prägt den Charakter des Himmlisch Palm-Gärtlein.“ 55 Zweifellos ist dabei die jesuitische Tradition (z.B. beim abendlichen Examen) leitend. Dass das Gebet beständig und im Sinne der Kirche, d.h. auf ihre Weise, im Wissen um ihr Glaubensgut, geschieht, ist entscheidend für Nakatenus. In welche konkrete Gemeinschaft sich der Beter hingegen einbezogen fühlen darf, an welchen konkreten Orten er sich zu heiligen übt, scheint ihm von sekundärer Bedeutung. Von großem Gewicht sind im Himmlisch Palm-Gärtlein die Zitate aus der Heiligen Schrift. Küppers zählt über 1100 Stellen, die meist wörtlich wiedergegeben werden. Bedingt durch die große Affinität zur Tagzeitenliturgie kommt dabei natürlich dem Psalter, aus dem er insgesamt 60 Psalmen ganz zitiert, die bedeutendste Rolle zu. Viele der übrigen Schriften des Alten und Neuen Testaments kommen vor, meist als Gebetstexte, manchmal in den katechetischen Teilen. 56 Das Nakatenus-Gebetbuch setzt sich damit von den übrigen hier erwähnten Gebetbüchern deutlich ab. Johann Christian Elias, Kern aller Gebett, 1782 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Festkalender 1,8 2. Stoßgebete 0,5 3. Morgen-, Abendgebet, tägl. Andacht 5,0 4. Messgebete 7,9 5. Beichtgebete 6,0 53 Zu diesem im Ganzen: Küppers, Palm-Gärtlein. 54 Gegen Küppers, der aufgrund der schlichten und verständlichen Sprache schließt, Nakatenus schreibe für einfache Menschen. Vgl. ebd., 397. Vgl. auch Georg Schreiber, Deutsche Bauernfrömmigkeit in volkskundlicher Sicht, Düsseldorf, 1936, 26: „Es hat die Barockfrömmigkeit und Bauernfrömmigkeit wesentlich beeindruckt, jenes ‚Himmlisch-Palm-Gärtlein‘ […].“ 55 Ebd., 396. 56 Zum Schriftgebrauch bei Nakatenus ebd., 86-95. Auch die Schriften der Kirchenväter wurden übrigens in reichem Maß berücksichtigt. Vgl. ebd., 95-105. <?page no="47"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 37 7. Kommuniongebete 3,2 8. Ablassgebete 2,1 9. Andachten und Tagzeiten nach Wochenplan Hl. Dreifaltigkeit (So.), IHS (Mo.), Schutzengel (Di.), Hl. Geist (Mi.), Altarsakrament (Do.) 10,0 10. Passionsandacht (Fr.) 3,8 11. Andachten und Tagzeiten zu hll. Anna und Joseph (Sa.) 3,7 12. Andachten und Tagzeiten zur Mutter Gottes (Sa.) 6,6 13. Vesper und Komplet vor allem für die Sakramentsandacht. 3,7 14. Heiligenverehrung 5,5 15. Kirchenjahr Nach Kalenderjahr, nicht nach dem Kirchenjahr gegliedert. Hier nochmals z.B. Passions- und Sakramentsandachten zu den entsprechenden Zeiten. 19,5 16. Krankengebete 1,0 17. Für die Verstorbenen 4,7 18. Bruderschaftsteil Todesangst Christi und Marianische Liebsversammlung 15,0 Kurze Charakteristik: Das Buch darf nicht mit dem bekannten Gebet des evangelischen Theologen Caspar Neumann verwechselt werden, das weiter unten bei der Königlichen Halszierde und dem Marianisch-Dettelbacher Weingarten noch zu erwähnen ist. Das Werk des sonst nicht näher bekannten Autors ist so angelegt, dass es den Grundbedürfnissen eines Gebetslebens mit einfachem Anspruch Rechnung trägt. In diesem Sinn ist sein Titel zu verstehen. Dass das Kalkül des Verfassers aufging, zeigt sich an den zahlreichen Auflagen, die das Buch erlebt hat. Die Erstauflage datiert von 1732. Ohne Veränderungen wurde es noch fünfzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen wieder abgedruckt, jetzt vermehrt um einen eigenen Bruderschaftsteil. Im 19. Jahrhundert ist es noch häufig aufgelegt worden. Wie die Bücher des Martin von Cochem und des Wilhelm Nakatenus vertritt es einen Typus, der sich vom Hortulus Animae herleitet, jenem Gebetbuch, das im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert variantenreich vor allem im deutschsprachigen Raum gedruckt wurde und sich großer Beliebtheit erfreute. Wesentliche Elemente desselben sind die Anführung eines Heiligen- und Festkalenders, des kleinen Marienoffiziums, der sieben Bußpsalmen, der Allerheiligenlitanei, der Suffragien und eines Offiziums für die Verstorbenen 57 . Weiter tritt durch den re- 57 Vgl. Art. Hortulus Animae (Peter Ochsenbein). In: Verfasserlexikon, Berlin, 1983, Bd. 4, 147ff. S. auch Stephan Beißel, Zur Geschichte der Gebetbücher, In: Stimmen aus Maria Laach 77 (1909), 175f. Diese wesentlichen Elemente weisen auf die Herkunft des Hortulus Animae von den mittelalterlichen Stundenbüchern hin. <?page no="48"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 38 lativ breiten Raum, den Messe, Beichte und Kommunion (Schrotts Bemerkungen zum Teil bestätigend) einnehmen, allerdings eine durchaus feste Verbindung zur Liturgie und der Kirche beim Kern aller Gebett hervor. Das unterstreichen die beigefügten Holzschnitte: Etliche Abbildungen, die liturgische Vollzüge veranschaulichen, sind darunter. Noch beachtenswerter aber sind diejenigen Darstellungen, die den Betenden in häuslichen Räumen zeigen: Die Wände und das Mobiliar im Raum scheinen hier dem Inneren einer Kirche nachempfunden und machen so die profane Umgebung zur sakralen. Noch merkwürdiger ist schließlich, dass beinahe in allen Abbildungen der mit den göttlichen Personen, der Gottesmutter oder Heiligengestalten angefüllte Himmel mit hineinragt, somit das Gebetbuch großen Wert auf das kosmische Geschehen in der Liturgie und bei jeder Andacht legt. Das Gebet ist hier also nicht anders, als schon bei Martin von Cochem eine stete Vereinigung mit dem Jenseits, genauer: mit dem durch die Kirche geöffneten Himmel. Dass der Ausgabe von 1782 ein eigener Bruderschaftsteil beigegeben wird, unterstreicht, wie wenig diese Begegnung das Privileg eines einzelnen Frommen ist, sondern sich auf eine konkrete, im Gebet verbundene Gemeinschaft bezieht. Bemerkenswert ist allerdings, dass das Buch nur relativ wenige Tagzeiten enthält und auch die Litaneien in anderen Büchern weit zahlreicher vertreten sind. Nicht übersehen werden sollte ferner das problematische Missverhältnis von Marienfrömmigkeit und einer auf Jesus Christus bezogenen Andacht. Stimmen in diesem Bereich die Verhältnisse bei dem sonst mit so viel Vorbehalt betrachteten Martin von Cochem, handelt es sich hier bei Elias gewiss um einen jener Vertreter, die das spätere Vorurteil von der überzogenen Marienfrömmigkeit des Barock und damit von der Marginalisierung des Wesentlichen nährten. Wegen des vorwiegend liturgischen Zusammenhangs könnte man - in Abgrenzung zu dem sogenannten Rollenbuch, das das Verständnis vieler Gesang- und Gebetbücher des 20. Jahrhunderts geprägt hat - Bücher dieser Art liturgische Begleitbücher, die die Teilhabe (den rechtlichen Sinn des Wortes durchaus mitmeinend) am Gebet der Kirche und zur persönlichen Heiligung demonstrieren, nennen. Außer dem Psalter, der im Zusammenhang mit den Tagzeiten, aber auch für die angebotenen Stoßgebete von einiger Bedeutung ist, kommt hier die Heilige Schrift nur wenig zu Wort. Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele, 1781 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Vorrede 1,1 2. Morgen- und Abendgebete 5,7 3. Messgebete 6,0 4. Beichtgebete 2,5 5. Kommuniongebete 6,0 <?page no="49"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 39 6. Andacht zum Altarsakrament 3,0 7. Zur hl. Dreifaltigkeit Darunter auch Andacht zu den sieben Gaben des Hl. Geistes. 4,7 8. Zum Namen Jesu 4,2 9. Zum Leiden Jesu 3,7 10. Tagzeiten zur Vorsehung Gottes 3,7 11. Caspar Neumanns Kern aller Gebete 6,1 12. Tugenderweckung 0,8 13. Marienoffizium und weitere -verehrung 10,5 14. Heiligenverehrung 28,1 15. Allgemeine und besondere Anliegen 11,5 16. Für die Verstorbenen 2,5 Kurze Charakteristik: Das eben angesprochene Missverhältnis in den Inhalten der Andacht tritt bei diesem Titel noch stärker zu Tage. Die Heiligenverehrung und vor allem die Andachtsübungen zur Mutter Gottes nehmen beinahe 40% des Gesamtumfangs ein, während Jesus Christus - dessen Verehrung sich freilich auch auf die anderen Teile ausdehnt, doch gilt Gleiches auch für die Marienverehrung - lediglich zwei eigene Abschnitte mit rund 8% gewidmet sind. Wenn Sailer über sein eigenes Gebetbuch schreiben wird: „Wenn euch Jesus Christus beynahe auf allen Blättern vierbis fünfmal begegnet, so werdet nicht traurig darüber. […] Denkt nur: ‚was gar so oft wiederkommt, unter tausend Gestalten wiederkommt, das muß doch wohl die Hauptsache seyn‘“ 58 , so findet die hier implizierte Kritik an dem Überkommenen einen Anhaltspunkt. Trotz dieser betont katholischen Prägung gewärtigt man in dem Buch manches, was darauf hinweist, dass sich die starre konfessionelle Abgrenzung um die Mitte des 18. Jahrhunderts in kultureller Hinsicht aufzuweichen begann. Manches will mit der Art früherer Gebetbücher nicht mehr recht zusammenpassen. Z.B. liegt uns in diesem ein frühes Zeugnis von der verbreiteten Rezeption des Kern aller Gebete des Caspar Neumann vor 59 . Sailer hat diesen Text ein Jahr vor Erscheinen seines eigenen Gebetbuchs anonym herausgegeben 60 . Es ist interessant zu bemerken, dass bereits in den 1750er Jahren die Verfasserschaft im katholischen Raum bewusst kaschiert oder tatsächlich nicht mehr gewusst wurde. Auch Sailer über- 58 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, Vorrede [ungezählt]. 59 Gemäß dem Zusatz zur Prager Ausgabe, ab 1755: „[…] mit dem Kern aller Gebethern vermehret“. Zu diesem Gebet: Erdmann-Christian Schott, Caspar Neumanns Kern aller Gebete. Zum 350. Geburtstag des Breslauer Kircheninspektors. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 76/ 77 (1997/ 98), S. 243-251. Leider wird darin nicht auf die katholische Rezeptionsgeschichte eingegangen. 60 Kern aller Gebete, sammt einer Zugabe, 1782. <?page no="50"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 40 nimmt die gegenüber dem Original bereits geänderte Reihenfolge der Gebetsteile. So ist wohl anzunehmen, dass er die Originalfassung tatsächlich nicht kannte 61 . Da Sailer in der Einleitung die Veröffentlichung allerdings rechtfertigen zu müssen meint - man muss deshalb wohl davon ausgehen, dass er diese nicht als unproblematisch betrachtet hat - ist die Wiedergabe des Textes in einem so traditionell orientierten Gebetbuch wie der Königlichen Halszierde einer GOtt liebenden Seele doch immerhin sehr auffällig 62 . Ferner wird eine sprachliche Tendenz zur Verinnerlichung sichtbar, wie man sie eigentlich dem Pietismus zuschreiben würde. Man findet Wendungen die von diesem her zu stammen scheinen, etwa die „äußer- und innerliche Eingezogenheit“ 63 . Die eigenen Regungen werden - ganz im Sinne einer auf Gott hin ausgerichteten Selbstbeobachtung, wie sie viele Pietisten geübt haben - minuziös beschrieben. Häufig sind Formulierungen wie diese: „Ich opfere dir alles Winken der Augen, alles Athmen des Munds, alles Klopfen des Herzens, alle Schläge der Pulsadern, alle Schritt meiner Füße, alle Werke meiner Hände, alle Bewegung meiner Glieder, alle Worte, so ich reden wird, alle Gedanken, so ich haben wird, alle Tropfen, so ich trinken wird, sammt allen meinen innerlichen und äußerlichen Werken, so ich von dieser Stund bis auf Morgen thun wird, auf.“ 64 Bewusst heißt es „bis auf Morgen“ und nicht etwa „von dieser Stund an für immer“, denn die Zeit wird in kleine, überschaubare Einheiten zerlegt, indem Tag um Tag die Heiligung neu vollbracht und ein jeder, sofern er gelungen ist, wie die Perlen an einer Schnur aufgehoben werden soll. 65 Eine so vorgestellte Zeit 61 Vgl. ebd., Vorrede [ungezählt]: „Wer immer der Verfasser davon seyn mag, er mußte ein gelehrter, heiliger Mann gewesen seyn.“ 62 Dem Schema nach scheint Sailer der Königlichen Halszierde einer GOtt liebenden Seele also nahe zu sein. Allerdings handelt es sich nicht um die gleichen Textfassungen. Ein textgeschichtlicher Vergleich auch anderer katholischer Ausgaben des Gebets wäre ebenso interessant wie schwierig. Nur ein Beispiel: Neumann leitet den Fürbittteil mit einem Vers aus dem Buch Genesis ein (18, 17): „Ach siehe! Ich habe mich unterwunden zu reden mit dem Herrn / wiewol ich Erde und Asche bin.“ (vgl. Caspar Neumann, Neu-eröffneter Beth-Tempel für Gläubige und Bethende Kinder Gottes, Nebst M. Caspar Neumanns Kern aller Gebethe, Soest, 1718, 18). Sailer legt diesem Bibelvers eine andere Übersetzung zu Grunde: „Ich habe es gewagt zu reden mit dem HErrn, wiewohl ich Staub und Asche bin.“ (vgl. Kern aller Gebete, sammt einer Zugabe, 1782, 38), während es in der Königlichen Halszierde einer GOtt liebenden Seele, Augsburg, 1781, 200 bewusst oder unbewusst falsch heißt: „Ich sieh! ich habe mich unterstanden mit dem Herzen zu reden, wiewohl ich Erde und Aschen bin.“ 63 Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele, Augsburg, 1781, Vorrede an den christlichen Leser [ungezählt]. Die Vorrede und damit die Formulierung taucht in der Ausgabe von 1755 noch nicht auf. Vgl. zum Wortgebrauch August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 1968, 155f. wo das Partizip „eingezogen“ bei Gottfried Arnold und Gerhard Tersteegen, sowie bei Johann Heinrich Jung-Stilling nachgewiesen wird. S. 435 handelt Langen über den bereits verweltlichten Gebrauch des Wortes am Ende des 18. Jahrhunderts. Das ist bei uns nicht der Fall, wohl aber geht der Gebrauch über den engeren Ort seiner Entstehung hinaus. 64 Ebd., 4. Es wäre interessant einmal der Herkunft dieser sezierenden Sprache nachzugehen. 65 So sinngemäß die Einleitung von 1781, die in der Erstausgabe von 1755 fehlt. <?page no="51"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 41 braucht die Wiederkehr der Tagzeiten, den Rhythmus der Woche oder des Kirchenjahres nicht. Tatsächlich kommt dies alles nur in geringem Maße vor. Die Bibel als das große Gebetbuch der Christenheit wird den Lesern nicht in Erinnerung gerufen. Ebenso fehlt - wiewohl den Gebrauchsspuren des vorliegenden Exemplars der Prager Ausgabe nach zu schließen, die Messgebete der am häufigsten verwendete Teil des Buches war - der Bezug zu einer konkreten Gemeinschaft. Ja, überhaupt kommt der Nächste nur in dem Teil, der den Verstorbenen gewidmet ist, vor. Kein Zweifel: Die Neigung zu einer ins Private zurückgezogenen Frömmigkeit, der offenkundig der Bezug zur betenden Kirche fehlt, und die diese nur noch als Anstalt, die ein gewisses Glaubensgut verwaltet, wahrnimmt, ist unverkennbar 66 . Man wird wohl nicht fehlgehen, in dem Adressatenkreis auf ein eher vornehmeres, zum großen Teil weibliches Publikum (vgl. schon die Metaphorik im Titel, die wenig auf Männer gewirkt haben mag) zu schließen, dem die dort gebräuchlichen, mitunter komplizierten rhetorischen Formeln geläufig waren und das Wert darauf legte, sich von anderen Schichten genügend abzugrenzen. Hier verraten die Illustrationen wieder einiges über die Intention des Verfassers. 1781 sind es die vornehm gekleideten Personen, die einzeln oder im Gespräch mit einem kirchlichen Würdenträger vor dem Hintergrund einer Rokokoarchitektur abgebildet sind. In diesen Kreisen mag ein Interesse vorhanden gewesen sein für neue Andachtsübungen, gleichviel ob es sich dabei um die Verehrung des Herzens Jesu 67 , die allerorten durchscheint, handelt, ob sie wie beim Kern aller Gebete der protestantischen Konfession entlehnt sind oder - wie im Fall der Tagzeiten von der göttlichen Vorsehung - zeitbedingt scheinen. Für das Votivoffizium des letzteren, das möglicherweise die Auseinandersetzung mit dem Deismus widerspiegelt, ist dieses Gebetbuch nämlich ein besonders früher Nachweis 68 . Weitere Fragen nach der Herkunft können hier auf sich beruhen. Der Ort der Prager Ausgabe, dessen Frontispiz, auf dem das Kruzifix Ferdinands II. abgebildet ist, und ein „Gebeth zu der Göttlichen Mutter, oder: das sogenannte Passauergebeth“ 69 weisen allerdings auf das theresianische Österreich hin 70 . 66 Auch kommen kaum katechetische und betrachtende Teile vor. 67 Vgl. Schrott 1937, 240: „Die Verehrung Christi findet in der Volksandacht des 18. Jahrhunderts ihren vornehmlichen Ausdruck in der Herz-Jesu-Andacht.“ 68 Einen noch früheren Nachweis als vor 1755 konnte ich bisher nicht erbringen. Am häufigsten treten das Offizium und eine entsprechende Litanei ab 1780 auf. 69 S. Schrott 1937, 232f. 70 Vgl. auch Anna Coreth, Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, München, 1959, 65, worin Maria Theresias Marienfrömmigkeit beschrieben ist: Es sei bei ihr „nicht zu verkennen, daß sich die Gesinnung um eine Nuance verschoben hatte. Maria Theresia, die Landesmutter, sieht in Maria vorwiegend die ‚Gnadenmutter‘ und Schutzfrau, deren Stellung als Herrscherin und Königin aber verblaßt.“ Es gälte, „daß man sich zwar im Übernatürlichen eine Hilfe suchte, jedoch darin nicht mehr die ausschließliche Basis alles Herrschertums“ gesehen habe. <?page no="52"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 42 Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, 1759 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Vorrede 4,3 2. Morgengebete 1,2 3. Messgebete 40,1 4. Abendgebete 0,6 5. Beichtgebete 3,0 6. Kommuniongebete 4,9 7. Erweckung der drei theologischen Tugenden 6,2 8. Litaneien zum süßen Namen Jesu, zum Leiden Christi, die Lauretanische Litanei und die Allerheiligenlitanei. 26,5 9. Für Kranke Enth. u.a. eine Litanei vom süßen Namen Jesu für Kranke. 9,9 10. Für die Verstorbenen 1,2 11. Ablass-Gebet 2,1 Eusebius Amort, Brevier eines guten Christen, 1760 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Festkalender 0,1 2. Morgen-, Abend-, und tägliche Gebete 8,6 3. Messgebete 8,8 4. Beichtgebete 8,4 5. Kommuniongebete 7,6 6. Gebete zur hl. Dreifaltigkeit 15,9 7. Jesus Christus Enthält Herrenfeste und Leiden Christi 22,0 8. Gebete zum Altarsakrament 6,7 9. Zur Mutter Gottes 12,0 10. Zu den Heiligen 4,0 11. Für unterschiedliche Stände. Gebete bei besonderen Anlässen 1,9 12. Krankengebete 3,5 13. Für die Verstorbenen 0,5 <?page no="53"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 43 Kurze Charakteristik: Eine markante Ausnahme unter den hier vorgestellten Büchern, das, den Auflagen nach zu schließen, nicht wenig verbreitet gewesen zu sein schien, bildet das Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein 71 . Sein hauptsächlicher Sinn geht aus dem Titel hervor: Die Andacht der Gläubigen bei der Messe soll gefördert werden und das tut dies Buch, indem es die Texte des Messordo (vom Dreifaltigkeitssonntag) vollständig, d.h. mit Einschluss des römischen Kanons übersetzt, damit - dies schärft das Vorwort ein - das Volk lerne, das Messopfer „mit- und durch den Priester“ 72 aufzuopfern. Damit zeigt es die Defizite der gängigen Andachtspraxis, wie Schrott bemerkte, auf. Der Aspekt des gemeinsamen Opfers fiel dem Bewusstsein der Frömmigkeit beinahe total aus dem Gesichtsfeld. Es zeigt sich indirekt die gemeinsame Grundlage: Allerorten ging es im zeitgenössischen Andachtswesen darum, dem sich am Altar vollziehenden unblutigen Opfer Jesu Christi beizuwohnen und der gewirkten Gnaden teilhaftig zu werden. „Gleichwie Christus, welcher sich am heil. Creutz geopferet, und noch immer auf dem Altar opferet, der Ursprung aller Gnaden ist, welche wir von GOtt durch Christum unsern Herrn bitten und hoffen, also können wir auch durch das Heil. Meß-Opfer alle Gnaden erlangen, wann wir selbes gebührend mit- und durch den Priester aufopferen, sonst aber uns jener Gnaden, so wir verlangen, nicht unwürdig machen, noch etwas verlangen, so denen weisen Göttlichen allgemeinen Verordnungen in Regierung diser Welt, oder unseren eignen Seelen-Heyl und besseren Nutzen zuwider streitet.“ 73 Der Duktus mag hier einer eudämonistischen Grundperspektive geschuldet sein; mehr oder weniger stark ausgeprägt findet sich dieses Konzept aber in den meisten Gebetbüchern der Zeit zu Grunde gelegt. Die Widergabe des Messordo darf daher nicht als das, was im 20. Jahrhundert „tätige Teilnahme“ heißen wird, missverstanden werden. Vielmehr geht es hier wie überall, pointiert gesprochen, um die Teilhabe an den Gnadengaben. Wiewohl es also beachtlich ist, dass der Gemeinsamkeit des Opfers und nicht der von der Gemeinde losgelösten Selbstaufopferung hier wieder ein eigener Rang eingeräumt wird, bedeutete es dennoch einen Anachronismus, wollte man eine so betrachtete Liturgie schon als Feier aller Anwesenden (das impliziert ja die echte Teilhabe) bezeichnen: Die Intention der Teilhabe, nämlich Gnadengaben zu erlangen, öffnet sich noch nicht vollständig dem freien Dank und Lob, die allein Voraussetzung für eine Feier im eigentlichen Sinn des Wortes sein können. 74 71 Zur bibliographischen Situation s. Angelus Häußling: Das Missale deutsch, Münster 1984, Nr. 195-199 und Philipp Gahn, Eusebius Amort: Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, Augspurg 1759. In: Schätze als Alltag, Regensburg, 2001, 114-115. 72 Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, Augspurg 1759, Vorbericht [ungezählt]. 73 Ebd. 74 An dieser Stelle habe ich mich zu korrigieren. In dem genannten Artikel (Anm. 71) zu Amorts Messbüchlein schrieb ich: „Dem weithin üblichen Brauch, während der Messe den Rosenkranz zu beten, wirkt Amort mit diesem Buch entgegen, indem er im Vorwort ausdrücklich, wie 200 Jahre nach ihm das Zweite Vatikanische Konzil, die Mitfeier aller Gläubigen betont.“ Es schmälert Amorts Verdienst nicht, wenn man sich nur darauf beschränkt zu sagen, dass er - <?page no="54"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 44 Amort schuf mit seinem Messbüchlein etwas dem Kern aller Gebett des Johann Elias Vergleichbares. Den Wunsch, dem Beter ein Begleitbuch zur Liturgie an die Hand zu geben, hegten die beiden Autoren gleichermaßen. Der Sache wurde Amort aber besser gerecht. Auf das rechte Verständnis der Messe im buchstäblichen Sinn legte Amort den größten Wert. Dagegen ist die Tagesheiligung kaum und die weitere Heiligung in der Zeit gar nicht entwickelt. Das liegt jedoch nur daran, dass Amort sein Messbüchlein nicht als Manual des gesamten geistlichen Lebens verstand. Wenn er schreibt: „[…] es bestehet in disem [sc. dem Messopfer] schier der ganze offentliche Gotts-Dienst, welchen Christus verordnet hat“ 75 , so ist die Zielrichtung des Buches damit gut umschrieben: es geht hier um den öffentlichen Gottesdienst, der in das Bewusstsein des einzelnen Christen gehoben werden soll. Das zeigt sich auch am Umgang mit den Litaneien. Sie machen den zweitgrößten Teil des Buches aus und stellen zusammen mit dem Messordo zwei Drittel des Gesamtumfangs. Litaneien waren ein wichtiger Bestandteil des damaligen gottesdienstlichen Lebens und wurden bei allgemeinen Andachten, bei Prozessionen oder gleichsam als Coda zur Vesper gebetet. 1601 hatte Klemens VIII. ihren Gebrauch allerdings auf die Allerheiligenlitanei und die Lauretanische Litanei eingeschränkt 76 . Im 19. Jahrhundert kamen die Litaneien vom Namen Jesu (1862) und vom Herzen Jesu (1899) hinzu. Bedenkt man, dass das Verbot andere Litaneien in der Liturgie zu beten zwar im Allgemeinen beachtet wurde, es sich dennoch im deutschsprachigen Raum nie vollständig durchsetzen konnte, so sehen wir, dass Amort, der nur die gängigen Litaneien abdruckte, sie nicht vornehmlich zum persönlichen, sondern wiederum für den gottesdienstlichen Gebrauch gedacht hatte. Das Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein konzentrierte sich also auf das Zentrum der christlichen Frömmigkeit, die Messe, und sparte deren weitere Felder bewusst aus. Den Zweck des Manuals erfüllte dagegen das Brevier eines guten Christen - ein dem Nakatenus-Gebetbuch vergleichbarer und ebenbürtiger Titel. Wenn das Beten sich hier zwar nicht vornehmlich auf die Tagzeiten konzentriert, so spielen sie doch darin keine untergeordnete Rolle. Noch wichtiger sind die Litaneien, deren das Gebetbuch zehn enthält und die diesmal besonders für das stille, persönliche Gebet vorgesehen sind. Neben den schon im Messbüchlein genannten sind dies auch solche, die moraltheologische Aspekte zum Gegenstand der Meditation haben: eine Litanei von den Vollkommenheiten und „annehmlichen Sitten Gottes“, eine Litanei von der göttlichen Vorsehung, zwei Litaneien von der Vereinigung des eigenen Willens mit dem göttlichen, Litaneien zum Herzen Jesu wie wir im folgenden Kapitel sehen werden (s. S. 100) - nicht ohne Einfluss auf Sailer und deshalb wirksam genug den Aspekt des gemeinsamen Opfers, nicht aber den der Feier, Geltung verschafft hat. 75 Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, Augspurg 1759, Vorbericht [ungezählt]. 76 Vgl. Franz Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher, Aalen, 1967, Bd. 2,1, 75ff. „In Deutschland gibt es ja einige Sammlungen von Litanieen, die von Bischöfen approbirt und in katholischen Blättern empfohlen worden sind, wie denn auch allerlei Litanieen in Kirchen und Processionen gebetet zu werden pflegen, - alles in Widerspruch mit den Römischen Verordnungen.“ (77). <?page no="55"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 45 und zum Herzen Mariä sowie „zu einigen Patronen, deren verehelichte Personen zu Erlangung und Bewahrung einer Gott wohlgefälligen Leibs-Frucht“ 77 . Daneben bringt dieses Gebetbuch nichts Ungewöhnliches, aber dieses stets kraftvoll, oft auf andere geistliche Schriftsteller zurückgreifend und mit großer Aufmerksamkeit für die rechte Messandacht. Zwar wird die Messe nicht übersetzt, aber doch deren Texte paraphrasiert, so dass der Gläubige dem Tun des Priesters folgen kann. Das auch unsere Arbeit leitende Grundverständnis von Frömmigkeit als Übereinstimmung von innerer Haltung und äußerem Dienst ist dem Autor dieses Gebetbuchs besonders bewusst gewesen. Darum räumt er auch der guten Meinung und der inneren Sammlung am Morgen ein besonders großes Gewicht ein. Und dieser Beweggrund führt ihm auch die Feder, wenn er dem Beter Anweisungen für das rechte Gebet gibt. 78 . Gemüths-Erhebung zu Gott, 1760 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Unterricht vom Gebet 2,8 2. Morgengebete 3,0 3. Messgebete 5,0 4. Beichtgebete 1,1 5. Kommuniongebete 2,2 6. Tagzeitengebete und Andachten Zur Hl. Dreifaltigkeit, zur göttlichen Vorsehung, zum Namen Jesu, zum Hl. Geist. 20,0 7. Tagzeiten vom hl. Kreuz und Passionsandachten 5,2 8. Mariengebete 34,5 9. Tagzeiten zum hl. Joseph und allen Heiligen 11,1 10. Kirchenjahr Nicht nur das Herren- und Marienjahr. Auch Apostelfeste etc. 6,7 11. Für die Kranken und Sterbenden 1,4 12. Für die Verstorbenen 3,4 13. Abendgebete 3,6 77 Eusebius Amort, Brevier eines guten Christen, Augsburg, 1760, 598. Bereits Stephan Beißel wies darauf hin, dass die Litaneien des 17. und 18. Jahrhunderts die dogmatischen Auseinandersetzungen der Zeit zum Inhalt hätten. Vgl. ders., Zur Geschichte der Gebetbücher, In: Stimmen aus Maria Laach 77 (1909), 400f. 78 Vgl. Eusebius Amort, Brevier eines guten Christen, Augsburg, 1760, 4: „Derohalben auch der Heil. Paulus I. Cor. 14 sagt: Ich will betten dem Geist nach: ich will betten mit dem Gemüth. So ist demnach das Maul-Gebett ohne innerliche Andacht bey Gott gar schlecht angesehen; es ist wie ein todter Leib ohne Seel.“ <?page no="56"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 46 Kurze Charakteristik: Das Buch ist, wie es selbst auf dem Titelblatt ankündigt 79 , von geringer Originalität. Eine Hauptquelle ist das Nakatenus-Gebetbuch gewesen, von welchem es den Unterricht vom Gebet und etliche Offizien und Litaneien übernommen hat. Mit ihm teilt es wohl das Anliegen, dem Beter den Glaubenskern vorzulegen, das Wissen um diesen zu sichern. Keine Nachahmung fand dabei allerdings Nakatenus’ enormer Rückbezug auf die Bibel. Gerade wegen der Kompilation aus anderen Werken spiegelt es die Grundbedürfnisse einer einfachen Frömmigkeit wider. Man könnte auch sagen: was sich bis zum Zeitpunkt seines Erscheinens für die Praxis bewährt hat, fand in ihm Aufnahme. Insofern zeigt sich, dass die überbewertete Marien- und Heiligenverehrung, die hier gut 45% des Buches ausmacht, nicht als vereinzelte Erscheinung, sondern als zeittypisch angesehen werden muss. Merkwürdigerweise machen Beicht- und Kommuniongebete nur einen geringen Teil des Buches aus. Dagegen bilden das Tagzeitengebet und der Wochenrhythmus 80 einen wichtigen Bestandteil. Konkrete Bezüge zum Kirchenraum oder zu einzelnen Handlungen des Beters (z.B. „Beim Ankleiden sprich“ u.ä.), wie sie bei Martin von Cochem oder Wilhelm Nakatenus häufig vorkommen, fehlen. Der Ort des Gebets tritt nicht deutlich zu Tage. Im vorliegenden Verständnis entspricht das Gebet des Einzelnen dem Beten der Kirche vor allem durch die Beachtung der Zeiten, welche durch Tagzeiten und Heiligenverehrung vorgegeben sind. Johann Isi, Marianisch-Dettelbacher Weingarten, 1789 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Kalender 2,6 2. Morgen-, Abendgebete, tägl. Andacht 5,2 3. Messgebete 8,2 4. Vespergebete 3,6 5. Beichtgebete 3,4 6. Kommuniongebete Enth. außerdem Ablassgebete, Sakramentsandacht, monatliche und jährliche Andachtsübungen der Corpus-Christi-Bruderschaft (darin u.a. Lauret. Litanei). 11,4 7. Andachten zur Hl. Dreifaltigkeit 3,6 79 „Aus bewehrten Authoribus zusammen getragen zu Nutz, und Gebrauch einer andächtig- Christ-Catholischen Seele“. 80 362: „Wochentliche Betrachtung auf alle Täg. Für den Montag. Von grossen Ublen, und Straffen der Todsünd. Für den Erchtag. Von denen Gutthaten Gottes. Auf den Mittwoch. Von dem Tod. Auf den Donnerstag. Vom Particular- und jungsten Gericht. Auf den Freytag. Von dem Leyden Christi. Am Sambstag. Von der Höll. Am Sonntag. Von dem Himmel.“ Man beachte, dass die Woche hier am Montag und nicht am Sonntag beginnt! <?page no="57"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 47 8. Passionsandachten 5,0 9. Andachten zum Hl. Geist 3,2 10. Marienverehrung 7,8 11. Heiligenverehrung 7,8 12. Gebete in allgemeinen und besonderen Notlagen 1,0 13. Für Kranke und Verstorbene Verweis auf zahlreiche andere Gebete dieses Buches. 0,8 14. Wallfahrtsgebete Enth. vor allem persönliche Gebete, die eine gute Gesinnung erwecken sollen. 4,5 15. Kirchenjahr 11,9 16. Anhang Enth. einen besonderen Teil zu der Wallfahrt Maria Dettelbach, den Kreuzweg, Caspar Neumanns Kern aller Gebete, Tagzeiten mit Litanei von der göttlichen Vorsehung 20,0 Kurze Charakteristik: Dieses Gebetbuch verdankt seine Entstehung dem Ort Dettelbach in Unterfranken, das ein sogenanntes Vesperbild (eine Pietà) zur Wallfahrt ausstellt 81 . Es möchte nicht nur, indem es dafür einige persönlich gehaltene Gebete anbietet, als Begleitbuch für die Wallfahrt selbst genutzt, sondern auch täglich gebraucht werden. Auf diese Weise wird eine beständige Verbindung zum Gnadenort geschaffen. Im Kommunionteil bezieht es sich insbesondere auf eine Corpus-Christi-Bruderschaft. Als Beter müssen wir also fest in räumliche und soziale Bezüge verwurzelte Personen annehmen. Inhaltlich ist es stark von der Herz-Jesu-Frömmigkeit geprägt. Gleich zu Beginn wird der Leser z.B. ermahnt: „‚Gott mein Gott, früh wache ich zu dir‘ Ps. 62 Wann ein Christ erwachet, soll er seine Gedanken zu Gott wenden auf folgende Weise: Sey tausendmal gegrüßt, o geliebtes Herz Jesu! Wie sehr liebst du mich, o daß ich dich recht lieben könnte! “ 82 Die Eigenheiten einer alles sezierenden Sprache sind hier längst nicht so ausgeprägt wie bei der Königlichen Halszierde, dennoch scheinen Wendungen wie „alle Bewegungen meines Herzens und Pulsadern“ auffällig. Auch der Kern aller Gebete des Caspar Neumann und das Votivoffizium von der göttlichen Vorsehung ist im Anhang mit aufgenommen. Da beide katholischen Gebetbücher im Charakter eigentlich voneinander sehr verschieden sind, lässt sich vielleicht schließen, dass um 1770 83 die breiteren Schichten des katholischen Volkes erreicht hatte, was 81 S. dazu Wallfahrt im Bistum Würzburg, Würzburg, 1996, 89ff. 82 Johann Isi, Marianisch-Dettelbacher Weingarten, Fuld und Wirzburg, 1789, 1. 83 Das Imprimatur datiert von 1772. <?page no="58"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 48 zwanzig Jahre vorher in der Königlichen Halszierde noch einem erleseneren Kreis vorbehalten war. Über die wenigen Tagzeiten hinaus, die der einfachen Tagesheiligung dienen sollen, ist das Bemühen um beständiges Beten auffällig. Stoßgebete zu den zwölf Stunden der Tageshälfte, geistliche Uhr 84 genannt, werden ebenso wie allerlei Sprüche für alle möglichen Tätigkeiten während des Tages angeboten. Wie bei Martin von Cochem und Johann Christian Elias kann der Schriftsteller die Gnade pauschal versprechen und ihr jeweiliges Quantum genau berechnen. Gewiss auch dies ein problematischer Zug nicht weniger Gebetbücher der Zeit. Karl Braun, Gebet- und Erbauungsbuch, 1783 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Morgengebete 1,8 2. Messgebete 19,3 3. Beichtgebete 4,4 4. Kommuniongebete 10,1 5. Zur Predigt 4,6 6. Betrachtung 11,9 7. Te Deum 0,7 8. Abendgebete 3,0 9. Kirchenjahr ausschließlich das Herrenjahr. 4,4 10. Marienfeste 2,1 11. Gedanken für den Sonntag 16,3 12. Orationen für die Feste des Kirchenjahres 11,7 13. Sterbebesinnungen und -gebete 3,2 14. Anhang mit Litaneien Litanei zur göttl. Vorsehung, Namen Jesu, Lauretanische Litanei, Allerheiligenlitanei, Gebete aus dem Rituale Romanum bei einem Sterbenden. 6,5 Kurze Charakteristik: Das Neue dieses Gebetbuchs fällt bei Betrachtung des Aufbaus sogleich ins Auge: Nicht die Heiligenverehrung, nicht die Votivandachten bestimmen die Gebete, sondern der Sonntag und die Messe. Nimmt man den Bereich der Beichte und Kommunion noch hinzu, so macht dieser Schwerpunkt weit über 70% des Gesamtumfangs aus. Umfänglich ist die Übung der Betrachtung. Von 84 Vgl. zu dieser geistlichen Übung den Artikel Horloge spirituelle (Émile Bertaud). In: Dictionnaire de spiritualité, Bd. 7,1, 745-763. <?page no="59"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 49 geringerer Bedeutung ist demgegenüber die Tagesheiligung, die Sterbebesinnungen und Gebete, sowie die Marien- und Heiligenverehrung. Von letzterer werden jeweils nur die Orationen des Tages geboten. Deutlich zum Ausdruck kommt das gespaltene Verhältnis der Epoche zum Tagzeitengebet: Kein einziges Offizium wird angeboten und von zeitgenössischen Themen, wie das der göttlichen Vorsehung, die an sich als wertvoller Gegenstand der Andacht verstanden wurden, blieb nur die Litanei bestehen. Ein vielsagender Umstand, wenn man bedenkt, dass der Verfasser Mitglied des Benediktinerordens war! Aber nicht nur dies: Der Wochenrhythmus spielt gar keine Rolle. Das Kirchenjahr wird beinahe als eine Aneinanderreihung von Sonntagen verstanden. Wird der verbreitete Vorwurf, die Barockzeit hätte die Passionsfrömmigkeit gegenüber dem Osterereignis der Auferstehung zu stark betont, durch einen Blick in die eben angeführten Gebetbücher bestätigt, so muss von Brauns Entwurf gesagt werden, dass er dem, was er zurückdrängte, nur die Egalität der Feste entgegen zu stellen hatte. Das Urdatum des Heils, die Auferstehung Jesu Christi, hat er jedenfalls nicht als das Ereignis erkannt, das Jahr, Woche und Tag seinen Sinn gibt. Sonntag für Sonntag geht er allerdings auf die jeweiligen Evangelienperikopen ein. Die Botschaft des Alten und Neuen Testaments kommt auch in den betrachtenden Teilen zu Wort. Selten sind direkte Zitate; zum Gebet bietet Braun die Bibel nicht an. Die fromme Übung erscheint dem Verfasser als etwas zwar Wichtiges, vor allem aber Punktuelles und immer auf einen Anlass bezogen. Stimmig finden sich darum auch Gebete, die auf den Kirchenraum Bezug nehmen. Für die Auffassung vom immerwährenden Gebet besitzt er, anders als viele seiner Vorgänger, kein Sensorium. Wahrscheinlich wurde eine solche Reduzierung zunächst als wohltuend, nach und nach aber als öde empfunden. Viele Auflagen hat das Buch jedenfalls nicht erlebt. Karl Heinrich Seibt, Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 1779 Anteil am Gesamtwerk in % 1. Vom Gebet 3,5 2. Standespflichten und Vorschriften zu einem christlichen Lebenswandel 11,5 3. Morgengebete 2,5 4. Vaterunser-Paraphrase und Betrachtungen auf alle Tage des Monats 17 5. Abendgebete 3,0 6. Messgebete 8,3 7. Beichtgebete 21,0 8. Kommuniongebete 7,0 9. Andachten für alle Wochentage 5,7 <?page no="60"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 50 10. Für verschiedene Anlässe 16,0 11. An Ostern, Weihnachten, Pfingsten 2,5 12. Litaneien 2,0 Kurze Charakteristik: Die Übersicht lässt schnell deutlich werden: Dieses Buch versucht nicht so sehr das Gebet auf einen Hauptgegenstand der Betrachtung zu lenken, sondern dem Beter ins Gewissen zu reden. Knapp ein Drittel des Buches spricht von Pflichten und Buße. Erstere sind zudem so positioniert, dass ihre Bedeutung noch mehr hervorgehoben wird. Gebet - das wird im folgenden Abschnitt noch genauer zu sehen sein - hängt hier wesentlich mit der Pflichterfüllung zusammen. Bedeutend ist auch der Umfang des Gebetsteils für verschiedene Anlässe. Es ist dies ein deutlicher Ausdruck der Tendenz zur Fragmentierung der Gebetsgemeinschaft, zumal in den erweiterten Ausgaben gerade dieser Teil besonders anschwoll 85 . Bezüge schafft es zu Ständen und anderen Personengruppen, hat dabei aber keine Gemeinschaft, sondern den individuellen Beter im Sinn. Die Andachten für die Wochentage folgen, wie bei schon einigen der oben genannten Gebetbücher, einem thematischen Plan. So entfällt die Beachtung des Sonntags, wie wir sie bei Braun sahen und wie sie für die Sailerschen Gebetbücher charakteristisch sein werden. Ebenso spielt das Kirchenjahr keine nennenswerte Rolle. Nur drei Feste verdienen nach Seibt eine kürzere Betrachtung. Vermutet man hinter diesem Aufbau ein sprödes Gebetbuch, so wird man allerdings angenehm überrascht, in welch reichem Maß die Heilige Schrift dem Beter - anders als bei Braun - als Gebet dargeboten wird. Vielen Abschnitten sind Schriftzitate vorangestellt und die Betrachtungen meditieren selbst immer wieder einzelne Stellen daraus. In der vierten Auflage ist das Gebetbuch um die Bußpsalmen und andere Texte aus der Bibel vermehrt. Statt der früher üblichen Messandacht paraphrasiert oder bringt es die Messtexte wörtlich. Wie bei Nakatenus, Amort, Braun und später Sailer ist auch für Seibt die Liturgie selbst Quelle der Frömmigkeit. Auffallend ist auch hier, dass das Buch keine Tagzeiten bietet, wiewohl es dem Gebet im Rhythmus der Zeit breiten Raum gibt. Aber zeittypisch bemüht es sich zu variieren und jeden Tag im Monat einen anderen Stoff zur Betrachtung vorzulegen. 3. Vergleich einiger Morgengebete in diesen Gebetbüchern „Armut an Wahrheit, Reichtum an Lüge“ 86 - so hatte das harte Urteil Sailers über die gängigen Gebetbücher seiner Zeit gelautet. Um in knapper Form die Sprache und die Inhalte des vorgelegten Materials in den Blick zu bekommen, sei hier eine überall vorkommende und damit in etwa vergleichbare Gebetssituation angeführt. Da im nächsten Kapitel ein besonderer Blick auf die sogenannte „Gute Meinung“ 85 In der ersten Auflage wurden hier 20 Nummern geboten. In der vierten waren es 32. 86 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 26. <?page no="61"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 51 im Sailerschen Gebetbuch geworfen werden wird, hätte es sich wohl angeboten, diese Gebetsform auch hier auszuwählen. Da aber die in den verschiedenen Texten vorkommenden Strukturmerkmale bei der „Guten Meinung“ recht divergieren, schien es angebrachter, auf die sich fast überall ähnelnde morgendliche „Anbefehlung“ oder „Danksagung“ an Gott zurückzugreifen. Martin von Cochem, Goldenener Himmels-Schlüssel, 1764, 69f. Struktur Befehlung zu der H. Dreyfaltigkeit Anweisung Allerhöchster himmlischer Vater! ich arme Sünderin befehle mich heut und allezeit in deinen Göttlichen Schutz, Anrede und Anbefelung an den Vater und opfere mich mit Leib und Seele zu deinem H. Dienst: Aufopferung bewahre mich heut durch deine Göttliche Krafft für allem Uebel und mache mich in vielen Tugenden und reichen Verdiensten wachsen. Segensbitte O gebenedeyter Sohn Gottes, Christe Jesu! ich arme Sünderin befehle mich heut in die Kraft deines bitteren Leidens, und in deine fünf heil. blutfließende Wunden. Anbefehlung an den Sohn Deine dörnerne Krone wolle mich bewahren, dein H. Speer wolle mich beschützen, deine H. Nägel wollen mich behüten, und dein H. Kreuz wolle mich an Leib und Seel segnen. Segensbitte O gnadenreicher H. Geist! ich arme Sünderin übergib mich heut so vollkommen in deinen göttlichen Gewalt, auf daß du allein mit mir ordnen wollest, nach dem es deinem göttlichen Willen am gefälligsten ist. Anbefehlung an den Heiligen Geist Vermehre heut in mir deine seligmachende Gnad, und führe mich durch deine göttlichen Einsprechungen zu aller Gottseligkeit, Amen. Segensbitte Es fiel bereits oben auf, dass Martin von Cochem und Wilhelm Nakatenus mit ihren Gebetbüchern sich nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Das bestätigt sich auch hier. Bei der Befehlung des Martin von Cochem haben wir es dem Stil nach mit einem der schlichteren Gebete seines Buches zu tun. Eine Gemütserhebung geht voraus, weitere Befehlungen an Maria, den Schutzengel und an die heiligen Patrone folgen. Das Motiv des Dankes kommt fast nicht vor. Dagegen überwiegt das permanente Bestreben um Aufopferung und Anbefehlung. Die Motivation dafür erhält der Beter aus dem Wissen um seine Sündhaftigkeit. Darum wird diese sogleich ins Wort gebracht. Der Ton des vorliegenden Gebetes ist besonders auf eine unterwürfige Anbefehlung konzentriert. Wer nach Anhaltspunkten für die These Gajeks sucht, die barocken Gebetbücher seien geprägt von einer Sprache, die adlige oder gar höfische Umgangsformen zum Vorbild hat, findet sie hier bestätigt. Ein Blick in das diesem Morgengebet vorausgehende genügt, um den Unterwerfungsakt gleichsam mitzuhören. <?page no="62"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 52 „Im Namen aller Creaturen, so im Himmel, auf Erden, und unter der Erden sind, falle ich vor deine göttliche Majestät nieder, und mit gebogenen Leib bethe ich deine unendliche göttliche Wesenheit an.“ 87 Die förmliche Hinwendung zu den göttlichen Personen geschieht in drei voneinander abgesetzten Ansätzen. Eine diese sprachlich wieder zusammenführende Wendung unterbleibt. Das erweckt die Assoziation, als ob sich eine um Gnade flehende Person in einem Thron- oder Gerichtsaal befinden würde, wo ein Rat von drei unterschiedlichen Personen über ihr Schicksal entscheiden will und sie sich deshalb an jeden dieser Herrscher und Richter einzeln wenden muss, um ihn gnädig zu stimmen. Dieses um Gnade flehende Subjekt macht also den Vordergrund der morgendlichen Devotion aus. Dazu passt die an Adjektiven reiche und gefühlsbetonte Sprache. Aus dem Umgang mit der Liturgie ist sie nicht gebildet. Stattdessen werden die Arma Christi eindringlich ins Bewusstein gerückt 88 . So wird bereits bei den ersten Gebeten des Tages der inhaltliche Grundton des ganzen Buches angeschlagen: Vergegenwärtigung des sündentilgenden Leidens Jesu Christi. Nakatenus, Himmlisch Palm-Gärtlein, 1770, 326f. Struktur Nachdem man gekleydet ist 1. Sage Danck der Allerheiligsten Dreyfaltigkeit Anweisung O Allerheiligste Dreyfaltigkeit, ich bette dich an, dich lobe und preise ich auß allen meinen Kräfften. Alle Creaturen wolte ich gern solches mit mir zu thun anführen, wan ich sie in meiner Gewalt hätte. Anrede und Lob Ich dancke dir, O himmlischer Vatter, daß du mich auß nichts erschaffen hast: An den Vater ich dancke dir, O Sohn, daß du mich mit deinem theuren Blut erlöset hast: An den Sohn ich dancke dir, O Heil. Geist, daß du mich durch die H. Tauff gereinigt, und zu dem seligmachenden Glauben beruffen hast. An den Heiligen Geist O heiligste Dreyfaltigkeit, O einiger Gott! wie grosse Gnad und Güte erzeigest du noch täglich an mir? Du hast mich barmhertziglich diese Nacht erhalten, in welcher manche Seel, die nich so vielmal, und schwerlich als ich deine göttliche Majestät beleydiget hab, vor dein Gericht ist gefordert, und nach deinem gerechten Urtheil ewig ist verdammet worden. Wie sol ich dir, O du mein höchstes Gut, gnugsamen Danck sagen? Selbstbesinnung 87 Martin von Cochem, Goldener Himmels-Schlüssel, Einsiedeln, 1764, 67. Es ist dies das erste Gebet in dem Buch. Die Zählung beginnt nicht nur in dieser Ausgabe erst auf der genannten Seite. 88 Zu den Arma Christi s. den weiterführenden Artikel in: LThK, 3. Aufl. <?page no="63"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 53 O ihr liebe Heiligen Gottes, Alle Heiligen Du vor allen, O Gottes Gebährerin Maria, Maria und du mein treuer Schutz-Engel, Schutzengel auch ihr meine sonderbahre Patronen … helffet Gott mit mir loben und dancken, damit durch euch erstattet werde, was an meiner Schuldigkeit ermangelt. Namenspatron Lasset uns sämptlich benedeyen den Vatter, und den Sohn, und den H. Geist: lasset uns ihn loben, und überauß hoch erheben in alle Ewigkeit, Amen. Doxologie [folgt Hinweis auf Dan. 3 = Gesang der Jünglinge im Feuerofen] Der Gegensatz zu Martin von Cochem lässt sich leicht erkennen, wenn man beachtet, dass beide Autoren ihrem Gebet fast die gleiche Liste der anzurufenden Personen zugrundelegen. Diesen tritt der Beter hier aber nicht als ein Bittsteller oder Flehender gegenüber, sondern mit Anbetung und Lobpreis. Die jeweils kurze Anrufung der göttlichen Personen verbindet Nakatenus mit der Anamnese ihrer Werke, umrahmt sie mit einer zusammenfassenden Anrufung und einer auf die Dreifaltigkeit hin reflektierenden Betrachtung. So verbinden sich allgemeine Strukturelemente liturgischen Betens mit der auch von Schrott bemerkten Neuerung der Betrachtung. Konsequent wendet sich das Gebet an die Muttergottes, den Schutzengel und den Namenspatron. - Nicht, um von diesen Gnade und Gunst zu erbitten, sondern um sie aufzufordern in das Lob Gottes einzustimmen. Wiederum als durch das liturgische Beten geübt erweist sich Nakatenus’ Morgengebet, wenn es mit einer feierlichen Doxologie schließt und das in der Liturgie der Tagzeiten verwendete Canticum der Jünglinge im Feuerofen (Dan. 3) als anschließendes Gebet empfiehlt. Obwohl sich das Ich im Bewusstsein seiner Nichtigkeit deutlich ausspricht, steht dennoch nichts anderes als der Dank und das Lob dem Schöpfer gegenüber im Vordergrund. Nakatenus hat genau darauf geachtet, dass er die göttlichen Personen so anspricht wie es ihm der Glaube der Kirche gebietet: Das, was sie an Heil für jeden einzelnen Menschen wirken, wird ausgesagt, damit Glaube und Gebet einander entsprechen. Hinter solcher Art des Betens fällt es nicht schwer, neben der Liturgie Nakatenus’ Ordensvater Ignatius von Loyola als einen ihrer Lehrmeister zu erkennen. War es diesem doch im sogenannten „Prinzip und Fundament“ am Beginn seiner Geistlichen Übungen wichtig zu formulieren, dass der Mensch geschaffen sei, um Gott zu loben und ihm die Ehrfurcht zu erweisen 89 . Im Lob Gottes entspricht der Mensch nach Ignatius seiner Bestimmung, nicht in frommer Selbstbezichtigung. Auf eine andere Weise wollte auch Nakatenus nicht den Tag eines Christen beginnen lassen. 89 Vgl. Sancti Ignatii de Loyola Exercitia spiritualia, Rom, 1969, (Monumenta Ignatiana, ser. secunda, tom. 1), 165, Nr. 23. S. a. S. 192. <?page no="64"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 54 Johann Christian Elias, Kern aller Gebetter, 1782, 1f. Struktur Danksagung Überschrift Ich grüsse Dich, o Du allerheiligste Dreyfaltigkeit! Gott Vater, Gott Sohn, Gott heiliger Geist! Du einiger, ewiger und wahrer Gott; ich liebe Dich von Herzen, und anbette Dich, ich lobe und preise Dich aus allen Kräften meiner Seelen, Anrufung, Anbetung, Lob ich danke Dir für alle Wohlthaten, die ich mein Lebtag, und sonderlich in dieser vergangenen Nacht von deiner göttlichen Majestät empfangen hab. Dank Du bist mein höchstes Gut, mein Gott und alles, und ich bin dein Kind und Geschöpf, und höre dir gänzlich zu; darum so opfere ich Dir auf gutwillig mein Leib und Seel, mit allem dem, was ich bin, und was ich hab, alle meine Gedanken, meine Wort, meine Werk, meine Aus- und Eingänge; und alles, was ich an diesem Tage thun und anfangen werde, soll alles geschehen in deinem heiligen Namen, zu deinem göttlichen Lob und höchster Ehr. Aufopferung in kindlichem Vertrauen O mein segenreicher Herr und Gott! Gesegne mich und alle die Meinigen, und gib uns die Gnad, dass wir hie allezeit nach deinem Willen leben, und also die ewige Ruh, Freud und Seligkeit erlangen mögen. Segensbitte Durch Jesum Christum unsern Herrn und Heyland. Doxologie Nach den beiden vorhergehenden Texten wirkt dieses Gebet beinahe wie ein Ausgleich der Gegensätze. Elias beginnt mit einer prägnanten Anrufung, die Gott sowohl als Trinität, als auch in den unterschiedenen Personen die Ehre gibt und ihn zugleich in affektbetonter Weise anbetet („von Herzen“, „aus allen Kräften meiner Seelen“). Danach kommt zum Ausdruck worauf sich der Dank bezieht: Auf das persönliche Wohlergehen - nicht auf das von Gott gewirkte Heil, so wie es bei Nakatenus zur Sprache kommt. In diesem Sinn sind die Aufopferung und die Bitte um den Segen gehalten, die die Person in ihrem Alltag an Gott binden. Eine kleine Doxologie beschließt das bündige Morgengebet. Obwohl weit weniger weitschweifig als Martin von Cochem neigt Elias dazu, wie dieser die eigene Person in den Mittelpunkt des Gebetes zu rücken. Dennoch klingt darin etwas an, das vorher nicht zu hören war: Ein kindliches Gottvertrauen nämlich, das uns hier schon auf einen Aspekt aufmerksam macht, der später bei Sailer wichtig werden wird. Bei Martin von Cochem, dessen Bußfertigkeit einen Stil zeitigte, der zur Unterwürfigkeit neigte und bei Nakatenus, der sich von Gottes Größe und Erhabenheit prägen ließ, ist man hingegen von Formulierungen, die eine innige Vater-Kind-Beziehung einfordern, noch entfernt. So lassen sich anhand dieses kleinen Morgengebets die Wandlungen der Zeit mitverfolgen. <?page no="65"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 55 Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele, 1781, 1f. 90 Struktur So bald man erwachet, soll man sich mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes bezeichnen, und spreche: Anweisung [1755: Gelobet und gebenedeyet sey die allerheiligste, und unzertheilte Dreyfaltigkeit, GOtt † Vater, GOtt † Sohn, und GOtt † Heiliger Geist] Anrufung der hl. Dreifaltigkeit Jesus von Nazaret, ein König der Juden. Namensausrufung Jesu Dieser triumphierende Titel behüte und bewahre mich vor allem Uebel, vor allem Unglücke, vor aller Schand der Sünden, vor übeln Nachreden, absonderlich aber vor dem gähen und unversehenen Tode. Segensbitte [1755: Wann man aufsteht, so fällt man auf die Knie nieder, sprechend folgendes] Anweisung †O heiliger GOtt! †O starker GOtt! †O unsterblicher GOtt! GOtt Va†ter, GOtt So†hn, GOtt heiliger Ge†ist; 90 Namensausrufung der hl. Dreifaltigkeit ich gehe aus in der Stärke Gottes, ich gehe aus in der Kraft desjenigen Fleisches und Bluts, welches die allerseligste Mutter Gottes Maria in ihrem reinen jungfräulichen Leib getragen hat. Selbstbeschwörung Diese sey mir eine Ueberwinderinn aller bösen Geister, und der schädlichen Eingebungen; eine Mittlerinn und Fürsprecherinn bey GOtt für meine begangene Sünden; ein Beschützerinn wider alle meine Feinde; Selbstbeschwörung und verdeckte Segensbitte an Maria Darzu helfe mir GOtt Va†ter, GOtt So†hn, GOtt heiliger Ge†ist, die allerheiligste Dreyfaltigkeit, und unzertheilte Einigkeit sey, und bleibe allezeit bey mir. Segensbitte an die hl. Dreifaltigkeit O mein Jesu! dir will ich leben. O Jesu! dir will ich sterben. O Jesu! laß mich todt und lebendig dein seyn. O Jesu! verlaß mich nicht, absonderlich an meinem letzten Ende, steh mir in allen meinen Widerwärtigkeiten, Trübsalen, Anfechtungen, und allen meinen Nöthen bey, Amen Hingabe und Bitte an Jesus Bei der Beobachtung dieses Textes ist zu wissen, dass sich im Anschluss daran, ein kürzerer Dank an die hl. Dreifaltigkeit richtet, dem wiederum eine sich über sechs Seiten erstreckende Aufopferung folgt. Insofern muss der wiedergegebene Text weniger befremden, als es zunächst scheinen mag. Im ganzen nimmt er wohl 90 Ab hier ist der Text von 1755 völlig verändert worden. Die weiteren Strukturmerkmale damals waren: Dank, Bitte um Verzeihung, Ergebung in den Willen Gottes, Aufopferung, Anrufungen der heiligen Familie, des Schutzengels, aller Heiligen, Segensbitte. <?page no="66"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 56 die Form einer feierlichen Eröffnung an. Dennoch wirkt es irritierend, wenn diese zunächst (und anders als in der Ausgabe von 1755) weder Anrufung noch Anrede gebraucht. Durchweg - von zwei Formeln aus der Liturgie und der Volksfrömmigkeit abgesehen - fehlen sowohl die Anrufung Gottes als auch die Anrede an ihn. Vorherrschend bleibt allein, das sich selbst beschwörend anredende Subjekt. Dennoch fällt der Name Jesu, der göttlichen Personen und Mariens, was bis auf die Nennung der Schutzengel und des Namenspatrons der sonst gebotenen Liste entspricht. In diesem Fall versucht das Gebet nicht an Ereignisse oder Personen zu erinnern, wie es die Liturgie in der Anamnese tut, sondern die Namen werden ausgerufen, als ob es darum ginge, auf diese Weise sich eines mächtigen Schutzes zu vergewissern. In diesem Sinn ist wohl der Antwortruf der Improperien („o heiliger Gott“ etc.) und der ausnehmend starke Gebrauch des Kreuzzeichens zu verstehen. Wie schon bezüglich des Aufbaus beobachtet wurde, zeigt sich auch hier die nachdrückliche Marienfrömmigkeit. Von Jesus, dem eine von den göttlichen Personen nochmals geschiedene Ausrufung seines Namens zukommt, und seiner Mutter wird offenbar mehr Konkretes erwartet als von dem dreieinigen Gott. Ihnen beiden jedenfalls wird die Kraft zur Bewahrung und Überwindung von Unglück und Sünde zugesprochen. Das Gebet zu Jesus beschließt diesen ersten Abschnitt des Morgengebets, so wie es dieses eröffnet hatte. Der volksfromme Spruch „O mein Jesu! dir will ich leben“ formt die bekannte Stelle aus dem Römerbrief um: „Leben wir, so leben wir im Herrn, sterben wir, so sterben wir im Herrn. Ob wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn“ (14,8). Typisch ist dabei der Wechsel der Anrede „Herr“ in die Nennung seines irdischen Namens „Jesus“. Dadurch ändern sich die Verhältnisse. Paulus verstand unter „Herr“, den Herrn über Leben und Tod, dem die Ehre gebührt und zu dessen Ehre alles in der Gemeinde zu geschehen habe. Die Zugehörigkeit zu ihm war für ihn fraglos gegeben. In dem Spruch wird nunmehr einem Liebesgefühl Ausdruck gegeben, dessen Wohl und Weh freilich davon abhängt, ob sich der Beter zugehörig fühlen darf. Und tatsächlich: auch wenn das nicht intendiert ist, wirkt es doch erstaunlich, dass der Beter um all das bittet, was sich sonst nur Liebende einander versprechen: den Beistand im Ungemach und die Treue bis zum Tod. Wir erkennen hierin etwas Neues gegenüber den bisher betrachteten Texten: Allmorgendlich erneuert, wer solche Gebete spricht, zuallererst seine Liebe zu Gott. Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, 1759, 1ff. Struktur Ich stehe auf im Namen GOtt des Vatters, GOtt des Sohns, GOtt des heiligen Geists. Amen Vatter Unser. Ave Maria Glaub, Hoffnung, und Lieb etc. Überschrift Allwissender, ewiger GOtt, ich bette dich an, als unser höchstes Gutt; Anrede, Anbetung <?page no="67"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 57 Ich glaube, was du uns durch die Catholische Kirch zu glauben anbefohlen. Dann du bist die ewige Wahrheit. Glaube Ich hoffe von dir durch Christum unseren Herrn hier Gnad und dort die ewige Seeligkeit, dann du hast es versprochen, und kanst es getreulich halten. Hoffnung Ich liebe dich über alles aus ganzem Herzen; dann du bist das höchste Gutt aller Englen und Menschen. Liebe Dir zu Lieb will ich disen Tag alles thun, was dir wohlgefällig. Derohalb verfluche ich alle Sünd, Vorsatz und opfere dir alle meine heutigen Schritt, und Tritt, alle meine Gedancken, Wort, Und Werck Selbstaufopferung Verleihe mir hierzu Gnad, und denen verstorbenen Ruhe; Segensbitte durch Christum unseren Herrn. Amen. Doxologie Das trinitarische Bekenntnis kommt allein im Kreuzzeichen zum Ausdruck. Eine eigene Anrufung der Trinität als solcher oder der einzelnen göttlichen Personen erfolgt nicht mehr. Stattdessen spricht Amort Gott ganz allgemein im Stil der Orationen als „Allwissender, ewiger GOtt“ an. Dann werden jeweils die theologischen Tugenden erinnert 91 . An dieser Stelle wirkt das Gebet besonders knapp, fast hölzern. Ganz allgemein wird der Glaube der Kirche benannt. In Bezug auf Hoffnung und Liebe kommt der Beter nicht über theologische Phrasen hinaus, die selbstverständlich korrekt sind, aber wenig erbauen können, („hier Gnad und dort die ewige Seeligkeit“, „das höchste Gutt aller Engeln und Menschen“). Nüchtern gehalten ist ebenfalls der Rest: der Vorsatz für den Tag, die Selbstaufopferung, die Segensbitte und die Doxologie in ihrer kleinen Form. Ja, so sehr Amort um theologische Korrektheit und Verknappung der Rede bemüht ist, so sehr er die Nüchternheit zum Programm macht, drängt sich umso mehr das religiöse Subjekt in den Vordergrund. Dieses muss aber für die geschuldete Ehre Gottes unweigerlich erblinden, da es für das Heil der ganzen Welt in allen Zeiten den Blick verliert und sich ausschließlich auf das eigene Bekenntnis und die eigenen Regungen beschränkt. Doch ist bemerkenswert, dass Amort das Gebet für die Verstorbenen in die tägliche Andacht mit einbezieht. Das Brevier eines guten Christen macht durch seinen großen Anteil an Morgengebeten deutlich für wie erheblich Amort die Verrichtung dieses Gebetes hält. Es ist vor allem durch eine große Anzahl von Guten Meinungen bestimmt, die das Tugendethos betonen. 91 S. dazu auch u. S. 91ff. <?page no="68"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 58 Gemüths-Erhebung zu Gott, 1760, 14f. Struktur Morgen-Gebett Überschrift Ich bette dich an mit tieffister Demuth, O heiligste Dreyfaltigkeit! GOTT Vatter, GOTT Sohn, GOTT Heil. Geist, vor dir werffe ich mich nider, und versencke mich in den Abgrund meines Nichts, bekennend, daß in dir, auß dir, von dir, und durch dich alles seye. Anrede, Lob, Anbetung Ich sage dir tausendmahl Danck für alle Gutthaten Seel und des Leibs: sonders, daß du mich dise Nacht hindurch so gnädiglich bewahret. Dank Aus Liebe gegen dir bereue ich herziglich die Sünd, so ich jemahlen begangen, Sündenbekenntnis in deinen Göttlichen Schutz, und weisiste Vorsichtigkeit befehle ich meine Seel und Leib mich ganz und gar versenckend in die heilwerthiste Wunden meines HErrn, und Erlösers JEsu Christi. Anbefehlung an göttlichen Schutz und Vorsehung Ich verehre dich auch demüthigist, O wunderbarliche Göttliche Mutter, und Himmels-Königin Maria! Dich liebe und lobe ich nach Christum meinem Heyland über alles Verehrung und Lob Mariens In deinen mächtigisten Schutz befehle ich mich, verlaß mich nicht jezt, und in der Stund meines Absterbens. Anbefehlung an Maria Ich verehre dich auch mein heiliger Schutz-Engel, und liebe dich von Herzen, Verehrung des Schutzengels bewahre mich von allen Leibs- und der Seelen-Gefahren, und weiche niemahlen von meiner Seiten. Anbefehlung an den Schutzengel Ihr meine übrige Heilige Patronen, stehet mir bey in allen meinen Nöthen, und helffet mir GOtt loben heunt, und in alle Ewigkeit. Anbefehlung an weitere Heilige In dem Morgengebet aus der Gemüths-Erhebung zu GOtt finden sich Spuren aller bereits gemachten Beobachtungen. So wie das Buch eine Kompilation aus anderen darstellt, ist auch dieses Gebet ein Gemisch aus mehreren Elementen. Nicht anders als in den meisten der soeben Besprochenen findet sich hier die gleiche Liste der anzurufenden Personen. Bündig wird die Trinität genannt, ohne ihren Personen jeweils Eigenschaften zuzusprechen. Das erste, was hier der Beter für gebührend hält, ist die Anbetung. Diese speist sich allerdings weniger aus dem Gefühl für oder gar aus der Einsicht in die Herrlichkeit Gottes, als aus dem Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit. Darauf aber weitet sich der Blick wieder auf Gott, den Schöpfer unter Absehung der eigenen Person. Der Dank, wiewohl er die Dimension für das Heil nicht ausdrückt, bleibt nicht auf die vergangene Nacht beschränkt. Dann rückt wieder das Subjekt in den Vordergrund, in dem es sich als <?page no="69"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 59 Sünder bekennt und nacheinander der Dreifaltigkeit (indem die Betrachtung des Leidens Christi versprochen wird), Maria, dem Schutzengel und anderen Heiligen anbefiehlt. Außer dem Anklang an das „nunc et semper et in omnia saecula saeculorum“ im „heunt, und in alle Ewigkeit“ finden sich keine Bezüge zu liturgischen Gebeten. Insgesamt scheint dieses das formelhafteste der gebotenen Morgengebete. Als ob es sich um ein abzuarbeitendes Pensum handelte: so werden hier die bestimmten Elemente in den Text aufgenommen. Johann Isi, Marianisch-Dettelbacher Weingarten, 1789, 2f. Struktur Nach dem Ankleiden Anweisung Ich lobe, preise, anbethe und verehre dich o allerheiligste Dreyfaltigkeit! Anrede und Lob und von Grund meines Herzens sage ich dir Dank, daß du mich diese Nacht so treulich bewahrt, und mir abermal verliehen hast, einen Tag dir zu dienen und mein Heil zu wirken, Dank zur schuldigen Dankbarkeit opfere ich dir auf alles Lob der Engeln und Heiligen so sie dir stäts singen: und alle geistliche Uebungen, so alle fromme Menschen dir zu Lieb heut verrichten werden. Aufopferung Dich, o allerheiligste Dreyfaltigkeit, bethe ich abermal an, und verehre deine göttliche, unergründliche Majestät; und übergebe mich mit Leib und Seel in deine göttliche Hände und väterliche Vorsichtigkeit. Amen Anbetung und Übergabe Hier benenne die Sünd, worinn du zum öftern fallest und begehre jene Tugend, so du dir am nöthigsten zu seyn erachtest, wie folget: Anweisung O Jesu, ich bitte dich behüte mich schwachen Menschen von jener Sünd […] und verleihe, daß ich nach deinem Willen jene Tugend N. heut sonderbar üben möge, und in derselben vollkommen werde. Amen. Bitte an Jesus Christus Anbefehlung Anweisung In deinen göttlichen Schutz, o ewiger Vater, befehle ich mich: An den Vater in deine hochheiligen Wunden, o Christe Jesu, befehle ich mich: An den Sohn in deine göttliche Liebe, o heil. Geist, befehle ich mich: An den Heiligen Geist in deine mütterliche Treu, o Jungfrau Maria, befehle ich mich: An Maria in deine treue Bewahrung, o heiliger Schutzengel, befehle ich mich: An den Schutzengel in eure stäte Fürbitt, o liebe Heilige und meine auserwählte heilige Patronen befehle ich mich. An den Namenspatron und sonstige Heilige <?page no="70"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 60 Ich befehle mich in alle heilige Messen, welche heut gelesen werden: in alle Abläß, welche heut verdienet werden, in alle Gebethe, Opfer, und gute Werke, welche heut verrichtet werden. Weiter Anbefehlungen Ich befehle mich auch, o gütigster Jesu: heut und allzeit in die Kraft deines heil. Kreuzes: in die Tiefe deiner heiligen Wunden: in dein göttliches Herz: in den Abgrund deiner grundlosen Barmherzigkeit: in die Macht deiner ewigen Gottheit: und in den Überfluß deiner göttlichen Liebe. Weitere Anbefehlung an Jesus Christus Dieses Gebet zählt zu den wortreichen der hier gebotenen Sammlung, wiewohl sein Stil nicht überschwänglich ist. Wenn nicht der erste Satz eine Anleihe an das Gloria nimmt, so sind keinerlei liturgische Anklängen zu bemerken. Deutlich in zwei Teile geteilt unterscheidet es zwischen Dank und Anbefehlung. Dabei kommt es allerdings an keiner Stelle über den persönlichen Gesichtskreis hinaus. Der Dank bezieht sich nur auf die glücklich verbrachte Nacht. Das Tun der anderen Menschen kommt nur insofern in den Blick, als es dem eigenen Seelenheil nützlich ist. In diesem Sinn erfolgt die Anrufung der zu verehrenden Personen. Einer jeden befiehlt sich der Beter in knapper Form zum eigenen Schutz an, jeweils ein Charakteristikum der Person nennend. Doch genügt dies einem Beter, der sich um die in Mengen bemessene Gnade sorgt, nicht: In sämtliche Messen, Ablässe, Gebete, Opfer und gute Werke, sowie in das Leiden Christi möchte er sich anbefehlen. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, wenn nachdenkliche Christen, die uns hier durch Braun, Seibt oder Sailer repräsentiert werden, das Verständnis für solche Gebete verloren ging und schließlich in diesen nur noch Unsinn sehen konnten. Braun, Gebet- und Erbauungsbuch, 1783, 7f. Struktur Zur heiligen Dreyfaltigkeit Überschrift Anbethungswürdigste, unbegreifliche Dreyfaltigkeit, einziger, allmächtiger, unsterblicher, ewiger Gott! Herr meiner Tage, Vater meines Lebens! Ich Staub und Asche nähere mich dem Throne deiner Herrlichkeit, und bethe dich mit verdemüthigtem Herzen an. Anrede, Anbetung Wie viel tausend und tausend Morgengebethe werden von Millionen Christen, - bessern, und frömmern Christen als ich bin - zu dir abgeschickt, und keines bleibt von dir unbemerkt, Selbstbesinnung o so seh auch mein Flehen mit gnädigen Augen, mit Vateraugen an. Bitte an den Vater Ich Undankbarer habe dich zwar oft, sehr oft beleidigt. Viele Tage habe ich deiner gar nicht einmal gedacht, und (ich bekenne es, und klage es dir himmlischer Vater! ) manche Tage sind meine Verbrechen über die Zahl der Haare meines Hauptes angewachsen; Sündenbekenntnis <?page no="71"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 61 allein von nun an sollen dir alle Gedanken, Worte, und Handlungen geheiligt seyn. Dieß ist mein Wille, mein ernster Wille. Entschluss Stärke mich darinn, und gleichwie ich ohne dich das Gute nicht denken konnte, so gib mir auch die Gnade, daß ich heute durch dich, alles vollziehe, was ich frühe Morgens Gutes gedacht, und mir vorgenommen habe. Segensbitte Anmerkung. Ordne nun in Gedanken deine Berufsgeschäfte für den künftigen Tag an. Suche in allen deinen Entwürfen Gott gefällig, und den Nebenmenschen nützlich zu seyn. Meide das Böse, thu Gutes, liebe Gott aus ganzem Herzen, und den Nächsten wie dich selbst. Dieß ist alles, was Gott von dir verlangt. Anweisung für den Tag Der Herr segne mein Vorhaben! Er beschütze mich diesen Tag vor allen Uebeln, und führe mich, und alle meine Nebenmenschen zum ewigen Leben! Segensbitte Heiligste Jungfrau und Mutter Gottes Maria! Anrufung Mariens Ihr heiligen Engel! Anrufung der Engel und ihr alle Heiligen Gottes bittet für uns, daß wir bey dem Genuße des zeitlichen Lebens das ewige nicht verlieren. Bittet für uns. Anrufung der Heiligen um Beistand Gott verleih allen christglaubigen Seelen die ewige Ruhe, und das ewige Licht. Er lasse sie ruhen im Frieden, Amen. Bitte für die Verstorbenen Bei der Betrachtung des Aufbaus war es aufgefallen, wie stark sich dieses Gebetbuch auf das als zentral Erkannte konzentrieren möchte und so vor allem den Sonntag in den Mittelpunkt rückt. Es ist allerdings nicht so, dass dies eine Reduzierung des Umfang zur Folge gehabt hätte. Analoges gilt für dieses Morgengebet. Wenn den überkommenen Gebetbüchern Geschwätzigkeit vorgeworfen wird (auch Sailer tat dies, wie wir sahen), so heißt das nicht, dass sich Gebete der erneuerten Andachtsbücher kürzer gefasst hätten. Die Themen, denen ein höheres Maß an Bedeutung zugemessen wird, ändern sich wohl. Die Weitschweifigkeit des Gebetes wird dadurch aber nicht vermindert. In unserem Fall bemerken wir die deutliche Hervorhebung des dreifaltigen Gottes durch zahlreiche Adjektive, das erste davon im Superlativ. Diese sollen seine Größe und Unerreichbarkeit hervorheben. Um den Abstand besonders deutlich zu machen, geht es den gleichen Weg wie zahlreiche Bücher vor ihm. Unter unserer Auswahl finden wir manche Beispiele dafür: Die eigene Schlechtigkeit wird herausgestrichen, zum Leidwesen des Buches so, dass sie der Realität auf Dauer nicht entsprechen kann. „Manche Tage sind meine Verbrechen über die Zahl der Haare meines Hauptes angewachsen“ - kaum jemand kann das - heute wie damals - mit voller Überzeugung beten. Ebenso ist der Text durch hohle Versprechungen wie „von nun an sollen dir alle Gedanken, Worte, und Handlungen geheiligt seyn“, belastet. <?page no="72"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 62 Wer könnte täglich mit Verstand und Herz Entschlüsse für solch lange Zeiträume treffen? Über all dem kommt der Dank weder für das gewirkte Heil noch für die überstandene Nacht zur Sprache, während andererseits die als unsinnig angesehenen Anbefehlungen hier nicht vorkommen. So bleibt nicht mehr übrig als Selbstbezichtigung und Bitte um Unterstützung auf dem Weg zum Guten. Die drei göttlichen Personen bleiben ganz ungenannt. Wie wir im folgenden Kapitel beim Sailerschen Gebetbuch noch sehen werden, entspricht dies der Tendenz jener Bücher der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, die die Frömmigkeit reformieren wollten, in Gott nur den Vater aller Menschen zu sehen, in Jesus bisweilen nur ihren Lehrmeister. Der Heilige Geist verlor darüber beinahe jegliches Gewicht. Erst später wird Sailer hier korrigierend in sein kleines Gebetbuch eingreifen. Die Anrufung der Gottesmutter, der Engel und der Heiligen (diese Liste bleibt also auch hier noch bestehen) gemahnt in ihrer Art an die Liturgie und auch die Formulierung „daß wir bey dem Genuße des zeitlichen Lebens das ewige nicht verlieren“ verdankt sich wohl den Orationen der hl. Messe oder des Breviers. Wie bei Amort wird das Gebet für die Verstorbenen nicht unterschlagen. Im übrigen entspricht es dem fehlenden Bezug zu Heil und Erlösung, dass ein persönlicher, beim Subjekt des Gebetes bleibender Ton, dem es nicht allein um die Ehre Gottes zu tun ist, dominiert. Seibt, Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 1779, 65f. Struktur Mein Gott! Anrufung der du durch deinen Sohn gesagt hast: Wenn ihr, die ihr arg seyd, euern Kindern gute Gaben geben könnet: wie vielmehr wird mein himmlischer Vater den heiligen Geist geben denen, die ihn darum bitten. Schrift- Anamnese In dieser Zuversicht flehe ich zu dir, belebe mich durch deinen Geist; wirke durch ihn die Reinigung und Heiligung meines Herzens, und die Überwindung meiner unordentlichen Begierden, die ich so sehnlich wünsche, aber durch meine guten Vorsätze allein, nicht bewerkstelligen kann. Bitte um Reinigung durch den Hl. Geist Ach! du Geist des Raths, der Stärke, der Liebe und Furcht Gottes, du Quelle aller Gottseligkeit und Heiligkeit kehre in mein Herz ein! Bereite dir solches zu einem würdigen Tempel, und wohne stets darinn. Vertilge alles daraus, was meiner Vereinigung mit dir hinderlich seyn könnte. Stärke mich im Kampf gegen meine Lüste, gegen die Reizungen der verführerischen Welt, gegen gefährliche Eindrücke meiner Sinne, damit ich den Versuchungen nicht unterliege, und mein Entschluß, die schimpflichen Fessel meiner bösen Neigungen und Leidenschaften mit Gewalt zu zerbrechen, endlich einmal ausgeführt werde. Bitte an den Geist <?page no="73"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 63 Erleuchte mich auch heut bey allen meinen Geschäfften; gib mir Einsicht, Klugheit, Unverdrossenheit und Fleiß zur würdigen Verrichtung meiner Berufsarbeiten; und laß vorzüglich deine sanften Einsprechungen und Warnungen da in mir stärker hören, wo unerkannte oder unvorgesehene Gefahr zur Sünde, insbesondere zu derjenigen, zu der ich geneigt bin, vorhanden seyn dörfte. Bitte an den Geist Leite und stärke mich. Amen. Abschließende Bitte an den Geist Vater unser etc. ruf sodann die Mutter Gottes, deinen Schutzengel, und Namenspatron an. Anweisung Ist auch das Seibtsche Morgengebet eindeutig verschieden von dem, was man damals als überkommenes Beten in Händen zu halten pflegte, so fallen doch sogleich Unterschiede zwischen dem vorhergehenden und diesem auf: Da sich Seibt generell darum bemüht, die Bibel als Quelle des Gebetes, hervorzuheben, verwundert es nicht, dass er seinem Morgengebet eine Bibelstelle zugrunde legt. Betend und nachdenkend zitiert er sie. Bemerkenswert ist, dass sich Seibt nicht auf die Bergpredigt, die das allgemeine Reservoir für die Reflexion über das Gebet bot und hier als Bezugspunkt hätte dienen können (vgl. Mt 7,11), stützt. Stattdessen wählt Seibt die lukanische Parallele (Lk 11,13), in welcher allein Jesus auf die Gabe des Heiligen Geistes verweist. Feinsinnig und, ohne dass sie zunächst als direkt handelnde Personen angesprochen sind, erhalten die drei göttlichen Personen ihr für den Gläubigen grundlegendes Profil: Der Vater ist der Geber der Gabe, die der Heilige Geist ist, und der Sohn hat dies uns zu Ohren gebracht. Folgerichtig (und gegenläufig zu jener allgemeineren Tendenz, von der wir bei Braun sprachen) wenden sich zwei längere Bittreihen an den Hl. Geist, um dessen Hilfe für die innere Reinigung und den Schutz in den Tagesgeschäften zu erflehen. „Leite und stärke mich“ faßt eine abschließende Bitte zusammen. Um das Morgengebet zu komplettieren, verweist das Buch auf das Vaterunser und sodann der nun schon gewohnten Liste entsprechend auf die Anrufung der weiteren zu verehrenden heiligen Personen. Stringent und schlüssig erscheint dieser Text, und es dürfte wohl möglich sein, ihn täglich ohne Überdruss zu beten. Indessen mangelt auch ihm der angemessene morgendliche Dank, nicht nur für die vergangene Nacht, sondern für das Geschenk des Lebens überhaupt und für das durch Jesus Christus (nicht nur verkündigte, sondern vor allem) gewirkte Heil. Und so sehr man sich darüber freuen muss, dass dem Hl. Geist eine so vornehme Position im Morgengebet zugedacht ist, wird man es doch auch bedenklich finden, dass sich diese Gabe dem einzigen Thema des Gebets unterordnen muss. Die dritte göttliche Person, die, wie Nakatenus oben präzis charakterisierte, in der Taufe den Christen reinigt und zum Glauben beruft, ist bei Seibt zu einem Tugendmittel degradiert worden. Dies verdeutlicht auch die ganz ungewöhnliche Stellung der Morgenandacht im Gebetbuch. Eine lange Liste der persönlichen Pflichten vieler einzelner Stände, die sich mit den Auflagen des <?page no="74"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 64 Buches stetig erweiterten 92 , ist ihr ebenso vorangestellt wie einzelne Vorschriften zu einem christlichen Lebenswandel. Ist diese Form aus der Vergangenheit an sich nicht unbekannt 93 , so wirkt ihre Position am Beginn des Buches doch wie eine strenge Zurechtweisung des Beters, in welchem Sinn er einzig sein Gebet zu verrichten habe: Es dient, wenn es vermeintlich nicht Gefahr laufen will haltlos zu sein, der Besserung des Christen. 