Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867 - 1918
Kulturwissenschaftliche Annäherungen
0317
2010
978-3-7720-5239-2
978-3-7720-8239-9
A. Francke Verlag
Wladimir Fischer
Waltraud Heindl
Alexandra Millner
Wolfgang Müller-Funk
Räume und Grenzen werden in den Kulturwissenschaften als zentrale Begriffe wahrgenommen. Dabei werden besonders die Unterschiede zwischen den geografisch-territorialen, sozialen, symbolischen und diskursiven Raumbegriffen diskutiert. Der vorliegende Band will diese Diskussion für die späte Habsburger Monarchie nutzbar machen. Ausgangspunkt sind epochentypische Phänomene wie die massenhafte Anwesenheit von MigrantInnen in den Verwaltungszentren Wien und Budapest, das Aufbrechen sozialer Konflikte von Dalmatien bis Galizien, die Frauenbewegung, aber auch ethnisch-nationale Emanzipationsbestrebungen und in Folge dessen diskursive Auseinandersetzungen um neue Grenzziehungen. Unter anderem werden die folgenden Fragestellungen diskutiert: In welchem Verhältnis stehen Ortsveränderungen zu sozialen und Gender-Positionen? Wie schlagen sich Erfahrungen der Migration, des Reisens und der transkulturellen Grenzüberschreitungen in literarischen und theoretischen Texten nieder und verändern die Selbstbilder? In welchem Zusammenhang stehen Machtverhältnisse und die Gestaltung von Räumen in Texten? Wie beeinflussen politisch-territoriale und soziale Umwälzungen die kulturellen Konstruktionen von Zeit? Inwieweit werden universalistische Konzepte an den >Rändern< und >von unten< gebrochen? Wie verändert sich unser Bild der Vergangenheit, wenn die Perspektiven und biografischen Positionierungen von Personen, die nicht im Rampenlicht der Geschichte stehen, fokussiert werden? Wie lässt sich der trennende und verbindende Charakter von Grenzen nicht-dichotomisch beschreiben?
<?page no="0"?> K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 11 Wladimir Fischer / Waltraud Heindl Alexandra Millner / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen <?page no="1"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 11 · 2010 <?page no="3"?> Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen Herausgegeben von Wladimir Fischer, Waltraud Heindl, Alexandra Millner und Wolfgang Müller-Funk <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Bauarbeiten am Kärntner Ring. Aufnahme Fritz 1898. Copyright: Wien Museum. Gedruckt mit Unterstützung des FWF-Projekts 16511-G03 »Zentren / Peripherien. Kulturen und Herrschaftsverhältnisse Österreich-Ungarns 1867-1918« © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8239-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. <?page no="5"?> Inhalt Vorwort von Wolfgang Müller-Funk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 ZUGÄNGE W LADIMIR F ISCHER , A LEXANDRA M ILLNER : Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 W OLFGANG M ÜLLER -F UNK (W IEN ): Jesenice und Zemplén. Grenzen und Peripherien. Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A NDREI C ORBEA -H OISIE (J ASSY ): Czernowitz 1892. Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 SYMBOLISCHE GRENZKONSTRUKTIONEN E DIT K IRÁLY (B UDAPEST ): Der Kongo fließt durch Ungarn. Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ . . . . . . . . . . . . . 49 M ARGIT F EISCHMIDT (B UDAPEST / P ÉCS ): Die Verortung der Nation an den Peripherien. Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 PRÄSENZEN VON MIGRANTiNNEN W LADIMIR F ISCHER (W IEN ): Von Einschusslöchern und Gesäßabdrücken. Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 É VA K OVÁCS (W IEN ): Wandernde Identitäten. Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 RAUM UND DIFFERENZ: GENDER, ETHNOS, KLASSE A LEXANDRA M ILLNER (W IEN ): Konkrete Räume - soziale Konstruktionen. Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnie und Gender am Beispiel von Marie Eugenie delle Grazies Erzählung Die Zigeunerin (1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 <?page no="6"?> 6 Inhalt B IRGITTA B ADER -Z AAR (W IEN ): Anmerkungen zu Räumen und Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . 227 ETHNOGRAFISCHES WISSEN UND DIFFERENZ V IKTORIYA H RYABAN (Č ERNIVCI ): Ambivalente Wissensproduktion. Die Volkskunde der Bukovina zwischen Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 R EGINA B ENDIX (G ÖTTINGEN ): Kaiserlich-königliche Ethnografie. Motivationen und Praxen von Wissensorganisatoren und -produzenten zwischen Zentrum und Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . 293 BLICKREGIME: BOSNIEN-HERZEGOVINA UND MONTENEGRO ALS PERIPHERIEN DER MONARCHIE U RSULA R EBER (W IEN ): Raumkonstruktionen von Kultur, Krieg und Phantasma. Montenegro | Österreich-Ungarn . . . . . . . . . . . . . . 307 O LIVERA S TAJIĆ (W IEN ): Auszug aus der Geschichte eines widersprüchlichen Verhältnisses. Österreich-Ungarn in der montenegrinischen Zeitung Glas Crnogorca (1908−1914) . . . . . . . 351 C HRISTIAN M ARCHETTI (T ÜBINGEN ): Front(ier) Volkskunde. Der Krieg als Fortsetzung der Volkskunde mit anderen Mitteln . . . . . . . . . 365 LITERARISCHE INTERVENTION L ÁSZLÓ M ÁRTON (B UDAPEST ): Im österreichischen Orient Eine Erzählung aus dem Innviertel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Kurzbiografien der AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 <?page no="7"?> Vorwort Mit dem vorliegenden insgesamt fünften Band innerhalb der Reihe Kultur - Herrschaft - Differenz wird ein Forschungsprojekt zu einem vorläufigen Ende gebracht, das, Vor- und Nacharbeiten mit eingerechnet, einen Zeitraum von rund acht Jahren umfasste 1 . Dem programmatischen Einstiegsband Kakanien revisited, 2 der noch Neuland sondierte, folgte unter dem anspielungsreichen Titel Leitha und Lethe 3 die Analyse von Erinnerungskulturen im Kontext der Habsburger Monarchie, sodann eine transnationale Sichtung der Frauenbewegungen in Zentraleuropa und Fallstudien zur Geschlechterkonstruktion in diesem Raum 4 , während der vierte Band die Dynamik von Zentren und Peripherien in den Mittelpunkt rückte und damit schon eine Orientierung auf die Raumthematik, wie sie der vorliegende Band fokussiert, vorweggenommen hat 5 . Die Grundüberlegung war von Anfang an, die traditionelle literaturwissenschaftliche und historische Forschung zum Thema Zentral-, oder um einen historisch belasteten Begriff in Erinnerung zu rufen, Mitteleuropa neu zu positionieren und im Sinne neuer, kulturwissenschaftlicher Fragestellungen - wie Medientheorie, Stereotypenforschung, Postcolonial Studies, Gedächtnisdiskurs - zu transformieren. Während der Zeit des Forschungsprojekts hat sich die theoretische Debatte um die kulturelle Wende in den Human- und Sozialwissenschaften stürmisch entwickelt, wofür die neuen Wenden, turns, die etwa Doris Bachmann-Medick im Sinne eines Plädoyers für eine zweite Phase kulturwissenschaftlicher Theoriebildung ausgerufen hat, pars pro toto stehen mögen. Translation, Performanz und Räumlichkeit, der Themenkomplex des vorliegenden Bandes, sind die dabei 1 Dieser Band entstand direkt aus dem FWF-Forschungsprojekt P16511 »Zentren/ Peripherien. Kulturen und Herrschaftsverhältnisse in der österreichisch-ungarischen Monarchie 1866-1914«, unter Leitung von Waltraud Heindl und Wolfgang Müller-Funk, mit den MitarbeiterInnen Alexandra Millner, Wladimir Fischer, Edit Király, Ursula Reber, Viktorya Hryaban und Olivera Stajić. Das Vorläuferprojekt war FWF P14727 »Herrschaft, Ethnische Differenzierung und Literarizität« unter Leitung von Waltraud Heindl, Wolfgang Müller-Funk und Béla Rásky mit den MitarbeiterInnen Peter Plener, Clemens Ruthner, Alexandra Millner, Amália Kerekes und Endre Hárs. 2 MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ PLENER, Peter/ RUTHNER, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002 (=Kultur - Herrschaft - Differenz 1); cf. auch: HÁRS, Endre/ MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ OROSZ, Magdolna (Hg.): Verflechtungsfiguren. Intertextualität und Intermedialität in der Kultur Österreich- Ungarns. Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 3. Frankfurt am Main: Peter Lang 2003. 3 KEREKES, Amália/ MILLNER, Alexandra/ PLENER, Peter/ RÁSKY, Béla (Hg.): Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns. Tübingen: Francke 2004 (=Kultur - Herrschaft - Differenz 6). 4 HEINDL, Waltraud/ KIRÁLY, Edit/ MILLNER, Alexandra (Hg.): Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1914. Tübingen: Francke 2006 (=Kultur - Herrschaft - Differenz 8). 5 HÁRS, Endre/ MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ REBER, Ursula/ RUTHNER, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: Francke 2006 (=Kultur - Herrschaft - Differenz 9). <?page no="8"?> wohl wichtigsten Neuorientierungen auf einem neuen unsicheren Feld 6 . Sie sind auch vor dem Hintergrund zu verstehen, der Analyse und Erforschung kultureller Phänomene eine gesicherte theoretische und methodologische Basis zu geben. Raum, Performanz, Code, Transfer, Medien und Medialität, Diskurs, Narration und Semiose lassen sich nun auf einen breiter gefassten Begriff von Kultur beziehen, der sich als Einheit von symbolischen Formen, Feldern und Praktiken begreifen lässt. Bei der internen Diskussion des aus mehreren Disziplinen zusammengesetzten Forschungsprojekts (Literaturwissenschaften, Europäische Ethnologie, Geschichte) ist sichtbar geworden, dass Raum keineswegs für alle Disziplinen das Gleiche bedeutet. So sind für den Historiker, der sich mit der Migration im 19. Jahrhundert beschäftigt, ›Räume‹ durchaus etwas anderes als jene Raumbilder und Raumkonstruktionen, welche die Literaturwissenschaften in fiktionalen und non-fiktionalen Erzählungen freilegen. Gerade deshalb erscheint es wichtig, Kulturwissenschaft und Kulturanalyse nicht auf die jeweils neuesten und aktuellsten Phänomene zu beschränken, sondern historische Bestände zu untersuchen, die ein mitunter erstaunliches Licht auf gegenwärtige Phänomene werfen: Das gilt für die reale Migration ebenso wie für die Stereotypisierung des zentral- oder südosteuropäischen Raumes (»Balkan«). Immerhin, und das macht der vorliegende Band deutlich, beseitigt kulturwissenschaftliche Neuorientierung zwar nicht die alten Grenzen und damit auch nicht die einzelnen Disziplinen, aber sie schafft, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte dieser Disziplinen, einen möglichen Raum dafür, symbolische Grenzen zwischen einzelnen Wissenschaften zu ›passieren‹. Im Sinne dieser Trans- und Interdisziplinarität will auch der vorliegende Band verstanden sein: als ein multiperspektivisches Unternehmen, das selbst Heterogenität in sich birgt. Der kulturwissenschaftliche Blick wirft dabei nicht nur neues Licht auf die Phänomene, indem er etwa Literatur als ein kulturelles Medium (neben anderen) begreift, er verschiebt auch deutlich die Akzente und ermöglicht eine transbzw. postnationale Perspektive jenseits alter historischer Bruchlinien, die ich, vereinfacht gesprochen, mit Begriffen wie »Nostalgie« und »Nationalismus« belegen möchte. Wien, Juli 2009 Wolfgang Müller-Funk, Projektleiter 6 BACHMANN-MEDICK, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, pp. 284-328; zur spatialen Wende in der Kulturwissenschaften cf.: DÜNNE, Jörg/ GÜNZEL, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006; DÖRING, Jörg/ THIELMANN, Tristan: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2008, pp. 7-45; FEATHERSTONE, Mike/ LASH, Scott (Hg.): Spaces of Culture. City, Nation, World. London: Sage 1999. 