4. Vergleichende Zusammenschau Wir hatten nach dem Kern und dem Geist einer bestimmten Art zu beten gefragt, so wie sich diese in den Andachtsbüchern bis zum 18. Jahrhundert ausgebildet hatte und sich an deren Ende allmählich verlor 94 . Darüber haben wir eine Fülle von Antworten erhalten, die nicht leicht zu bündeln sind. In beinahe jedem der Texte herrschte eine andere Sprache vor. Die Strömungen des geistlichen Lebens und der Frömmigkeit waren freilich mannigfaltig. Es ist vor allem vom jeweiligen Verfasser eines bestimmten Gebetbuches und dessen Adressatenkreis abhängig, ob z.B. Tendenzen größerer Subjektivität, der Nähe zur Liturgie oder zum Gebet im Rhythmus der Zeit vorliegen. Dennoch sollte es möglich sein, aus den knappen Analysen des vorgelegten Vergleichsmaterials das Wesentliche hervorzuheben, indem wir den oben referierten Anhaltspunkten folgen, die Aloys Schrott in seiner Auswertung vorgeschlagen hat. Es scheint beinahe unnötig, hier eigens zu vermerken, dass sich bestätigt, was für die Barockzeit in der katholischen Kirche generell gilt: Die Marien- und die Passionsfrömmigkeit sind die Hauptthemen der damaligen Andachtsbücher. Bisweilen überschreitet in unseren Beispielen das Gewicht, welches der Marienkult dabei erhielt, das rechte Maß. Die Verehrung Christi im Kreuzweg, in der Herz- Jesu-Andacht, durch Gebete der heiligen Brigitta von Schweden, Passionslitaneien und in der eucharistischen Andacht überwiegt aber insgesamt 95 . In der von Schrott behaupteten umfassenden Weise treten Herz-Jesu-Gebete in den uns vorliegenden 92 Die erste Auflage zählt 14, die vierte bereits 24 Stände auf. 93 Über die Manualia sodalitatis vgl. Schrott 1937, 220ff., bes. 224ff. Dort heißt es von einem solchen Manual, es wolle […] „alle aszetischen Übungen sammeln, welche dem nach Vollkommenheit strebenden Christen dienlich sein können, sein Tagewerk und alle seine Unternehmungen nach dem Willen Gottes vollkommen zu verrichten. Deshalb will er auch, daß man diese Übungen nicht bloß durchlese, sondern auch gleich befolge und übe.“ Solcherart Exercitia spiritualia sind freilich mit dem Pflichtenkatalog Seibts nicht gleichzusetzen. 94 Dass und inwiefern sie im 19. Jahrhundert eine Renaissance erlebte, bleibt für diese Studie unberücksichtigt. 95 Generell ist Lenz Kriss-Rettenbeck, Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens, München, 1971 beizupflichten, wenn er, S. 57, schreibt: „Oft wird die Meinung vertreten, daß im Volksglauben und Brauch der Mariendienst gegenüber der Christologie einen verhältnismäßig großen Raum einnehme. Ein vorurteilsfreier Blick auf die Vorstellungen vom historischen und eucharistischen Christus, die sich im Jahreslauf-, Legenden- und Bildbrauchtum äußern, korrigiert dieses verallgemeinernde Urteil sofort.“ Dennoch ist die ausgeprägte Fixierung einiger Gebetbücher auf den Marienkult unverkennbar. <?page no="75"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 65 Gebetbüchern allerdings nicht auf 96 . Nirgendwo ist sie das beherrschende Zentrum des Ganzen gewesen. Hingegen ist die Verehrung des Namens Jesu in allen Gebetbüchern präsent. Ungebrochen ist dieses Motiv, gewiss nicht zuletzt wegen der Konzentration auf die Menschheit Jesu und der untergeordneten Rolle, die man seinem Leiden beigemessen hat, in die Andachtsliteratur der reformorientierten Kreise eingegangen. Das Votivoffizium von der göttlichen Vorsehung, mindestens aber die dazugehörige Litanei, ist ab der Mitte des 18. Jahrhunderts von nicht geringer Bedeutung. Von ähnlichem Gewicht, das hatte Schrott bereits vermerkt, ist die Frömmigkeit rund um die Eucharistie, dem Zentrum des sakramentalen Lebens der Kirche. Grundsätzlich schließen sich den Gebeten während der Heiligen Messe Beicht- und Kommuniongebete an und nicht selten weitere zur Verehrung des ausgesetzten Allerheiligsten. Diese machen einen nicht unerheblichen Teil der Bücher aus. Das ist eine Tatsache, die zwar gesehen, aber doch unzureichend interpretiert wird, wenn man - dies kritisierend - die Liturgie als ein Schauspiel vor den Augen des Volkes bezeichnet, an dem dieses zwar mittels dargebotener Gebete möglichst andächtig berührt teilnimmt, nicht aber innerlich mittuend, mitopfernd 97 . Zwar kann gar kein Zweifel darüber bestehen, dass das barocke Theater einen erheblichen Einfluss auf die Liturgie ausgeübt hat. Der heute noch sichtbare Kirchenbau ist schon Beweis genug. Nicht selten wird uns dort der Altarraum als Bühne dargeboten, in welchem steinerne oder gipserne Vorhänge Altarplastiken und Bilder und mitten unter diesen den zelebrierenden Priester vor der Mensa rahmen. Allzu leicht wird man aber bei solcher Einsicht den Bezug zur Liturgie, zur Messe im Speziellen und damit auch die Gebete und Andachten während der heiligen Handlung als oberflächlich abtun, da das Theater - ob Kunstgenuss oder Bauernschwank - der Unterhaltung des Menschen diene, nicht aber der Ehre Gottes. Es ist das Theatrale jedoch nur ein Mittel, dessen Anwendung noch nichts über die innere Anteilnahme derjenigen sagt, die ein Schauspiel oder eine hl. Messe besuchen. Ja, der Antagonismus zwischen Schauspiel und Liturgie sagt tatsächlich so lange nichts, als nicht geklärt ist, was man unter Schauspiel heute verstehen will, und vor allem was man damals darunter verstand. Gewiss, eine barocke Szenerie, wie die soeben geschilderte, hat etwas Spektakuläres. Indessen gehen wir fehl, wenn wir dies letztlich mit unwirklich gleichsetzen wollen und deshalb meinen, es nicht ernstnehmen zu können. Tiefer sehen wir nur, wenn wir beachten, dass Theater in der damaligen Auffassung - d.h. nicht nur in der Barockzeit, sondern auch noch in der Klassik; und wie ähnlich ergeht es uns heute im Verhältnis von der Photographie zum Kino? - als eine Verlebendigung gemalter Bilder angesehen wurde, worin die in ihnen dargestellte Realität nie einfach imitiert, sondern je neu vergegenwärtigt wird. Man versteht dies augenblicklich, wenn man in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola auf eine große Anzahl solcher stößt, die allein in der Imagination einer bestimmten Szene bestehen. Eine einzige mag hier zur Illustration genügen. 96 S. o. S. 29. 97 S. o. S. 30. <?page no="76"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 66 Die Anweisung lautet: „Die drei göttlichen Personen sehen und erwägen, wie auf ihrem königlichen Sitz oder Thron ihrer göttlichen Majestät, wie sie das ganze Angesicht oder die Rundung der Erde und alle Völker anschauen, in so großer Blindheit und wie sie sterben und zur Hölle hinabsteigen.“ 98 Der Exerzitiant mag diese Übung in der eigenen, möglicherweise an Bildern leeren Kammer durchführen. Genauso gut kann man sich aber vorstellen, dass er, um die Phantasie anzuregen, den Weg in eine der vielen Kirchen nimmt, die über eine Trinitätsdarstellung verfügen. Und da es sich bei den von Ignatius beschriebenen Bildern um keine Fiktionen oder Einbildungen handelt, sondern um geglaubte Realitäten, bedeutet ihm das, was er sieht, nicht ein im besten Falle erbauliches Spektakel, sondern die bildliche Vergegenwärtigung der Wahrheit. Dass diese Art, das Theater zu betrachten, dieser Umgang mit dem Realen in der Kunst, auch noch für die weltliche Bühne der Goethezeit, also 250 Jahre später, gilt, darüber belehrt uns eine Szene aus den Wahlverwandtschaften, in welcher sich ein gewisser Personenkreis darin versucht, ein neues Gesellschaftsspiel, nämlich die reale Nachahmung von Gemälden, durchzuführen. Anthony van Dycks Bildnis Belisar wird dazu ausgewählt und damit in der geladenen Gesellschaft eine große Wirkung erzielt: „Der Abend kam herbei, und die Darstellung wurde vor einer großen Gesellschaft und zu allgemeinem Beifall ausgeführt. Eine bedeutende Musik spannte die Erwartung. Jener Belisar eröffnete die Bühne. Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt, die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer andern Welt zu sein glaubte; nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.“ 99 Und noch deutlicher erkennen wir, dass noch das Drama der Weimarer Klassik sein Maß am Gemälde nimmt und deshalb „eine nachahmende Erscheinung und keine platte Wirklichkeit sein soll“ 100 , wenn Goethe in seinen Regeln für Schauspieler diesen empfiehlt, „immer malerisch“ 101 darzustellen, ihr Theater aber „als ein figurloses Tableau anzusehen, worin der Schauspieler die Staffage macht“ 102 . Wenn nun die Gebete der Andachtsbücher (sofern dort nicht wie bei Amort der Text der Messe selber geboten wird) in ihrer Mehrzahl angesichts des Leidens Christi die Selbstaufopferung des Beters fordern, so erscheint es nicht sachgemäß, diesem die rechte Weise der Anteilnahme abzusprechen. Zweifellos handelt es sich bei dieser Art von die Liturgie begleitendendem Gebet um eine Form der Teilnahme, zu der zurückzukehren sich keine zum Herrenmahl versammelte Gemeinde wünschen darf. Dennoch war und bleibt das so verrichtete Gebet sinnerfüllt: Der Bezug zum Messopfer besteht nämlich nach Meinung aller von uns 98 Ignatius von Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, übers. von Peter Knauer (= Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe, Bd. 2), Würzburg, 1998, 150 Nr. 106. 99 Johann Wolfgang von Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich, 1949, Bd. 9, 170f. (2. Teil, 5. Kap.). 100 Ebd., Bd. 14, 90 (§ 91). 101 Ebd., 89 (§ 81). 102 Ebd., (§ 83). <?page no="77"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 67 befragten Autoren nicht in einer letztlich auf unbestimmtem Gefühl basierenden Andacht, sondern in der dort geschenkten Teilhabe an der durch den Kreuzestod Jesu Christi gewirkten Gnade. Gewiss ist solches Beten „aliturgisch“, wenn man darunter verstehen will, dass es sich nicht aus den liturgischen Texten speist, was nach heutigem Wissen unstreitig das Ziel aller Gläubigen sein sollte. Doch ist es sachgemäß, einen Begriff zu wählen, nur weil die Sache dem heutigen Anspruch nicht genügt? (Zumal zu erwägen wäre, in welchen Defiziten wir uns gegenüber Forderungen früherer Zeiten befinden. So ist uns z.B. die Gewissheit, mit der der erfüllte Himmel in die Gebete etwa bei Elias’ Kern aller Gebett hineinragt, heute doch weitgehend abhanden gekommen.) Abzulehnen ist das Urteil „aliturgisch“ indessen dort, wo, wie beim Morgengebet, das Nakatenus in seinem Gebetbuch bot, ein Musterbeispiel für ein persönliches Gebet vorliegt, das seine kraftvolle Sprache ganz aus dem täglichen Umgang mit liturgischen Gebeten gewinnt. Es wäre also falsch, wie Schrott die damaligen Gebetbücher als an der Liturgie mindestens uninteressiert zu charakterisieren. Für die Autoren unserer Bücher blieb die Liturgie der Mittelpunkt des Betens. Es sind, blicken wir auf Nakatenus’ doppelte Tagzeitenreihen und auf Amorts Übersetzung des Messordos, hehre Beispiele darunter. Doch ebenso kann man den armseligsten, angesichts der permanenten Rolle, die in ihnen den Verstorbenen im Allgemeinen und den Heiligen im Besonderen zukommt, der Rolle auch, die die Bruderschaften dabei oft spielen, nicht vorwerfen, sie würden den Gemeinschaftscharakter der Liturgie ausblenden und seien zur bloß privaten Andacht verkommen. Zu solchen Tendenzen neigte nach unseren Beobachtungen nur die Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele. Fraglos bedenklich ist hingegen der in manchen Werken stark quantifizierende Begriff der Gnade. Dadurch verliert das sakramentale Geschehen nie den Charakter des Funktionalen und erhält stattdessen, in seinen unangenehmsten Erscheinungen, den einer auf Reproduktion angelegten Handlung. So ist nicht verwunderlich, dass der reine Dank, wie er bei Nakatenus formuliert wurde, so selten ist, und stattdessen Sündenbekenntnis, Anbefehlungen und Aufopferungen meist das Erste sind, was Gott zu Beginn eines neuen Tages dargebracht wird. Blickt man nun auf die Veränderungen, die sich im Vergleich zu einem Gebetbuch der neueren Richtung abzeichnen, so ist an Negativem festzuhalten, dass nicht erst bei Braun und Seibt kein Verständnis mehr für die Bedeutung der geheiligten Zeiten vorhanden zu sein scheint. Die in ihren Erstausgaben bedeutend früheren Gebetbücher von Amort und die Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele waren dafür schon Belege. Die Gebetbücher heben tatsächlich mehr und mehr den Aspekt der persönlichen Besserung hervor, was Schrott das Vordringen des Eudämonismus genannt hatte 103 , welcher den Hintergrund für die ersten Versuche Sailers abgeben wird. Wo aber das persönliche Glücksstreben zum Prinzip wird, muss notwendig auch das Kirchenbild, ja, letztlich der Glaube an den Gott Jesu Christi darunter leiden, wie wir in etlichen der Morgengebete feststellen konnten: Denn so sehr die Gebete 103 S. o. S. 30. <?page no="78"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 68 zur Messe in dieser Hinsicht gegenüber vorschnellen Urteilen in Schutz zu nehmen sind - die Dimension des Heilsgeschehens kommt in den meisten Fällen der Morgenandacht gar nicht in den Blick. Stattdessen reicht der Glaube kaum noch über das Wohl und Wehe der eigenen Person hinaus. In dieser Hinsicht liegt das Gebet bei den traditionelleren Typen nicht anders als bei den Reformversuchen am Boden: Sind das der Erlösung Bedürftige, die hier ihren Gott verehren? Vielfach scheint gerade dort, wo der Dimension des umfassenden Heils wenig Rechnung getragen wird, diese Heilsbedürftigkeit besonders künstlich hervorgerufen, indem die eigene Sündhaftigkeit im Stil von ebenso unkonkreten wie pauschalen Selbstbezichtigungen betont wird, um in solcher Nichtswürdigkeit Gott die Anbetung zu sichern. Als nun der Eudämonismus sich immer stärker auszuprägen begann und so die persönliche Besserung nicht nur für möglich, sondern vor allem unter permanenter Anstrengung für geboten gehalten wird, hörten zwar gerade nicht die Selbstbezichtigungen im Gebet auf. Indem die Vollkommenheit aber nicht der Gnade, sondern zum großen Teil einer eigenen Leistung entsprach, verhielt sich das Subjekt zur Gnade relativ und bedurfte Gottes nur noch als einer unterstützenden Hilfe um aufwärts zu streben, nicht aber eines Heilandes. Insofern beobachten wir, so sehr das Wort „Anbetung“ und die Frömmigkeitsübung in eucharistischen Andachten präsent sein mag, dass mit dem Hereindringen der Tugendethik in die Gebetsliteratur der zu diesem Zeitpunkt ohnehin brüchige Grund für diese schwindet. Dieser gewandelte Bezug zum Objekt der Anbetung ist es wohl, der eine Veränderung in der Sprache bewirkt. Verglichen mit dem Stil früherer Andachtsliteratur enthalten die neueren Versuche nämlich nicht unbedingt, wie man vielleicht vermuten würde, weniger Affekte. Bei Braun kann es heißen „Anbethungswürdigster“ oder maßlos übertreibend „manche Tage sind meine Verbrechen über die Zahl der Haare meines Hauptes angewachsen“. Was jedoch eintritt, ist eine Nüchternheit in der Bitte, weil das Subjekt um die eigenen Möglichkeiten weiß. Hier kann der Beter schließlich ganz schlicht werden: „Stärke mich“, heißt es z.B. im gleichen Gebet. Tatsächlich neu war bei Braun der Blick auf die Ordnung der Woche. Im Sonntag sah er den ausschließlichen Höhepunkt. Freilich gleich so, dass andere Tage und Festzeiten dahinter ganz zurückfallen. Bei Seibt schließlich kommen diese nur noch rudimentär vor. Weiterhin verhelfen Braun und Seibt der Bibel zu neuem Ansehen, indem Braun die Sonntagsevangelien ins Zentrum der Betrachtung rückte und Seibt vielen Gebetsteilen Texte der Hl. Schrift voranstellte und die Wahrnehmung auf diese als Gebete lenkte. Die herausgehobene Stellung, die Psalmen unter der Andachtsliteratur haben sollten, weil sie seit je her beten lehren und Gebete sind, hat dagegen in unseren Beispielen nur Nakatenus verinnerlicht. Brauns Gebete werden nicht dadurch gespeist, stattdessen aber durch Texte der Liturgie, deren tiefe Aussagen er neu entdeckt - weniger deren Formelemente. Will man den Unterschied zu den Vorgängern greifbar machen, so hilft ein Blick auf das von Braun gebotene Morgengebet. Dort wird der Vorgang der Reform besonders deutlich. Das Gebet unterscheidet sich formal nicht viel von den anderen. Es wendet sich an die hl. Dreifaltigkeit. Wieder werden hier alle tradi- <?page no="79"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 69 tionell zu nennenden Personen genannt. Bei näherem Zusehen merkt man aber, wie sich die Bedeutung im einzelnen gewandelt hat: Hier ein Superlativ und dort keiner, hier eine Häufung der Adjektive, dort genügt eines; die Nennung Gottes in seiner allgemeinsten Form wird gewählt (Dreifaltigkeit) und der konkrete sich mit den göttlichen Personen verbindende Glaubensinhalt wird vermieden. Angesichts dessen möchte man nur mit Einschränkung davon sprechen, dass die neueren Gebetbücher mit der, wie wir sahen, sich beständig entwickelnden Tradition gebrochen haben. Denn es ist zweifelhaft, dass sie diese überblickten. Zutreffender wäre es zu sagen: mit ihnen begann der Geist einer neuen Zeit sichtbar zu werden. Und in diesem trat auch Sailer an, um auf dem Gebiet der Frömmigkeit zu wirken. 5. Einige Zeitgenossen über das Gebet Es sind die beiden letzten Jahrzehnte des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die jene bis dahin sich unterschwellig entwickelnden Veränderungen in der Andachtsliteratur sowohl in den Themen als auch in der Sprache sichtbar werden lassen. Nur vereinzelt stieß man vorher auf Titel, die Neues wagten: Von den obigen Beispielen fielen in dieser Hinsicht nur die sich gegenseitig ergänzenden Versuche Eusebius Amorts auf. Als ein weiteres wären Hermann Goldhagens Grundlehren des Christenthums 104 nachzutragen. Katechese und Gebet sind dort noch enger als gewöhnlich miteinander verbunden, indem in der beliebten Form der Litaneien, wie es der Untertitel sagt, Texte der Heiligen Schrift in Wechselgebete umgearbeitet werden 105 und so lesend-betend auch der Glaube gebildet werden soll. Mit der Verbindung der beiden Gattungen greift das Buch eine alte, von Canisius herrührende Tradition auf, doch reiht es sich mit seinem betonten Schriftbezug viel mehr noch auf die Seite der Neuerer ein. Nun aber, etwa ab 1780, treten etliche Autoren mit ähnlichen Ansprüchen wie Braun, Seibt oder Sailer auf. Unter anderem ist auf den etwas später erschienen Guter Samen für ein gutes Erdreich von Ägidius Jais 106 und Gott ist die reinste Liebe von Karl von Eckartshausen 107 zu verweisen, um hier nur die erfolgreichsten Titel zu nennen. Sie alle verbindet das Anliegen, das - wie wir sahen - vermeintlich oder tatsächlich niedrige Niveau der Bücher anzuheben. 104 Der vollständige Titel lautet: Hermann Goldhagen, Grundlehren des Christenthums. Aus der göttlichen Heiligen Schrift in Form der Litaneyen und Gebether zum leichten und füglichen Unterricht andächtiger Christen in der Glaubens- und Sittenlehre, bey dermaligen dem Glauben und den Sitten so gefährlichen Zeiten, Mainz, 1776. Dazu auch Schrott 1937, 239. 105 Sailer wird diese Idee aufgreifen und so eine lange Meditationen der Heilsgeschichte zusammenstellen, s.u. 108. 106 Ägidius Jais, Guter Samen für ein gutes Erdreich, Bayerdießen und Salzburg, 1791. 107 Karl von Eckartshausen, Gott ist die reinste Liebe. Mein Gebet und meine Betrachtung, neueste, mit sehr schönen Kupfern verm. und verb. Aufl., Hildesheim, 1806. Erstausgabe: München, 1790. Dieses Gebetbuch erfreute sich noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein größter Beliebtheit; freilich in einer stark überarbeiteten Fassung, die einer kirchlichen Frömmigkeit mehr als das Original zu entsprechen versuchte. <?page no="80"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 70 Interessant scheint auch ein sogenanntes Chorgebetbuch für die Damen des adelichen Stifts zu St. Stephan in Augsburg 108 , weil es ein Dokument für das Eindringen dieser Veränderungen in das offizielle Beten der Religiosen darstellt: Wenn das Gebetbuch für die Laien bisher das Vorbild und die wesentliche Prägung vom Gebet des Klerus, nämlich dem Brevier erhielt, so verhält es sich in diesem Fall umgekehrt. Im Aufbau vom Sailerschen Gedankengut unterstützt und mit Texten seines Gebetbuchs bereichert, bildet nunmehr die private Hausandacht das Vorbild für das Chorgebet der Stiftsdamen 109 . Inhaltlich identisch erschien das Buch konsequenterweise nur mit einem anderen, an die sogenannten Weltleute gerichteten Titel. 110 Über den regionalen Bezug hinaus erlangt das Buch Bedeutung durch den Umstand, dass der Hintergrund für seine Entstehung u.a. ein kirchliches Ereignis am Vorabend der Säkularisation bildet. Sein Autor nämlich, Thomas Joseph von Haiden, Provikar des Bistums Augsburg und damit Vertrauter des Augsburger Fürstbischofs und Trierer Kurfürsten Clemens Wenzeslaus, war in den achtziger Jahren immer wieder näher mit den Reformbestrebungen des Emser Kongresses befasst, welche sein Herr vorderhand unterstützte 111 . Zur Zeit, als er das Gebetbuch für die Stiftsdamen von St. Stephan zusammenstellte, war er mit einigen Gedanken über die Punktation des Embser Kongresses und die im Streit befangene Nuntiatursache im römischen deutschen Reich beschäftigt 112 . So dürfte es Haiden, dessen Version für das Chorgebet bald darauf von einem in Auftrag gegebenen Brevier, das Thaddäus Anton Dereser 113 verfasst hat, abgelöst wurde, um einen weit über die stiftsinterne Angelegenheit hinaus weisenden und für das Andachtswesen exemplarischen Fall gegangen sein, da er in der Form nicht nur an Sailer als einem Autor eines für Laien bestimmten Gebetbuchs Maß nahm, sondern wirklich den in Ems gemachten Reformvorschlägen zu entsprechen versuchte. Gaben diese doch etliche Weisungen zur internen Kirchenreform, die den disziplinarischen Folgen der Säkularisation um weniges nachstanden. 114 Haidens Gebetbuch bildet damit, 108 Joseph Thomas von Haiden, Chorgebetbuch für die Damen des adelichen Stifts zu St. Stephan in Augsburg [= Deutsches Brevier für Weltleute], Augsburg, 1790. 109 S. dazu Philipp Gahn, Joseph Thomas von Haiden und das Reformbrevier von St.Stephan zu Augsburg. Einige Anmerkungen zum Aufsatz von Liobgid Koch, Ein deutsches Brevier der Aufklärungszeit. In: Archiv für Liturgiewissenschaft, 42 (2000), 91-93. 110 S. Anm 108. 111 Zum Kongress und dem Inhalt dieser Bestrebungen s. den Aufsatz von Josef Steinruck: Bemühungen um die Reform der Reichskirche auf dem Emser Kongreß (1786). In: Reformatio ecclesiae, Paderborn, 1980, 863-882. 112 Haidens Schrift erschien zu [Augsburg], 1790. Zu Haidens Intentionen ausführlicher: Philipp Gahn, wie Anm 109. 113 Thaddäus Anton Dereser, Deutsches Brevier für Stiftsdamen, Klosterfrauen und jeden guten Christen, Augsburg, 1792 u.ö., 4 Bde. Zu dem Ganzen: Liobgid Koch, Ein deutsches Brevier der Aufklärungszeit. Thaddäus Anton Dereser und sein Deutsches Brevier für Stiftsdamen, Klosterfrauen und jeden guten Christen. In: Archiv für Liturgiewissenschaft 17/ 18 (1975/ 76), 80-144. 114 Vgl. das Urteil von Karl Othmar von Aretin, Heiliges Römisches Reich. 1776-1806, Wiesbaden, 1967, Bd. 1, 48: „Die von den deutschen Kanonisten eingeleitete Reformbewegung der Koblenzer und Emser Beschlüsse hätte, konsequent durchgeführt, ebenso zu einem Umsturz <?page no="81"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 71 neben dem Brevier Deresers und trotz seines eher dürftigen Inhalts, in gewisser Weise einen ersten Höhepunkt in den reformerischen Absichten jener Zeit. - Zugleich aber auch einen Endpunkt, da das Brevier durch Deresers Auftragsarbeit nur noch als persönliches Gebetbuch dienen konnte. Und Deresers Werk erhielt nach dem Erscheinen des ersten Bandes von dem die Bedrohung der Französischen Revolution fühlenden Clemens Wenzeslaus kein weiteres Imprimatur mehr. Der Funktion beraubt hörte es, unbeschadet der Verbreitung, die es in Laienkreisen fand, auf, als liturgisches Buch für das Gebet der Tagzeiten zu dienen. Der Emser Kongress, der wie die Synode von Pistoia 115 oder die Josephinische Reform neben anderen Aspekten die innere Erneuerung der Kirche anstrebte, bildet mit diesen zusammen eine Linie markanter Willensäußerungen, die den Weg in das neue Jahrhundert mit seinen kircheninternen Zerreißproben und seinen Umbrüchen im Verhältnis von Staat und Kirche weisen. Versuchen wir aber die tatsächlichen Bewegungen des Wandels, die sich vollzogen, nachzuzeichnen, wird es nicht nur ratsam sein, die Gebetbücher selbst zu vergleichen, sondern auch den Diskussionen über das Gebet Gehör zu schenken. Vier zeitgenössische Autoren sollen darum nun noch zu Wort kommen. Die einflussreiche Schrift von Ludovico Muratori Die wahre Andacht des Christen 116 wird uns auch im folgenden Kapitel wieder begegnen 117 . Dort werden wir beobachten, wie Muratoris Hervorhebung der theologischen Tugenden - ob vermittelt oder unvermittelt ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden - auf Sailers eigene Programmatik gewirkt hat. Damit hängt das Gebetsverständnis Muratoris insoweit zusammen, als die Behandlung des Gebets unmittelbar auf die Ausführungen zu den Haupttugenden folgt und von diesen her motiviert wird. Bieten sie nämlich gleichsam den Königsweg zur - ganz im eudämonistischen Sinn verstandenen - Glückseligkeit, so muss Muratori, folgerichtig, Sünde als dasjenige verstehen, was den Menschen daran hindert, der Vervollkommnung in den Tugenden zu leben. Die beiden Mittel dagegen seien Abtötung und Askese einerseits, so wie andererseits die Gnade Gottes, „welche zu erhalten wir des Gebets nöthig haben“ 118 . Genauerhin definiert er: „Was das Gebet anbelanget, so ist dieses nichts anders, als unser Bitten und Begehren, so wir zu GOtt abschicken, um in unsern Nöthen seinen Beystand zu erhalten, und damit er uns jene Gnaden ertheile, deren wir für das geistliche Leben so wohl, als für dieses zeitliche nöthig haben.“ 119 der kirchlichen Verhältnisse und damit der Reichsverfassung geführt, wie es der Zusammenbruch der Reichskirche in der sogenannten Säkularisation tat.“ 115 Vgl. dazu: Adam Wandruszka, Ems und Pistoia. In: Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach, Münster, 1964, 627-634. 116 Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, 3. Aufl., Wien [u.a.], 1762 Ital. Originaltitel: Della regolata divozione dei cristiani, Venedig, 1747. Das Original konnte hier außer Acht gelassen werden, da die hauptsächliche Rezeption, an deren Beachtung uns allein liegt, über die zeitgenössische Übersetzung verlief. 117 S. u. S. 91ff. 118 Ludovico Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 84. 119 Ebd., 85. <?page no="82"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 72 Gebet ist also eine Notwendigkeit aus moralischen Gründen. Wem die Argumentationsketten der Zeit geläufig sind, wird ahnen, dass dieses Fundament des Gebetes auf die Anführung der Vaterunser-Bitte, Gott möge uns nicht in Versuchung führen, hinausläuft. Wenn er dies jedoch mit Jesu Zusicherung verbindet, wir würden empfangen, worum wir bäten (Vgl. Matth. 7,8), so zeigt sich, dass das unablässige Gebet - da es der Vervollkommnung dient - für Muratori noch zu den Konstitutiven des wahrhaftigen christlichen Lebens gehört 120 . Wird sich die kommende Generation von dieser Auffassung zumindest in Teilen distanzieren, so finden wir hier andererseits auch jene Art der Grundlegung für das christliche Beten vor, die fortan die vorherrschende ist: „Der gemeine Mann oder Bauer kann mit dem Vater unser ganz allein, ein Gebet welches für alle gilt, und mit dem Englischen Gruße, welchen wohl ein jeglicher erlernet, so viel beten, und eben so viel hoffen, als der beredteste Gelehrte; denn das Herz spricht mehr mit GOtt, als der Mund.“ 121 Darum bemüht, die Gebete ihrer Gebetbücher auf das von ihnen geistig Nachvollziehbare, auf das „Gedankengebet“ 122 zu reduzieren, konzentrierten sich viele der nachfolgenden Autoren - und unter ihnen Sailer - auf das Bittgebet. Darin lag einer der sichtbarsten Unterschiede zum Hergebrachten, sei dies Martin von Cochem, sei es Wilhelm Nakatenus, seien es andere. In dieser Wendung machten viele die Weisung Jesu vom Beten aus dem Matthäusevangelium (6, 5-8) und das dieser Stelle nachfolgende Vaterunser zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Oft treffen wir daher in den Hinführungen zum rechten Beten der damaligen Zeit die Anspielung auf das „Geschwätz der Heiden“ an; und ebenso beliebt ist es, das Zentralgebet der Christenheit ausführlich zu paraphrasieren. Ein Versuch von besonders strenger Konsequenz, diese Stelle zum Prinzip für das Gebet schlechthin zu machen, ist die Schrift des für die Josephinische Reform eingenommenen Martin Budislawsky Gedanken über das Gebet 123 . Definitorisch heißt es mit Muratori zunächst übereinstimmend: „Das Gebet sei eine Bitte, welche sich auf den Glauben, Hoffnung und Liebe gründet, und welche eben darum mit einem zu Gott erhobenem Gemüthe geschehen muß.“ 124 Sich ereifernd führt er weiter aus: „[…] Es ist sehr gefährlich von der von Christo vorgeschriebenen Art zu beten abzuweichen, die Neuerung in den Gebetformeln sticht gar sehr auf die Neuerung im Glauben, und wer sich dessen überzeugen will, der durchlese nur emsig die seit drei hundert Jahren eingeführten sogenannten Hand- und Gebetbücher, und die darinn enthaltenen so anstössigen, so irrigen, so ärgerlichen Gebetformeln, welche falsche Begriffe von der Gottheit, von den göttlichen Eigenschaften, von der Kraft der Heiligen u.s.f. voraussetzen, und solche Gebeter werden als kräftig, als wun- 120 Vgl. ebd., 86. 121 Ebd., 89. 122 So der Ausdruck von Heinrich Braun, Katholisches Gebeth- und Erbauungsbuch, Augsburg, 1783, Vorrede [ungezählt]. 123 Martin Budislawsky, Gedanken über das Gebet, über die verschiedenen Gebetformeln, und über die sogenannten priesterlichen Tagzeiten, oder das Brevier, o.O., 1784. 124 Ebd., 9. <?page no="83"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 73 derthätig angepriesen, dergestalt, daß die gemeinen Leute in dem Wahne gestanden, sie könnten durch Verrichtung solcher Gebeter Gott wider Willen zwingen, daß er sie erhöre. […] Die Sache ist allzubekannt, und es ist bereits eine preiswürdige Veranstaltung, daß man solche alberne Gebetsformeln aus allen Kräften zu vertilgen trachtet. So löblich aber dieses Beginnen ist, so scheinet es mir doch immer, daß es noch viel brauchen werde, die Art zu Beten auf das ursprüngliche Muster [sc. das Vaterunser] zurückzuführen“. 125 Pedantisch insistiert Budislawsky darauf, die Bitte als die einzig mögliche Form des Gebetes anzuerkennen. Dabei steht für ihn die Wahrhaftigkeit des Betens auf dem Spiel - eine Wahrhaftigkeit, der in seinem Denken freilich nur ein Leben ausgeübter Pflichten gerecht werden kann. Der Hintergrund dieser Auffassung ist der Zielpunkt der weit verbreiteten aufklärerischen Polemik gegen das Gebet: Das Breviergebet (und mit diesem übrigens auch das der Litaneien 126 ), das Budislawsky noch selbstverständlich (und anders als wir Heutigen) als Symbol des immerwährenden Gebetes zu sehen vermochte. - Ein Verständnis, das er freilich zu bekämpfen versuchte. Denn eben davon will er die, seiner Meinung nach, einzig richtige Interpretation desselben abgrenzen, wenn er schreibt: „Vielleicht hat jene Schriftstelle: Brüder betet ohne Unterlaß, vielen Glauben gemacht, daß man zu allen Zeiten beten müsse, daß man folglich kein anderes Werk verrichten müsse, oder wenn ja andere löbliche Werke verrichtet werden, in Absicht, Gott damit zu ehren, und seine Pflichten zu erfüllen, daß es alsdann schon eben soviel sei als ein Gebet. Wenn man dieses in sensu latissimo, in den ausgedehntesten Verstande nihmt, wo man Gott loben, und preisen auch für beten hält, so kann man eine solche Erklärung in so weit gelten lassen, daß derlei Werke Gott eben so angenehm seien als ein wirkliches Gebet“ 127 statt eines, bei dem „mancher lieber täglich den ganzen Psalter herabmurmel[t], als seine Berufsarbeit getreu, und fleißig [zu] verrichten, als seine bösen Leidenschaften [zu] bezähmen, und auf die Erfüllung des ganzen Gesetzes [zu] trachten“. 128 Freilich bedarf es nicht viel, um die Oberflächlichkeit der Argumentation zu durchschauen. Der hier das ganze Gesetz fordert, missachtet zumindest einen Teil des Evangeliums, worin Jesus selbst zu Wachsamkeit und dauerhaftem Beten auffordert. Doch zeigt das Beispiel besonders unverstellt, mit welchen Mitteln viele der damals modern Denkenden den Geist des Gebetes zu erneuern trachteten. Es konnte dies weder der Gedanke von der Anbetung noch von dem immerwährenden Gebet sein, und schon gar nicht waren sie in der Lage, dem Gebet der Tagzeiten, das den damaligen Ohren zu sehr hinter ungeordneten und leeren Formeln verschwand, diese Erneuerung zuzutrauen. Sie versuchten den Begriff vom Gebet so eng wie möglich zu fassen, damit dieses - so die in dieser Zeit besonders 125 Ebd., 18f. 126 Dass auch die Litaneien mitgemeint sind, geht aus einer Stelle hervor, in der er über die Tagzeiten handelt und dann schreibt: „So heißt es z.B. Du Tröster der Armen, du Nothhelfer in allen Nöthen, du mitleidiger Vater aller Verlassenen u.m.dgl. komm eile mir zu helfen, stehe mir bei, errette mich u.s.f. …“, ebd., 51. Dies sind Formeln, wie sie in Litaneien vorkommen, die aber hier offenbar zu den Tagzeiten gerechnet werden. 127 Ebd., 14. 128 Ebd., 62. <?page no="84"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 74 oft zitierte Bibelstelle, welche einen Spalt für die Anbetung offen ließ - in „Geist und Wahrheit“ (Joh 4, 24) verrichtet werde. In diesem grundsätzlichen Streben nach der Reduktion auf das Bittgebet trafen sich bei aller Verschiedenheit z.B. das Pamphlet Budislawskys mit dem viel feiner auftretenden Seibt, der sein Gebetbuch mit eben dieser Grundansicht beginnt: „Das christliche Gebet begreift alle guten Gedanken des Geistes in sich, die eine christliche Seele von Gott haben kann, und mit guten Bewegungen des Willens an Gott richtet. Wer sich demnach vor Gott mit dessen Größe, mit der Herrlichkeit seiner Werke, mit der Mannichfaltigkeit seiner Wohlthaten unterhält, ihn deswegen lobet, ihm dafür danket, an Jesum Christum und an seine Geheimnisse denket, der betet; und alle frommen und gottseligen Betrachtungen, Neigungen und Entschliessungen, die man haben und fassen kann, sind Gebete. Wird aber das Gebet im eingeschränktern Verstande genommen, so begreift es nur die Bitten in sich, die man vermittelts des Geistes und der Liebe, wegen einer Wohltat zu Gott abschicket, die man von ihm in Absicht auf das ewige Leben, entweder für sich selbst, oder für den Nächsten, erwartet.“ 129 Dies Bittgebet ist das Zentrum des geistlichen Lebens eines Christen. Und so anmutig Seibt diesen Dienst zu beschreiben vermag: Es läuft doch alles darauf hinaus, dass das Bittgebet die Pflicht des Alltags bedeutet. Wir sahen bereits oben, dass Seibt seiner kurzen Einleitung zunächst eine lange Liste von Appellen dieser Art folgen lässt. Eine uns im Zusammenhang mit Sailers Biographie wohlbekannte Figur ist Matthäus Fingerlos, der in Hinsicht auf das Gebet ein Gesinnungsgenosse Budislawskys gewesen sein dürfte. Von 1804 bis 1814 war er Regens des Landshuter Priesterseminars. Durch diese Tätigkeit und die sich später daraus ergebende universitäre Anstellung überschnitten sich die Wirkungsbereiche von ihm und Sailer. In dieser Zeit wurden sie zu beinahe erbitterten Feinden, was bei Sailers Persönlichkeit - von seinen Zeitgenossen und Biographen stets als gütig und milde beschrieben - an sich schon bemerkenswert ist. Die Gegensätze mögen auch persönlicher Natur gewesen sein, vor allem aber lagen ihnen die ganz unterschiedlichen Konzepte für die Priesterausbildung zugrunde. Fingerlos war durch und durch Rationalist und wollte Priester zu einer Art Staatsdiener zur Bildung des Volkes heranziehen. Dass dies den Widerspruch Sailers hervorrief, liegt auf der Hand. Treffend schreibt darum Fingerlos’ Biograph Heinz Marquardt: „Wo immer nach 1805/ 06 Sailer auf solche und ähnlich Themen zu sprechen kommt, bilden Fingerlos und das unter seiner Leitung stehende Georgianum den Anschauungshintergrund, die dunkle Folie seiner Ausführungen.“ 130 Macht man sich nun mit dessen Gedanken über das Gebet vertraut, die um etwa zwanzig Jahre nach der Sailerschen Schrift zum gleichen Thema erschienen, so entdeckt man erstaunlicherweise nicht wenige Entsprechungen. Gewiss tritt dem Leser aus beinahe jedem der Sätze eine Sprödigkeit entgegen, wie man sie 129 Karl Heinrich Seibt, Katholisches Lehr- und Gebetbuch, Prag, 1779, 1. 130 Heinz Marquart, Matthäus Fingerlos. (1748-1817), Leben und Wirken eines Pastoraltheologen und Seminarregenten in der Aufklärungszeit, Göttingen, 1977, 172. <?page no="85"?> Persönliches Beten am Ende des 18. Jahrhunderts 75 Sailer wohl nie zutrauen würde. Dennoch decken sich die Gedanken der beiden in vielen Ansichten. Besonders interessant scheint eine Gegenüberstellung des oben gegebenen langen Sailer-Zitats, in dem er die Beter herkömmlicher Gebetbücher charakterisiert hatte, mit Fingerlos’ Ansichten von Begriffen der Gottesverehrung im Volk: „Vom Gebethe hält es dafür, daß es ihm [sc. Gott] ganz vorzüglich wohlgefällig sey, wenn man gleich dabey in sich keine tugendhafte Gesinnung erwecket, und schon die bloße Ehrenbezeigung, die man ihm dadurch erweiset, sey ihm genung. Es bethet ihn an, und dieses Anbethen besteht bloß darin, daß es Formulargebethe hersaget, welche für ihn Lobeserhebungen enthalten, die im Herzen eine sinnliche Rührung bewirken können, die aber nicht nothwendig auch den Vorsatz sich seinen Gesetzen unbedingt zu unterwerfen, nach sich ziehen müssen. Von dieser Nothwendigkeit macht es sich keine Vorstellung. Es bittet Gott, und bey diesem Bitten glaubt es nichts anderes zu thun zu haben, als bloß zu bitten. Daß es sich auch bey dem Bittgebethe zur Selbstthätigkeit aneifern, und durch diese nach dem verlangten Gute zu streben vornehmen sollte, von diesem sieht es keine Nothwendigkeit ein, weil es dafür hält, Gott theile zeitliche und geistliche Güter aus, ohne daß man dabey etwas anderes zu thun habe, als zu bitten, und die Hände zum Empfangen bereit zu halten. […] Auf die Verehrung Gottes durch das Gebeth (es ist immer nur von dem Gebethe nach Volksbegriffen, und nicht vom wahren die Rede) hält es so viel, daß es andere für sich bethen läßt, daß es verlanget, es sollten ganze Gesellschaften von Menschen vorhanden seyn, welche sich nur mit Bethen beschäftigen, um dadurch Gott zu ehren. […] Von dem wahren Gebethe, das in dem lebhaftesten Andenken an Gott, um in sich sittlich gute Gesinnungen zu erwecken besteht, und das vor andern das kräftigste Tugendmittel ist, von diesem wahren Gebethe hat es keinen Begriff.“ 131 Gleichzeitig mit dem negativen Urteil über „das Volk“, jenes so schwierig zu bestimmende Objekt der Aufklärung, stimmen die Perspektiven in diesem Punkt überein, dass sie den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Gebet und Tugend betonen. Auffällig ist dabei gegenüber der um ein gutes halbes Jahrhundert früher vertretenen These Muratoris, dass dieser noch fein zu unterscheiden wusste zwischen dem Werk der Gnade und dem Gebet, das diese erbittet. Hier nun ist das Gebet endgültig zu einem Mittel geworden, durch welches sich dessen Anwender des Zustandes der Tugend versichert. Streng führt er dies bei seiner Definition des Gebetes aus. Denn dieses kann er sich nicht rein und jedem Zweck enthoben denken. Stattdessen ordnet Fingerlos jeder Art des Betens eine bestimmte Funktion zu. Die Anbetung ist dazu da „um sich die Achtung gegen alle Gesetze […] zu erwecken“, das Bittgebet „um sich zum Streben nach jenem Gute anzueifern, welches man zu erhalten wünscht“, das Fürbittgebet „um sich anzueifern […] das Seinige beyzutragen, daß der Mitmensch jenes Gut erreiche, das ihm mangelt“, das Dankgebet „um dadurch […] den Entschluß zu fassen, die empfangenen Wohlthaten nur zu sittlich guten Zwecken anzuwenden.“ 132 131 Matthäus Fingerlos, Versuch einer Pastorallehre, München, 1805, Bd. 1, 223ff. Vgl. Sailers Bemerkungen oben S. 27. 132 Vgl. ebd., Bd. 2, 144ff. <?page no="86"?> Kapitel 1. Sailers Auffassung vom Gebet im Jahre 1783 76 Selbstverständlich finden sich genügend Stellen in seinen Schriften, in denen Sailer solchen Positionen auch schon in den frühen 1780er Jahren mindestens reserviert gegenüber stand. Die Konzeption des Geistlichen als Staatsdiener beispielsweise, der betontermaßen nicht dazu da ist, um zu beten 133 , dürfte ihm schon damals zutiefst zuwider gewesen sein. Dennoch: Die Haltung Sailers zur Zeit der ersten Auflage seines Gebetbuchs reicht, gemessen an seinem Gedankengerüst, kaum über das Niveau der Zeitgenossen hinaus. Er teilt die allgemein verbreitete Kritik an den Gebetbüchern und im Besonderen an dem Breviergebet 134 . Reserviert gegenüber allem, was bisher ehrfürchtige Hingabe an Gott bedeutet hatte, reduzierte man allerorten das Beten auf die Bitte um Besserung. Und so lautet das der ersten Auflage des großen Gebetbuchs vorangestellte Motto: „Bittet und ihr werdet empfangen“ 135 (Matth. 7, 8). - Der junge Sailer, reduziert auf seine Argumentation, ragt gewiss nicht über seine Zeit hinaus. c) Die Hinwendung zum Herz Dennoch bleibt ein anderer Ton im Gebetbuch von 1783 vernehmbar. War es doch schon oben aufgefallen, dass Sailer zwar von dem Bittgebet als einem Prinzip ausging, also etwas, von dem er meinte, dass es für seine Gedanken über das Gebet leitend sein könnte. Am Ende seines Unterrichts jedoch langte er bei den Betrachtungen über das Herzensgebet an und maß dem Bittgebet nur noch eine untergeordnete Bedeutung bei: In den oben erwähnten dreizehn Weisen des Gebetes wird es nur noch an fünfter Stelle, von Lobpreis und Dank nicht unterschieden, genannt 136 . Sicher muss man Sailer hier eine gedankliche Inkohärenz vorwerfen. Doch wird man ihm damit nur zum Teil gerecht, indem man dabei nämlich übersieht, wie wenig es ihm darum geht, ein starres Gedankengebäude vorzutragen und wie sehr das, was er schreibt, durchlässig bleibt, um zu Wesentlicherem zu gelangen. Sailer entfaltet seine Wirkung zunächst auf einer rhetorischen Ebene: Denn dieses Abgleiten vom zunächst gefassten Hauptgedanken, Beten sei letztlich nichts anderes als Bitte, entwickelt sich allmählich zu einem Darüber-Hinausschießen, fließt über von einem zum anderen und intensiviert die Lektüre, füllt sie mit einer Wärme, die das bloße Konzept überflügelt. Sailers Sprache führt ihn darum in ihrem Werben selbst dorthin, wo die Enge des Begriffs durchbrochen wird. Wunderbar schreibt er über das anhaltende und in den Willen Gottes ergebene Gebet: 133 Vgl. ders., Wozu sind Geistliche da? , Salzburg, 1800, Bd. 1ff. 134 Vgl. die von Franz Xaver Christmann herausgegebene und anonym erschienene Schrift: I.M.S. [= Johann Michael Sailers] Gedanken von der Abänderung des Breviers. Mit Anmerkungen begleitet, und der katholischen Geistlichkeit zur Selbstprüfung vorgelegt von E.B.M. [= Franz Xaver Christmann], Ulm 1792. Auf Sailers Haltung zum Tagzeitengebet wird unten S. 96-98 noch näher eingegangen. 135 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, [Rückseite der Titelseite]. 136 S. o. S. 23. <?page no="87"?> Die Hinwendung zum Herz 77 „Wir dürfen nicht sorgen, daß wir zu oft vor Gott erscheinen; wir haben nicht zu fürchten, daß wir als ungestüme Bettler abgewiesen werden. Je länger wir im Gebete ausharren, desto mehr erweiset sich unser Zutrauen auf Gott, die Empfindung unserer eigenen Schwachheit und der Durst nach Erhörung. Je länger wir im Gebete ausharren, desto geschickter werden wir, zu empfangen. Glaube, Hoffnung, Liebe üben und stärken sich im anhaltenden Gebete. Und wer mehr glaubt, wer mehr hofft, wer mehr liebt, kann mehr suchen, mehr empfangen, mehr genießen. Wir müssen im Begehren nicht müde, im Suchen nicht überdrüssig, und im Anklopfen nicht nachläßig werden, dann wird gegeben und aufgetan. […] Ist Gott größer oder kleiner als unser Herz? Kann er nicht über alle unsere Wünsche geben? Ist Christus tot oder lebendig? Ist Christus ein Bettler oder ein König? Wenn der Gerechte sich auch seines Viehes erbarmet, für das er nicht sterben möchte: wird Christus der Menschen, für die er gestorben ist, sich nicht erbarmen? Wenn ein Pharisäer seinen Ochsen und Esel am Sabbat aus der Grube zieht, wird Christus seine Brüder in der Grube liegen lassen? Wird der, der zum Menschen gesprochen: thu Gutes denen, die dich hassen, denen nichts Gutes thun, die Ihn lieben? “ 137 Das Verständnis für ein Gebet, das die Zeit durch Wiederholung rhythmisiert, dessen Vorbild stets das Gebet der Klöster war - davon hatten sich Sailer und seine Zeitgenossen entfernt; und sie fanden dorthin auch nicht mehr zurück. Aber das Mühen um Intensität und Wahrhaftigkeit will sich andererseits - wie man zu Beginn des „Unterrichts von dem Gebet“ hätte vermuten können - nicht in die Schablone der Forderungen nach einem einfachen und kurzen Bittgebet und tugendhaftem Lebenswandel fügen und verschließt sich, weil es inwendig werden will, nicht dem Ideal des langandauernden Gebetes. Folgt man Sailers Rede, so scheint es, dass dieses Ideal weniger bereits im Keim der Anfangsthese verborgen liegt, sondern dass es in dem Maße hervorzutreten beginnt, in welchem sich die Rede - durch entsprechende Bibelstellen und deren Sprachduktus gesättigt - rhetorisch verdichtet. Herz, so scheint es, war für ihn ein Leitwort, das ihn, so befangen wir ihn 1783 noch sehen mögen, aus der Enge seines zeitbedingten Ansatzes herausführte (und doch: stets war es das eigene Herz und nie das seines Heilands; zu sehr war ihm das Motiv durch die überkommenen Formen wohl verleidet, als dass ihm dieses bedeutend hätte werden können). Vorläufig seufzt er in einem Halbsatz des von ihm herausgegebenen und eingeleiteten Kern aller Gebete auf: „[…] wenn auch das Herz empfände, was der Mund ausspricht“ 138 . Sieben Jahre später wird er dabei angekommen sein zu sagen: „Der Mund ist nur Dolmetsch des betenden Herzens“ 139 - so das Motto der dritten Auflage des großen Gebetbuchs. Die beiden folgenden Kapitel sollen zeigen, wohin ihn die Gedanken um das Gebet, nachdem die Worte ihm vorausgeflogen waren, führten. 137 Sailer, Betbuch, Bd. 1, 8 u. 11. 138 Kern aller Gebete, sammt einer Zugabe, 1782. 6. 139 Sailer, Lese- und Gebetbuch, 1789, Bd. 1, Rückseite der Titelseite. Vgl. dazu auch S. 88, Anm. 30. <?page no="89"?> Kapitel 2: Die beiden Gebetbücher a) Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch Sailer hat sich nie besonders dunkel ausgedrückt; das lag seinem Wesen nicht. Weder hat er je versucht geheimnishaft zu wirken noch zu schreiben, und von einem bestimmten Zeitpunkt an war ihm, man würde heute sagen: eine gewisse Transparenz sogar beinahe wie ein Schutzschild, um vor Unterstellungen der Heimlichtuerei sicher zu sein. Man denke etwa an die Vorwürfe aus der Dillinger Zeit, in der es hieß, er würde die Studenten verderben, indem er dort unter der Hand die Schriften frommer, evangelischer Autoren wie Claudius und Lavater verbreite 1 . Der Vorwurf freilich war wohl richtig, auch wenn er das nie zugegeben hat. Bestärkt haben ihn indessen diese Ereignisse, die schließlich dazu führten, die Dillinger Universität zu verlassen, nicht darin, nun etwa „vorsichtiger“, d.h. noch mehr im Verborgenen zu wirken, sondern, im Gegenteil, das Seine immer offen und klar vorzubringen. Sicher, genau und sprachmächtig sagt Sailer auch in den geringeren Formulierungen stets das, was er sagen will. Nicht mehr und nicht weniger. Und darum scheint der direkteste Weg bei der Analyse des Aufbaus des Sailerschen Gebetbuchs auch der beste zu sein. Ohne nach weiteren Hintergründen zu schürfen, wollen wir uns Stück für Stück die Elemente des Werks vor Augen führen, um so die leitende Idee des Ganzen zu erkennen. 1. Lesen und Beten 1783 lautet der Titel des Buches Vollständiges Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken. Damit ist schon viel gesagt; mehr als mit irgendeiner blumigen Wendung. Und das wäre schon die erste der Beobachtungen: dass nämlich Sailers Gebetbuch schon zu jenen gehörte, die auf solche Wendungen verzichteten, nicht nach allegorischen Vergleichen suchten, sondern dass es sich darauf beschränkte, zu sagen, was der Leser in den Händen hält: Ein alle Bereiche des gewöhnlichen katholischen Lebens umfassendes Gebetbuch und zugleich ein Lesebuch. Dieses Umfassende, oder wie man damals sagte, Vollständige ist wenig überraschend. Bereits gut 200 Jahre früher hatten die Gebetbücher begonnen, zu Kompendien des religiösen Lebens zu werden. Das Musterbeispiel hierfür ist das Manuale catholicorum des Petrus Canisius 2 , bei dem es zu „einer Verbindung des Katechismus mit dem Gebetbuch“ 3 gekommen war. 1 Vgl. dazu Schiel, Bd. 1, 209 u.ö. 2 Manuale catholicorm in usum pie precandi et cum Romano caledario nunc primum editum. Friburgi Helvetiorum, Abraham Gemperlein, 1587 (De Baker/ Sommervogel II, 677,22). 3 Schrott 1937, 211-217. Hier: 217. <?page no="90"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 80 Schrott sieht Canisius denn auch als direkten Vorläufer Sailers, wenn er bemerkt: „Er [Petrus Canisius] hat das Gebetbuch zu einem ‚Lehr- und Gebetbuch‘ gemacht, oder wie sich viele Gebetbücher des 18. und 19. Jahrhunderts nennen, zu einem ‚Lese- und Gebetbuch‘“. Als einziges der „vielen“ aber führt er das Sailersche an. Die Bekanntschaft mit den katechetischen und erbaulichen Werken des Canisius muss man bei jemandem, der wie Sailer die Jesuitenerziehung vom Gymnasium bis zum Noviziat genossen hatte und sich obendrein an Fragen der Pastoral höchst interessiert zeigte, mit Sicherheit voraussetzen. Auch dürfte jener ihm ein positives Beispiel einer um die Frömmigkeit bemühten Schriftstellerei gegeben haben. Und tatsächlich liegen beide Entwürfe nicht weit auseinander. Doch die direkte Herleitung des einen aus dem andern, so wie sie Schrott unterstellt, leidet zu sehr darunter, historische Verbindungslinien unter den Angehörigen des gleichen Ordens herstellen zu wollen, als dass der Blick frei wäre für den wesentlichen Unterschied zwischen beiden: Ein Lehrbuch ist kein Lesebuch. Diese Abgrenzung nimmt Sailer bewusst vor, und dabei kommt das Markante seines Entwurfs zum Ausdruck. In der Vorrede von 1783 heißt es: „Zu dem mochte ich nicht, dass der Leser in diesem Werke einen vollständigen katechetischen Unterricht suchte; denn den Kinderlehrunterricht setze ich durchgängig voraus, und baue nur so fort darauf. Demungeachtet ist das Lesebuch dennoch in einem Betracht vollständig, weil es von allen Gegenständen vieles sagt, und alles von allen nicht sagen kann und nicht sagen soll.“ 4 Dass er diese Passage in späteren Auflagen nicht mehr für das „Wichtigste aus der Vorrede zur ersten Ausgabe“ hielt, mag andere Gründe haben. Vielleicht die, dass sich die Sache, da sein Werk weithin bekannt geworden war, von selber verstand. Als Lesebuch schon im Titel kenntlich gemacht, gibt es ohnehin all denjenigen, die es gebrauchen wollen, den Schlüssel zum Verstehen an die Hand. Freilich: auch wenn man diesen Schlüssel kennt, ist ein weiteres Missverständnis möglich. Vergegenwärtigt man sich das, was damals „Lesebuch“ bedeutet haben mag, wird einem vielleicht einfallen, dass die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Zeit größerer Sammlungen gewesen ist. Die bedeutendsten, die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen und Arnims und Brentanos Des Knaben Wunderhorn, sind uns auch heute noch präsent. Es scheint reizvoll nach möglichen Parallelen zu solchen Sammlungen zu suchen 5 . Doch abgesehen davon, dass jene Männer zum Zeitpunkt des Erscheinens des Vollständigen Lese- und Betbuchs gerade erst geboren waren und somit ihr zeitlicher Abstand zu diesem doch beträchtlich ist, gilt es vor allem zu beachten, dass das Gebetbuch, ebenso wie es nur bedingt ein Lehrbuch genannt werden kann, auch keine eigentliche Sammlung war und nämlich nur zum geringsten Teil fremde Texte enthielt (sich hierin übrigens nochmals von 4 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, Vorrede [ungezählt]. 5 So Bernhard Gajek, Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, 125. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, 125 der das „reformerische Lese- und Betbuch Sailers“ mit den „romantischen Sammlungen“ wie der Des Knaben Wunderhorn in Verbindung bringt. <?page no="91"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 81 den Gebetbüchern des Canisius unterscheidend 6 ). Sailer ist bei diesem Werk kein Kompilator sondern Schriftsteller - ein Umstand, der im nächstfolgenden Kapitel in Bezug auf den Umgang mit seinen Quellen noch zu bedenken sein wird. Des weiteren liegt es nahe, an die Lesekultur des späten 18. Jahrhunderts zu denken, und die aufkommenden Lesegesellschaften oder die sogenannte „Lesewut“ mögen ein Indikator für eine Vorstellung davon sein, wie sehr sich damals das Lesen extensivierte. 7 Auch Sailer ist ein begeisterter Leser. Doch will er mit seinem Gebetbuch keinesfalls eine Art „Lesefutter“ liefern. Seine Absichten spricht er deutlich in der Programmschrift Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollkommenen Lese- und Betbuches aus: „Damit das Betbuch ein brauchbares Vehikel zur Bildung der Christenmenge werde: muß es zugleich ein Lese- und Betbuch seyn. Denn das Lesen bringt das Herz in die nöthige Stimmung zum Beten. Das Lesen unterrichtet den Verstand, und öffnet dadurch den Weg in das Herz. Das Lesen legt den Saamen in die Erde, und das Gebet erwärmet ihn, daß er Frucht bringe. Das Lesen giebt, und erweckt alle Begriffe, die die gesegneten Empfindungen des Beters als Vorbereitungen, als Einleitung voraussetzen. […] Das Lesen unterrichtet, belehrt, klärt auf, und legt also Grundsteine zur Bildung. Das Lesen bringt Licht in die Seele, und das Beten Wärme. Das Lesen weckt zum Wohlthun, und das Gebet stärkt dazu.“ 8 Was Sailer wünscht, ist also durchaus Lehrhaftes: die „Bildung der Christenmenge“, in einem zunächst religiös-moralischen Sinn, und zwar so, dass auch der einfache Gläubige aus einem inneren Wissen zum Beten gelange und sich dabei für das „Wohlthun“ bereite. Zweifellos zu Recht wird man hier den Impetus des Aufklärers erkennen, der sich mit seinen Zeitgenossen nie anders denn als in einer Gemeinschaft zur Erfüllung eines guten, bestenfalls heiligen Zwecks verbunden weiß und wo noch „Jesum Christum zu verherrlichen“ als „erste[r] und letzte[r] 6 Vgl. Schrott 1937, 212, Anm. 8. Die „Gepflogenheit, die Gewährsmänner zu verschweigen“ galt in dieser Weise 200 Jahre später schon nicht mehr. Darum weist Sailer wenigstens allgemein darauf hin, wenn bestimmte Texte nicht von ihm stammen. Vgl. z.B. die Anmerkung zum „Versuch einer Sammlung zu einem katholischen Gesangbuche“ in SW, 25, 227ff.: „Die meisten sind bloß gesammelt“. S. dazu auch: Waldemar Trapp, Vorgeschichte und Ursprung der liturgischen Bewegung vorwiegend in Hinsicht auf das deutsche Sprachgebiet, Regensburg, 1940, 206, Anm. 86. 7 Dazu Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800, Stuttgart, 1974. 8 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 22f. Vgl. auch S. 61: „Ein Betbuch ist ein Vehikel zur Bildung der Menschen. Es muß also den Bedürfnissen der Zeit angemessen seyn. Die Leselust breitet sich auch unter uns immer weiter aus. Das lesende Publikum wird immer größer. Auch das Volk liest je länger, je lieber. Verführende Schriften werden immer gieriger verschlungen. An lesewürdigen Schriften fürs Volk ist noch immer ein großer Mangel. Sollen diese Gründe zusammengenommen kein Gewicht bey den Volkschriftstellern haben, die Leselust zu benutzen, mit gesunden Schriften zu nähren, und für den würdigsten und ernsten Gegenstand ‚Religion‘ einzunehmen? Erhält nicht aus diesem Gesichtspunkte ein in seiner Art vollkommenes Betbuch einen neuen Werth? “ <?page no="92"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 82 Zweck“ 9 bezeichnet werden kann. In diesem Sinne bestätigt sich also die Analogie Schrotts von Lehr- und Lesebuch. Gilt es aber schon die unterschiedlichen Bildungsziele bei Canisius und Sailer zu beachten, darf auch bei letzterem, für sich genommen, nicht aus dem Blick geraten, dass sich dessen Bildungsbegriff von etwas nährt, was dieses Zweckgefüge zu unterlaufen vermag, und das ist Sailers Herzenssprache. Es war davon soeben am Ende des ersten Kapitels die Rede. Hier dagegen interessiert, dass die Vorrede der ersten Auflage das Lesen, das Beten und das Herz des Beters in Verbindung mit dem Schöpfungsglauben bringt und so das von ihm intendierte Lesen eine Dimension erreicht, die über einen bloß moralischen Sinn hinausreicht. Das Werk des Schriftstellers und des Lesers nämlich, sagt Sailer, verhielten sich so ähnlich wie unähnlich zu dem des Schöpfers. Hauche dieser seinem Lehmgebilde nicht das Leben ein, so bliebe es beim „todte[n] Leimgemächt“. Was aber dem Schöpfer möglich sei, „weil Er Schöpfer ist“, das gelänge dem Schriftsteller alleine nicht: „Es mag den Verfassern beym Schreiben warm aus dem Herzen quellen, was sie schreiben: aber für den Leser sinds nur todte Buchstaben […] Der Leser muß erst das Leben in die Gebetformel hineinhauchen, das heißt, durch Nachdenken und Empfinden die Gebetformel, das gedruckte Buchstabenwerk zum warmen Herzensgebet machen.“ 10 Nur im Zusammenspiel der Herzen - so darf man den Gedanken weiterspinnen -, die in der gleichen nachdenkenden und empfindenden Bewegung nach dem inwendigen Gebet suchen, ähneln Schriftsteller und Leser - als Einheit, nicht jeder für sich alleine - ihrem Schöpfer, und es entsteht: geistliches Leben. Ruft man sich das Ergebnis des ersten Kapitels in Erinnerung, dass nämlich Sailer, offenbar während des Verfassens seines Unterrichts vom Gebet, das Herz als Ort des Betens mehr und mehr in den Blick zu bekommen begann, und bedenkt man fernerhin, dass die Vorrede gewiss nach der Fertigstellung des Gebetbuchs, d.h. in der Rückschau auf das vollendete Werk verfasst wurde, so müssen wir hier eine weitere Etappe eines Denkprozesses markieren, in dessen Verlauf sich das Herzensgebet immer stärker ausprägte und sich aus einem Zweckgefüge zu befreien begann. Immer deutlicher hat sich je und je dieser Wandel ausgeprägt. Mit jeder Auflage tritt dies klarer zu Tage: „Bittet und ihr werdet empfangen“ 11 hieß es noch 1783 auf das Bittgebet als den „Grund des Gebetes“ 12 hinweisend. „Der Mund ist nur Dolmetsch des betenden Herzens“ 13 steht als das Motto dem Gebetbuch seit 1789 voran. Noch ein Aspekt kommt zu dem im Titel Gemeinten hinzu, doch dazu ist es nötig, etwas weiter auszuholen. 9 Ebd., 21. Als weitere Zwecke werden daneben noch genannt: „b) Die Menschen zu bessern […], c) Dem Betenden Gott, Christum, Tugend, Seligkeit theuer, d) Die Grundwahrheiten der Religion bekannter und wichtiger und e) Die Ausübung des Christenthums vollkommener zu machen.“ 10 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, Vorrede [ungezählt]. 11 Ebd., Rückseite der Titelseite. 12 Ebd., 3. 13 Sailer, Lese- und Gebetbuch, 1789, Bd. 1, Rückseite der Titelseite. Vielleicht gilt das Motto schon ab 1785. S. dazu Anm. 30 in diesem Kapitel. <?page no="93"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 83 Exkurs zur Bildung des Geistlichen Im Jahre 1788 nämlich, also fünf Jahre später, veröffentlichte Sailer seine Dillinger pastoraltheologischen Vorlesungen. Derjenigen Disziplin waren sie gewidmet, die sich seit elf Jahren in den habsburgischen Ländern verbindlich etabliert und die ganze Praxis, die ein Priester zur Ausübung seines Amtes brauchte, darzulegen hatte. Im Wesentlichen waren das drei Bereiche: Die Sakramentenspendung, die Unterweisung und die Erbauung. Sailer aber, statt die Trias nun der Reihe nach zu traktieren, ging die Sache anders an. Er sah das Dilemma des Seelsorgers, der nach der Intention derer, die das Fach an den Universitäten eingeführt hatten, eingefügt in die Kirche als staatstragender Institution, nur innerhalb der ihm gesteckten Grenzen funktionieren sollte 14 . Hier erkannt zu haben, dass es das vorrangige Ziel des Studiums sein muss, das Geistliche im angehenden Seelsorger auszubilden und zu bestärken, gehört zu seinen großen Leistungen. Ein ganzes Drittel des gesamten Werkes handelt darum von nichts anderem als von dem „praktischen Schriftforschen“, dessen man sich unterziehen soll, also von dem rechten, d.i. dem geistlich auferbauenden Lesen in der Heiligen Schrift. Davon wusste Sailer nicht erst, seit er über die Pastoraltheologie zu dozieren hatte. Die intensivsten und anfänglichen Jahre seines eigenen Schriftstudiums, besonders der Psalmen, lagen damals bereits 15 Jahre zurück, und die damals eingeübte Gewohnheit hatte sich im Laufe dieser Zeit gefestigt. 15 Als Studenten in Ingolstadt pflegten er und drei weitere Kommilitonen zusammenzukommen, um gemeinsam den hebräischen, den griechischen und zwei verdeutschte Texte der Psalmen zu lesen und eingehend zu besprechen. Auf diese Weise drangen sie immer mehr in den Geist der Gebete ein 16 . Entsprechend gereift kann er dann in den Vorlesungen auch seine Erfahrungen weitergeben. In grundsätzlichen Maximen, Regeln und Auslegungen, die er ganz ausführlich und beispielhaft anführt, schließt er seinen Studenten die Heilige Schrift gleichsam als ein Exerzitium für den Umgang mit Gott auf. „Lies die nämliche Stelle, Begebenheit, Rede oft, aufmerksam; vergleiche sie mit anderen Stellen, Begebenheiten; lies sie in den verschiedensten Situationen deines Herzens; lies sie in den mancherlei Stufen deiner Einsicht; lies sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, als Greis im Alter und an Weisheit. Und deine Bemerkungen werden sich an Schärfe, Reichthum, Zahl, Richtigkeit, Tiefe gerade so gegen einander verhalten, wie die Gewandheit deines Blickes in den verschiedenen Stufen des Alters, der Einsicht u.s.f.“ 17 14 Ein gutes, wenn auch späteres Beispiel für eine so geartete Pastoraltheologie liegt in dem oben S. 74 bereits besprochenen Matthäus Fingerlos, Wozu sind Geistliche da? , Salzburg: Mayr, 1800, 2 Bde. vor. 15 Dazu Konrad Baumgartner, Johann Michael Sailer als Pastoraltheologe und Seelsorger. In: Johann Michael Sailer und seine Zeit, Regensburg, 1982, 283. 16 Auffälligerweise spielt der Vulgatatext keine Rolle. Die lateinische Übersetzung, die ja gleichzeitig die Textgrundlage für das römische Brevier war, bot den Studenten offenbar keinen Schlüssel zum Verständnis der Psalmen dar. 17 Sailer, SW, 16, 69. <?page no="94"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 84 Die künftigen Seelsorger - zunächst auf das Wachstum der eigenen Seele bedacht - sollen durch das Lesen in der Bibel innerlich reifen. Geistliche heranzubilden, sie zu dem werden zu lassen, was sie sein sollten, dies blieb Sailer immer ein mächtiger Beweggrund seiner Arbeit. Dabei fixierte er sich nicht auf das Schriftstudium allein. Auch die Kunst, die Formen der Frömmigkeit und der Liturgie oder den Kirchenbau machte er jenem Geschäft der „Bildung des Geistlichen“ 18 dienstbar. Das eine löste dabei nicht das andere gleich einem neuen Konzept ab, sondern ergänzte und erweiterte den in den Vorlesungen zur Pastoraltheologie grundgelegten Entwurf 19 : Das Lesen in der Heiligen Schrift bildet die elementarste und niemals aufzugebende Übung des Klerikers. Begreifen wir dieses nun in Sailers Sinn als Weise, den Geist ihm entsprechend, d.h. geistlich zu ernähren, lebendig zu erhalten und zum Gebet zu bereiten, so werden wir schon das in zwei dicken Bänden daherkommende Gebetbuch, welches das Lesen umständlich im Titel führt, für nichts anderes als den Ausgangspunkt eines weit gespannten „Bildungsprogramms“ nicht des sogenannten einfachen Volkes, sondern aller christlichen Stände ansehen. Es ist tatsächlich aufschlussreich, sich diejenigen seiner Werke vor Augen zu führen, die jener engen Beziehung zwischen Lesen und Beten verpflichtet sind und als deren erstes Großes das Gebetbuch zu gelten hat. Am deutlichsten tritt dieses Merkmal bei seinen Übersetzungen, die gleichzeitig die eigenen Vorlieben der geistlichen Nahrung anzeigen, hervor. Vor allem sind die 1794 zum ersten Mal herausgegebenen vier Bücher von der Nachfolgung Christi zu erwähnen - jene Sammlung von Sentenzen, die ein intensives geistliches Leben voraussetzen, die oft und oft herangezogen werden wollen und wiederum den Sinn haben, zum Gebet hinzuführen. Das Buch nannte Sailer seinen Freund, und es hat ihm den Weg zu Jesus Christus und zum Umgang mit der Heiligen Schrift gewiesen. „[…] nimm das Buch in deine Hände zum Lesen, wie der gerechte Simeon den Knaben Jesus in seine Arme nahm, Ihn zu tragen und zu küssen. Und wann du gelesen hast, schließe das Buch, und danke für jedes Wort aus dem Munde Gottes; denn einen verborgenen Schatz hast du auf dem Acker des Herrn gefunden.