8 Vorwort <?page no="9"?> ZUGÄNGE <?page no="11"?> W LADIMIR F ISCHER / A LEXANDRA M ILLNER (W IEN ) Einleitung Der vorliegende Forschungsband entstand im Rahmen des Forschungsprojekts ›Zentren/ Peripherien. Kulturen und Herrschaftsverhältnisse in der österreichischungarischen Monarchie 1867-1918‹ des Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), 1 das von Jänner 2004 bis Juni 2006 gemeinschaftlich an den Instituten für Germanistik und für Geschichte der Universität Wien durchgeführt wurde. Unter der Leitung von Waltraud Heindl und Wolfgang Müller-Funk arbeiteten in diesem interdisziplinären Projekt Alexandra Millner und Wladimir Fischer als VollzeitmitarbeiterInnen gemeinsam mit Edit Király, Ursula Reber, Viktoriya Hryaban und Olivera Stajić an der Erforschung der diversen ›Räume‹ der Habsburger Monarchie zwischen 1867 und 1918, wobei im Anschluss an die als spatial turn bekannt gewordene Debatte von einer Überlagerung territorialer und symbolischer Räume ausgegangen wurde. Auch wurden jene Konzepte und Strategien der räumlichen Organisation und Konstruktion berücksichtigt, die für die Themen Reisen, Migration und Geschlechterkonstruktionen sowohl in beziehungsweise zu und von Zentren wie Peripherien relevant sind. Durch die stärkere Einbeziehung des geschichtlichen Kontextes gehen die Ergebnisse sowohl über rein literaturwissenschaftliche Untersuchungen als auch über gängige ideen- und ereignisgeschichtlich orientierte Untersuchungen zum Themenbereich weit hinaus. Während des Forschungsprojekts wurden bereits zwei andere Bände der Reihe Kultur - Herrschaft - Differenz publiziert, die sich zum einen mit den Frauenbewegungen in der späten Habsburger Monarchie, zum anderen mit der Spannungslage von Zentren und Peripherien im selben Zeit-Raum beschäftigen. 2 Die Untersuchung der räumlichen Formulierung kultureller Machtverhältnisse ist, wie auch die zahlreichen Kontakte mit ausländischen Einrichtungen und KollegInnen zeigten, heute eines der relevanten Forschungsthemen mit speziellem Österreich-Bezug in diesem kulturwissenschaftlich orientierten, transdisziplinären Bereich. Dabei sind sowohl die Eröffnung neuer Zugänge als auch neue Forschungsergebnisse - etwa im Bereich der Geschlechter- und Migrationsforschung, aber auch im Hinblick auf die Analyse ›peripherer Räume‹ (Bukovina, Bosnien, Vojvodina) - von Belang. Von all diesen Einzelbeiträgen lässt 1 Projektnummer 16511-G03, http: / / www.fwf.ac.at/ de/ projects/ projekt_datenbank.asp. 2 Es handelt sich um die Bände Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1914 (hrsg. von Waltraud Heindl, Edit Király und Alexandra Millner) sowie Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn (hrsg. von Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Ursula Reber und Clemens Ruthner). <?page no="12"?> 12 Wladimir Fischer/ Alexandra Millner sich sagen, dass sie Neuland betreten und einen gewichtigen Beitrag zu einer spezifisch österreichischen Kulturwissenschaft leisten. Der vorliegende Band gibt die Forschungsergebnisse aller beteiligten Forscher- Innen im Kontext der gegenwärtigen Diskussion in der Geschichtsforschung, Soziologie, den Gender Studies und der Ethnologie wieder, indem er auf der Abschlusskonferenz des Projektes unter dem Titel Räume und Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie von 1867 bis 1918 basiert, bei der vom 19. bis 21. Jänner 2006 weitere KollegInnen Beiträge zum Thema vorstellten, und gemeinsam mit fünf RespondentInnen diskutierten. Auf dieser Tagung im Collegium Hungaricum in Wien respondierten Birgitta Bader-Zaar, Hans Medick, Lidija Nikočević, Marc Ries und Bernhard Tschofen. Vorsitze hatten Endre Hárs, Waltraud Heindl, Siegfried Mattl, Peter Stachel und Heidemarie Uhl inne. Umrahmt wurde das Programm von einem Keynote-Vortrag mit einem Einblick in den historischen Kontext von Andrei Corbea-Hoisie und einer Literaturlesung von László Márton. Diese und die Beiträge von Birgitta Bader-Zaar, Regina Bendix, Margit Feischmidt, Éva Kovács und Christian Marchetti sind im vorliegenden Band in jenen thematischen Abschnitten wiedergegeben, in denen sie auch auf der Tagung vorgetragen wurden. Nicht erst seit, Henri Lefèbvres produziertem Raum, Michel Foucault Heterotypien oder Edward Sojas soziospatialer Dialektik 3 werden Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften als zentrale Begriffe wahrgenommen. Schon in den frühen 1960er Jahren wurde etwa im Kreis der Moskau-Tartuer Semiotischen Schule, von deren Mitgliedern besonders Jurij M. Lotman internationale Bekanntheit erlangte, ›Raum‹ als zentrale begriffliche Kategorie der ›Zeit‹ als traditioneller historistischer Hauptkategorie entgegengestellt. Zuvor hatten vor allem zwei nachmalige Klassiker der Soziologie, Émile Durkheim und Georg Simmel, in ihren um 1900 erschienenen Studien bereits auf die Gemachtheit soziale Räume verwiesen und damit die Grundlage für diese neue Soziologie des Raumes geschaffen. 4 Im Laufe der Debatte, die in den 1990er Jahren unter dem Etikett spatial turn neuen Auftrieb erhielt, wurden besonders die Differenzen von geografisch-territorialen, sozialen, symbolischen, imaginär-virtuellen Definitionen diskutiert. 5 Der vorliegende Band versucht ebenso wie das Forschungsprojekt »Zentren und Peripherien« diese Diskussion für den untersuchten Zeit-Raum nutzbar zu ma- 3 Cf. LEFÈBVRE, Henri: La production de l’espace. Paris 2000; SOJA, Edward: Postmodern Geographies: the Reassertion of Space in Critical Social Theory. London 1989; FOUCAULT, Michel: Des espaces autres (conférence au Cercle d’études architecturales, 14 mars 1967). In: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (1984), pp. 46-49; LOTMAN, Jurij Mihajlovič: Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa. In: EIMERMACHER, Karl (Hg.): Aufsätze zur Theorie und Methodologie von Literatur und Kultur. Kronberg/ Taunus 1974, S. 200-271. 4 SIMMEL, Georg: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. In: DERS.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1908, pp. 460-526; DURKHEIM, Émile: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 1912. 5 Cf. GUNN, Simon: The Spatial Turn: Changing Histories of Space and Place. In: GUNN, Simon/ MORRIS, Robert J. (Hg.): Identities in Space: Contested Terrains in the Western City Since 1850. London: Ashgate 2001. <?page no="13"?> Einleitung 13 chen: Österreich-Ungarn 1867-1918. Ausgangspunkte waren epochentypische Phänomene wie die Massenmigration in die (und aus den) Verwaltungszentren Wien und Budapest, das Aufbrechen sozialer Konflikte allerorten, von Dalmatien bis Galizien und von Böhmen bis Bosnien, die Frauenbewegungen, welche Geschlechterdifferenzen im androzentrischen Diskurs sowie diskriminierende soziale Praktiken zum zentralen Thema machten, aber auch ethnisch-nationale Emanzipationsbestrebungen und infolgedessen diskursive Auseinandersetzungen um neue Grenzziehungen. Die Fragestellungen der jeweiligen Kapitel dieses Bandes setzen sich mit verschiedenen räumlichen Kategorien auseinander: Wie hängen Ortsveränderungen und soziale Positionen zusammen? Wie schlagen sich Erfahrungen der Migration, des Reisens und der transkulturellen Grenzüberschreitungen in literarischen und theoretischen Texten nieder und verändern die Selbstbilder? Wie gestaltet sich dabei die gegenseitige Fremdwahrnehmung? Wie stehen Machtverhältnisse mit der Gestaltung von Räumen in Texten im Zusammenhang? Wie beeinflussen politisch-territoriale und soziale Umwälzungen die kulturellen Konstruktionen jener Zeit? Inwieweit werden universalistische Konzepte an den ›Rändern‹ und ›von unten‹ gebrochen? Wie verändert sich unser Bild der Vergangenheit, wenn die Perspektiven und biografischen Positionierungen von Personen, die nicht im Rampenlicht der Geschichte stehen, fokussiert werden? Wie lässt sich der trennende und verbindende Charakter von Grenzen nicht-dichotomisch beschreiben? Inwiefern dezentralisieren politische, migrantische und touristische Interaktionsnetzwerke die statuarischen Zentren Wien und Budapest beziehungsweise inwiefern gelingt es ihnen, neue zentralisierte Territorien mit imaginären Räumen zur Deckungsgleichheit zu bringen? Wie wird das Wissen über Peripherien vom Zentrum aus konstruiert (und umgekehrt)? Bei der Behandlung dieser Fragen in Auseinandersetzung mit der vielfältigen Forschungsliteratur zum Raumbegriff - in Verbindung mit Machtverhältnissen und der Produktion von Texten - handelt es sich, wie dieser Sammelband widerspiegelt, um einen anhaltenden Reflexions- und Diskussionsprozess. Die Herangehensweisen der BeiträgerInnen sind dabei ebenso unterschiedlich wie die von ihnen verwendete räumliche Begrifflichkeit, die sich in der kulturwissenschaftlichen Forschung in mehrere Grundtendenzen differenzieren lässt. Zuerst einmal ist die Verwendung räumlicher Begriffe als abstrakt-metaphorische Metasprache zur Beschreibung kultureller Texte zu nennen, wie es schon bei den sovjetischen Semiotikern angelegt war. 6 Diese Grundidee wurde in jenen Aufsätzen variiert, 6 ЛОТМАН, Юрий Михайлович: О метаязыке типологических описаний культуры [Vorabdruck]. Warszawa 1968; ИВАНОВ, В. В./ ЛОТМАН, Юрий Михайлович/ ПЯТИГОРСКИЙ, А. М./ ТОПОРОВ, В. Н./ УСПЕНСКИЙ, Б. А.: Тезисы к семиотическому изучению культур: (В применении к славянским текстам). In: Semiotyka i struktura tekstu: Studia poświęcone VII Międzynarodowemu kongresowi slawistów. Warszawa, 1973. Wrocław 1973, pp. 9-32; Deutsche Fassungen: LOTMAN, Jurij Mihajlovič: Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen. In: EIMERMACHER, Karl (Hg.): Aufsätze zur Theorie und Methodologie von Literatur und Kultur. Kronberg/ Taunus 1974, pp. 338-378. IVANOV, Vjačeslav Vsevolodovič/ LOTMAN, Jurij Mihajlovič/ PJATIGORSKIJ, Aleksandr M./ USPENSKIJ, <?page no="14"?> 14 Wladimir Fischer/ Alexandra Millner die sich mit der politisch-ideologischen Bedeutung von Raumkonstruktionen in literarischen Texten auseinandersetzen, wie etwa in Edit Királys Beitrag über Adam Müller-Guttenbrunn, Ferenc Herczeg und Károly Molter und Alexandra Millners Ausführungen über Marie Eugenie delle Grazie. Andererseits - wie etwa in Wladimir Fischers Beitrag zu südosteuropäischen MigrantInnen in Wien - kommen auch Ansätze im Sinne von Henri Lefèbvre und Edward Soja zum Tragen, die sich mit den konkreten Produktionsbedingungen von Raum sowohl im Sinne der (kulturellen, zeichenhaften) Repräsentation befassen, als auch im materiellen Sinne der Distribution von Dingen und des pragmatischen, sozialen Umgangs damit. Die beiden Herangehensweisen schließen einander jedoch keineswegs aus, sondern überschneiden sich vielmehr. Allen Beiträgen gemeinsam ist jedoch der konstruktivistische Grundkonsens. Ob es sich um die Alltagserfahrung von Raum handelt, um die Definierung von Territorien oder die Beschreibung von Geschlecht und Raum: klar ist, dass diese nicht etwa natürlich gegeben und a priori oder primordial vorhanden sind, sondern konstruiert, ja in ihrer Konstruktion andauernd performativ aufrecht erhalten werden müssen, um nicht wieder zu verschwinden. Das ist besonders augenfällig im Falle der ethno-nationalen Grenzziehungen des späten 19. Jahrhunderts, bei denen gerade versucht wurde, diese Konstruiertheit und Flüchtigkeit mit Hilfe des evolutionistischen naturwissenschaftlichen Diskurses des 19. Jahrhunderts zu kaschieren, was etwa in den vielfältigen Zuschreibungen der Donau der Fall ist. In sechs thematischen Abschnitten werden diese