“ 20 18 Vgl. die spätere Sammlung seiner Vorlesungen: Neue Beiträge zur Bildung des Geistlichen, SW, 19. 19 Vgl. die Einleitung zu den Neuen Beiträgen zur Bildung des Geistlichen: „Wenn die Vorlesungen aus der Pastoraltheologie […] die Absicht hatten, […] den Geistlichen als Seelensorger in sein Amt einzuleiten: so haben diese Beiträge […] die Bestimmung […] die tiefere und weitere Bildung des Geistlichen […] fortzuleiten“, SW, 19, 3. 20 Thomas von Kempen, Sämmtliche Werke, Wien, Bd. 2 (1834), Bd. 2, 337. Das lateinische Original befindet sich in der Schrift Doctrinale iuvenum. In: Ders., Opera omnia, Freiburg, Bd. 4 (1918), 186: „sic accipe librum in manibus tuis ad legendum: sicut Simeon iustus puerum Iesum in ulnas suas ad portandum et osculandum. Et postquam legisti claude librum; et gratis ege de omni verbo ex ore Die: quia invenisti in agro Dominico thesaurum occultum.“ Dem Thomas-Archiv, Kempen danke ich herzlich für die freundliche Hilfe beim Auffinden des Zitats. <?page no="95"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 85 sagt Thomas von Kempen, und es erscheint einem als habe sich der Übersetzer der Imitatio Christi den Formulierungen seines Vorbildes bis in die Diktion hinein angepasst. 21 Auch die Übungen des Geistes zur Gründung und Förderung eines heiligen Sinnes und Lebens - eine 1799 veröffentlichte Übersetzung der Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola - zeigen eine geistliche Richtung an, die weiter unten noch ausführlicher zu bedenken sein wird 22 . „Zur Belehrung und Erbauung seiner Mitchristen“ gibt er in den Jahren 1800 bis 1804 die Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung heraus, welche aber Früchte einer viel weiter zurückreichenden Beschäftigung sind. So bezeugt Jakob Salat schon vom Ende der 1780er Jahre die dem Thomas-Zitat ganz entsprechende Liebe, die Sailer und sein Kreis den Schriftstellern jener Sammlung entgegenbrachten: „Von Lavater und Claudius (wer mißkennt das Gute derselben und wer das Wahre ihrer Ansichten? ) zu den Mystikern geführt, begann jetzt Sailer, die Schriften früherer, ausgezeichneter Mystiker zu sammeln. Eine ganze Reihe entstand auf solche Weise. Noch sehe ich sie, diese Sammlung in kleinem Formate mit gelbem Papiere von einem teuren Zuhörer überzogen und von einem andern überschrieben zum Behufe derselben Gleichförmigkeit […] So habe ich diese Mystik in ihrer Wiege gesehen. Und es waren nicht bloß Fénelon, Tauler und Tersteegen, welche auf solche Art in der Bibliothek des verehrten Lehrers glänzten! “ 23 Im gleichen Zusammenhang nennt Salat auch ein Beispiel für die bis ins Sonderbare reichende Verehrung, die die Schüler dem Lehrer entgegengebrachten. Das Bemerkenswerte für uns daran ist, dass sich diese wiederum an Schrift und Buch hält. „Feneberg […] nahm bereits an dieser mystischen Richtung besonders teil. Ja, derselbe war um diese Zeit schon für Sailer […] dermaßen gestimmt, daß er - wie mir von guter Hand bekannt worden - dessen Handschrift zum zweiten Band seiner Glückseligkeitslehre kniend abschrieb. Solchen Einfluß des „Herrn“ auf diese Sailersche Arbeit hatte Feneberg vorausgesetzt.“ 24 Das Weihevolle des so entstandenen Korpus übertrug sich offenbar auch auf die weitere Leserschaft. So wurden etwa die Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung gewissermaßen zum Grundbuch der Lukasbrüder, jener deutschen Kolonie romantischer Maler in Rom, die ein neues Verhältnis von Kunst und Religion anstrebten 25 . Das mit Lesen und Beten in Verbindung stehende Wortpaar „Belehrung und Erbauung“ macht schließlich darauf aufmerksam, dass Sailers Bemühungen noch sehr viel weiter gingen. Wie viele seiner Predigten dienen der Betrachtung - ein immer wiederkehrendes Wort in ihren Titeln - und münden ins Gebet! „Betrach- 21 Zu Sailers Thomas- und Mystikrezeption s. auch das folgende Kapitel. 22 S. u. S. 189ff. 23 Schiel, Bd. 1, 151. 24 Ebd. 25 Vgl. dazu: Bernhard Gajek, Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 134f. <?page no="96"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 86 tungen und Gebete“ legt schließlich 1826 der „Bischof von Germanikopolis“ als das letzte seiner aszetischen Werke im Christlichen Monat vor. Auf Schritt und Tritt ist der Wille erkennbar, in allen Teilen des Christenvolkes an dessen Vergeistlichung, die Sailer für die Grundlage einer Glaubensbefestigung hielt, mitzuwirken. Und es ist dieses Ziel, das in der Konzeption eines Gebetbuchs, das zugleich ein Lesebuch sein will, zum ersten Male erkennbar anvisiert wird. Klingt es doch schon wie eine frühe Fassung der oben angegebenen Lesehinweise aus der Pastoraltheologie, wenn er in der Vorrede zur ersten Auflage des Gebetbuchs vom rechten Lesen sagt: Ehe man eigentlich bete, sei es nötig, den Text zu überfliegen und sich hie und da Anmerkungen zu machen, mit deren Hilfe die Gebete an die eigenen Bedürfnisse und Umstände anzupassen seien. Freilich zeigt er sogleich die Grenze solcher Ratschläge auf: Denn wiederum nur das eigene Herz könne auch Auskunft über das eigene Befinden geben, ohne dessen Kenntnis es nicht möglich sei, dass sich der Beter zu eigen mache, was der Autor schrieb 26 . 2. Vorwort und Motto Es hätte nach dem Willen Sailers nicht bei der Bezeichnung „Lesebuch“ bleiben sollen. Vielmehr war - darauf wurde verwiesen - 1831 intendiert nach seiner gründlichen Umarbeitung die Andacht statt des Lesens im Titel zu tragen. Das war kein leichtfertiger Austausch von Begriffen, sondern der Ausdruck einer sein ganzes Leben währenden Beschäftigung mit den Dingen des Gebetes, deren Linien und Wandlungen in dieser Arbeit nachgezeichnet werden. Auch die Veränderungen, die die Vorworte der verschiedenen Auflagen zeitigen, machen darauf aufmerksam. Wenn man sich fragt, worin eigentlich das inhaltlich Neue, das für die damalige Zeit so Beachtenswerte dieses Gebetbuchs bestand, so wird man sicherlich zuallererst auf die entschiedene Hinwendung zu Jesus Christus hinweisen müssen. Wurde dies schon oft in anderen Zusammenhängen, etwa im Bereich der Ekklesiologie 27 als das Charakteristikum der Sailerschen Theologie beobachtet, kommt seinem ersten großen Werk auch von dieser Seite keine geringe Bedeutung zu: Ist sich doch der junge Theologe seines konzentrierten Blickes bewusst, der ihm den Maßstab für die Beurteilung des Wertes der überkommenen geistlichen Literatur an die Hand geben soll. „Wenn jemand einen Herzensfreund hat, dem er alles anvertrauet, und viele andere, die er schätzet und liebet, und dann in eine Gesellschaft kommt, wo er diese geschätzten und geliebten Personen alle antrifft, nur seinen Herzensfreund nicht: so ist ihm immer, als wenn ihm das Beste, das Liebste mangelte. Gerade so ists mir, wenn ich ein Andachtbuch in die Hand nehme, und den Herrn, den Bruder, den Freund, Jesum Christum nicht überall finde.“ 28 26 Eine hilfreiche, da eindrucksvolle Liste speziell des aszetischen Schrifttums bietet: Johann Hofmeier, Seelsorge und Seelsorger. Eine Untersuchung zur Pastoraltheologie Johann Michael Sailers, Regensburg, 1967, 90, Anm. 4. 27 Vgl. Bertram Meier, Die Kirche der wahren Christen, Stuttgart [u.a.], 1990. 28 Sailer, Lese- und Betbuch, Vorrede [ungezählt]. Ebenso die folgenden zwei Zitate. <?page no="97"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 87 Gut die Hälfte des elfseitigen Vorworts handelt über die Rechtfertigung dieses Konstruktionsprinzips. In der Figur einer Klimax reiht er neutestamentliche Zitate aneinander, die „wahr und klar“ jeweils von der Einzigkeit Christi sprechen: Paulus und Petrus, die beiden Grundpfeiler der apostolischen Verkündigung werden angeführt. Ihre Aussprüche bilden im Folgenden die Grundpfeiler der beiden Bände. So ist jedem der sieben Teile des ersten Bandes das Wort aus dem ersten Korintherbrief (3,11) vorangestellt: „Einen andern Grundstein, als der schon gelegt ist, kann ein für allemal niemand legen, und dieser Grundstein ist Jesus Christus.“ Und jeder Teil im zweiten Band steht unter dem Motto aus der ersten Rede des Petrus vor dem Synedrium (Apostelgeschichte 4,11-12): „Dieser (Jesus von Nazaret) ist der Stein, den ihr Bauleute verworfen habt, der aber dennoch zum Eckstein geworden ist. Bey dem, und bey keinem andern, ist Heil zu finden; denn es ist kein anderer Name, wie er immer heissen mag, den Menschen gegeben, durch den wir selig werden können.“ Noch näher an den Herrn sollen Zitate der beiden Johannes-Gestalten heranführen. Sailer drückt dies aus, indem er ihre gewöhnliche und darum eingeschliffene Attribuierung übergeht und stattdessen ihr Verhältnis zu Christus in einem Relativsatz ausdrückt. „Den der Herr lieb hatte“ der eine (die Stellen des Apostels sind dem ersten Johannesbrief entnommen), „der Vorbote des Herrn“ der andere (die Aussprüche des Täufers finden sich so nicht im Neuen Testament! ). Beide werden durch diese Bindung an ihn um so gewichtigere Zeugen. Und schließlich kommt der Herr selber „so klar und wahr, wie keiner“ mit Sätzen aus den johanneischen Abschiedsreden zu Wort, gipfelnd in seiner Feststellung „ohne mich könnt ihr nichts tun“. Während sich Sailer daran anschließend in der Ausgabe von 1783 auf die weitere Tradition der katholischen Kirche beruft und, als ein Beispiel für diese, etliche Sentenzen vor allem aus dem siebten und achten Kapitel des zweiten Buches von der Nachfolgung Christi anführt und nebenbei ein Bekenntnis zu dem „doch zu wenig geschätzten Büchlein“ ablegt, ist es auffällig, dass er ab der zweiten Ausgabe diese Passage gestrichen hat. Dies verwundert umso mehr, wenn man sich die bereits erwähnte und im dritten Kapitel noch näher auszuführende Wertschätzung dieser Schrift bewusst macht. Auch musste sich Sailer hier mit dem Ordensvater der Jesuiten, Ignatius von Loyola, verbunden gesehen haben. Hatte dieser doch seine Schüler angeleitet, Gott in allen Dingen zu finden. Sailer zitierte ganz Ähnliches aus der Nachfolgung Christi: „Wenn du Jesum in allen Dingen suchest, so wirst du Jesum überall finden.“ 29 Sachlich scheint es darum eher befremdlich, dass Sailer das Zeugnis des Thomas von Kempen tilgte und ihn in der Folge für nicht mehr wichtig gehalten haben soll. Es sind aber in den Vorreden und in der Wahl der Motti Veränderungen erkennbar, die einen anderen Schluss nahe legen. Kennt nämlich die erste Ausgabe zu Beginn der einzelnen Abschnitte nur die stete Wiederholung der erwähnten 29 Vgl. SW, Suppl.-Bd., 101 (Buch II., 7, Nr. 3). <?page no="98"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 88 Paulus- und Petruszitate, so ist schon ab der zweiten Auflage des Jahres 1785 davon nichts mehr übriggeblieben. An ihre Stelle treten Zitate, die weniger Christus als das Zentrum des Betens in Erinnerung rufen als vielmehr solche, die auf den entsprechenden Abschnitt einstimmen. Zum Beispiel das nunmehr dem ganzen ersten Teil des Gebetbuchs vorangestellte Motto „Der Mund ist nur Dolmetsch des betenden Herzens“ 30 . Die dem Sonntag gewidmete Abteilung wird gemäß Mt. 22,21 und Jak. 1,27 eingeleitet mit „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! (Jesus Christus)“ und „Die Waisen und Wittwen in ihrer Trübsal besuchen, und sich unbefleckt von dieser Welt bewahren, das ist reiner und unbefleckter Gottesdienst bei Gott und dem Vater. (Jakobus)“ 31 . Die Festtage im Herrenjahr tragen überhaupt kein Motto, während es bei der Verehrung der Heiligen besonders nötig erscheint, das rechte Ziel der Verehrung in Erinnerung zu rufen, das aber gerade nicht Jesus Christus allein ist, sondern: „Gott ist Alles in Allem: Ihm sey Anbetung! Amen“ 32 . „Nicht wer sagt, Herr! Herr! sondern, wer den Willen des himmlischen Vaters thut, der wird in das himmlische Reich eingehen. [Matthäusevangelium 7,21] So spricht der Herr dieses Reiches“ 33 - mit diesen Worten ist der Teil der „Besonderen Andachtsübungen“ der verschiedenen Stände und Gruppen überschrieben. Und das Motto der Psalmen- und Liedersammlung lautet „Lasset das Wort Christi reichlich unter euch wohnen; lehret und ermahnet euch selbst in aller Weisheit mit Psalmen, Lobgesängen, und geistlichen Liedern, und singet Gott mit Danksagung in euren Herzen.“ 34 [Kolosserbrief 3,16]. Hatte Sailer auch damit die grundsätzliche Entscheidung, Jesus Christus zum Zentrum seines Gebetbuchs zu machen, revidiert? Gewiss nicht. Inhaltlich hat sich in seinem großen Gebetbuch bis 1831 wenig geändert und schließlich blieb dieses Zentrum auch in seinem weiteren theologischen Wirken von fundamentaler Bedeutung. Hingegen scheint er sehr bald verstanden zu haben, dass der permanente und jeweils nur mittelbar auf die gemeinte Situation beziehbare Hinweis auf Jesus Christus zu einer Versteifung führen musste, der den Geist des Gebetes genau an der Stelle ermüdete, wo er ihn beleben wollte. Ja, vielmehr arbeitete er in der Folge daran, den Ort der Begegnung mit Christus, das eigene Herz, stärker in das Blickfeld des Beters zu rücken. 1783 folgte den langen Einlassungen darüber, dass von Christus nie genug zu reden sei, noch ein kurzer Abschnitt, der den unvermittelten Versuch unternahm, daraus die Liebe zu Gott, dem Vater, abzuleiten. Offensichtlich unzufrieden damit, ließ er diesen Abschnitt in der zweiten Auflage weg, um erst 1789 die sich aus der Beziehung zu Jesus Christus ergebende Gotteskindschaft neu zu fassen: 30 SW, 23, 2. Bei der mir vorliegenden Ausgabe der 2. Auflage - ein Exemplar aus der Diözesanbibliothek Regensburg - ist dieses Motto allerdings handschriftlich auf die Rückseite der Hauptitelseite geschrieben. Zweifelsfrei steht es der dritten Auflage von 1789 als Motto voran. 31 Ebd., 144. 32 SW, 24, 138. 33 SW, 25, 2. 34 Ebd., 134. <?page no="99"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 89 „Wenn ich aber gerne von Jesu Christo rede, so müsset ihr ja nicht glauben, es sey die Hauptsache schon gethan, wenn ihr nur das Wort, Jesus Christus, oft leset oder aussprechet. Das wäre ein grober Irrthum. Wer Jesum Christum recht kennet, der thut den Willen seines Vaters, und eine andere Erkenntniß Christi möchte ich, um alle Güter in der Welt, nicht empfehlen.“ 35 Die Weglassung der Zitate aus der Nachfolgung Christi deuten also nicht auf eine Relativierung der Bedeutung Jesu Christi als Inhalt des Betens hin. Aber er eliminierte, was die Klimax der Zitate sachlich eigentlich ohnehin nicht erlaubt hätte. Denn wie sollte, was im Wort Jesu gipfelte durch das lange Zitat eines nichtbiblischen Autors noch gesteigert werden? Damit war der Endpunkt der Entwicklung freilich lange nicht erreicht. Ein halbes Jahr vor seinem Tode setzte Sailer, obwohl er mit der Überarbeitung noch nicht fertig war, in der begründeten Sorge, diese nicht mehr vollenden zu können, eine Vorrede für die Neuausgabe des Gebetbuchs auf, deren testamentarisch klingender Ton unverkennbar herauszuhören ist: „Im Laufe von achtundvierzig Jahren, die von der ersten Ausgabe dieses Werkes bis zur gegenwärtigen verflossen sind, haben viele Anschauungen das Gemüth des Verfassers besucht, und viele dasselbe wieder verlassen. Die Eine große Anschauung aber von den ewigen Angelegenheiten unsers Geschlechtes ist nicht nur geblieben; sie hat auch an Klarheit und Lebendigkeit, an Innigkeit und Ausbreitung gewonnen.“ 36 Und während man in der ersten Ausgabe die Einfachheit des auf Jesus Christus konzentrierten Blicks bewundern konnte, staunt man jetzt über die Weite jener „großen Anschauung“, die Sailer mit den Jahren gewonnen hatte: „Gott ist; Ein Gott ist; Der Eine Gott ist die Liebe; Die Liebe ist ewig; Die ewige Liebe - Gott, ist uns in Christus erschienen, anschaubar, erkennbar, genießbar geworden: Sein heiliger Geist, in Seiner Kirche waltend, reiniget, erhellet, stärket, erhöhet das Innerste des Menschen zum ewigen Leben.“ Wiewohl das Bekenntnis zu Jesus Christus in der sehr bewusst gesetzten Struktur des Satzes immer noch den Mittelpunkt bildet, ist es nun um vieles reicher und abgerundeter geworden: Die Einzigkeit Gottes führt zum Glaubensmittelpunkt hin, und dieser gibt den Geist seiner Kirche zum Heil aller in der kommenden Welt. Um sich auf jene Welt hin auszurichten, bedarf sie des Gebetes, das allein sie stärken kann, um der „Unwissenheit, Irrthum, Sünde, Tod und Hölle“ des Diesseits widerstehen zu können, was Sailer mit der „beharrenden Einigung mit Christus“ gleichsetzt: dem „Geistes- und Herzensgebet“ 37 . 35 Sailer, Lese- und Gebetbuch, 1789, Bd. 1, Vorrede [ungezählt] = SW, 23, XVIII. 36 SW, 23, X. 37 Vgl. ebd., XI. <?page no="100"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 90 3. Der Aufbau des Gebetbuchs. Kommentar zu den einzelnen Abschnitten In der Erstausgabe unterscheidet Sailer dreizehn Teile. Wenn er auch später diese Aufspaltung verändert und hie und da die Anordnung der einzelnen Elemente umgestellt hat, so haben sich doch die Inhalte im Lauf der Jahre nur wenig verändert. Die Vorstellung des Aufbaus der Ausgabe von 1783 kann darum anstelle aller hier angeführt werden 38 . Der Anführung der einzelnen Abschnitte folgt jeweils ein Kommentar. Erster Theil. Erster Abschnitt, enthält das Allgemeine, das Wichtigste, aus dem der Saft in alle Gebete und Betrachtungen abgeleitet wird (3-206) 3940 I. Unterricht vom Gebet 39 II. Glaube III. Hoffnung IV. Liebe V. Gute Meynung 40 VI. Anbetung VII. Demuth VIII. Das Gebet des Herrn IX. Christliche Psalmen X. Das apostolische Glaubensbekenntniß XI. Über Leben, Tod, Hölle. In seinen 1785 eigens publizierten Zusätzen findet sich eine an das Ende dieses Abschnitts einzuordnende „Bitte an den christlichen Leser“. So bekräftigt er den nachdrücklich formulierten Titel des Abschnitts: „Die vorausgeschickten Betrachtungen und Gebete enthalten den Geist des Christenthums, und sind gleichsam die Vorrathskammern, aus denen alle nachkommenden Gebete und Andachtsübungen Geist und Leben herholen.“ 41 Und in seiner Gebetbuch-Anzeige heißt es: „Die erste Rubrik enthält das Allgemeinchristliche, das Wesentlichkatholische, also das Erste, woraus Saft und Kraft sich auf das Kommende verbreitet. Alles, was die christliche Gemüthsverfassung, christliche Gesinnungen des Beters befestiget, ordnet, vervollkommnet, gehöret in diese Klasse.“ 42 38 Bezeichnung und Orthographie folgen Sailer, Lese- und Betbuch. Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Erstreckung des jeweiligen Abschnitts. 39 Wegen der ausführlichen Besprechung des Unterrichts in Kapitel 1 und 3 unterbleibt hier ein nochmaliges Referat. 40 S. dazu unten S. 119. 41 Sailer, Zusätze 91. 42 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 51. <?page no="101"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 91 An dem Ideal, ein „Handbuch der Volksdogmatik und Volksmoral“ zu verfassen, hält Sailer also fest. Es scheint ihm für seine Zeitgenossen nötiger denn je zu sein 43 . Doch reflektiert und begründet er die im Gebet zu verehrenden Wahrheiten, versucht sie gewinnend neu zu sagen und hebt sich so von den Vorgängern ab. Während viele vorher das Augenmerk darauf richteten, das katholische Volk zu sammeln und nach innen hin zu stärken, prägt er von Anfang an seinem Gebetbuch einen sich nach außen hin öffnenden Charakter auf. So gesehen hatte Nicolai mit seiner, freilich böswilligen, Unterstellung der Proselytenmacherei richtig erkannt, dass es sich nicht nur an die innerlich gefestigten und entschiedenen Katholiken wandte. Die Überschriften lassen zunächst an Katechesen denken, so wie sie seit Canisius allenthalben üblich wurden. Und tatsächlich: es handelt sich um Katechesen - allerdings um solche im Sailerschen Sinne. Denn wo Canisius in Frage-Antwort-Schemata und Merksätzen zu komprimieren sucht, überträgt Sailer seine bereits zu dieser Zeit erfolgreichen Erfahrungen mit dem Predigtamt auf das geschriebene Wort, indem er den Regeln der Rhetorik gemäß zwar immer wieder auf die Katechismusfragen zurückgreift (z.B. wenn er einen Abschnitt einleitet). Doch vor allem versucht er bildhaft und durch ausgedehnte Reden zu überzeugen und „Gebetlust“ zu wecken, indem er, neben anderen, vor allem zwei „Einkleidungsarten“ entsprechen möchte: „a) Der zutrauliche Unterredungston mit Gott, der gewöhnliche und vertraute Kinderton. […] Wie das Kind mit dem Vater, so unterhält sich der Beter mit Gott. b) Der ernsthafte Betrachtungs- und Selbstprüfungston. Ohne Aufblick zu Gott und Hineinblick in sein Innerstes ist das Gebet ein Beingerippe ohne Geist“ 44 . Wie im ersten Kapitel im Rahmen der Analyse des Unterrichts vom Gebet zu sehen war, erhielten diese bereits die Einfärbung des neuen empfindsamen Stils. Und dementsprechend überwiegen die Momente des „Movere“ und „Delectare“ gegenüber dem „Docere“, wenn dieses auch keineswegs getilgt wird. Es ist aufschlussreich, Muratoris Die wahre Andacht des Christen auch hier wieder zum Vergleich heranzuziehen 45 . Schon dieses rückt nämlich die theologischen Tugenden von dem zu seiner Zeit bereits überkommenen Zusammenhang mit der Beichte und der Kommunion weg an die vorderste Stelle der geistlichen Übungen und begründet deren Zusammenhang mit „den guten Werken, als worinnen die erste und vornähmste Eigenschaft der Andacht besteht“ ausführlich: „Verhalten wir uns aber nicht also [sc. dass wir uns diese Tugenden in unserem Alltag stets vor Augen stellen], so müssen wir bekennen, daß diese himmlischen Tugenden in uns eingeschlafen, krank oder gar todt sind, und wenn wir nicht bedacht sind, sie von Zeit zu Zeit in uns zu erwecken, und aufzufrischen; so werden wir nie GOtt unsrem 43 Vgl. ebd. „Wahrlich, ein vielbedeutender Zweck! Handbuch der Volksdogmatik und Volksmoral soll ein in seiner Art vollkommenes Betbuch seyn - soll seyn! Und was ist das Beste aus den Betbüchern? “. 44 Ebd., 54f. 45 S. o. S. 71. <?page no="102"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 92 Herrn in Heiligkeit und Gerechtigkeit recht dienen, sondern in Gefahr gerathen, dasjenige auf ewig zu verliehren, was wir unsrer Aussage nach glauben, und von ihm in jener Welt hoffen. Wir müssen also dieses wohl behalten, daß die Übung des Glaubens der Hofnung, und der Liebe gegen GOtt uns so wohl höchst nützlich als nothwendig sey, das Leben des Geistes zu ernähren und zu stärken; auch daß wir täglich oder wenigstens öfters, und besonders zur Zeit der Anfechtungen, wie auch, wenn wir die heiligen Sacramente empfangen, dergleichen Übungen machen, und GOtt bitten sollen, daß er uns diese Tugenden, als Quelle aller andern gnädigst mittheilen, oder in uns vermehren wolle.“ 46 Natürlich ist Muratori nicht der erste, der der Tugenderweckung einen wichtigen Platz im geistlichen Leben einräumt. Ihr kommt eine große Tradition in der Geschichte der Frömmigkeit zu, und auch in den unmittelbar vorausliegenden Gebetbüchern findet sie sich. So führt der Jesuit Tobias Lohner hundert Jahre vor Sailer ein Gebet „Für einen glückseligen Anfang der Woche“ an, das Papst Alexander VII. gebetet haben soll und welches aus folgenden Anrufungen besteht: „1. Anbettung. 2. Demuth. 3. Glaub. 4. Hoffnung. 5. Verläugnung seiner selbst. 6. Kindliche Forcht Gottes. 7. Dienstwilligkeit gegen Gott. 8. Gleichförmigkeit mit dem Göttlichen Willen. 9. Eyffer grösserer Ehre Gottes. 10. Freud im Herrn. 11. Dancksagung. 12. Liebe Gottes. 13. Liebe deß Nächsten. 14. Auffopferung. 15. Rew und Leyd. 16. Buß. 17. Barmherzigkeit gegen den Seelen im Fegfewer. 18. Befehlung zu Christo dem Gecreuzigten.“ 47 Die drei göttlichen Tugenden stehen hier gleichgeordnet neben vielen anderen. Muratori indessen streicht deren Vorrang heraus und liefert auch die zeitgemäße Deutung ihrer Notwendigkeit mit: „Die Übung dieser Tugenden ist von GOtt uns theils anbefohlen, theils angerathen worden, und die Vollziehung der ersteren sowohl als der anderen läßt sich derjenige Christ angelegen seyn, der sich stäts erinnert, daß er auf diese Welt gesetzt worden, nicht allda zu verbleiben, sondern nur eine kurze Zeit sich aufzuhalten, in beständiger Wanderschaft nach jenem Lande, wo unser ewiges Verbleiben seyn wird. Selig und vernünftig, wer so viel thut, als er kann, um sich verdienstlich zu machen, daß es ihm alldorten wohl gehe.“ 48 Die geistliche Übung entsprach damit exakt dem theologischen Konzept des Eudämonismus und diese rückte nunmehr etliche, sich zeitgemäß gebende Gebetbücher ins Zentrum der Andacht. Weniger als vordem ist sie Folgeerscheinung des Sakramentes der Buße und der Kommunion, sondern selbst Mittel zur Besserung. Wegen seiner knapp gehaltenen Anlage sticht dies bei dem nur acht Jahre nach der deutschen Erstausgabe von Der wahren Andacht des Christen erschienenen Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein des Eusebius Amort besonders ins Auge. Neben dem vollständig übersetzten Ordo der Messe vom Dreifaltigkeitssonntag einschließlich des Kanons - es war im ersten Kapitel bereits die Rede davon - ent- 46 Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 47. 47 Vgl. Tobias Lohner, Trostreiches und anmutiges Bett- und Zusprech-Büchlein, München, 1684, 71-76. 48 Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 44. <?page no="103"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 93 hält es in ganz knapper Form die wesentlichsten Gebetsübungen des katholischen Christen und bietet deshalb, ganz der Forderung Muratoris entsprechend eine kürzeres „Glaub, Hoffnung, und Lieb etc.“ 49 überschriebenes Morgengebet. Und nochmals schließt sich dem Empfang der Kommunion eine solche Gebetfolge an. Lohner, Nakatenus oder Martin von Cochem brachten an diesen Stellen den Gedanken, wenn überhaupt, eingebettet neben mehreren anderen. Von nun an trifft man diese Übungen auch in traditionell gebundenen Gebetbüchern wie den oben aufgeführten Kern aller Gebett 50 des Johann Christian Elias oder der Königlichen Halszierde einer GOtt liebenden Seele (welch letzteres Sailer aufgrund des Erscheinungsortes nicht unbekannt gewesen sein könnte). Dort finden sich gleichsam als Abschluss der Verehrung des dreieinigen Gottes unter der Überschrift „Haupttugenden“ Gebete in dieser Reihenfolge: Anbetung, Glaube, Hoffnung, Liebe, Reue und Leid, Gute Meinung 51 . Erkennen wir bei Sailer also einerseits durchaus eine gewisse Konformität mit dem Hergebrachten und in der Anlage seines eigenen Versuchs den (wegen der Bekanntheit des Werkes beinahe zu unterstellenden bewussten, mindestens aber indirekten) Bezug zu Muratori, setzt er andererseits in Stil und Argument doch wesentlich eigene Akzente. So war für Muratori etwa der Glaubensakt vor allem die Annahme des durch die Propheten vorausgesagten und durch Jesus Christus verkündigten und damit der (selbstredend katholischen) Kirche geoffenbarten Depositum fidei. Die Abwehr der Häresie und der Ketzerei bildete somit einen mehr oder weniger wichtigen, in jedem Fall aber anwesenden Bestandteil der Betrachtung und des Gebetes. Sailer hingegen baut allein auf den Selbsterweis Gottes durch seine Wunder, deren Urkunde die Heilige Schrift ist. Weniger hat er dabei die Spaltung der Christenheit vor Augen als vielmehr den Unglauben seiner Zeit, dem er nicht alleine mit seiner Zurückweisung begegnet, sondern dessen Heilung er im Sinn hat: Der des Arztes bedürftige Kranke ist sein bestimmendes Bild. Indem damit allerdings die Tugend wie eine Arznei, d.h. wie ein Hilfsmittel zur Erlangung des Heils angesehen wird, zeigt sich wiederum, dass Sailers Horizont zu dieser Zeit noch durch und durch dem Eudämonismus verhaftet ist. Wenn Sailer pointiert nicht nur die Seligkeit im Jenseits ins Blickfeld rückt, sondern auch den Glauben als das „Glück auf Erden“ beschreibt, ändert das doch nichts an der grundsätzlichen Perspektive: Glaube, Hoffnung und Liebe sind allein Mittel zur Vollkommenheit, nicht schon der Wandel in der Vollkommenheit selbst. Hervorzuheben ist noch, dass er das Heilmittel der Tugend kaum mehr im sakramentalen Zusammenhang sieht. War ehedem in der Andachtsliteratur bisweilen der einzige Ort der Einübung der Tugenden der Kommunionempfang, so entspricht nunmehr die Tugendübung selbst der Grundlegung des Betens 52 . 49 Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, Augsburg, 1759, 1. Es wird sich unten S. 100f. noch zeigen, dass Amort in direkter Abhängigkeit zu Muratori steht. 50 Darin werden die drei göttlichen Tugenden sowohl in der „täglichen Andacht“ als auch vor der Kommunion erweckt. 51 Vgl. Königliche Halszierde einer Gott liebenden Seele, Augsburg, 1781, 207-210. 52 Vgl. dazu auch Aloys Schrott, Die Reform des Trienter Konzils im Spiegel der nachfolgenden Andachtsliteratur. In: Das Weltkonzil von Trient, Freiburg u.a., 1951, 355, der dort bedauernd <?page no="104"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 94 Der katechetischen Tradition der Gebetbücher entsprechend folgen an dieser anfänglichen Stelle Auslegungen zum Vaterunser und des Glaubensbekenntnisses. Den Beter muten sie wie eine Durchführung dessen, was in den vorhergehenden Betrachtungen an Einsicht gewonnen wurde, an. Der Teil über die letzten Dinge scheint sich dagegen nicht recht einzufügen. Doch ist das Gegenteil der Fall: Betonten nämlich die Betrachtungen und Gebete zu den göttlichen Tugenden vorrangig das irdische Glück, wird es nun nötig, das letzte Ziel deutlicher ins Licht zu rücken. Muratoris „verdienstlich machen“ für das Jenseits hat darum in diesem Teil seine Entsprechung. Indessen mag man es als allmähliches Abrücken vom Eudämonismus betrachten, dass sich Sailer ab der dritten Auflage von 1789 zu einer weitgehenden Tilgung des Teils entschloss: Von Über Leben, Tod, Hölle blieb nur das Stück über die Hölle stehen, das jetzt in Etwas für Sünder, die tollkühn Sünden auf Sünden häufen umbenannt wurde, sich also nur mehr an eine bestimmte Gruppe, nicht mehr aber an alle Christen wenden sollte. Die „Christlichen Psalmen“ rückten in der zweiten Auflage zur allgemeinen Liedersammlung hin. Ab der dritten Auflage scheute sich Sailer nicht, diese mit Ausnahme des um 92 Verse „christlich verlängerten“ Psalm 136 (man beachte die sich nach dem masoretischen Text richtende Zählung! ) sowie ein in Versform gebrachtes Vaterunser ganz zu streichen - wohl wegen der geringen literarischen Qualität. Zweyter Abschnitt, enthält das Tägliche (209-232) I. Morgenandacht II. Abendandacht III. Die einzige wahre Weise, der heiligen Messe nützlich beyzuwohnen IV. Zur Tischzeit V. Tägliches Gebet unter der Arbeit Dieser Abschnitt entspricht dem Aufbau der allermeisten Gebetbücher, wovon wir uns im ersten Kapitel dieser Arbeit überzeugen konnten. Nicht durchgängig werden lediglich Tischgebete oder Gebete während der Arbeit angeboten. Auch die Verbindung der Heiligen Messe mit den täglichen Übungen gehört in den Aufbau beinahe aller Laiengebetbücher. Wenn deshalb der tägliche Besuch der Heiligen Messe sehr vieler Laien nicht zwingend abzuleiten ist, so ist doch seine dringende Empfehlung ganz allgemein üblich 53 . feststellt, dass die Andachtsbeichte und der häufige Empfang der Kommunion „nicht so sehr als Weg und Mittel zur Vereinigung mit Christus, sondern als Heilmittel gegen die Sünde betrachtet“ werden. Dies muss wohl als der Schlüssel zum Verständnis der Tugendübung während der Kommunion betrachtet werden. Indessen wurde für Sailer später das Gebet an sich „Weg und Mittel zur Vereinigung“ mit Gott. S. dazu unten S. 215. 53 Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 127: „Sehr viele haben die Gewohnheit, aus Trieb ihrer Andacht täglich daselbst sich einzufinden“ und Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 224: „[…] da sehr viele Christen täglich der heiligen Messe beywohnen […]“. <?page no="105"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 95 Unter der „einzigen wahren Weise, der heiligen Messe nützlich beyzuwohnen“ versteht Sailer, so wie wir es schon in den meisten andern Entwürfen sahen, zweierlei: Zum einen die Vergegenwärtigung des Kreuzesopfer Jesu Christi, zum anderen die Selbstaufopferung des Gläubigen im Messopfer. Wir sahen, dass auch dies vielen traditionellen Gebetbüchern entspricht. Manfred Probst hat diesen „einzigen“ Zugang als „erlebnistheologische Sicht“ bezeichnet und kritisiert, dass so der „Gemeinschaftscharakter der Messe“ nicht zum Ausdruck käme: „Das Individuum steht isoliert wie eine Leibniz’sche Monade allein vor seinem Gott“ 54 . Ein anderes Bild erhält, wer wiederum Muratoris Ausführungen zur Heiligen Messe studiert. Dieses Werk ist ja wegen der Autorität des Verfassers und der hohen Zahl der Auflagen für die Verbreitung landessprachlicher Übersetzungen der Messe von größter Wichtigkeit. Drei Kapitel führen dort zu seiner eigenen Übersetzung und Erklärung hin. 55 Das erste handelt von der Vergegenwärtigung des Abendmahls und des Kreuzesopfers. Das zweite spricht von dem Wert, den die Messe für das Seelenheil für die Lebenden und die Verstorbenen hat. Das dritte Kapitel schließlich ist überschrieben mit „Was für einen Theil das Volk, welches der heiligen Messe beywohnet, an derselben habe? “ 56 . Hier hebt Muratori hervor, „daß obschon der Priester allein auf gewisse Weise, im Namen Christi, der Kirche, und des Volks, das Opfer verrichtet, das beywohnende Volk jedoch an dem nämlichen Opfer Theil habe, und mit dem Priester opfere.“ 57 Diese durch etliche Zitate kirchlicher Autoritäten untermauerte These gilt es im Blick zu haben, wenn man die von Sailer empfohlene und von seinen Vorgängern übernommene Selbstaufopferung recht verstehen will. Gerade sie bildet nämlich die Grundlage dafür, den Sinn der Vorbemerkung zum Hochamt im folgenden Abschnitt zu erfassen. Zu den Morgen- und Abendgebeten, sowie der „Guten Meinung“ und der Gewissenserforschung s.u. den Abschnitt I.1 beim kleinen Gebetbuch. Dritter Abschnitt, enthält das Sonntägliche (235-292) I. Unterricht, wie man den Sonntag heiligen soll II. Morgenandacht III Hochamt IV. Predigt V. Vesperandacht VI. Abendandacht In diesem Abschnitt wird wiederum die Setzung der Prioritäten Sailers deutlich. Einerseits finden sich in seinem Gebetbuch die bis dahin üblichen Tagzeiten nicht mehr. An ihre Stelle ist, in der Konsequenz aus dem oben Gesagten, das tägliche 54 Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg, 1976, 56. 55 Nach Angelus Häußling, Das Missale deutsch, Münster, 1984, Nr. 176 ist die Übersetzung im deutschen Text angelehnt an das gleichfalls oft aufgelegte Catholisch Schlecht vnd Recht, Köln, 1682 des Nicolaus Elffen SJ (Ebd., Nr. 145-158), der den Text von seinem Mitbruder Georg Witweiler übernommen hatte (Ebd., Nr. 140-142). 56 Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 143. 57 Ebd., 144. <?page no="106"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 96 Lesen und Beten getreten. Dieses aber muss notwendig frei sein, sich die passenden Texte selbst zusammenzufinden und darf durch keinen vorgegebenen Plan festgelegt werden. Von den Betrachtungen des eröffnenden Abschnitts hieß es: „Sie […] sind […] nicht etwa nur für Werk- oder für Festtage, nicht etwa bloß zur Kirchenandacht oder zur Hausandacht bestimmt: sie sind für jeden Tag brauchbar, geschickt, den sinkenden Glauben zu jeder Stunde aufzurichten.“ Demgegenüber werden die folgenden Abschnitte abgegrenzt: „Diesen allgemeinen Andachtsübungen, die auf alle Tage passen, folgen nun solche, die an jedem Tage mit Nutzen, und ohne großen Aufwand von Zeit, können vorgenommen werden, weil sie nach den täglichen Veranlassungen zur Andacht, eingerichtet, und zugleich kurz und wenige sind.“ 58 Aufschlussreich ist es, die neun Jahre später von einem Schüler veröffentlichten Gedanken Sailers zu einer Brevierreform mit diesem Umstand zu vergleichen. Führt man sich nämlich die Vorstellungen für ein neu zu konzipierendes Brevier vor Augen, so hätten am Ende die Beter nichts anderes in den Händen gehalten als ein dem Sailerschen Lese- und Gebetbuch vergleichbares. Ein solches sei nämlich so einzurichten, „daß 1mo für jeden Tag des ganzen Jahres etwas Neues zum Lesen, Betrachten, Beten, das man gestern nicht gelesen, betrachtet, gebetet hat, festgestellt werde. 2do. Daß das, was zum Lesen, Betrachten, Beten festgestellt wird, den Raum eines halben Bogen [das entspricht acht Seiten im Oktavformat] nicht überschreite.“ Und der anmerkende Schüler Sailers fordert: „[…] wie denn überhaupt keine bestimmte Ordnung beybehalten werden darf, sondern bald Psalmen und Lesungen, bald Betrachtungen auf Gebete, bald diese auf jene folgen sollten, daß auch in der Aneinanderreihung der Ideen und Affekten die Gesetze der Mannigfaltigkeit getreu zur Vorschrift genommen werden. 59 Sicherlich wird sich mancher wegen solcher Unkenntnis und Radikalität dem Gebet der Tagzeiten gegenüber befremdet zeigen. Doch sei darauf verwiesen, dass es sich bei Sailers Generation und der seiner Schüler keineswegs durchweg sondern nur vereinzelt um radikale reformerische Kräfte handelte. Es spricht aus diesen Zeilen auch viel weniger ein gegen Hergebrachtes revoltierender Geist, wie es nahe liegen mag zu vermuten. Stattdessen entbehrten sie beinahe völlig einer geistlichen Bildung, die über Äußerlichkeiten hinauskam. Und so mussten sie sich den Weg 58 Sailer, Zusätze, 91f. 59 Sailer, Brevier-Abänderung, 49ff. Angelus Häußling macht auf eine Schrift aufmerksam, die vielleicht als Gegenschrift verfasst wurde (m.E. wohl eher nicht), in jedem Fall aber eine Gegenposition vertritt und in ihrer deutschen Fassung zudem in Sailers Heimatdiözese herausgebracht wurde. Sie trägt den Titel Ueber die Verpflichtung des katholischen Klerus zum täglichen Breviergebethe. Uebersetzt aus einem französischen Manuscript, Augsburg, 1814. Am Ende werden noch Bemerkungen des Einsiedler Abtes Conrad Tanner über das Breviergebet wiedergegeben. Vor allem wird die Pflicht des Weltklerus zum Beten des Offiziums betont (worüber die Sailerschen Thesen kaum handeln). Mit dem Rückzug auf eine kanonistische und damit auf eine objektive Position wird das Brevier bewusst der subjektiv geleiteten Frage entzogen, ob es ein passendes Mittel zu Andacht und Erbauung sein könne. Dies aber hatte Sailer erörtert und Änderungen in diesem Sinne vorgeschlagen. <?page no="107"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 97 zum Gebet erst wieder selber bahnen. Nimmt man das Zitat als eine frühe Etappe auf diesem Weg, dessen weiteren Verlauf wir zum Teil in dieser Arbeit beobachten, wird die Einstellung des Sailerkreises leichter nachvollziehbar. Es ist aufschlussreich, was Magnus Jocham mit Blick auf die Allgäuer Erweckungsbewegung, die sich Mitte der 1790er Jahre ausbreitete, hellsichtig schrieb: „Wenn man den Verlauf dieser Anregung an Ort und Stelle zu beobachten Gelegenheit hatte, so kann man nur bedauern, daß dieselbe nicht gleich anfangs in ein streng kirchliches Geleise eingeleitet wurde. Da scheinen denn doch auch die Rectores und Inquisitores im unklaren gewesen zu sein. Man hatte gar keine Erfahrung und Anschauung mehr von einem innern religiösen Leben. Der Exjesuit Feneberg hatte sie nicht […]. Auch der Exjesuit Sailer hatte keinen Schein davon […]. Diese Ignoranz läßt auf einen Mangel an Belehrung über das Geistesleben in den letzten Jahren des bestehenden Jesuitenordens schließen: Denn, ich bitte Sie um Gottes willen, hätten wir bei all der dürftigen Kenntnis des innern Lebens, die wir im Seminar erlangt haben, die ersten Jahre unseres Priesterlebens so ignorant sein können bezüglich innerer Erfahrungen, wie wir’s bei diesen Männern sehen? “ 60 Während also Abwechslung an die Stelle von Gleichförmigkeit tritt, hebt von allen dieser Untersuchung zugrundeliegenden Gebetbücher nur noch das von Heinrich Braun derart entschieden den Sonntag hervor. Allenthalben fügte man sich auch damals noch in die seit dem Mittelalter üblichen Zuordnungen der Wochentage unter bestimmte Merkmale des Heilsgeschehens 61 . Das gab freilich jedem Tag seine eigene Färbung, zu der die Beachtung des jeweiligen Tagesheiligen noch hinzutrat: kaum einem Gebetbuch der damaligen Zeit fehlte es an einem Heiligenkalender. So kann man für die katholische Konfession, für Laien ebenso wie für die Religiosen flächendeckend davon ausgehen, dass jeder Tag des Jahres unter einer bestimmten Zuordnung, sei es eines Heilsgeheimnisses, sei es eines Heiligen, stand. Der Sonntag als Herrentag aber war aus dem Blickfeld gerückt. Man muss es deshalb für wirklich bedeutend einschätzen, wenn Sailer seinen Zeitgenossen wieder „die erste Wohlthat der Schöpfung, und die größte Wohlthat der Erlösung“ in Erinnerung ruft und dabei das Wesentliche auffallend scharf herausstreicht, was wohl Rückschlüsse auf den Zustand in der Praxis erlaubt. „1.) Dem vormittägigen Gottesdienste, dem Hochamt, und zwar so viel es seyn kann, in der Pfarrkirche beyzuwohnen; 2.) der sonntäglichen Predigt mit ruhiger Aufmerksamkeit und unpartheyischer Anwendung auf sich selbst zuhören (auch wieder in der Pfarrkirche, wenns seyn kann); 60 Schiel, Bd. 1, 276. Diese Beobachtung ist freilich nicht zu generalisieren: In unmittelbarerer, geographischer Nähe zu Sailer erschien z.B. Anton Sebastian Ruf, Der Psalter als ein Les-, Lehr- und Betbuch. Einzeln oder Gemeindeweise auf Brevierart gutkatholisch und nützlich zu gebrauchen. Augsburg, Freyburg, Kaufbeuren, 1779, welches eine Übersetzung des lateinischen Breviers darstellt - ob zur Hebung des Niveaus der Frömmigkeit gebildeter Laien oder zur Unterstützung des Klerus wäre noch genau zu untersuchen. Aus der Einleitung ist das nicht eindeutig zu erschließen. Dass Sailer dieses Buch entweder unbekannt geblieben ist oder er es gar ignoriert hat, erscheint sehr bemerkenswert. Vgl. auch seine allgemeine Reserviertheit der Vulgataübersetzung der Psalmen gegenüber (S. 83, Anm. 16). 61 S. dazu unten S. 109. <?page no="108"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 98 3.) von dem nachmittägigen Gottesdienste, das heißt, von der sogenannten Vesperandacht niemals wegbleiben 62 ; 4.) und der Hausandacht an Sonntagen mit Erbauung zur bestimmten Stunde abwarten. Unter der Hausandacht versteh ich erstens gemeinschaftliches Beten christlicher Familien; zweytens deutliches und nachdruckvolles Vorlesen aus einem Erbauungsbuche, und aufmerksames Zuhören; drittens erbauende Gespräche über Gott, Jesus Christus, Tugend, Pflicht, Auferstehung, Seligkeit; viertens geistliche Lieder mit warmen Herzen gesungen.“ 63 Beeinflusst von Sailers Beispiel dürfte übrigens z.B. das zehn Jahre später erschienene Jaissche Gebetbuch den Sonntag neu in Erinnerung gerufen haben. Die wesentlichen Pflichten lesen wir - bis auf die nachmittägliche Vesper (gab es sie auf dem Lande nicht? ) - in derselben Reihenfolge auch bei ihm 64 . Die Vesperandacht enthielt nur neuverfasste sogenannte christliche Psalmen. Mit der Kritik am Brevier eng verknüpft stand damals der Psalter als Gebetbuch der Christenheit sehr in Frage 65 . Seine Sprache erschien, desto mehr sich Übersetzertätigkeit zu regen begann, nicht unmittelbar eingängig, manche Bilder unverständlich, durch das Neue Testament überholt und bisweilen sogar abstoßend. So ist es nicht verwunderlich, dass sowohl in der Ankündigungsschrift für das Gebetbuch als auch in der Schrift über die erwünschte Brevierreform der Vorschlag gemacht wird, es möchten neue Psalmen verfasst werden, wobei in letzterer auf eine Vorarbeit von Sailers Lehrer Benedikt Stattler hingewiesen wird 66 . Ob Sailer mit der Zeit den eigenen Versuchen oder der Sache generell kritischer gegenüberstand ist hier nicht zu entscheiden. Jedenfalls wurde die „Vesperandacht“ in der zweiten Auflage beim Teil der Liedersammlung eingeordnet und ab der dritten Auflage ganz aufgegeben. Indessen stehen ab 1793 in den Ausgaben des kleinen Gebetbuchs wiederum neuverfasste Texte. Seinen Blick für das Wesentliche beweist er auch dadurch, dass er den gesamten Messordo des Dreifaltigkeitssonntag einschließlich des römischen Kanons ins 62 Hier notiert Sailer die Anmerkung: „Man sollte glauben, die Vesper in den Städten werde nur für die Wände, Stühle und ein paar alte Weiber gehalten - denn wer ist doch sonst dabey? “ Ging ihm also ein tieferes Verständnis für das Tagzeitengebet ab, so war es ihm doch andererseits als eigentliches Gemeinschaftsgebet bewusst. Ab der zweiten Auflage des großen Gebetbuchs fehlt diese Anmerkung allerdings. S. dazu den folgenden Abschnitt. 63 Sailer, Lese- und Betbuch, 235f. 64 Vgl. Ägidius Jais, Guter Samen für ein gutes Erdreich, Bayerdießen und Salzburg, 1791, 230ff. 65 S. dazu: Liobgid Koch, Ein deutsches Brevier der Aufklärungszeit. Thaddäus Anton Dereser und sein Deutsches Brevier für Stiftsdamen, Klosterfrauen und jeden guten Christen. In: Archiv für Liturgiewissenschaft 17/ 18 (1975/ 76), 80-144, sowie Philipp Gahn, Joseph Thomas von Haiden und das Reformbrevier von St. Stephan zu Augsburg. Einige Anmerkungen zum Aufsatz von Liobgid Koch, Ein deutsches Brevier der Aufklärungszeit. In: Archiv für Liturgiewissenschaft, 42 (2000), S. 84-96. 66 Vgl. Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 55 und Ders., Brevier-Abänderung, 57f. Das Werk Stattlers wird inhaltlich gelobt; im Ausdruck und in Bezug auf die Singbarkeit der Verse allerdings als verbesserungsbedürftig kritisiert. Es handelt sich dabei um den Liber Psalmorum christianus, Augsburg 1789 der unter dem Titel Neues christliches Psalmenbuch, Augsburg, 1791 deutsch erschien. <?page no="109"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 99 Deutsche übersetzte. Wiewohl er damit nicht der Erste war, so bedurfte es dafür dennoch Mut. Durch das Sailersche Gebetbuch hat die deutsche Übersetzung der Messe sehr weite Verbreitung gefunden. Umso mehr verwundert es, dass wir bei der Kenntnis über viele andere Konflikte, in welche er geriet, über diesbezügliche Schwierigkeiten nichts wissen. Über sein Motiv gibt uns Sailer in einer Vorbemerkung Auskunft: „Ich glaube, der redliche Christ werde ein großes Vergnügen daran finden, wenn er bey dem Hochamte so zugegen seyn kann, daß er auch wisse, was der Priester am Altar liest, singt und betet. Ich glaube, er werde mit neuer Andacht dem Hochamte beywohnen, wenn er seine Gesinnungen mit den Gesinnungen des Priesters vereinigen kann. Deswegen habe ich die ganze Messe, nur die Stillmesse ausgenommen, ins Deutsche übersetzet. Welch ein herrliches Schauspiel wird das für den Himmel seyn, wenn das Volk, und der Priester im Namen des Volkes, mit Einem Herzen den unsichtbaren Vater anbeten, und mit Einem Herzen sich an Tod und Leben des großen Opferers, unsers Herrn Jesu Christi, erfreuen! “ 67 Der Zusatz „nur die Stillmesse ausgenommen“ konnte ab der zweiten Auflage fallen gelassen werden, da Sailer ja von da ab den Messordo vollständig brachte (die vermutlichen Gründe dafür wurden in der Einleitung dargelegt). Den Benutzern der ersten Auflage wurde die „Stillmesse“ zusammen mit weiteren Zusätzen nachgereicht. Probst sah in dieser Vorbemerkung einen Gegensatz zu der im vorangehenden Abschnitt besprochenen „individualistischen Betrachtungsweise“ 68 , in welcher Sailer den Gläubigen bei der Messe die Selbstaufopferung empfahl, weil nun der Gemeinschaftsgedanke, „wenn auch nur zaghaft“, mit ins Spiel käme 69 . Aus dem vorangehenden Vergleich mit Muratoris Programmschrift geht indessen hervor, dass Sailer keineswegs zuerst an die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander denkt. Tatsächlich geht es um nichts anderes, als die Gesinnungen der Gläubigen „mit den Gesinnungen des Priesters“ zu vereinigen, d.h. der Intention des Priesters im eigenen Herzen zu entsprechen und so in der gewonnen Einheit eines Sinnes zu werden. Es wäre ein Missverständnis, meinte man, Sailer hätte eine Glaubensgemeinschaft im Blick gehabt, die eine neue Sichtweise repräsentiert, so als ob dieser Gedanke in einer gewissen Konkurrenz zu einer veralteten Sicht auf das Messopfer stünde. Dagegen muss man feststellen: Sailer kennt nur die durch das Messopfer geeinte Glaubensgemeinschaft, die entsteht, wenn sich die Gläubigen in die eine mögliche Intention mitvereinigen. Diese aufzubauen, soll seine Messübersetzung helfen. Und auch Muratori wirkte in keinem andern Sinn 70 . (Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt.) Angelus Häußling warf in einer Rezension zu der Arbeit Manfred Probsts die Frage nach der Abhängigkeit der Sailerübersetzung von derjenigen des Eusebius 67 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 242. 68 Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg, 1976, 58. 69 Vgl. ebd., 56. 70 Übrigens wirft es wiederum ein bezeichnendes Licht auf die damalige Wahrnehmung der Liturgie, wenn Sailer sie als ein „Schauspiel für den Himmel“ bezeichnet. Vgl. o. S. 65f. <?page no="110"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 100 Amort und dem Einfluss Muratoris auf 71 . Die schon vorher naheliegende Vermutung, dass Amort Kenntnis von der Schrift Muratoris hatte, bestätigt sich bei einem Vergleich der jeweiligen Einleitungen zum Messordo. Dabei erweist es sich, dass Amort ohne Abweichung (nicht aber wörtlich) der Argumentation Muratoris folgt und dort, wo der Italiener als autorisierende Zitate das Orate fratres der Messe, eine Stelle des Petrus Damiani, sowie von Papst Innozenz III. und dem Abt Quericus anführt, der Pollinger Mönch lediglich darüber hinaus noch eine Aussage von Augustinus hinzufügt 72 . Die direkte Abhängigkeit Der wahren Andacht des Christen steht also für das Kurtz und gut Catholische Meßbüchlein außer Zweifel. Bereits beim ersten Abschnitt schien im Zusammenhang mit der Übung der göttlichen Tugenden eine Kenntnis des Muratoritextes seitens Sailers ebenfalls wahrscheinlich. Diese erhärtet sich hier nochmals, wie wohl sie nicht wie bei dem Amort-Büchlein nachzuweisen ist. Aber die von Sailer empfohlene Betrachtungsweise der Messe könnte doch in Muratoris Gedanken ihren Nährboden gefunden haben. Zudem dürfte Sailer das gut dreißig Jahre ältere und weitverbreitete Beispiel ermuntert haben, selbst den Messordo zu übersetzen. Für die Bekanntschaft Sailers mit dem Kurtz und gut Catholische Meßbüchlein spricht, wie schon Häußling bemerkte, dass beide den Messordo des Dreifaltigkeitssonntags wählten, während sich die deutsche Übersetzung des Werks von Muratori offenbar an die Vorarbeit von Witweiler hielt. Sprachlich gibt es allerdings zwischen beiden keinen Zusammenhang, was aber nicht verwundert. Die beiden Theologen dürften sich eine Ehre daraus gemacht haben, den Text selbst zu übersetzen. Außerdem wirkte in den 1780er Jahren das Deutsch Amorts bereits recht antiquiert. Vierter Abschnitt, enthält das Monatliche (295-380) I. Monatliche Gewissensrechenschaft II. Morgengebet am Beicht- und Kommuniontage III. Beicht und Kommunion IV. Ein Gebet um Liebe an die Liebe Ab der zweiten Auflage rückte die Gewissenserforschung zur sonntäglichen Abendbetrachtung vor und ersetzte damit die dort gegebene Vesper. Wie aus der Vorbemerkung hervorgeht, wird sie nunmehr wöchentlich empfohlen, mindestens aber monatlich. Auf die Möglichkeit sie während der nachmittäglichen Vesper zu beten, wird ebenfalls hingewiesen. Es war darum folgerichtig, die Vesperandacht von der nächsten Auflage an zu eliminieren. Die Verbindung von Beichte und Kommunion, sowie ihre monatliche Empfehlung entspricht selbstverständlich dem bis weit ins 20. Jahrhundert traditionellen Verständnis. 71 Angelus Häußling, Rez. zu Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg, 1976. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 91 (1980), 154-155. 72 Vgl. Eusebius Amort, Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, Augsburg, 1759, Vorbericht [ungezählt] und Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 144f. <?page no="111"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 101 Probst hatte an der Beichtvorbereitung kritisiert: „Im Gegensatz zu dem breiten Raum, den die Anleitung zu echter Reue einnimmt, findet sich keine Anleitung zur Gewissenserforschung! “ 73 und bezeichnet dessen Fehlen als einen Mangel. Diese Bemerkung ist falsch, denn der vierte Abschnitt beginnt mit einer längeren an der Heiligen Schrift orientierten Gewissenrechenschaft, „die einem jeden Christen zu verstehen [gibt], was er seyn soll“. Darüber hinaus übersieht Probst, dass der Beter die Teile des Gebetbuchs nicht isoliert verwenden sollte und wohl auch nicht verwendete. Denn allabendlich konnte er sich die „sechzehn Fragen an sein eigenes Herz vor dem Schlafengehen“ vorlegen. Wer davon Gebrauch machte, wird sich dessen gewiss auch dann bedient haben, wenn er sich auf den Empfang des Beichtsakramentes vorbereitete. Damit dürfte er eine gewisse Übung in der Gewissenserforschung erlangt haben. Übrigens sitzt Probst einer verfehlten Hermeneutik auf, wenn er stets nur danach fragt, inwieweit Sailer als ein Vorläufer unserer eigenen (selbstredend für richtig erachteten) liturgischen Auffassungen gelten kann. Unter dieser Perspektive werden Sailers Kommuniongedanken, die unter anderem die Einheit unter den Gläubigen besonders betonen, für ein frühes wenn auch unausdrückliches Plädoyer für die Feier der Gemeinschaftsmesse angesehen 74 . Gewiss verdienen Sätze wie diese besondere Aufmerksamkeit: „Und wenn wir ein Leib sind, soll nicht ein Glied das andere schützen, eins dem anderen aushelfen? Ein Haupt, Eine Speise, Ein Trank, Ein Fleisch und Blut ist für uns alle der nämliche Christus.“ 75 Auch die nachfolgende Bitte um Nächstenliebe ist beachtenswert - wenn sie auch nur eine von fünf Merkmalen ist, die Sailer in bezug auf den Kommunionempfang nennt. Doch ginge man fehl, wenn man annähme, Sailer rage über seine wie auch über die ihm unmittelbar vorausgehende Zeit hinaus, indem er den „sozialen Charakter der Eucharistie“ betone 76 . Es ist nicht zu leugnen, dass auch vorhergehende Gebetbücher, sowohl die Einheit der Gläubigen im Leibe Christi als auch die Liebe untereinander den Gläubigen ins Bewusstsein gerückt hatten. So belehrt Wilhelm Nakatenus anschaulich: „Siehe, wie viele Mütter ihre frisch gebohrne Kinder den Säug-Ammen zu unterhalten übergeben: nicht aber thut solches unser Herr: sondern mit seinem eigenen Fleisch und Blut ernähret er uns, und einverleibt unseren Leib mit seinem.“ 77 Und Martin von Cochem stellt den Beter nach Empfang der Kommunion anheim: „Jetzt bethe für die lebendigen und abgestorbenen Freunde, so es dir beliebet.“ 78 . Wenn Sailer allerdings in der Tat an dieser Stelle die Verbindung des Gottesvolkes untereinander neu sagt, so gilt es auch nach den Voraussetzungen zu fragen, deren 73 Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg, 1976, 60. 74 Vgl. ebd. 75 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 356f. 76 Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg, 1976, 60. 77 Wilhelm Nakatenus, Himmlisch Palm-Gärtlein, Cölln und Franckfurt, 1770, 515. 78 Martin von Cochem, Goldener Himmels-Schlüssel, Einsiedeln, 1764, 157. <?page no="112"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 102 es bedurfte, damit dieser Gedanke neue Geltung erhalten konnte. Und es genügt nicht, diejenige Andachtsliteratur, die den Wir-Aspekt weniger betonte, als „private Mystik“ 79 abzutun, ja, man macht die Aufmerksamkeit durch solche Pauschalisierungen stumpf für die damaligen tatsächlich privatisierenden, entkirchlichten Tendenzen im Andachtswesen. Dagegen wird man in diesem Zusammenhang auf die Auflösung religiös-gesellschaftlicher Bindungen aufmerksam machen müssen. Denn frühere Gebetbücher setzen mitunter das Bruderschaftswesen voraus 80 , welches unter den Zeitgenossen Sailers, die zudem der gleichen intellektuellen Schicht angehörten, längst nicht mehr den gleichen Rückhalt hatte. Das Gebet füreinander erhält damals einen viel mehr von den einzelnen Personen bestimmten Charakter, als es zur Zeit von institutionalisierten Gebetsgemeinschaften der Fall war. Sailer bereitet mit solchen Gedanken nicht die Feier der Gemeinschaftsmesse vor, sondern rückt neu und anders ins Bewusstsein, was hundert Jahre vor ihm und in gewissen gesellschaftlichen Schichten auch zu seiner Zeit noch zum unreflektiert Selbstverständlichen gehörte. Fünfter Abschnitt, enthält Verschiedenes nach Verschiedenheit der Stände (383- 476). Sechster Abschnitt, enthält Verschiedenes nach Verschiedenheit der Umstände, Handlungen, Begebenheiten u.s.w. (479-522). Siebenter und letzter Abschnitt, enthält Etwas für Leidende, Kranke, Sterbende (525-576) I. Am Hochzeittage II. Etwas für Familien III. Gebet einer christlichen Witwe IV. Bitte eines Regenten um Weisheit V. Von dem rechten Verhalten der Herrschaften gegen ihre Dienstboten VI. Der Dienstbote VII. Für Jünglinge und Jungfrauen VIII. Der Landmann vor seinem Gott und in seiner Sprache IX. Etwas für die, welche nach Weisheit fragen X. Etwas für alle Stände, oder von der Fürbitte XI. Noch etwas für alle, von unsern Pflichten gegen die, so nicht unsers Glaubens sind I. Ein Gebet für alle Umstände II. Reisegebete III. Für einen Jüngling, der in die Fremde reiset IV. Berathschlagung mit Gott in wichtigern Angelegenheiten 79 Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit, Regensburg, 1976, 60. Gemäß dieser Etikettierung wäre das von Sailer geschätzte Katholische Gebeth- und Erbauungsbuch, Augsburg, 1783 von Karl Braun eben auch der „privaten Mystik“ zuzuordenen, da die Kommuniongebete vorwiegend Gespräche des Einzelnen mit Christus darstellen (Vgl. 116ff.). Bei der schlichten und geradlinigen Frömmigkeit dieses Werkes wäre dies ein ganz abwegiges Urteil. 80 Vgl. z.B. die Übersicht zu Johann Isi, Marianischdettelbacher Weingarten, Fuld und Wirzburg, 1789 S. 46f. <?page no="113"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 103 V. Allgemeines Gebet in allgemeinen Anliegen VI. Bey der Bischofswahl VII. Gedanke auf dem Gottesacker VIII. Wenn es dir vor Tod und Verwesung schauert IX. Bey der Begräbniß X. Bey der Kindertaufe XI. Bey dem Sterben eines kleinen Kindes XII. Zufriedenheit mit Wenigem XIII. Wenn man zu Nachts erwacht XIV. Wenn wir andere sündigen sehen XV. Im Augenblick der Versuchung XVI. Wenn man die Versuchung besiegt hat XVII. Bey einem Donnerwetter XVIII. Am Geburtstage XIX. Wenn ein Missethäter zur Richtstatt ausgeführt wird XX. Wenn man nicht in die Kirche kommen kann XXI. Beym Rückfall in die Gewohnheitssünde XXII. Wenn man die letzte Wegzehrung zum Kranken trägt XXIII. Wenn ein Sterbender in den letzten Zügen liegt XXIV. Bey dem Trauergeläute für einen Verstorbenen I. Warum Gott Leiden, Schmerzen, Bitterkeiten über uns kommen lasse, 18 Lesestücke II. Noch ein Wort des Trostes für Leidende III. Psalm in geheimen Leiden IV. Erinnerung an das Leiden Jesu V. In der Stunde der Trübsal, ein Gebet VI. In den ersten Stunden der Krankheit VII. Litaney zu Jesu für Kranke VIII. In schlaflosen Nächten IX. Seufzer eines Sterbenden X. Gedanken eines Gerechten bey dem herannahenden Tode Es ist insofern berechtigt, die drei Abschnitte hier zusammenzufassen, als Sailer ab der zweiten Auflage ihre Anordnung veränderte, indem die einzelnen Stücke, insofern es Gebete waren, den „besondere[n] Andachtsübungen nach den Bedürfnissen, Anlässen etc. der Betenden“, insofern es sich um Lieder handelte, der Psalmen- und Liedersammlung zuordnete. Diese beiden Sammlungen beendeten fortan sein Gebetbuch, sodass damit der erste Teil deutlicher zum Kompendium des für die Frömmigkeit Unverzichtbaren wurde und der so entstandene neue grenzte sich gleichermaßen gegenüber dem Vorhergehenden dadurch ab, dass er auf den Alltag des Beters abhob. Die drei Abschnitte machen immerhin ein gutes Drittel des ersten Bandes aus. Ein vergleichbares Beispiel, indem dort in ähnlicher Breite auf Stände und Verhältnisse eingegangen wird, liegt in Karl Heinrich Seibts Katholisches Lehr- und Gebetbuch vor. Auch an Gebetbücher, die sich einzelnen christlichen Ständen <?page no="114"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 104 zuwenden, kann man erinnern 81 . Bis zur dritten Auflage kamen noch einige Texte, die weitere Umstände bedachten, hinzu. Die Bedeutung dieser Teile liegt allerdings weniger in den einzelnen Gebeten, sondern in ihrer Fülle, die beinahe allen Betern für ihre Bedürfnisse etwas bieten können. Wie auch in den anderen Abschnitten fallen besonders im letzten die Lesestücke immer wieder auf, die sich in der Betrachtung dem Gegenstand erst langsam annähern, bevor sie zu einem eigentlichen Gebet überleiten. Damit gehen sie weit über das, was bisher „Vorbereitung“ oder „Kurze Unterweisung“ hieß, hinaus. So eröffnete Canisius den Teil der Kranken- und Sterbegebete mit einer an den Sterbenden gerichteten und knapp gehaltenen Zusammenfassung dessen, was ihm nun Not tut: die Absolution, das Viatikum, die letzte Ölung, der Liebesdienst seiner Mitchristen. Danach bietet er jenen um den Sterbenden Besorgten einige Möglichkeiten des Zuspruchs an und schließlich neunzehn kurze Fragen, die sie an ihn richten sollen. Es handelt sich dabei um die dem Bischof von Canterbury zugeschriebenen so genannten Anselmischen Fragen. In ihnen bekannte der Sterbende in diesen „noch einmal seinen Glauben, um besonderen Schutz vor dem Versucher zu erlangen.“ 82 Daraufhin beginnen die eigentlichen Gebete für die Kranken. Bei einem Satzspiegel der vorliegenden Ausgabe von 13 x 7,5 cm und einer mittelgroßen Schrifttype ist die Ausdehnung der Vorbereitung auf siebeneinhalb Seiten - der Umfang der Gebete beträgt neuneinhalb Seiten - allemal bündig zu nennen. 83 Sailer hingegen, dessen Text in der Ausgabe der Sämmtlichen Werke einen Satzspiegel von 16 x 9 cm einnimmt und in kleiner Schrifttype gesetzt ist, schickt seinen Gebeten eine siebzehn Seiten lange Erwägung darüber voraus „Warum Gott Leiden, Schmerzen, Bitterkeiten über uns kommen lasse? “, die man auch einen kleinen Traktat nennen könnte. Schließlich komprimiert er diese Gedanken in ein wiederum vier Seiten zählendes „Wort des Trostes für Leidende“ - und erst danach gibt er dem Leidenden und Sterbenden sowie dessen Mitchristen auf acht Seiten Gebete an die Hand. 84 Hier wird anschaulich, für wie bedeutend Sailer das Lesen hält, um zum Gebet zu disponieren. Während der gegebene Umfang der Gebete bei Canisius und Sailer in etwa gleich bleiben, wachsen die hinführenden Texte um das Dreibis Vierfache. Betrachtet man die Kranken- und Sterbegebete genauer, so kommen wir nicht umhin, einen privatisierenden Zug, dem sich Sailers Gebetbuch nicht entziehen kann, zu entdecken. Welches Ausmaß für die damalige Gesellschaft und ihre 81 So etwa Ägidius Jais, Guter Same für ein gutes Erdreich, Bayerdießen und Salzburg, 1791, das sich an den „gemeinen Stand“ und vor allem an die Landbevölkerung wandte. Freilich soll nicht gesagt sein, dass es nicht schon seit ehedem gängig war, Gebete in besonderen Anliegen den Gebetbüchern beizugeben. Doch stehen diese immer in einem weit bescheideneren Verhältnis zu den anderen Teilen. 82 Küppers, Palm-Gärtlein, 215. Ebd. Wird auch auf weiterführende Literatur verwiesen. In der Anzahl geht unser Text um einiges über die bei Jean-Paul Migne (Hrsg.) Patrologiae cursus completus, Paris 1853 (= Patrologia latina), Bd. 158, 685-688 genannten „Admonitio morienti“ hinaus. Auch das Rituale Romanum, tit. 6, cap. 6, no. 3, verzeichnet nicht annähernd so viele Fragen. 83 Vgl. Petrus Canisius, Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 9. Aufl., Landshut, 1842, 317-334. 84 Vgl., SW, 25, 91-125. <?page no="115"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 105 Kirchlichkeit sich dahinter verbirgt wird deutlich, wenn man hier den Vergleich mit Martin von Cochems Goldenen Himmelsschlüssel, dem Exponent des barocken Devotionsstils, anstellt. Exkurs: Barock versus Aufklärung - ein Vergleich zweier Sterbeliturgien Auf zwei Dinge richtete Martin von Cochem sein besonderes Augenmerk: das Gebet für die armen Seelen im Fegefeuer und das Gebet um eine rechte Sterbestunde, „dieweil an dem Wohlsterben die ewige Seligkeit; an dem Übelsterben aber die ewige Verdamnuß hangen“ 85 . Der „Vorbereitung zu einem seligen Tod“ - in diesem Zusammenhang werden auch die Krankheiten integriert - kommt deshalb ein besonderes Gewicht zu. Dass dieser Teil und die Gebete für die Verstorbenen, wie überall üblich, das Gebetbuch beschließen, ist, über die Konvention hinausgehend, symbolischer Ausdruck dessen, zu welchem „Ende“ das Gebet verrichtet werde. „[…] weil an keinem Ding der weiten Welt so viel, als an dem Wohlsterben gelegen ist; also erforderts ja die höchste Nothwendigkeit, daß du dich bey Zeiten; ja all dein Lebtag zu einem seligen End zubereitest. […] So geht denn mein inständiges Bitten an dich, du wollest die Vorbereitung alle Wochen, oder aufs wenigste alle Monate einmal, an einem Tag, wenn du gecommunicieret hast, vornehmen.“ 86 Allerhand Gebete, die das eigene Sterben im Licht des Sterbens Jesu, der Schmerzen Marias und des Gedankens an das Jüngste Gericht begreifen, folgen nun. Danach beginnen die eigentlichen Gebete der Kranken als Übergabe in den Willen Gottes. Gegen Ende dieses Abschnitts stehen zwei „Seufzer“, der eine zu Maria, der andere „zu denjenigen Seelen, so du aus dem Fegfeuer erlöset hast“. In beiden bittet der Kranke um das dringend benötigte fürbittende Gebet derer, die schon auf der anderen Seite stehen, zu welcher hinzugelangen er selber wünscht. Nach zwei weiteren Gebeten der Ergebung ist damit alles gesagt, was der Kranke selbst zu tun vermag. Nun aber beginnen diejenigen, die im Diesseits zurückbleiben, mit dem von ihnen geforderten Werk: den Sterbenden auf die „andere Seite“ hinüberzugeleiten. „Wenn ein Kranker allgemach dem Tod zunahet, so kann man ihm nicht besser helfen, als daß man ihm nur kurze Seufzer und Schutzgebethlein vorbethet, weder laut, noch geschwind; sondern sittsam, langsam und andächtig. So lang der Kranke kann, mag er mitbethen oder nachsprechen: ist er aber zu schwach, so mag er nur zuhören, und in seinem Herzen die Worte gedenke[n]. […] die Umstehenden aber sollen es mit Andacht anhören, und in ihrem Herzen nachsprechen.“ 87 42 Stoßgebete folgen, die wahlweise, unterbrochen von Vaterunser, Ave Maria, dem Glaubensbekenntnis und Litaneien, gesprochen werden. Danach heißt es weiter: 85 Martin von Cochem, Goldener Himmels-Schlüssel, Einsiedeln, 1764, 601. 86 Ebd. 87 Ebd., 643. <?page no="116"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 106 „Wenn der Sterbende keine Zeichen mehr von sich giebt, so ist unnöthig, ihm weiter zuzurufen; sondern es sollen alsdann alle Gegenwärtige niederknien, und mit heller Stimm langsam und andächtig folgende Litaney bethen. Unterdessen aber soll der Sterbende eine geweihte Kerze in der Hand halten, und gar oft mit Weihwasser besprengt werden.“ 88 Und nun beten die Umstehenden eine mit 124 Anrufungen und 70 Bittrufen (das übliche Maß wären 60 Anrufungen und ca. 30 Bittrufe) schier ins Endlose ausgedehnte Litanei, die gleichsam mit vereinten Kräften alle zum Gebet herbeiruft, die in dieser entscheidenden Stunde Beistand bringen können. Ist danach der Todeskampf immer noch nicht vorüber, so werden andere Litaneien oder der Rosenkranz zu beten empfohlen. Schließlich, nachdem der Kranke gestorben ist, befehlen, die dabei waren, die „arme Seel“ Gott an und beschließen ihre Gebete mit dem De Profundis. Kein Zweifel: Alle Anwesenden sind dabei Teilnehmende eines Gottesdienstes, auf den sich insbesondere der Sterbende, wenn er den Empfehlungen des Verfassers folgt, sein Leben lang vorbereitet hat, in dem aber auch jeder andere Anwesende eine unverzichtbare Rolle einnimmt. Indem nämlich auch er für die arme Seele betet, um auf ihre Erlösung bei Gott hinzuwirken, wird er sich in seiner eigenen Todesstunde mithin ebenfalls an diese wenden, um sie aufzufordern mit in das Gebet einzustimmen. Wer mit dieser vergleichenden Einsicht zu Sailers Texten zurückkehrt, dem wird auffallen, wie allein der Sterbende am Ende des 18. Jahrhunderts gelassen wird. Denn da es sich um ein Lesebuch handelt, das nur in der Beziehung zwischen Autor und Leser lebendig wird, ist niemand da, der Zuspruch geben könnte, niemand, der den Sterbenden, den Weg ins Jenseits erleichterte. Auch das Fegefeuer, dessen Wirklichkeit für Cochems Gebetsverständnis zentral ist und für dessen Sterbeliturgie die eigentliche Basis darstellt, spielt nirgends sonst in Sailers Gebetbuch eine Rolle. Leben und Sterben stehen zu seiner Zeit weithin nicht mehr in einem großen Zusammenhang, in welchem die Reinigung und Erlösung des einzelnen abhängig ist von der der anderen, sondern der Blick hat sich auf die Bewährung des einzelnen reduziert, der am Ende vor seinem Gott stehen und von diesem entweder in die Schar der Seligen aufgenommen wird - oder verdammt bleibt 89 . Man könnte hier einwenden, dass ein Blick in ein zeitgenössisches Lese- und Gebetbuch noch nicht den weitreichenden Schluss rechtfertigt, zu behaupten, das 88 Ebd., 648f. 89 Beachte die ab dem Lese- und Gebetbuch, 1785, Bd. 1, 180f. den Morgengebeten angefügte Anmerkung: „Der Christ soll selten an den Tod allein gedenken. Denn das Andenken an den Tod erweckt Furcht und Schrecken, und Schrecken allein bessert das Herz nicht, oder wenigst die Besserung ist von keiner Dauer. Vielmehr soll er allemal mit dem Gedanken des Todes auch den Gedanken des ewigen Lebens vereinigen, zugleich an Sterblichkeit und Unsterblichkeit denken. Der Todesgedanke erschreckt, der Glaube an die Unsterblichkeit erfreuet. Diese Freude erweckt Lust zum Guten, gibt Kraft zur Geduld, und verschafft Muth zur Besserung. Auch verliert der Todesgedanke dadurch vieles von seiner Furchtbarkeit, wenn man bedenkt, der Tod sey der Eingang zum Leben, und das Sterben der Übergang zur Unsterblichkeit. Es wird uns also auf diese Weise nicht nur leicht, sondern auch nach und nach angenehm, an den Tod zu denken. Und an das, was uns angenehm vorkommt, werden wir oft erinnert.