Schwerpunkte und die historischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen abgehandelt. Das erste Kapitel erläutert die diversen Zugänge zum Thema. Die beiden folgenden Beiträge beschreiben theoretische und methodische Zugänge sowie den geschichtlichen Kontext jeweils anhand ausgewählter Beispiele. Wolfgang Müller-Funk rekapituliert in seiner »Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie« noch einmal die wichtigsten Operationalisierungen von ›Raum‹ als Begriff in den Humanwissenschaften und grenzt sich anhand der Unterscheidung »realer, symbolischer und imaginärer« Raumdefinitionen von einem essenzialistischen Verständnis des Begriffes ab. Dies wird exemplifiziert anhand der beiden ›mitteleuropäischen‹ Romane Die Wiederholung (1986) von Peter Handke und Das Geschäft des Grafen Kozsibrovszky (1905) von Kálmán Mikszáth. Andrei Corbea-Hoisie beschreibt in »Czernowitz 1892«, wie in jenem Jahr die politischen Ereignisse in der Bukovina, der östlichsten österreichischen Provinz, zu einer Konfliktkonstellation führten, die bis 1918 bestimmend sein sollte, und wie sich die dortige Presse gegen das Image der Bukovina als ›provinziell‹ zur Wehr setzte. Damit ist stellvertretend für den gesamten Forschungsband anhand des Beispiels einer konkreten ›peripheren‹ Region in Boris Andreevič: Thesen zur semiotischen Erforschung der Kultur. In: Karl EIMERMACHER (Hg.): Semiotica Sovietica. Aachen 1986, pp. 85-118. <?page no="15"?> Einleitung 15 ihrer Auseinandersetzung mit ›dem Zentrum‹, alles angesprochen, womit sich im Grunde sämtliche folgenden Kapitel auseinandersetzen: die Bedeutung der ethno-nationalen Abgrenzungen in der späten österreichisch-ungarischen Monarchie, die Macht der Vorstellung von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ und nicht zuletzt die konkreten persönlichen Manöver, die sich hinter kulturellen Formulierungen von Herrschaftsverhältnissen verbargen. Eine typische Erscheinung des ethnonationalen Paradigmenwechsels in den Diskursen des 19. Jahrhunderts waren Symbolische Konstruktionen der Grenze, auch und besonders in Zentraleuropa. Edit Király untersucht in ihrem Beitrag »Der Kongo fließt durch Ungarn« literarische Inszenierungen der ›Donau‹ als ethno-nationale und ›zivilisatorische‹ Grenze und die Einschreibung ethnischer Topografien in die alt/ neue Grenzlandschaft. Hierbei werden die Beispiele dreier nationalistischer Autoren genau untersucht, die für jeweils unterschiedliche nationale Identitätsprojekte die ›Donau‹ symbolisch (um-) konstruierten. Adam Müller-Guttenbrunn, Ferenc Herczeg und Károly Molter. Alle drei waren deutsch-ungarischer Herkunft, entschieden sich jedoch im Laufe ihres Lebens für unterschiedliche ethnische ›Identitäten‹. Einer ganzen Reihe von Grenzregionen im Königreich Ungarn, beziehungsweise deren Konstruktion als solche, nimmt sich Margit Feischmidt in ihrem Beitrag »Die Verortung der Nation an den Peripherien« an. Es geht darin um die ungarische Millenniumsfeier von 1896 und die im Zuge dessen errichteten Denkmäler an symbolischen Orten in multiethnischen Gebieten der Monarchie, die nicht nur im heutigen Ungarn, sondern auch in der Ukraine, in Rumänien, Serbien und der Slovakei liegen, sowie zwei weitere Beispiele in Siebenbürgen. Diese ethnografische Analyse der Handlungen um die Errichtung der Denkmäler und während ihrer Rezeption spannt den Bogen zu Identitätsdebatten in jüngster Zeit. Feischmidt befasst sich dabei, ähnlich wie Király, theoretisch wie empirisch insbesondere mit der ›Landschaft‹ und ihrer Instrumentalisierung zur Naturalisierung bestimmter ideologischer Standpunkte. Die Bandbreite der Präsenzen von MigrantInnen in zentraleuropäischen Metropolen um 1900 lotet Wladimir Fischer am Beispiel von Menschen aus den südostlichen Regionen der Monarchie in Wien aus. Unter dem Titel »Von Einschusslöchern und Gesäßabdrücken« entwirft der Aufsatz ein Programm für eine history of diversity an konkreten Orten, und diskutiert die Relativität von ›zentral‹ und ›peripher‹ im Spannungsfeld der historischen Assoziierungsstrategien von MigrantInnen entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Éva Kovács befasst sich in »Wandernde Identitäten« mit biografischen Narrationen jüdischer Migranten aus Mitteleuropa, die in den Jahren 1999 und 2000 in Interviews aufgezeichnet wurden. Dieser Beitrag bildet ein zeitgeschichtliches Gegenstück zu der Studie über MigrantInnen um die Jahrhundertwende und vermag auf Grund der zeitlichen Nähe, den Aspekt der Selbstdarstellung migrantischer Individuen und die sich daraus ergebenden Fragen stärker in den Vordergrund zu rücken: Können die Aussagemöglichkeiten von oral-history-In- <?page no="16"?> 16 Wladimir Fischer/ Alexandra Millner terviews in Arbeiten ohne Interviewmöglichkeit ebenfalls erreicht werden? Und wie viel ›authentischer‹ ist das Selbstzeugnis gegenüber einer/ m InterviewpartnerIn? Im Abschnitt Raum und Differenz: Gender, Ethnos, Klasse finden sich ein literaturwissenschaftlicher und ein geschichtswissenschaftlicher Beitrag. Alexandra Millner untersucht in ihrer eingehenden Analyse »Konkrete Räume - soziale Konstruktionen« literarische Konstruktionen von Raum, Geschlecht und Ethnie am Beispiel von Marie Eugenie delle Grazies Erzählung Die Zigeunerin von 1885. Darin wird deutlich, wie ein Spannungsverhältnis territorialer und sozial-symbolischer Zentren und Peripherien im Text modelliert und wie subtil Differenz und Kritik an Ausgrenzung im literarischen Diskurs durch Adaption populärer Genres verhandelt wurde. Birgitta Bader-Zaar macht ihrerseits »Anmerkungen zu Räumen und Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie« aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive zur sozial-symbolischen