“ <?page no="117"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 107 Sterben am Ende des 18. Jahrhunderts sei für viele einsamer geworden. Tatsächlich waren die traditionellen Sterberituale, besonders das der letzten Ölung damals formal intakt. Nimmt man indessen Einsicht in ein von Sailers Mainzer Kollegen, dem Benediktiner Gregor Köhler, nur zwanzig Jahre später verfasstes Rituale, das nachweislich vom Gedankengut und Gebetsschatz des Dillinger und Landshuter Professors beeinflusst ist, kann man über den Zustand der letzten Ölung allerdings nicht zweifeln. Dort belehrt Köhler die Seelsorger, wie sie sich am Sterbebett zu verhalten hätten und weist sie daraufhin an, es müsse „[…] das, was der Seelsorger dem Kranken zuspricht ganz kurz seyn. Denn lange Gebete, und Tugendübungen dem Sterbenden zurufen, würde den Kranken vielmehr verwirren, als ihm nutzen, indem dessen Verstand und Fassungskräfte äußerst schwach sind. […] Muß das Zusprechen ganz langsam und deutlich geschehen. […] Muß das Zusprechen ganz sanft und ohne Geschrey geschehen, so, daß es der Sterbende fast allein hören und verstehen kann: “ 90 „Fast allein“ soll er es hören und verstehen. Die Umstehenden, so sie sich überhaupt im Raum befinden, dürfen sich nicht einbezogen fühlen. Zwar wird es durchaus als nötig empfunden ein Geleit zu geben, damit der Sterbende im Wissen um das kommende Gericht hinübertrete. Doch genügt hierfür die Anwesenheit des ausgebildeten Experten, der schließlich dem Sterbenden, „wenn [er …] in den letzten Zügen liegt“, eine Allerheiligenlitanei mit 7 Anrufungen und 10 Bitten zuspricht. Gewiss dürfen diese sicherlich zwei extremen Beispiele nicht so generalisiert werden, als gelte für alle damaligen Rituale, dass den Angehörigen der Sterbenden keine Bedeutung mehr zukomme. In seiner Vorstellung von vier Ritualien zur Sterbebegleitung im Zeitalter der Aufklärung hat Benedikt Kranemann Texte ediert, die denn auch eine solche Behauptung widerlegen müssten. Eindeutig stellt indessen auch er fest: „Ausgangspunkt für die Liturgiefeier ist hier und jetzt der Kranke und Sterbende, auf dessen ‚Zustand des Verstandes und Herzens‘ […] man Rücksicht zu nehmen habe.“ 91 Das kann man gewiss auch als etwas Positives hervorheben. Im Vergleich mit dem Sterberitual aus dem Goldenen Himmels- Schlüssel zeigt sich allerdings, worin die Einsamkeit zeitigende Engführung der späteren Zeit liegt: Indem alles auf die mehr oder weniger volle geistige Präsenz des Sterbenden ankommt, wird das Gelingen seines Hinüberganges auch auf ihn zurückgeworfen, während der Sterbende in Martin von Cochems Gebetbuch auf das Gebet der Lebenden und der schon Vorausgegangenen (! ) vertrauen darf. Nichts aber davon weder bei Sailer noch bei Köhler. 90 Gregor Köhler, Praktische Anleitung für Seelsorger am Kranken- und Sterbebette, Mainz, 1800, S. 253f. Auf den Seiten 256-260 bedient er sich (ohne Angabe des Verfassers) einer Vaterunser-Paraphrase aus Sailers Gebetbuch und auf den Seiten 91-106 dessen in den Vorlesungen aus der Pastoraltheologie (vgl. SW, 18, 78-84) gegebener Taufkatechese. 91 Benedikt Kranemann, Die katholischen Riten zur Sterbebegleitung und zur Beerdigung im Zeitalter der Aufklärung (gem. mit Manfred Probst). In: Liturgie im Angesicht des Todes. Neuzeit, Tübingen, 2004 Bd. 2, 898. Zum Thema ist immer noch beachtenswert: Placidus Berger, Religiöses Brauchtum im Umkreis der Sterbeliturgie in Deutschland, Münster, 1966, (Forschungen zur Volkskunde, Bd. 41). <?page no="118"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 108 Zusätze Alttestamentische Begebenheiten in biblischen Litaneyen für den Verstand und das Herz des erbauungssuchenden Volkes Dreyhundert fünf und sechzig Denksprüche aus den alttestamentischen Schriften Es ist nicht auszumachen, wo diese beiden Teile in der ersten Auflage richtig einzuordnen gewesen wären. In der zweiten rückten sie in den neuen Teil, der „eine kleine Sammlung von biblischen Litaneyen, Liedern, Psalmen, Denksprüchen u.s.w. zu allgemeiner Volkserbauung und zu christlicher Unterhaltung“ genannt wurde. Von Litaneien im eigentlichen Sinn kann man hier nicht sprechen. Es werden statt der Anrufungen jeweils kurz ein heilsgeschichtlicher Aspekt genannt, auf den eine ebenfalls kurze Oration, die die Bittrufe ersetzt, antwortet. In diesem Wechsel geht es über viele Seiten fort. Korrekter wäre es von einem betrachtenden Wechselgebet zu sprechen, das zudem ein Indikator für die Literarisierung des Gebetes abgibt: Lautes und gemeinschaftliches Beten, geschweige denn Singen, lassen diese Litaneien nicht mehr zu. Dessen ist sich Sailer bewusst, wenn er in späteren Auflagen dem Text anmerkt, „der Leser“ [sic! ] solle jedesmal nur ein „paar Blätter zu seinem Nachdenken wählen“ 92 . Das Vorbild dazu boten die Grundlehren des Christenthums von Hermann Goldhagen, worauf Sailer in seiner Ankündigungsschrift selber hinweist. Interessant ist das dort geäußerte Verständnis von Litaneien, das zeigt, wie groß der Graben zwischen jenem Volk, das sich die geistigen Eliten vorstellten, und dem tatsächlichen sein konnte: „Sie [die Litaneien] sind für unser Volk eine Lieblingsidee. Das Einfache, das Abwechselnde, das Mannigfaltige, das Leichte der Litaneyen ist ganz im Volksgeschmack. Es kommt blos darauf an, wie man diesem Volksgeschmack eine gute Nahrung gebe. Man kann unter dieser Form die allerwichtigsten Wahrheiten der Menge ins Herz spielen. - Spielen? Wer soll sich an diesem Ausdruck ärgern? Sind wir doch alle, jeder in seinem Lieblingsfache mehr oder weniger Kinder. Ist es nicht Weisheit - lieber an das Gute, das schon da ist, anbauen, als auch das schon gegenwärtige Gute niederreissen und gar nicht aufbauen? Wäre es nicht im Geiste christlicher Weisheit gehandelt, wenn man die ganze Geschichte des auserwählten Volkes von Adam bis auf Jesus Christus in mehrere Litaneyen einkleidete, und an die Stelle des einförmigen Erbarme dich unser eine anpassende und durch die Geschichte veranlaßte religiöse Empfindung hinsetzte? “ 93 In der besten Absicht, seine Adressaten verstehen zu wollen, gelingt es Sailer doch nicht zu erfassen, dass in der „Einförmigkeit“ der Gebetform gerade ihre Beliebtheit besteht. Überhaupt dürfte jene als abgenutzt und eintönig verstandene „Einförmigkeit“ eines der größten Hindernisse bei den meisten aufklärerischen Bemühungen um das Gebet gewesen sein. Es verwundert nicht und ehrt Sailer, dass er diese langen und geistig anspruchsvollen, mitunter auch ermüdenden Gebete in das kleine Gebetbuch nicht mitaufgenommen hat. 92 Sailer, SW, Bd. 25, 135. 93 Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 56. Dort auch der Hinweis auf Hermann Goldhagen, Grundlehren des Christenthums, Mainz, 1776. <?page no="119"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 109 Die Sammlung der Denksprüche sind aus den alttestamentlichen Weisheitsbüchern entnommene Zitate. In traditionellen Gebetbüchern finden sich beide Arten von Andachtsformen nicht. Den weiteren Zusätzen wurde von Sailer eine Zuordnung mit Angabe der Seitenzahl gegeben. Darunter auch das „Stillmesse“ genannte Kanongebet. Zweyter Theil, enthält das Festtägliche. Erster Abschnitt. Jesus Christus, oder siebenmal sieben Anbetungen des Anbetungswürdigsten, samt Betrachtungen (5-56) I. Aus der Kindheit und Jugendgeschichte Jesu II. Von den Lehren Jesu III. Von den Thaten Jesu IV. Von den Tugenden Jesu, das ist, von seiner Liebe V. Von dem Leiden und Sterben Jesu VI. Über die Zwischenzeit von dem Tode bis zur Auferstehung Jesu VII. Von der Auferstehung, Auffahrt und Geistessendung Jesu Wenn oben davon die Rede war, dass Sailers Gebetbuch die Tagzeiten fehlen, so darf man andererseits nicht unbeachtet lassen, dass er durchaus bemüht war, nach Formen des Ersatzes zu suchen. Eine solche stellt der Abschnitt dar, der den zweiten Band einleitet. Es war oben im Zusammenhang mit dem Sonntag schon die Rede davon, dass seit dem Mittelalter die Zuordnungen von Heilsgeheimnissen zu bestimmten Wochentagen üblich geworden war. Wilhelm Nakatenus z.B., in dessen Himmlisch Palmgärtlein das Tagzeitengebet eine ausgeprägte Rolle spielt, bietet deren sogar zwei an 94 . Andere Gebetbücher versuchten einen einzigen Aspekt des Glaubens über die Woche hin von verschiedenen Seiten her zu beleuchten, seien es z.B. „Wöchentliche Befehlungen“ in den Schutz der Mutter Gottes 95 oder Betrachtungen über die letzten Dinge 96 . Um nicht das Missverständnis zu provozieren, ihm läge daran, die alten Umwidmungen des Sonntags zu erneuern, hatte Sailer seine Vorschläge von der Erinnerung an die Sonntagspflicht weit abgesetzt. Auch wollte er sie nicht als enges Korsett verstanden wissen. Weder sei es nötig, beeilt er sich zu sagen, täglich tatsächlich sieben Anbetungen zu verrichten, wie das im Buch angeboten würde, noch seien sie zwingend in der Kirche zu verrichten, noch müsse deren Wortlaut übernommen werden. Und dennoch ist ihre Struktur unverkennbar dem Tagzeitengebet entliehen: Jedem Tag der Woche sind sieben verschiedene Anbetungen, die in vier gleichbleibende und einen alternierenden Abschnitt unterteilt sind, 94 S. o. S. 35f. 95 Vgl. z.B. Tobias Lohner, Trostreiches und anmutiges Bett- und Zusprech-Büchlein, München, 1684, 76-86. 96 Vgl. dazu den o. S. 46, Anm. 80 angeführten Wochenplan aus: Gemüths-Erhebung zu Gott, München, 1760. Zu den seit dem Mittelalter üblichen Wochenplänen s.a. Schrott 1937, S. 1-28, 211-257, besonders 15 und Georg Schreiber, Die Wochentage im Erlebnis der Ostkirche und des christlichen Abendlandes, Köln [u.a.], 1959. Letztere immer noch lehrreiche Monographie erfasst allerdings durchaus nicht alle Motive, denen wir im vorigen Kapitel begegnet sind. <?page no="120"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 110 zugeordnet. Der erste Satz der Eröffnung ist beinahe wörtlich der Matutin des römischen Breviers entnommen: „Öffne, o Herr, meinen Mund, zu loben deinen heiligen Namen! “ 97 . Die anschließende Betrachtung ist der alternierende Teil der Andacht. Es folgen je sieben Gedächtnisse gemäß den oben angegebenen sieben Überschriften. Das dritte und das vierte Element bilden die eigentliche Anbetung, in der Christus (! ) dreimal heilig gepriesen wird. Den Abschluss bildet ein sogenanntes Kirchengebet, d.h. eine Oration. Nicht von ungefähr taucht dieser Abschnitt unter den feiertäglichen Andachten auf und eröffnet sie: „Heilige Woche“ überschrieben, ruft ihr Inhalt die wichtigsten Ereignisse des Lebens Jesu in Erinnerung, um auf diese Weise auch auf alle Feiertage des Kirchenjahres jenes Licht zu werfen, das er schon in der Vorrede des Werkes in den Mittelpunkt gerückt hatte: Jesus Christus ist der Kern jeder christlichen Feier. Sowohl von seiner Struktur als auch von seinem Inhalt her war dies ein wirklich schätzenswerter Versuch, den Laien zwanglos zu einem Wochenrhythmus zu verhelfen. Nicht recht einsichtig ist es deshalb, warum Sailer ihn ab der dritten Auflage vollständig tilgte. Dass er sich, wie schon oben bemerkt, zunehmend von der Verabsolutierung des Christusgedankens distanzierte, reicht m.E. für eine Erklärung nicht aus. Zweyter Abschnitt. Jesus Christus, oder die Festtage des Herrn, sammt den andern merkwürdigen Tagen, nach Ordnung des Kirchenjahres (59-380) I. Advent - vier Wochen vor Weihnachten II. Geburt Jesu - Weihnachtfest III. Neujahrsabend und Neujahrstag IV. Erscheinung des Herrn vor den Weisen. - H. Dreykönigtag V. Der Name Jesu - Namen Jesu Fest VI. Aschermittwoche VII. Die Versuchungen Jesu. - 1. Fastensonntag VIII. Die Leiden Jesu (Besonders für die Fastenzeit) IX. Der Psalm Miserere (Besonders für die Fastenzeit) X. Der Einzug Jesu in Jerusalem. - Palmsonntag XI. Die Fußwaschung Jesu. - Gründonnerstag XII. Das Sterben Jesu. - Charfreytag XIII. Die Ruhe der heiligen Leiche im Felsengrabe. - Charsamstag XIV. Die Auferstehung des Herrn - Osterfest XV. Die Himmelfahrt Jesu - Auffahrtstag XVI. Geistsendung Jesu - Pfingstfest XVII. Vom Vater, Sohn, heiligen Geist. - Dreyfaltigkeitssonntag XVIII. Von dem Leib und dem Blut unsers Herrn. - Fronleichnamsfest Beylage: XIX. Kirchweihfest XX. Schutzengelfest XXI. Ärntefest 97 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 2, 8. <?page no="121"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 111 Wurden auch in früheren Gebetbüchern die Jesus Christus betreffenden Andachten von denen Marias oder anderer Heiliger geschieden, so geschah dies meist ohne Bezug auf den Ablauf des Kirchenjahres. Selbstverständlich fand dieses dort reiche Berücksichtigung. Aber der Rang der Feste ist an ihrer Positionierung im Gebetbuch kaum erkennenbar gewesen. Zumeist informierte ein vorangestellter Heiligenkalender, wo Gebete zum betreffenden Fest zu finden seien. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an war das allerdings schon nicht mehr der Regelfall, und so sucht man ihn auch im Vollständigen Lese- und Betbuch vergeblich. Der Aufbau des zweiten Bandes steht unter dem Anspruch einer als reinigend verstandenen Abgrenzung gegenüber Früherem. Solchem „Aufräumen“ fielen freilich auch die üblichen und traditionell keineswegs gering ausfallenden Andachtsübung zu den anderen göttlichen Personen zum Opfer. Ein Mangel, der durch die kleineren Abschnitte zur Anbetung Gottes (nur des Vaters und des Sohnes) im ersten Teil nicht aufgewogen wurde. Hervorzuheben ist in diesem Teil, so wie Heinrich Braun das auch tat 98 , die teilweise Anführung, in jedem Fall aber der stete Bezug, zu den biblischen Texten der Feste und Zeiten. Und ebenso wie jenes gehört es zu den Vorzügen dieses Gebetbuchs, dass die Orationen als geistliche Nahrung hervorgehoben, sowie sie auch an anderen Stellen zu den Festzeiten entweder in längeren Umschreibungen oder in einfachen Übersetzungen dargeboten werden. Sailer ist also nicht der erste, der ihren Wert seinen Zeitgenossen ins Bewusstsein rückte. Aber anders als Braun versteht es Sailer zu gewichten und macht aus den Festzeiten kein Einerlei, das in der Fixierung auf den Sonntag untergeht. Nicht ungewöhnlich ist die Anführung der O-Antiphonen am Ende der Adventsbetrachtungen. Die Übersetzung unterschlägt dabei die „Os“, was dem damaligen Stilempfinden geschuldet sein mag. Bedenkt man andererseits wie viele „Achs! “ in den selbstverfassten Texten vorkommen, ist dieser Wegfall allerdings nicht recht plausibel. Ebenso ist unklar, weshalb die Antiphonen ab der dritten Auflage wegfielen. Der vielleicht naheliegende Schluss, Sailer hätte alle Anklänge an das Brevier tilgen wollen, muss ausscheiden, da er das Brevier in gewissen Teilen durchaus zu schätzen wusste. Dritter Abschnitt. Jesus Christus, oder die Festtage Mariä, der Mutter Jesu, zur Ehre Jesu Christi (383-460). Vierter Abschnitt. Jesus Christus, oder die Festtage der Jünger, Geschichtschreiber und Apostel Jesu Christi, zur Ehre ihres Meisters, Herrn und Senders (463-556). Fünfter Abschnitt. Jesus Christus, oder Gedächtnißtage einiger merkwürdigen Personen, mit denen Jesus in Verbindung stand, zur Ehre Jesu Christi (559-592) I. Von der wahren und falschen Andacht zu den Heiligen II. Das Wichtigste aus der Lebensgeschichte Mariä III. Litaney von der Lebensgeschichte Mariä IV. Mariä Geburt. Mariä Verkündigung 98 Heinrich Braun, Katholisches Gebeth- und Erbauungsbuch, Augsburg, 1783. Vgl. o. S. 48f. <?page no="122"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 112 VI. Mariä Heimsuchung VII. Mariä Reinigung VIII. Gedächtnißtag der Leiden Mariä IX. Himmelfahrt Mariä I. Von den Aposteln Jesu Christi II. Timotheus. 24. Jänner III. Matthias. 24. Hornung IV. Markus. 25. April V. Philippus und Jakobus. 1. May VI. Barnabas 11. Brachmonat VII. Petrus und Paulus 29. Brachmonat VIII. Jakobus der Größere. 25. Heumonat IX Bartholomäus, das ist, Nathanael. 24. August X. Matthäus. 21. Herbstmonat XI. Lukas. 18. Weinmonat XII. Simon und Judas. 28. Weinmonat XIII. Andreas. 30. Wintermonat XIV. Thomas 21. Christmonat XV. Stephanus. 26. Christmonat XVI. Johannes, den der Herr lieb hatte. 27. Christmonat I. Johannes, der Vorbote Jesu II. Joseph, der Pflegevater Jesu III. Maria Magdalena, die Freundinn Jesu IV. Der gutmüthige Mitgekreuzigte Jesu. Beylage zu den vorigen Abschnitten V. Aller Heiligen Gedächtnißtag VI. Aller Seelen Gedächtnißtag VII. Gedächtnißtag des Diözesanpatrons Das gebrochene Verhältnis der Epoche zur Heiligenverehrung wird an diesen drei Abschnitten deutlich. Die ohnehin aufgesetzt wirkenden Überschriften über jedem Abschnitt kommen hier einem penetranten Appell gleich, über die Verehrung der Heiligen Jesus Christus nicht aus den Augen zu verlieren, und scheinen mehr aus der Angst geboren zu sein, bei der Heiligenverehrung etwas falsch zu machen, als dass sie Zeugnis einer echten Christusfrömmigkeit wären. Symptomatisch dafür sind z.B. die Antworten der Marienlitanei. Statt eines schlichten „Bitte für uns! “ heißt es hier ebenso peinlich korrekt wie trocken: „Jesu! laß die Fürbitte deiner Mutter an uns gesegnet seyn“. 99 Weiter zeigen die Überschriften der Abschnitte, nach welchen Kriterien sich Sailer für die Memorierung eines Heiligen entschied: Wichtig war beinahe ausschließlich die zu Jesu Lebzeiten auf Erden bestehende Verbindung. Es ist merkwürdig, dass er trotz seiner Hochschätzung der Nachfolgung Christi nicht zu einem tieferen Verständnis gelangt war. Nicht dass Thomas von Kempen die Heiligenverehrung besonders empfohlen hätte. Doch spricht das Buch selbst 99 Vgl. Lese- und Betbuch, 419ff. <?page no="123"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 113 von nichts anderem als von dem Weg der Heiligung in der Verbindung zu Jesus Christus, ja, davon in sich selbst das Bild Christi durch die Selbstverleugnung auszuprägen. Was aber tun die Heiligen anderes, als ein Bild ihres Herrn zu werden? Freilich gehört es wiederum mehr zu den Anfragen an jene Zeit, als dass daraus ein Vorwurf an Sailer formuliert werden könnte, dass er den Blick für die rechte Heiligenverehrung nicht frei bekam. Die Frage, ob er gegen Ende seines Lebens zu einem anderen Heiligenverständnis durchgedrungen war, muss von unserer Seite aus unbeantwortet bleiben. In der Neuausgabe des kleinen Gebetbuchs blieb es bei dem eingeschränkten Blickwinkel auf jene Heilige, die Jesus begleitet haben. Die neue Vorrede zu dem großen Gebetbuch nennt dagegen ungewöhnlich viele geistliche Autoren, die „Alle in ihrem Leben zu rüstigen Kämpfern, zu vollendeten Siegern“ durch „ihre beharrende Einigung mit Christus“ geworden waren 100 . Immerhin hebt diesen Aspekt auch Bertram Meier hervor. Das sittlich-religiöse Verständnis öffne sich nachweislich um das Jahr 1812 auf ein ekklesiologisches hin, indem er die Bilder von der streitenden und pilgernden Kirche zusammendenke. 101 Eine weitere Konsequenz aus dem Willen zur Abgrenzung ist, dass wir keines der traditionellen Mariengebete in den ersten Auflagen wiederfinden, nicht einmal das Magnifikat. Erst ab der dritten Auflage wurde dieses in die Psalmen- und Liedersammlung aufgenommen. Die Lauretanische Litanei oder marianische Antiphonen fehlen hingegen in allen Ausgaben 102 . Sechster und letzter Abschnitt. Jesus Christus, oder Gesänge, Lieder, Psalmen, Gebete aus der heiligen Schrift, zur Ehre dessen, der der Erfüller des alten, und der Stifter des neuen Bundes ist (595-624) I. Siegesgesang der Israeliten nach dem Durchzuge durch das rothe Meer [Ex. 15] II. Moses Abschiedsgesang kurz vor seinem Sterben [Dtn. 32] III. Moses Gebetlied von der Hinfälligkeit des menschlichen Lebens [Ps. 90 (89)] IV. Hanna, der Mutter Samuels Dankgesang [1. Sam. 2, 1-10] V. David Lobgesang, nachdem er alle seine Feinde besieget hatte [2. Sam 22] VI. Der 121. Psalm: Gott, der Menschenhüter [Vulgata 120] VII. Der 104. Psalm: Gott, der Schöpfer, der Erhalter [Vulgata 103] VIII. Gebet um guten Gebrauch der Zunge nach Jesus Sirachs Sohn [Sir. 22,27-23,2.9-11a] IX. Gebet des Propheten Jonas im Wallfische [Jona, 2, 2-10] X. Joseph, der ägyptische, ein Beter wie Wenige [Betrachtung] XI. Susanna, auch eine herrliche Beterinn [Betrachtung] XII. Lobgesang des Priesters Zacharias [Lk 2, 68-79] 100 SW, 23, XI. 101 Vgl. Bertram Meier, Die Kirche der wahren Christen, Stuttgart [u.a.], 1990, 248. 102 Dazu: Johann Hofmeier, Marienverehrung im pastoraltheologischen Denken Johann Michael Sailers. In: Geist und Leben 40 (1967), 107-121. <?page no="124"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 114 Sailers Gebetbuch schöpft immer wieder aus den biblischen Quellen. Eine große Menge offener und eine ebensolche verdeckter, d.h. in den Text eingeflochtener Zitate ohne Angabe des Fundortes durchziehen das ganze Werk. Wegen dieser letzterer steht eine statistische Erfassung vor großen Schwierigkeiten. Andererseits wäre es reizvoll gerade diese in einer Spezialuntersuchung genauer zu betrachten. Denn die Bibel als Quelle haben viele der geistlichen Autoren vor ihm benutzt. Im vorangegangenen Kapitel fielen uns hier besonders Wilhelm Nakatenus und Sailers Zeitgenossen Karl Heinrich Seibt und Heinrich Braun auf. Die Weise aber, wie Sailer Bibelstellen in die eigenen Betrachtungen und Gebete einflocht, wäre besonders unter rhetorischen Gesichtspunkten interessant. Käme man doch so einer Analyse der bibeldurchtränkten Sprache Sailers nahe. Das muss für unsere Untersuchung, die eine frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklung nachzuzeichnen sucht, unterbleiben. Sichtbar wird aber an diesem Abschnitt ein anderer Zug Sailers. Während damals allgemein das Bewusstsein dafür, den Psalter als Einheit zu sehen, die als ganze Quelle des Betens sein könnte, entschwunden war, worunter das Verständnis für das Gebet der Tagzeiten entscheidend krankte, so fehlt es Sailer doch nicht an poetischem Feingefühl und geistlicher Bildung, den Betern wichtige und mitunter wenig bekannte Texte aus der Heiligen Schrift zu präsentieren. Die Sammlung fand, gespeist aus zumeist im Gebetbuch verstreut Angeordnetem, erst mit der dritten Auflage ihre endgültige Gestalt. Dort wurden zunächst die um wenige Texte vermehrten „Biblischen Gesänge und Psalmen“ dargeboten, sodann die „Christlichen Lieder für jeden Tag“, „für Fest- und Gedächtnißtage“, „von Pflichten, Tugenden etc.“, „für verschiedene Alter, Stände, Verhältnisse“, „bei verschiedenen Anlässen“ 103 . 4. Zielgruppe der Gebetbücher Fragt man sich nun, wen Sailer bei der Abfassung des großen Gebetbuchs im Blick gehabt haben mag, dürfte aus der Analyse des Aufbaus hinreichend deutlich geworden sein, dass damit nicht die breiten Schichten erreicht werden konnten. In den Kreisen der geistigen Eliten, unabhängig von der Konfession, sprach es hingegen viele an. Seine Ankündigungsschrift richtete Sailer an „Geübtere“, d.h. an die Gebildeten, die - davon geht er aus - dem Thema mit einer gewissen Verachtung begegnen, in jedem Fall aber in einem „gerechten Vorurtheil“ gegenüber dem damals Gängigen befangen sind 104 . Andererseits dürften sich die Adressaten nicht zu weit von einer festen Verbindung zu ihrer Kirche gesehen haben. Der große Erfolg des aus einer dem Kirchlichen entfremdeten, stark subjektbezogenen Frömmigkeit sich speisenden Gebetbuchs des Sailerfreundes Karl von Eckartshausen 105 beweist, dass der Bedarf an geistlicher Nahrung auch unter jenen groß sein konnte, deren unmittelbarer kirchlicher Bezug Schaden genommen hatte. Vergleichen wir die 103 Vgl. SW, 25. 104 Vgl. Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 4. 105 Karl von Eckartshausen, Gott ist die reinste Liebe, Hildesheim, 1806. Die erste Ausgabe datiert von 1790. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden weitere Auflagen publiziert. <?page no="125"?> Aufbau und Zielgruppe des Betens im großen Gebetbuch 115 beiden Titel miteinander, so können wir diesen Umstand Sailerlesern nicht ohne weiteres unterstellen. Wenn er in dem Gebetbuch selber auch nicht weit über diesen Personenkreis hinausgekommen sein dürfte und so sein Ziel, sich „dem Volkskreise“ in Inhalt und Ton „anzubequemen“ 106 , nicht in dem Maß, wie er es sich gewünscht hatte, erreicht hat, muss es dennoch als eine große Leistung angesehen werden, dort, wo das Gebet schon ganz zu entschwinden drohte, nachdrücklich gewirkt zu haben 107 . Freilich: ein Text wie „Der Landmann vor seinem Gott und in seiner Sprache“ ist statt seines intendierten Gegenteils wohl eher als Indiz dafür zu werten, dass Sailer das sogenannte „gemeine Volk“ nicht erreicht hat. Denn was sollte man aus der Überschrift schließen? Sind die anderen Texte des Gebetbuches nicht in der Sprache des Bauern abgefasst? Vermag er deshalb nicht in ihr zu beten? Weshalb könnte er es dann gebrauchen, wenn nur ein einziger Text auf ihn passte? Und schnell bemerkt man, dass das dort entwickelte Bild des etwas rauen aber treuseligen Bauern eher einem Klischee, denn der lebendigen Anschauung, des dem Land früh entfremdeten Städters Sailer entsprach. Um die einfacheren Schichten besser zu erreichen, verfasste er seinen sogenannten Auszug, das kleinere Gebetbuch. Das zeigte durchaus Wirkung, denn es erreichte wesentlich höhere Auflagen als das große. Sailers Unsicherheit dieser Schicht gegenüber zeigt sich an einem kleinen Detail: An der ersten Auflage von 1785 ließ Sailer die zahlreichen dativischen e-Endungen weg. Ab 1787 nahm er aber davon wieder Abstand und unterließ den gekünstelten Versuch 108 . Indessen wird man sich auch hier kein wesentlich anderes Publikum vorstellen dürfen, als beim großen, denn der Bildung voraussetzende Anspruch blieb erhalten. Auch markierte Sailer dort selbst die Grenzen, über welche er nicht hinausgehen wollte: „Wer Litaneyen und andere bekanntere Gebete in diesem Buch suchet, und sie nicht findet, der denke nichts Arges von dem Verfasser. Er konnte keine Ursache haben, das, was die Liebhaber dieser Andachtsübungen größtentheils auswendig wissen, oder beynahe in jedem Büchlein finden, wieder abdrucken zu lassen. Auch vergesse es der billige Leser nie, daß ich mich gemäß meiner öffentlich und feyerlich erklärten Absicht [gemeint ist wohl die Gebetbuch-Anzeige] nur auf das Wesentliche, Nothwendige unsrer Religion einschränken mußte.“ 109 Dass er persönlich offensichtlich nicht viel von den gängigen Andachtsformen oder sie jedenfalls nicht für wesentlich hielt, dürfte auch den Lesern nicht entgangen sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel des unserer Unter- 106 Vgl. Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 4. Das Zeugnis des evangelischen Philosophen Johann Georg Hamann, er erbaue sich allmorgendlich an Sailers Gebetbuch, ist bezeichnend für das intellektuelle Niveau des Publikums. Mitgeteilt bei Hubert Schiel, Sailer und Lavater, Köln, 1928, 11. 107 Vgl. die Darstellung bei Schiel, Bd. 1, 69f. 108 Vgl. Sailer, Gebetbuch, 1785, Vorrede [ungezählt]. 109 Ebd. <?page no="126"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 116 suchung vorliegenden Exemplars der zweiten Auflage, weil es darauf aufmerksam macht, was selbst die ja grundsätzlich positiv eingestellten Beter bei Sailer vermissten. Mit ihm zusammengebunden ist nämlich zum Einen ein „auf aller Tage der Woche eingerichtet[er]“ 110 Kreuzweg. Auch Sailer bot in beiden Gebetbüchern einen an. Daher muss man schließen, dass entweder der Inhalt als ungenügend, oder aber, was wahrscheinlicher ist, dass der Verzicht auf einen Wochenrhythmus bei Sailer als ein Mangel empfunden wurde. Dies wird auch durch die weiteren handschriftlichen Blätter, die noch angebunden sind, nahegelegt, wovon der erste Teil, der das Votivoffizium und die Litanei „zu der Göttlichen Fürsichtigkeit“ enthält, zeitgenössisch sein dürfte 111 . Bereits im ersten Kapitel wurde auf die Bedeutung dieser Andacht hingewiesen 112 . Diese dürfte deshalb wohl nicht nur die Beterin - eine weibliche Besitzerin ist anzunehmen - vermisst haben. Mit Blick auf damals beliebte Gebetformen, denen Sailer also nur bedingt nachzukommen gewillt war, werden die Grenzen seiner beiden Gebetbücher deutlich. Auch haben sie gewiss nicht all jene erreicht, für die es bestimmt war. Man vergleiche z.B. mit dem Guter Samen auf ein gutes Erdreich des Ägidius Jais, der als Benediktiner im oberbayerischen Benediktbeuern viel eher in Kontakt mit einem nur gering gebildeten Adressatenkreis kam, und man wird feststellen, dass Jais hinsichtlich der Konzeption als Lehr- und Hausbuch (er gibt auch Ratschläge zur gesunden Lebensführung) als auch des Stils den „gemeinen Stand“ besser angesprochen haben dürfte. In der Sache einig wirkt das Jaissche Gebetbuch bisweilen wie eine geglückte „Übersetzung“ des Sailerschen auf die Ebene einfacher Leute. Dort aber stoßen wir auf eine allgemeine Tendenz dieser Zeit, die uns auch heute noch ein ambivalentes Erbe bedeutet: Mit der gesellschaftlichen Entwicklung hält auch die Verbürgerlichung des Christentums Schritt. Denn kann das Sailer-Gebetbuch auch als ein Zeugnis aus dem Herzen des aufkommenden Bürgertums gewertet werden, erkennt man in dem Jaisschen Transfer den sichtbar werdenden Strukturwandel, dem auch die Landbevölkerung ausgesetzt war. So bietet Jais kaum Gebete und Hilfeanrufe in konkreten Leiden, stattdessen aber praktische Anweisungen für ein gesundes, maßvolles Leben. Damit wird das Alltägliche dem Machtbereich des Sakralen entzogen und dem eigenen tugendhaften Ergehen anheimgestellt 113 . Die 110 Schmerzhafter Kreuzweg unsers Erlösers und Seligmachers Christi Jesu, Salzburg, 1785. 111 Die weiteren Eintragungen sind von 1856 und 1870 und enthalten eine „Bitte für meine Kinder“, eine Litanei zur heiligen Monika, ein Gebet vor einem marianischen Gnadenbild und eine Litanei zu „Unserer Lieben Frau von der immerwährenden Hülfe“. Dies alles sind Gebete, die dem Sailerschen Frömmigkeitsstil nicht entsprechen. 112 S. o. S. 65. 113 Vgl. dazu: Georg Schreiber, Deutsche Bauernfrömmigkeit in volkskundlicher Sicht, Düsseldorf, 1936, 71ff. „Auch die Predigt und die bäuerliche Andachtsliteratur empfingen bemerkenswerte Einwirkungen durch aufklärerische Strömungen, die sich im Volksfrommen bis ins 20. Jahrhundert leiteten. So hat der Benediktiner Aegidius Jais […] die Andacht zur hl. Apollonia, zur Patronin gegen Zahnweh, gestrichen. Dafür nahm er in sein Gebetbuch Anweisungen über Zahnpflege auf, die jeder Chlorodontfabrik Ehre machen. […] Die ganz unhistorische und unlebendige Art der sola ratio machte sich geltend. […] Im Bauerntum stieg die Gefahr, in eine Verbürgerlichung abzusinken, die sich flach und gesättigt gab.“ <?page no="127"?> Das Verhältnis der beiden Gebetbücher zueinander 117 hohe Zahl der Auflagen dieses Gebetbuchs beweist aber, dass dieser Prozess bereits in vollem Gang war, als es erstmals publiziert wurde. Dass Sailer nicht alle erreicht hat, kann ihm freilich nicht ernsthaft angelastet werden: Auch Martin von Cochem, auch Wilhelm Nakatenus, so weit die Verbreitung ihrer Gebetbücher gewesen sein mag, haben nicht alle Schichten angesprochen. Wenn hingegen das Sailersche gegenüber anderen derart hervorragt, so deshalb, weil es mit seiner schriftgesättigten, zu dieser Quelle hinführenden Frömmigkeit, die sich im bejahenden Gleichklang mit den Erfordernissen ihrer Zeit befand, nicht nur Lesehungrige, sondern auch nach geistlicher Nahrung sich Sehnende anzusprechen verstand. Und so, wie sich für die vergangene Epoche etliche Autoren nebeneinander stellen lassen, die gemeinsam die Bedürfnisse der Betenden befriedigen konnten, hätte man sich ungeachtet der zahlreichen und mitunter beachtlichen Versuche seiner Zeitgenossen weitere Autoren dieses Formats gewünscht, um noch mehr in die Breite zu wirken. b) Das Verhältnis der beiden Gebetbücher zueinander Als Sailer im Jahre 1785 daranging die Texte für das kleine Gebetbuch auszuwählen, konnte er bereits auf die überarbeite Neuauflage des großen zurückgreifen. Diese hatte die Zusätze sowie andere neuverfasste Texte mitaufgenommen und einige Umstellungen vorgenommen. Für all das benötigte er nun keine finanziellen Eigenleistungen mehr, sondern diese und alle weiteren Ausgaben erschienen nun - von Raubdrucken abgesehen - bei Lentner in München. 1785 gibt es keinen Text des kleinen Gebetbuchs, der nicht aus dem größeren Werk übernommen wäre und nur ein einziger ist darunter, der von der Ausgabe des großen Gebetbuchs von 1783 in die des kleinen von 1785 wanderte, nicht mehr aber in die zweite, ebenfalls 1785 erschienene Auflage des großen übernommen wurde 114 . Wenig hielt sich Sailer bei dem Auszug an die vorgegebene Anordnung des großen. Eher gleicht der Aufbau im kleinen Gebetbuch dem üblichen Schema, das wir schon bei unserem beigebrachten Vergleichsmaterial sahen: Morgen-, Abend- und Messgebete, Gebete für den Sonntag, Übungen für Beicht- und Kommuniontage, für die Festtage des Herrn, Marias und der Heiligen, sowie Andachten zu allerlei Bedürfnissen. Lediglich die Positionierung des Sonntags (s. dazu oben zum dritten Abschnitt des ersten Bandes) sticht heraus. Wo wir in anderen Gebetbüchern seiner Beachtung begegnen, liegt das größte Gewicht wie beim Braunschen Gebetbuch auf dem Hören der Predigt. Sailer hat allerdings erst ab 1793, so wie er es von Anfang an schon im Vollständigen Lese- und Betbuch getan hatte, die Messfeier als das dem Tag gemäße auch für das einfachere Volk hervorheben wollen. Die theologischen Tugenden während der Messe oder der 114 „Psalm in geheimen Leiden“. Im kleinen Gebetbuch blieb dieser Text auch noch in der Neubearbeitung von 1831 bestehen. Eine tabellarische Aufstellung der Übernahmen vom großen ins kleine Gebetbuch erbrachte dieses Ergebnis. Es wurde wegen des geringen Erkenntniswertes darauf verzichtet, diese Tabelle hier abzudrucken. <?page no="128"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 118 Sonntagsvesper zu betrachten, hielt er zunächst für das den einfacheren Schichten entsprechendere. Danach fungierten sie nicht mehr als grundlegende Andachtsübung. Die Tugendübungen füllten - nunmehr ähnlich wie bei Amort, der Muratoris Forderung nachgekommen war - vor allem die Kommunionandacht aus. (Siehe dazu den Kommentar zum Abschnitt 1 des ersten Bandes). Die den Alltag des Beters betreffenden Teile nehmen sich im kleinen Gebetbuch in der Relation zum großen um einiges geringer aus. Wenn oben die privatisierenden Tendenzen durch die hinzuzurechnenden Lesestücke unverkennbar stark ausgeprägt waren, so fallen sie hier weit weniger ins Gewicht. Allgemein verbreitet war die Auffassung, dass biblische Texte, je einfacher die angesprochenen Schichten waren, umso weniger auf Verständnis stoßen würden. Die Heilige Schrift als Quelle der Andacht fließt darum beim „Auszug“ in viel geringerem Maße. Nach seiner ersten Ausgabe, mindestens aber seit den 1790er Jahren, verselbstständigte sich das kleine Gebetbuch hinsichtlich seiner Überarbeitungen. Das Augenmerk kann sich im Folgenden darauf beschränken, ohne Rücksicht auf die ursprüngliche Vorlage des großen Gebetbuchs, in der die Texte kaum mehr weiterentwickelt wurden, die einzelnen Auflagen untereinander zu vergleichen. Da wir aus dem Vorangegangenen einen Überblick über die theologischen Leitlinien erhalten haben, können wir uns, um die Übersicht zu bewahren, vor allem auf die zu beobachtenden Veränderungen verlegen, um dem nachzuspüren, wie sich Sailers Verständnis von Frömmigkeit wandelte. Zuweilen ließ es sich bei der Darstellung des folgenden Vergleichs nicht vermeiden, dass eine dem Leser vorliegende Ausgabe des kleinen Gebetbuchs von Vorteil wäre. c) Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs mit besonderem Blick auf die Neubearbeitung von 1831 Für die Zitate werden im Folgenden nur die jeweiligen Teile als Fundstellen angegeben. Es hätte sowohl die Bearbeitung verkompliziert als auch die Darstellung unbequem werden lassen, wenn in Fußnoten auf die jeweilige Seitenzahl einer Auflage verwiesen worden wäre. I [Allgemeine Andachtsübungen] I.1 Andachtsübungen für alle Tage SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 I.1.1 Morgengebet zu Gott, dem Vater + I.1.2 Morgengebet zu Gott, dem Sohne + I.1.3 Morgenseufzer zu Gott, dem heiligen Geiste - I.1.4 Morgengebet zur göttlichen Mutter + <?page no="129"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 119 I.1.5 Morgengebet zu den heiligen Engeln + I.1.6 Erweckung guter Gesinnungen in den Morgenstunden, oder wie man es sonst nennet: Die gute Meinung + I.1.7 Verschiedene Gelöbnisse eines andächtigen Christen zur Morgenstunde + I.1.1 - I.1.2 Die Eingriffe sind teils stark, jedoch meist stilistisch bedingt. Inhaltlich soll in beiden Texten die Übergabe an den Willen Gottes ausgesagt werden. Hierin keine Veränderungen. I.1.3 Dieser Text ist für die Neuausgabe von 1831 neuverfasst worden. Der Heilige Geist kam bis dahin in den Andachtsschriften Sailers kaum vor. Inhaltlich geht Sailer über das bisher Gesagte nicht hinaus. Dennoch ist es als sehr bedeutsam einzuschätzen, dass die morgendliche Anrufung des Heiligen Geistes Eingang in sein Gebetbuch gefunden hat. Sahen wir doch im ersten Kapitel beim Vergleich der unterschiedlichen Titel des 18. Jahrhunderts, dass - bis auf das Gebetbuch Heinrich Brauns - alle anderen sich an alle drei göttlichen Personen richteten. Den neueren Versuchen dieser Phase der Frömmigkeitsgeschichte aber war die Verehrung des Heiligen Geistes abhanden gekommen. Mit Sailers Einfügung ist jene Liste der morgens anzurufenden Person wieder vollständig, und sie fügt sich damit wieder in das Althergebrachte ein. I.1.4 - I.1.5 Nur leichte stilistische Korrekturen. I.1.6 An diesem Text kann man die Überarbeitungen Sailers so studieren, dass die Feinheiten in den jeweiligen Perioden seines Schaffens besonders deutlich werden. In einer Synopse werden deshalb sämtliche verfügbaren Texte einander gegenübergestellt. Um die Zusammenschau der gebotenen Texte jedoch richtig einzuordnen, scheint es angebracht, zuvor etwas genauer auf den Begriff und den Charakter der „guten Meinung“ am Ende des 18. Jahrhunderts einzugehen. Exkurs zur „guten Meinung“ Unter einer „guten Meinung“ versteht man die Erweckung einer Gebetsintention, die allein Gott sucht und auf die Reinheit des Gebetes zielt. Sie ist damit das Form gewordene Konkretum jener klassischen Definition, die das Gebet als Erhebung des Geistes zu Gott beschreibt 115 . Die Sache ist freilich so alt wie die Reflexion des Betens selber; und insofern es sich dabei um ein Innehalten und eine inständige Hinwendung zu Gott handelt, um im alltäglichen Getriebe den Sinn des eigenen Tuns nicht zu verlieren, besteht eine enge Verwandtschaft zum sogenannten Seufzer- oder Stoßgebet. Doch scheint sich die Gemütserhebung als Form in der 115 Vgl. Nilus von Ankyra, De oratione 35. In: Jean-Paul Migne (Hrsg.) Patrologiae cursus completus, Paris o. J. (= Patrologia graeca), Bd. 79, 1173 und Johannes Damascenus De fide Orthod lib. III, 24. In: Jean-Paul Migne (Hrsg.) Patrologiae cursus completus, Paris 1963 (= Patrologia graeca), Bd. 94, 1089. <?page no="130"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 120 katholischen Konfession erst in der erneuerten nachtridentinischen Frömmigkeit herausgebildet zu haben, wofür zweifellos die Jesuiten ein bedeutender Faktor gewesen sind. Der Jesuitenpater Tobias Lohner schärft am Ende des 17. Jahrhunderts ein: „So die Meynung gut ist / so ist das Werck auch gut / (es sey dann daß das Werck in sich sündhafftig oder böß wäre[)]. Ist die Meynung böß / so macht sie das Werck auch böß / wann es schon in sich gut wäre. Geschicht das Werck ohn Meynung / so ist das Werck gar wenig / oder gar nichts zuschätzen. […] Gut ist es / wann du etwas thust / damit dich Gott hie zeitlich segne / oder für Unglück behütte: besser ist es / wann du etwas darumb thust / daß er dich für die Höll behütte. Noch besser / daß er dir deine Sünd verzeyhe / einen Lohn im Himmel gebe / ein Tugend mittheile / und dergleichen! Aber über alle ist kein besser als wann du etwas thust allein darumb / damit du dem lieben GOtt mögest ein Gefallen thun / oder weil es sein Will / und ihm lieb ist.“ 116 Daran hat sich auch knapp hundert Jahre später wenig geändert. Joseph Pergmayr, ein gegenüber Sailer um einiges älterer Jesuit, der als Prediger in München wirkte, weiß von drei Arten dieser Übung: „Gott das Werk aufopfern, pur allein zu seinem heiligsten Wohlgefallen. […] Gott das Werk aufopfern, pur allein zur Erfüllung seines heiligsten Willens. […] Gott das Werk aufopfern pur allein zu jenem Ziel und Ende, so er selbst bey selbem hat, da er es mit uns verrichtet.“ 117 Aber auch über die von den Jesuiten geübte Frömmigkeit hinaus war die Übung allgemein verbreitet. Martin von Cochem bringt sie ebenso, wie Muratori ihren Gebrauch im Zusammenhang mit der Erweckung der drei theologischen Tugenden nahe legt 118 . Der Bezug zum Stoßgebet bleibt deutlich, wenn in der einschlägigen Literatur immer wieder darauf hingewiesen wird, dass es von großer Wichtigkeit sei, die gute Meinung den Tag über immerwährend fortdauern zu lassen, ganz besonders aber sei sie „sich vor dem gegenwärtigen Gott auf die Kniee nierderwerfen[d]“ in der Frühe zu erwecken. 119 So hat sie ihren bevorzugten Platz in einer strukturellen und inhaltlichen Entsprechung zu der am Abend gleichfalls von den Jesuiten besonders hervorgehobenen Gewissenerforschung, dem sogenannten Examen, erhal- 116 Tobias Lohner, Trostreiches und anmutiges Bett- und Zusprech-Büchlein, München, 1684, 17f. Einen weiteren Baustein zur genetischen Herleitung der guten Meinung aus der Frömmigkeit der Jesuiten bildet auch der Titel: Jeremias Drexel, Recta Intentio Omnium humanarum actionum Amvssis, München, 1627 (nach De Backer-Sommervogel, der Bibliotheksverbund Bayern weist die dritte Auflage 1628 nach). Deutsch: Gutes Aug oder aufrechte Mainung in allen Werken so er vor dem Churfürst Maximilian gepredigt, München, 1627. 117 Joseph Pergmayr, Geistreiche Lesungen und gründliche Unterweisungen, Augsburg, 1784, 234f. 118 Vgl. Ludovico Antonio Muratori, Die wahre Andacht des Christen, Wien [u.a.], 1762, 44. Beachte aber auch die den negativen Gebrauch der Übung hervorhebende Definition bei Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, Aalen, 1973, Bd. 1, Sp. 1611: „gute Vorsätze fassen, was freylich oft durch eine bloße Gebetformel abgethan ist.“ 119 Vgl. Joseph Pergmayr, Geistreiche Lesungen und gründliche Unterweisungen, Augsburg, 1784, 234f. <?page no="131"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 121 ten. Strukturell deshalb, weil es sich dabei um zueinander parallel stehende Akte des persönlichen Gebets handelt. Inhaltlich deshalb, weil in ihnen das tägliche Streben nach Reinheit zum Ausdruck kommt. 120 Erläuterung: GRGB = die durch die Jahreszahl bezeichneten Auflagen des großen Gebetbuchs. klGB = die durch die Jahreszahl bezeichneten Auflagen des kleinen Gebetbuchs. = es fehlen ein oder mehrere Wörter der vorhergehenden Version. ___ = Neu hinzugekommene Wörter oder ganz veränderte Sätze gegenüber der jeweils vorhergehenden Version. Um die Übersicht über den Text beim Studieren der Synopse zu behalten sei dieser hier zunächst im Zusammenhang seiner letzten Fassung zitiert: „Erweckung guter Gesinnungen in den Morgenstunden, oder wie man es nennet: Die gute Meinung Es ist Dein Wille, Vater! daß ich mich von aller Sünde unbefleckt bewahren, und in allem Guten üben solle. Dein Wille ist - - meine Heiligkeit. Es ist Dein Wille, daß ich in Heiligung Dir immer ähnlicher, vor Deinem Auge immer reiner, in Gesinnung und That Dir immer wohlgefälliger werden möge. Ich habe in mir schon oft ein lebendiges Verlangen empfunden, daß doch dieser Dein Wille an mir in Erfüllung gehen möchte und ich erneuere heute wieder den ernsten Vorsatz, mit allem Fleiße darnach zu streben. O! wie froh könnte ich, wie dankbar wollte ich seyn, wenn alle meine Gedanken, Wünsche, Reden und Handlungen heute und allezeit so beschaffen wären, daß ich sie alle vor Deinem Angesicht, ohne Furcht und Scham dürfte sehen lassen. Ganz gewiß würde ich auch an der Herrlichkeit Deines Sohnes Jesu Christi einst Theil nehmen, wenn ich jetzt nach seiner Lehre und seinem Beispiele, und im Triebe seines guten Geistes all mein Thun und Lassen einrichtete. Das sey also auch heute mein einziges Bemühen, alles zu Deiner Ehre, Vater! alles im Namen Jesu Christi zu verrichten. Das sey mein fester Entschluß: Ich will nur das denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle würde gehandelt und gelitten haben; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; ich will nicht zufrieden seyn öfters mit dem Munde zu sprechen: Alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Gesinnungen lebendig, in allen meinen Geschäften wirksam zeigen; ich will nach ihm meine ganze Denkungs- und Lebensart einrichten; ich will denken, reden, wünschen, handeln, leiden, schweigen, wie ein Jünger (Jüngerin) Jesu Christi denken, reden, wünschen, handeln, leiden, schweigen soll. Dieses will ich, so sehr sich meine sinnliche Natur dagegen sträubt; dieses will ich, so unmöglich es mir scheinen mag; dieses will ich, wenn ich gleich meine Gebrechlichkeit aus unzähligen Erfahrungen kenne, und diese Gebrechlichkeit mich nichts Gutes hoffen läßt; dieses will ich, wenn 120 S. auch Joseph Pergmayr, Geistliche Grundsätze und verschiedene Unterrichte, Augsburg, 1794, 6. Einen systematischen Überblick bietet Otto Zimmermann, Lehrbuch der Aszetik, Freiburg [u.a.], 1929, 171ff. <?page no="132"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 122 ich gleich den stärksten Feind alles Guten, den Eigenwillen, der, gegen Deinen heiligen Willen in Aufruhr begriffen, alles Gute hemmt und beflecket, in mir habe; dieses will ich, wenn ich gleich das Vollbringen - in mir nicht finden kann. Vater! Du gabst mir das Wollen: gieb mir auch das Vollbringen. Vater! stärke Du mich, daß ich diesem Vorsatze getreu bleibe; leite Du mich, daß ich wider die Lüste der sinnlichen Natur kämpfen, und den Eigenwillen, der alles Gute anfeindet, überwinden lerne; stärke Du den schwachen, gebrechlichen Willen, daß er den Versuchungen zur Sünde nicht unterliege; regiere Du mich, daß ich mich am Abende freuen, und Dir herzlich danken könne, einen Tag so gelebt zu haben, wie ein wahrer Christ leben kann und leben soll. Dazu verleihe mir Deine Gnade, Vater! durch Jesum Christum, Deinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn und Heiland. Amen 121 “ Abschnitt 1 GRGB 1783 klGB 1785 klGB 1787 bis 1789 = GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 bis 1818 klGB 1831 Gute Meinung Gute Meynung Entschliessung vor Gott, oder wie man es sonst nennet, die gute Meynung Erweckung guter Gesinnungen in den Morgenstunden oder wie man es nennet: Die gute Meinung Abschnitt 2 GRGB 1783 Vater, du hast mich erschaffen, darum durch deinen Sohn, unsern Herrn Jesu Christum an Kindesstatt angenommen, darum mir Kindernamen und Kinderrecht gegeben, daß ich in dem zukünftigen Leben die ewige Seligkeit erlangen, und mich in diesem Leben zu dieser Seligkeit tauglich machen sollte. Abschnitt 3 GRGB 1783 =GRGB 1832 ( 1789) klGB 1785 klGB 1787 bis 1831 Es ist dein ernstlicher Wille, Vater! daß ich mich von aller Sünde rein und unbefleckt bewahren, und in allem Guten üben sollte, Es ist dein Wille, Vater! daß ich mich von aller Sünd’ unbefleckt bewahren, und in allem Guten üben sollte, Es ist dein Wille, Vater! daß ich mich von aller Sünde unbefleckt bewahren, und in allem Guten üben sollte. 121 Sailer, SW, 22, 4ff. <?page no="133"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 123 Abschnitt 4 GRGB 1783 = klGB 1785 bis 1789 GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 klGB 1814 bis 1831 weil ich nur dadurch glückselig werden kann. und dadurch glückselig werden sollte Es ist Dein Wille, daß ich Dir immer ähnlicher, vor Deinem Auge immer reiner, immer heiliger und seliger werden möchte. Dein Wille ist - - meine Heiligung. Es ist Dein Wille, daß ich in Heiligkeit Dir immer ähnlicher, vor Deinem Auge immer reiner, in Gesinnung und That Dir immer gefälliger werden möchte. Abschnitt 5 GRGB 1783 klGB 1785 bis 1789 GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 bis 1831 Ich habe in mir schon oft ein lebendiges Verlangen empfunden, dieß mein letztes Ziel zu erreichen: Ich hab in mir auch schon oft ein lebendiges Verlangen empfunden, diesen deinen Willen an mir zu erfüllen: Ich habe in mir schon oft ein lebendiges Verlangen empfunden, dieß mein letztes Ziel stets im Auge zu behalten, und darnach mit allem Fleiße zu trachten: Ich habe in mir schon oft ein lebendiges Verlangen empfunden, daß doch dieser Dein Wille an mir in Erfüllung gehen möchte und Abschnitt 6 GRGB 1783 = klGB 1789 GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 bis 1831 ich erneure heute wieder den kräftigen Vorsatz, mit allem Fleiß darnach zu streben. - ich erneuere heut wieder den kräftigen Vorsatz, mit lebendigem Eifer darnach zu streben. ich erneuere heut wieder den ernsten Vorsatz, mit allem Fleiße darnach zu streben. <?page no="134"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 124 Abschnitt 7 122 GRGB 1783 klGB 1785 bis 1789 GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 bis 1818 klGB 1831 O, wie glückselig wäre ich, wenn alle meine Gedanken, Wort und Werke heut und allezeit so beschaffen wären, daß ich mit jedem Augenblicke zu dem letzten und ersten Ziele meines Hierseyns auf Erden, näher hinzurückte! Ganz gewiß werde ich einst an der Herrlichkeit Jesu Christi Theil nehmen, wenn ich itzt nach der Lehre und dem Beispiel Jesu Christi O! wie glückselig wär’ ich, wenn alle meine Gedanken und Wünsche, Reden und Handlungen heut und allezeit so beschaffen wären, daß ich sie alle vor deinem Angesicht, ohne Furcht und Scham dürfte sehen lassen. Ganz gewiß werde ich einst an der Herrlichkeit deines Sohnes Jesu Christi Theil nehmen, wenn ich itzt nach der Lehre und dem Beispiel Jesu Christi O, wie ein anderer Mensch müßte ich seyn, wenn alle meine Gedanken, Wort’ und Werke heut und allezeit so beschaffen wären, daß ich mit jedem Augenblicke zu dem letzten und ersten Ziele meines Hierseyns auf Erden, näher hinzurückte! Ganz gewiß werde ich einst an der Herrlichkeit Jesu Christi Theil nehmen, wenn ich jetzt nach der Lehre und dem Beispiel Jesu Christi O! wie froh könnte ich, wie dankbar wollte ich seyn, wenn alle meine Gedanken und Wünsche, Reden und Handlungen heut und allezeit 122 so beschaffen wären, daß ich sie alle vor Deinem Angesicht, ohne Furcht und Scham dürfte sehen lassen! Ganz gewiß werde ich auch an der Herrlichkeit deines Sohnes Jesu Christi einst Theil nehmen, wenn ich itzt nach seiner Lehre und seinem Beispiel O! wie froh könnte ich, wie dankbar wollte ich seyn, wenn alle meine Gedanken, Wünsche, Reden und Handlungen heute und allezeit so beschaffen wären, daß ich sie alle vor Deinem Angesicht, ohne Furcht und Scham dürfte sehen lassen. Ganz gewiß würde ich auch an der Herrlichkeit Deines Sohnes Jesu Christi einst Theil nehmen, wenn ich jetzt nach seiner Lehre und seinem Beispiele, und im Triebe seines guten Geistes 122 1814-1818 „immer so“ statt „allezeit“. <?page no="135"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 125 all mein Thun und Lassen einrichte. all mein Thun und Lassen einrichte. all mein Thun und Lassen einrichte. Ganz gewiß werde ich einst glückselig werden, wenn ich jetzt darnach strebe, gut, rein, heilig zu seyn. all mein Thun und Lassen einrichte. all mein Thun und Lassen einrichtete. Abschnitt 8 GRGB 1783 bis klGB 1789 GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 klGB 1814 bis 1831 Das sey also auch heute mein einziges Geschäfft, daß ich alles zur Ehre Gottes, alles im Namen Jesu Christi verrichte. Das sey mein ernstlicher, einziger, ewiger Vorsatz. Das sey also auch heute mein einziges Geschäft, daß ich alles zur Ehre Gottes, alles im Namen Jesu Christi verrichte. Das sey mein ernstlicher, einziger, ewiger Vorsatz, gut, rein, heilig zu werden, wie Jesus Christus war. Das sey also auch heut mein einziges Bemühen, alles zur Ehre Gottes, alles im Namen Jesu Christi zu verrichten. Das sey mein fester Entschluß: Das sey also auch heute mein einziges Bemühen, Alles zu Deiner Ehre, Vater! alles im Namen Jesu Christi zu verrichten. Das sey mein fester Entschluß: Abschnitt 9 GRGB 1783 klGB 1785 = 1789 GRGB 1832 ( 1789) klGB 1793 klGB 1814 bis 1818 klGB 1831 Ich will denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner Ich will denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner Ich will denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner Ich will denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner Ich will nur Das und nur so denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner Ich will nur das denken und wünschen, was und wie Jesus Christus an meiner <?page no="136"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 126 Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle gehandelt und gelitten haben würde; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; ich will reden und schweigen, Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle gehandelt und gelitten haben würde; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle gehandelt und gelitten haben würde; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; ich will reden und schweigen, Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle gehandelt und gelitten haben würde; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle gehandelt und gelitten haben würde; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; Stelle gedacht und gewünscht haben würde; ich will arbeiten und beten, wie Jesus Christus an meiner Stelle gearbeitet und gebetet haben würde; ich will handeln und leiden wie Jesus Christus an meiner Stelle würde gehandelt und gelitten haben ; ich will alle meine Geschäfte anfangen, fortsetzen und vollenden, wie sie Jesus Christus an meiner Stelle angefangen, fortgesetzt und vollendet haben würde; <?page no="137"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 127 essen und trinken, wie Jesus Christus an meiner Stelle würde geredet, geschwiegen gegessen und getrunken haben; ich will nicht zufrieden seyn, öfters mit dem Munde zu sprechen: alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Geschäften lebendig und wirksam zeigen; ich will nach ihm meine Denkens- und Lebensart einrichten; ich will denken, reden wünschen, handeln, leiden, ich will nicht zufrieden seyn, öfters mit dem Munde zu sprechen: alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Geschäften lebendig und wirksam zeigen; ich will nach ihm meine Denkens- und Lebensart einrichten; ich will denken, reden, wünschen, handeln, leiden, wie Jesus Christus an meiner Stelle würde geredet und geschwiegen haben; ich will nicht zufrieden seyn, öfters mit dem Munde zu sprechen: Alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Geschäften lebendig und wirksam zeigen; ich will nach ihm meine Denkens- und Lebensart einrichten; ich will denken, reden wünschen, handeln, leiden, ich will nicht zufrieden seyn, öfters mit dem Munde zu sprechen: Alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Geschäften wirksam zeigen; ich will nach ihm meine ganze Denkens- und Lebensart einrichten; ich will denken, wünschen, handeln, leiden, reden, ich will nicht zufrieden seyn, öfters mit dem Munde zu sprechen: Alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Gesinnungen lebendig, in allen meinen Geschäften wirksam zeigen; ich will nach ihm meine ganze Denkens- und Lebensart einrichten; ich will denken, wünschen, handeln, leiden, reden, ich will nicht zufrieden seyn öfters mit dem Munde zu sprechen: Alles zur Ehre Gottes; ich will diesen Denkspruch in allen meinen Gesinnungen lebendig, in allen meinen Geschäften wirksam zeigen; ich will nach ihm meine ganze Denkungs- und Lebensart einrichten; ich will denken, reden, wünschen, handeln, leiden, <?page no="138"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 128 schweigen, wie ein Jünger (Jüngerinn) Jesu Christi denken, reden, wünschen, handeln, leiden, schweigen soll. schweigen, wie ein Jünger (Jüngerinn) Jesu Christi denken, reden, wünschen, handeln, leiden, schweigen soll. schweigen, wie ein Jünger (Jüngerinn) Jesu Christi denken, reden, wünschen, handeln, leiden, schweigen soll. schweigen, wie ein Jünger (Jüngerinn) Jesu Christi denken, wünschen, handeln, leiden, reden, schweigen soll. schweigen, wie ein Jünger (Jüngerinn) Jesu Christi denken, wünschen, handeln, leiden, reden, schweigen soll. schweigen, wie ein Jünger (Jüngerinn) Jesu Christi denken, reden, wünschen, handeln, leiden, schweigen soll. Abschnitt 10 klGB 1793 klGB 1814 klGB 1816 klGB 1831 Dieses will ich, so sehr sich meine sinnliche Natur dagegen sträubt; dieses will ich, so unmöglich es mir scheinen mag; dieses will ich, wenn ich gleich bisher gegen meine kräftigsten Vorsätze gehandelt habe; dieses will ich, wenn ich gleich meine Gebrechlichkeit aus unzähligen Erfahrungen kenne, und diese Gebrechlichkeit mich nichts Gutes hoffen läßt; dieses will ich, wenn ich gleich den stärksten Feind alles Guten, die Eigenliebe Dieses will ich, so sehr sich meine sinnliche Natur dagegen sträubt; dieses will ich, so unmöglich es mir scheinen mag; dieses will ich, wenn ich gleich bisher gegen meine kräftigsten Vorsätze gehandelt habe; dieses will ich, wenn ich gleich meine Gebrechlichkeit aus unzähligen Erfahrungen kenne, und diese Gebrechlichkeit mich nichts Gutes hoffen läßt; dieses will ich, wenn ich gleich den stärksten Feind alles Guten, die Eigenliebe[,] die Dieses will ich, so sehr sich meine sinnliche Natur dagegen sträubt; dieses will ich, so unmöglich es mir scheinen mag; dieses will ich, wenn ich gleich bisher gegen meine kräftigsten Vorsätze gehandelt habe; dieses will ich, wenn ich gleich meine Gebrechlichkeit aus unzähligen Erfahrungen kenne, und diese Gebrechlichkeit mich nichts Gutes hoffen läßt; dieses will ich, wenn ich gleich den stärksten Feind alles Guten, den Eigenwillen, der, gegen Deinen heiligen Willen in Dieses will ich, so sehr sich meine sinnliche Natur dagegen sträubt; dieses will ich, so unmöglich es mir scheinen mag; dieses will ich, wenn ich gleich meine Gebrechlichkeit aus unzähligen Erfahrungen kenne, und diese Gebrechlichkeit mich nichts Gutes hoffen läßt; dieses will ich, wenn ich gleich den stärksten Feind alles Guten, den Eigenwillen, der, gegen Deinen heiligen Willen in <?page no="139"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 129 in mir habe; dieses will ich, wenn ich gleich das Vollbringen - in mir nicht finden kann. alles Gute hemmt und beflecket, in mir habe; dieses will ich, wenn ich gleich das Vollbringen - in mir nicht finden kann. Aufruhr begriffen, alles Gute hemmt und beflecket, in mir habe; dieses will ich, wenn ich gleich das Vollbringen - in mir nicht finden kann. Aufruhr begriffen, alles Gute hemmt und beflecket, in mir habe; dieses will ich, wenn ich gleich das Vollbringen - in mir nicht finden kann. Abschnitt 11 GRGB 1783 bis klGB 1789 klGB 1793 klGB 1814 klGB 1816 klGB 1831 Herr Jesu, stärke mich, daß ich diesem Vorsatz getreu bleibe; leite mich, Vater! Du gabst mir das Wollen: gieb mir auch das Vollbringen. Vater! stärke Du mich, daß ich diesem Vorsatze getreu bleibe; leite Du mich, daß ich wider die Lüste der sinnlichen Natur kämpfen, und die Eigenliebe, die alles Gute befleckt, überwinden lerne; stärke Du den schwachen, gebrechlichen Willen, daß er den Versuchungen zur Sünde nicht unterliege; regiere Du Vater! Du gabst mir das Wollen: gieb mir auch das Vollbringen. Vater! stärke Du mich, daß ich diesem Vorsatze getreu bleibe; leite Du mich, daß ich wider die Lüste der sinnlichen Natur kämpfen, und die Eigenliebe, die alles Gute anfeindet, überwinden lerne; stärke Du den schwachen, gebrechlichen Willen, daß er den Versuchungen zur Sünde nicht unterliege; regiere Du Vater! Du gabst mir das Wollen: gieb mir auch das Vollbringen. Vater! stärke Du mich, daß ich diesem Vorsatze getreu bleibe; leite Du mich, daß ich wider die Lüste der sinnlichen Natur kämpfen und den Eigenwillen, der alles Gute anfeindet, überwinden lerne; stärke Du den schwachen, gebrechlichen Willen, daß er den Versuchungen zur Sünde nicht unterliege; regiere Du Vater! Du gabst mir das Wollen: gieb mir auch das Vollbringen. Vater! stärke Du mich, daß ich diesem Vorsatze getreu bleibe; leite Du mich, daß ich wider die Lüste der sinnlichen Natur kämpfen, und den Eigenwillen, der alles Gute anfeindet, überwinden lerne; stärke Du den schwachen, gebrechlichen Willen, daß er den Versuchungen zur Sünde nicht unterliege; regiere Du <?page no="140"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 130 daß ich mich am Abend freuen, und Dir herzlich danken könne, einen Tag so gelebt zu haben, wie ein wahrer Jünger 123 Jesu Christi leben kann und leben soll. mich, daß ich mich am Abende freuen, und Dir herzlich danken könne, einen Tag so gelebt zu haben, wie ein wahrer Jünger (Jüngerinn) Jesu leben kann und leben soll. mich, daß ich mich am Abende freuen, und Dir herzlich danken könne, einen Tag so gelebt zu haben, wie ein wahrer Jünger (Jüngerinn) Jesu leben kann und leben soll. mich, daß ich mich am Abende freuen, und Dir herzlich danken könne, einen Tag so gelebt zu haben, wie ein wahrer Jünger (Jüngerinn) Jesu leben kann und leben soll. mich, daß ich mich am Abende freuen, und Dir herzlich danken könne, einen Tag so gelebt zu haben, wie ein wahrer Christ leben kann und leben soll. Dazu verleihe mir Deine Gnade, Vater! durch Jesum Christum, Deinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn und Heiland. Amen 123 Abschnitt 1: Das, was bis 1789 „Gute Meinung“ genannt und als solche bekannt und geschätzt wurde, reicht Sailer 1793 nicht mehr aus. Er formuliert nun dringlicher und nennt die Übung eine feierliche Entschließung. Diese erhält ihren Ton aus der Kampfansage an das Böse - so wird man mit Blick auf die weitere Revision des Textes sagen können. Abschnitt 2: Es fällt auf, dass der längere Vorspann von 1783 in die erste Ausgabe des kleinen Gebetbuchs nicht übernommen wurde. Die Kürzung vollzog auch schon die zweite Auflage des großen Gebetbuchs, das zur selben Zeit erschien wie die erste Auflage des kleinen (was in der Übersicht nicht dokumentiert werden konnte 124 ). Die Fassung von 1783 ist ganz von der vertrauensvollen Vater-Kind- Sprache her geprägt (an Kindesstatt, Kinderrecht, Kindernamen), ohne dass diese Beziehung allerdings frei wäre von der zu Anfang des Kapitels bereits erwähnten Tendenz zur Verzweckung personaler Beziehungen: Der Mensch wird weniger als Geschöpf Gottes angesehen, das dazu da ist, seinen Schöpfer zu verehren, sondern 123 klGB Zusatz: (Jüngerinn). 124 Sailer, Lese- und Gebetbuch, 1785, Bd. 1, 64f. Der Text des kleinen Gebetbuchs von 1785 ist allerdings mit dem des großen nicht identisch. <?page no="141"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 131 sich bestrebt glückselig zu werden. Eine Abkehr davon könnte man in der 1785 erfolgten Weglassung erkennen. Es ist aber auch möglich, diese einfach als Kürzungen zu verstehen. Die Streichung wäre dann, weniger planvoll, das Ergebnis einer Straffung. Abschnitt 3: Auch hier wird gestrafft: Bemüht um größere Schlichtheit scheinen Sailer die Adjektive am ehesten verzichtbar. Bei „Sünd’“ handelt es sich um eine der oben schon bemerkten Weglassungen der e-Endungen beim Dativ 125 . Die Synopse zeigt, dass diese schon ab 1787 wieder rückgängig gemacht wurden. Auch später kommt er darauf nicht mehr zurück. Abschnitt 4: Ab den ersten Korrekturen scheinen die Texte des großen und des kleinen Gebetbuchs nicht mehr miteinander zusammenzuhängen. Wenn in dem einen etwas verbessert, berichtigt oder gestrichen wurde, galt dies schon 1789 nicht mehr unbedingt für das andere. Die dritte Auflage des kleinen Gebetbuchs von 1789 folgt jedenfalls stets ihren Vorgängerinnen und hat mit den Änderungen der neuen Auflage des großen Gebetbuchs aus dem gleichen Jahr nichts mehr zu tun. Danach hat Sailer keine Änderungen mehr für das große Gebetbuch unternommen. 1793 erkennen wir endgültig eine entschiedene Abkehr vom eudämonistischen Denken. Gleich zu Beginn des siebten Abschnitts heißt es, statt wie bisher „O! wie glückselig wäre ich […]“ nun „O! wie froh könnte ich […] seyn“. Dasselbe gilt auch für die Umarbeitung des vierten Abschnitts, der zunächst nur ein Halbsatz war. Jetzt lautet er: „Es ist Dein Wille, daß ich Dir immer ähnlicher, vor Deinem Auge immer reiner, immer heiliger und seliger werden möchte.“ Noch klingt das alte Denken eines strebsamen Hinzutretens auf die erhoffte Glückseligkeit an, doch steht es schon ganz in der Gewinnung einer erneuerten Sicht auf das letzte Ziel unseres Daseins (beachte darum die Reduktion von „glückselig“ auf „selig“). Schritt für Schritt lässt sich bei Sailer beobachten, wie der Gedanke Gestalt wurde, wir seien geschaffen, um den Willen Gottes zu tun, um unseren Willen in seine Hand zu übergeben, um den Eigenwillen hintanzusetzen und um ihm so immer ähnlicher zu werden. Ähnlich sein zu wollen, aber hängt wesentlich mit der Vorstellung eines Bildes von Gott zusammen, besser: eines Gesichtes, das angesehen werden kann und das selbst ansieht. Immer wieder bemüht sich Sailer, in seinen Betrachtungen Gott bildhaft zu beschreiben. „Vor deinem Angesicht“, „vor deinem Auge“, „mich sehen lassen“ sind darum Formulierungen, die sich ab den 1790er Jahren verstärkt in Sailers Gebetstexten finden. Abschnitt 5: In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Umformulierung ab 1793 bemerkenswert. 1783 hieß es: „mein letztes Ziel“. Das wird schon 1785 in die aktive Verbalwendung „Ich hab in mir auch schon oft ein lebendiges Verlangen empfunden, deinen Willen an mir zu erfüllen“ verändert. 1793 aber wendet sich der Satz nochmals, indem er ins Passiv gekehrt wird und damit den Gedanken 125 S. o. S. 115. <?page no="142"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 132 gleichsam grammatikalisch figuriert: Gottes Willen kann man weder aus eigener Kraft erkennen, noch in Eigenmächtigkeit danach handeln, wenn Gott nicht den Menschen dazu begnadet. Der Beter bittet darum, dass der Wille Gottes an ihm in Erfüllung gehen möchte und sieht sich so in der Nachfolge seines Herrn, der die Jünger unterwiesen hat, zu beten. Seine Unterweisung aber hat er selbst gelebt, indem er den Willen seines Vaters geschehen ließ. Wiederum fügt sich die Änderung des großen Gebetbuchs von 1789 nicht in diese Linie ein und verbleibt eher bei dem, was in dessen ersten Auflage vorgegeben wurde. Abschnitt 6: Die Änderungen sind stilistisch bedingt und wenig bedeutend. Abschnitt 7: Ab 1793 wird die Dankbarkeit gegen Gott eingefügt. Die dritte Auflage des großen Gebetbuchs von 1789 nennt, die Fassung von 1783 verstärkend, nochmals in sicherer Klarheit, den Sinn des Strebens nach Heiligkeit: die eigene Glückseligkeit („ganz gewiß werde ich einst glückselig werden“). Das ist weit entfernt von der „guten Meinung“ im Sinn Pergmayrs, dem es „pur allein“ um den Willen Gottes zu tun war. Ab 1793 werden solche Gedanken hingegen nach und nach zurückgedrängt. 1831 kommt zum ersten Mal auch der Heilige Geist als zur Heiligung wirksame Kraft in den Blick. Nicht nur das Beispiel Christi lehrt ihm nachzufolgen, sondern die Nachfolge geschieht nun „im Triebe seines Geistes“. Abschnitt 8: Aus dem „Vorsatz“ wird, diesen verstärkend, ab 1793 der „Entschluss“. Abschnitt 9: Mit der Formulierung „Das und nur das“ wird diese strengere Tendenz ab 1814 intensiviert. Im übrigen ist der Text bis auf kleinere Änderungen der alte geblieben. Abschnitt 10: findet sich erst ab 1793. Hier wird nochmals der Wille zur Durchführung des Entschlusses gleichsam beschworen, in dem er den inneren Widerständen gegenübergestellt wird. Diese werden schrittweise 1814 und 1816 immer mehr als Kampfplatz erkennbar. 1814 wird die Eigenliebe beinahe teuflisch als diejenige charakterisiert, die „alles Gute hemmt und befleckt“, 1816 steigert sich die Aussage noch in diesem Sinn. Scharf wird der „Eigenwille“ dem vorangehenden „ich will“, das als Anbefehlung in den Willen Gottes gemeint war, gegenübergestellt. Und dieser Eigenwille - wohl noch mächtiger als die Eigenliebe - ist es, „der gegen Deinen heiligen Willen in Aufruhr begriffen“ ist. Diese Vorstellung des Lebens als Kampf und Bewährung fand schließlich ihre deutlichste Ausprägung im Vorwort zur Neubearbeitung des großen Gebetbuchs, wo nicht mehr nur die eigene Seele Schauplatz der Auseinandersetzung ist, sondern Teil eines großen Streites, in dem sich die Kirche ihrem Wesen nach befindet. „Hienieden ist die streitende, nach Heiligung ringende Kirche, die eben deswegen die streitende heißt, weil sie noch im heißen Widerstreite gegen Unwissenheit, Irrthum, Sünde, Tod und Hölle begriffen ist; hienieden ist das Reich Gottes noch im Kampfe mit der Finsternis“ 126 . 