Konstruktion von geschlechtlich getrennten Lebensbereichen (Öffentlich und Privat), zur Bedeutung eines geografisch-territorialen Raumbegriffs für die nationale oder ethnische Identifizierung von Frauen, zur Bedeutung von Grenzen für die Erfahrung von Mobilität und zum Ersten Weltkrieg als Einbruch in Raumkonzepte ebenso wie in Konstruktionen von Geschlecht. Das Verhältnis von Ethnografischem Wissen und Differenz in der späten Habsburger Monarchie stellt Viktoriya Hryaban in ihrem Aufsatz über die Volkskunde der Bukovina zwischen Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus unter dem Titel »Ambivalente Wissensproduktion« dar. Sie beschreibt Selbst- und Fremdbilder im musealen und ethnologischen Diskurs über die Bukovina. Wie Hryaban befasst sich auch Regina Bendix in ihrem Beitrag zur »Kaiserlichkönigliche Ethnografie« mit dem Werk Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (Kornprinzenwerk). Sie arbeitet Motivationen und Praxen von Wissensorganisatoren und -produzenten zwischen Zentrum und Peripherie bei der Edition des Werkes heraus. Der Abschnitt über Blickregime: Bosnien-Herzegovina und Montenegro als Peripherien der Monarchie versammelt drei Studien zu Südosteuropa. Ursula Reber beschäftigt sich in »Raumkonstruktionen von Kultur, Krieg und Phantasma« mit territorialem Begehren und seiner ›Erwiderung‹ in den Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Montenegro. Dabei stellt sie sowohl die Territorialisierung von Identität in Grenzräumen als auch die Produktion strategischen Wissens über Räume, die beherrscht werden sollten, als dynamische Prozesse dar. Olivera Stajić analysiert die Darstellung von Österreich-Ungarn in der montenegrinischen Zeitung Glas Crnogorca von 1908 bis 1914 und zeichnet damit die Geschichte eines widersprüchlichen Verhältnisses nach. Im Zuge dieser Studie ergeben sich auch die Umrisse der stereotypen Selbstdarstellung im Diskurs des beginnenden montenegrinischen Identitätsprojektes Anfang des 20. Jahrhunderts. Christian Marchetti stellt in »Front(ier) Volkskunde« die Rolle der österreichischen Volkskunde im Ersten Weltkrieg nicht nur anhand ihres <?page no="17"?> Einleitung 17 Anteils an der Erforschung Südosteuropas, sondern auch ihrer selbstgewählten Rolle als Leitwissenschaft einer ›sanften Kolonisierung‹ dar. Es werden sowohl die ›Balkanexpeditionen‹ von Arthur Haberlandt als ein Versuch analysiert, durch empirische Forschung seine Theorie der Kultur- und Nationalitätengrenzen zu untermauern, als auch konträre Konzepte von Friedrich Salomo Krauss oder Mathias Murko diskutiert. Dabei kann mit Hilfe des Begriffs des frontier orientalism der Gedanke österreichischer Kulturmission als eigentliches Movens festgemacht werden. Der Band schließt mit einer literarischen Intervention unter dem Titel »Im österreichischen Orient«. László Márton führt durch Alfred Kubins Angsträume und Lebensstationen im Innviertel. Die thematische Einteilung des vorliegenden Bandes soll von den vielen Querschnittthemen und zahlreichen Gemeinsamkeiten der Beiträge keineswegs ablenken. So ist allen Aufsätzen, wie bereits erwähnt, der konstruktivistische Ansatz gemein. Ob es sich um Grenzen, Territorien, ethnische und nationale Gemeinschaften, Geschlecht, Klasse, Wissenschaftsdisziplinen, ja Räume und Landschaften handelt - die AutorInnen sind sich darin einig, dass es sich um Phänomene handelt, die in dynamischen Prozessen hergestellt und aufrecht erhalten werden müssen. Es ist dementsprechend das vornehmliche Ziel der meisten Beiträge, traditionelle essenzialistische Konzepte von Volk, Rasse, Geschlecht, Zivilisation, Klasse, Wissen und Wissenschaft zu de-konstruieren und durch die eingehende Beschreibung jener Prozesse, die zu ihrer Konstruktion nötig waren, offen zu legen, um damit ein postmodernes Denken über die Kulturgeschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie möglich zu machen, eine Vorstellung davon zu re-konstruieren. Dies geschieht durch direkte Einblicke in die Werkstätten der Konstruktion von Abgrenzungen, in die Redaktionen und in die Biografien der Redakteure, in die rhetorischen und narrativen Strategien literarischer, (pseudo-)wissenschaftlicher und publizistischer Texte, in die Buchhaltung der Überwachung von Migration, in die Vermögensverhältnisse von AkteurInnen, in die imagologische Praxis, in Theorie und Praxis der ethnografischen Forschung und so fort. Nicht durch Zufall ist eine große Zahl an Beiträgen in diesem Band vertreten, die von EthnografInnen stammen, oder von AutorInnen, die Anleihen bei der Kulturanthropologie genommen haben. Die Ethnografie als Disziplin, die sich sowohl mit Rituellem als auch mit dem Alltag beschäftigt, die traditionell die Praktiken und die Praktizierenden befragt und deren Ethos darauf beruht, sich vorgefasste Meinungen selbst klarzumachen, ist impulsgebend gewesen für viele interdisziplinäre methodische und theoretische Debatten, die in diesem Sammelband ihren Widerhall finden. Regionale Schwerpunkte liegen vor allem in der Bukovina, in Südungarn und in Bosnien-Herzegovina sowie in Montenegro und Siebenbürgen. Sie werden als zentrale ›Baustellen‹ konkurrierender Identitätsprojekte in der späten Habsburgermonarchie in den meisten Beiträgen fokussiert. So treten uns in den hier <?page no="18"?> 18 Wladimir Fischer/ Alexandra Millner versammelten Aufsätzen nicht nur die Konstruktionen der Donau als Grenzfluss, sondern auch jene der Puszta als utopischer Gegenraum entgegen - zwei völlig unterschiedliche Gestaltungen, in welchen südungarische ›Räume‹ nutzbar gemacht werden. Andersherum sind es diese Regionen als Herkunftsorte von MigrantInnen, deren Anwesenheit in der Metropole Wien Spuren hinterließ, was dem vorliegenden Forschungsband einen abgeschlossenen Charakter verleiht. <?page no="19"?