126 Sailer, SW, 23, XI. <?page no="143"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 133 Abschnitt 11, der wie der vorangehende Abschnitt dem Gedanken des geistlichen Kampfes verpflichtet ist, nähert sich ab 1793 mit dem Wechsel der Anrede von Jesus Christus zu Gott, dem Vater und der Wendung „Du gabst mir das Wollen: gieb mir auch das Vollbringen“ 127 der Form der Oration an. Deshalb scheint es nur konsequent, wenn das Gebet 1831 mit der doxologischen Formel „Dazu verleihe mir Deine Gnade, Vater! durch Jesum Christum, Deinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn und Heiland. Amen“ endet. Die Änderungen in der Fassung von 1793 dürften damit die wohl bedeutendsten sein, wird hier doch der Umschwung von der ehedem noch eudämonistisch geprägten Frömmigkeit deutlich. Sailer dringt zu der grundsätzlichen Erkenntnis vor, dass Glückseligkeit nicht im Bereich des Machbaren liegt, sondern diese, indem sie Gabe ist, Gnade voraussetzt. Die Sprache Sailers tendiert darum von diesem Zeitpunkt an mehr zu passivischen Formulierungen, wenn sie bittet. Das frühere Thema der Tugend wird dennoch nicht marginalisiert. Gerade sie erhält aber in der Zeit um 1814 und 1816 einen neuen Sinn, indem sie als Streben nach Reinheit und Heiligung nun nicht mehr gebrauchtes Mittel ist, durch welches sich Glückseligkeit gleichsam produzieren lässt, sondern die Seele dazu bereitet, Gnade zu empfangen. Sowohl durch die Querverbindung zum Vorwort für die Neubearbeitung des großen Gebetbuchs als auch durch die abschließende Doxologie fällt das stärkere kirchliche Bewusstsein Sailers gegen Ende seines Lebens ins Auge. Auffällig sind auch minimale Änderungen: So ändert Sailer im Abschnitt 7 „allezeit“ in „immer“, um dieses dann 1831 wieder in „allezeit“ umzuwandeln. Ein deutlicher Hinweis darauf, wie sehr Sailer an der gewissenhaften Überarbeitung seiner Texte gelegen war. I.1.7 Zum Teil völlig neu formuliert. Die Veränderungen waren 1814 abgeschlossen. 1785 mit „[…] ich bete dich an als meinen Herrn und Gott! “ auf das Bekenntnis des Thomas (Joh. 20,24-29) anspielend, ab 1814 dagegen eine Kardinalstelle des damaligen Gebetsverständnisses (Joh. 4, 24) evozierend: „Dir, dir allein gebührt alle Anbetung: darum bete ich dich im Geist und in der Wahrheit an.“ 128 Das ist schon allein deshalb richtiger, weil sich die Thomasstelle auf Christus bezog, hier aber ist von Gott allgemein und vom Vater im Besonderen die Rede. Die stilistische Änderung im ersten Absatz von „Anbetungswürdigster“ (1785) in: „Dir gebührt alle Anbetung“ zeigt, dass es dabei nicht nur um eine äußerlich „bessere“ Form geht, sondern um die Wahrheit der Rede. Der Superlativ klingt wie eine leere Formel, die man auf Gott immer anwenden kann. Die spätere Formulierung sagt in ruhigerem Ton mehr aus: Gott ist allein der, dem alle Anbetung zukommt. 129 Im zweiten Absatz heißt es von Jesus Christus, er sei derjenige, der „Dir gehorsamte bis zum Tode“. Ab 1814 verstärkt das unverhüllte Kerygma des Paulus den Satz: „bis zum Tod am Kreuze“. 127 Vgl. auch u. S. 149 den Kommentar zu III.1.5-8. 128 S. dazu u. S. 205-209. 129 Vgl. dazu auch o. S. 60f. das Morgengebet im Braunschen Gebetbuch. <?page no="144"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 134 Absatz 5: Ab 1814 tritt der Gedanke der Gottähnlichkeit auf. 1785: „Flehe ich zu Dir im Namen deines Sohnes.“ Dagegen 1814: „Darum will ich Dich, Vater, in Deinem Sohne lieben und ehren, sein Bild werden, wie Er dein Bild war“. I.2 Die heilige Messe SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2.-11. Aufl., Lentner 1787-1818 I.2.1 Gemüthsstimmung des Christen bei der heiligen Messe + + I.2.2 Selbstaufopferung bei der heiligen Messe + + I.2.3 Fromme Gedanken unter der heiligen Messe + + I.2.4 Andächtige Entschließungen unter der heiligen Messe + + I.2.5 Anbetung Gottes unter der Messe + + I.2.6 Anbetung Jesu Christi unter der Messe + + I.2.7 Heilsame Betrachtung des Leidens Christi unter der Messe + + I.2.8 Zur Erheiterung trübsinniger Gemüther unter der Messe - + Die Anordnung bot bis 1818 die Abendvor den Messgebeten. 1831 wurde die Reihenfolge dem Tagesablauf entsprechender vertauscht. Daraus auf eine Wiederannäherung an die vorangehenden Gebetbücher zu schließen, für die diese Anordnung gebräuchlicher war, erscheint nicht zwingend. I.2.1 Gekürzte und im zweiten Teil umgearbeitete Fassung des Stücks „Von der einzigen wahren Weise, der heiligen Messe nützlich beizuwohnen“ aus dem großen Gebetbuch. Zu den zwei nun schon öfter bemerkten Gedankenreihen: Die Vergegenwärtigung des Leidensweges und des Sterbens Jesu auf Golgata sowie die Selbstaufopferung des Gläubigen s. bereits oben zum Ersten Band, zweiter und dritter Abschnitt. Der Text wurde 1831 nochmals bedeutend gekürzt und stilistisch verändert. Dadurch nimmt ihm Sailer das ihm eignende Einschärfende und gibt dem Ganzen einen mehr nachdenkenden Ton. Auch wurden weitere Ausführungen der früheren Fassungen als redundant erkannt und gestrichen. Zur besseren Übersichtlichkeit wird der Text 1831 nach dem ersten Abschnitt über die Selbstaufopferung unterbrochen und das folgende Gebet (jetzt I.2.2), in das er früher gemündet war, nun mit einer Überschrift versehen. I.2.2 Seit 1831 nur noch Gebet ohne nachfolgende Appelle darüber, wie das „Meßhören“ nützen und den Menschen bessern soll. Diese wurden ersatzlos gestrichen. Die vor allem 1831 entschieden betriebene Straffung und stilistische Umarbeitung von I.2.1 und I.2.2 erlaubt wohl den Rückschluss, auch die Neufas- <?page no="145"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 135 sung des großen Gebetbuchs hätte den ursprünglichen Text so nicht mehr stehen lassen und einen anderen Ton anzuschlagen versucht. Die Gedanken wären aber wohl beibehalten worden. I.2.3 1785: Die sechs Nummern der „Empfindungen des Christen unter der Messe“ wurden vollständig aus dem großen Gebetbuch übernommen. 1831 blieben davon nur noch die ersten vier stehen (aber siehe I.2.4). Diese Nummern weisen in der Neubearbeitung wenige aber signifikante Hinzufügungen auf: Nr. 2: „Wie lieb müssen ihm die Menschen, deine Kinder, die Irregegangenen seyn! “ statt „Wie lieb müssen ihm die Menschen, deine Kinder gewesen seyn! “; Nr. 3: bis 1816: „Er opfert sich für uns nach deinem Wohlgefallen. Wer kann den Abgrund dieser Liebe fassen? “ (der Text des großen Gebetbuchs wurde hier um einen Hinweis auf den „ewigen, höchsten Priester“ gekürzt) 1831: „Er opfert sich für uns nach deinem Wohlgefallen: wer kann den Abgrund dieser Liebe ergründen? Anbeten, schweigen, glauben, lieben können wir, - ergründen können wir die unendliche Liebe nicht.“; Nr. 4: auch hier wurde bei der Kürzung vom großen zum kleinen Gebetbuch der hohepriesterliche Gedanke gestrichen. Auch bei der Neubearbeitung von 1831 fand er keine Wiederaufnahme. Hielt ihn Sailer für zu theologisch und einem einfachen Leserkreis nicht zumutbar? I.2.4 1831 dem Vorangehenden ausgegliedert und als eigenes Gebet hervorgehoben. Der Neubearbeitung wurde hinzugefügt: „… weil Du die Liebe selbst bist, die heiligste Liebe, weil Du aller Liebe werth bist.“. Auch wurde die frühere Formulierung: „ich will durch ihn Erlösung von allem Übel erwarten, weil Er die Sünden der Welt hinweggenommen“ 1831 in: „ich will durch ihn Erlösung von allen Sünden erwarten, weil Er es ist, der die Sünden der Welt hinwegnimmt“ geändert. Früher wurde deutlicher auf das Vaterunser angespielt. Indem der Satz aus dem Agnus Dei im Perfekt formuliert wurde, zielte er mehr auf die Betrachtung des zeitlich entfernten Geschehens auf Golgata. Durch die Neubearbeitung geht der Bezug eindeutig auf das Lamm Gottes, welches auch jetzt noch die Sünden hinwegnimmt. Die Gegenwärtigkeit des Tuns während der Messe kommt nun besser in den Blick. Ab 1793 werden die nachfolgenden Verse „Bey der Consecration“ gestrichen. I.2.5 und I.2.6 Nur kleine stilistische Veränderungen. Zum Thema Anbetung s. S. 194ff. I.2.7 Die Neubearbeitung verlängerte den Text: „Und damit wir ja nie Deines Todes vergessen könnten, hast Du uns ein unvergeßliches Denkmal desselben in dem Sakramente des Altars hinterlassen. Heute, jetzt will ich in mir das Andenken dieses Deines Sterbens erneuern. Meine ganze Seele sey dem Gedächtnisse Deines Todes geweiht! “ Das Geschehen ist nun stärker auf das Sakrament bezogen. Es bleibt aber vorwiegend beim Gedächtnis des Todes (und nicht der Auferstehung). <?page no="146"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 136 I.2.8 Der Text wurde 1787 für das kleine Gebetbuch eigens verfasst. Er taucht auch in der dritten Auflage des großen Gebetbuchs nicht auf. Im Lauf der Zeit wurde er leicht erweitert. Sailer spricht hier vom Vertrauen auf die eucharistische Speise, die auch von Gewissensbissen befreien soll. I.3 Übungen der Andacht während des Tages SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 I.3.1 Bei erregtem Andenken an die Heiligen Gottes - I.3.2 Beim Stundenschlage - I.3.3 Beim Mittagläuten - 1831 neu geschrieben. I.3.1 Im Stil einer Oration formuliert. Das Gedächtnis der Heiligen zielt auf deren Beispiele, also auf die Vergangenheit, die dem heute Lebenden nurmehr Ansporn, nicht aber Gegenwart bedeuten kann. Wohl wird deren Fürbitte erwähnt. Welcher Notwendigkeit diese entspringt, ist allerdings nicht erkennbar. Gegenüber seinen Grundsatzbetrachtungen zur Heiligenverehrung 130 wird das Motiv des Glaubenskampfs stark betont. I.3.2 Das Erinnern der Vergänglichkeit soll den ermüdenden Geist mit Ernst beleben. I.3.3 „Dreimal am Tage werde ich durch das Zeichen der Glocke an die Menschwerdung des göttlichen Sohnes im Schooße der heiligen Jungfrau Maria erinnert“. Das Gebet setzt die Praxis des Angelus-Domini-Gebets voraus. I.4 Abendandacht SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 I.4.1 Gebet vor der Gewissenserforschung - I.4.2 Gewissenserforschung an jedem Abend: Habe ich nichts Böses getan? + I.4.3 Gewissenserforschung an jedem Abend: Habe ich Gutes getan? + I.4.4 Gebet vor dem Schlafengehen + I.4.5 Vor dem Einschlummern an Jesus Christus - I.4.2 bzw. I.4.3 waren vor 1831 dem eröffnenden Gebet I.4.4 gefolgt. Neu war, dass das Gebet vor der Gewissenserforschung sich an den Heiligen Geist richtete: 130 S. oben den Kommentar auf S. 112 und unten S. 162 zu V.1.1. <?page no="147"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 137 Eine Bitte um Erleuchtung, damit man alle Sünden und Fehler des Tages erkenne. So hat das Abendgebet bei Sailer wieder die Form des ignatianischen Examens erhalten. 131 Morgen- und Abendgebet gedenken nun merklich des Heiligen Geistes. 132 Neu sind ebenfalls die Verse vor dem Einschlummern. Kindliches Vertrauen auf Jesus Christus (! ) wird hier in einem Stil ausgedrückt, wie wir ihn aus Luise Hensels Gedicht „Müde bin ich geh zur Ruh’“ kennen, ausgedrückt 133 . Sailers positives Verhältnis zur Romantik kommt hier deutlich zum Ausdruck. I.5 Andachtsübungen für jeden Tag SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1. - 11. Aufl., Lentner 1785-1818 I.5.1 Am Sonntage - I.5.2 Am Mondtage - I.5.3 Am Dienstage - I.5.4 Am Mittwochen - I.5.5 Am Donnerstage - I.5.6 Am Freitage - I.5.7 Am Samstage - Die Texte wurden ganz neu für die Ausgabe 1831 aufgenommen. Sie sind erstens, da es sich um Gebete Taulers handelt, Zeugnisse für die anhaltende Beschäftigung Sailers mit der Mystik (mehr dazu im folgenden Kapitel). Zweitens dokumentieren sie Sailers schrittweise Wiedergewinnung der Tages- und Wochenheiligung, wovon oben schon öfter die Rede war. Aus den Texten spricht eine innige Verbindung zu Gott und Jesus Christus und die Suche nach dessen Barmherzigkeit. Eine gezielte thematische Zuordnung, wie dies früher üblich war, ist nicht erkennbar. I.6 Das Ende der Woche SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2.-11. Aufl., Lentner 1787-1818 I.6.1 Vergegenwärtigung des Todes, wenn die Woche zu Ende geht - + I.6.2 Gebet am Schlusse der Woche + + 131 Vgl. Otto Zimmermann, Aszetik, Freiburg u.a., 1929, 118. 132 Vgl. S. 136 zu I.1.3. 133 Vgl. dazu Jürgen Henkys, Müde bin ich geh zur Ruh. In: Geistliches Wunderhorn, München, 2001, 401-407. Allgemein zur Person beachte den Aufsatz von Josef Schreier, Luise Hensel. In: Aachener machen Geschichte, Aachen, 1998, Bd. 2, 51-59. <?page no="148"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 138 I.6.1 1831 Reihenfolge mit I.6.2 vertauscht. Der Text wurde für die Neuausgabe revidiert. Die wichtigsten Änderungen: 1831 heißt es: „Kannst du vor deinem Gott bestehen, / Vor Ihm, der heilig, heilig ist? / Dem Richter in das Antlitz sehen, / Der in des Herzens Tiefen liest? “ während der Vers bisher lautete: „Wirst du vor deinem Gott bestehen, / Vor Ihm, der heilig, heilig ist? / Scheust du dich nicht, den anzusehen? Durch den du wurdest, was du bist? “. 1831: „Leicht zeigt dein Selbstvertrau’n sich nichtig“. Vordem: „Wird deine Hoffnung nicht zu Winde“ Und schließlich ersetzt die Neubearbeitung mit der Formulierung: „Mach mit dem Sterben mich vertraut“ die frühere: „Zeig täglich mir des Todes Nacht“. Im ersten Fall gelang es Sailer, den Gedanken zu beruhigen und zu vertiefen: Er springt nicht mehr zu dem was war, sondern verharrt bei dem Bild des Sehens und Gesehen- Werdens. Die beiden anderen Beispiele zeigen ein Zurücktreten der Metaphern zugunsten einer nüchternen und konkreten Sprache. I.6.2 Im großen Gebetbuch von 1783 beschloss das Gebet den eröffnenden allgemeinen Teil. Die Klammerbemerkung „Alle Wochen einmal bedachtsam zu sprechen“ war hinzugefügt. In der 2. Auflage wanderte es an das Ende des Morgenteils. Ohne Änderung wurde es ins kleine Gebetbuch übernommen. Dort blieb es bis auf einen kleinen Abschnitt unverändert bis einschließlich 1831 stehen. Die Änderungen innerhalb desselben sind allerdings bedeutend, weil sie Sailers moraltheologische Wandlungen manifestieren. Hier eine Synopse der Texte. klGB 1789 (= GRGB 1783 klGB 1793 klGB 1814 klGB 1816 (= ca. 1818) klGBneu Laß jeden Tag dieses meines so schnell vorübereilenden so kurzen Lebens mir theuer und wichtig seyn. Gieb mir Lust und Muth und Kraft, alle Tage etwas Nützliches und Gutes zu thun, daß kein Tag für die Ewigkeit verloren sey. Laß jeden Tag dieses meines so schnell vorübereilenden so kurzen Lebens mir theuer und wichtig seyn. Gieb mir Kraft und Muth, alle Tage besser zu werden, etwas Nützliches und Gutes zu thun, daß kein Tag für die Ewigkeit verloren gehe. Laß jeden Tag dieses meines so kurzen Lebens mir theuer und wichtig seyn. Gieb mir Kraft und Muth, alle Tage besser zu werden, etwas Gutes und Nützliches zu thun, daß kein Tag für die Ewigkeit verloren gehe. Laß jeden Tag meines so kurzen, so schnell vorübereilenden Lebens mir theuer und wichtig seyn. Gieb mir Licht, Kraft und Muth, alle Tage besser zu werden, etwas Gutes und Nützliches zu thun, daß kein Tag für die Ewigkeit verloren gehe. Laß jeden Tag dieses meines so kurzen, so schnell vorübereilenden Lebens mir theuer und wichtig seyn. Gieb mir Kraft und Muth, alle Tage besser zu werden, etwas Gutes und Nützliches zu thun, daß kein Tag für die Ewigkeit verloren gehe. <?page no="149"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 139 Laß mich alle Tage die Kürze meines Lebens auf Erden bedenken, und mich meines ewigen Lebens im Himmel erfreuen. Niemal, Vater Jesu Christi! laß mich vergessen das Wort Jesu: ich will wirken, so lang Laß mich alle Tage die Kürze meines Lebens auf Erde [sic! ], bedenken, und mich meines ewigen Lebens im Himmel erfreuen. Niemal, Vater Jesu Christi! niemal laß mich vergessen das Wort Jesu: Ich will wirken, so lang Laß mich alle Tage die Kürze meines Lebens auf Erden bedenken, und meines ewigen Lebens im Himmel froh werden. Niemal laß mich vergessen das Wort deines Sohnes: Ich will wirken, so lang Weil ich aber nicht besser werden kann, ohne vorerst gut geworden zu seyn, weil ich nichts Gutes zu thun vermag, ohne selbst gut zu seyn: so gieb mir vor allem Licht, Kraft und Muth, an das große Werk, an die Umänderung meines Sinnes und Wandels Hand anzulegen, und nicht nachzulassen, bis ich ein anderer, ein ganz neuer Mensch geworden seyn werde. Laß mich alle Tage die Kürze meines Lebens auf Erden bedenken, und meines ewigen Lebens im Himmel froh werden. Niemal laß mich vergessen das Wort deines Sohnes: Ich will wirken, so lang Laß mich alle Tage die Kürze meines Lebens auf Erden bedenken, und meines ewigen Lebens im Himmel froh werden. Laß mich niemals vergessen das Wort Deines Sohnes: Ich will wirken, so lang <?page no="150"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 140 es Tag ist, es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Gieb mir Lust und Kraft, daß ich mich immer bereit halte auf den Ruf des Todes aus diesem Leben in die Ewigkeit; daß ich immer das Wichtigste zuerst thue, daß ich nichts für so wichtig achte, als meine und anderer Menschen ewige Seligkeit, so viel es seyn kann, in Sicherheit zu setzen; daß ich das Nöthigste zuerst in Ordnung bringe; daß ich nichts für so nöthig halte, als für die Ewigkeit zu arbeiten; daß ich nichts leichtsinnig aufschiebe, was einmal gethan seyn muß, und das man nie zu genau thun kann, und an dem alles, gar es Tag ist, es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Gieb mir Lust und Kraft, daß ich mich immer bereit halte auf den Ruf des Todes aus diesem Leben in die Ewigkeit; daß ich immer das Wichtigste zuerst thue, daß ich nichts für so wichtig achte, als meinen Beruf zur Heiligkeit dieses und zur Seligkeit des kommenden Lebens gewiß zu machen; daß ich das Nöthigste zuerst in Ordnung bringe; daß ich nichts für so nöthig halte, als für die Ewigkeit zu arbeiten; daß ich nichts leichtsinnig aufschiebe, was einmal gethan seyn muß, und das man nie zu genau thun kann, und an dem alles, gar es Tag ist, es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann. Gieb mir Trieb und Kraft, auf den Ruf des Todes aus diesem Leben in die Ewigkeit mich immer fertig zu halten. Gieb mir Weisheit und Ernst, daß ich nichts für so wichtig achte, als meinen Beruf zur Heiligkeit dieses und zur Seligkeit des kommenden Lebens gewiß zu machen; daß ich immer das Nöthige zuerst in Ordnung bringe und Nichts für nöthig halte, als deinen Willen zu thun; daß ich das Geschäfft, woran Alles gelegen ist, was einmal gethan seyn muß, und was nie zu genau gethan werden kann, es Tag ist, es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Gieb mir Trieb und Kraft, auf den Ruf des Todes aus diesem Leben in die Ewigkeit mich immer fertig zu halten. Gieb mir Weisheit und Ernst, daß ich nichts für so wichtig achte, als meinen Beruf zur Heiligkeit dieses und zur Seligkeit des kommenden Lebens gewiß zu machen; daß ich immer das Nöthige zuerst in Ordnung bringe und Nichts für so nöthig halte, als deinen Willen zu thun; daß ich das Geschäft, woran Alles gelegen ist, was einmal gethan seyn muß, und was nie zu genau gethan werden kann, das Geschäft der es Tag ist, es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Gieb mir Trieb und Kraft, auf den Ruf des Todes aus diesem Leben in die Ewigkeit mich immer fertig zu halten. Gieb mir Weisheit und Ernst, daß ich nichts für so wichtig achte, als meinen Beruf zur Heiligkeit dieses und zur Seligkeit des kommenden Lebens gewiß zu machen; daß ich immer das Nöthige zuerst in Ordnung bringe und nichts für nöthig halte, als deinen Willen zu thun; daß ich das Geschäft, woran Alles gelegen ist, was einmal gethan seyn muß, und was nie zu genau gethan werden kann <?page no="151"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 141 alles gelegen ist. alles gelegen ist. nicht leichtsinnig aufschiebe. gründlichen Bekehrung, und wenn sie schon geschehen ist, das Geschäft der täglichen Erneuerung des Geistes nie mehr leichtsinnig aufschiebe; daß ich jeden Tag von vorne anfange, und nich zurücksehend auf das, was hinter mir liegt, mich ausstrecke nach dem, was vor mir liegt. nicht leichtsinnig aufschiebe. An der Fassung von 1814 wird eine gewisse Tendenz zur Straffung spürbar. Die bemerkenswertesten Änderungen vollzogen sich allerdings nach 1815, dem Jahr der Veröffentlichung seiner Moraltheologie. In dieser sprach er in der Einleitung von den „Centralideen, die den sittlichen Lehren Christi und seiner Apostel zu Grunde liegen müssen“ und zählte unter anderen auch die folgenden auf: „I. Gott ist die Liebe, und es ist der unwandelbare Wille Gottes, daß die Menschheit, nach dem Ebenbilde der Liebe geschaffen, gut und selig sey, wie Gott. […] V. Die Aufhebung jener Trennung und dieser Feindschaft [sc. von und gegen Gott] ist das große Werk Gottes, ist das Werk des Logos, ist das Werk Christi. VI. Dieß große Werk Christi ist auch das Werk der Apostel und der ganzen christlichen Kirche auf Erden. VII. Dieß große Werk kann nicht vollbracht werden ohne den Geist Gottes, der den Menschen wecket, bildet, leitet, und ohne Einstimmung des Menschen mit Gott. VIII. Diese Einstimmung wird durch Sinnesänderung angefangen. IX. Dieße Einstimmung wird durch Heiligung fortgesetzt. X. Dieße Einstimmung wird durch vollendete Verklärung des Menschen in das Bild Gottes vollendet. XI. Diese Einstimmung des Menschen mit Gott in ihrem Anfange, Fortschritte und in ihrer Vollendung ist die Liebe.“ 134 „Sinnesänderung“ und „Heiligung“ sind die beiden Begriffe, die die Bringschuld des Menschen beschreiben. Sie wurden auch schon in der „guten Meinung“ ab 1814 verstärkt herausgearbeitet. Und hier wie dort bricht sich die Vorstellung vom Leben als täglichem Bewährungsfeld im Kampf gegen die Sünde Bahn. Anders 134 SW 13, 54. Eingehend auf die „Centralidee des Christentums“ s. auch Bertram Meier, Die Kirche der wahren Christen, Stuttgart [u.a.], 1990, 191ff. u.ö. <?page no="152"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 142 als oben, freilich, durften diese Erweiterungen in der Neubearbeitung von 1831 nicht mehr stehen bleiben. Da Sailer dort gerade nichts von der Beschreibung der Kampfszenerie zurückgenommen hatte, können für die Streichung keine inhaltlichen Gründe unterstellt werden, die die Rücknahme der Erweiterungen plausibel machen. Möglich scheint hingegen, dass Sailer erkannt hatte, wie moralisch überfrachtet der Text geworden war. So wäre er denn sichtlich bereit gewesen, revidierte Positionen nochmals zugunsten der früheren zu verändern. Merkwürdig erscheint auch, dass 1793 die Verantwortung für die Seligkeit der anderen getilgt und fortan nicht wieder aufgenommen wurde. „[…] daß ich nichts für so wichtig achte, als meine und anderer Menschen ewige Seligkeit, so viel es seyn kann, in Sicherheit zu setzen“ wird nun in „[…] daß ich nichts für so wichtig achte, als meinen Beruf zur Heiligkeit dieses und zur Seligkeit des kommenden Lebens gewiß zu machen“ verändert. Sicher wollte Sailer nicht die Verantwortlichkeit für den Nächsten relativieren oder hintansetzen. Vielmehr ging es ihm hier darum, die Verantwortlichkeit für die eigene Heiligkeit in Erinnerung zu rufen. II. Übungen der Andacht an Sonntagen II.1 Über die Feier des Sonntags SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 II.1 Über die Feier des Sonntags - Der Text wurde völlig neu verfasst und dem Abschnitt vorangestellt. Nicht der Ernst in der Sache, aber der Ton hat sich gegenüber dem pflichtgebietenden Text des großen Gebetbuchs (vgl. o. S. 95) bedeutend verändert. Ob sich die Situation so stark gewandelt hatte, dass sie so energische Bemerkungen wie über das Vespergebet in den Städten nicht mehr nötig machte, lässt sich von hier aus nicht entscheiden. Unverkennbar ist aber die innere Freiheit, die der geistliche Autor mittlerweile gewonnen hat. Ganz aus dem den alten Mann beherrschenden Gedanken von der Einigung mit Gott ist der Text gearbeitet. Leicht und einladend und ebenso innig: „[…] Darum sollst Du dich freuen, meine Seele; denn der Sonntag ist dir gegeben zu deiner Erhebung und Erquickung, zu deiner Vereinigung mit Gott und zu deiner Stärkung. Du sollst ausruhen von allen weltlichen Sorgen, um in Gott zu suchen und zu finden, was du die künftige Woche hindurch zu deiner Erleuchtung und Stärkung, zu deinem Trost und zu deiner Beruhigung in allen Verhältnissen und Zuständen des menschlichen Lebens nöthig hast.“ Ein kurzes Gebet motiviert unaufdringlich die Betrachtung der drei göttlichen Tugenden und lässt sogleich keinen Zweifel daran, dass sie eben dies sind: göttlich. <?page no="153"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 143 II.2 Hochamt SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2., Lentner, 1787 3.-11. Aufl., Lentner 1789-1818 II.2.1 Hochamt - - + II.2.2 Eingang der Messe - - + II.2.3 Die Messe selbst - - + II.2.4 Stille Gebete - - + II.2.5 Vorbereitung zur stillen Messe - - + II.2.6 Stillmesse - + + II.2.7 Erinnerung an unsere Mitchristen, und Fürbitte für alle noch unter uns lebenden Menschen - + + II.2.8 Erinnerung an die Heiligen - + + II.2.9 Vor der Consecration - + + II.2.10 Consecration - + + II.2.11 Nach der Consecration - + + II.2.12 Erinnerung an die verstorbenen Mitchristen - + + II.2.13 Eine Bitte in Hinsicht auf unsere bedeutendsten Anliegen - + + II.2.14 Nach der Stillmesse - - + II.2.15 Drei Gebete vor dem Genusse des heil. Abendmahls - - + II.2.16 Bei dem Genusse - - + II.2.17 Der Genuß des heiligen Blutes - - + II.2.18 Gebet nach dem Genusse - - + II.2.19 Kirchengebete - - + S. dazu auch: Erster Teil, Abschnitt 3. Dass 1785 vom Hochamt noch nichts zu lesen war, 1787 lediglich der Kanon (was freilich bedeutend genug ist! ) und erst seit 1789 die Messe im kleinen Gebetbuch vollständig wiedergegeben wird, scheint ein wenig befremdlich. An der Entwicklung des großen Gebetbuchs konnte man doch sehen, dass Sailer die übersetzte Messe von Anfang an intendiert hatte, wenn er es auch für besser hielt, sie gleichsam nebenbei einzuschmuggeln. 1785 aber wurde die Messe den Lesern des großen Gebetbuchs bereits vollständig geboten. Warum dieses im kleinen Gebetbuch erst 1789? Die naheliegendste Erklärung dafür dürfte sein, dass sich Sailer erst nach und nach über die Bedürfnisse seiner Leserschaft des kleinen Gebetbuchs klar wurde und dass dieser der vollständige Messtext zur Andacht nicht nur zuzumuten, sondern sogar hilfreich war. <?page no="154"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 144 Die Übersetzung wurde mit den Jahren immer wieder leicht überarbeitet - auch bei der Neuausgabe 1831: Z.B. wurde beim Messkanon „gütigster“ in „mildester“ verändert. Auffällig ist es, wenn er, was ehedem „Ich glaube, der redliche Christ …“, hieß, jetzt „ich glaube, der katholische Christ …“; veränderte. Zeitüblich wurde die „allumfassende“ in die „katholische“ Kirche revidiert. II.3 Glaube, Hoffnung, Liebe SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 II.3.1 Erste Betrachtung. Von dem Daseyn der göttlichen Offenbarung + II.3.2 Zweite Betrachtung. Von dem Hauptinhalte der göttlichen Offenbarung + II.3.3 Dritte Betrachtung. Von der Wahrheit der göttlichen Offenbarung + II.3.4 Vierte Betrachtung. Von der Pflicht des Menschen, an die göttliche Offenbarung zu glauben + II.3.5 Glaubensübungen. Ausführlichere Glaubensübung + II.3.6 Glaubensübungen. Kürzere Glaubensübung + II.3.7 Übung der Hoffnung. Eine kürzere Übung + II.3.8 Übung der Liebe + Die Texte von II.3.1-6 sind im wesentlichen seit 1793 unverändert. Die Tugendübungen des großen Gebetbuchs haben im kleinen ihren Platz bei der Vor- und Nachbereitung eines würdigen Kommunionempfangs gefunden In der Neuausgabe wurde Betrachtung genannt, was ehedem ebenfalls Glaubensübung hieß. Damit ist nun das eine vom andern klarer getrennt, denn den eigentlichen Glaubensübungen war bis dahin ein Vorspann vorangesetzt, der darauf aufmerksam machte, dass es sich eigentlich um Vorübungen handle. II.3.6 Ab 1818 wird angemerkt: „Ich beschwöre hier jeden Leser, sein Herz zu prüfen und zu fragen, ob er nicht in dem abergläubischen Wahn stehe, als wenn es schon genug wäre, diese Glaubens-Formel bloß nachzusprechen, oder in dem törichten Wahn, als wenn unser Glaube blind, unvernünftig seyn müßte. Nein, meine lieben Mitpilger! Unser Glaube muß vernünftig seyn, muß auf Gründen, auf Wahrheit beruhen, und jeder Christ soll sogar im Stande seyn, von seinem Glauben Rechenschaft abzulegen. Unser Glaube aber muß auch thätig, muß lebendig in Gesinnung und That übergegangen seyn. Sonst ist er unnütz.“ Der Vorbehalt Sailers gegenüber den Formeln des Gebetes wurde also nie aufgehoben. Immer wieder fühlte er sich zu Bemerkungen dieser Art gedrängt. <?page no="155"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 145 Die übrigen Texte wurden seit 1814 nicht oder kaum mehr verändert, divergieren aber auch schon vorher nur in Feinheiten, die auch schon anderswo herausgearbeitet wurden (z.B. Hinzufügung von „heilig“ bei Gottesattributen). Tugendübungen und Vaterunser-Paraphrasen bildeten seit 1785 den Kern des Abschnitts über den Sonntag im kleinen Gebetbuch, während sie im großen noch bei den allgemeinen Frömmigkeitsübungen standen. In Ermangelung eines solchen Abschnitts, wird dem Sonntag die Aufgabe zugeordnet, zur Glaubensbefestigung durch allgemeine Andachtsübungen beizutragen. II.4 Das Vaterunser SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 II.4.1 Erste Betrachtung + II.4.2 Zweite Betrachtung + II.4.3 Dritte Betrachtung + II.4.4 Vierte Betrachtung + II.4.5 Fünfte Betrachtung + II.4.6 Sechste Betrachtung + II.4.7 Siebente Betrachtung + II.4.8 Achte Betrachtung + Insgesamt nur geringfügige Änderungen im Lauf der Zeit. II.4.2 seit 1793 heißt es „Ja, dein Name soll von allen erkannt, von allen angebetet, von allen gepriesen werden“. Vorher war von der Anbetung noch nicht die Rede. - 1814 endet der Text mit dem Zusatz: „Mein Herz, mein Leben soll im Einklange seyn mit meinem Gebethe: Gepriesen sey dein Name - durch meine Hoffnung“. Ab 1816 heißt es: „… Gepriesen sey dein Name - durch meine Heiligung“. II.4.3 Hier wird das Lebens- und Glaubenskampfmotiv stark hervorgehoben. Die Begnadung durch Gott wird ab 1793 unterstrichen durch Zusätze wie „Wo aber Deine Gnade regieret, da regierest Du, und wo Du regierst da ist aller Krieg zwischen Fleisch und Geist entweder schon geendet, oder wenigstens der Sieg des Geistes über das Fleisch schon entschieden“. II.4.4 In drei Nummern unterteilt. Bemerkenswert in Nr. 1 der Wechsel in der Begründung der Motivation zum guten Handeln und die sich verändernde Wortwahl: 1785-1787: „Wenn wir aus freyer Entschließung, mit Lust deinen Willen vollziehen“; 1793-1814: „Wenn wir aus freyer Entschließung, mit standhafter Achtung gegen deine Gebote, und mit kindlicher Liebe zu Dir, deinen Willen thun“; ab 1816: „Wenn wir aus freyer Entschließung, in Ehrfurcht vor deinem Namen, und mit kindlicher Liebe zu Dir, deinen Willen thun“. <?page no="156"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 146 II.4.5 Sailer umkreist hier Jesu Wort aus der Bergpredigt von den Vögeln des Himmels und den Lilien auf dem Felde. Dieser Text ist ein charakteristisches Beispiel für Sailers Redestil, der von biblischen Motiven und Sprachfiguren durchsetzt ist. - Seit 1814 ist eine Spezifikation, wie die Bitte um Gottes Segen gemeint ist, eingearbeitet: 1787 1814 Wir bitten nur um unser tägliches Brod, und bitten mit Vertrauen, und bitten Dich, unsern Vater, und bitten im Namen deines Sohnes, und bitten mit Ergebung in deine väterliche Fürsorge, und bitten unermüdlich, und bitten als Freunde der Arbeit und Mäßigkeit, und bitten als deine Kinder, kindlichfroh - und uns solltest Du nicht erhören? wir, deine Kinder, bitten nur um unser tägliches Brod, und bitten mit Vertrauen, Dich, unsern Vater, und bitten mit Ergebung in deine väterliche Fürsorge, und bitten mit dem Entschlusse, uns durch Arbeit und Mäßigkeit deines Segens empfänglich zu machen … und uns solltest Du nicht erhören? 1787 wird eine rhetorische Gleichordnung aufgebaut, die mit jedem „und“ zu einem neuen Schlag auszuholen scheint: Diese Struktur wird 1814 zwar im wesentlichen beibehalten, doch durch Streichungen - z.B. das Gebet im Namen Jesu Christi fällt weg! - abgemildert und durch eine erläuternde Formulierung, wie Arbeit und Mäßigung in Beziehung zu den Gaben Gottes stehen, geglättet. II.4.6 „Vergieb uns unsere Sünden“ wurde mehreren Bearbeitungen unterzogen. Die wichtigste, wohl 1793, wurde als eine heilsgeschichtliche Perspektive hinzugefügt, die mithin die apostolische Sukzession unterstreicht: Jesus Christus wurde von den Propheten als derjenige vorausverkündet, der Sünden vergeben kann, und nach seiner Offenbarung haben die Apostel die Sündenvergebung weitergeführt. Ab 1816 findet sich hier auch die moraltheologische Präzisierung: „… willst uns von Sündenschuld und Sündenstrafe erlösen“. Die Paraphrase zu „Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ zeigt kaum auffällige Veränderungen. Erwähnenswert ist allerdings eine Umformulierung von 1816: „Vater! aber von nun an - denn deine Gnade hilft siegen, von nun an wird es nimmer geschehen.“ Vorher hieß es: „Vater! aber itzt soll es nimmer geschehen, wird mit deiner Beyhülfe nimmer geschehen“. II.4.7 Unwesentliche Veränderungen gab es bis 1814. U.a. wurde damals dieser Satz hinzugefügt: „Denn ich nehme mich selbst überall mit, und ich bin überall das nämliche, schwache, unruhige und leicht verführbare Wesen“. II.4.8 Entwicklung des Theodizeegedankens: 1787: „Wir getrauen uns zwar nicht geradenwegs zu sagen: erlöse uns auch von allen diesen Übeln. Denn es wäre nicht gut, wenn die Erde von allen diesen Übeln frey wäre; sonst hättest Du sie davon frey gemacht. Wir müssen es deiner Weisheit heimstellen, mit uns zu schalten <?page no="157"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 147 nach deinem heiligen Gutbefinden.“ 1793: „Wir getrauen uns zwar nicht geradezu zu bitten: Erlöse uns auch von allen diesen Übeln. Denn es wäre itzt [! ] nicht gut, wenn die Erde von allen diesen Übeln frey wäre; sonst hättest Du sie davon frey gemacht. Wir müssen es deiner Weisheit heimstellen, mit uns zu schalten nach deinem heiligen Gutbefinden.“ 1816: „Wir getrauen uns zwar nicht geradezu zu bitten: Erlöse uns auch von allen diesen Übeln. Denn die Leiden der Zeit gehören zwar nicht in dein Vaterherz, aber gewiß in deine Haushaltung herein, in deine Haushaltung hier im Lande der Sünde und des Streites. Wir müssen es deiner Weisheit heimstellen, mit uns zu schalten nach deinem heiligen Gutbefinden.“ 1814 und 1816 ist die Bitte für die Jugend hinzugekommen: „Bewahre die Lilien deiner Kirche, die Lämmer deiner Heerde.“ Die immer wieder zu beobachtende Ästhetisierung der Sittlichkeit spricht aus folgender Passage: 1787: „Laß sie [sc. die dauerhaften Sünder] erfahren die Süßigkeit der Tugend, laß sie erblicken die Schönheit der Tugend …“ 1814: „Laß sie erblicken die Schönheit des lautern Sinnes, laß sie fühlen, wie süß es sey, in deine Vaterarme zurückzukehren.“ In den Vorangehenden Versionen wurde das Böse immer unbestimmt gelassen. 1831 findet sich bekräftigend am Ende die personifizierende und zahlreiche biblische Bezüge herstellende Präzisierung: „Erlöse uns aus allen Fallstricken des Bösen, der eigentlich der Böse ist, der Lügner von Anbeginn, der ein Vater der Lüge heißt, der sein Wesen in den Kindern des Unglaubens treibt, Unkraut unter den Weizen säet, Gottes Wort aus den Herzen der Menschen stiehlt, und wie ein brüllender Löwe umhergeht, suchend, wen er verschlinge! Von dem Bösen erlöse uns, Vater! “ II.5 Besondere Vesperandacht in Psalmen SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2., Lentner, 1787 3.-11. Aufl., Lentner 1789-1818 II.5.1 Anbetungs-Psalm - - + II.5.2 Buß-Psalm - - + II.5.3 Fürbitt-Psalm - - + Die Texte kamen erst 1789 in das kleine Gebetbuch hinein und wurden bis 1814 stark überarbeitet. Keiner der Psalmen des großen Gebetbuchs, das ja bis 1789 abgeschlossen war, wurde für gut oder geeignet genug befunden, in die spätere Sammlung aufgenommen zu werden. Ab 1814 wurde die Vesperandacht mit folgendem Vorspann versehen: „Da unser deutsches Volk die lateinische Vesper (Abendandacht) nicht genießen kann, und doch alle öffentliche Andacht dem Volke genießbar werden soll: so sind hier deutsche Psalmen eingerückt, die nicht gelesen, oder gar nur buchstabiert, sondern im Herzen nachempfunden, und im Leben nachgesungen werden müßten, wenn sie ihren Zweck nicht verfehlen sollten.“ <?page no="158"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 148 Dass es sich hierbei um keine singulären Bemühungen Sailers handelt, zeigt ein im Jahre 1813 herausgegebenes Katholisches Gesangbuch, in welchem es einleitend heißt: „Wenn auch diese Sammlung keine Ansprüche auf besondere Verdienste macht, so mag sie doch einigen Werth haben, indem ich für deutsche Vespergesänge vorzüglich Sorge getragen habe. […] Man hat zwar an verschiedenen Orten, statt der ehemaligen lateinischen Psalmen schon deutsche Vespergesänge eingeführt; allein man hält sich dabey noch zu sehr an die alte Form“ 135 Auch hier (vgl. II.1.) ist die scharfe Einschätzung zur Sonntagsvesper in den Städten nicht wiederholt worden. II.6 Noch einige Lobgesänge zur Vesperandacht SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 II.6.1 Lobgesänge der seligsten Jungfrau Maria - II.6.2 Lobgesang des heiligen Ambrosius und Augustinus - II.6.3 Hymnus des heiligen Gregor - Die Texte sind sämtlich gereimt, und an dieser Stelle ganz neu eingefügt. Das Magnifikat wurde im großen Gebetbuch vermisst. Die Aufnahme ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass die Sensibilität für den bewährten Gebetsschatz der Kirche mit den Jahren gewachsen war. Das Te Deum Laudamus begegenete schon im großen Gebetbuch. Dort allerdings wie weithin üblich als Text für Neujahr und in einer anderen, reimlosen Übersetzung. An der des kleinen Gebetbuchs ist die zwar freie, aber korrekte Übersetzung der schwierigen Anfangsapposition mit „Wir loben Dich! wir dürfen Gott Dich nennen“ hervorzuheben 136 . Anders als beim „Dich, o Gott! loben wir, Dich unsern Herrn preisen wir“ 137 , welches das Tun des Menschen hervorhebt, legt die Satzmelodie sachgerecht ihr Gewicht auf „loben Dich“ und „Gott“. - Beim „Hymnus des heiligen Gregor“ handelt es sich um das Lucis Creator optime der Tagzeitenliturgie. Auch dieser Hymnus wird, dem Zeitgeschmack entsprechend, einem einfachen Reimschema (a a b b) folgend wiedergegeben. Alle drei Gesänge werden Verfassern zugeordnet - wiewohl es Sailer für das Te Deum Laudamus gewiss besser gewusst hat. Auch bei der Darbietung biblischer Psalmen hat Sailer das Bestreben, sie als Gebete konkreter Personen herauszustreichen. Dies dürfte auch hier die Überschriften bedingt haben. 135 Georg Aloys Ludwig Boxleidner, Katholisches Gesangbuch zum Gebrauche bei den öffentlichen Gottesverehrungen. Ein Beytrag zur Verbesserung des öffentlichen Kultus, Ansbach, 1813, Vff. 136 Darauf weist Angelus Häußling hin. 137 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 2, 108. <?page no="159"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 149 III. Übungen für Beicht- und Kommuniontage III.1 Das Sakrament der Buße SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 III.1.1 Was fordert die christliche, katholische Kirche zur vollkommenen Nachlassung der Sünden? + III.1.2 Vorbereitungsgebet zur Beicht - III.1.3 Anrufung des heiligen Geistes - III.1.4 Gewissenserforschung - III.1.5 Reue und Leid für große, tief gesunkene Sünder + III.1.6 Reue und Leid für Schwache, die sich zwar von großen Sünden enthalten, aber dennoch von geringern, auch überlegten, oft wiederholten Übertretungen nicht frei sind. + III.1.7 Gebet vor der Beicht + III.1.8 Ernste, trostreiche Beherzigung nach der Beicht + III.1.9 Gebet nach der Beicht - III.1.1 Sailer nennt fünf Voraussetzungen: Lebendigen Glauben, Zutrauen auf die Barmherzigkeit, echte Reue, aufrichtiges Bekenntnis und christlichen Bußgeist. 1814 präzisiert Sailer im Sinne seiner Moraltheologie: „eine vollständige Umänderung des Sinnes und Wandels …“. Schon seine „Centralideen, die den sittlichen Lehren Christi und seiner Apostel zu Grunde liegen müssen“, rückten die „Sinnesänderung“ und die „Heiligung“ ins Blickfeld. 138 III.1.2-4 Die Texte sind neu. Ganz vom Heiligen Geist her bestimmt, sind auch sie Zeugnis der Veränderung des Blickwinkels den Sailers Frömmigkeit bestimmt: Von der Konzentration auf Christus zu einer trinitarischen Gesamtschau, in der im Heiligen Geist die im Christen wirkende Kraft gesehen wird. III.1.5-8 Einige unbedeutendere Änderungen. Aufschlussreich: Dem Satz: „Ich verlange von ganzem Herzen, als eine neue Kreatur in Jesu Christo zu denken, zu wünschen, zu reden, zu handeln, zu leiden“ folgt ab 1814 der Zusatz: „und der Herr, der mir dieß Verlangen in die Seele gelegt hat, wird es auch in Erfüllung bringen.“ III.1.9 Neu. Der Vereinigungsgedanke wird hier ähnlich wie in den Kommuniongebeten ausgedrückt und stellt auch einen direkten Bezug zur Kommunion her: „O Du Lamm Gottes, welches die Sünden der Welt hinwegnimmt, sey und werde von mir ewig gepriesen.“ 138 Vgl SW, 13, 53f. S. außerdem oben I.6.2, S. 138. <?page no="160"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 150 III.2 Übungen vor der Kommunion SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 III.2.1 Glaube + III.2.2 Hoffnung + III.2.3 Liebe + III.2.4 Verlangen nach der innigsten Vereinigung mit Jesu Christo + III.2.5 Bitte um Nächstenliebe + III.2.6 Einzelne Seufzer der Liebe vor der Kommunion + Ab 1814 wird auf eine kurze Zusammenfassung dessen „was […] die katholische Kirche von der Kommunion“ lehrt verzichtet. Stattdessen ein kurzer Vorspann: „Die ausführlichen Lehren von der Kommunion werden vorausgesetzt, und nur die Übungen der Andacht eingeschaltet. Wohl dem, der mit lebendigen Glauben, Vertrauen und Liebe zum Tische des Herrn hinzugeht, denn er wird gestärkt mit der Speise der Unsterblichkeit zurückkehren und froh seine Lebensreise fortsetzen! “ III.2.1 1793 hieß es: „Dein Wort lüget und trüget nicht. Du bist der Allwissende und Ewigwahrhaftige: darum glaube ich an dein Wort.“ 1814 differenzierter und den Vater Jesu Christi miteinbeziehend: „Dein Wort lüget und trügt nicht, denn es ist das Wort deines Vaters, das Wort des Allwissenden, des Wahrhaftigen; darum glaube ich an dein Wort“. III.2.2 Kaum Änderungen. Interessant: Der Schluss des Textes ist im Duktus des Schlussversikels des Te Deum Laudamus abgefasst: „ Auf deine Güte, auf deine Treue, auf deine Allmacht hab ich meine Zuversicht gebauet, und sie wird ewig nicht zu Schanden werden; denn Du bist der Gütigste, der Treueste, der Allmächtige! “ Sailers Übersetzung von 1783 lautet an dieser Stelle: „Auf Dich, o Herr! habe ich gehofft. Ich werde ewig nicht zu schanden werden.“ 139 III.2.3 Für die Ausgabe 1814 wurde der Text gänzlich umgeformt: klGB 1787 klGB 1814 Wenn ich an Dich glaube, Allwissender, Wahrhaftiger! wenn ich auf Dich hoffe, Gütigster, Treuester! soll ich Dich nicht lieben, Wenn ich an Dein Wort glaube, weil es das Wort der Wahrheit ist, wenn ich auf deine Verheißung traue, weil deine Verheißung Ja und Amen ist: soll ich Dich nicht lieben, da dein Leben und 139 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. II, 109. <?page no="161"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 151 Bester, Liebenswürdigster, Einziger! Wie Du, so ist keiner. Du bist ganz Liebe: und ich soll Dich nicht lieben? Du giebst mir dein Fleisch zur Speise, und dein Blut zum Trank: und ich soll Dich nicht lieben? O, ich freue mich, daß Du die Liebe und der Liebenswürdigste aus allen, der Höchste und Beste - mein Gott und mein Herr bist. Ich preise Dich dankbar für Deine Güte. Du liebest mich, wie keiner lieben kann; ganz Liebe bist Du gegen mich: ganz Liebe will ich auch seyn gegen Dich. Sterben lauter Liebe war, da Du die Liebe selber bist? Gott ist Liebe, und diese Liebe hat sich Dir geoffenbart. So hat Gott die Welt geliebt, daß er Dich dahin gab. Diese Liebe opferte Dich am Kreuze, diese Liebe gab dein Fleisch zur Speise, dein Blut zum Tranke: und Dich sollte ich nicht lieben? Im Glauben an diese Liebe spreche ich mit Thomas, was sein Herz nur empfinden, aber kein Wort aussprechen konnte: Mein Herr und mein Gott! Liebe ! lehre mich lieben: Du liebtest mich, ehe ich dich lieben konnte; danken möcht’ ich Dir für diese Liebe, und, weil nur die Liebe danken kann, Den lieben, der zuvor geliebt hat. Liebe, erhöre mein einziges Flehen - Lehre mich lieben! Die Vorlage für den Text von 1814 ist beinahe nicht mehr erkennbar. In beiden Fällen wird auf die Anbetung gezielt. Den Unterschied zwischen beiden entdeckt man am besten in den jeweils letzten Sätzen. Wurde früher schlichter im Sinne eines „do ut des“ formuliert, so reflektiert die Überarbeitung auf die Uneinholbarkeit des Geschenks der Liebe. Gewiss war es nicht falsch, wie Sailer ehedem die Anbetung verstand: Der Lobpreis ist da, die Anbetung auch im Rückgriff auf das Zitat des Apostel Thomas. Aber es entsteht noch keine Tiefenwirkung. Diese ergibt sich erst, indem Sailer das Glaubensgeheimnis durchaus im johanneischen Sinn neu durchdenkt: Ausgehend vom 1. Johannesbrief 4,7ff. kommt dem Beter jetzt zu Bewusstsein, „nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühnopfer für unsere Sünden gesandt hat“ (Vers 10). Und deshalb bleibt der die Eucharistie Kommuniziernde immer einer, der empfängt und aufnimmt, weil Gott immer schon vor ihm da war und sich hingegeben hat. Nur hinnehmend kann er lieben, d.h. sich selbst hinzugeben lernen. <?page no="162"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 152 III.2.4 Wichtige Änderungen sind ab 1814 festzustellen klGB 1793 klGB 1814 Dir, Dir möcht’ ich in allem ähnlich seyn; wie die Reben mit dem Weinstock vereiniget sind, und von ihm Saft, Nahrung, Leben, Fruchtbarkeit bekommen: so möcht’ ich Eins mit Dir seyn. Ohne Dich kann ich nichts thun, und ich möcht’ alles thun, wie Du es auf Erden vollbracht hast. Dir, Dir möcht’ ich in allem ähnlich seyn. Wie Du das Bild deines Vaters warst und bist, so möcht’ ich das Bild deiner Liebe seyn! Wie die Reben mit dem Weinstocke vereiniget sind, und von ihm Saft, Leben, Fruchtbarkeit bekommen: so möcht’ ich Eins mit Dir seyn, von Dir alles Leben des Geistes, Alles, was mich zu guten Werken fruchtbar machet, empfangen. Ohne Dich kann ich nichts thun, was der Ewigkeit würdig wäre, und ich möcht’ Alles in Deinem Geiste thun. Die Bild-Metapher klingt wie die genaue Umsetzung aus den Grundlehren der Religion: „Sey selber Gottes Bild, und du wirst im Bilde das Urbild schauen können.“ 140 Die Stelle aus den Vorlesungen, die Sailer in Landshut für die Hörer aller Fakultäten gehalten hat, verweist, auch wegen des bald nachfolgenden Zitats Fénelons, in den Gesichtskreis der sogenannten Mystik, die im nächsten Kapitel noch genauer zu untersuchen ist. Für den Augenblick können wir feststellen: Der Empfang der Kommunion ist kein visionärer Ort einer mystischen Vereinigung, sondern bleibt an die konkrete äußere Wirklichkeit gebunden. - Auffällig, in Verbindung mit der nun schon öfter gemachten Beobachtung, dass Sailer nach und nach die Bedeutung des Heiligen Geistes stärker bewusst wurde, ist auch der neu hinzugekommene Ausdruck vom „Leben des Geistes“. - 1785 stand zu lesen: „Voll von Dir und leer von mir möcht’ ich von deinem Tisch zurückgehen“. Die Intention stand bereits damals fest. 1814 drückt er das Begehren noch intensiver aus, indem er die Aussage zu einem Ausruf steigert: „Liebe! mache mich Eins mit Dir in heiliger Liebe: Das ist mein Flehen, meine Zuversicht.“ III.2.5 Entspricht dem in III.2.3 ab 1814 neu gefassten Sinn, dass Jesus Christus derjenige sein muss, der uns zu lieben lehrt. III.2.6 Nur geringfügige Änderungen, die hie und da Präzisierungen darstellen oder dem Ganzen einen biblischeren Duktus geben. Ab 1816 wird im III.2.3 und III.2.5 genannten Sinn der letzten der „kürzeren Anmuthungen“ („Empfindungen“ oder „Seufzer“, wie es vorher wechselnd hieß) vorausgeschickt: „es ist deine Gabe, daß ich glauben, hoffen, lieben kann. Belehrt von Dir, kann ich glauben, belebet von Dir, kann ich hoffen, entzündet von Dir, kann ich lieben.“ - Bereits 1814 findet 140 SW, 8, 88. <?page no="163"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 153 sich auch die an mystische Sprache gemahnende Formulierung: „Ich liebe Den, der zuvor geliebt hat“, um dann im eigenen moraltheologischen Ansatz fortzufahren: „Ich liebe Dich über Alles, weil Du meiner ganzen Liebe würdig bist“. 141 III.3 Übungen nach der Kommunion SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 III.3.1 Glaube + III.3.2 Anbetung + III.3.3 Danksagung + III.3.4 Wiederholte Selbstaufopferung + III.3.5 Vertrauen + Nur stilistische Veränderungen. Auch der Anbetungstext hat keine wesentlichen Änderungen erfahren. IV. Übungen für die Festtage unsers Herrn IV.1 Zur Adventszeit SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.1.1 Zur Gemüthssammlung für zerstreute, außer sich umherirrende Christen + IV.1.2 Gebet zur Adventszeit + Erst ab 1831 in zwei Abschnitte mit Überschriften unterteilt. IV.1.1 Ab 1814 heißt es abmildernder: „[…] muß ich doch noch mein Geringseyn vor Dir erkennen“ statt des bisherigen: „[…] muß ich doch mein Nichts vor Dir erkennen“. Mit den Jahren wurde Sailer offenbar zurückhaltender gegenüber zu starken oder gar übertreibenden Formulierungen. IV.1.2 Nur geringfügige Änderungen. IV.2 Weihnachtsfest SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.2.1 Erstes Gebet zu Jesus Christus + IV.2.2 Zweites Gebet zu Jesus Christus + IV.2.3 Drittes Gebet zu Jesus Christus + 141 Vgl. SW, 13, 113ff. u. 139ff. <?page no="164"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 154 IV.2.4 Dankgebet am Ende des Jahres + IV.2.5 Am Neujahrstage + IV.2.6 Am Dreykönigstage + IV.2.1-3 Eine stärkere Einbindung in den kirchlich-liturgischen Kontext ist in der Zweckbestimmung der drei Gebete gewachsen. Bis 1793 lauteten die drei Überschriften: Erstes (bzw. Zweites und Drittes) „Gebet zu Jesu dem Neugebohrnen“. Danach wählte Sailer das strengere „zu Jesus Christus“ und versah das Ganze mit einem Vorspann: „In den drey nachfolgenden Gebethen wird uns 1) die Würde Jesu 2) der Zweck seiner Erscheinung auf Erden und 3) unsre Pflicht in Hinsicht auf die Erscheinung Jesu nahe gelegt.“ 1831 fügte er noch hinzu: „Da jeder Priester am Weihnachtsfeste drei Messen liest, so ist es für den, der den drei Messen beiwohnen kann, nicht unpassend, unter jeder Messe eines dieser drei Gebete aus seinem Herzen zu entrichten.“ Damit gab er keinen Verstehensschlüssel an die Hand. Der direkte Bezug zur Liturgie wurde nach wie vor nicht hergestellt. Aber er band, was vordem für sich bestanden hatte, bei inhaltlicher nur geringfügiger Änderung nun mehr in das kirchliche Geschehen ein. IV.2.4 Ein Beispiel für die Kürzung eines Textes, der sich auf das Motiv der Anbetung bezieht. klGB 1785 klGB 1814 Ach, Vater! ich bin zu gering auch nur zu nennen alles Gute, das von Dir zufließet. Wie soll ich Dir erst danken? wo Worte finden? wo Empfindungen genug hernehmen? Vater! ich bete Dich an, und freue mich deiner; und preise Dich dafür, daß ich Dich anbeten und mich deiner freuen kann. Das sey mein Dank. Ich bin, und ich bin durch Dich, und weis, daß ich durch Dich bin. Wie kann ich tief genug vor Dir hinsinken, Dich anzubeten, daß ich durch Dich bin! Erhebe Du meine Seele zu Dir, gieb Du mir Anbetung und Lobpreisung in mein Herz und auf meine Zunge. Unter Millionen Herzen, die deine Liebe empfinden, und unter Millionen Zungen, die deinen Namen aussprechen, hab auch ich eine Zunge, Dich zu nennen, ein Herz, Dich zu lieben. Ach, Vater! ich bin zu gering, auch nur zu nennen alles Gute, das uns von Dir zufließt. Wie soll ich Dir erst danken? Erheb Du meine Seele zu Dir, gieb Du mir Dank und Lobpreisung in mein Herz und auf meine Zunge. Unter Millionen Herzen, die deine Liebe empfinden, und unter Millionen Zungen, die deinen Namen nennen, hab auch ich ein Herz Dich zu lieben, eine Zunge, deinen unaussprechlichen Namen zu stammeln. <?page no="165"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 155 Zu deinem Bild hast Du mich geschaffen, dein Ebenbild bin ich; ein Funken deiner Allmacht, Weisheit und Liebe bin ich: erkennen, anbeten, lieben kann ich den, der mich gemacht. Wie kann ich genug danken? Zu deinem Bilde hast Du mich geschaffen; ein Funken deiner Allmacht, Weisheit und Liebe bin ich; erkennen, anbethen, lieben kann ich Den, der mich gemacht hat. Wie kann ich genug danken? Ein größerer Abschnitt wurde gestrichen, während ein kleiner Halbsatz hinzukam. Noch 1793 vertraute Sailer auf einen in sich kreisenden, redundanten Stil, der so die Ergriffenheit der Seele ausdrücken sollte, die in ihrem Gebet sich auf die Größe Gottes zubewegt. Später hat er dieses Gebaren wohl als affektiert erkannt und zugunsten größerer Nüchternheit beseitigt. Das Faktum des unsicheren Hinzutretens hat er nun nicht mehr stilistisch zu figurieren versucht, sondern es schlicht benannt. „[…] deinen unaussprechlichen Namen zu stammeln.“ - Es finden sich noch weitere, allerdings weniger bedeutende Veränderungen. IV.2.5 Nur geringfügige Änderungen. IV.2.6 Interessante Entwicklungen zeitigt auch dieser Text: 1785: „[…] zum Licht des Glaubens […]“, 1793: „[…] zum Lichte des heiligen, christlichen Glaubens […]“, 1814: „[…] zum Lichte des heiligen, christlichen Glaubens, des Glaubens, der in Liebe thätig zu allem Guten, und in der Hoffnung mächtig zu allem Troste ist […]“. Ebenso 1785: „Der Glaube ist für mich eine ganz unverdiente Gnade“, 1814: „Der Glaube ist für mich nicht nur eine unverdiente, sondern auch eine unverdienbare Gnade“. Die weiteren Abänderungen sind teils erheblich, wesentliche Sinneswandlungen sind daraus aber nicht ableitbar. IV.3 Andachtsübungen in der Fasten SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.3.1 Am Aschermittwoch. Bei der Einäscherung - IV.3.2 Fastenandacht + IV.3.1 Schon die Tatsache, dass ein Gebet hier neu eingefügt wurde, verdient Beachtung, zeigt sie doch die gewachsene Sensibilität Sailers für die liturgischen Zeiten. „Gedenke, o Mensch, daß du Staub bist, und wieder zu Staub werden wirst. Mit diesen Worten, die der Priester ausspricht, indem er die Stirn mit geweihter Asche bestreuet, lässest du mich heute, o Herr, an die Vergänglichkeit meines irdischen Lebens, und an die Eitelkeit aller Freuden und aller Genüsse dieser Welt erinnern.“ So beginnt diese Betrachtung. Sie ist am Ritus orientiert und bedenkt, was in ihm vollzogen wird. Mehreres klingt im Hintergrund an, so etwa das vom Priester dem <?page no="166"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 156 Toten am offenen Grab nachgerufene „Von der Erde bist du genommen …“, wenn es heißt: „Du versicherst mich, daß im vergänglichen und sterblichen Leibe eine unsterbliche Seele wohne, die zum Genusse himmlischer Güter und einer ewigen Seligkeit bestimmt ist.“ Auch auf das Schuldbekenntnis wird deutlich angespielt: „[…] flöße mir ein Deine Liebe, damit alle meine Gedanken, Worte und Werke auf Dich hingewendet […] werden“. Und das Gebet schließt mit der Oration der Messe: „Verleihe mir, o Herr, daß ich diese heilige Feierzeit der Fasten mit gebührender Frömmigkeit beginne, in ernsten und heiligen Betrachtungen fortsetze, und in ungestörter Andacht vollende, durch Jesum Christum, unsern Herrn, Amen! “ 142 IV.3.2 Meditation über den traditionellen Bußpsalm Miserere (Psalm 51). Nur geringfügige Änderungen. IV.4 Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.4.1 Erste Station + IV.4.2 Zweite Station + IV.4.3 Dritte Station + IV.4.4 Vierte Station + IV.4.5 Fünfte Station + IV.4.6 Sechste Station + IV.4.7 Siebente Station + IV.4.8 Achte Station + IV.4.9 Neunte Station + IV.4.10 Zehnte Station + IV.4.11 Eilfte Station + IV.4.12 Zwölfte Station + IV.4.13 Dreizehnte Station + IV.4.14 Vierzehnte Station + Vorbemerkung 1831: „Das Leiden und Sterben Jesu Christi läßt sich aus mancherlei Gesichtspunkten betrachten, die alle einen Reichthum von Licht und Trost und Kraft für das Menschenherz spenden. Die vornehmsten sind die drei: Jesus hat durch sein Leiden und Sterben die Göttlichkeit seiner Lehre versiegelt; hat das Musterbild aller Tugend, den Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater und die Liebe 142 Der lateinische Text lautete „Praesta, Domine, fidelibus tuis: ut jejuniorum veneranda solemnia et congrua pietate suscipiant, et secura devotione percurrant.“ Vgl. Placide Bruylants, Les oraisons du Missel Romain. Texte et histoire, Louvain, 1952, Bd. 2, 236, Nr. 833. <?page no="167"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 157 gegen das gefallene Menschengeschlecht in der ganzen Fülle dargestellt; hat seine Bluttaufe und das Sühnopfer für die Sünden der Welt vollendet. Demnach ist das Kreuz unsere Lehrkanzel, unsere Tugendschule, und der kräftigste Prediger von der Gnade des Mittlers und dem unerschöpflichen Werthe der Erlösung. Was das Letzte, die Erlösung betrifft, so ist sie leider! durch den Unglauben der Zeit und durch den Leichtsinn der Welt aus vielen Herzen verdrängt worden. Eben deßhalb wollen wir sie desto öfter in Erwägung ziehen, und desto tiefer zu Herzen fassen, je mehr sich täglich die Zahl der Feinde des Kreuzes Christi unter Christen vergrößert. Diese Betrachtung wollen wir aber nie von dem Gebete trennen, wollen sie vielmehr in das Gebet des Herzens übergehen lassen, weil wir ohne Gebet für die Kraft des heiligen Geistes nicht empfänglich, und ohne die Kraft des heiligen Geistes die Früchte der Erlösung an uns nicht wirksam werden können.“ Im Predigtton (homiletisches Wir! ) spricht Sailer sehr klar über das Herzensgebet: Der Nutzen einer Betrachtung (das wird man wohl auf alle Betrachtungen übertragen können) besteht darin, dass sie so in Gebet übergeht, dass das Herz ganz davon erfüllt wird. Und dies weil das Gebet die einzige Möglichkeit des Menschen darstellt, sich durch den Heiligen Geist begnaden zu lassen. „Die Kraft des heiligen Geistes“ zu empfangen, ist also Ziel des Gebetes. Darum seine Hervorhebung in der Neubearbeitung von 1831. Diesem Vorspann wird noch eine zweite Anmerkung angefügt, in der die Auffassung „für Jesus wäre Geduld, Ergebung, Ausharrung in Geduld und Ergebung etwas Leichtes gewesen, weil er das Wort des Vaters, der Sohn Gottes war“ als Aberglaube scharf zurückgewiesen wird. IV.4.1-14 Kaum Änderungen. Beachte Dritte Station: Alles geschieht zu meiner „Belehrung“. IV.5 Am heiligen Donnerstage SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.5 Am heiligen Donnerstage + Nur geringfügige Änderungen. IV.6 Der heilige Freitag SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.6.1 Wer stirbt? + IV.6.2 Wie stirbt Jesus? + IV.6.3 Was ist die Frucht und der vollständige Zweck des Sterbens Jesu + IV.6.4 Jesus am Kreuze - <?page no="168"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 158 IV.6.1-2 nur geringfügige Änderungen. IV.6.3 Sieben Nummern werden aufgezählt. Zwei sind wegen ihrer Eingriffe bemerkenswert. 1785: „4. Gnade, Kraft, Stärke, Licht zu allem Guten. Der uns den Sohn geschenkt, hat uns mit ihm ja gar alles geschenkt.“ 1831: „4. Die Ausgießung des heiligen Geistes über die Jünger des Herrn, und Mittheilung alles Lichtes, aller Stärke zu allem Guten.“ - 1785: „7. Die vollkommenste Rettung, Erlösung, Beseligung des Menschengeschlechts. Alles wird in seinem Namen selig, was selig wird.“ 1831: „7. Die Gründung, Regierung und Erhaltung der Kirche Christi. Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden; gehet hin, und lehret alle Völker, und taufet sie im Namen des Vaters, und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich Ich euch befohlen habe; und Ich! Ich bin bei euch alle Tage bis an’s Ende der Welt. Matth. XXVIII, 18-20.“ - Die Änderungen um 1831 drücken die zentrale Positionierung der Kirche und des Heiligen Geistes aus. Es schließt sich ab 1816 ein poetisch gefasstes Gebet in Prosa an: „Am Fuße des Kreuzes sprich aus meine Seele, was dir der Herr getan hat“…, das Jesu Liebestat bedenkt. Auffällig ist, dass die zentrale Rolle des Heiligen Geistes bereits zu dieser Zeit betont wird: „[…] und dein heiliger Geist brachte auch mir, die Frucht deines Todes, die Liebe in mein Herz, und mit der Liebe ewiges Leben, denn sie ist selbst ewiges Leben.“ Der Text scheint von Sailer zu stammen. IV.6.4 Nur 1831 die Verse „Jesus am Kreuze“. Sie sind ein sonst bei Sailer nicht anzutreffendes Beispiel romantischer, volksnaher Lyrik, das erst auf den zweiten Blick ein komplexes Reimschema (a a b c c b d e e / f g f g h i h i j j k l l k) und eine bewusste Durchbrechung der einfachen Trochäen offenbart. Da eine Übernahme von einem anderen Dichter ohne wenigstens einen versteckten Hinweis für Sailer ungewöhnlich wäre, handelt es sich, wenn man seine Verfasserschaft anzweifeln möchte, möglicherweise um eine Übersetzung, deren Vorlage allerdings nicht leicht zu eruieren sein dürfte. IV.7 Der heilige Sonnabend SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.7.1 Der heilige Sonnabend (Charsamstag) + IV.7.2 Der Christ am Grabe des Erlösers - IV.7.1 Nur geringfügige Änderungen, so der Einschub ab 1793, wenn zur eigenen Seele gesprochen wird: „Es kommt ein Sabbath für dich! “ IV.7.2 Wie bei IV.6.4 nur in 1831. Reimschema a a a a / b b c c. Das Gedicht spielt subtil mit dem Motiv der Berge in den Evangelien. Über Tabor, Ölberg und Golgota heißt es: „Ihr Berge, was auf euch geschah, / Das reizet mein Hallelujah.“ Der aber, der die Berge heiligt, heiligt auch den Grabhügel: „Sein Grab wird mir zum Heiligthum, / Weil Christi Leib die Ruhestatt / Den Gläubigen geweihet hat! “ <?page no="169"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 159 IV.8 Ostersonntag SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.8.1 Jesus, der Erstandene + IV.8.2 Jesus und Maria - IV.8.1 Nur geringfügige Änderungen im Lauf der Zeit. 1793 leicht überarbeitet und entschiedener gekürzt. IV.8.2 Wieder wie in den vorangehenden Abschnitten eine poetische Coda, die diesmal das Bild des Gärtners meditiert. IV.9 Ostermontag SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.9.1 Jesus, der göttliche Reisegefährte + Kaum Änderungen. IV.10 Der Festtag der Himmelfahrt Jesu Christi SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.10 Der Festtag der Himmelfahrt Jesu Christi + Ab 1816 dem Text vorangestellt: „Ein Gespräch einer bewegten Seele zu Christus, nach den Betrachtungen eines trefflichen Christen.“ Ab 1831 heißt es: „Ein Gespräch einer bewegten Seele zu Christus, nach den Betrachtungen eines von der Auffahrt des Herrn durchdrungenen Christen.“ Es wird aber nicht klar, wie der Text in Beziehung zu dem im Vorspann gemeinten Christen stehen soll. IV.11 Pfingstfest SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2., Lentner, 1787-1789 5.-11. Aufl., Lentner 1793-1818 IV.11.1 Was wirkte der heilige Geist in den Jüngern Jesu Christi? + + + IV.11.2 Wie sollen wir uns vorbereiten zur Empfangung des heiligen Geistes? + + + IV.11.3 Wie kann man es erkennen, ob der heilige Geist in uns sey oder nicht? + + + <?page no="170"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 160 IV.11.4 Bitte zu Gott Vater, im Namen seines Sohnes, um den heiligen Geist + + + IV.11.5 Kirchengesang von dem heiligen Geist [= Pfingstsequenz] - - + IV.11.6 Noch einige Empfindungen eines Christen. Der schönste Christenwunsch - - + IV.11.7 Noch einige Empfindungen eines Christen. Das Christenleben vom göttlichen Gesichtspunkte aus - - + IV.11.8 Noch einige Empfindungen eines Christen. Gebet an den heiligen Geist für die Missionen - - - IV.11.1-7 Größere, aber abgesehen von der Aufnahme der Pfingstsequenz inhaltlich unerhebliche Eingriffe ab 1793. Auch die Pfingstsequenz ist ein Bespiel für die stets vorhandene Aufmerksamkeit liturgischen Texten gegenüber. Danach blieb es bei dieser Fassung. Dass Sailer 1831 auch an anderen Stellen die Person des Heiligen Geistes besonders hervorgehoben hat, bedeutet also nicht, dass er zumal in jungen Jahren dafür kein Bewusstsein gehabt hätte. IV.11.8 Das Gebet für die Missionen kam 1831 hinzu. Welche Erfahrung Sailer dazu veranlassten, ist nicht unmittelbar zu erkennen. IV.12 Dreifaltigkeitssonntag SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.12 Dreifaltigkeitssonntag + Nur geringfügige Änderungen. IV.13 Fronleichnamsfest SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 IV.13.1 Von dem Festtage + IV.13.2 Von der Anbetung Jesu Christi, wenn das hochwürdige Gut ausgesetzt ist, oder feierlich herumgetragen wird + IV.13.3 Christlicher Psalm unter der Prozession + IV.13.4 Herzensergüsse andächtiger Seelen an Christus im heiligsten Altarssakramente. (Aus der Nachfolgung Christi) - <?page no="171"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 161 IV.13.1 Kaum Änderungen. IV.13.2 Wenige, aber wichtige Änderungen 1785 1793 1814 1816 Wenn wir uns nicht freuen, daß Gott der einzige, allerhöchste, unabhängige Herr aller Ding’ ist, daß wir alles von Ihm haben, was wir sind und haben: so ist unsre Anbetung keine Anbetung […] Wenn wir es nicht zu Herzen fassen, und nicht mit tiefer Demuth anerkennen, daß Gott der einzige, allerhöchste, unabhängige Herr aller Dinge ist, daß wir alles von Ihm haben, was wir sind und haben: so ist unsre Anbetung keine Anbetung […] Wenn wir es nicht zu Herzen fassen, und nicht mit tiefer Demuth anerkennen, daß Gott der einzige, allerhöchste, unabhängige Herr aller Dinge ist, daß wir alles von Ihm haben, was wir Gutes sind und haben; daß sein Wille Heiligkeit, sein Ordnen und Fügen Weisheit, seine Majestät Liebe ist: so ist unsre Anbetung keine Anbetung […] Wenn wir es nicht zu Herzen fassen, und nicht mit tiefer Demuth anerkennen, daß Gott der einzige, allerhöchste, unabhängige Herr aller Dinge ist, daß wir alles von Ihm haben, was wir Gutes sind und haben; daß sein Wille Heiligkeit, sein Ordnen und Fügen Weisheit, seine Majestät Liebe ist: so ist unsre Anbetung keine Anbetung […] Die Gebote Gottes treu erfüllen, weil sie Gebot unsers Herrn sind, das ist rechte Anbetung Gottes. Die Gebote Gottes treu erfüllen, weil sie Gebot unsers Herrn sind, das ist rechte Anbetung Gottes. Die Gebote Gottes treu erfüllen, weil sie Gebot unsers Herrn, und so heilig sind, wie Er selber, das ist rechte Anbetung Gottes. Gott als Gott anerkennen und in Ehrfurcht vor Ihm seine Gebote treu erfüllen, das ist rechte Anbetung Gottes. Das Ringen um den rechten Begriff der Anbetung Gottes wird hier sichtbar. 1793 wird die Aussage unter dem Aspekt des betenden Herzens intensiviert. Dieselbe Wendung war zwar bereits 1785 in dem vorangehenden und hier nicht zitierten Abschnitt gestanden. Die rhetorische Wiederholung, die Sailer 1793 einfügt, erweitert er indessen noch um die geforderte Demut. Damit benennt er die wesentliche Voraussetzung für die Anbetung. Ab 1814 erweitert Sailer nochmals, indem er auf die Ausübung des heiligmachenden Willens Gottes hinweist. 1816 erfolgt schließlich die Tilgung des christologischen Motivs der Anbetung: „Gott als Gott anerkennen und in Ehrfurcht vor ihm seine Gebote treu erfüllen“. Das verweist uns auf ein Problem, das im nächsten Kapitel noch näher zu erörtern sein wird. Die Anbetung lässt Sailer Jesus Christus nur sehr bedingt zukommen. Deutlich <?page no="172"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 162 ist an unserer Stelle von ihm - angesichts seines im eucharistischen Brot verehrten Leibes! - nämlich gar nicht die Rede. Lediglich ist von ihm zu sagen, dass, wer ihn anbete, Gott anbete. Der Wandel in der christusbezogenen Frömmigkeit gegenüber den aus der Barockzeit herkommenden Andachtsformen ist hier mit Händen zu greifen. Dabei scheint es paradox, dass der gerade so stark christozentrisch ausgerichtete Sailer, dennoch auf die irdische Gestalt des Erlösers fixiert blieb. Denn offenbar fürchtete er, dass sich die Anbetung auf Menschliches richten könnte. Darum bedeutete für ihn die Anbetung in einem christlichen Sinn nichts anderes, als dass Gott als Vater und dessen heiliger Wille anerkannt würde. IV.13.3 Wenige Änderungen. IV.13.4 Aus der Imitatio Christi IV.17,11. Zum Umgang mit dieser Quelle s. S. 178ff. V. [Maria] V.1 Uebungen für die Festtage Mariä SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 V.1.1 Von der wahren Verehrung der Heiligen + V.1.2 Gebet - V.1.3 Am Feste Mariä Geburt + V.1.4 Am Feste Mariä Verkündigung + V.1.5 Am Feste Mariä Heimsuchung (Erklärung des Lobgesangs) + V.1.6 Mariä Reinigung + V.1.7 An dem Gedächtnisstage der Leiden, der Schmerzen Mariä + V.1.8 Am Feste Mariä Himmelfahrt + V.1.1 Wenige Veränderungen. Bedeutsam die Wandlungen bezüglich des Begriffs der rechten Andacht und der Angst vor der falschen Andacht. 1785 „Das Herz, das Herz muß durch die Andacht gebessert werden.“ 1814: „Ohne sittliche Besserung des Herzens ist Alles, was man Andacht nennt, unnütz oder falsch.“ 1816: „Ohne Erhebung des Herzens zu Gott und ohne Besserung unsers innersten Grundes durch Gott - ist alles, was man Andacht nennt, unnütz oder falsch.“ - Ab 1814 lautet der Zusatz am Ende: „So wie hier wahre Verehrung der Heiligen empfohlen wird, so können die Christen vor falscher Verehrung nicht genug gewarnt werden. Der Maaßstab sey der: ‚Wer nicht Gott selber in den Heiligen ehrt, und wer durch die Verehrung der Heiligen nicht besser wird, der geht nicht auf der rechten Bahn.