> W OLFGANG M ÜLLER -F UNK (W IEN ) Jesenice und Zemplén: Grenzen und Peripherien Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie I. Die Frage nach dem Verhältnis von Kulturwissenschaft, Literaturtheorie und Geschichte ist auch über zehn Jahre nach der in den Humanwissenschaften ausgerufenen kulturellen Wende unbestimmt. Das ist auch für ein Forschungsprojekt relevant, das seit 1998 einschlägigen Themen der Germanistik und anderer Philologien, Komparatistik, Geschichte und Kulturgeschichte mit Blick auf den mittel- und osteuropäischen Raum vor dem Hintergrund der damals noch nicht sehr alten kulturellen Wende, dem so genannten cultural turn, eine neue Formatierung gegeben hat - politisch jenseits der alten Frontlinien und Verwerfungen zwischen k. u. k. Nostalgie und jenen Verengungen, wie sie die hausgemachten Nationalismen des 19. Jahrhunderts, die sich durch die symbolische Energiezufuhr der Geistes- und Geschichtswissenschaften und nationalen Politiken erneuert haben, wissenschaftlich jenseits der überkommenen geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen und der klassischen Identitätskonzepte. 1 Im Gegensatz zu den Hauptströmungen der deutschen Kulturwissenschaften hat das Projekt, aus dem der vorliegende Band entstanden ist, von Anfang an Fragestellungen der angelsächsischen Cultural Studies und Postcolonial Studies aufgegriffen, indem es die Fragen von Selbst- und Fremdbildlichkeit, von eigenen und anderen Erzählungen, die Frage von Kultur und Differenz von vornherein nicht nur geistesgeschichtlich gedeutet, sondern auch in einen machtpolitischen Kontext gestellt hat. Selbst- und Fremdbildlichkeit, wie sie in der Begegnung der österreichisch-ungarischen Binnenkulturen, der Migrationskulturen, der Reiseliteratur, in den feministischen Dokumenten zutage treten, sind nämlich nicht frei gewählt. In ihnen wird eine kulturelle Schere sichtbar, die Asymmetrien von Macht und Partizipationsmöglichkeiten sichtbar werden lassen. Methodisch scheint es mir wohl noch immer am ehesten angemessen, den Begriff der Bildlichkeit nicht so sehr mit dem visuellen Bild, dem ikonografischen Zeichensystem oder dem Bild als Artefakt gleichzusetzen, sondern als symbolisches Material, als Teil eben jener »Grammatik der symbolischen Funktionen zu verstehen«, die bereits Ernst Cassirer mit dem »Sprachzeichen« und der Semiose 1 MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ PLENER, Peter/ RUTHNER, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002. <?page no="20"?> 20 Wolfgang Müller-Funk in Verbindung gebracht hat. 2 Der Freud’sche Begriff der Projektion, der noch in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1971) - etwa im Kapitel über Odysseus und Polyphem und in der Analyse des Antisemitismus - zur Anwendung kommt, hat dabei keineswegs ausgedient. Er macht sichtbar, dass der Antisemitismus wie die klassische Slavophobie des ›germanischen‹ Deutschen bzw. Deutschösterreichers auf einer strukturellen Blindheit hinsichtlich der eigenen Wünsche und Ängste beruhte. Diese Unfähigkeit hing aufs Engste mit dem zusammen, was Roland Barthes in seinem kongenialen Frühwerk Mythologies (1964) als Unfähigkeit des Kleinbürgers beschrieben hat: »Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den Anderen vorzustellen.« 3 Horkheimer und Adorno wiederum sprechen in diesem Zusammenhang von der Projektion als falscher Mimesis: Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innere ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. 4 Im Gegensatz zu traditionellen Konzepten einer interkulturellen Germanistik handelt es sich dabei aber nicht um vordergründige Kommunikationsdefekte, um Vorurteile, die sich durch belehrende Aufklärung aus der Welt schaffen ließen. Was die Projektion prekär macht, ist ihre legitimatorische Kraft. Das kulturelle Übermachtsgefühl läuft nämlich darauf hinaus, den Anderen, den man zu verstehen nicht imstande ist, überhaupt als Anderen, als alter ego wahrzunehmen. Die Verweigerung, ihn oder sie als seinesbzw. ihresgleichen anzuerkennen, ist jenes Dispositiv, das ich, im Anschluss an Foucault und Deleuze/ Guattari als kolonialistisch bzw. rassistisch beschreiben möchte. Die vermeintliche Primitivität des Anderen eröffnet mir die Möglichkeit eines Handelns: ihn/ sie ohne kommunikative Rückfrage zu behandeln. Entscheidend ist, dass die von Horkheimer/ Adorno reklamierte »Sprungbereitschaft« ihre prekäre und schreckliche Wirksamkeit nur dort entfalten kann, wo sie mit der Macht im Bunde steht, mit der politischen, ökonomischen, militärischen - und auch der kulturellen. Die große Erzählung von Fortschritt und Zivilisation konnte so, nationalistisch und rassistisch verzerrt, wirksam werden, weil sie die Kulturen Europas tendenziell in zwei Gruppen spaltet, in aufgeklärte und nicht-aufgeklärte Kulturen. Das an Edward Saids ›Orientalismus‹ angelehnte 2 Formal besehen entspricht das in etwa dem, was Cassirer als symbolische Formen bezeichnet hat; vgl. CASSIRER, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, Nachdruck der Ausgabe von 1953, Bd. 1, p. 20. 3 BARTHES, Roland: Mythen des Alltags. A. d. Frz. von Helmut Scheffel. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1964, p. 141. 