‘“ <?page no="173"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 163 Dies ist später nicht mehr bearbeitet worden, hätte aber im obigen Sinne bearbeitet werden können: 1816 wird ja sehr schön die Besserung durch Gott ausgesprochen. V.1.2 Gebet im Stil einer erweiterten Oration. Erst ab 1831. V.1.3-4 Kaum Änderungen. V.1.5 Auf sieben Nummern verteilter Magnifikat-Kommentar. Das Gebet selbst wurde in dem großen Gebetbuch vermisst. Der Text folgt nicht dem der obigen Vesperandacht (II.6.1). Ab 1793 die Anmerkung: „Dieser erklärte Lobgesang kann auch als Vesperandacht, unter der Vesper, betrachtet werden, indem der Priester eben diesen Lobgesang (das Magnificat) singet.“ Nr. 4 „Denn große Dinge that an mir der Mächtige“. Dazu 1785: „Wer was Großes an sich oder an andern erblickt, und nicht dankbar bekennt: dieß ist das Werk des Allmächtigen, der Mächtige hat große Dinge gethan: der kann nie zur Freudigkeit der Kinder Gottes gelangen.“ 1793: „[…], der kann nie zur Freudigkeit der Kinder Gottes gelangen; der betrüget sich und andere.“ 1814: „[…]: der kann nie zur Freudigkeit der Kinder Gottes gelangen; der betrüget sich und Andere. Gott ist der Mächtige, aber seine Macht dient nur seiner Liebe, und seine Liebe will nichts als seine Kinder selig machen, das ist, zuerst den Menschen gut und den Guten selig machen.“ Nr. 5 bis 1793: „sie glauben und erfahren, daß sein Name heilig ist, daß seine Erbarmungen von einem Geschlechte zum andern fortgehen, daß sein Arm mit Allmacht wirkt.“ Ab 1814: „[…] daß sein Arm mit Allmacht wirkt, was seine Liebe beschlossen hat; daß seine Liebe heilig ist, wie Er, und seine Heiligkeit Liebe.“ V.1.6 Kaum Änderungen. V.1.7 „Nach dem Kirchengebete“. Ein Vergleich mit der betreffenden Oration macht deutlich, wie sehr Sailer bemüht ist die rechte Weise der Verehrung (Verehrung Gottes in der Verehrung der Heiligen) durchzuhalten. Darum seine Hinzufügung: „Wir ehren Dich in dem Andenken an das Leiden deiner Mutter! “ V.1.8 Auch hier die Grundlage des Textes eine Oration (stark erweitert). V.2 Uebungen an den übrigen Festtagen Mariä SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 1.-11. Aufl., Lentner 1785-1818 V.2.1 Der Gruß des Engels + V.2.2 Noch eine Andachtsübung für Alle, denen das ehrende Andenken an Maria heilig ist + V.2.1 Kaum Änderungen. <?page no="174"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 164 V.2.2 Der Gedanke Mariens als Urbild der Kirche ist in keinem der Gebete präsent. Immer wieder wird hingegen die Blickrichtung auf Jesus hin eingeschärft: „Der Glaube, das Vertrauen, der Gehorsam, die Geduld Deiner Mutter erinnern mich an Deinen heiligsten Wandel auf Erden […].“ „Tugendbeyspiel“ (1785) wird 1831 durch „Musterbild aller Heiligkeit“ ersetzt. Dennoch: zu einem freieren Blick auf die Heiligen ist Sailer nicht durchgedrungen! VI. Uebungen für einige andere Festtage und Gedächtnistage SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2.-11. Aufl., Lentner 1787-1818 VI.1 Am Gedächtnißtage eines Apostels + + VI.2 Am Festtage der Heiligen Petrus und Paulus + + VI.3 Am Festtage des heiligen Apostels Thomas + + VI.4 Am Festtage des heiligen Johannes, des Evangelisten + + VI.5 Stephanus, der Blutzeuge Jesu Christi + + VI.6 Am Festtage des heiligen Johannes, des Täufers Jesu + + VI.7 Am Gedächtnißtage des heiligen Josephs, des Nährvaters Jesu Christi + + VI.8 Gedanken zur Verehrung der Heiligen, dessen Name uns in der Taufe beigelegt worden + + VI.9 Am aller Heiligen Gedächtnißtage. Die Heiligen waren einst, was wir jetzt sind + + VI.10 Am aller Heiligen Gedächtnißtage. Was die Heiligen jetzt sind, das können auch wir werden + + VI.11 Am aller Heiligen Gedächtnißtage. Was die Heiligen jetzt sind, das sollen wir auch werden + + VI.12 Nach dem Kirchengebete + + VI.13 Am aller christgläubigen Seelen Gedächtnißtage + + VI.14 Am Feste der heiligen Schutzengel + + VI.15 An meinen Schutzengel - + VI.1 Kaum Änderungen. VI.2 1785: „mein Herr und Seligmacher“. Ab 1793 die sich vom Individuum lösende Formulierung: „unser Herr, Jesus Christus.“ - 1785: „Paulus, der die Kirche Jesu Christi verfolgte.“ Ab 1814: „Paulus, der die Kirche Gottes verfolget“. Wie <?page no="175"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 165 schon öfter beobachtet, hat Sailer auch hier die Nennung Christi durch die Nennung Gottes ersetzt. VI.3 Nur kleinere Eingriffe. Wichtig ist die besondere Hervorhebung der Figur des Thomas, den er auf den Zeitgeist bezieht. Interessant ist die Änderung: 1785: „Du ließest darum seinen Unglauben den vollen Lauf, Du heiltest ihn darum so feyerlich von seinem Unglauben, daß wir unsre Pflicht lebhafter erkenneten, und das, was wir nicht sehen, so fest glaubten, als wenn wirs sähen“. 1793: „Du ließest darum seinem Unglauben den vollen Lauf, und heiltest ihn darum so feyerlich von seinem Unglauben, damit wir mit Thomas von unserer Krankheit genäsen, und das, was wir nicht sehen, so fest glaubten, als wenn wirs sähen“. Assoziiert man bei der ersten Formulierung noch die mögliche Eigenmächtigkeit, d.h. die Möglichkeit, dass man, wenn man sich nur selbst überwinden würde, der Pflicht zu glauben nachkommen könnte, so hat sich Sailer 1793 darauf besonnen, die Hilflosigkeit des Menschen auszudrücken, der des Arztes bedarf. Tiefer noch: Der kritische Zeitgeist wird nicht mehr als mit eigener Anstrengung überwindbarerer Widerstand gegen die Pflicht, sondern als echte Krankheit angesehen. - Noch ein weiterer Unterschied in den Auflagen, der Sailers spätere Bemühung, die Rede von Christus in den trinitarischen Kontext einzubinden, zeigt, verdient Beachtung. 1785: „[Du bist m]ein Gott: in Dir bet’ ich also meinen Schöpfer und Erhalter an. Nach Dir verlang’ ich, als nach meinem letzten Ziel.“ Das ist natürlich nicht falsch, für Sailer später aber doch zu ungenau, da er offensichtlich vor der Aussage zurückweicht, Christus sei der Schöpfer. 1814: „Du bist mein Gott: in Dir bete ich Deinen Vater, in Dir meinen Schöpfer an. Du bist mein Herr und Gott: nach Dir, nach der Erkenntnis deines Vaters, und den er gesandt hat, seines Sohnes, als meinem letzten Ziele, sehnt sich mein Geist.“. - Eine weitere Beobachtung: 1785: „In Dir werd’ ich ewig selig seyn, und dann erst recht empfinden, was ich itzt nicht ganz verstehen und nicht ganz empfinden kann.“ 1814: „In Dir werd’ ich ewig selig seyn, und dann erfahren, was ich itzt nicht ganz verstehen und nicht ganz empfinden kann.“ Das Empfinden hier auf Erden ist schwach und weicht deshalb in späterer Auffassung konsequenterweise der Anschauung. Möglicherweise wird hier eine Abgrenzung zur Empfindsamkeit sichtbar. VI.4 Kaum Änderungen. Hervorzuheben 1785: „O, daß alle Menschen das Übermaaß deiner Liebe, und die Wunder deiner Weisheit […] deutlich einsähen.“ 1793: „O, daß alle Menschen an das Übermaaß deiner Liebe und an die Wunder deiner Weisheit […] glaubten.“ Der christliche Glaube wird hier nicht mehr für beweisbar gehalten. VI.5-8 Kaum Änderungen. VI.9 Hinzufügung ab 1793: „Die Heiligen hatten keinen andern Vater im Himmel als wir; hatten keinen andern Erlöser als wir; hatten keinen andern Tröster als den heiligen Geist, den wir auch haben; hatten keinen andern Schild als den Glauben, den wir auch haben können; keinen andern Anker, als die Hoffnung, die wir auch haben können, hatten keine andere Pflicht [ab 1816 heißt es: kein anderes Gesetz], als zu lieben, die wir auch haben.“ <?page no="176"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 166 VI.10-11 Kaum Änderungen. VI.12 Ab 1818 ist beinahe nichts mehr von der Oration übriggeblieben: 143 Missale Romanum 143 klGB 1785 klGB 1818 Omnipotens sempiterne Deus, qui nos omnium Sanctorum tuorum merita sub una tribuisti celebritate venerari: quaesumus, ut desideratam nobis tuae propitiationis abundantiam, multiplicatis intercessoribus, largiaris Allmächtiger! Ewiger! Es ist Dir wohlgefällig, daß deine Kirch’ auf Erden das Andenken an alle Heilige, die einst auf Erden gekämpft haben, feyerlich begehet. Laß die Fülle deiner Erbarmungen auf uns herunterthauen, da sich so viele tausend Fürbitten für deine Kinder auf Erden vereinigen. Laß uns erfahren, daß Du Vater bist, daß Du deiner Kinder nicht vergissest, daß die Wünsch’ deiner Auserwählten bey Dir gelten. Erleucht’ uns, erwärm’ uns, stärk’ uns, wie noch nie, daß die Anzahl deiner treuen Kinder auf Erden größer, und die Wohnungen der Seligen im Himmel immer mehr und mehr bevölkert werden, Amen. Allmächtiger! Ewiger! Es ist Dir wohlgefällig, daß deine Kirche auf Erden das Andenken an alle Heilige, die einst auf Erden gekämpft haben, feyerlich begehet. Laß uns erfahren, daß Du Vater bist, daß Du deiner Kinder nicht vergissest, daß die Wünsch’ deiner Auserwählten bey Dir gelten. Erleuchte uns, erwärme, stärke, reinige uns , daß die Anzahl deiner treuen Kinder auf Erden größer, und die Wohnungen der Seligen im Himmel immer mehr und mehr bevölkert werden. VI.13 Kaum Änderungen. VI.14 Enthält vier Nummern. Nr. 1 Enthält eine bemerkenswerte Umformulierung: klGB 1785 klGB 1814 Wir preisen deine Weisheit, wir loben deine Macht. Wir freuen uns an deiner Güte, wir lieben deine Liebe. Laß uns deine Weisheit und deine Güte, deine Macht und Wir preisen 143 Vgl. Placide Bruylants, Les oraisons du Missel Romain. Texte et histoire, Louvain, 1952, Bd. 2, 225, Nr. 792. <?page no="177"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 167 deine Liebe immer mehr erkennen, immer mehr erfahren, daß uns Jesus Christus, dein Eingebohrner, unser Herr, einst vor Dir und seinen Engeln als seine treuen Jünger bekenne, und keinen aus uns verläugne diesen Rathschluß deiner weisen Liebe, glauben, wo wir nicht sehen, und bethen an, wo wir nicht verstehen. Deine Engel weisen uns zu Dir, wie Himmel und Erde; jene rufen wie diese: Menschen! der Herr hat uns und euch gemacht, bethet Ihn an, und thuet seinen Willen, wie wir ihn ausrichten. Diesem Rufe folgen wir, und sprechen mit den Engeln und mit der ganzen Natur: Herr[,] dein Wille geschehe Hier wird deutlich, was Sailer mit Anbetung meint: Ergriffen vom Faktum, Gottes Geschöpf zu sein, den Willen dessen zu tun, dem wir alles verdanken. Nr. 2 1785: „Der Allerhöchste ist mein Vater, sein Eingebohrner mein Erretter und mein Bruder, seine Engel meine Diener.“ 1831: „Der Allerhöchste ist mein Vater, sein Eingeborner mein Erretter und Bruder, der heilige Geist mein Tröster, mein Licht, mein Leben und meine Stärke, seine Engel meine Diener.“ 1785 gab es noch eine Nr. 4, die das „Dein Wille geschehe“ zum Thema machte. Diese ist ab 1814, um Doppelungen zu vermeiden, getilgt. VI.15 Erst ab 1787 eingefügt. Danach keine Änderungen mehr. VII. Andachtsübungen für verschiedene Stände und in verschiedenen Umständen SW 22, 12. verb. Aufl. Seidel, 1831 Lentner, 1785 2.-3. Aufl., Lentner, 1787-1789 5., Lentner, 1793 8.-11. Aufl., Lerch und Lentner 1814-1818 VII.1 Fürbitte für alle Menschen + + + + VII.2 Gebet für Brautleute - - - - VII.3 Für Eltern. Wie sie ihre Kinder frühzeitig zur Erkenntniß Gottes führen sollen + + + + VII.4 Gebet der Eltern für sich und ihre Kinder - - - - VII.5 Der Landmann vor seinem Gott + + + + <?page no="178"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 168 VII.6 Gewissenserforschung für Hausväter und Hausmütter + + + + VII.7 Für Dienstboten + + + + VII.8 Gebet für Dienstboten, Dienstgenossen - - - - VII.9 Für Jünglinge und Jungfrauen. Von dem Werthe der Keuschheit + + + + VII.10 Für Jünglinge und Jungfrauen. Bewahrungsmittel der Keuschheit + + + + VII.11 Das Lied der Herzens-Einfalt - - - + VII.12 Anbetung Gottes bei einem Donnerwetter + + + + VII.13 Aerntefest. Bei einer gesegneten, reichen Aernte + + + + VII.14 Gebet - - - - VII.15 Selbstgespräch eines Christen im Augenblicke der Versuchung + + + + VII.16 Gebet - - - - VII.17 Wenn man nicht in die Kirche zu dem vormittägigen oder nachmittägigen Gottesdienste gehen kann + + + + VII.18 Wenn man zu Nachts erwacht + + + + VII.19 Reisegebete - + + + VII.20 Wie man sich in wichtigen Angelegenheiten mit Gott berathschlagen soll - + + + VII.21 Allgemeines Gebet in allgemeinen Anliegenheiten - + + + VII.22 In den Zeiten einer allgemeinen Verwirrung - - + + VII.23 Wenn die Ruchlosigkeit überhand nimmt - - + + VII.24 In den Tagen des Krieges - - + + <?page no="179"?> Vergleichende Analyse der Auflagen des kleinen Gebetbuchs 169 VII.25 Wenn die Landplagen immer noch zunehmen - - - + VII.26 Nach hergestelltem Frieden. - - - + VII.27 Bei einer Bischofswahl - + + + VII.28 Gedanke auf einem Gottesacker - + + + VII.29 Ein Wort des Trostes für Leidende + + + + VII.30 Psalm in geheimen Leiden + + + + VII.31 In der Stunde der Trübsal + + + + VII.32 Muth im Leiden - - + + VII.33 Verlangen, bei Jesu zu seyn - - + + VII.34 Litaney zu Jesu für Kranke + + + + VII.35 Gebet eines Kranken + + + + VII.36 In schlaflosen Nächten - + + + VII.37 Gedanken eines Gerechten bei dem herannahenden Tode + + + + VII.38 Wenn man die letzte Wegzehrung zum Kranken trägt + + + + VII.39 Wenn man die Sterbeglocke läutet + + + + VII.40 Leichenpsalm, wenn die Leiche in’s Grab gelegt wird + + + + VII.41 Wenn man vom Grabe hinweg, in sein Haus zurückkehrt - - + + VII.42 Bei meiner künftigen Grabstätte - - - - Die Übersicht zeigt wie der Bestand nach und nach gewachsen ist. Die hauptsächlichen Hinzufügungen der Fassung von 1831 besteht in Gebeten: Die frühere bloße Betrachtung wird um diese ergänzt. VII.1 Kaum Änderungen. VII.2 1831 neu. Zum Gebet in der Kirche gedacht (vor und nach dem Empfang des Sakraments). <?page no="180"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 170 VII.3 1831 ergänzt Sailer die Ermahnung der christlichen Mutter, das Kind auch früh zu Jesus, (und nicht nur zum „himmlischen Vater“) zu führen und die Kinder das Beten aus dem Herzen zu lehren. VII.4 1831 neu. Wenig bemerkenswerter Inhalt. VII.5 Kaum Änderungen. VII.6 Ab 1793: Nr. 22 „ Ist Christus in meinem Hause? Tragen alle Glieder der Familie sein Bild? Könnte ich, vor Gottes Angesicht, behaupten: Mein Haus ist ein Christenhaus, meine Haushaltung eine christliche? Schämen sich die Hausgenossen unsers Herrn und seines Evangeliums nicht? “ VII.7-13 Kaum Änderungen. VII.14 Erst 1831. Einer Oration sehr ähnlich. VII.15 Kaum Änderungen. VII.16 Nur 1831. Eher im Stil einer Oration gehalten. Ein Stoßgebet wäre wohl passender gewesen. VII.17-18 Kaum Änderungen. VII.19 Ab 1787. Der Text findet sich auch im großen Gebetbuch (ebenso wie VII.20, 21, 27, 28, 36). Es handelt sich um eine recht genaue Übersetzung des kirchlichen Reisegebetes. VII.20-24 Kaum Änderungen. VII.25-26 Ab 1814. Soziale und politische Einflüsse wurden ab da möglicherweise stärker wahrgenommen. Kaum Änderungen. VII.27-28 s.o. VII.19 VII.29-31 Kaum Änderungen. VII.31 ist ein Zitat aus der Imitatio Chriti, III, 29. VII.32-33 Ab 1793. Wieder wohl eigene Verse. Kaum Änderungen. VII.34-36. VII.36 s.o VII.19 VII.37 1831 wird ein Zitat aus Röm. 14,7-9 (Leben und Sterben in Christus) hinzugefügt. Darüber hinaus kaum Änderungen. VII.38-41 Kaum Änderungen. VII.42 Ab 1831. Bußgesinnung ausdrückend. <?page no="181"?> Auswertung der Analyse der Gebetbücher 171 d) Auswertung der Analyse der Gebetbücher Gewiss ist es an dieser Stelle noch zu früh, abschließend zu werten. Dennoch sind auf den bisherigen Seiten so viele Positionen und Wandlungen begegnet, dass es an der Zeit ist, diese vorläufig zusammenzufassen und in den Fragen, die sie aufwerfen, mit Blick auf das noch vor uns Liegende zu bündeln. Eines der ersten Dinge, die in Sailers Schriften auffallen, ist sein freundlicher, einladend-warmer Stil. Dabei orientierte er sich durchaus an zeitgenössischen Vorbildern. Und so ist es gewiss richtig, wenn man ihn in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als einen katholischen Vertreter der literarischen Empfindsamkeit betrachtet. Denn was wir schon im ersten Kapitel als Tendenz beobachten konnten: Das zentrale Wort, das bei ihm, vor allem in dieser Zeit begegnet, heißt „Herz“. Ein Wort, das bereits die Pietisten, die damit seinem Gebrauch im Deutschen eine ganz neue Qualität verliehen 144 , zu den intensivsten Wortneuschöpfungen angeregt hatte. Nach und nach kehrte ein nüchternerer Ton ein und es verschwanden die zahllosen emphatischen Superlative wie z.B. „Anbetungswürdigster! “. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts muss Sailer als den Romantikern nahestehend angesehen werden. So erklärt es sich, dass wir bisweilen wohl auch auf eigene lyrische Versuche stoßen 145 . Das „Herz“ allerdings blieb dabei immer ein Grundwort seiner Sprache. Mit dem Wandel des Stils geht auch der des Gedankengebäudes einher, das diese Formen trägt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass dem empfindsamen Aufklärer, den unter anderem auch eine literarische Absicht drängte, das „Lesen“ nicht mehr genügte, nachdem er sich dem romantischen Denken angenähert hatte, welches sich ja programmatisch auf Voraussetzungen stützt, die außerhalb der Literatur und des Schöngeistigen insgesamt liegen. Mehr und mehr intendierte Sailer statt eines Lesebuchs ein Andachtsbuch. Und wenn er vordem besonders darauf abhob, Verstand und Herz bilden zu wollen, so ging es mit der Zeit darum, dem betenden Herzen über die stumme Ergriffenheit 146 hinaus zur Sprache zu verhelfen, eben selbst Dolmetsch des betenden Herzens zu werden, wie es das Motto der späteren Auflagen über den Mund sagt. Das freilich bedeutet keinen Gegensatz zu seiner frühen Phase, sondern eine Vertiefung. Es waren vor allem Gebildete, die sich dadurch angesprochen fühlten, denen Sailer offenbar buchstäblich aus dem Herzen sprach. Genauer: Wir müssen diejenigen als Leserinnen und Leser vermuten, für die die Bedingungen vieler überkommener Gebetbücher nicht mehr galten: In jener Zeit der Auflösungen, deren Höhepunkt, nicht aber deren Beginn, die Säkularisation von 1803 markiert, waren es viele, die sich, wenn nicht durch äußere Umstände, längst innerlich entwurzelt fühlten und schon von den alten Bindungen und Beheimatungen, die früher etwa als Bruderschaften oder andere geistliche Verbindungen jeweils die Kirche repräsentiert und darzustellen vermocht hatten, losgelöst waren. Man suchte neue 144 August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 1968, zählt allein 47 Adjektiv- und Substantiv-Komposita mit „Herz“ auf. 145 Vgl. z.B. o. S. 158. 146 Vgl. o. S. 164 f. den Kommentar zum kleinen Gebetbuch VI.2.-4. <?page no="182"?> Kapitel 2. Die beiden Gebetbücher 172 Bande zu knüpfen, Freundeskreise und politische Zirkel entstanden; und in dieser Situation traf ein zum Gebet hinführendes Vorlesebuch, das dem Ablauf des Vortrags keinen Zwang auferlegte, den Nerv der Suchenden. Der Einzelne, sei es in seiner Kammer, sei es im Kreise mit den Seinen, war Adressat. Die Schattenseite davon zeigte sich uns im Zusammenhang mit den Sterbegebeten: Dieser Einzelne war mitunter höchst einsam - und war auch einer, der ein gewisses geistiges Niveau nicht unterschreiten durfte. Zunehmend ist sich Sailer dieses Umstandes auch beim kleinen Gebetbuch bewusst geworden. Die späteren Fassungen enthalten nur noch selten Versuche, sich einem vermeintlichen Volkston anzupassen. Interessant ist es unter diesem Gesichtspunkt, sich noch einmal das Gebet zum Fest des Apostels Thomas vor Augen zu führen 147 . Die Betrachtung der Figur des Apostels gibt dem 18. Jahrhundert überall die Gelegenheit, sich mit dem Unglauben der Zeit auseinander zu setzen und über dessen sinnliche Erfahrung und sein existentielles Bekenntnis zu reflektieren 148 . Mit der Änderung von 1793 zielte auch Sailer seinerseits auf jene Zeitgenossen, deren Kritizismus ihm wie eine Krankheit erschien. Inhaltlich sticht besonders hervor, dass Sailer die Mitte unseres Glaubens, Jesus Christus, auch zur Mitte seines Gebetbuchs gemacht hat. Und dieses mit einer Entschiedenheit, die von etlichen Zeitgenossen auch als ökumenisches Zeichen verstanden oder - wie die Unterstellungen im Streit mit Nicolais zeigten - beargwöhnt wurde. Freilich hatte das seinen Preis. Dieser Reduktion fiel als erstes die sonst allenthalben übliche und stets an vorderste Position gebrachte Verehrung der Dreifaltigkeit zum Opfer. Gewiss hatte Sailer solches nicht intendiert, vielmehr unterlief ihm das gleichsam nebenbei. Aber überdeutlich ist es, wie beziehungslos er dem Wirken des Heiligen Geistes in den früheren Fassungen gegenübersteht. Mit der Neubearbeitung von 1831 hat er diesen Mangel an zahlreichen Stellen beheben können und zeigt so auch eine innere Entwicklung an. Eine weitere Folge der Konzentration auf Jesus Christus war der Stellenwert der Heiligenverehrung, der etwas Zwanghaftes selbst noch in der Neubearbeitung eignet. Stets vermitteln die entsprechenden Texte die Angst Sailers, die Heiligenverehrung könnte Christus etwas nehmen; stets wehren sie sich gegen Fehlformen. Zu dem Gedanken, im Heiligen leuchte Christus selber auf, und wir würden also, bei rechtem Licht, Christus um so mehr verehren, je mehr wir auf den Heiligen blickten, vermag Sailer noch nicht durchzudringen - wiewohl er die Forderung, selbst ein Bild Christi zu werden, an seine Leser durchaus stellt. 149 Ein anderer markanter Zug dieses Gebetbuchs, den es allerdings mit etlichen seiner Zeit gemeinsam hat, ist sein bleibender Vorbehalt gegen Formeln des Gebetes. In ihnen wird die Ursache für die Ermüdung des Geistes erblickt. Außer 147 Vgl. Kommentar zu VI.3, S. 165. 148 Ein besonders schönes und markantes Beispiel hierfür bildet eine Predigt Nikolaus Zinzendorfs, Nine public lectures on important subjects in religion preached in Fetter Lane Chapel in London in the year 1746, Iowa City, 1973, 82: „If anyone asks me about his salvation, I say to him, ‚Do not believe, if you do not want to be deceived, do not believe until you see the prints of the nails and place your finger in the prints of the nails and place your hand in his side: then believe.‘“ 149 Vgl. o. S. 134 den Kommentar zu I.1.7 (der Gedanke der Gottähnlichkeit). <?page no="183"?> Auswertung der Analyse der Gebetbücher 173 einigen wenigen, die ausführlich kommentiert werden, um sie mit Gedanken, die der Abnutzung wehren sollen, zu füllen, kommen denn in diesem Gebetbuch fast keine vor. Die Gebete, selbst die dem Missale entnommenen oft stark erweiterten Orationen, werden stets so formuliert, dass sie mehr einer Rede des Beters (die der Leser selbst variieren soll) gleichen. Die angeführten gereimten und reimlosen Verse sind offensichtlich nicht für das wiederholende Beten gedacht. Dem Gebet der Tagzeiten kann er deshalb auch nichts Positives abgewinnen. Dennoch kommt es immer wieder zu zaghaften Versuchen, einen Wochenrhythmus vorzugeben. Ein großer Gewinn ist die deutliche Hervorhebung des Sonntags und des Hochamtes. - Auch dies eine Frucht der Bemühung darum, das Wesentliche der Frömmigkeit hervortreten zu lassen. Schon für die Werktagsmesse hatte er die Aufmerksamkeit des Lesers zu stärken versucht, indem er, auf traditioneller Linie, den rechten Begriff vom Messopfer an die Hand zu geben bemüht war. Davon abgesetzt, stellte Sailer die Sonntagsmesse als den eigentlichen Höhepunkt der Woche heraus und legte in seiner Übersetzung des Messordo großen Wert darauf, dass die Gläubigen dem Geschehen am Altar zu folgen imstande wären. Ein Dokument für die bedeutenden Veränderungen in Sailers Denken stellt die Ausgabe des kleinen Gebetbuchs von 1793 dar. War das Vollständige Lese- und Betbuch noch stark dem auf Tugend ausgerichteten Eudämonismus verhaftet, dem die Fortschritte im Tugendstreben das Unterpfand des Seelenheils bedeuteten, so bricht Sailer - ohnehin kein radikaler Verfechter dieses Denkens - in den 1790er Jahren ganz damit und denkt die Seligkeit von da ab nicht mehr ohne den Begriff der Gnade. Die Morgengebete, vor allem das der „Guten Meinung“, zeigten hier deutlich die Abwendung von Formulierungen, die die Machbarkeit des Glücks zu verstehen gaben. Mehr und mehr erhalten auch passivische Wendungen den Vorzug vor denen des Aktiv: Gott, und nur er ist der Handelnde. Sein Wille geschieht! Die Zeit um 1814 bis 1816 bringt dann eine Vertiefung der nunmehr vorgegebenen Richtung. Wo vorher eigenmächtiges Tugendstreben empfohlen wurde, ist jetzt der Blick auf den die Gnade voraussetzenden Glaubenskampf um Reinheit und Heiligung gelenkt. Wenn darum ehedem das Glückseligkeitsstreben als die intellektuelle Basis des Gebetbuchs gelten konnte, so wird es nach und nach die Haltung der Anbetung, welche Heiligung wirkt, die sich in den Vordergrund drängt. Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung aber hat in jeder dieser Phasen zum einen Sailers steter Rückbezug auf die Texte der Heiligen Schrift und einiger sogenannter Mystiker, vor allem auf Thomas von Kempen. Zum anderen ist es sein begriffliches Festhalten an der Kategorie des Herzens, welche die Vertiefung erbringt. Mit ihr war es ihm möglich, zunächst aus einer als eng empfundenen Frömmigkeit auszubrechen, um sich mit ihrer Hilfe im Lauf der Zeit den traditionellen Denkmustern wieder anzunähern. Das brachte schließlich den in der Neubearbeitung von 1831 sichtbaren Wandel hervor, worin sich Sailer am stärksten auf die Formen liturgischen Betens stützte. <?page no="185"?> Kapitel 3: Das Herz, das Gemüt, die Anbetung und das immerwährende Gebet Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 Die vorangehenden Textvergleiche und Analysen haben erkennen lassen, wie sehr unser Andachtsbuch eingebettet ist in die zeitgenössische Auseinandersetzung um das Gebet und wie es diese „Mitgift“ auch in den zahlreichen Überarbeitungen für die Neuauflagen der kleinen Ausgabe beibehalten hat: Das erste Kapitel hat gezeigt, wie Sailer, offenbar während des Verfassens seines „Unterrichts vom Gebet“ begann, das Herz als Ort des Betens mehr und mehr in den Blick zu bekommen begann. Wohl nach der Fertigstellung des Gebetbuches verfasst, d.h. in der Rückschau und Absicht, die „Lehre“ daraus komprimiert darzubieten, und aus einem Klima nicht selten harter Reformdebatten und Versuche geboren, wird deutlich, dass etwas bereits gleichsam aus den Poren der Sprache herausgetreten war, was gedanklich noch einzuholen sein würde: das Herzensgebet. Die genauere Untersuchung des großen wie des kleinen Gebetbuchs hat die Arbeit Sailers mit einem Blick zu würdigen versucht, der sowohl das Konzept in seinen einzelnen Facetten als auch deren Veränderungen im Laufe der Zeit betrachtete. Dabei begegnete immer wieder, dass jenen manchmal unscheinbaren Umarbeitungen der fünften Auflage von 1793 die größte Bedeutung zukamen. Hatte es etwa in einem Text der ersten Auflage von 1785 noch recht allgemein geheißen „[…] zum Licht des Glaubens […]“, so entzog sich erst die Wendung von 1793: „[…] zum Lichte des heiligen, christlichen Glaubens“ einer Interpretation, die sich in dem Anspruch des eigenen Glaubenslebens nicht hätte gefordert zu fühlen brauchen. Dass der Sailer des frühen 19. Jahrhunderts in der Pointierung seiner Gedanken damit allerdings noch zu keinem Abschluss gekommen war, dokumentiert die gleiche Stelle, die 1814 noch weiter zugespitzt lautet: „[…] zum Lichte des heiligen, christlichen Glaubens, des Glaubens, der in Liebe thätig zu allem Guten, und in der Hoffnung mächtig zu allem Troste ist […]“ 1 . Noch in der den späten 1780er Jahren angehörenden Glückseligkeitslehre aus Gründen der Vernunft hatte er das Gebet nur von seiner Wirkung, oder wie Sailer sagen würde: von seinem „hohen sittlichen Werthe“ 2 her beschrieben. Dabei rückt er allerdings inmitten der moralphilosophischen Darstellung „in steter Hinsicht auf die Urkunden des Christenthums“ - wie es der Untertitel des Werkes hervorhebt - unvermittelt einen Text aus der Heiligen Schrift ein, dessen berühmte Wendung in der gesamten Auslegungstradition eine wichtige Rolle gespielt hat und der 1 Vgl. o. S. 155. 2 SW, 5, 87. Vgl. im Ganzen die Kap. 35-38 mit dem Schwerpunkt auf dem Bittgebet, ebd., 87-102. <?page no="186"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 176 speziell im 18. Jahrhundert immer dann, wenn es um die Wahrhaftigkeit des Betens geht, zu greifen ist; bei Sailer aber kristallisiert den Entwicklungsgang erkennen lässt, welchen die rechte Anschauung vom Gebet bei ihm genommen hatte: „‚Es kommt die Zeit, und sie ist schon wirklich zugegen, da die wahren Anbeter den Vater im Geiste und in der Wahrheit anbeten werden. Und dieß sind die rechten Anbeter, die der Vater haben will. Denn Gott ist ein Geist, und die Ihn anbeten, müssen Ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten.‘ Joh. IV, 23.24.“ 3 Jene Akzentverschiebungen im Verständnis von der „Anbetung in Geist und Wahrheit“ sollen uns hier im letzten Kapitel beschäftigen. Wenn wir dazu die neue Konzeption des „Vollständigen Unterrichts von dem Gebete“, die für die Neubearbeitung des großen Gebetbuchs gedacht gewesen war, in Augenschein nehmen, so werden wir dies um so klarer können, wenn wir zuvor noch einige Strömungen gedrängt zusammenfügen. Deren Wirkung beobachten wir, wiewohl sie vorher schon greifbar sind, ab den 1790er Jahren doch deutlicher. Sailer hat sie entweder als Einflüsse positiv aufgenommen oder abzuwehren versucht. Auf diese Weise glauben wir uns annähernd vorstellen zu können, was der „Gott-vertraute und Gebets-kundige Geist“ 4 zu verarbeiten hatte, um zu jener Einsicht über das Gebet ohne Unterlass, von der bei Beginn dieser Arbeit die Rede gewesen war, zu gelangen. Anfangs mehr geleitet durch das scheinbar nur Wahrhaftigkeit und Kritik an der Veräußerlichung der gottesdienstlichen Formen aussagenden Begriffspaares „Geist und Wahrheit“ legte sich bei ihm nämlich nach und nach der Schwerpunkt der Betonung auf die „Anbetung“. So sehr, dass, anders als in der ersten Auflage, wo das Bittgebet zu Beginn als Prinzip des Betens angesehen wurde, in der neugefassten Einführung nun sie, die Anbetung, den beherrschenden Gedanken und den Zusammenhalt der Ausführungen bildete. Und indem er, von den einzelnen Akten des Betens gelöst, sich auf das Geschehen in und durch die Anbetung konzentrierte, vermochte Sailer auch wieder die Dauer des Betens neu und wie ein Siegel zu verstehen: Der wahre Beter betet immer. Neu verstehen heißt hier: das Frühere wiederzuerlangen, das, was an der Tradition wesentlich war, aus einer neuen Perspektive wiederzuerreichen. Darum verwundert es nicht, wenn Sailer den „Vollständigen Unterricht von dem Gebete“ der nunmehr vierten Auflage ganz althergebracht in der von Neilus und Johannes Damascenus überkommenen Weise beginnt: „Gebet ist Erhebung des Gemüthes zu Gott,“ aber dann die Aussage weitet und steigert: „ist Umgang des Gemüthes mit Gott, ist bleibendes Anhängen des Gemüthes an Gott, ist in seiner Vollendung Einigung mit Gott.“ 5 3 Ebd., 92. 4 Widmer über Sailer, vgl. SW, 23, IX. 5 SW, 23, 3. Vgl. o. S. 119, Anm. 115 mit den dort angegebenen patristischen Nachweisen. Bemerkenswert ist, dass sich schon Johannes Damascenus nicht auf diese Definition absolut festlegen will. Auch das Bittgebet umschreibt für ihn treffend Gebet. <?page no="187"?> Die sogenannten mystischen Quellen 177 a) Die so genannten mystischen Quellen Die Quellen Sailers, aus denen er für sein Gebetbuch schöpfte, sind uns schon oben auf Schritt und Tritt begegnet: die Heilige Schrift und die Orationen des Missale Romanum 6 . Daneben vermerkt er ausdrücklich den Gebrauch der Imitatio Christi des Thomas von Kempen: zunächst im Vorwort der ersten Auflage, dann aber noch einmal mit einiger Emphase in seiner Apologie gegen Friedrich Nicolai, wo er es das beste asketische Werk nennt, auf dessen Geist und Inhalt er hingearbeitet habe 7 . Andere Quellen, wenn er sie auch anzukündigen scheint oder vielleicht auch tatsächlich verwendet 8 , benennt Sailer nicht. Wenn wir nun danach fragen, auf welche Weise Sailer eine gewisse Freiheit sowohl der hergebrachten Frömmigkeit als auch seinen Zeitgenossen gegenüber gewinnen konnte, so dürfen wir sicherlich als Hauptursache eben jenen konzentrierten Blick auf die „Urkunden des Christenthums“ annehmen. Doch hatte der Vergleich mit anderen Gebetbüchern gezeigt, dass für Sailer damit nicht das Recht zu reklamieren ist, einsam neue Wege in der Frömmigkeitsgeschichte beschritten zu haben. Die von ihm gelobten zeitgenössischen Autoren Seibt und Braun stehen ihm hierin nicht nach; gut ein Jahrzehnt vor ihm ist der ebenfalls von ihm erwähnte Jesuit Goldhagen in der gleichen Weise tätig; und lange vor diesen haben auch Amort und Nakatenus in diesem Sinne gewirkt. Ganz zu schweigen davon, dass sich, wenn auch in weit geringerem Maße, vor allem Psalmen bei den übrigen angeführten Beispielen fanden. 6 Ausdruck dieser Wertschätzung ist auch seine Herausgabe von Orationen in dem Band Geist und Kraft der katholischen Liturgie, wie sie sich in den Kirchengebethen von selbst offenbart, München, 1788. 7 Vgl. Johann Michael Sailer, Das einzige Märchen in seiner Art: eine Denkschrift an Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786; gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fried. Nikolai., München, 1787, 43. 8 Vgl. Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 62: „Ist es nicht Pflicht sie [sc. die Menschen] mit dem Besten (in nuce) bekannt zu machen, was bereits über Gott, Christus, Tugend, Seligkeit geschrieben worden? Soll ein Betbuch nicht die Quintessenz aller brauchbaren Schriften, die nicht über den Gesichtskreis der Menge gehen, enthalten? […] Also Sammlungen des Besten, Umarbeitungen des Fremden, Ausarbeitungen aus Eignem - alles, was den Beter weiter bringt, ists mein oder dein - gehört in ein vollständiges Lese- und Betbuch.“ Vielleicht hat diese Ankündigung gelegentlich dazu verleitet anzunehmen, Sailer hätte von den Texten der Kirchenväter Gebrauch gemacht (so z.B. bei Bernhard Gajek, Sailer und die Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, 123 oder bei Georg Schwaiger, Johann Michael Sailers literarisches Werk und theologische Bedeutung. In: Ebd., 332). Ein solcher Nachweis wäre aber noch zu führen und bedürfte weiterer Untersuchungen, die die Verarbeitung eines Gedankens bei Sailer und bei einem bestimmten Kirchenvater zum Inhalt haben müsste. Mir ist dergleichen bisher nicht aufgefallen. Auch der mit dem Gesamtwerk sehr vertraute Ignaz Weilner kann z.B. für dieses Werk keinen relevanten Beleg für den sonst so häufig zitierten Augustinus anführen (vgl. Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 340, Anm. 2. Die dort angeführte Belegstelle aus SW, 23, 27 bezieht sich auf die neugefasste Einleitung von 1831, die andere SW, 23, XI - nicht SW, 25, XI! - erwähnt bloß neben vielen anderen den Namen). <?page no="188"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 178 Es ist indessen die Art seines Umgangs, besonders mit der Heiligen Schrift, die Sailer herausragen lässt. Und deshalb richtet sich unser Interesse zunächst auf jene Vermittler, die ihm diesen Umgang einzuüben halfen. Im Laufe der Zeit sind für ihn dabei diese vermittelnden Stimmen immer vielfältiger geworden, immer ausgedehnter und gründlicher hat er sich mit den Traditionen des geistlichen Lebens, einer an der Heiligen Schrift genährten Frömmigkeit auseinandergesetzt. Ja, Hubert Schiel stellt diesen Zug sogar scharfsinnig der Persönlichkeit des Sailer-Freundes Lavater gegenüber, jenes Mannes der, wie wir sehen werden, selbst einen nicht unwesentlichen Anteil an Sailers Verstehen der Heiligen Schrift hatte: „In dieser Hinwendung zur Vergangenheit des Christentums zeigt sich einer der wesentlichsten Gegensätze zwischen ihm und Lavater.“ 9 Da nun der ursprüngliche Plan des Gebetsbuchs von 1783 bei allen Veränderungen im Kleinen bis zu der verschollenen Neufassung von 1831 gültig blieb, werden wir recht daran tun, unseren Blick zunächst nur auf die schon seit dem Unterricht am Jesuitengymnasium als Sprachübungstext vertraute Imitatio Christi zu lenken. Denn sie allein hat in den frühen 80er Jahren ihre Wirkung auf Sailer besonders sichtbar werden lassen. Anderen für die Ausprägung seiner religionsphilosophischen und moraltheologischen Werke sehr bedeutsamen Autoren wie François Fénelon und Johannes Tauler ist aus diesem Grund in unserem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle zuzuerkennen. Die ihm spätestens seit dem Landsberger Noviziat bekannten Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola erscheinen uns hingegen ein interessantes Bindeglied für die Genese des Sailerschen Gebetsverständnisses zu sein. Deshalb ist, nachdem wir seinen mit ihm selbst als Mystiker verschrieenen pietistischen Freunden die Aufmerksamkeit gewidmet haben werden, dieser Grundtext des Jesuitenordens ebenfalls eigens zu beachten. 1. Imitatio Christi Die hohe Bedeutung, die dem spätmittelalterlichen Werk für Sailers inneren Werdegang zukommt, ist allgemein anerkannt, war aber bisher noch kein Gegenstand einer größeren Untersuchung 10 . Noch wertvoller nämlich als die Erforschung der Geschichte der Sailerschen Übersetzung der Imitatio Christi 11 selbst, wäre es zu 9 Hubert Schiel, Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, Köln, 1928, 48. 10 Verwiesen werden kann auf den Aufsatz von Peter J. M. A. van Ool, Die Imitatio Christi in der Ausgabe von Johann Michael Sailer. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, S. 223-240 und dessen unveröffentlichte Diplomarbeit: Johann Michael Sailer und die ‚Imitatio Christi‘, Utrecht, 1993. Van Ool beschränkt sich allerdings in dem genannten Aufsatz auf die Frage, warum Sailer eine neue Übersetzung des Werkes anfertigte. Da Ool hier nicht über die bisher bekannten Fakten hinausgeht, habe ich darauf verzichtet, mich um die Einsichtnahme der Diplomarbeit zu bemühen. 11 Vgl. SW, Suppl.-Bd. [Thomas von Kempen], Das Buch von der Nachfolgung Christi, neu übersetzt und mit einer Einleitung und kurzen Anmerkungen für nachdenkende Christen herausgegeben von Johann Michael Sailer, 10. Aufl., Sulzbach, 1873, VII-IX. <?page no="189"?> Die sogenannten mystischen Quellen 179 wissen, an welchen Stellen des Gesamtwerks ihr Einfluss fassbar geworden ist. Steht sie doch am Anfang seiner Beschäftigung mit den eben erwähnten Quellen des geistlichen Lebens vergangener Tage, die gewissermaßen die Rüstkammer für seine späteren Bemühungen bilden. Für die Zwecke dieser Untersuchung können wir uns jedoch darauf beschränken, den unverkennbaren Zug zur Einkehr und Zurückgezogenheit hervorzuheben, der ein Charakteristikum der Devotio moderna im Allgemeinen und mit ihr im Besonderen auch der Schrift von der Nachfolgung Christi darstellt. Dieser entschiedene Rückzug in die Abgeschiedenheit und beinahe ins Private, gepaart mit einer sehr einfachen, bisweilen einfältig wirkenden Sprache, ist es stets gewesen, der durch die Jahrhunderte Faszination und Abwehr ausgelöst hat 12 . Als einer, der von dem Lager der Befremdeten zu dem seiner Anhänger gefunden hatte - „anfangs konnte ich mit ihm nicht ganz zurecht kommen“ 13 -, möchte Sailer das Werk nun jenen nahe bringen, die „bei aller Achtung für das einleuchtende Gute, einen dringenden Widerwillen haben gegen Einiges, das auch mit im Buche vorkommt“ 14 . Wir erkennen in diesem Bemühen eine Wiederholung jenes Impulses, der ihn gut zehn Jahre früher zur Veröffentlichung seiner streitbaren Ankündigungsschrift und seines Gebetbuchs veranlasst hatte. „Wer sich beredet, daß er selbst denken kann“ 15 , so hatte er damals scharf formuliert. Nun nennt er seine Anmerkungen für „nachdenkende Christen“ gemacht. Die offensive Wendung von damals ließ er also fürs erste hinter sich, dennoch enthält der Untertitel eine Provokation. Im „Nachdenken“ konnte Sailer einen gemeinsamen Nenner für seine Epoche erkennen. Auf der anderen Seite weist er in der Einleitung zu seiner Übersetzung auf die Voraussetzungen des „rechten Nachdenkens“ hin. „Den Werth der Nachfolgung Christi zu bestimmen“, wüssten nämlich nur solche Leser, die „die res, das Seyn, […] die Sache in sich haben und also weder von einem fremden Dinge, noch aus fremden Grunde urtheilen“ 16 . Dagegen seien die „bloß speculativen Köpfe“ oder die von ihm so genannten „Nominalisten“ und „Idealisten“ 17 - „das ist: Menschen, die um den Besitz der Sache unbekümmert, in 12 Diese ambivalente Haltung kommt z.B. bei Franz Freiherr von Fürstenberg in einem Brief vom 18. April 1786 an Amalia Gallitzin zum Ausdruck: „Unterdeßen empfehle ich dir das 54. 55. Cap. von Th. a Kempis, welche ich heute gelesen; ich wünsche du möchtest sie in seinem barbarisch naiven Latein lesen.“ (Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde, 1. Teil, Münster, 1962-1964, 2 Bde. Zitiert nach: Nikolaus Staubach, Von der Nachfolge Christi und ihren Folgen, oder: Warum wurde Thomas von Kempen so berühmt? In: Kempener Thomas-Vorträge, Kempen, 2002, 97.) Kritisch bewertet z.B. auch Erwin Iserloh, Die Kirchenfrömmigkeit in der Imitatio Christi. In: Sentire Ecclesiam. Freiburg u.a., 1961, 251-267. 13 SW, Suppl.-Bd., IX. Daneben spricht Sailer in einem großen Lobpreis an derselben Stelle davon, in dem Buch seinen „allgegenwärtigen Freund“ gefunden zu haben. 14 Ebd., VI. 15 Gebetbuch-Anzeige, 7. 16 Ebd., XVIIIf. 17 Vgl. ebd., XV-XVIII. <?page no="190"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 180 den Begriffen von den Begriffen leben“ 18 - „unfähig, das Gute und Wahre dieses Buches zu kennen, zu achten, zu gebrauchen, zu genießen“ 19 . Es muss hier nicht erörtert werden, welche konkreten Gegner Sailer mit dieser Polemik zu treffen versuchte 20 . Wichtiger ist für uns der Vorwurf, die zur Lektüre „unfähigen“ Leser ließen sich nicht von der Wirklichkeit leiten oder blieben ihr fremd gegenüber. Ergibt sich daraus doch die Frage, um welche Wirklichkeit, um welche „Sache“, die man „in sich haben“ müsse, es sich eigentlich handelt? Sailer sagt uns darüber nichts. Sein Thema ist kein anderes als das der von ihm übersetzten Schrift: die Einkehr. Und dadurch entsteht schließlich der Eindruck, die Hinwendung nach innen, das Horchen auf dieses Innere seien selbst „die Sache“, während das, was im Inneren zu vernehmen sein wird, ganz unbestimmt bleibt. Eine der in dieser Hinsicht dichtesten Stellen sowohl der Imitatio Christi als auch des Sailerschen Kommentars liegt mit dem bekannten Beginn des zweiten Buches vor, wo Thomas die Worte aus dem Lukasevangelium (Kap. 17,20) „Regnum Dei intra vos est“ in einem den mittelalterlichen Bibelauslegungen entsprechenden geistigen und den Textzusammenhang übersteigenden Sinn als „Das Reich Gottes ist in euch“ verstehen möchte. Sailers Anmerkung dazu stellt der Redlichkeit halber, und um den Bedenken der Zeitgenossen auf gleicher Ebene zu begegnen, den im Lukasevangelium gemeinten Sinn zunächst klar: „Jesus, von den Pharisäern gefragt, wann das Reich Gottes käme, antwortet: ‚Es darf nicht erst mehr kommen; es ist schon gekommen; Christus, der König, sein Wort, seine Wundermacht, sein Geist, sein Gottes-Reich ist schon in eurer Mitte.‘ Es ist also kein Zweifel, daß Christus das Reich Gottes, wie es sich durch Ihn gründen und durch seine Apostel ausbreiten würde, im Auge hatte.“ 18 Ebd., XVIII. 19 Ebd., XV. 20 Anhaltspunkte dazu bietet der schon erwähnte Aufsatz von Nikolaus Staubach, Von der Nachfolge Christi und ihren Folgen, oder: Warum wurde Thomas von Kempen so berühmt? In: Kempener Thomas-Vorträge, Kempen, 2002, 85-104. Staubach zeigt 94ff., dass Sailer das Buch nicht gleichsam aus der Versenkung hervorgeholt hat. Das Buch hat zu allen Zeiten seine Liebhaber gefunden, wie es auch immer Gegenstand wissenschaftlichen Fragens gewesen ist. Dennoch fehlte eine gediegene deutsche Übersetzung, die ihm eine breitere Wirkung bei einem mit Vorurteilen behafteten gebildeten Publikum verschaffte. Einige dieser Vorurteile nennt Sailer selbst in der Einleitung, ebd., 96 und SW, Suppl.-Bd., XXIIIff. Nach Staubachs Darstellung traf Sailer schon auf ein vorbereitetes Publikum. Damit ist der große Erfolg seiner Übersetzung also nicht Sailer allein zuzuschreiben. „Zutreffender wäre es wohl, die Popularitätskurve der ‚Imitatio‘ insgesamt als Indikator und Gradmesser jenes langgestreckten Prozesses katholischer Erneuerung zu betrachten, der sich von der Spätaufklärung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erstreckt und mit wechselnder Schwerpunktbildung und Intensität sukzessive alle Bereiche des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens von der Kunst und Literatur über Seelsorge, Volksfrömmigkeit und Liturgie bis hin zu sozialer und politischer Partizipation erfaßt hat. Denn etwa gleichzeitig mit dem Wirken Sailers läßt sich auch in anderen katholischen Reformkreisen bei Laien wie Klerikern ein wachsendes Interesse an der ‚Imitatio‘ feststellen, das offenbar Ausdruck eines neuen religiösen Bedürfnisses gewesen ist. Verwiesen sei etwa auf den ‚Kreis von Münster‘ um die Fürstin Amalia von Gallitzin und den bischöflichen Generalvikar Franz Freiherrn von Fürstenberg“, 96. <?page no="191"?> Die sogenannten mystischen Quellen 181 Daraufhin entzieht er die Deutung des Thomas rhetorisch geschickt ihren Kritikern (ohne allerdings den Zusammenhang zwischen der Bibelstelle und ihrer Interpretation zu klären), um nebenbei einen gewichtigen Einwand, den man geltend machen könnte und dem sich wohl vor allem Sailer selbst ausgesetzt sieht, gereizt abzuweisen: „Aber deßungeachtet bleibt es doch wahr: Wie Christus in der ganzen Kirche, so wohnet Er mit seinem Geiste in jedem wahren Christen. Und das wollte unser Kempis. Die Anwendung, die er von dieser Stelle machte, läßt also den ursprünglichen Sinn derselben unangefochten. Auch hat der Verfasser die entscheidende Stelle, die ganz hierher gehört, und die er sogleich anführt, Röm XIV, 17 21 für sich. Übrigens wäre es eine so giftige als höchst unrichtige Auslegung, wenn man glaubte: Die Nachfolgung Christi redet so oft von dem Reiche Gottes in uns: also will sie uns gleichgültig gegen Kirche, Sacramente, äußern Gottesdienst etc. machen. Nein, das will sie nicht, und ihr Verfasser nicht, und ihr Übersetzer auch nicht.“ 22 Unwillkürlich fühlt sich der Kenner der Biographie Sailers bei dieser Reaktion daran erinnert, dass sich dieser durchaus Vorwürfen jener Art ausgesetzt gesehen und ihn die Bemerkung des in München residierenden Nuntius „man solle wieder einmal etwas Katholisches schreiben“ 23 sogar dazu veranlasst haben soll, die Schrift über die rechte Heiligenverehrung Ecclesiae de cultu sanctorum doctrina zu verfassen 24 . Aber auch der Gegnerschaft derer, denen die an dieser Stelle unverkennbare Weltflucht schwer erträglich scheint, begegnet Sailer. „So wende dich denn zu Gott, dem Herrn, und wende dich von ganzem Herzen zu Ihm, und verlaß diese elende Welt“ 25 , fährt die Schrift an dieser Stelle fort; worauf Sailer in einer langen Anmerkung eine wohl verstandene Abkehr von der Welt, ohne den rechten Gebrauch ihrer Güter zu missachten, verteidigt. Sailers Position gewinnt also gerade in der Abwehr aller Einwürfe seine Kontur: Was er nach allen möglichen Seiten hin verteidigt, ist nicht ein beliebiger Gedanke, sondern bereits zehn Jahre vorher eine wichtige Säule für die Abfassung seines Gebetbuchs gewesen. Die Vorrede zum zweiten Buch der Imitatio Christi lässt deutlich die Blickrichtung erkennen, aus der auch das Erbauungsbuch geschrieben war: Nach innen gewendet, den Blick auf Christus, den Gekreuzigten, zu lenken: „Dieses Buch enthält nur zwölf Hauptstücke, aber in jedem so viel Herzerhebendes und Belehrendes, daß der Christ jedes als ein besonderes Geschenk der Vorsehung ehren wird. […] Am liebsten wird er aber doch bei dem ersten und bei dem letzten Hauptstükke verweilen, wo das Reich Gottes in uns und der königliche Weg dazu aus Erfahrung sehr richtig beschrieben werden. Gottes Reich ist Friede und Freude im heiligen Geiste, und der königliche Weg dazu: ‚Kreuz und Leiden‘.“ 26 21 Nach Sailers Übersetzung: „Denn das Reich Gottes in uns ist F r i e d e u n d F r e u d e im heiligen Geiste, und dieß Reich ist kein Reich für die Gottlosen“, Sailer, SW, Suppl.-Bd., 84. 22 Ebd., 83. 23 Schiel, Bd. 1, 285. 24 SW, 9, 225ff. 25 SW, Suppl.-Bd., 83. 26 Ebd., 81. <?page no="192"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 182 Folgerichtig schätzt Sailer deshalb das dritte Buch Von dem innern Troste, welches diesen Königsweg entfaltet, „ohne allen Widerstreit in der ganzen Sammlung [als] das vornehmste“ ein, weil es „immer und immer auf die unentbehrliche Neuschaffung und Umwandlung des innern Menschen“ geht und auf die „Vereinigung mit dem höchsten Gut“, also der Eucharistie, welcher sich das vierte Buch widmet, vorbereitet 27 . Die Anlage des Werkes selber lässt uns also ungeachtet aller weiteren wünschenswerten Detailuntersuchungen erkennen, dass Sailer in der spätmittelalterlichen Schrift tatsächlich „seinen Freund“ gefunden hatte, der ihn in die Grundsätze aller Dinge, die das Gebet betreffen, einzuweisen vermochte. Aufschlussreich ist es, sich unter dieser Hinsicht jenes Gebet aus dem 29. Kapitel des dritten Buches, welches Sailer zum Trost der Kranken in sein Gebetbuch übernommen hat, anzusehen, weil es einerseits diese Grundhaltung in aller Klarheit zum Ausdruck kommen lässt: Nachfolge heißt in diesem Leben, Christi Haltung in seinem Leidensweg nachzuahmen. Darüber hinaus jedoch scheint Sailer aus Texten wie diesen seine eigene Theorie des Gebetes geformt zu haben. Die strukturierte Darbietung sowohl des Textes als auch die Gegenüberstellung mit der bereits im ersten Kapitel referierten Unterscheidung einzelner Schritte einer „natürlichen“ Regung zum Gebet kann dies veranschaulichen 28 : 29 Lese- und Betbuch, Bd. 1, S. 4f. Imitatio Christi, III, 29. Lese- und Betbuch, Bd. 1, S. 563f. 29 Lese- und Betbuch, Bd. 1, S. 4f. Erstens: empfind ich in mir ein Bedürfniß. Es fehlt mir etwas. Es drückt mich etwas. Es schmerzt mich etwas. 1) Herr, ewig sey dein Name gelobet und gepriesen, der Du diese Anfechtung und Trübsal über mich wollest kommen lassen. Wenn ich bete, empfinde und sag ich vor Gott: Herr! Zweytens: empfind ich in mir ein Verlangen, daß mir der Schmerz gelindert, der Mangel ersetzt, die Last weggehoben werde. Drittens: empfind ich meine Kraftlosigkeit mir selbst zu helfen. Ich bin zu schwach, kann mir nicht geben, was ich brauche; kann von mir nicht wegschieben, was mich drückt; kann den Schmerz nicht lindern. 2) Ihr zu entgehen ist mir unmöglich: Nothwendig muß ich meine Zuflucht zu Dir nehmen, damit Du mir beystehest, und alles zu meinem Besten lenkest! 3) Herr, jetzt schmachte ich in der Trübsal, mir ist nicht wohl um mein Herz, und schwere Plagen liegen auf mir. ich bin im Elend! 27 Ebd., 127. 28 S. o. S. 22. 29 Der Text ist nicht identisch mit dem im SW, Suppl.-Bd. dargebotenen. <?page no="193"?> Die sogenannten mystischen Quellen 183 Viertens: regt sich in mir das Zutrauen auf den, von dem ich glaube, daß er helfen kann und will. 4) Und itzt, lieber Vater, was soll ich sagen? Im Gedränge von allen Seiten her befinde ich mich: rette Du mich aus dieser Stunde. 5) Du hast eben deswegen dieses Leiden über mich kommen lassen, damit Du verherrlichet wirst, wenn ich so tief erniedriget, und durch Dich gerettet seyn werde! Herr! ich möchte von diesem Elend befreyet seyn. Fünftens: trag ich mein Elend und meine Sehnsucht nach Hülfe diesem mächtigen und liebevollen Wesen vor. 6) Herr, laß es Dir gefallen, mich herauszureissen aus der Noth; denn arm bin ich. Was kann ich thun, und wo will ich hingehen ohne Dich? 7) Geduld, o Herr, verleih mir auch dießmal. Mein Gott, sey Du meine Hülfe, und zittern würde ich nicht, stürzte auch die schwerste Last über mich. 8) Was soll ich inzwischen sagen? Herr, dein Wille geschehe, ich habe sie wohl verdienet, diese Züchtigung, diese Beklemmung. 9) Ich muß also ausdauern (und o daß es mit Geduld geschähe! ), bis das Wetter vorübergeht, und es mit mir besser ist. 10) Deine allmächtige Hand ist immer stark genug, diese Versuchung von mir wegzutreiben, oder wenigstens ihren Angriff so zu mildern, daß ich nicht gänzlich unterliege. Du hast es ja Herr! ich kann mir selbst nicht helfen. Herr! Du kannst mir helfen. Herr! Du willst mir helfen. Herr! ich hoffe, Du wirst mir helfen. <?page no="194"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 184 schon recht oft so mit mir gemacht, du mein Gott! meine Barmherzigkeit! 11) Je schwerer es mir wird, auszuhalten in dieser Noth, desto sichtbarer, desto erfreuender wird mir die Hülfe deiner Allmacht seyn. (Alle werden ausrufen: da ist der Finger des Allerhöchsten! ) Herr! ach! hilf mir. Handelte es sich bei dem Text zunächst ausschließlich um ein Mustergebet um Geduld, so muss es Sailer durch seine Fundierung des Betens im Bittgebet nahegelegen haben, diesem nach dem Vorbild des in Getsemani betenden Christus formulierten Notschrei auch die Kriterien für ein so empfundenes natürliches Gebet zu entnehmen. Wie oben festzustellen war, wirkt eine so gewonnene Essenz natürlich spröde. Vom Standpunkt des Umgangs Sailers mit seinen Quellen aus betrachtet, erhalten wir jedoch einen durchaus anregenden Einblick in die Logik seiner frühen Konzeption des Gebetes. 2. „Mystik“, „Mystizismus“ und „Gottselige Innigkeit“ Treffend hatte Ignaz Weilner über die Imitatio Christi formuliert: „Da und dort glimmt noch verborgene Glut [sc. so wie sie sich bei Meister Eckhart gezeigt hatte]. Aber auf das Ganze gesehen geht es doch um ein Frömmigkeitsideal, das einem religiösen Alltagserlebnis weit näher steht als der Ekstase.“ 30 Das macht erklärlich, warum sich der Seelsorger Sailer gerade von dieser Schrift besonders angezogen fühlte, warum er dann in den späteren Jahren Johannes Tauler und nicht Meister Eckhart oder Heinrich Seuse so große Beachtung schenkte 31 . Unverständlich für uns Heutige dürfte es dagegen wirken, wenn wir bemerken, wie viel Abwehr sich Sailer durch die Bevorzugung dieses Schrifttums auch bei ihm sonst Wohlgesonnenen gegenüber sah. So ist etwa dem um Sachlichkeit bemühten Schriftsteller Johann Gottfried Pahl die Reserviertheit deutlich anzumerken: „[…] während Sailer von den Obskuranten seiner Kirche als ein Aufklärer verschrien ward, hatte sein religiöses Denken, bei der seiner geistigen Natur eigentümlichen Überlegenheit des Gefühls über den Verstand, bereits seine vorherrschende Richtung zur my- 30 Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 33. 31 Weilner verweist auf Martin Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit, Freiburg, 1933, 129, der die seelsorgerliche Spitze von Taulers Mystik betont. Auch Hans Utz, Johann Michael Sailer und Matthias Claudius. In: Stimmen der Zeit, 83 (1957/ 1958), Bd. 161, 182f. nennt Sailer einen im seelsorgerlichen Bemühen Wesensverwandten zu Tauler und Fénelon. <?page no="195"?> Die sogenannten mystischen Quellen 185 stischen Ansicht und Auffassung der Geschichte und Lehren des Christentums genommen; Lavater, Pfenninger, Claudius, Fénelon, Jacobi usw. galten in seiner Schule als die erleuchtetsten Lehrer und Repräsentanten aller religiösen und sittlichen Weisheit; und es erfolgten häufige Warnungen vor den Bedenklichkeiten und Gefahren der Spekulation und der Wissenschaft. Diese Warnungen und jene Hinweisungen konnten, indem sie dem einseitigen Intellektualismus, der damals das geistige Leben lähmend ergriffen hatte, entgegen traten, wohltätig und fruchtbar sein; aber sie waren nur die ersten Äußerungen einer Denkweise, die sich allmählich zum völligen Mystizismus gestaltete, die Schriften von Thomas a Kempis, Tauler und Tersteegen als die tiefsten und reinsten Quellen des himmlischen Lichts pries, sich mit den in denselben gebrochenen Blumen schmückte und das Christentum als ein lebendiges nur da erkannte, wo bei der gänzlichen Nullität der menschlichen Gerechtigkeit das Herz dem Zuge der Gnade folgend zur Ruhe in dem Herrn gelangt und zu einem Tempel des in ihm wohnenden Christus geworden ist.“ 32 Pahls Kritik scheint nicht grundlos. Sailers enthusiastischem Sprachgebrauch in Bezug auf die Nachfolgung Christi („allgegenwärtiger Freund“) und seinen Warnungen vor den „bloß speculativen Köpfen“ sind wir soeben selbst begegnet. Auch mag es so gewesen sein, dass einige seiner Schüler, die seinen Weisungen nicht zu folgen vermochten, sich ebenso im Denkerischen von ihm entfernen mussten 33 . Umgekehrt zeigt sich für uns Heutige die Enge der geistigen Situation, wenn sogar offenbar weitsichtig Urteilende die Werke des Thomas von Kempen, des Johannes Tauler oder Gerhard Tersteegens für „völligen Mystizismus“ hielten. Jedenfalls wird in dem Zitat für uns die Nahtstelle jener Korrektur sichtbar, die Sailer an dem vorherrschenden Zeitgeist vorzunehmen bestrebt war. Als die „Zurückweisung des Menschen in ihr Inneres und von da zu Gott“ 34 beschrieb er sie, und gleichsam wie eine „Wendung in der Gebetsrichtung“ vollzog sie sich. Ihr anfänglicher Impuls war die Schrift Imitatio Christi. Doch verhalfen ihm ebenso jene Autoren dazu, denen er seine Sammlung der Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung widmete, wie nicht minder viele lebende Personen, von denen Pahl einige Namen hervorhebt: Vor allem Matthias Claudius und Johann Kaspar Lavater. Die Beziehung Sailers zu dem Buch von der Nachfolgung Christi, die dort ausgedrückte Neigung zu dem inneren Gebet erscheint wie ein erster Schlüssel, der das Verständnis öffnet für das widerstrebende Gefüge des „Vollständigen Unterrichts vom Gebete“, welches wir im ersten Kapitel wahrgenommen hatten. Die Quellen seiner emphatischen Sprache hingegen, welche ihn noch vor der gedanklichen Fassung dorthin geführt hatte, wohin er sich zu Beginn seiner Arbeit wohl nicht bestrebt hatte zu gelangen, liegen in dem genannten Freundeskreis. Zurecht 32 Johann Gottfried Pahl, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben und meiner Zeit, Tübingen, 1840. Zitiert nach: Schiel, Bd. 1, 246f. 33 Vgl. die Bemerkungen von so konträren Schülern wie Franz Xaver Bronner (Franz Xaver Bronners Leben von ihm selbst beschrieben, Zürich, 1795-1797, zitiert nach Schiel, Bd. 1, 176f.) und Jakob Salat (Versuche über Supernaturalismus und Mystizismus. Auch ein Beitrag zur Kulturgeschichte der höhern Wissenschaft in Deutschland mit historisch-psychologischen Aufschlüssen über die vielbesprochene Mystik in Bayern und Oberösterreich, Sulzbach, 1823, zitiert nach Schiel, Bd. 1, 164f.), die beide von einer Distanz berichten, die sich gegenüber Sailer aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zu Mystik und Frömmigkeit aufbaute. 34 SW, Suppl.-Bd., XXXIV. <?page no="196"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 186 rückte daher Ignaz Weilner die Begegnung mit Lavater und Claudius in das Zentrum seiner Betrachtung: „Mit den Namen dieser beiden Männer, Lavater und Claudius, verbindet sich nun die Erinnerung an den Beginn einer für Sailers ganzes Leben entscheidenden Entwicklung: seine Begegnung mit der geistig-religiösen Welt der Mystiker. Wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir betonen, daß der junge Dillinger Gelehrte erst von diesem Augenblick an begann, der Johann Michael Sailer zu werden, den die Geschichte kennt. Aus dem steten Widerspiel einer zunehmenden Verwurzelung in der Geisteswelt der Mystiker und einer daneben unverändert anhaltenden Aufgeschlossenheit gegenüber dem geistigen Anruf der Gegenwart gewann der Regensburger Bischof jenes Kolorit, welches sein ureigenstes Merkmal bleiben wird, solange er im Gedächtnis der Nachwelt fortlebt.“ Und er merkt an: „Es ist darum nur schwer verständlich, daß diese einzige ‚Wende‘ seines Lebens in ihrer entscheidenden Bedeutung bisher nicht eingehender gewürdigt worden ist. Wohl mangelt es in der bestehenden Sailer-Literatur durchaus nicht an allgemeinen Hinweisen auf des genannten Vorliebe für die ‚Mystik‘ […]. Aber die Frage nach den näheren Umständen dieser geistigen Begegnung Sailers mit den Mystikern, nach dem Grad ihrer Bedeutung für seine Sendung, und schließlich nach der eigentlichen Natur der Sailerschen ‚Mystik‘ wurde bisher im Zusammenhang noch nicht gestellt.“ 35 Weilner hat dies in seiner Arbeit getan und das vor allem von Hubert Schiel ausgebreitete biographische Material neu bedacht. Besonders die Entwicklung der Beziehung zu Lavater ist interessant. Schon seit den späten 1770er Jahren hatte sie sich angebahnt. Die ersten Briefe datieren vom August 1778, und schnell verband beide eine innerlich stets ungetrübte Freundschaft, wie viele äußere Belastungen es auch gegeben haben mochte. Bis in die späten 80er Jahre hinein diktiert Sailer noch der große Respekt vor dem Älteren die Feder. Insofern wäre es naheliegend, in den Werken gerade dieser Zeit den besonderen Abdruck des Schweizer Theologen zu finden. Indessen scheint gerade das nicht der Fall zu sein. Durchblicken wir die frühen Werke Sailers, so deutet unmittelbar wenig auf den Einfluss Lavaters hin: „Sailers Stern stand bei der Anbahnung der freundschaftlichen Beziehungen zu Lavater noch so tief, daß schon ein scharfes Auge dazu gehörte, um seinen Schimmer wahrzunehmen. Es zeugt von Lavaters Unterscheidungsgabe der Geister […], daß er bei einem kurzen Kennenlernenen und aus den pädagogischen Erstlingsschriften des damals 27jährigen Sailer, die ihm sein überglücklicher Verehrer zusandte, die großen Anlagen und Fähigkeiten erkannte. […] in seiner geistigen Entwicklung löste er sich erst allmählich los von der schlechthin anerkannten Autorität seiner Lehrer und von der Jesuitenschulung.“ 36 Mittelbar lässt sich indessen nach Schiel durchaus die Freundschaft zwischen den beiden Männern auch im Werk ausmachen: 35 Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 111f. 36 Hubert Schiel, Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, Köln, 1928, 13f. <?page no="197"?> Die sogenannten mystischen Quellen 187 „Was Sailer unter seinen katholischen Zeitgenossen die überragende Stellung gab und ihn heute noch groß sein läßt, seine völlige Durchdringung mit biblischem Geist und die Intensität seines evangeliumnahen Christentums, ist Geist von Lavaters Geist. […] Ohne die starke Berührung mit der Glut des christlichen Geistes und der Christusliebe, wie sie aus Lavater hervorbrechend selbst den jungen Goethe bezauberte und hinriß, wäre Sailers erstes größeres Werk, das ‚Vollständige Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken‘, nicht eine kleine Revolution geworden.“ 37 Sehen wir, da wir dies Thema, wie bereits in der Einleitung dargelegt, nicht weiter berühren wollen, von der Unterstützung Lavaters für die Illustrationen zu Sailers Gebetbuch und von dem Streit mit Friedrich Nicolai ab, in welchem auch er sich involviert sah, so wird sein Einfluss - im Verein mit Claudius - erst wieder gegen Ende der 1780er Jahre greifbar. Bereits im vergangenen Kapitel konnten wir die Bemerkung Salats zitieren, die uns einen Hinweis auf die Jahre 1788/ 89 gibt 38 . Denn hier werden die beiden „als die eigentlichen Urheber“ 39 in der Wandlung Sailers beschrieben, die sich im Denken wie in seiner Sprache vollzog: „Selbst in der Sprache des Lehrers fiel dem Teilnehmenden eine Veränderung besonders auf. Anstatt der ‚Fürsehung‘ - ein Wort, das er geliebt hatte - erscholl jetzt besonders die ‚Gnade‘.“ 40 „Sailer selbst hat dabei die ihm aus dem Studium der Mystiker zugewachsene Erkenntnis als Fortschritt empfunden. […] Glaubte [er] doch […] jene Richtung des Gemütes zum Mittelpunkt entdeckt zu haben, welche ihm den ‚Zentralblick in das Wesen des Christentums‘ ermöglichte, den Blick auf dessen ‚Zentralidee‘, die da war ‚Gott in Christus, das Heil der Welt‘.“ 41 Weilner hat den in Sailers Morallehre eingebetteten Prozess der Heiligung deshalb als den „unmittelbaren Schauplatz des innigen Lebens“ 42 beschrieben, welchen er als die Mitte seines Denkens begriff. Doch sagt jene „Gottselige Innigkeit“ vom inneren Leben nur den Aspekt der „Sammlung“ aus. Der „fruchtbare Kontakt mit Gott“ hingegen trägt das Zeichen der Andacht. „Innigkeit und Andacht machen also zusammengenommen den ‚Athem‘ des geistlichen Lebens aus, welches seinem inneren Wesen nach Glaube, Hoffnung und Liebe ist‚ die Eine Gemüthsstimmung des Christen‘. Innigkeit und Andacht sind aber auch die beiden notwendigen Eigenschaften des Gebetes, welches seinerseits wieder die Seele der Gottseligkeit darstellt“ 43 . Finden wir uns so unversehens in einen Bereich vorgedrungen, der uns weiter unten noch einmal beschäftigen muss, bleibt für den im Moment ins Auge gefassten Zusammenhang festzuhalten, dass dieser Denkanstoß die entscheidenden Impulse seiner Begeg- 37 Ebd., 14. 38 S. o. S. 85. 39 Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 113. 40 Schiel, Bd. 1, 152. 41 Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 113f. 42 Ebd., 171. 43 Ebd., 223. Dabei zitiert Weilner Sailer SW, 14, 295. <?page no="198"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 188 nung mit Lavater und Claudius verdankt. Ersterer lehrte ihm, sich vom biblischen Geist durchdringen zu lassen. Letzterer brachte ihm eine der beiden wichtigsten Quellen für die Jahre der Reifung nahe: Tauler und Fénelon. 44 Weilner hebt übrigens sehr richtig hervor, dass man nicht davon ausgehen dürfe, die Beschäftigung mit der Mystik habe in der katholischen Theologie der damaligen Zeit nicht stattgefunden 45 . Dass die gelehrte Auseinandersetzung mit den Schriften der Mystiker an Sailer derart vorbei gegangen ist, wirft allerdings ein Licht auf einen Umstand, den Weilner - allein bemüht das Gedankengut zu ordnen - nicht gesehen hat und der seitdem nicht wieder beachtet worden ist. Sailer ist zunächst vor allem angezogen von der Sprache seiner beiden Freunde. Gerade Salats Hinweis auf die sprachlichen Wandlungen 46 ruft uns die eigene Feststellung der vorhergehenden Kapitel in Erinnerung, dass wir es bei Sailer mit einem katholischen Vertreter einer literarischen Stil- und philosophischen Geistesrichtung zu tun haben, die zuweilen der Aufklärung subsumiert wird, an deren Eigenständigkeit aber durchaus festzuhalten ist. Die Kategorie des Herzens für die Moralphilosophie gesichert zu haben - darin besteht die bleibende Leistung der Empfindsamkeit, die sich aus von der Aufklärung zum Teil unabhängigen Traditionen entwickelt hatte. Dabei kommt dem Pietismus, der zuweilen mit ihr eine enge Verbindung eingegangen ist, eine entscheidende Rolle zu. „Der Pietismus […] ist im Anschluss an die Mystik die erste Bewegung der Neuzeit, die das Herz als spezifische Quelle höherer Eingebung entdeckt, und wie der Pietist in seinem Innersten die Offenbarung Gottes erlebt, so der Empfindsame den Antrieb zum Guten. Diese Nobilitierung des Herzens zum sittlichen Organ konnte jedoch nur erfolgen, weil sich das Herz in [einem …] Differenzierungs- und Emanzipationsprozeß von dem Verdacht reinigt, nur den sinnlichen Trieben zu dienen.“ 47 Es erschiene überaus wünschenswert, wenn sich die Sailerforschung künftig den Problemen der Philologie annähme; denn an vergleichenden Untersuchungen unter diesem Aspekt fehlt es bisher völlig. Wollte man beispielsweise wieder einmal den Versuch unternehmen, Sailers Tätigkeit als Prediger genauer zu untersuchen, dürfte dies nicht mehr sowohl ohne Rückbezug auf die althergebrachte und bei den Jesuiten eingeübte Rhetorik als auch auf die zeitgenössische Literatur gesche- 44 Vgl. Hans Utz, Johann Michael Sailer und Matthias Claudius. In: Stimmen der Zeit, 83 (1957/ 1958), Bd. 161, 182. 45 Vgl. Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 115. Außerdem ebd.: Auch „Kempis und Sales wurden, soweit sie nicht überhaupt einer aufgeklärten Religiosität zulieb geopfert waren, rein aszetisch verstanden und ausgewertet.“ 46 Einen weiteren Hinweis führt Hubert Schiel, Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, Köln, 1928, 16 mit Beda Mayr an, der bedauert, Sailer habe durch den Umgang mit den Schriften Lavaters seinen natürlichen Stil verdorben. Auch Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 173 nennt sie eine „eigenartige ‚gefühlige‘ Terminologie“, die aus dem „Halbdunkel einer pietistischen Stimmungsfrömmigkeit“ sich entwickelt habe. 47 Lothar Pikulik, Die Mündigkeit des Herzens. Über die Empfindsamkeit als Emanzipations- und Autonomiebewegung. In: Aufklärung, 13 (2001), 27f. <?page no="199"?> Die sogenannten mystischen Quellen 189 hen. Aber auch beim systematischen Feld der Moraltheologie wäre man gefordert, auf die Frage einzugehen, inwieweit die gerade etablierte Disziplin der Ästhetik und die philosophische Empfindsamkeit in Sailers Denkprozess mit einzubeziehen sind. Für uns mag es genügen, durch diese Perspektive klar herauszustreichen, dass alles, was an denkerischen Anregungen durch pietistische Strömungen für Sailer befruchtend wirkte, sich manifestiert hat, nicht allein in dem bereits mehrfach bemerkten extensiven Gebrauch einer einzigen Vokabel, sondern geradezu in einer „herzgefärbten“ Sprache 48 . Weilner arbeitet gewiss richtig die gottselige Innigkeit als die Mitte des Sailerschen Denkens heraus. Die Mitte seiner Sprache ist indessen das Wort Herz. Von Thomas von Kempen übernimmt er die Haltung der Einkehr. Aus seinem Umgang mit der empfindsamen Literatur und einigen ihrer Vertreter erhält hingegen seine Sprache ihr für alles Weitere bestimmendes Ferment. Es ist genau der Bezug zur Einkehr und zum Herzen, der Sailers Beschäftigung mit mystischen, aber auch anderen Autoren ausmacht. „Theologia et philosophia cordis“ hatte Walter Dürig dies nicht unzutreffend genannt 49 . Das Thema der mystischen Vereinigung mit Christus blieb dagegen für Sailer marginal. Leicht hätte er z.B. in der Imitatio Christi auf Stellen wie „Mein Gott, meine Liebe! Du ganz mein, ich ganz Dein! “ 50 abheben können. Leicht hätte er gerade solche Stellen in sein Gebetbuch übernehmen können. Eine Kommentierung hat er aber in seiner Übersetzung ganz unterlassen, und nur weniges beim Kommuniondank in seinem Gebetbuch spricht explizit von der Vereinigung mit Christus 51 . 3. Die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola Mit Sailers Wendung zur Einkehr und seiner herzbestimmten Sprache sind zwei Elemente beschrieben, die es verständlich werden lassen, warum er mit seiner ersten Fundierung des Gebetes im Bittgebet nicht zufrieden bleiben konnte. Und mit Fénelon und Tauler sind zwei Autoren benannt, deren intensive Lektüre einen Impuls für die zahlreichen Veränderungen bedeuteten, die wir besonders in der fünften Auflage des kleinen Gebetbuchs aus dem Jahr 1793 bemerkten. Wenn sich indessen bei solchen Autoren leicht Stellen herbeibringen lassen, die eine Parallele zu den reifen Formulierungen über das Gebet des Landshuter Professors für Moraltheologie oder des achtzigjährigen Bischofs bieten 52 , so heißt das 48 Zu dem Thema vgl. für Lavater: Gerhard Ebeling, Genie des Herzens unter dem Genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 89 (1992), 78f. 49 Walter Dürig, J. M. Sailers Verhältnis zur „Philosophia et Theologia cordis“. In: Wissenschaft und Weisheit, 9 (1942), S. 109-125. Beachte auch Sailers Rede von „der Religion des Herzens“ im Gegensatz zu der des Verstandes, SW, 8, 6. 50 SW, Suppl.-Bd., 142. 51 S. S. 149 zu III.1.9. 52 Vgl. z.B. Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 54: „Fénelon läßt keinen Zweifel darüber, daß der wesentliche Gottesdienst nichts als Liebe und daß das Gottesreich ‚gänzlich inwendig in uns‘ <?page no="200"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 190 nicht, dass er sie bereits zur Zeit der ersten Lektüre rezipiert haben muss. Es wäre naiv davon auszugehen, dass bei der Lektüre eines Autors durch einen andern, dessen Gedankengut in einem Zug in das Denken des Rezipienten übergehe. Halten wir uns an die Texte, in denen Sailer selbst über das Gebet spricht, so bemerken wir eine stufenweise Durchdringung dieser Materie 53 . Ein wichtiges Element für das Gewahrwerden solcher Stufen, stellen die Übungen des Geistes zur Gründung und Förderung eines heiligen Sinnes und Lebens dar, deren erste Auflage aus dem Jahr 1799 datiert. Die zweite Auflage erschien 1809 54 . Die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, welche er hiermit in eigener Bearbeitung vorlegte, waren ihm als eine Hinführung zum geistlichen Leben zur Zeit der Abfassung bereits mindestens 18 Jahre lang vertraut. Da er das Buch so lange nach der Aufhebung des Jesuitenordens erneut herausbrachte, müssen wir davon ausgehen, dass es ihn auch nach 1772, dem Ende seiner Noviziatszeit, mehr oder weniger stetig begleitete. An dieser Stelle dürfen wir von ihm kein hohes Niveau der gedanklichen Durchdringung erwarten, da diese Schrift die Ebene einer Anleitung nicht verlassen möchte. Gerade deshalb muss sie aber das Wesentliche in möglichst knapper Form sagen. Und deshalb erhalten wir auch eine bündige Darstellung über „das Wesen des Gebetes“ 55 . Ohne Umschweife legt Sailer dar: „Wesentlich bei allem Gebete ist dieß allein, daß sich der Geist, und vornehmlich der Wille des Menschen zu G o t t e r h e b e , und mit Gott von der ersten Angelegenheit des Menschen, heilig und selig zu werden, h a n d l e .“ 56 ist. Doch sieht er klar die Klippen einer reinen Spiritualität und sucht sie zu meiden. Auch ‚die äußerlichen Zeichen sind gut, wenn sie aus dem Herzen gehen‘. Sie müssen sogar sein, aber nicht um Gottes, sondern um der Menschen willen. Die Hauptübung unserer Gottesliebe bleibt das G e b e t , welches sie, im Grunde des Herzens verborgen, im Verein mit dem Geiste Gottes ohne Unterlaß vollzieht, ‚selbst dann, wenn der […] Geist nicht in einer wirklichen Aufmerksamkeit sein kann‘.“ Die Zitate Fénelons sind entnommen: Fénelons Werke religiösen Inhalts. Übers. von Matthias Claudius, Hamburg 1800, Bd. 1, 29 und 121 [= bei der mir vorliegenden Ausgabe von 1818, Bd. 1, 24 und 98]. Diesen und etlichen weiteren Gedanken Fénelons über das Gebet werden wir in ähnlichen Formulierungen bei Sailer unten z.B. S. 214 begegnen. 53 Dies hat übrigens Weilner ebd., 224 n i c h t b e a c h t e t , als er davon ausging, die in den SW gebotene Einleitung sei die von 1783 und nicht die Neufassung von 1831. Aufgrund dieses Missverständnisses muss er von einer immer gleichen Auffassung zum Gebet ausgehen, da dieser Text, wie wir unten sehen werden, in großer Nähe zu der theoretischen Darlegung in Sailers christlicher Morallehre aus dem Jahr 1817 steht. Zu einem weiteren Missverständnis der ansonsten gelehrten und bis heute hilfreich gebliebenen Arbeit s.u. S. 197, Anm. 81. Ohne tiefere Durchdringung und deshalb für das Thema unberücksichtigt ist geblieben: Johann Hofmeier, Seelsorge und Seelsorger. Eine Untersuchung zur Pastoraltheologie Johann Michael Sailers, Regensburg, 1967, 89ff. 54 Als Grundlage dient die Ausgabe der SW. Ein Textvergleich mit den früheren Editionen unterblieb. 55 SW, 26, 9f. Ähnlich knapp und klar äußert er sich auch in einer Predigt zum Fest der unbefleckten Empfängnis schon im Jahr 1790. Vgl. SW, 35, 296-299. 56 SW, 26, 9. <?page no="201"?> Die sogenannten mystischen Quellen 191 Die beiden den Nebensatz tragenden Verben sind hervorgehoben. Nun schon der traditionellen Definition des Gebetes sehr nahe, unterstreichen sie den Sinn der Geistlichen Übungen: die Heiligung des Menschen durch das bewusste Hineinstellen in die Gegenwart Gottes. Zwei Dinge sind deshalb wichtig, um dieser Gegenwart Raum zu geben: Sich zurückzuziehen „von allem, was Gott und die große Angelegenheit des Menschen, heilig und selig zu werden, nicht ist“, und sich Gott so nahe zu denken „wie ein Freund seinen Freund nahe denkt“. Erst unter dieser Voraussetzung kann man „seinen Geist wirklich vor Gott reden“ lassen „und dieses sein Herz vor seinem Gott reden lassen und ausreden lassen - ist das eigentliche Gebet“ 57 . So fasst er diese kurze Betrachtung zusammen: „Beten heißt also: den Geist, der sich in sich gesammelt, und seinen Gott sich nahe gebracht hat, vor Gott reden und ausreden lassen, über die große Angelegenheit, heilig und selig zu werden, und ausreden lassen, mit aller Verehrung, Liebe, Zuversicht, Aufrichtigkeit etc., die wir Ihm schuldig sind.“ 58 So kurz dieser Text ist, so sehr merken wir doch, wie sich die Auffassung vom Gebet, das sich vordem nur an der Bitte orientierte, geweitet hat. Denn sicherlich: der Kern des bittenden Gebets behält weiterhin einen vornehmen Platz - und muss ihn auch behalten, wenn man sich in Treue dazu, wie Jesus Christus zu beten lehrt, üben will. Darum fügt er sogleich das Vaterunser als „das würdigste Gebet“ dieser Definition an. Und zur Erläuterung dessen, welcher Art dasjenige sei, was das Herz mit Gott zu bereden habe, fährt er fort: „[…] und dann [werde ich] zu meinem Herzen [sprechen]: Liebes Herz! Gott ist da: gieß dich aus, und rede vor Ihm, was dich drückt und drängt, und höre nicht auf, vor Ihm zu reden, bis du alles, was dir wichtig ist, und nahe liegt, ausgeredet hast.“ 59 Dennoch ist es nicht mehr wie oben in Anlehnung an das Gebet aus der Imitatio Christi die Notlage, von der Sailer hier seinen Ausgang nimmt, sondern das Erfordernis der Heiligung. Diese erhält aber ihr Motiv nicht aus äußeren Zwängen, sondern aus der Einsicht in den Sinn der Schöpfung: „Ich, der Mensch, bin dazu geschaffen, daß ich meinen und aller Dinge Schöpfer kennen lernen, Ihn lieben und verehren, auf Ihn trauen, seinen Willen thun, und durch Ihn gut und selig werden solle.“ 60 - so Sailers Wiedergabe des berühmten Prinzips und Fundaments der Geistlichen Übungen, die gegenüber dem Original („homo est creatus ad laudandum Deum“ 61 ) durchaus subjektiv gefärbt ist. Ignatius meint die objektive Anerkenntnis Gottes 57 Ebd., 10. 58 Ebd. 59 Ebd., 11. 60 Ebd., 32. 61 Vgl. Sancti Ignatii des Loyola Exercitia spiritualia, Rom, 1969, (Monumenta Ignatiana, ser. secunda, tom. 1), 165, Nr. 23. Ich zitiere nach den Textvarianten der Ausgaben von 1541 und <?page no="202"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 192 als Gott. Das liegt Sailer freilich nicht fern. Doch wählte er mit den Verben „kennen lernen“, „lieben“, „verehren“, „trauen“ ein Vokabular, das ausdrückte, was er immer tiefer zu entdecken begann: Es ist die wesentliche Aufgabe des religiösen Menschen, sich in einer Beziehung zu Gott zu begreifen. Auch für diese Entdeckung lässt sich Johann Kaspar Lavater als wichtiger Gesprächspartner ausmachen. Einer Tagebucheintragung zufolge führte er mit Sailer am 25. Mai 1793 ein langes Gespräch, in welchem Lavater den folgenden Gedanken formuliert: „Je weiter ich im Nachdenken komme, desto fester bleib ich bey jenem allgemeinen, mir Alles erklärenden, auf Alles anwendbaren, höchsteinfachen und reichhaltigen Grundsatz, desto öfter komm ich darauf zurück - ohne Du kein Ich. Wie dein Du, so wird ewig dein Ich seyn. Wie das, was wir lieben, liebenswürdig ist, so sind wir selbst liebenswürdig.“ 62 Was zunächst nur auf den Menschen hin gesagt klingt, war für den Schweizer Pietisten von der Wirklichkeit Jesu Christi bestimmt, denn: „Durch Jesus wird jede Existenz existierender.“ 63 Wir sehen Sailer um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert also seine ersten das Gebet betreffenden Formulierungen nicht abstreifen. Für ihn beginnt sich sein Gebetsverständnis stattdessen wiederum in der Auseinandersetzung mit geistlichem Schrifttum und im Gespräch mit Freunden zu klären und zu weiten. Gebet ist das, was sich als innige Bitte aus der Mitte des Herzens Gott gegenüber ausspricht. Doch es ist ein liebender und geliebter, verehrter Gott. Und diese Liebe fordert den ganzen Menschen auf, sich „der großen Angelegenheit der Heiligung“ zu verschreiben. Heiligung - jener Umstand, der in der Folge als Begriff eine ähnlich große Rolle für seine Morallehre spielen wird wie das Herz. In etlichen Änderungen der Auflagen 1814 bis 1816 des kleinen Gebetbuchs ist uns der Begriff bereits begegnet. Seine Keimzelle können wir nun in den Geistlichen Übungen orten. b) Die Anbetung 1. Gott als der im Gebet zuerst Handelnde Wir sahen: Dass und wie sich Sailers Grundkonzeption vom Gebet und dessen Motivation umbildete und verschob, verdankt sich dem in Freundeszirkeln gesetzten Impuls der geistlichen Literatur. Die Wurzeln für das begriffliche Gerüst des 1547. S. auch Ignatius von Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, übers. von Peter Knauer (= Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe, Bd. 2), Würzburg, 1998, 110. 62 Hubert Schiel, Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, Köln, 1928, 46. Die Eintragung hat Lavater übrigens 1794, also zu der unter anderem wegen seines beargwöhnten Kontaktes zu den Protestanten ärgsten Zeit der Anfeindungen Sailers selbst veröffentlicht. Gewiss kein kluger Freundschaftsdienst. 63 Zitiert nach: Gerhard Ebeling, Genie des Herzens unter dem Genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 89 (1992), 95, wo er auch die Einheit von Anthropozentrik, Christozentrik und Theozentrik Lavaters betont. <?page no="203"?> Die Anbetung 193 nunmehr zu untersuchenden neuen „Vollständigen Unterricht von dem Gebete“ finden wir in der Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit. Die oben zitierte neue Definition des Gebets sprach von „Erhebung“, „Umgang“, „bleibendes Anhängen des Gemüthes“, sprach von der „Einigung mit Gott“ 64 . Dies sind die Stufen, die den Weg der Vervollkommnung im Gebet beschreiben und die Begriffe gehören deshalb mehr dem geistlichen Bereich an. Das „Gemüth“ aber - die für die Philosophie begrifflichere Form des mehr literarisch verwendeten „Herzens“ - ist der gegebene Ort, innerhalb dessen dieser Weg abgeschritten wird bis an seine Grenze hin: Die der Einigung, welche als „das Wesen und der Inhalt, der Zweck und Geist aller Religion“ 65 gedacht wird. Vom Grund des Gemütes aus geht der Betende auf festem Boden und sein Beten vermag beharrlich zu werden. Die Sailersche Gewissenslehre, die an dieser Stelle in knapper Form in den Blick kommen muss, hat zu Beginn der 1970er Jahre Barbara Jendrosch nachgezeichnet. Zunächst noch von der Begrifflichkeit des Eudämonismus geprägt, die ihm von seinem Lehrer Benedikt Stattler vermittelt worden war, entwarf er im Jahr 1787 als einer der ersten Rezipienten von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Glückseligkeitslehre, die zwar mit der abendländischen Tradition daran festhielt, das Grundstreben des Menschen nach Glück, von ihm „Wohlseyn“ genannt, anzuerkennen, dieses aber dem Streben nach dem „Gutseyn“ des Menschen, das seine Wurzel im Gewissen hat, unterordnete 66 . Dieses Streben „der reinsten, heiligsten Güte […] nachzuahmen“ erhält seinen „Verpflichtungs- und Nöthigungsgrund“ aus Gott, der die Güte selbst ist, dem sein Geschöpf das Dasein grundlos verdankt: „Du kannst und du sollst ebendarum Gottes Bild an Güte werden.“ 67 . Doch „während [Sailers] Glückseligkeitslehre die menschliche Natur nach ihren Kräften, Trieben, Bedürfnissen, Gemütszuständen, nach der Würde und Bestimmung der menschlichen Natur analysiert, und über den Gedanken der Ordnung und Harmonien dieser verschiedenen Aspekte menschlichen Seins - über die Glückseligkeit - den Begriff der Sittlichkeit gewinnt, geht das Handbuch [der christlichen Moral] den umgekehrten Weg; die Idee der Sittlichkeit steht obenan und aus ihr werden alle eine Ethik gestaltenden Momente abgeleitet.“ 68 Ja: „Gerade umgekehrt wie bei den Aufklärern, für die der sittlich handelnde Mensch auch schon der religiöse Mensch war, macht bei Sailer die Religiosität das Wesen 64 S. o. 176. 65 SW, 23, 3. 66 Die katholische Kantrezeption wird in ihrer Gesamtheit gerade erst entdeckt. S. dazu den Ausstellungskatalog der Universitätsbibliothek Eichstätt: Kant und der Katholizismus, hrsg. von Klaus Walter Littger, Wiesbaden, 2005, der in seiner Zusammenstellung der Namen hilfreich ist. Man darf hier freilich keine differenzierten Urteile über die Autoren erwarten. Ein Dokumentationsband eines Symposiums, das am gleichen Ort 2004 stattgefunden hat, ist soeben unter dem gleichen Titel erschienen: Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselvollen Geschichte, Freiburg [u.a.], 2005. 67 Vgl. SW, 5, 105f. 68 Barbara Jendrosch [verh. Wachinger], Johann Michael Sailers Lehre vom Gewissen, Regensburg 1971, 126. <?page no="204"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 194 der Sittlichkeit aus. Sittlich handelt der Mensch, indem er den via Vernunft sich ihm vermittelnden Gott zur Geltung kommen lässt.“ 69 „Was in der Sprache der Schule Sittengesetz heißt, erhält erst durch die Voraus- und Obenansetzung des Höchsten (Gottes und des unsterblichen Menschengeistes) nicht nur seinen Urgrund und Endzweck, sein Woher und Wozu […], sondern es bekommt dadurch auch mit Seyn und Wesen einen ganz bestimmten, einen vollen, einen Realsinn.“ 70 Und: „Ich sage nicht bloß, was so oft gesagt ward: man kann, man darf, oder wenn’s auf’s Höchste kam, man soll das Gesetz der Vernunft als ein Gesetz Gottes ansehen; ich sage ungleich mehr: Das sogenannte Vernunftgesetz ist wahres, wirkliches Gesetz Gottes, ist göttliches Gesetz, und zwar göttlich nach Abkunft, Inhalt, Zweck.“ 71 „Das göttliche Leben, das Gott selber ist, das wahrhaft absolut göttliche Leben ist der Ursprung des Gesetzes an den Menschen“. 72 Gewissen und Gemüt werden nun so eng aufeinander bezogen, indem sie sich verhalten wie Gutsein zu Wohlsein: „Der Ruhe des Gewissens, die ohne Gutseyn des Menschen weder Seyn noch Bestand haben kann“ und „schon selbst eine Art des reinsten, würdigsten Wohlseyns“ ist, stellt Sailer die „Ruhe des Herzens“ gegenüber, die „ein Freiseyn von dem Tumulte regelloser Neigungen, ein Freiseyn von den unendlichen Furchten und allen Leiden, die aus dem wildherrschenden Glückseligkeits-Triebe hervorgehen“ ist - „ein wesentlicher Bestandtheil des Wohlseyns in sinnlich-vernünftigen Wesen, und dieser Bestandtheil des Wohlseyns hängt genau von der sittlichen Selbstbeherrschung (von dem Gutseyn) ab.“ 73 An einer anderen Stelle markiert er die Beziehung noch deutlicher, indem er von dem „herzbewachende[n] Gewissen“ 74 spricht. Dabei kommt eine quasi-sinnliche Erfahrung ins Spiel. Ein entscheidender Baustein ebenso seiner Morallehre wie auch seiner Lehre über das Gebet ist nämlich Sailers über Jacobi vermittelte Auffassung von der Vernunft, die den „Scheideweg“, sogar das „Kreuz in der Philosophie“ markiert. Da Vernunft herzuleiten sei von Vernehmen, zeige sich genau in ihr, inwieweit es sich dabei nur um einen selbstbezüglichen Verstand handelt, der „ohne Gott in der Welt“ nichts weiter als sich selbst vernehmen und sittlich deshalb auch nicht tiefer gründen kann. Hingegen ist diejenige „Vernunft, die Gott selber vernimmt, die ein Vernehmen, ein Wahrnehmen Gottes ist“ erst die „wahre, rechte, eigentliche Vernunft“. „Denn wenn sich Gott als das Leben und als die Wahrheit in der Menschenwelt offenbart: so wird wohl im Menschen ein Vermögen seyn müssen, diese Offenbarung zu vernehmen und derselben bewußt zu werden.“ 75 69 Christoph Keller, Sailers Aufweis der Einheit von philosophischer und theologischer Moral. In: Theologische Quartalschrift, 184 (2004), S. 154. 70 SW, 13, 35. 71 Ebd., 30. 72 Ebd., 31. 73 SW, 15, 279. 74 SW, 14, 96f. 75 SW, 13, 31f. Zu den Bezügen zu Jacobi immer noch: Gerard Fischer, Johann Michael Sailer und Friedrich Heinrich Jacobi, Freiburg, 1955. Kritisch dazu: Barbara Jendrosch [verh. Wachinger], Johann Michael Sailers Lehre vom Gewissen, Regensburg 1971, 254 und Konrad <?page no="205"?> Die Anbetung 195 Es ist klar, worauf dies hinausläuft: Die Stimme Gottes, die der Mensch mittels Vernunft fähig ist zu vernehmen, ist die Stimme des Gewissens, welches sich - und das hat für unser Thema besonderes Gewicht - im Gemüt bildet, ebenso wie es diesem erst ermöglicht, sich zu Gott zu erheben. Lag uns in dem „Unterricht vom Gebet“ der ersten Auflage eine von der Notsituation des Beters ausgehende, analog zu der vier Jahre später erschienenen Glückseligkeitslehre gleichsam induktiv vorgehende Gebetslehre vor, so rückt er in der Neubearbeitung von 1831 ganz dieses Verhältnis von Gewissen und Gemüt in das Zentrum der Unterweisung. Wissenschaftliche Termini wie den des Gewissens vermeidend, sucht er dabei nach Wendungen wie das „lebendige Wort“, das in die „schweigende Seele“ spricht. „Was ist denn aber das Gemüth des Menschen, das sich zu Gott erheben, das mit Gott Umgang pflegen, das Gott anhängen, das mit Gott Eins werden kann? Und, was ist denn Gott, zu dem sich der Mensch erheben, mit dem er Umgang pflegen, dem er anhängen, mit dem er Eins werden soll? […] Gott ist das höchste Licht, die höchste Wahrheit, an die der vernünftige, zur Erkenntnis geschaffene Mensch glauben kann. Gott ist die höchste Heiligkeit, die höchste Schönheit, die der zur Tugend geschaffene Mensch verehren und lieben kann. Gott ist die höchste Liebe, die höchste Seligkeit, auf die der vernünftige, zur Liebe und Seligkeit geschaffene Mensch vertrauen kann. Gott ist das höchste Gut, das der Mensch suchen, finden, genießen kann. Und das Gemüth des Menschen ist eben das unsterbliche Vermögen zu glauben, zu lieben, zu hoffen; ist insbesondere das himmlische Vermögen, das der Mensch hat, das höchste Gut in Gott zu suchen, zu finden, zu genießen […] Was hier Gemüth genennt wird, nennen die heiligen Schriften, nennt die verständlichere Sprache sonst auch das Herz. Des Menschen Herz ist also nichts anderes, als das Vermögen zu glauben, zu lieben, zu hoffen, zu genießen. Gebet ist also die heiligste Angelegenheit des menschlichen Herzens: denn das Herz erhebt sich zu Gott, das Herz pfleget Umgang, spricht mit Gott, das Herz hängt an Gott, das Herz einiget sich mit Gott.“ 76 Die Erhebung zu Gott, das Gemüt und das Herz, die „heiligste Angelegenheit“: alle Elemente, denen wir bisher begegnet sind, treffen wir an, und all das hat nun seinen rechten Platz im Gesamtgefüge gefunden. Auch den drei theologischen Tugenden, die schon in der ersten Auflage des Gebetbuchs einen so hervorragenden Platz im Gebetsteil eingenommen haben, begegnen wir wieder. Wir dürfen annehmen, dass ihnen dieser bei der völligen Umarbeitung, deren Plan wir nicht kennen, nicht genommen worden ist. Das bestätigt auch ein Blick in Sailers Handbuch Feiereis, Die Religionsphilosophie Sailers. In: Johann Michael Sailer und seine Zeit, Regensburg, 1982, 241f. Der Vernunft- und Religionsbegriff Sailers entwickelt sich nach Feiereis auch aus der Auseinandersetzung mit Herder und Hamann. Neuerdings sehr knapp aber wohl präzise: Theo Kobusch, Glaube und Vernunft. Zur Wirkung Jacobis in der Tübinger Schule und im spekulativen Theismus. In: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg, 2004, 377f. Auch bei dem Wort „genießen“ bedient sich Sailer Jacobischer Terminologie. 76 SW, 23, 3f. <?page no="206"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 196 der christlichen Moral, das einen langen Abschnitt der rechten Gottesverehrung widmet, wovon nicht weniger als ein gutes Viertel des Textes Glaube, Liebe und Hoffnung behandelt 77 . Denn in Glaube, Liebe, Hoffnung kristallisiert sich, was für Sailer die Religion selbst ausmacht: Es „ist mir Anerkennung Gottes - Religion.“ Und wenn für ihn Gebet „Religion in Thätigkeit gesetzt“ 78 bedeutet, so erkennt man daran, wie tief sich bei ihm Glaubensleben und christliches Handeln miteinander verbunden haben. Doch unter der Voraussetzung der Stimme des Gewissens, die er als die Stimme Gottes anerkennt, kann er bei dem nun Erreichten nicht stehen bleiben. Wenn Gott es ist, der spricht, so ist er genau an der Stelle, wo Gemüt und Herz ins Spiel gebracht werden, gezwungen, eine entscheidende Korrektur an dem früheren Rede-Antwort-Schema 79 vorzunehmen. Er tut dies explizit, denn sich selber meinend fährt er fort: „Daraus erhellet denn auch, daß derjenige, der das Gebet ein Gespräch des Herzens mit Gott nannte, das Gebet, als Umgang mit Gott, von seiner menschlichsten Seite dargestellt hat. Wie Menschen mit Menschen, so sprechen Geister mit dem Geiste, Gott. ‚Das Gebet ein Herzensgespräch mit Gott‘. […] Wenn aber das Gebet, von seiner menschlichen Seite, Gespräch des Herzens mit Gott ist, was mag es von seiner göttlichen Seite seyn? Soll immer das Menschenherz allein sprechen, soll Gott nie zum Menschen sprechen? Ja, antworten die weisesten, besten, seligsten Menschen: Gott ist auch hier das lebendige Wort, spricht in die schweigende Seele: ‚Sohn! gieb mir dein Herz; entreiß es den flüchtigen Freuden der Zeit; denn es ist für die Ewigkeit geschaffen. Die Eigenliebe hat tausend Decken über deine Augen geworfen: hinweg mit den Decken, daß es zu mir aufschauen kann! Die Sünde hat mit schweren Fesseln deinen Willen umschlungen: brich die Fesseln - sey frei durch mich! Dein Verstand irret in thörichten Einbildungen umher: hole ihn zurück, laß ihn von der Vielheit zur Einheit, von der Vielfältigkeit zur Einfalt zurückkehren! ‘ So spricht der Herr zur Seele, die vor ihm schweiget, ihm sich ergiebt. Und das ist die höchste Feier des Gebetes. Und so wäre das Gebet wirklicher Umgang zwischen Gott und Menschen, indem nicht nur das Herz des Menschen sein heiliges Sehnen ausspräche, sondern auch die ewige Liebe ihr Wort in die offene Menschenseele legte. 80 Wir erkennen hier eine weitere Entwicklungsstufe in Sailers Werdegang, da sich dieser Gedanke zwar konsequent aus Sailers Morallehre entwickelt, indessen im Handbuch der christlichen Moral, soweit wir sehen, so nicht formuliert wird. Spät erst durchdrang ihn die Einsicht, dass von der Einigung im Gebet sinnvoll nur dann gesprochen werden kann, wenn Gott nicht nur dem Betenden sein Ohr nicht 77 Zur Gottesverehrung SW, 14, 272-346. Die Seiten 274-295 handeln über die drei theologischen Tugenden. 78 Ebd., 299. 79 S. o. S. 24. 80 SW, 23, 3-5. <?page no="207"?> Die Anbetung 197 verschließt, sondern selbst, man möchte in Sailers bibelgesättigter Sprache sagen: zu Herzen redet. 81 Vielleicht wird man das, was diese Stimme in die „Menschenseele“ spricht, mit einer „Feier des Gebetes“ nicht recht zusammenbringen wollen. Vielleicht scheint der nicht aufgegebene Zusammenhang mit der Morallehre Sailers enttäuschend eng, weil nichts anderes als das schlechte Gewissen die Stimme erhebt 82 . Freilich erkennen wir nach dem bisher Zusammengetragenen die Verbindung mit den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola sehr wohl, in welchen nichts anderes als der Wille zur Heiligung für unaufgebbar für das Gebet gehalten wurde. Doch hieße das, auf diesen Einwand nur äußerlich antworten. Abgesehen von der Frage, ob nicht genau der Anruf zur Heiligung die vornehmste der in uns wirksamen Stimmen ist, verweisen uns der Gebrauch des Wortes Eigenliebe und die dringende Mahnung, den eigenen Willen zu befreien, auf einen für Sailer tatsächlich existentiellen Zusammenhang. Wie er nämlich selbst schildert, befand er sich im Jahr 1798 von der Frage nach dem Grund seines Zutrauens in die Vergebung seiner Sünden in die ärgsten Nöte gedrängt. Nächtliche Traumgesichte suchten ihn heim. Die Anfechtung ging so weit, dass er sich in einem „Todeskampf höherer Art“ schweben sah. In dieser Lage vernahm er in sich eine Stimme, die ihn zu Furchtlosigkeit und „unablässigem Gebet“ aufforderte. Von dieser Situation berichtet er für uns aufschlussreich: „Nicht achtend weder des Aufruhrs, noch der Verfinsterung, ermannte ich mich, und ermannte mich wieder, oft zwölfmal in einem Tage, mich unbedingt an Gott zu ergeben, und von Gebet und Selbstverläugnung nicht abzulassen. Der Schrei des Glaubens: ‚Herr! dich laß ich nicht, bis du mich gesegnet haben wirst,‘ der mit mir am Morgen erwachte, unter Tags mit mir arbeitete, und am Abend mit mir zu Bette gieng, fand jeden Tag neue Todeswehen zu überwinden; Eigendünkel und Eigenwille, in ihrem geheimsten Leben sich vor mir verbergend, und doch wieder offenbarend, wollten nicht untergehen - und sie mußten doch untergehen, wenn das wahre Heil in mir aufleuchten sollte.“ 83 81 Ignaz Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der religiösen Seele nach Johann Michael Sailer, Regensburg, 1949, 224 geht von der Deckungsgleichheit der beiden Texte aus der Morallehre und dem Gebetbuch aus. Dabei war ihm neben der falschen zeitlichen Einordnung auch obiger Umstand entgangen. Die Arbeit verliert deshalb im Ganzen nicht ihren Wert und ihre Gültigkeit. Die These von der durch Lavater und Claudius bewirkten „einzigen Wende“ (111, Anm. 17) muss dennoch relativiert werden. Wir sind hier doch recht markanten Stufen begegnet. 82 Natürlich kennt er auch eine andere Weise der göttlichen Anrede an den Menschen. So etwa in SW, 8, 119: „Wenn die Vernunft das ewige Wort vernimmt: Ich bin die höchste Wahrheit, das höchste Gut, das Wesen aller Wesen, die Wurzel aller Dinge: so antwortet das Gemüth: Ja, du bist die höchste Wahrheit, das höchste Gut, das Wesen aller Wesen, die Wurzel aller Dinge, und der Wille und das Leben fallen in den Lobgesang ein.“ 83 SW, 39, 298. Gewiss kann man die geschilderte Situation auch im Zusammenhang mit der sogenannten Allgäuer Erweckungsbewegung sehen. Durch Schüler Sailers, denen pietistische Erweckungserlebnisse widerfuhren, entstanden in einigen Allgäuer Pfarreien Zirkel, die einen neuen und teilweise heftigen geistlichen Aufbruch in diese Gegenden brachten. Dem begegnete das Augsburger Ordinariat allerdings mit ebensoviel Vehemenz, zumal es Sailer als einen Urheber der Bewegung dahinter vermutete. Vgl. dazu allgemein Horst Weigel, Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung. In: Die Geschichte des Pietismus, Göttingen, 2000, Bd. 3, <?page no="208"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 198 Die scharfe Aufforderung, den in Sünde gefangenen Eigenwillen zu brechen, hat also auf jeden Fall für sich, selbst erlitten worden zu sein; und durch diese Begebenheit fällt auch ein anderes Licht auf einen anderen Text des Gebetbuchs, der uns schon intensiver beschäftigt hat. In der guten Meinung (s.S.129 Abschnitt 10) hatte Sailer 1793, also noch einige Zeit vor dem eben geschilderten Ereignis, eine Passage eingefügt, die die Konzentration auf die Nachfolge Jesu bekräftigt. Diese schloss damals: „[…] dieses will ich, wenn ich gleich den stärksten Feind alles Guten, die Eigenliebe in mir habe; dieses will ich, wenn ich gleich das Vollbringen - in mir nicht finden kann.“ 84 1814 verstärkte er die Aussage von der Eigenliebe, „die alles Gute hemmt und beflecket“ 85 , ehe er 1816 schließlich vollends das Motiv des geistlichen Kampfes, den er 18 Jahre zuvor selbst durchlitten hatte, zum Ausdruck brachte, indem er umformulierte: „den Eigenwillen, der, gegen Deinen heiligen Willen in Aufruhr begriffen, alles Gute hemmt und beflecket“. 86 Dieser geistliche Kampf macht es deutlich: Entgegen jenes oben von Johann Gottfried Pahl gemachten Vorwurfs des Mystizismus ist festzuhalten, dass jene „Einigung mit Gott“, die das Gebet „in seiner Vollendung“ ist, mit der Unio mystica wenig zu tun hat. Nichts anderes meint sie hingegen als die Anwendung der von Sailer schwer erkauften Lehre vom Gewissen auf dem Feld der persönlichen Frömmigkeit. 2. Die Andacht Eine Unterscheidung, die Sailer im Bereich des wissenschaftlichen Vortrags trifft, möchte er ebenso für das Gebetbuch beibehalten. Vom Gebet - wenn davon nicht in einem allgemeinen Sinn die Rede ist - spricht er dann, wenn die einzelnen Akte oder „Übungen“ gemeint sind, während er die innere „Gemüthsstimmung“ 87 besser als Andacht bezeichnet haben möchte. Von dieser ist im weiteren Verlauf des Textes des „Vollständigen Unterrichts von dem Gebete“ die Rede. „Andacht ist die Fassung des Gemüthes, in der stets oder recht oft an Gott gedacht wird. Andacht kommt von Denken an Gott. Andacht ist der lebendige Gedanke an Gott, der aus dem Herzen kommt, den Himmel durchdringt, und vom himmlischen Lichte gestärkt, wieder in das Herz zurückkehrt.“ 88 Widmet sich die moraltheologische Behandlung des Themas hier einem vertiefteren Verständnis der Andacht in der Abgrenzung zur Innigkeit, die er für die Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, 87-111 und Monique Bouic: Johann Michael Sailer et les „réveillés“ de l’Allgäu. In: Von Aresing bis Regensburg, Regensburg, 2001, 53-67 (dt. Zusammenfassung 68-69). 84 Sailer, Gebetbuch, 1793, 9. 85 Sailer, Gebetbuch, 1814, 9f. 86 Sailer, Gebetbuch, 1816, 10. 87 SW, 14, 299. 88 SW, 23, 6. <?page no="209"?> Die Anbetung 199 eine von zwei Seiten betrachtete Sache hält 89 , so konzentriert er sich in unserem Zusammenhang auf den Ort, an welchem sich die Andacht vollzieht. Denn vom Gemüt oder dem Herzen aus entwickelt er sein Bild vom betenden Menschen, dessen inwendige Frömmigkeit sich in konzentrischen Kreisen - Sailer nennt sie „Offenbarungen“ - nach außen hin bewegt. Die „Geburtstätte“ der Andacht ist das Gemüt, „das sich an Gott hingiebt, seinem Willen huldiget, seiner Liebe vertrauet, seinen Führungen sich unterwirft. Sie heißt deßhalb Herzensandacht.“ 90 Diese Gestimmtheit heiligt Geist und Leib, was Sailer den innerlichen und äußerlichen Gottesdienst des einzelnen Menschen nennt. 91 Dann fährt er in der für ihn typischen Weise der fließenden Folgen fort: Eines entsteht aus dem anderen, weil die Andacht, nach „Offenbarung“ drängend, stets mit dem jeweils erreichten Grad nicht zufrieden sein kann. So folgen aus der Geist- und Herzensandacht die Haus- und Familienandacht, dann die Kirchenandacht, welche nach den Sonntagen, den Festtagen des Herrn und den Festtagen der Heiligen unterschieden wird, und schließlich die Lebensandacht. Selbstverständlich dient diese Auffächerung vor allem dazu den Aufbau des Gebetbuchs vorzustellen. Doch betont er, „daß die Herzensandacht als Seele in allen anderen Offenbarungen der Einen Seele wiederkommen müsse“ 92 . 3. Anbetung im Zusammenhang mit der Philosophie Führt Sailer in seinen Moralvorlesungen noch selbstverständlich „die bekannten Unterscheidungen des Gebetes in Dank-, Bitt- oder Lobgebete“ 93 an, so kann dies jetzt, da er auch Gottes Handeln beim Gebet mit einbezieht, nicht mehr genügen. Noch vor der Darstellung dieser drei Weisen des Gebetes räumt er deshalb dem Akt der Selbstoffenbarung Gottes den ersten Platz ein. Interessanterweise greift er dabei auf Formulierungen zurück, die er schon im Handbuch der christlichen Moral gebraucht hatte. Dort definierte er immer vom Subjekt ausgehend: „Der anbetet, ist von der unaussprechlichen Fülle der Wahrheit, Schönheit, Seligkeit in dem Einen ergriffen und hat kein anderes Gefühl[! ], als: Er ist, er ist der Eine in Allem, der Eine über Alles, der Eine durch Alles.“ 94 Während diese Bestimmung das Johanneische Wort von der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit erklärt, unternimmt er in der späteren Fassung des Ge- 89 Vgl. SW 14, 295: „Wo Glaube, Liebe, Hoffnung als die Eine Gemüthsstimmung des Christen herrscht, da ist Andacht, Innigkeit. Andacht ist [es erfolgt die nämliche etymologische Deutung wie im Gebetbuch …] ein solches Andenken an Gott, das Geist, Wille, Gemüth vor Gott sammelt, zu Gott erhebt, mit Gott einiget. Innigkeit ist […] ein in sich und in Gott seyn; […] Andacht hat nach dem lateinischen Ausdrucke, devotio, den schönsten Sinn, sie ist die Weihe des Gemüthes zur Gottseligkeit, zur Seligkeit in Gott.“ 90 SW, 23, 6. 91 Vgl. ebd. 92 Ebd., 8. 93 SW, 14, 298. 94 Ebd., 296. <?page no="210"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 200 betbuchs eine Aufspaltung. Denn nun sondert er die Anbetung, deren Beweggrund er den Charakter einer persönlichen Offenbarung nicht absprechen mag, von „Geist und Wahrheit“ ab, wenn er sie als objektives Ereignis schildert, in welchem „Gott vor die Seele hintritt, und die Seele von der Fülle der Majestät ergriffen und gleichsam verschlungen wird“ 95 . „Die Anbetung ist das tiefe Stillschweigen des ganzen Gemüthes vor dem Allerhöchsten, - das Versunkenseyn vor dem Allerheiligsten: ‚Er ist, Er ist - Ihm die Ehre, Ihm allein die Ehre, Ihm allein ewig alle Ehre! ‘ Dieß würde die Anbetung sprechen, wenn sie sprechen könnte; - denn Anfangs ist sie sprachlos“ 96 . Bisher kennen wir für diese späte Wendung Sailers aus den subjektzentrierten Voraussetzungen seines Denkens keine anderen Quellen als die von ihm oben selbst genannten „weisesten, besten, seligsten Menschen“, worunter er vor allem jene Autoren rechnete, denen wir bereits begegnet sind oder denen er in seinen Briefen aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung einen Platz eingeräumt hatte. Eine wichtige Anregung war indessen auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit. Und dazu findet sich einiges Bemerkenswerte in den an Studenten aller Fakultäten gerichteten Grundlehren der Religion. Besonders sind die „Erzählungen eines Reisenden“ der neunten Vorlesung hervorzuheben, in der er verschlüsselt von den Begegnungen mit den Philosophen Johann Georg Hamann, Friedrich Heinrich Jacobi und dem „Geistes- und Herzensverwandten“ 97 Matthias Claudius berichtet. Jacobi kommt am ausführlichsten zu Wort. Er, so sagt Hamann dort über ihn, glaube „daß zwar das Göttliche, Ewige in sich unerforschbar, indemonstrabel, doch aber die Manifestation des Göttlichen, Ewigen, als des Urwahren am Wahren, demonstrabel sey …. Was ihm als demonstrabel einleuchtet, sucht er nun seinen Zeitgenossen eben so einleuchtend zu machen.“ 98 In der Folge einiger „Lehrsätze“, die Jacobi in den Mund gelegt sind, wird deutlich, dass die Stille der Anbetung hier einen Gegensatz zum philosophischen Forschen bildet und insofern ein Mittel der Bescheidung darstellt, das deshalb nicht mit der aristotelischen Schau auf der höchsten Stufe der Glückseligkeit verwechselt werden darf: „Bis das vollendete philosophische Wissen von Gott gefunden seyn mag, wird es weise seyn, d a s s t i l l e Ve r n e h m e n u n d d a s d e m ü t i g e A n b e t e n G o t t e s zu verbinden …“ 99 Noch klarer tritt dieser Zusammenhang in dem folgenden Zitat hervor. Im Stil einer dreistufigen Klimax aufgebaut, von den ethischen Folgen durch das Wissen zur Liebe und Bescheidung und schließlich von da zur Anbetung voranschreitend und die Zentralbegriffe gar noch typographisch hervorhebend, werden für die Philosophie Konsequenzen gefordert, wie sie Sailers eigenen Versuchen auf dem 95 SW, 23, 8. 96 SW, 23, 8. 97 SW, 8, 107. 98 Ebd., 96. 99 Ebd., 105. <?page no="211"?> Die Anbetung 201 Gebiet der Theologie entsprechen. Um genauer zu sein: Sailer bekämpfte gerade mit Vorlesungen wie diesen den Gegensatz zwischen Philosophie und Theologie. In dieser Hinsicht wird sein eigenes „Programm“ hier gut veranschaulicht. „Wenn das philosophische Wissen im Wisser nicht mit Tu g e n d überhaupt, und nicht mit L i e b e und D e m u t h insbesondere und ganz vorzüglich mit A n d a c h t und A n b e t u n g vereint ist: so ist es sicherlich nicht das rechte“. Parallel dazu im Folgesatz die in der rhetorischen Gleichordnung beruhigte Dreiheit von Vernunft, Wille, Gemüt, die sich als eine Einheit in Gott ergibt: „Wenn das philosophische Wissen nicht die Ruhe der Vernunft in dem ewigen Wahren, nicht die Ruhe des Willens in dem Heiligen, nicht die Ruhe des Gemüthes in dem Urschönen und Alleinseligen gründet: so ist es sicherlich nicht das rechte.“ 100 Freilich bleibt sich der durch Jacobi redende Sailer bewusst, dass solche Thesen leicht dem Missbrauch einer sich fromm gebenden Verweigerung des selbstständigen Denkens ausgesetzt sein können. Dem versucht er zu begegnen, indem er genaue Voraussetzungen nennt: „Unter denen, die die Möglichkeit des philosophischen Wissens von Gott dem Menschengeschlechte absprechen, sind Jene die Edelsten, welche, bei dem unverdrossensten Ringen nach Wissenschaft, nur nach reifer vollendeter Betrachtung, und dann nur im reinsten Gefühle der Anbetung ausrufen: ‚Das Göttliche in seiner Fülle ist für jedes menschliche Wissen unzugänglich, ob es gleich dem Glauben gewisser ist, als das Gewisseste, und der Anbetung, der Andacht, der Liebe so nahe, so zugänglich ist, als der Mensch sich selbst nicht seyn kann.‘“ 101 Die Philosophie kann demnach zur Anbetung hinführen; sich aber in eine „fremde Gebetsweise hineinzuzwängen“ 102 , ist ein Frevel, den auch Sailer nicht billigt, ob er sich nun von frommer Anstrengung oder unbedachter intellektueller Spielerei herleitet. Die Anbetung wurde für Sailer also erst nach und nach zum Maß des Gebetes, und dahinter trat, wie wir sahen, die Bedeutung, die er dem Bittgebet beimaß, zurück. Dessen Grenzen wurden allerdings bald auch von anderer Seite her deutlich. Nicht zuletzt Immanuel Kants religionsphilosophisches Hauptwerk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hat hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Kritisierte Kant doch den Gedanken einer Erhörung durch Gebet - bei ihm „Gnadenmittel“ genannt - von einem Gott, der ohnehin die Not eines jeden kennt und folglich nicht an die Bedürfnisse des Einzelnen erinnert werden muss, als „Wahn“ 103 . In gewisser Weise markiert diese Schrift einen Endpunkt jener Versuche, die sich kritisch mit der zeitgenössischen Gebetspraxis auseinander setzten. Um dem „viele Worte Machen“ (vgl. Mt. 6,7) der Art des auch von Sailer schonungslos 100 Ebd., 106f. 101 Ebd., 101f. 102 Vgl. SW, 23, 26. 103 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin, 1914 (Kant’s gesammelte Schriften; Bd. 6, Abt. Werke, Bd. 6), 194. <?page no="212"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 202 zitierten Martin von Cochem zu wehren, wollte man, wie wir im ersten Kapitel sahen, einzig die Bitte als das rechte Gebet gelten lassen, nicht sehend, dass dieses, wenn es nicht in einer grundsätzlicheren Haltung wurzelt, die der je einzelnen Bitte vorausgeht, leicht für ebenso haltlos befunden werden kann. Ganz von der „moralischen Idee“ bestimmt brandmarkte Kant aufgrund seiner Analyse - in der er freilich die Möglichkeit einer solchen vertiefteren Haltung nicht in Betracht zog - die einzelne Bitte als „ein bloß e r k l ä r t e s Wünschen gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf“ und darum als ein „Fetischmachen“ 104 . Den Gebetsakt ließ er nur noch als Hilfe zur „Belebung der Gesinnung zu einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel“ 105 gelten, was er am klarsten in den folgenden Worten formulierte: „… die alle unsere Handlungen begleitende Gesinnung, sie, als ob sie im Dienste Gottes geschehen, zu betreiben, ist der Geist des Gebets, der ‚ohne Unterlaß‘ in uns statt finden kann und soll“ 106 . Hans Luibl hat darauf hingewiesen, dass Kant an dieser Stelle seine Not mit dem Gegenstand offenbart. Diese knappe Formulierung nämlich ist eingebettet in eine ohnehin schon längere Anmerkung, der er genau im Anschluss an das Zitat eine zusätzliche, noch viel weiter ausholende Anmerkung anfügt. Auffallend ist dabei vor allem, „daß hier keineswegs wissenschaftlich-analytisch, sondern höchst emotional nicht argumentiert, sondern polemisiert (gekämpft! ) wird“ 107 . Die herrschenden oder vermeintlichen Missstände um das Gebet nötigten offenbar den sonst so kühl analysierenden Philosophen (wie ja ebenso schon den besonnenen und um Ausgleich bemühten Theologen Sailer in seiner Ankündigungsschrift für das Gebetbuch) den Argumenten auch die damit verbundenen starken Emotionen hinzuzufügen. 104 Ebd., 194. Noch deutlicher 195: „Die Wahrheit der letzteren Anmerkung [nämlich dass das „buchstäbliche“ Gebet nie mit der gleichen Aufrichtigkeit verrichtet werden kann wie der innere Wunsch nach einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel] wird ein jeder bestätigt finden, wenn er sich einen frommen und gutmeinenden, übrigens aber in Ansehung solcher gereinigten Religionsbegriffe eingeschränkten Menschen denkt, den ein Anderer, ich will nicht sagen, im lauten Beten, sondern auch nur in der dieses anzeigenden Geberdung überraschte. Man wird, ohne daß ich es sage, von selbst erwarten, daß jener darüber in Verwirrung oder Verlegenheit, gleich als über einen Zustand, dessen er sich zu schämen habe, gerathen werde. Warum das aber? Daß ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, daß er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe; und eben so beurtheilt man ihn (nicht ganz mit Unrecht), wenn man ihn, da er allein ist, auf einer Beschäftigung oder Geberdung betrifft, die der nur haben kann, welcher jemand außer sich vor Augen hat, was doch in dem angenommenen Beispiele der Fall nicht ist.“ 105 Ebd., 198. 106 Ebd., 195. 107 Hans Luibl, Des Fremden Sprachgestalt. Beobachtungen zum Bedeutungswandel des Gebetes in der Geschichte der Neuzeit, Tübingen, 1993, 70. Luibl geht davon aus, dass es sich dabei um eine Angstreaktion Kants handelt. Zur Thematik des Gebetes bei Kant s.a. Aloysius Winter, Gebet und Gottesdienst bei Kant: nicht „Gunstbewerbung“, sondern „Form aller Handlungen“. In: Ders. Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, Hildesheim [u.a.], 2000, 115-161. Kants Urteile über das Gebet nennt auch er eine „Karikatur eines Christenmenschen“. Vgl. 130. <?page no="213"?> Die Anbetung 203 „O Aufrichtigkeit! du Asträa, die du von der Erde zum Himmel entflohen bist, wie zieht man dich (die Grundlage des Gewissens, mithin aller inneren Religion) von da zu uns wieder herab? Ich kann es einräumen, wiewohl es sehr zu bedauern ist, daß Offenherzigkeit (die ganze Wahrheit, die man weiß, zu sagen) in der menschlichen Natur nicht angetroffen wird. Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei) muß man von jedem Menschen fordern können, und wenn auch selbst dazu keine Anlage in unserer Natur wäre, deren Cultur nur vernachlässigt wird, so würde die Menschenrasse in ihren eigenen Augen ein Gegenstand der tiefsten Verachtung sein müssen. Aber jene verlangte Gemütseigenschaft ist eine solche, die vielen Versuchungen ausgesetzt ist und manche Aufopferung kostet, daher auch moralische Stärke, d.i. Tugend (die erworben werden muß), fordert, die aber früher als jede andere bewacht und cultivirt werden muß, weil der entgegengesetzte Hang, wenn man ihn hat einwurzeln lassen, am schwersten auszurotten ist. - Nun vergleiche man damit unsere Erziehungsart, vornehmlich im Punkte der Religion, oder besser der Glaubenslehren, wo die Treue des Gedächtnisses in Beantwortung der sie betreffenden Fragen, ohne auf die Treue des Bekenntnisses zu sehen (worüber nie eine Prüfung angestellt wird), schon für hinreichend angenommen wird, einen Gläubigen zu machen, der das, was er heilig betheuert, nicht einmal versteht, und man wird sich über den Mangel der Aufrichtigkeit, der lauter innere Heuchler macht, nicht mehr wundern.“ 108 So wie sich Sailer oben die „Nachbarinn“ mit dem silberbeschlagenen „Betbuch“ 109 zurechtlegt, um das Beten, dem keine Besserung des Menschen folgt, anzuprangern, darf er sich einig mit der wortspielenden Kritik Kants fühlen. Später nennt das Sailer nur noch „Brandmale“ der Andacht, die der „Weltsinn“ mit der wahren Andacht verwechsle. „So aber glauben sich Menschen (durch Anhören oder Lesen und Singen) recht sehr erbaut, indessen daß schlechterdings nichts gebauet, ja nicht einmal Hand ans Werk gelegt worden; vermutlich weil sie hoffen, daß jenes moralische Gebäude, wie die Mauern von Theben durch die Musik der Seufzer und sehnsüchtiger Wünsche von selbst emporsteigen werde.“ 110 Damit eröffnete Kant überraschenderweise eine andere und weit bedeutsamere Perspektive für ein sinnvolles Beten. Vom Subjekt aus betrachtet ist, so Kant, die „moralische Idee“ nämlich nichts anderes als Andacht, die sich aus zweierlei Stimmungen zusammensetzt: Der Anbetung, die aus der gefühlten Einsicht in die eigene Nichtigkeit erwächst, und dem kraftspendenden Gefühl der eigenen Würde, die darin besteht, zum moralischen Handeln bestimmt zu sein. „Diesen Wunsch [sc. den nach dem „Geist des Gebets, der ‚ohne Unterlaß‘ in uns stattfinden kann und soll“] aber (es sei auch nur innerlich) in Worte und Formeln einzukleiden, kann höchstens nur der Werth eines Mittels zu wiederholter Belebung jener Gesinnung in uns selbst bei sich führen, unmittelbar aber keine Beziehung aufs göttliche 108 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin, 1914 (Kant’s gesammelte Schriften; Bd. 6, Abt. Werke, Bd. 6), 190. 109 S. o. S. 24. 110 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin, 1914 (Kant’s gesammelte Schriften; Bd. 6, Abt. Werke, Bd. 6), 198. <?page no="214"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 204 Wohlgefallen haben, eben darum auch nicht für jedermann Pflicht sein: weil ein Mittel nur dem vorgeschrieben werden kann, der es zu gewissen Zwecken bedarf, aber bei weitem nicht jedermann dieses Mittel (in und eigentlich mit s i c h s e l b s t , vorgeblich aber desto verständlicher mit G o t t zu reden) nöthig hat, vielmehr durch fortgesetzte Läuterung und Erhebung der moralischen Gesinnung dahin gearbeitet werden muß, daß dieser Geist des Gebets allein in uns hinreichend belebt werde, und der Buchstabe desselben (wenigstens zu unserem eigenen Behuf) endlich wegfallen könne. Denn dieser schwächt vielmehr wie alles, was indirect auf einen gewissen Zweck gerichtet ist, die Wirkung der moralischen Idee (die, subjektiv betrachtet, A n d a c h t heißt). So hat die Betrachtung der tiefen Weisheit der göttlichen Schöpfung an den kleinsten Dingen und ihrer Majestät im Großen, so wie sie zwar schon von jeher von Menschen hat erkannt werden können, in neueren Zeiten aber zum höchsten Bewundern erweitert worden ist, eine solche Kraft, das Gemüth nicht allein in diejenige dahin sinkende, den Menschen gleichsam in seinen eigenen Augen vernichtende Stimmung, die man Anbetung nennt, zu versetzen, sondern es ist auch in Rücksicht auf seine eigene moralische Bestimmung darin eine so seelenerhebende Kraft, daß dagegen Worte, wenn sie auch die des königlichen Beters David (der von allen jenen Wundern wenig wußte) wären, wie ein leerer Schall verschwinden müssen, weil das Gefühl aus einer solchen Anschauung der Hand Gottes unaussprechlich ist.“ 111 Passagen wie diese führen untrüglich auf jene Spur, die Sailer in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts durch eigene leidvolle Erfahrungen des geistlichen Lebens eingeschlagen und die er, an der philosophischen Auseinandersetzung im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geschärft, von da ab immer weiter verfolgt hat. Jedoch tauchen solche Gedanken in jener frühen Phase der Gebetsreflexion um 1783 nicht auf. Gewiss hat Sailer, das wird die Betrachtung über das Bittgebet weiter unten nahe legen, Kant auch hier wahrgenommen. Im Bereich der Moraltheologie sind derartige Bezüge ja bereits erwiesen 112 . Doch wichtiger als die historische Genese ist es, hier die Wege der Gedanken jener geistigen Eliten der damaligen Zeit nachzuzeichnen, die sie zurücklegten, um sich wieder in die Möglichkeit des Betens einzufinden. Kant und Sailer sind für diese Bewegung Indikatoren: Denn beide suchten nach den Grenzen des Phänomens im Gedanken wie in der Erfahrung: Der Philosoph, indem er alle Möglichkeiten des Betens so lange ausschloss, bis er selbst zur schweigenden Anbetung gelangte, der Theologe, indem er das subjektive Tun des Beters so lange bedachte, bis ihm Gott selber buchstäblich ins Wort fiel. 111 Ebd., 195ff. 112 Vgl. Barbara Jendrosch [verh. Wachinger], Johann Michael Sailers Lehre vom Gewissen, Regensburg 1971, (Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie; 19), 253: „Die Auseinandersetzung Sailers mit Kant wurde bisher nur für das Handbuch der christlichen Moral nachgewiesen. Es lässt sich aber zeigen, dass Sailer bei der Abfassung der Glückseligkeitslehre [erstmalig 1787 publiziert] wenigstens die ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ gekannt und berücksichtigt hat.“ <?page no="215"?> Die Anbetung in Geist und Wahrheit 205 c) Die Anbetung in Geist und Wahrheit 1. Geist und Wahrheit Löst sich die innige, schweigende Anbetung nach und nach auf, so geht sie über in Dank und Lob, denen sich Sailer daraufhin widmet 113 . Auf dies folgt dann aber nicht, wie man hätte erwarten müssen, die Darstellung des Bittgebetes. Stattdessen schließt er die mit der reinen Anbetung Gottes geöffnete Klammer zu derjenigen, die „in Geist und Wahrheit“ geschieht. Warum diese Aufspaltung in „Anbetung Gottes“ und „Anbetung in Geist und Wahrheit“? Wie zu Beginn des Kapitels bemerkt, machte sich Sailers früheres, mit seinen Zeitgenossen konformes Verstehen dieser Wendung nur an ihrem zweiten Teil fest, während „Anbetung“ beinahe wie ein anderes Wort für Beten gebraucht wurde. Auch in der ersten Fassung seines Gebetbuches ergab sich Anbetung zwar aus dem Erkennen Gottes, aber nicht aus der Anerkenntnis seiner Gegenwart. Fasst kindlich-naiv muten die frühen Erklärungen an: „Wenn wir Gott anbeten: so erkennen wir, dass wir alles, was wir sind und haben, von Gott und durch Gott sind und haben, und freuen uns, daß wir alles von Ihm und durch Ihn sind und haben.“ 114 Bedenken wir, dass er seit ihrem Erscheinen die Schriften des Wandsbecker Boten regelrecht aufgesogen hatte, gehen wir wohl nicht fehl, wenn wir in diesen Worten dessen Ton heraushören. Beinahe klingt es, als hätte Sailer beim Schreiben diese Verse des Dichters noch im Ohr gehabt: „Alle gute Gabe Kömmt oben her, von Gott Vom schönen blauen Himmel herab! “ 115 Doch was in dem Zusammenhang der Dichtung - es ist dies der Refrain eines Liedes, das Bauersleute bei einem Fest gemeinsam singen - glaubhaft wirkt, lässt den (zumindest den heutigen) Leser beim Übertrag in die Prosa des Gebetbuchs leer. Kindliche Freude ist gewiss ein Merkmal der Erlösten. Aber wie viel an Voraussetzungen bedarf es, um dem Urgrund der Freude unverstellt zu begegnen? Dennoch klingt in dieser ersten Fassung der Anbetung etwas Wichtiges an. In der Einfachheit der Freude lebt das Bestreben um Reinheit. Reinheit aber - ein Grundimpuls der gesamten Epoche - ist eine Bedingung zur Seligkeit in Gott. 116 Insofern ist es verständlich, wenn nicht nur Sailer zunächst die Aufmerksamkeit 113 Vgl. SW, 23, 8-12. 114 Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 62 = SW, 23, 60. 115 Matthias Claudius, Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Berlin, 1941, Bd. 1, 389. Das Lied erschien im vierten Teil des Wandsbecker Boten 1782. Sailer zitiert das Gedicht später in den Neuen Beiträgen zur Bildung des Geistlichen wörtlich. Vgl. SW, 19, 67. Zu seiner Claudiusrezeption vgl. die Kommentierung des ganz in dessen Sprachduktus verfassten Briefes Sailers an Matthias Claudius bei Hans Utz, Johann Michael Sailer und Matthias Claudius. In: Stimmen der Zeit, 83 (1957/ 1958), Bd. 161, 177-181. 116 Vgl. Sailer, Lese- und Betbuch, Bd. 1, 74 = SW, 23, 65. <?page no="216"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 206 besonders auf die „Wahrheit“ richtet, die man mit jener Kantschen „Aufrichtigkeit“ durchaus identifizieren kann und die einen „Geist“ impliziert, der nichts anderes bedeutet, als dass das Gebet weder an einen Ort noch an Gebärden gebunden ist und darum das Innere des Menschen meint. Passt man nun diese Parameter in die Norm christlichen Betens, das Vaterunser, ein, so muss es durch die Anrede und die schlichte Reihung der Bitten als Weise erscheinen, wie der Beter, ein Kind vor dem „Vater der Menschen“, sein Herz ausschüttet. Ein dieser Auffassung besonders entsprechendes Beispiel kann wiederum Matthias Claudius mit seiner Vaterunser-Auslegung geben, der in einem seiner fingierten Briefe an seinen Freund Andres ausführt: „Sieh’, wenn ich’s beten will, so denk’ ich erst an meinen seligen Vater, wie der so gut war und mir so gerne geben mochte. Und denn stell’ ich mir die ganze Welt als meines Vaters Haus vor; und alle Menschen in Europa, Asien, Afrika und Amerika sind denn in meinen Gedanken meine Brüder und Schwestern; und Gott sitzt im Himmel auf einem goldnen Stuhl, und hat seine rechte Hand übers Meer und bis ans Ende der Welt ausgestreckt, und seine Linke voll Heil und Gutes, und die Bergspitzen umher rauchen - und denn fang’ ich an.“ 117 Aufrichtigkeit jedoch, so schlicht und einfach sie auch daherkommen mag, verlangt, wie Kant herausstrich, „moralische Stärke, d.i. Tugend“ - und unter den theologischen Aufruf zur Tugend wurde von Sailer der Aufbau des Gebetbuchs von 1783 gestellt. Tugend, die noch nicht als ein in Leben übergegangenes Gebet betrachtet wurde, sondern deren Übung zweckgerichtet zu einem glückseligen Leben in Gott führt. So war das Gebet für ihn nicht in erster Linie Gottesdienst, sondern „Unterwerfung der Sinnlichkeit unter die Gebote der Vernunft“ 118 . Diese für die Zeit typische Funktionalisierung dürfte bei Sailer selten klarer als in dieser Formel aus der Glückseligkeitslehre des Jahres 1787 ausgesprochen worden sein. Sie steht dort genau in dem schon erwähnten Zusammenhang mit der Stelle aus dem Johannesevangelium über die „Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit“, die sich unmittelbar an den Satz gleichsam als Unterschrift zu dem Kapitel „Von dem hohen sittlichen Werthe des Gebetes“ anschließt. Beinahe ein halbes Jahrhundert später war, wie wir sahen, die „Anbetung“ in den Vordergrund getreten. Dennoch behalten „Wahrheit“ und „Geist“ ihren früheren Sinn bei. Zwar: ihre Bedeutung steht nicht mehr im Dienst einer funktionalisierten Tugend. Und so wird der für die Anbetung bestimmende Ausdruck das „Geistes- und Herzensgebet“, zu welchem Sailer in seinem erneuerten Gebetbuch hatte „Anweisungen und Anleitungen“ 119 geben wollen. Jene Unausgewogenheit, die zwischen dem einfachen Bittgebet und dem Herzensgespräch mit Gott noch 1783 darin bestanden hatte, dass einerseits alles, wovon das Herz voll ist, Inhalt des Betens sein kann, während es doch andererseits eigentlich Bitte sei, ist auf diese 117 Matthias Claudius, Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Berlin, 1941, S. 308 (3. Teil, 3. Brief an Andres „Über das Gebet, an meinen Freund Andres“ betitelt). 118 SW, 5, 91. 119 SW, 23, XI. <?page no="217"?> Die Anbetung in Geist und Wahrheit 207 Weise in dem „Vollständigen Unterricht von dem Gebete“ überwunden 120 . Klar wird nun an seinem Beginn das Ziel des Gebetes genannt: das der „Einigung mit Gott“, die versöhnte Gemeinschaft mit ihm. Dennoch, so bedeutend ihm nun die Anbetung geworden war, konnte er über die frühere Interpretation von „Geist und Wahrheit“ nicht hinausschreiten. Unter der Überschrift „Was Gebet als Anbetung Gottes in Geist und in der Wahrheit sey“ eröffnet Sailer in paralleler Satzfügung zu den vorangehenden Abschnitten („Die Anbetung wird Dank“ 121 , „die Anbetung Gottes wird Lob“ 122 ) auch hier: „Die Anbetung wird Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit“; fügt aber dann noch ein Element hinzu, das die Bedingung mitteilt, unter der diese Anbetung steht: „wenn sie der göttlichen Lehre Jesu entspricht“ 123 . An dieser Stelle erst werden wir darauf gestoßen, dass derjenige, dem der ganz und gar beherrschende Gedanke der ersten Fassung des Gebetbuchs galt, Jesus Christus 124 , in der neuen Grundlegung des Gebets nur an sehr später Stelle erwähnt wird. Wir begegnen ihm zum ersten Mal als dem Handelnden, als demjenigen auf dessen Weisung aus dem Evangelium ein direkter Bezug genommen wird. Es ist dies auch der erste Text im neuen Gebetbuch, den Sailer in einer stark überarbeiteten Form aus der älteren Version mit hinübernahm. Allerdings war er dort nicht in dem „Unterricht von dem Gebete“ zu lesen gewesen, sondern gehörte bereits den, wie es später hieß: „Allgemeinen Andachtsübungen auf alle Tage“ 125 an. Da die anfänglichen Berührungen der beiden Versionen noch stärker sind und durch die Veränderungen gut sichtbar wird, worauf Sailer den Wert legte, seien die ersten beiden Abschnitte einander gegenüber gestellt. Lese- und Betbuch, Bd. 1, 70f. = SW, 23, S. 63f. SW, 23, S. 13f. Die Juden glaubten einst, man könne Gott nur zu Jerusalem, und die Samaritaner waren der Meynung, man könne Gott nur auf dem Berge unweit der Stadt Sichar anbeten. Sie hefteten also die Anbetung Gottes an einen gewissen Ort. Die Anbetung wird Anbetung im Geiste und in der Wahrheit, wenn sie der göttlichen Lehre Jesu entspricht. Viele unter den Juden waren so äußerlich geworden, daß sie glaubten, Gott könne nur in dem Tempel zu Jerusalem angebetet werden. Viele unter den Samaritern waren so äußerlich geworden, daß sie glaubten, Gott könne nur auf ihrem Berge unweit der Stadt Sichar angebetet werden. 120 Man erinnere sich: Martin Budislawsky wollte neben dem Bittgebet kein anderes Gebet gelten lassen und Karl Heinrich Seibt sah es als Gebet „im engeren Sinne“ an. 121 SW, 23, 8. 122 Ebd., 10. 123 Ebd., 13. 124 S. o. S. 86-89. 125 So der Titel für die 1. Abteilung in SW, 23. <?page no="218"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 208 Ferners waren diese sinnlichen Anbeter in dem Irrthum, es komme bey der Anbetung Gottes das Meiste auf gewisse Zeremonien, Stellungen, Geberden, Worte an. Diesen doppelten Irrthum zu vertilgen, hat Jesus Christus gelehrt, Gott sey ein Geist, und suche solche Anbeter, die Ihn im Geist und in der Wahrheit verehren. Gott ist ein Geist; also will Er im Geist angebetet seyn. Er ist überall, Er ist nicht nur zu Jerusalem, nicht nur auf dem Berge unweit Sichar. Gott ist ein allgegenwärtiger Geist. Ein Götzenbild ist an einem gewissen Orte; wo dus hinstellst, da stehts. Der lebendige Gott lebt, wirkt, herrscht, hilft überall. Gott kann also überall angebetet seyn. Gott ist ein Geist; also will Er im Geist angebetet seyn. Juden, Samariter waren so äußerlich geworden, daß sie glaubten, es komme bei der Anbetung so wie auf die Stätte, so auch auf Zeremonien, Stellungen, Geberde, Worte an. Juden und Samariter waren so äußerlich geworden, daß sie glaubten, diese äußerliche Anwendung könne Gott gefallen, wenn gleich der Anbetende die thierische Lust oder die Ehre der Welt, oder das Gold der Erde als seinen Herzens-Gott anbetet. Dieser dreifache Irrthum hatte die Seele Jesu mit tiefem Schmerz erfüllet, und er ließ in diesem schönen Schmerze keinen Anlass ungenützt vorbei, um seine Zeitgenossen aus dieser Nacht heraus an das Tageslicht hervor zu führen. Deßhalb sprach er: Gott ist Geist, Geist ist Gott. Gott ist nicht nur zu Jerusalem, nicht etwa auf dem Berge Garizim, Gott ist überall. Kein Raum, kein Ort kann ihn ausschließen. Wenn nun Gott der Unermessliche, der Allgegenwärtige ist, wenn sein allbelebender Geist überall lebt, und alles, was ist und lebt, von ihm Seyn und Leben hat, so kann er überall angebetet werden. Also bindet die Anbetung an keine gewisse Stätte, nicht an Ort und Raum. Es ist ein differenzierenderer und pointierender Text geworden. Nicht mehr wird generalisierend von allen Juden und Samaritern gesprochen und in dem stets gleichen Aufbau des Satzes wird darauf hingewiesen, worin deren Verirrung bestand: In der Veräußerlichung der Gottesverehrung. Umso stärker hebt sich dadurch Jesu Innenleben ab, dessen Schmerz, weil gerecht und gut, gar als schön bezeichnet wird. Dieses Empfinden drückt er aus, wenn er sagt: „Gott ist Geist, Geist ist Gott“ (der Text wird an das hier Wiedergegebene anschließen: „Gott ist die Wahrheit selber“) und also überall wirksam. Die Aussagekraft des Textes hat sich <?page no="219"?> Die Anbetung in Geist und Wahrheit 209 vom Argument zur Empfindung verlagert. Intendierte Sailer vordem einen Leser, der der Lehre Jesu folgen wollte, so zielt er jetzt auf denjenigen, der sich von den Gefühlen seines Herrn anrühren lassen will: Die Stimmung des Gemütes, und gar in ihm die Stimme Gottes. Dies ist der seit seinen Anfängen wahrhaft veränderte Verstehenshorizont Sailers. Insofern haben die beiden vordem entscheidenden Substantive „Geist“ und „Wahrheit“ ihre Bedeutung nicht eingebüßt. Das dritte, die Anbetung, ist indessen ihr neuer Hintergrund. Unbemerkt blieb von ihm dagegen die Präposition „im“, die allerdings das Verständnis von der Anbetung zu vertiefen geholfen hätte. So aber bleibt Sailer gegenüber dem textimmanenten Sinn der Stelle ohnmächtig. Abgesehen davon nämlich, dass zur Zeit Jesu weder Juden noch Samariter „thierische Lust oder die Ehre der Welt, oder das Gold der Erde“ als ihren „Herzens-Gott“ anbeteten, geht es bei Johannes ja allenfalls vordergründig um die Veräußerlichung des Kultes. Tatsächlich ist hier die Rede von dem Sohn Gottes, der den Tempel seines Leibes nieder reißen lassen wird, in drei Tagen aber wieder aufbaut (vgl. Joh. 2, 19-21), der von sich selbst sagt „ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh. 14, 6) und der darum, wenn er von den wahren Betern, die den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten würden, spricht, nichts anderes meint, als dass Gott, der Vater Jesus Christi, nur recht von denjenigen verehrt werden könne, denen der Heilige Geist gegeben sei und die genau in diesem den Sohn bekennen. Dessen ungeachtet reduziert sich die Aussage bei Sailer darauf, dass Gott - ganz allgemein, gemeint ist nicht die dritte göttliche Person -, da er Geist sei, überall sei, da er die Wahrheit sei, alles sehe. Wo sich bei einer textgerechten Interpretation der Blick geöffnet hätte auf die Wirksamkeit Christi und des Heiligen Geistes im Gebet, motiviert Sailers Verständnis einer ehrlichen, lauteren Anbetung den Einklang mit einem entsprechenden Lebenswandel. Konsequent und schön, doch leider ohne den tiefen Kern der Johannesstelle erfasst zu haben, schließt er den Abschnitt: „Wenn die Anbetung lauter Wahrheit ist, so muß das Leben des Menschen nichts anderes als eine fortgesetzte Huldigung, ein fortdauerndes Opfer, ein ununterbrochener Gehorsam, ein nie verstummendes Anbetungslied seyn.“ 126 2. Anbetung Jesu Christi Doch nicht allein das Gebet erhält bei Sailer hier nur ein allgemein religiöses Fundament. Auch - und das ist bei dessen christozentrischem Ansatz 127 wirklich überraschend - der Stellenwert Jesu Christi ist unzulässig marginalisiert. Daran ändert nichts, dass der nun folgende Abschnitt mit „Was Anbetung Jesu Christi 126 Ebd., 15. 127 Vgl. so frühe Aussagen wie diese, die gerade im Zusammenhang mit dem Gebet getroffen worden sind: „Er ist das Abbild der Gottheit ohne seines gleichen, und das Urbild ohne seines gleichen. Durch ihn kommen wir zum Vater.“ (Sailer, Gebetbuch-Anzeige, 32). <?page no="220"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 210 sey“ 128 überschrieben ist. Ja, es macht den Umstand nur noch offensichtlicher. Was die eigentliche Mitte und der Schlüssel zum Verständnis der Johannesstelle hätte sein können, das Fleisch gewordene Wort Gottes selber, bleibt unbedacht. Auch dieser Text wurde aus dem gleichen früheren Zusammenhang der ersten Auflage übernommen. Doch hatte dieser, so wie er war, keinen Bestand, und Sailer korrigierte ihn darum in mancher Hinsicht. Die Passage über Christus hat er dagegen nur in der Orthographie angepasst. Wer allerdings wohlbedachte Worte über die Verehrung des Herrn erwartet - die Liebe zu Christus gehörte ja von Anfang an zu dem unübersehbaren Charisma des Theologen - wird enttäuscht. Sailer handelt den Abschnitt knapp und trocken in sieben katechismusartig zusammenfassenden Nummern ab, deren refrainartiger Appell jeweils lautet: „Wer den Vater ehrt, ehrt auch den Sohn, und wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht“. „1. Jesus Christus ist das ewige Wort, das vollkommenste Ebenbild, der Eingeborene des Vaters, ist Gott, hochgelobt in Ewigkeit. […] 2. Durch das Wort ist Alles gemacht, was gemacht ist, und ohne das Wort ist nichts gemacht, was gemacht ist. […] 3. Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat sich für uns Alle in den Tod hingegeben, ist für uns Alle gestorben. […] 4. Durch Jesus Christus, den Sohn Gottes wird die Welt regiert. […] 5. Jesus Christus, der Sohn Gottes, wird einst alle Todten zum Leben auferwecken […] 6. Jesus Christus, der Sohn Gottes, wird einst Alles richten, was gerichtet wird. […] 7. Durch Jesus Christus wird Alles selig, was selig wird. Er ist der Seligmacher. […] Er ist Sohn Gottes, Erlöser, Regierer, Auferwecker, Richter, Seligmacher, Gott, - der Anbetungswürdigste. Wer Jesum Christum anbetet, der betet Gott an.“ 129 Es ist dies gewiss ein Zeugnis für die Rechtgläubigkeit Sailers, eine Nahrung für die Frömmigkeit kann eine solche Aufzählung nicht sein. Wir begegneten der Haltung Sailers in der Frage der Anbetung bereits im vorangehenden Kapitel 130 und sahen, was es bedeutet, wenn der Blick auf den anzubetenden Gott nur unter der Perspektive der Gotteskindschaft, d.h. unter der Beziehung zu Gott, dem Vater aller Menschen, steht. Wenn dagegen ein christliches Verhältnis zu Gott, dem Vater Jesu Christi, von Christus selbst begründet, in seinem Leben, Sterben und Auferstehen sichtbar und deshalb immer auf ihn bezogen bleiben wird, so gewärtigt man, was an dieser Stelle ganz außer Betracht liegt: So wie die Anbetung nicht vom Gedanken an den Gottessohn her durchdrungen wird, so mangelt es diesen sieben dogmatisch zweifellos korrekten Feststellungen umgekehrt an einem Anknüpfungspunkt im Ereignis der Anbetung - und davon gab die Überschrift doch vor, sprechen zu wollen! Ja, das Beispiel der eucharistischen Verehrung im kleinen Gebetbuch zeigte sogar, dass Sailer die Möglichkeit der konkreten Anknüpfung absichtlich verweigert, weil ihm das kosmische Dasein des Gottessohnes zu sehr von der Menschheit Jesu verstellt zu sein scheint. Die Aussagen bleiben darum oh- 128 Ebd. 129 Ebd., 15f. 130 Vgl. o. S. 160f. <?page no="221"?> Das Bittgebet 211 ne Fundament, während der Gedanke der Gotteskindschaft einer christologischen Untermauerung entbehrt. d) Das Bittgebet Es war davon die Rede, dass Immanuel Kant der Möglichkeit des Bittgebetes sehr enge Grenzen gezogen hatte. Er brandmarkte es als „Gunstbewerbungen“ und meinte damit, dass sich der Beter bei demjenigen Wesen, das ohnehin wisse, wessen wir bedürftig seien, gleich einem Höfling bei seinem Herrscher einzuschmeicheln suche, um etwas zu erlangen, was einem anderen vorenthalten werde - eben eine Gunst 131 . Interessanterweise tat er dies zum ersten Mal in einem Brief an Lavater, der hingegen entschieden das Bittgebet verteidigte, indem er die Bitte nicht als bloßes Wünschen abtat, sondern in den Horizont von Macht und Ohnmacht setzte. In einem von ihm konstruierten Gespräch zwischen einem Christ und Christus spitzt er die Frage nach der Vernünftigkeit der Bitte so zu: „Christus: Kannst du, ohne mich, deinen kranken Freund gesund machen, dem keine Arzeneyen helfen wollen? “ 132 Allein die Ohnmacht des Christen erweist die Vernünftigkeit und streicht alle Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bittens mit einem Federstreich aus. Die aufgeklärten Kritiker des Gebetes hat er damit nicht auf seiner Seite; doch wirft Lavater den „Wunsch nach Heil und den Glauben an den Gott, der sinnfällig handeln und das Elend der Welt überwinden soll“ 133 , mit Vehemenz auf die gegenüberliegende Waagschale. Wir müssen nicht fragen, welche der Seiten für Sailer schwerer wog. Das Bittgebet, auch wenn er nicht mehr daran festhielt, von ihm aus das Tun des Beters zu erklären, hat für Sailer nie seine Bedeutung verloren. Verzichten wir darauf, die Darlegungen dazu in den frühen Abhandlungen, wie etwa in der Glückseligkeitslehre aufzusuchen, so sind, außerhalb des Gebetbuches zwei Stellen hier von Relevanz, weil sie die Sailersche Antwort auf die Einwendungen gegen das Bittgebet enthalten. Die erste finden wir in den Übungen des Geistes zur Gründung und Förderung eines heiligen Sinnes und Lebens. Sie hat beinahe die Form eines Seitenhiebs auf alle Zweifel an der Vernünftigkeit des Gebets, ähnelt im Vertrauen auf die argumentative Kraft sehr der Haltung Lavaters und ist vor allem im textimmanenten Zusammenhang meisterhaft geführt. Denn welcher Leser, der sich an die „große Angelegenheit, heilig und selig zu werden“, herangemacht hat, würde 131 Vgl. Aloysius Winter, Gebet und Gottesdienst bei Kant: nicht „Gunstbewerbung“, sondern „Form aller Handlungen“. In: Ders. Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, Hildesheim [u.a.], 2000, 128f. 132 Johann Kaspar Lavater, Gespräch zwischen Christo und einem Christen von der Kraft des Glaubens und Gebeths, Chur, 1776, 45. Zitiert nach Hans Luibl, Des Fremden Sprachgestalt. Beobachtungen zum Bedeutungswandel des Gebetes in der Geschichte der Neuzeit, Tübingen, 1993, 82. 133 Ebd. <?page no="222"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 212 wünschen, sich lange bei der Frage, ob er Gott überhaupt bitten dürfe, aufzuhalten? Um der breiter geführten Diskussion willen, meint Sailer dennoch darauf eingehen zu müssen. Kurz führt er Schriftworte an, verweist darauf, dass ja vieles Selbstverständliche eigentlich nicht zu verstehen sei: der Umstand wie Gott Bitten erhöre genauso, wie der, dass man lebe. Und dann gipfelt er in einem Satz, der wie ein Schlag in aller Einfachheit die Bedenken zu zerstreuen vermag: „Wer sich helfen kann, der helfe sich selbst.“ 134 Eine solche Antwort wird denjenigen, der zu bitten bereit ist, vollständig befriedigen. Eine Auseinandersetzung mit den nicht eben schwachen Argumenten der Gegenseite ist das freilich nicht. Darum geht Sailer in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, dem Handbuch der christlichen Moral, ausführlich auf allerhand mögliche Arten von Einsprüchen gegen das Gebet ein. Diejenigen, die gegen das Bittgebet sprechen, fasst er als notwendige Konsequenz aus dem „Gunsterwerb im Sinne Kants so zusammen: „Das Gebet kann nicht einmal Tugendmittel werden, weil es die Tugend theils herabwürdigt, theils beflecket“ 135 . Dem stellt er gegenüber, dass man zwischen vernünftigen und vernunftwidrigen Bitten zu unterscheiden habe und ebenso zwischen der Bitte um geistliche und um irdische Güter. In sicherer Einigkeit mit seinen Gegnern stellt er eine ziemlich lange Liste von vernunftwidrigen Bitten „in Hinsicht auf Gott oder auf den Bittenden, oder auf den Inhalt“ zusammen 136 . Dazu gehören etwa Belehrungen an Gott über das gefühlte Bedürfnis, Bitten ohne selbst gezogene Konsequenzen (z.B. eine Arznei bei Krankheit einzunehmen) oder Bitten um das Gelingen böser Vorhaben. Wiewohl es nun nach Sailer möglich ist, auch um irdische Güter zu bitten, so sind die reinsten Bitten diejenigen um geistliche Güter. „Denn unter diesen Voraussetzungen ist weder in Hinsicht auf Gott, noch in Hinsicht auf den Bittenden, weder in Hinsicht auf den Inhalt und Zweck, noch auf die Weise des Gebetes etwas, das die Vernunft mit sich widersprechend fände.“ 137 Drei geistliche Güter umfassen für ihn die „wahre lebendige Religion“: „Weisheit, Tugend, Seligkeit“ 138 . Von solchen Auseinandersetzungen ist der „Vollständige Unterricht von dem Gebete“ frei gehalten worden. Nur um was und wie der Beter bitten solle, sagt Sailer. Das erstere findet wiederum seine Entsprechung zur wissenschaftlichen Reflexion der moraltheologischen Vorlesungen. Konzentriert heißt es hier: Der Christ bittet um Weisheit 139 , denn darunter lässt sich schließlich alles christliche Bitten - auch das um Tugend und Seligkeit - unterordnen: Die Bitte um Selbsterkenntnis, die Bitten des Vaterunsers, um die Heiligung des Namens „durch Erleuchtung und Heiligung des Menschen“, alle anderen Bitten dieses Gebets 134 SW, 26, 12. Damit ist so gut wie alles gesagt. Der Satz fährt aber fort: „Uns aber, die wir uns nicht selbst helfen können, muß es nicht verarget werden, daß wir bei einem Mächtigern Hülfe suchen.“ 135 SW, 14, 300. 136 Ebd., 309ff. 137 Ebd., 313f. 138 Ebd., 312. 139 Vgl. SW, 23, 16ff. <?page no="223"?> Das Bittgebet 213 und um den Heiligen Geist. Um Weisheit zu bitten sei, so sagt Sailer weiter, ein Bitten im Namen Christi. Dies aber hieße im Geiste Christi zu bitten, und im Geiste Christi bitten hieße, um das, und nur um das zu bitten, um was der Geist Christi selber bitten würde, wenn er in uns lebte. 140 Diese Aussage ist bemerkenswert: Zu der Anbetung Jesu Christi hatte Sailer, wie wir sahen, weder in der Frühzeit noch in der spätesten Formulierung das rechte Verhältnis gefunden. Im Bittgebet aber erkennt er denjenigen, der der Erste unter den Betern ist, wieder. Unter den vier gebotenen Weisen, der Anbetung, dem Dank, dem Lob und der Bitte, ist diese letztere die einzige, die ihr Fundament von Jesus Christus her erhalten hat. Verortet dort, wo von den „Finsternissen, Lasten, Leiden, Nöthen, von denen wir uns nicht selber, von denen uns auch andere nicht befreien können“ 141 , die Rede ist, zeigt dies, welcher Blick für ihn der bestimmende auf den Gottessohn ist: Jesus Christus ist für ihn vornehmlich der Heiland. So bittet der Christ nach Sailer in seinem Namen um die Kraft, die Berge versetzen kann, er bittet um die Gabe der Sättigung im täglichen Brot (nicht aber um Reichtum), er bittet darum, dass der Kelch des Leidens an ihm vorübergehen möge, doch mit Christus bittet er immer ergeben in den Willen Gottes. Und je länger er bittet, „je weniger [wird er] um bestimmte Gaben bitten wollen; der Quelle überlassend das Überströmen, und dankbar nehmend, was sie giebt, wird er […] am Ende nur noch den Geist Gottes […] für sich flehen lassen.“ 142 Und schließlich: „Der Christ, der mit Christus am Ölberge mit dem Tode ringet, neiget mit Christus am Kreuze sein Haupt, und - stirbt.“ 143 Das Wie des Bittens wird im Zusammenhang mit der Morallehre nicht näher als „vernünftig“ bestimmt. Im Gebetbuch dagegen geht er darüber hinaus, wenn er in logischer Konsequenz das Bitten im Namen Jesu immer mehr ein Bitten um geistliche Güter und schließlich ein Bitten des Geistes Gottes selber nennt und seinen Lesern geradewegs sagt: „Das Bitten des Christen ist himmlisch wie er“ 144 . Darum sei es nicht der Mensch, d.h. der mit seinem Willen auf Irdisches abzielende Mensch, der bäte, sondern jene Bereiche in ihm, die ihren Sitz im Gemüt haben und deren Aufgabe und Fähigkeit es ist, ihn auf Gott hin zu öffnen. Genau sie sprächen das eigentliche Gebet aus: Der Glaube und die Zuversicht, das reine Herz und die edle Freiheit, die Demut, die Innbrunst und die Freudigkeit, die Beharrlichkeit. Und mit diesen räumt er auch der Fürbitte einen Platz ein: Ein sich von selbst verstehender Dienst am Nächsten aus ohnmächtiger Liebe: „Bereit sich für Andere zu opfern, sollte sie ermangeln können, für andere zu flehen bei dem, der allein reich ist für Alle? “ 145 140 Vgl. ebd., 17. 141 Ebd., 16. 142 Ebd., 18. 143 Ebd. 144 Ebd., 19. 145 Ebd., 21. <?page no="224"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 214 e) Der Weg des Betens Das Gemüt erhebt sich zu Gott und öffnet sich damit Gottes Wort, das im Gewissen des Betenden seine Stimme erhebt. Diese Stimme als das, was sie ist, erkennend, denjenigen, von dem sie ausgeht anerkennend, seine Gegenwart wahrnehmend und ihr vertrauend, geht das Gebet über in Lob und Dank und Bitte - und verharrt so lange in der Bitte, bis das Gemüt sich ganz aufgeklart hat. Wenn am Ende nur noch der Geist Gottes im Beter bittet, so wird dies das Zeichen sein, dass der Beter immer mehr Gott gefunden hat, ihm immer näher gekommen ist. Hat Sailer dem Leser den Blick in die Weiten des Gebets in dieser Weise aufgetan, so macht er sich noch einmal daran, ihm eine Wegbeschreibung an die Hand zu geben. Zuerst spricht er von den Stufen der Vollkommenheit. Danach fragt er grundsätzlich „wie der Mensch beten lerne“. Über letzteres erfahren wir nun nichts Neues mehr: Zu jeder Zeit des Sailerschen Denkweges war das Beten mit der Tugend eng verknüpft, nur der Hintergrund und die Wahl mancher Wörter veränderte sich. Es überrascht uns deshalb nicht, wenn es ihm - jetzt immer das Gebet als Erhebung des Gemütes zu Gott begriffen - die Vorraussetzung dafür ist, dass der Mensch sich in die Lage versetzt, die Gefangenschaft in der „Welt außer ihm“ und der „Welt in ihm“ 146 zu überwinden. Nur ein solcherart befreiter Mensch betet und er betet von dem ersten Augenblick an, in welchem er versucht, an diesen selbstgesetzten Schranken vorbei ins Freie zu treten. Der Anruf an den Menschen zum Gebet ist darum mit dem Ruf des Evangeliums identisch. Es ist der Ruf zur Umkehr. Wie aber der Ruf des Evangeliums kein Programm ist, sondern verkündigt wird - zuerst von Jesus Christus, dann von Menschen, die ihm vorausgingen oder ihm nachfolgten - so verpflanzt sich auch die „Schule des Gebetes“ 147 überall dorthin, wo der Ruf vernehmlich wird. Das Gewissen im Gemüt als das erstgenannte kennen wir bereits. „Jeder Moses, jeder Gottesbote, der uns das heilige Gesetz verkündet, […] jeder Johannes [der Täufer], der uns das Lamm Gottes [das die Sünden vergibt] aufzeigt, […] „jeder Daniel, […] jeder Paulus, […] der uns das Beispiel der Gottseligkeit in seinem Leben aufzeigt, […] jedes Blatt unserer heiligen Schriften“ sind weitere Weisen dazu. Die Umkehr selbst „von der Sünde zu Gott, von der Welt zu Christus, von der Selbstsucht zur heiligen Liebe“ muss folgen. „Alles wahre Gebet“ fängt mit ihr an und darf über ihr nie müde werden. Es „setzt sich - in der wirklichen Umänderung des Sinnes fort, und vollendet sich - in und mit der Heiligung des Menschen. […] Beten ist also nicht Sache des alten Menschen, Beten ist Sache des neuen Menschen von dem ersten Augenblicke des Sehnens nach neuem Sinne bis zur Empfängnis, zur Geburt, zur Erziehung, zur Vollendung des neuen Sinnes. Denn der alte Mensch kriecht auf der Erde, der neue schwingt sich zum Himmel auf.“ 148 146 Vgl. ebd., 28. 147 Vgl. ebd. 148 Ebd., 31. <?page no="225"?> Der Weg des Betens 215 Allmorgendlich sei darum ein Bußgebet als „die Einleitung aller Herzens- und Geistgebete“ nötig. In der „guten Meinung“ kennen wir die Form, die Sailer vorschwebte. Das letzte, was den Menschen dazu brächte, den Weg in diese Schule aufzunehmen, sei das Leiden. Es ist beinahe, als ob sich der Kreis seiner eigenen Denkbewegung schließen würde. Anhand des Bittgebets hatte Sailer angefangen, seine ersten Gedanken über das Beten zu formen. Hier bleibt ihm der Schlussakkord vorbehalten: „Denn die Noth treibt zu dem, der allein daraus erlösen, die Angst zu dem, der allein Ruhe schaffen, das Verlassensein von aller Menschenhülfe zu dem, der nie verlassen ist von Allmacht und Liebe, weil er die allmächtige Liebe selbst ist.“ 149 Dass Sailer die Formen der Liturgie und der Volksfrömmigkeit nur noch wie eine Coda ohne inneren Zusammenhang anfügt, zeigt einerseits, dass sie ihm innerlich wohl doch fremd geblieben sind, dass er zu jeder Zeit eine gewisse natürliche Distanz zu ihnen gewahrt hat, bei allen Bemühungen, die er auf diesem Feld unternommen haben mag. Dennoch ehrt es ihn, dass er an ihnen stets festgehalten und sie gegen Stürme, die manche Zeitgenossen gegen sie entfachten, verteidigt hat. Es ist nicht wenig, sich auch hierin treu erwiesen zu haben, obwohl keine innere Wärme das Verhältnis aufrecht erhält. Dank und Lob sind Ausfluss der Anbetung, Wort gewordene und als solche in eine bestimmte Richtung gelenkte Weise der Anbetung. Die Grundweisen des Betens sind demnach tatsächlich allein Anbetung und Bitte (nicht auch Dank und Lob), anhand denen Sailer - im Bereich der Katechese - den Faden des Erläuterns aufnimmt und weiterspinnt. Und er tut es jeweils so, dass er ihren Wirkungsbereich im Menschen immer weiter ausdehnt, bis schließlich ein „nie verstummendes Anbetungslied“ 150 daraus wird, bis sich „dem Bittenden die Beharrlichkeit“ und die „Ergebung“ 151 beigesellt, „bis der Mensch lauter Gebet“ 152 sein wird. Der Weg dahin führt über drei Stufen. Sailer nennt sie kindlich, mannhaft, göttlich. So bündelt der achtzigjährige Bischof die Erfahrung seines eigenen Lebens aus dem Glauben und gewiss auch seines Nachdenkens über das Gebet. Wenn er davon spricht „was Gebet in seinem Stufengange zur Vollkommenheit sey“, führt er aus: „Das Gebet ist kindlich, indem es jedes Sehnen der Liebe vor Gottes Auge nackt hinlegt; das Gebet ist mannhaft, indem es das Kreuz auf die Schulter nimmt, und Muth faßt, daran auch zu sterben, das Gebet ist göttlich, indem es innige Vereinigung mit Gott wird.“ 153 Die Stufen entsprechen nicht immer den Lebensphasen. Bisweilen sind sie ineinander verwoben. Doch wenn eine neue Stufe erreicht ist, so wird ihr Charakter der 149 Ebd. 150 Vgl. ebd., 15. 151 Vgl. ebd., 20f. 152 Vgl. ebd., 31. 153 Ebd., 23. <?page no="226"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 216 vorherrschende sein: auf der ersten Stufe das Flehen, auf der zweiten Stufe „jene Einstimmung des vorbetenden Herzens, des mitbetenden Mundes, und des nachbetenden Lebens“, auf der dritten Stufe die „besondere Inbrunst“ und der „Seelenjubel“ der von Gott Ergriffenen, mit Gott Geeinten. Die Mutter Jesu, Simeon und Maria Magdalena nennt er als Beispiele solchen Betens. Und noch eine vierte Stufe kennt er. Die namenlose Liebe Gottes, „ohne Worte und ohne Thräne“, in welcher Gott alles in allem ist. In anderer Weise kann man, nach Sailer, das Gebet noch solchermaßen unterscheiden, ob es betrachtend ist, ob darin „Anmuthung, Hinwallung, Sehnen des Gemütes“ ist oder eine Schau „in die helleuchtende Wahrheit“. „Die Betrachtung fraget nach Gott, die Anmuthung streckt sich aus nach ihm, die Anschauung ergreift und genießt ihn.“ 154 Wenn es nun unterschiedliche Weisen des Betens gibt, die alle ihrer Zeit bedürfen, die alle in unterschiedlichen Lebensaltern, in unterschiedlichen Stimmungen zum Reifen im Gebet führen, unter denen auch keine vor einer anderen in dieser Weise den Vorzug erhalten könnte, dass sie die andere verzichtbar macht, so legt Sailer darum - wiederum gut ignatianisch - großen Wert darauf, dass jeder Beter seinen eigenen Weg gehen müsse und dürfe. „Kein Freund des Gebetes [darf deshalb] das Gebet des Andern meistern“ 155 , d.h. richten oder bevormunden. Denn es ist immer der Geist Gottes, der das Gebet des andern leitet und alles Eingreifen von außen eine Störung des natürlichen, Sailer würde sogar sagen: „himmlischen“ Wachstums. Zu diesem Wissen hat ihn außer den Schriften des Ignatius sicherlich auch die eigene leidvolle Erfahrung geführt. An die Widrigkeiten um die Allgäuer Erweckungsbewegung sei nochmals erinnert. 156 Die Lehren, die er daraus ziehen konnte, waren Respekt vor den Erfahrungen und dem Wachstum des andern. Aber auch die Wahrhaftigkeit, die nicht vorgibt auf einer höheren Stufe als der tatsächlichen zu stehen. So schärft er ein: „So wenig du die Weise zu beten in Andern meistern darfst, so wenig sollst du dich selbst in eine fremde Gebetweise hineinzwängen, oder in eine höhere hinaufschrauben wollen. Das Gebet, das dich in dir zurechtsetzet, das dich im Innern froh, frei, stark zu allem Guten macht, das sey dir heilig, und dann bekümmere dich nicht darum, was ihm die Gelehrten oder Ungelehrten für einen Namen geben.“ 157 All das mündet dorthinein, wovon unsere Untersuchung ihren Ausgang genommen hatte. Wenn Sailer zusammenfasst: „wer recht beten gelernt hat, hat ohne Unterlaß beten gelernt“ 158 , so drückt er damit nicht nur jene Weisheit aus, die ihn sein Leben lehrte, sondern auch worauf er in diesem neugefassten Unterricht hinaus wollte: In Erwartung und Ergebung verharren, im Flehen nur noch den Geist Gottes sprechen lassen und in der Lauterkeit des Wandels ein „nie verstummendes 154 Ebd., 25. 155 Ebd., 26. 156 S. o. S. 97 und S. 197. 157 SW 23, 26f. 158 Ebd., 32. <?page no="227"?> Die Stellung des Sailer-Gebetbuchs in der Frömmigkeitsgeschichte 217 Anbetungslied“ werden. Das genau ist, was er mit dem immerwährenden Gebet, das das wahre Gebet sei, meinte. Schluss: Über die Stellung des Sailer-Gebetbuchs in der Frömmigkeitsgeschichte und über einige sich daraus ergebende Fragen Vor uns liegt das aszetische Hauptwerk dieses für das achtzehnte wie für das neunzehnte Jahrhundert so bedeutenden Theologen. Nicht allein, aber auch auf dieses gründet sich mit Recht die Einschätzung seines Ranges. Gerade auf dem Gebiet der Andacht kam nämlich die Stärke Sailers besonders zum Tragen. Nie der vertiefte Gedanke allein, nie bloß das reine Konzept, sondern immer die in Stil und Sprache eingehende innerliche Ergriffenheit vom Gegenstand trugen das Werden des Sailerschen Gebetbuchs. Ergriffen hat er mit ihm gerungen, so dass in höherem Maße als bei seinen unmittelbaren Vorläufern - ihre Leistung mag groß oder wenig bedeutend gewesen sein - etwas auf allen Seiten des Buchs durchscheint, das man Persönlichkeit nennen muss. So ist es natürlich, dass sich das Gebetbuch durch und durch der persönlichen Frömmigkeit des einzelnen Christen widmet. Dieser - nicht die Gemeinschaft - versinkt in subjektiver Andacht, dieser betet an. Nur mit Einschränkung kann man es als ein Begleitbuch zur Teilhabe am Leben der öffentlich betenden Kirche, wie es z.B. das Andachtsbuch des Johann Christian Elias gewesen war, betrachten. Der Volksfrömmigkeit entsprechende Andachten sucht man vergebens. Der Gedanke einer gottgeschuldeten Pflicht der betenden Kirche war ihm, wenn nicht ganz und gar fremd, so doch mit Sicherheit nicht wesentlich. 159 Wohl bietet es nicht wenige Orationen aus der Liturgie, und sogar der samt Kanon vollständig ins Deutsche übertragene Messordo wird wiedergegeben. Doch es scheint immer, die Stimme des Einzelnen, immer - um den Ausdruck der Zeit nochmals zu gebrauchen - „Gedankengebet“ 160 zu bleiben. Der Liturgie, so viel Schätzenswertes er daran gefunden hat, misstraute er, so wie er festgefügten Formen für das Beten grundsätzlich misstraute. Das blieb ihm ein Steinbruch, eine Quelle an Beispielen innigen Betens. Das Bergende, das ein geistliches Leben Führende, das der Liturgie als Handeln der in Christus Versammelten innewohnt, blieb ihm verborgen. Freilich, das kann kein Urteil sein, das unserem Autor keine Bewegungen in der Sache mehr zutraut. Es ist offensichtlich, wie sehr er sich auf Themen der Liturgie eingelassen hat, und zu welch grundsätzlichen Einsichten er darüber gelangen konnte 161 . Das ist nicht zu bestreiten. Überhaupt wissen wir immer noch zu wenig darüber, wie wir das liturgische Denken der damaligen Zeit im Allgemeinen und dasjenige Sailers im Besonderen einschätzen sollen, so dass vorschnelle, zumal 159 Vgl. o S. 96, Anm. 59 die Gegenüberstellung seiner Änderungsvorschläge zum Breviergebet mit denen einer anonymen Schrift, die vor allem auf der Verpflichtung des Klerus insistierte. 160 S. o. S. 72. 161 Vgl. z.B. den gewichtigen, über 150 Seiten langen Abschnitt über die Liturgie in den Neuen Beiträgen zur Bildung des Geistlichen. In: SW, 19, 239-394. <?page no="228"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 218 negative Urteile unangebracht erscheinen. Vielmehr schält sich als neuer Fragenkreis für die Sailerzeit das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Kirche heraus. Nach unserer an diesem Punkt allerdings nicht abgeschlossenen Untersuchung müssen wir zunächst festhalten: Die Kirche als die auch im einzelnen Christen Betende war ihm nicht bewusst und das geistlich so fruchtbare Wechselspiel zwischen dem Beter und seiner Kirche bleibt nur eindimensional. Die Andacht des Einzelnen drängt bei Sailer nach außen und strebt dazu, „Kirchenandacht“ zu werden. Dass aber die Kirchenandacht, das Gebet der Kirche, Grundlage für das Gebet des Einzelnen ist, kommt nicht in den Blick. In sein Gebetbuch hatte Sailer eine lange Litanei über biblische Begebnisse als Lesemeditation gesetzt. Andere gebräuchliche oder auch nur die offiziellen Litaneien kommen hingegen nicht vor. Allerdings stand er diesen durchaus nicht ablehnend gegenüber 162 und für den Zweck einer Volksandacht in Landshut verfasste er sogar einmal eine eigene „Litaney von der Todesangst Jesu“ 163 . In sein Gebetbuch, Zeugnis des persönlichen Gebetes, reihte er das Gebet der Menge aber nicht ein. Und so ließe sich in dem in der Einleitung angedeuteten Sinn von „pius“ 164 zwar nicht ernsthaft fragen, ob Sailer fromm war, stattdessen aber ob er das, was Frömmigkeit zutiefst ist, nämlich die Entsprechung von innerer und äußerer Verehrung, auch auf die öffentliche Gottesverehrung der ganzen Kirche bezog. Das ist keine rhetorische, sondern eine tatsächlich offene Frage. Denn seine „ekklesiologische Schwäche“ - wie man sie wohl nennen muss - bedeutet keineswegs, dass das Gebetbuch den Sinn des Betens der Kirche verfehlt. Anhand der neugefassten Einleitung sahen wir, wohinein Sailers Denken schließlich mündete und was er seinem Werk einzuschreiben sich bestrebte. Immerwährend zu Gott in Jesus Christus zu beten, ist das, was die Kirche seit ihrem Anfang tut. Auf diesen Zielpunkt allen christlichen Betens hin hatte auch Sailer seine erneuerte Einleitung aufgebaut. Es war für ihn ein langer Weg dahin. Nicht zuletzt deshalb, weil er - in Einigkeit mit den damals fortschrittlich Denkenden - solche Formen ablehnte, die das Gebet rhythmisieren: Gegenüber der Tagzeitenliturgie war er folgenschwer entfremdet; an den eben erwähnten Litaneien schätzt er das Abwechslungsreiche, nicht die Wiederholung; der Rosenkranz hinterließ im Gebetbuch nirgends Spuren; das Kirchenjahr erhält bei ihm zwar nicht geringen Raum und der Sonntag erfährt eine besondere Wertschätzung, doch motiviert sich dies mehr aus dem Bestreben um Konzentration auf das Wesentliche als aus der Betonung des Zyklischen. Pointiert formuliert: Das Hodie der Liturgie blieb ihm fremd. Indem er sich aber ohne das Hilfsmittel der Formen nach und nach der Einsicht in das wahre Gebet, das nicht aufhört, geöffnet hat, zeigt sich dahinter die Ernsthaftigkeit des Sailerschen Weges. Es ist dies ein Zeugnis dafür, dass, wer sein Christenleben entschieden unter den Anspruch des Betens stellt, an einem Verhältnis zur Dauer des Gebets nicht vorbeikommen kann. Spätestens seit 1798, in einem Moment der ärgsten inneren Bedrängnis, betraf Sailer dies existentiell, indem er sich keinen anderen Ausweg aus seiner Not wusste, als im „unablässigen“ Gebet zu verharren. 162 Vgl. ebd., 377f. 163 SW, 36, 346. 164 S. o. S. 16. <?page no="229"?> Die Stellung des Sailer-Gebetbuchs in der Frömmigkeitsgeschichte 219 Nicht minder bedeutsam wurde für Sailer sein Festhalten und sich vertiefendes Nachdenken über wesentliche Glaubenswahrheiten. Zwei Merkmale stachen in der ersten Auflage des Lese- und Betbuchs sogleich hervor: Jesus Christus als der Dreh- und Angelpunkt des Betens und die tugendethische Ausrichtung. Im Lauf der weiteren 48 Lebensjahre konnte er den Blick auf alle drei göttlichen Personen ausweiten. Der Wirklichkeit des Heiligen Geistes, die der Frömmigkeit der Aufklärungszeit aus dem Blick geraten war, vermochte er sich nach und nach wieder zu öffnen. Bemerkenswerterweise wirkte sich dies im Gebetbuch nicht mehr in derselben Weise wie in seinen Religionsphilosophischen Vorlesungen auf seine Sicht der Kirche aus 165 . Besonders die 32. Vorlesung über die Fundamente „des katholischen Christenthums“ zeugt u.a. von Sailers Möhlerrezeption 166 . Dieser dürfte ihm die Kirche als Schöpfung des Heiligen Geistes noch einmal verdeutlicht haben. Zu einer Synthese mit seinen Bemühungen um die Frömmigkeit des Einzelnen brachte er es aber nicht mehr. Andererseits trat Jesus Christus in dem Maß, in welchem sich der Schwerpunkt vom Bittgebet auf die Anbetung hin verlagerte, in den Hintergrund. Jesus Christus, der Heilsmittler schlechthin als den Sailer ihn erkannte und nicht müde wurde ihn vor seinen Zeitgenossen zu bezeugen 167 ist und bleibt eben nur dies: Mittler im Sinne einer Vermittlung. Nicht vermag ihn Sailer zu sehen als Mitte und Halt jeden Lebens, der darum auch zum Gegenüber der Anbetung werden könnte. Jesus Christus tritt beim Vater für uns ein, er geht uns bittend im Gebet voraus, er führt uns - allenfalls - zur Anbetung hin. Die Anbetung selbst aber kommt ihm bei Sailer nicht zu. Die Betonung von Glaube, Hoffnung und Liebe wurde vom eudämonistischen Hilfsmittel mit der Zeit zur treibenden menschlichen Kraft in dem Prozess der Heiligung, den er als geistlichen Kampf verstand. Es erschlossen sich ihm die Zusammenhänge jener Merkmale immer tiefer, so dass er nicht mehr von ihnen abließ. Manches für wichtig Gehaltene ermangelt noch: Die in den traditionellen Barockgebetbüchern stets präsente kosmisch-eschatologische Dimension dieses geistlichen Kampfes (samt der Vorstellung vom Fegefeuer mit den noch nicht erlösten Seelen) wird bei ihm kaum berührt. Dem Weg seines Betens wohnt dennoch untrüglich die Richtung und Einheit mit dem Beten seiner Kirche inne. Bei Sailer fehlt es also vor allem an ekklesiologischer Vertiefung und der Beter ist beinahe immer nur als Einzelner erkennbar, nur selten bezogen auf eine konkrete Gemeinschaft. Zweifel kann aber darüber nicht bestehen, dass die Stimme dieses Einzelnen willens ist, sich mit der Stimme der Kirche zu vereinen. Das wird besonders deutlich, wo das Gebet aus vielen biblischen und liturgischen Texten und deren Geist schöpft. Sailer war weder der erste noch der einzige seiner Zeitgenossen, der so zu beten empfahl. Aber das nimmt der Intensität des Gebets nichts, 165 Vgl. SW, 8, 361ff. 166 Ebd. 362 zitiert Sailer in seiner für die Sämmtlichen Werke überarbeiteten Neuausgabe ausführlich die Schrift von Johann Adam Möhler Die Einheit in der Kirche, Tübingen, 1825 und ergänzt damit den eigenen Text. 167 Vgl. Bertram Meier, Die Kirche der wahren Christen. Johann Michael Sailers Kirchenverständnis zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung, Stuttgart [u.a.], 1990, 182ff. <?page no="230"?> Kapitel 3: Die neue Einleitung für das große Gebetbuch von 1831 220 weil es immer das seine blieb; weil er - und dies ist grundlegend für jedes Beten - das „Ja, und Amen“ im Geist der durch Jesus Christus eröffneten Gotteskindschaft sprach. Denn nimmer wird er müde darauf zu verweisen, dass im Leben wie im Beten alles darauf ankommt, dass der Wille Gottes geschehe und der Beter sich die Worte Jesu in Getsemani zu eigen machen muss. Bei aller Kritik, die nicht außer Acht gelassen werden darf, ist umso deutlicher hervorzuheben, worin die Leistung Sailers mit seinen Gebetbüchern bestand. Die Inhalte, die Stärken und Schwächen wurden ausführlich besprochen. Die Größe müssen wir aber nun vor alledem deshalb hervorheben, weil Sailer sich der einmal erkannten Aufgabe überhaupt gestellt und sie als eine Herausforderung seines ganzen Lebens verstanden hat. Ihn „jammerte des katholischen Volkes“ 168 . Das ist wahrlich nichts Geringes! Es ist ja nicht zu übersehen, wie prekär das Unterfangen war. Ging es doch nicht darum, auf nur Vorhandenes aufzubauen und ein wenig zu verbessern: Das geistliche Leben insgesamt lag darnieder! Mit großem Engagement warf sich Sailer darum einer Frömmigkeit entgegen, von der er meinte, dass sie den Geist des Christentums in der Kirche längst untergraben habe. In dieser Aufgabe sah er sich mit vielen Zeitgenossen einig. Dass er dabei nicht an Vordergründigkeiten stehen blieb, erklärt zum Teil auch den Erfolg seines eigenen Versuchs. Denn unter keinen Umständen wollte er - selbst nicht zu Zeiten seiner polemischen Ankündigungsschrift - eine intakte Frömmigkeit auslöschen. Es sollte stattdessen dauerhafte Nahrung sein, die das geistlos Gewordene wieder aufrichtete. Wenn nicht in der Intention, so unterschied ihn in der Wirkung genau dies von anderen Versuchen. Aus dem Augenblick einer verstandesgeleiteten Sprache und eines enggeführten Gebetsbegriffs zielten die meisten von diesen allzu sehr allein auf Änderung der Denkgewohnheit. Sailer verstand es hingegen die religiöse Empfindung zu wecken und „zu Herzen zu reden“. Dass er es nicht bei dem im Jahr 1783 gelungenen Wurf bewenden ließ, sondern bereit war, diesen der jeweiligen Vertiefung seines Denkens anzupassen, zeigt den Ernst, den er der Sache beimaß. Auf diese Weise überführte er den Kern des Werkes in eine andere Epoche. Nachdem der kulturelle Umbruch im Zeitalter der Aufklärung, an welchem er selbst regen Anteil genommen hatte, die moralisierende und belehrende Tendenz in der Andachtsliteratur unzweifelhaft zu ihrem Höhepunkt geführt hatte und die erste Auflage von Sailers Gebetbuch eines der vornehmsten Beispiele dafür bildete, ist es sehr bemerkenswert, dass er, nach und nach dieses hinter sich lassend, das Augenmerk auf die Devotion richtete. Allerdings trat er Gott nicht mehr in den höfischen Umgangsformen barocker Gebetbücher gegenüber, sondern in der Weise eines geliebten Gotteskindes. Und so erreichte das Gebetbuch nach und nach - wie viel Zeitbedingtes daran auch haften mag - eine Tiefe im grundsätzlichen Ausgangspunkt seines Verfassers, die lange vor ihm und wiederum lange nach ihm kaum von einem zweiten eingeholt wurde. Betrachten wir die gelungene Einleitung von 1831, die schön dahinfließende Sprache, die Weite der Gedanken und das Abgerundete in der Vorstellung über 168 Schiel, Bd. 1, 68. <?page no="231"?> Die Stellung des Sailer-Gebetbuchs in der Frömmigkeitsgeschichte 221 das, was Gebet ist und wie es sich im Leben eines Christenmenschen entwickelt, bedauern wir mit Recht, dass Sailer nicht mehr dazu kam, dieses Gebetbuch fertig zu stellen, und dass dasjenige, was bereits vollendet war, offenbar verloren ging. Wir wüssten dann wohl noch Genaueres über das Gebet im Zeitalter der katholischen Romantik zu sagen. Doch wäre es eine Täuschung, wenn wir annähmen, dass (ein längeres Leben Sailers vorausgesetzt) dies seine letztgültigen Gedanken geblieben wären. Wer könnte sagen, dass Sailer nicht auch noch die Kirche als das Fundament des eigenen Betens und Christus als den wahren Tempel der Anbetung entdeckt und bedacht und sich auf seine Ansicht über das Beten nochmals verändert hätte? Der Torso, der auf diese Weise vor uns liegt, stößt uns deshalb vor allem darauf, dass Sailers Denken über das Gebet nie abgeschlossen war. Noch achtzigjährig vermochte er eine entscheidende Korrektur anzubringen und Gott als Initiator des Gebetes zu erkennen. Man darf wohl annehmen, da er sich solchermaßen des sich bedingenden Zusammenhangs zwischen Theologie und Gebet bewusst blieb, dass er gar nie anstrebte, im Denken über das Beten jemals an ein Ende zu gelangen. <?page no="233"?> Anhang 1 Schreiben der Seidelschen Buchhandlung an Joseph Widmer J. E. v. Seidel Buchhandlung, Sulzbach-Rosenberg Ausgangsbücher Brief an Joseph Widmer fol. 758/ 882 Kopie Luzern, Herrn Domherrn Dr. J. Widmer Chorherr und Professor B. vom 19. Novbr 1830 Hochwürdiger, Hochgelehrter Gnädiger Herr Domherr und Professor! Am 14. d. M. hatten wir die Ehre E. H. H. verehrt[en? ] Schreiben vom 4ten durch gefällige Beförderung des P. P. Herrn Domherren Diepenbrock zu empfangen, und daraus mit Vergnügen ersehen, daß unsere Briefsendung vom 14 d. M. völlig in ihre Hände gelangte. Für die uns ertheilte Versicherung für die Verbreitung unseres Verlages gnädigst wirken zu wollen sind wir Hochderoselben eben so sehr verbunden, als dafür, daß Sie die Revision des v. Sailer’schen kleinen Gebetbuches unverzüglich beginnen und dann jene des Großen vernehmen [? ] wollen. Die deßhalb von Sr. Exc. dem Herrn Bischof v. Sailer an Sie ergangene ergebenste Aufforderung, stützt sich auf die von uns darum zu selben dringende Bitte, indem uns alles daran gelegen seyn muß die Herausgabe der Gebetbücher zu beschleunigen, ehe wieder reichlich Zwischen- und Nachdrucke den Eingang der Originalausgabe erschweren und hemmen. Zudem muß uns deren schleunigste Erscheinung auch darum vorzüglich wünschenswerth seyn, weil wir bei beiden Artikeln doch auf Absatz und einigen Erfolg rechnen dürfen, während wir uns bisher weder bei der Vernunftlehre noch bei der Glückseligkeitslehre auch nur im mindesten durch einige lebhafte Abnahme ermutigt sollten können. Zum Gegentheil findet so wenig Nachfrage statt, und wir erhalten von allen Seiten, trotz unserer Bemühungen, und der äußerst wohlfeilen Preise, so betrübliche Nachrichten, daß wir wirklich in Verlegenheit gerathen. Wir ersuche Hochderoselben daher, uns baldmöglichst zu unterstützen, was an uns liegt werden wir nichts unterlassen, sowohl Sr. Ex. Dhl. Hl. Bischof v. Sailer als E. H. H. und das Publikum zufrieden zu stellen. - Der I Band der Pädagogik ist im Druck schon vollendet und der II bereits angefangen. Genehmigend [? ] <?page no="235"?> Anhang 2 Die Illustrationen zum Vollständigen Lese- und Betbuch Zur Entstehung vgl. die entsprechenden Briefstellen in: Hubert Schiel, Sailer und Lavater. Mit einer Auswahl aus ihrem Briefwechsel, Köln, 1928. Entnommen sind die Illustrationen - bis auf die Abbildungen 12 und 13 - der ersten Auflage von 1783. Für unseren Zusammenhang scheinen drei Aspekte besonders erwähnenswert: 1. Das Frontispiz zeigt Jesus n i c h t im Garten Getsemani, also kurz vor seinem Leiden, sondern gemäß dem Bericht des Lukasevangeliums (6,51) die Nacht im Gebet durchwachend. 2. Bis zur dritten Auflage von 1789 gab es keine Darstellung eines Gekreuzigten im Gebetbuch. 3. Die Herabkunft des Heiligen Geistes wird ebenfalls erst ab 1789 dargeboten. Abb. 1 Frontispiz Jesus übernachtet im Gebet <?page no="236"?> Anhang 226 Abb. 2 Jesus heilt einen Kranken [wohl die Schwiegermutter des Petrus] Abb. 3 Jesus der Kinderfreund <?page no="237"?> Die Illustrationen zum Vollständigen Lese- und Betbuch 227 Abb. 4 Ein Engel erscheint einem Hirten Abb. 5 Jesus, der Bergprediger <?page no="238"?> Anhang 228 Abb. 6 Die Geburt Jesu Abb. 7 Der zwölfjährige Jesus im Tempel [Stich Daniel Chodowieckis] <?page no="239"?> Die Illustrationen zum Vollständigen Lese- und Betbuch 229 Abb. 8 Verkündigung [Das Motiv findet sich auch in dem Gebetbuch des Ägidius Jais] Abb. 9 Jesus und der Auferstandene <?page no="240"?> Anhang 230 Abb. 10 Die Erscheinung der beiden Engel nach der Himmelfahrt Christi Abb. 11 Jesus von Johannes getauft <?page no="241"?> Die Illustrationen zum Vollständigen Lese- und Betbuch 231 Abb. 12 Die Ausgießung des Heiligen Geistes Abb. 13 Jesus am Kreuz <?page no="243"?> Literaturverzeichnis A. Verwendete Werke Sailers Das einzige Märchen in seiner Art: eine Denkschrift an Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786; gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fried. Nikolai, München, 1787. I. M. S. [= Johann Michael Sailers] Gedanken von der Abänderung des Breviers, Mit Anmerkungen begleitet und der katholischen Geistlichkeit zur Selbstprüfung vorgelegt von E. B. M. [= Franz Xaver Christmann], Ulm 1792. Kern aller Gebete, sammt einer Zugabe, neueste und vermehrteste Auflage, [lt. Schiel, Bd. 2, 643, Nr. 20 München und Eichstätt], 1782. Sämmtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers hrsg. von Joseph Widmer, Sulzbach. Sailer, SW Bd. 8 Grundlehren der Religion. Ein Leitfaden zu Vorlesungen aus der Religionslehre für akademische Jünglinge aus allen Fakultäten, unter Anleitung des Verfassers hrsg. von Joseph Widmer, 3., durchaus revidierte und vermehrte Aufl., 1832. Bd. 13-15 Handbuch der christlichen Moral zunächst für künftige katholische Seelensorger und dann für jeden gebildeten Christen, neue, revidierte und vermehrte Aufl., 1834. Bd. 16-18 Vorlesungen aus der Pastoraltheologie, 5. Aufl., 1835. Bd. 19 Neue Beiträge zur Bildung des Geistlichen, 1839. Bd. 22 Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, 12., verbesserte und vermehrte Aufl., 1831. Bd. 23-25 Vollständiges Lese- und Gebetbuch für katholische Christen. Erster Band, 4. Aufl., 1840. Bis auf die Einleitung und einige orthographische Verschiebungen (z.B. „jetzt“ statt „itzt“) textidentisch mit der 3. Auflage von 1789. Bd. 38-39 Biographische Schriften, 1841. Suppl.-Bd. [Thomas von Kempen], Das Buch von der Nachfolgung Christi, neu übersetzt und mit einer Einleitung und kurzen Anmerkungen für nachdenkende Christen herausgegeben von Johann Michael Sailer, 10. Aufl., 1873. Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollkommenen Lese- und Betbuches, sammt der skeletischen Anzeige eines vollständigen Lese- und Betbuches, das bereits unter der Presse ist, München, 1783. Sailer, Gebetbuch-Anzeige Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, München (Lentner), 1785. Sailer, Gebetbuch 1785 Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, 2., rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Aufl., München (Lentner), 1787. Sailer, Gebetbuch 1787 Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, 5., rechtmäßige, verbesserte Aufl., München (Lentner), 1793. Sailer, Gebetbuch 1793 <?page no="244"?> Literaturverzeichnis 234 Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, neue, verbesserte und vermehrte Aufl., München (Lerch), 1814. Sailer, Gebetbuch 1814 Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, neunte rechtmässige Aufl., München (Lentner), 1816. Sailer, Gebetbuch 1816 Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, 11., mit besonderem Fleiße durchgesehene Ausgabe, München (Lentner), [1818]. Sailer, Gebetbuch 1818 Vollständiges Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken, 1. Aufl., München und Ingolstadt, 1783, 2 Bde. Sailer, Lese- und Betbuch Vollständiges Lese- und Gebetbuch für katholische Christen, 2., durchaus verbesserte Aufl., München (Lentner), 1785, 6 Bde. Sailer, Lese- und Gebethbuch, 1785 Vollständiges Lese- und Gebetbuch für katholische Christen, 3., rechtmäßige, verbesserte vermehrte Aufl., München (Lentner), 1789, 6 Bde. Sailer, Lese- und Gebethbuch, 1789 Vollständiges Lese- und Gebethbuch zum Gebrauche der Katholiken, 3. und vermehrte Aufl., Bamberg und Wirzburg (Göbhardt), 1790, 2 Bde. Sailer, Lese- und Gebethbuch, 1790 Dabei handelt es sich um einen Nachdruck, der zwar etliche Veränderungen der rechtmäßigen Ausgaben nachvollzog, doch von Sailer gestrichene Texte weiterhin abdruckte. Textgrundlage scheint, wie „Die Gute Meinung“ zeigt, die erste Auflage geblieben zu sein; neu hinzugekommene Texte der anderen Auflagen wurden hinzugefügt. Zusätze zu dem vollständigen Lese- und Gebetbuche für katholische Christen. Für die Besitzer der ersten Ausgabe deselben, München (Lentner), 1785. Sailer Zusätze B. Weitere Quellentexte 1 Amort, Eusebius Kurtz und gut Catholisches Meß-Büchlein, worinn Die Meß-Gebetter, welche der Priester bey dem Altar spricht, in Teutscher Sprach vderständlich vorgetragen, Und Verschidene schöne Gebetter in der Fruhe und Abends, vor und nach der Communion, zu Gott, zu Christo, und denen Heiligen, für die Verstrobene, und in Todt-Beth kürtzlich verfasset worden. Augspurg, 1759. Ders. Brevier eines guten Christen oder Vollständiges Gebett-Buch, in welchem die auserlesniste Gebetter, besonders aber folgende Andachten enthalten seynd: 1. Vorbereitung und gute Meinung vor dem Gebett. 2. Morgen-Gebett und tägliche gute Meinung. 3. Andachts-Ubungen unter Tags und auf die Nacht. 4. Meß-Gebetter. 5. Beicht-Gebetter und Beicht-Spiegel. 6. Communion-Gebetter. 7. Andachten zu GOtt. 8. Andachten zu Christo. 9. Andachten zu dem Leiden Christi. 10. Andachten zu dem heiligen Sacrament. 11. Andachten zu U. L. Frau. 12. Andachten zu denen Heiligen. 13. Verschiedene Gebetter für allerhand Ständ und Zufäll. 14. Gebetter bey denen Krancken 15. Gebetter für die Verstorbene. Alles aus einer grossen Menge 1 Nicht in allen Fällen konnten die Erstausgaben der Gebetbücher, die bei dieser Untersuchung als Vergleichsmaterial dienen, herangezogen werden. Wer die bibliographische Situation bei den Gebetbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts kennt, weiß um die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens. Durch diesen Mangel dürfte aber der Aussagewert insgesamt nicht darunter gelitten haben. <?page no="245"?> Literaturverzeichnis 235 deren besten Gebett-Bücher zusammen getragen, und nach denen sichersten Regeln einer vernünftigen Andacht zum Gebrauch aller Ständen eingerichtet 4., vermehrte und mit Kupffern versehene Aufl., Augsburg, 1760. 1692-1775. Augustinerchorherr im Stift Polling. Amort kann als einer der bedeutenden Theologen des 18. Jahrhunderts gelten. Nach Staubach (94f.) bereitete Amort mit dem Scutum Kempense von 1728 auch den Weg für die Renaissance der Nachfolgung Christi, in welcher Sailers Übersetzung zu so hohem Ansehen gelangte. Auch das erstgenannte Gebetbüchlein dürfte als frühes Beispiel einer vollständigen Messübersetzung von vielen Zeitgenossen als vorbildlich betrachtet worden sein. S. dazu in: Schätze als Alltag, Regensburg, 2001, S. 114-115. Braun, Heinrich Katholisches Gebeth- und Erbauungsbuch, Augsburg, 1783. 1732-1792. Bis 1767 Benediktiner. Wichtiger bayerischer Schulreformer. Verfasste gleichzeitig mit Sailer ein Gebetbuch, das dieser weiterempfahl. Auch eine Übersetzung der Imitatio Christi des Thomas von Kempen ist von ihm bekannt. Sailer hat mit den seinigen allerdings beide Werke verdrängt. Boxleidner, Georg Aloys Ludwig Katholisches Gesangbuch zum Gebrauche bei den öffentlichen Gottesverehrungen. Ein Beytrag zur Verbesserung des öffentlichen Kultus, Ansbach, 1813. Budislawsky, Martin Gedanken über das Gebet, über die verschiedenen Gebetformeln, und über die sogenannten priesterlichen Tagzeiten, oder das Brevier, o.O., 1784. 1755-1793. Im Sinne der josephinischen Reformen tätig. Verfasser einer Moralphilosophie. Canisius, Petrus Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 9. Aufl., Landshut, 1842. 1521-1597. Durch sein katechetisch-erbauliches Schrifttum wirkte Canisius weit über seine Zeit hinaus auch noch auf das 18. Jahrhundert ein. Claudius, Matthias Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. Berlin, 1941. Drexel, Jeremias Gutes Aug oder aufrechte Meynung, Augsburg, 1725. 1581-1638. Jesuit. Tätig in München. Berühmter und über seine Zeit hinaus wirksamer Barockprediger. Lit. s. u.a. Koch, Ludwig: Jesuiten-Lexikon: die Gesellschaft Jesu einst und jetzt, Paderborn, 1934, Bd. 1. Eckartshausen, Karl von Gott ist die reinste Liebe. Mein Gebet und meine Betrachtung, neueste, mit sehr schönen Kupfern verm. und verb. Aufl., Hildesheim, 1806. 1752-1803. Hofrat in München. Exemplarische Gestalt für das religiöse Suchen der intellektuellen Schichten am Ende des 18. Jahrhunderts, wofür sein Gebetbuch nebst anderen Schriften Zeugnis gibt. Befreundet mit Sailer. Lit. s. u.a.: Neue deutsche Biographie, Berlin, Bd. 4. Elias, Johann Christian Kern aller Gebett, oder Andächtiges Gebett-Buch: darinn die kräftigste Morgens- und Abends-, Meß-, Beicht- und Communion-Gebetter, zur H. Dreyfaltigkeit, zum süssen Namen Jesu, zum Leyden Christi, zu der Mutter Gottes und H. Joseph, S. Antonio, Nepmuceno und Xaverio; die sieben Bußpsalmen, S. Brigitten Gebtter, die Tagzeiten von der unbefleckten Empfängniß bey der Vesper und Complet, auf alle Festtäg des ganzen Jahrs, Gebett für die Abgestorbene, sammt andern schönen Gebetteren, Litaneyen, Bruderschaft der Todesangst und Bruderschaft der Marianischen Liebsversammlung begriffen sind - Paderborn: 1782. Über den Autor ist nichts weiter bekannt. Die Erstausgabe datiert von 1732. Ein Exemplar besitzt das Deutsche Liturgische Institut. <?page no="246"?> Literaturverzeichnis 236 Fénelon, François Fénelons Werke religiösen Inhalts. Übers. von Matthias Claudius, Hamburg, 1818, 3 Bde. Fingerlos, Matthäus Versuch einer Pastorallehre, das ist einer Darstellung der Standespflichten des Geistlichen, München, 1805, 2 Bde. Ders. Wozu sind Geistliche da? , Salzburg, 1800, 2 Bde. 1748-1817. Priester und Pastoraltheologe im josephinischen Geist. Gegenspieler Sailers in Landshut. Lit. s. Marquart, Heinz. Gemüths-Erhebung Gemüths-Erhebung zu Gott, Worinnen in Kürze enthalten der Unterricht vom Gebett, Morgen- Abend- Meß- Beicht- Communion- und andere, sowohl auf die höchste Kirchenals Heiligen Gottes-Feste eingerichtete nutzliche Gebetter. Nebst denen Tagzeiten von der Allerheiligsten Dreyfaltigkeit, Vorsichtigkeit Gottes, Namen Jesu, grossen Officio U. L. Frauen vom Berg Carmelo, kleinern von der Unbefleckten Empfägnuß MARIAE, und andern mehr etc. Auch beygefügten Litaneyen, und Gebetteren zu jedwedem HH. Namens-Patronen insonderheit gerichtet, nebst angehengten Heil. Creutz-Weeg. Aus bewehrten Authoribus zusammengetragen zu Nutz, und Gebrauch einer andächtig Christ-Catholischen Seele, München, 1760. Goethe, Johann Wolfgang Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich, 1949. Bd. 9 Die Wahlverwandschaften. Die Novellen. Die Maximen und Reflexionen. Bd. 14 Schriften zur Literatur. Goldhagen, Hermann Grundlehren des Christenthums: aus der göttlichen Heiligen Schrift in Form der Litaneyen und Gebether zum leichten und füglichen Unterricht andächtiger Christen in der Glaubens- und Sittenlehre, bey dermaligen dem Glauben und den Sitten so gefährlichen Zeiten, Mainz, 1776. 1718-1794. Gehört der Sailer unmittelbar vorangehenden Jesuitengeneration an. Setzte sich mit dem Aufklärungsschrifttum auseinander. Haiden, Joseph Thomas von Chorgebetbuch für die Damen des adelichen Stifts zu St. Stephan in Augsburg [= Deutsches Brevier für Weltleute]. Augsburg: Styx, 1790. 1739-1813. Zeitweise Provikar unter Kurfürst und Fürstbischof Clemens Wenzeslaus in Augsburg. Lit. s.u. Gahn, Philipp. Isi, Johann Marianisch-Dettelbacher Weingarten oder vollständiges, sehr nützliches, aus den vornehmsten und besten Büchern gezogen Christkatholisches Gebetbuch, darinnen die kräftigste und anmuthigste Morgens- Abends- Meß- Vesperbeicht- und Kommuniongebether, wie auch zum heil Sakrament, zu Christo, und dem bitteren Leiden, zu der schmerzhaften Mutter Gottes Maria und den Heiligen beynebens besondere Andachten zu Gott dem heil. Geist, und göttlichen Willen, zu dem Herzen Jesu und Mariä; mit angehängten monatlichen und jährlichen Andachtsübungen deren Bethstunden, dann auf alle hohe Festtäge, wie auch Wallfahrts- und Krankengebethern, nicht minder besondern Anliegen für Lebendige und Abgestorbene. Ehemalen durch Johann Isi, gewesenen Stadtpfarrer zu Dettelbach gestellet, anjetzt aber von einem Liebhaber vermehret und in ganz andere Form gebracht. Fulda und Würzburg, 1789. Ignatius von Loyola Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, übers. von Peter Knauer (= Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe, Bd. 2), Würzburg, 1998. <?page no="247"?> Literaturverzeichnis 237 Jais, Ägidius Guter Samen für ein gutes Erdreich. Ein Gebethbuch und zugleich ein Lehr- und Hausbuch für gute Christen vom gemeinen Stand; besonders fürs liebe Landvolk, Bayerdießen [d.i. Dießen am Ammersee] und Salzburg, [1791]. Benediktbeurer Benediktiner. Bedeutender Katechet an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Lit.: Müller, Erich: Aegidius Jais: (1750-1822); sein Leben und sein Beitrag zur Katechetik, Freiburg [u.a.], 1979 (Freiburger theologische Studien; 108). Kant, Immanuel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin, 1914 (Kant’s gesammelte Schriften; Bd. 6, Abt. Werke, Bd. 6). Köhler, Gregor Praktische Anleitung für Seelsorger am Kranken- und Sterbebette, Mainz, 1800, 2 Bde. 1733-1809. Benediktiner in Mainz. Ab 1787 Lehrer für Pastoraltheologie an der Universität Mainz. Orientiert sich in seinem pastoraltheologischen Entwurf zum Teil stark an Sailer. Königliche Halszierde [1] Königliche Halszierde einer Gottliebenden Seele. Das ist: Andächtige Morgen-, Abend-, Meß-, Beicht- und Communiongebether; zu dem hochwürdigsten Sacrament des Altars, der allerheiligsten Dreyfaltigkeit, von dem süßen Namen Jesu, Leiden Christi, zu der Mutter Christi, den heiligen Engeln, und verschiedenen heil. Gottes, Mit beygefügten Tagzeiten von der göttlichen Vorsichtigkeit, von der unbefleckten Empfängsniß Mariä, heil. Johannis von Nepomuck, und deren armen Seelen im Fegfeuer, wie auch mit unterschiedlichen Litaneyen, und anderen notwendigen Gebethern versehen, und gleich als mit kostbaren Edelgestein ausgezieret; Allen Gott liebenden Herzen zu größerer Andacht aus verschiedenen approbierten Büchern zusammengetragen, und mit dem Kern aller Gebethern vermehret, Prag, 1755. Königliche Halszierde [2] Königliche Halszierde einer GOtt liebenden Seele. In sich begreifend die auserlesenste Morgen-, Abend-, Meß-, Beicht- und Communion- Gebether: Andachten zu dem hochwürdigsten Sacrament des Altars, der allerheiligsten Dreyfaltigkeit, und dem süßen Namen JEsu, Leiden Christi, zu der Mutter GOttes, den heiligen Engeln, und Heiligen GOttes, wie auch für die armen Seelen in dem Fegfeuer; Nebst einigen Tagzeiten, Litaneyen und andern sehr nützlichen Gebethern; Allen christlichen Herzen zur Erweckung größerer Andacht zusammen getragen, und mit dem Kern aller Gebether vermehret, neue, durchaus verbesserte Aufl., Augsburg, 1781. Lohner, Tobias Trostreiches und anmutiges Bett- und Zusprech-Büchlein Darinnen vil Geistreiche und andächtige Gebett und Sprüch so wol zu Brauch und Trost der Gesunden als der Krancken und Sterbenden verzeichnet seynd. Auß underschidlichen gedruckten Büchlein zusammen gezogen und in fügliche Ordnung gerichtet, München, 1684. (Vierdter Theil Der geistlichen Hauß-Bibliothec). 1619-1697. Jesuit. Lit. s. Koch, Ludwig: Jesuiten-Lexikon: die Gesellschaft Jesu einst und jetzt, Paderborn, 1934, Bd. 2. Martin von Cochem Goldener Himmels-Schlüssel oder sehr kräfftiges, nutzliches und trostreiches Gebett-Buch zu Erlösung der lieben Seelen deß Fegfeurs: darin überauß kräfftig- und anmuthige Morgens- und Abends-, Meß-, Vesper-, Beicht- und Communion-Gebetter; Wie auch zu dem Hochwürdigsten Sacrament des Altars Und der H. H. Dreifaltigkeit; zur Mutter Gottes und den Heiligen; an allen hohen <?page no="248"?> Literaturverzeichnis 238 Festen; in gemeinen Nöthen; für geistliche und weltliche Jungfrauen; für Kranke, und Sterbende; und letzlich für die lieben Seelen des Fegfeuers begrifen sind. In sechzehn theile abgetheilt, zu sonderlichem Gebrauch deß andächtigen Weiber- Geschlechts; mit vielen Kupfer-Stichen gezieret, und vielen Gebethern vermehrt, Einsiedeln, 1764. Berühmter geistlicher Schriftsteller und Kapuziner. s.a. Roth, Konradin: Pater Martin von Cochem. 1634-1712,Versuch einer Bibliographie, Koblenz, 1980. Muratori, Ludovico Antonio Die wahre Andacht des Christen. 3. Aufl., Wien [u.a.], 1762. 1672-1750. Gelehrter italienischer Priester, Bibliothekar und Archivar. Häußling, Angelus, Das Missale deutsch, Münster, 1984, Nr. 176-191. Nakatenus, Wilhelm Himmlisch Palm-Gärtlein, zur beständigen Andacht und geistlichen Uebungen: nicht allein mit Tagzeiten, Litaneyen, Gebetteren, Betrachtungen, etc. sondern auch mit heylsamen aus göttlichem Wort und HH Vätern gezogenen Unterweisungen und Lehrstücken; reichlich besetzt fruchtbarlich gegeründet und annehmlich gezieret, 7. Dr., mercklich in Matery und Kupffer-Stücken vermehret und verbessert. Zu Beförderung der Andacht, ist dieser Edition ein sonderbares Tractätlein zugesetzt: Darinn etlicher vornehmer Heiligen Bilder, und sonderbahre Andacht zu denen begriffen seynd, Cölln und Franckfurt, 1770. 1617-1682. Jesuit. s. Küppers, Kurt. Neumann, Caspar Neu-eröffneter Beth-Tempel für Gläubige und Bethende Kinder Gottes, darinnen sie I. Auf alle Tage in der Woche. II. An Fest- und Feyer-Tagen. III. Bey der Busse/ Beicht und Abendmahl. IV. In jedem Stand und Anliegen. V. Auf der Reise zu Wasser und Lande. VI. In Kranckheit und Sterben Ihre Hertzen für GOTT ausschütten können. Nebst M. Caspar Neumanns Kern aller Gebethe. Vorjetzo bey der zweyten Auflage in vielem verbessert und vermehret, Soest, 1718. 1648-1715. Evangelischer Theologe und Schriftsteller. Zum Kern aller Gebete s. Schott, Christian-Erdmann und Sailer, Kern aller Gebete. Nicolai, Friedrich Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 7, Anhang: Eine Untersuchung der Beschuldigungen, die Prof. Garve wider diese Reisebeschreibung vorgebracht hat, Berlin, 1786. Pergmayr, Joseph Geistliche Grundsätze und verschiedene Unterrichte, welche in- und außer den gewöhnlichen Exercitien von geistlichen Personen, und andern ihres Heils und der Vollkommenheit beflissenen Seelen, ja auch von den Seelsorgern mit großem Nutzen gebraucht werden können, 7. Aufl. Augsburg, 1794. Ders. Geistreiche Lesungen und gründliche Unterweisungen, welche in und außer den gewöhnlichen Exercitien von geistlichen Gemeinden und andern ihres Heils beflissenen Seelen mit Nutzen können gebraucht werden, 5. und vermehrte Aufl., Augsburg, 1784. 1713-1765. In München als Prediger an St. Michael, später bei den Salesianerinnen tätig. Eine persönliche Begegnung mit Sailer, der 1762 nach München kam, ist aufgrund der Lebensdaten möglich, nähere Bekanntschaft allerdings unwahrscheinlich. Bedenkt man, dass Pergmayrs geistliche Weisungen offensichtlich über seinen Tod hinaus in hohem Ansehen standen, wird das Vorbild seiner bußfertigen und innerlichen Frömmigkeit nicht ohne Einfluss auf das geistliche Klima, in welchem die Zöglinge damals erzogen wurden, gewesen sein. Näheres s. Duhr, Bernhard, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, München, Bd. 4, 2, 1928. <?page no="249"?> Literaturverzeichnis 239 Ruf, Anton Sebastian Der Psalter als ein Les-, Lehr- und Betbuch. Einzeln oder Gemeindeweise auf Brevierart gutkatholisch und nützlich zu gebrauchen. Nach Dietenbergers neuaufgelegter Uebersetzung zum Druck befördert, Augsburg, Freyburg, Kaufbeuren, 1779. Seibt, Karl Heinrich Katholisches Lehr- und Gebetbuch, Prag, 1779. Ders. Katholisches Lehr- und Gebetbuch, 4., rechtmässige und vermehrte Auflage, Prag, 1794. 1735-1806. Moraltheologe mit Einfluss auf Abt Franz Stephan Rautenstrauch, der entscheidenden Anteil an der theresianisch-josephinischen Reform des kirchlichen Lebens hatte. Tätig in Prag. Sailer lobt zusammen mit dem Braunschen sein Gebetbuch. Schmerzhafter Kreuzweg Schmerzhafter Kreuzweg unsers Erlösers und Seligmachers Christi Jesu, Auf alle Tage der Woche eingerichtet, 5. Aufl., Salzburg, 1785. Thomas von Kempen Opera omnia, ed. Michael Iosephus Pohl, Freiburg, Bd. 4. Reliqui IX tractatuli ascetici cum canticis et epistulis, 1918. Ders. Sämmtliche Werke des gottseligen Thomas von Kempis. Aus dem Lateinischen übersetzt von J. P. Silbert, Wien, Bd. 2 (1834). Ders. De Imitatione Christi. S. Sailer, Suppl.-Bd. zu den SW. Ueber die Verpflichtung zum Breviergebethe Ueber die Verpflichtung des katholischen Klerus zum täglichen Breviergebethe. 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Theologische Rechtfertigung und bürgerliche Rechtschaffenheit; ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines theologischen Konzepts. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Hrsg. von Stephen E. Buckwalter und Bernd Moeller, Gütersloh 1998, (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte; 199), S. 307-332. Zimmermann, Otto Lehrbuch der Aszetik, Freiburg [u.a.], 1929 (Theologische Bibliothek). <?page no="257"?> Register 1. Verzeichnis der Bibelstellen Altes Testament Allgemein 108f. Ex 15 113 Dtn 32 113 1. Sam 2,1-10 113 2. Sam 22 113 Ps 34, 68, 83, 98 Bußpsalmen 34, 68, 83 51 (50) 156 90 (89) 113 104 (103) 113 121 (120) 113 130 (129) 106 Sir 22,27-23,2.9-11a 113 Dan 3 53 Jona 2,2-10 113 Neues Testament Mt 6,5-8 72, 201 7,8 72, 76, 82 7,11 63 7,21 88 22,21 88 28,18-20 158 Lk 1,46-56 148, 162f. 2,68-79 113 11,13 63 17,20 180 Joh 2,19-21 209 4,23f. 21, 74, 133, 176, 199f., 207f. 17-17 87 14,6 209 20,24-29 133, 151, 156 Apg 4,11-12 87 Röm 14,8 56 1. Kor 3,11 87 14 45 Phil 2,8 133 1. Thess 5,17 1, 21, 73 Kol 3,16 88 Jak 1,27 88 1 Joh 4,7ff. 151 <?page no="258"?> 2. Personen- und Sachregister Das Register umfasst sowohl die Personennamen, über die hier gehandelt wurde, als auch die Namen der Autoren von Sekundärliteratur. Letztere werden mit abgekürztem Vornamen aufgeführt. Die Inhalte der Sailergebetbücher und aller anderen behandelten Gebetbücher wurden nur insoweit im Register ausgewertet als diese im Text tatsächlich nennenswerte Berücksichtigung erfahren haben. Da genauere Inhaltsangaben bei der Besprechung der einzelnen Bücher gemacht wurden, sehe man im Bedarfsfall auch dort nach. Der Fettdruck markiert die Hauptstelle. Kursivdruck verweist auf eine Anmerkung auf der genannten Seite. Betende männlich 26, 34 weiblich 24-26, 34, 41, 116 Betrachtung 22, 30, 35, 46, 48-50, 53, 72, 76, 85, 90f., 104, 113f., 145, 156f. Bildung/ Bildungsniveau der Betenden 24f., 36, 46, 47f., 81-86, 114-117, 171 Bittgebet 22, 72-77, 184, 189, 204, 206f., 211-213, 215 Blosius, Ludwig 29 Boxleidner, Georg Aloys Ludwig: Gesangbuch 148 Braun, Karl: Gebetbuch 32, 48-49, 50, 60-62, 63, 67-69, 72, 97, 102, 111, 114, 117, 119, 133, 177 Breviergebet s. Tagzeitengebet Bruderschaft/ Marianische Kongregation Allgemein 31, 38, 102, 171 Todesangst-Christi-B. 37 Corpus-Christi-B. 47 Marianische Liebsversammlung 37 Brentano, Clemens s. Arnim, Achim Brückner, W. 12-14 Budislawsky, Martin 72-74, 207 Burger, Ch. 8, 11 Bußandacht 30, 33f., 36, 38, 41, 45f., 48f. 65, 100f., 149, 215 Bußgesinnung 23 Canisius, Petrus 28, 29, 69, 79-82, 91, 104 Chodowiecki, Daniel 7, 228 Christliche Psalmen 90, 94, 103, 147, 160 Christmann, Franz Xaver 76 Abendgebet s. Tagesheiligung Ablassgebete 37, 42 Abfrageschema für Gebetbücher 18f. Altarsakrament 33, 39, 42, 160 Alexander (Papst VII.) 92 Allgäuer Erweckungsbewegung 97, 197 Amort, Eusebius 50, 118, 177 Messbüchlein 42-45, 56f., 62, 67, 92, 93, 99f., Brevier 42, 44f., 57 Anbefehlung 51, 60, 62, 67 Anbetung 6, 23, 53, 58, 68, 74f. 90, 150f., 154f., 160f., 167, 173, 176, 192-211, 215 Angelus Domini s. Engel des Herrn Anliegen s. Nöte Anselmische Fragen 104 Apollonia (Hl.) 116 Aretin, K.O. 70 Arma Christi 51 Arme Seelen 32, 34, 105f. Arnim, Achim/ Brentano, Clemens Wunderhorn 80, 137 Arnold, Gottfried 40 Aufklärung 12, 15f., 27, 29 Aufopferung 51, 54f., 57, 66f. Augustinus, Aurelius 21 (Pseudozitat), 100, 148, 177 Beichtgebet s. Bußandacht Beißel, St. 45 Benedikt von Nursia 17 Berger, P. 107 <?page no="259"?> Register 249 Claudius, Matthias 79, 85, 185-188, 190, 197, 200, 205f. Clemens Wenzeslaus 5, 70f. Cochem, Martin von s. Martin von Cochem Coreth, A. 41 Coster, Franz 29 Corpus-Christi-Bruderschaft s. Bruderschaft Dankgebet 22f., 51, 53f., 55, 58, 60, 62f., 67, 76, 88, 113, 132, 151, 153-155, 199, 205, 207, 213-215 De Luca, G. 15 Deismus 41 Dereser, Thaddäus Anton: Deutsches Brevier 70f. Devotio moderna 179 Diepenbrock, Melchior 4, 223 Dinzelbacher, P. 11 Dreifaltigkeit (Andachten zu) 32f., 39, 42, 46, 56-59, 61, 66, 68f., 172 Drexel, Jeremias 120 Dürig, W. 16, 189 Dyck, Anthony van 66 Ebeling, G. 189, 192 Eckart (Meister) 184 Eckartshausen, Karl von: Gebetbuch 69, 114 Einigung mit Gott 24, 142, 149, 152, 187-189, 193, 195, 198, 215 Elffen, Nikolaus 29, 95 Elias, Johann Christian: Gebetbuch 36-38, 44, 48, 54, 93, 217 Empfindsamkeit 10, 91, 165, 171, 188f. Emser Kongreß 70f. Engel s. Schutzengel Engel des Herrn 136, 163 Engelsing, R. 81 Erweckungsbewegung s. Allgäuer Erweckungsbewegung Eucharistie s. Heilige Messe Eudämonismus 6, 43, 67f., 71, 92-94, 131-133, 173, 193, 219 Falsche Frömmigkeit 19, 24f. Fegefeuer 33f., 105f., 219 Feiereis, K. 195 Feneberg, Johann Michael 85, 97 Fénelon, François 85, 152, 178, 184, 185, 188-190 Ferdinand (Kaiser, II.), Kruzifix 41 Fingerlos, Matthäus 27, 74f., 83 Fischer, B. 15, 17, 20 Fürbitte 59, 75, 102, 105, 112, 136, 143, 147, 166f., 213 Fürsichtigkeit s. Göttliche Vorsehung Fürstenberg, Franz Frh. v. 179f. Gahn, Ph. 43, 70, 98 Gajek, B. 3, 26, 28, 80, 85, 177 Gallitzin, Amalia v. 179f. Geertz, C. 13 Geist und Wahrheit 21, 74, 176, 200, 205-209 Geistes- und Herzensgebet 24, 89, 175, 206, 215 Geistliche Uhr 48 Gebet ohne Unterlaß s. Immerwährendes Gebet Gebetsdefinition 119, 176, 190f., 193 Gebetsgemeinschaft/ Gemeinschaftsbezug der Liturgie 38, 41, 50, 99, 101f., 106f., 217, 219 Gemüths-Erhebung zu Gott (Gebetbuch) 45-46, 58f., 109 Gertrud von Helfta 29 Gewissenserforschung 36, 100f., 120f., 136f., 149 Glaube, Hoffnung, Liebe s. Theologische Tugenden Glückseligkeit s. Eudämonismus Goethe, Johann Wolfgang 66, 187 Göttliche Vorsehung 39, 65 s.a. Litaneien und Tagzeitengebet Goldhagen, Hermann: Gebetbuch 69, 108, 177 Gott Vater 52, 62f., 91, 118 Gottesliebe 56 Gotteskindschaft 22, 54, 88, 91, 133-135, 146, 206, 210, 220 Grabmann, M. 184 Grimm, Jacob und Heinrich: Kinder- und Hausmärchen 80 <?page no="260"?> Register 250 Gute Meinung 32, 45, 50, 57, 90, 119-133, 141, 173, 198, 215 Häußling, A.A. 43, 95f., 99f., 148 Haiden, Joseph Thomas 4 Gebetbuch 70f., 98 Hamann, Johann Georg 115, 195, 200 Hamm, B. 7f., 10f., 13 Heilige Messe allgemein 30, 35f., 48-50, 95, 117, 134-136, 143 Messandacht 29f., 32, 35, 38, 41, 42, 45f. 65 Messopfer 30, 43f., 66, 95, 99, 173, 135, 173 Römischer Kanon 4, 43, 109, 143 Selbstaufopferung 32, 34f., 99 Vergegenwärtigung des Leidens Jesu Christi 35, 134 Volksspr. Übersetzung 4, 43, 67, 92, 98-100, 143, 217 s.a. Altarsakrament Heilige Schrift s. Praktisches Schriftforschen Heiliger Geist 39, 47, 62f., 52, 118f., 149, 152, 157-160, 172, 219 Heiligenverehrung 33-35, 37, 42, 46f., 97, 111-113, 162f., 172 Henkys, J. 137 Hensel, Luise 137 Herder, Johann Gottfried 12, 195 Herz/ Herzensreinheit 6, 21f., 77, 82, 86, 119, 133, 173, 205, 213 Herz Jesu s. Jesus Christus Herzensgespräch/ Herzenssprache 23f., 82, 171, 189, 193, 196, 206, 220 Herzensgebet s. Geistes- und Herzensgebet Hofmeier, J. 3, 86, 113, 190 Holzem, A. 11, 13 Hortulus Animae 37 Ignatius von Loyola 53, 65f., 85, 87, 178, 189-192, 197, 216, Immerwährendes Gebet 1, 6, 17, 21, 34, 49, 72f., 76f., 203, 216f., 218 Improperien 56 Iserloh, E. 179 Isi, Johann: Gebetbuch 37, 46-48, 59f. Jacobi, Friedrich Heinrich 185, 194f., 200f. Jais, Ägidius: Gebetbuch 69, 98, 104, 116, 229 Jendrosch, B. 193f., 204 Jesus Christus allgemein 64f., 86-89, 109f., 118, 136, 153f., 172, 213, 219 Andacht zu 29 Anbetung 207-211 Herz Jesu 29, 41, 47, 64f., 77 Herzenswunde 35 Namen Jesu 33, 39, 56, 65 Passionsfrömmigkeit 32f., 35, 37, 39, 42, 47, 109, 156f. s.a. Heilige Messe Jocham, Magnus 97 Johannes Damascenus 119, 176 Jungmann, J.A. 30 Jung-Stilling, Heinrich 40 Kant, immanuel 9, 193, 201-204, 206, 211f. Kardinaltugenden s. Theologische Tugenden Katechismusfrömmigkeit 30, 79, 91, 94 Kempen, Thomas s. Thomas von Kempen Kindliches Gottvertrauen s. Gotteskindschaft Kirchenjahr 33-35, 37, 41, 45, 47f., 49f., 110f., 153-162, 218 Kirchenraum 34f., 46, 49 Kirchenväter 28, 177 Klemens (Papst, VIII.) 44 Köhler, Gregor 107 Königliche Halszierde (Gebetbuch) 37-41, 48, 55f., 67, 93 Kommunionandacht 29f., 33, 35, 37f., 45f., 48f., 65, 100, 118, 150-153 Kosmische Dimesion der Frömmigkeit 38, 219 Kranemann, B. 107 Kranke und Sterbende (Gebet für) 33, 35, 37, 42, 45, 47f., 102-107, 172, 182 Kreuzweg 29, 47, 116 s.a. Jesus Christus, Passionsfrömmigkeit Küppers, K. 19, 27, 36, 104, <?page no="261"?> Register 251 Langen, A. 40, 171 Lavater, Johann Caspar 7, 79, 85, 115, 178, 185-189, 192, 211, 225 Lesen und Beten 69, 79-86, 96, 98, 104, 171 Litanei allgemein 28, 30, 34, 36, 38, 45f., 50, 69, 73, 115 Allerheiligen 42, 44, 48, 106f., 108 Alttestamentische Litanei 108, 218 Göttliche Vorsehung 41, 44, 47-49, 116 Herz Jesu 44 Herz Mariä 45 Zu Jesu für Kranke 103 Lauretanische 42, 44, 48, 103 (ihr Fehlen) Marienlitanei 112 Hl. Monika 116 Namen Jesu 42, 44, 48 bei Sailer 4 Todesangst-Christi-L. 218 Unsere Liebe Frau von der immerwährenden Hilfe 116 Verbot (1601) 44 Vereinigung des eigenen Willens mit dem göttlichen 44 Von der göttlichen Vollkommenheit 44, 65 Liturgie als Schauspiel 65f. Liturgisches Begleitbuch 38, 44, 47 Lobpreis 22f., 53, 76, 113, 148, 151, 154, 162, 199, 205, 201, 213, 215 Lohner, Tobias 92f., 109, 120 Lucis Creator optime 148 Ludwig von Blois s. Blosius, Ludwig Luibl, H. 202, 211 Lukasbrüder (Künstlervereinigung) 85 Luther, Martin 11 Maria allgemein 51, 56, 64, 111-113, 118, 162-164, 216 Andacht zu 29, 37, 45, 46-48 Herrscherin 41, 58 Herz Mariä 29 Jungfrau 61 Missverhältnis in Bezug auf Christusfrömmigkeit 38f. Mutter Gottes 32, 41, 42, 53, 56, 58, 61f. Schmerzhafte Mutter Gottes 33 Schutzfrau 41 Maria Magdalena 216 Maria Theresia (Kaiserin) 41 Marianische Kongregation s. Bruderschaft Marquardt, H. 74 Martin von Cochem allgemein 27f., 29, 36, 48, 117, 202 Goldener Himmelsschlüssel 32-35, 37f., 46, 51f., 53f., 72, 93, 101, 105-107, 120 Großer Baumgarten 25, 33 Meier, B. 86, 113, 141, 219 Möhler. Johann Adam 219 Morgengebet s. Tagesheiligung Muratori, Ludovico Antonio 71f., 75, 91-95, 99f., 118, 120, Mystik/ Vorwurf des Mystizismus 85, 137, 152, 177-192 Mystische Vereinigung s. Einigung mit Gott Nachfolge Christi 23, 198 s.a. Thomas v. Kempen Nakatenus, Wilhelm allgemein 29, 114, 117, 177 Gebetbuch 27f., 35-37, 44, 46, 50, 52f., 54, 63, 67f., 72, 93, 101, 109 Namenspatron 32 Neumann, Caspar, Kern aller Gebete 21, 37, 39-41, 47, 77 Nicolai, Friedrich 1, 91, 172, 177 Nilus von Ankyra 119 Nöte (allgemeine und besondere) 33-35, 39, 42, 47, 50, 102f., 167-169 O-Antiphonen 111 Ochsenbein, P. 37 Orationen 33, 48f., 57, 62, 108, 110f., 133, 136, 156, 163, 166, 170, 173, 177, 217 Pahl, Johann Gottfried 184f., 198 Paulus 87f., 112, 164 Passauer Gebet 41 <?page no="262"?> Register 252 Pergmayr, Joseph 120, 132 Petrus 87f., 112, 164, 226 Pfefferkorn, O. 10 Pfenninger, Heinrich 185 Pietistische Frömmigkeit 40, 171, 188f. Praktisches Schriftforschen 83f. Predigt 95, 117 Predigtstil (Sailers Rhetorik) 9f., 157, 171, 188f. Priesterbildung 74, 83-86, 97 Privatfrömmigkeit 12, 41, 67, 102, 104, 108, 179, 118 Probst, M. 3, 25f., 95, 99-102, 107 Prozession 31, 33 Psalmen s.a. Christliche Psalmen s.a. Tagzeitengebet Rhetorik Sailers s. Predigtstil Rollenbuch der Liturgie s. Liturgisches Begleitbuch Romantik 7, 10, 137, 158, 171, 221 Rosenkranz 30, 43 (während der Hl. Messe), 106, 218 Salat, Jakob 85, 185, 187f. Santayana, G. 13 Schäffler, R. 14, 17 Schauspiel s. Liturgie als Schauspiel Scherschel, R. 18 Schiel, H. 1, 3, 7, 26, 79, 85, 97, 115, 178, 181, 185, 186, 187f., 192, 202, 225 Schöpfung 82, 97 Schott, E.-Ch. 39 Schreiber, G. 14f., 36, 109, 116 Schreier, J. 137 Schrott, A. 3, 16f., 17, 29-31, 32, 34f., 41, 43, 53, 64f., 67, 69, 79, 80-82, 93, 109 Schutzengel 32, 51, 53, 59, 62, 119 Schwaiger, G. 7 Seibt, Karl Heinrich: Gebetbuch 32, 49-50, 60, 62-64, 67-69, 74, 103, 114, 177, 207 Seidelsche Buchhandlung 2, 223 Seuse, Heinrich 184 Simeon 216 Sonntag 48-50, 61, 68, 95-100, 117, 142, 173 Sündenbewusstsein 51, 61, 67f. Stattler, Benedikt 98, 193 Ständegebete 32-34, 42, 50, 102f., 167-169 Staubach, N. 179f. Sterbende s. Kranke und Sterbende Stilling, Heinrich s. Jung-Stilling, Heinrich Stoßgebete 36, 38, 48, 105, 120 Stundengebet s. Tagzeitengebet Tagesheiligung Abendgebet 32, 34-36, 42, 44-46, 48, 49, 95, 134, 136f. Mittagsgebet 136 Morgengebet 32, 34-36, 42, 44-46, 48, 49, 51-64, 95, 100, 106, 118f., 173, 215 Stundenschlag 136 Tagzeitengebet allgemein 17, 28, 30, 34, 36, 38, 41, 44, 46, 49f., 73, 83, 96-98, 109f., 114, 173, 218 Altarsakrament 35 (Sonntags-)Vesper 33, 46, 95, 100, 118, 142, 147f., 163 Dreifaltigkeit 35, 45 Göttliche Vorsehung 41, 47, 65 Heiligenoffizium 35, 37, 45 Heiliger Geist 35, 45 Heilig-Kreuz 35 Maria allg. 37 Namen Jesu 35 Passion 45 Schmerzen Mariä 35 Schutzengel 35 Unbefleckte Empfängnis 35 Verstorbene 35 Tanner, Conrad 96 Tauler, Johannes 85, 137, 178, 184f., 188f. Te Deum laudamus 48, 148, 150 Tersteegen, Gerhard 40, 85, 185 Textsorte 10 Thomas (Apostel) 133, 151, 164f., 172 Thomas von Kempen: Nachfolgung Christi 26, 84, 85, 87, 89, 112, 160, 162, 170, 173, 177, 178-185, 189, 191 Todesangst-Christi-Bruderschaft s. Bruderschaft <?page no="263"?> Register 253 Trapp, W. 81 Trinität s. Dreifaltigkeit Tugend 68, 109, 117f., 147, 173, 206, 212 Tugenderweckung 30, 39, 41, 63f., 77 Theologische Tugenden 23, 57, 71, 77, 90, 91-93, 120, 142, 144f., 150, 152f., 219 Umstände s. Nöte Unablässiges Gebet s. Immerwährendes Gebet Unio mystica s. Einigung mit Gott Utz, H. 184, 188, 205 Vaterunser 49, 63, 7f., 94, 105, 107, 135, 145f., 191, 206, 212 Vernunftlehre 194f., 197, 201 Verrept, Simon 29 Volksfrömmigkeit 116, 215 Vorsehung s. Göttliche Vorsehung Votivoffizium s. Tagzeitengebet Waldhoff, S. 12 Wallfahrt 31, 47 Wadruszka, A. 71 Weigel, H. 197 Weilner, I. 3, 8, 177, 184, 186-190, 197 Widmer, Joseph 2, 176, 223 Wille, Alexander 29 Wille Gottes (Ergebung in) 121-134, 138- 142, 145, 161, 167, 173, 197f., 201, 220 Winkelhoder, Sebastian 4 Winter, Aloysius 202, 211 Witweiler, Georg 95, 100 Wochenrhythmus 35, 37, 41, 46, 49f., 97, 109f., 116, 137, 173 Wunder, H. 11 Zensur 4 Zielgruppe der Gebetbücher s. Bildung/ Bildungsniveau der Betenden Zinzendorf, Nikolaus 172