4 HORKHEIMER, Max/ ADORNO, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/ Main: Fischer 1971, p. 167 u. 141. <?page no="21"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 21 Konzept des ›Balkanismus‹ 5 liefert - bei aller möglichen methodischen und thematischen Detailkritik - ein schlagendes Beispiel dafür, wie Kultur als inter- und intrakulturelle Symbolproduktion von Differenzen und Diskriminierung funktioniert. Die Figur des Fremden ist dabei stets Bestandteil des eigenen Symbolhaushalts. Aber zugleich manifestiert sich die kulturelle Asymmetrie auch darin, dass die durch das Fremdbild bezeichnete Kultur sich dieses zum Selbstbild macht: Der »jüdische Selbsthass« ist wohl das gravierendste Beispiel für dieses Phänomen. Es gibt in den feministischen und nationalen Diskursen der Habsburger Monarchie genügend Hinweise für dieses peinliche und schamvolle Bewusstsein der eigenen vermeintlichen Inferiorität. Mit Zentrum und Peripherie, den beiden Leitbegriffen der zweiten Phase dieses Forschungsprojektes, wurden Begriffe gewählt, die ganz bewusst auf jene Phänomene Bezug nehmen, die man gerne als ›harte Fakten‹ bezeichnet: auf ökonomische Ungleichheit, auf Prozesse der Migration. Die literarischen, journalistischen und wissenschaftlichen Diskurse in einer multiethnischen Gesellschaft wie jener der Donaumonarchie stehen in einem unegalen Verhältnis zu jenen Prozessen, welche Sozialgeschichte, Ökonomie und die Historiografie der Politik analysieren. Mit »unegal« ist hier freilich nicht gemeint, dass sie sich in einem Widerspiegelungsverhältnis befinden: Mit archaischen Rückgriffen, kompensatorischen Strategien, mimetischen Überbietungen und agonalen Konzepten ist in jenem Bereich zu rechnen, den der Marxismus höchst unzulänglich als »Überbau« bestimmt hat und dabei unserem heute geweiteten Kulturbegriff beträchtlich nahe kommt. 6 Mit dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie ist - und dies war auch beabsichtigt - eine schroffe Differenz von Macht und Gestaltungsmöglichkeit bezeichnet, gewissermaßen als anomal empfundene Relationen, wie sie in jedem modernen Staatsgebilde zu finden sind. Durch die ethnische Differenz indes verschärft sich dieser Konflikt: Aus einem rein politischen Strukturproblem wird ein kulturelles, das in Verschwisterung mit dem Politischen zu einem nationalen Konflikt avanciert, der auf eine Lösung drängt. Begriffe und Begriffspaare suggerieren stets Eindeutigkeit und unproblematische Zugriffsmöglichkeit. Wissenschaftliche Reflexion gerade in unseren Diskursfeldern dekonstruiert sie wiederum. Nicht alles ist in allen Bereichen - Politik, Kultur, Ökonomie - unbedingt Zentrum oder Peripherie. Was für die Einen, etwa die Wiener oder Budapester Bevölkerung, Peripherie ist - sagen wir Triest 5 SAID, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London: Penguin Books 1978, pp. 1-28; TODOROVA, Maria: Imagining the Balkans. New York; Oxford: Oxford UP 1997; GOLDSWOR- THY, Verena: Invention and In(ter)vention. The Rhetoric of Balkanisation. In: BJELIĆ, Dušan/ SAVIĆ, Obrad (Hg.): Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation. London, Cambridge/ MA: MIT 2004, pp. 25-38; HÁRS, Endre/ MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ REBER, Ursula/ RUTHNER, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: Francke Narr 2006 (hier vor allem die Beiträge von Reber und Ruthner zu Bosnien-Herzegovina und Montenegro, pp. 219-238 sowie 255-283). 6 Vgl. MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: UTB 2006, pp. 270-286. <?page no="22"?> 22 Wolfgang Müller-Funk oder Klausenburg -, das ist für die Anderen, etwa die aufstrebende slovenische Nationalbewegung, Zentrum. Und schwerwiegender noch: Sind Zentrum und Peripherie Begriffe, die Prozesse beschreiben? Oder sind es Begriffe, die geografische Räume als ökonomisch gestaltete, politisch vermessene, kulturell-symbolisch markierte Gebilde beschreibbar machen? II. Seit dem mittlerweile zum Standardwerk avancierten Werk von Doris Bachmann- Medick 7 ist im deutschsprachigen Diskurs von einer Neuentwicklung der Kulturwissenschaften die Rede, in deren Zentrum Begriffe wie Raum, Übersetzung, Inszenierung, Visualität und postkoloniale Fragestellungen stehen. Insbesondere ›Raum‹ stellt für ein Projekt, das mit den Begriffen Mittel- oder Zentraleuropa auch eine Raumzuweisung und -begrenzung vornimmt, eine Herausforderung dar. Das Thema Raum spielt in den heutigen Kulturwissenschaften, in den Künsten und den sie begleitenden Diskursen, eine prominente Rolle. 8 Erwähnt seien hier Georg Simmels bahnbrechendes Werk, die Arbeiten von Edward Soja und Henri Lefèbvre, die Kulturanthropologie im Schatten Husserls, Heideggers, und Merleau-Pontys, Gaston Bachelards Poetik des Raumes oder Foucaults Konzept der Heterotopien sowie seine apodiktische Diagnose, wonach das 20. Jahrhundert sich vom 19. dadurch unterschieden habe, dass es den Raum als Zentralkategorie an die Stelle der (historischen) Zeit gesetzt habe. Von »Raumtheorie« spricht ein überaus erfolgreicher Sammelband, der die Klassiker zu diesem Thema versammelt. 9 Es bleibt die Frage, ob in diesem Falle nicht der Plural sehr viel angemessener wäre, nicht nur wegen der unterschiedlichen theoretischen und philosophischen Ausgangspunkte der darin versammelten Ansätze, sondern vor allem auch auf Grund der unterschiedlichen disziplinären Logik. Ganz offenkundig bedeutet Raum nämlich in der Geografie etwas anderes als in Medien - und Literaturtheorie, in der Geschichte, in der Philosophie. Es gibt kaum einen anderen Begriff, der so unterschiedliche und schillernde Bedeutungen hat und so sehr von metaphorischen Indienstnahmen geprägt ist als eben den Raum. Der Raum ist also nicht der Königsweg, der die einzelnen sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen miteinander verbindet. Er ist nicht der Generalschlüssel, der uns die eine gemeinsame kulturwissenschaftliche Perspektive eröffnet, son- 7 BACHMANN-MEDICK, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2006, pp. 7-57. 8 Diskursbegründend sind u. a.: SIMMEL, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992 (Gesammelte Werke 11. Hg. von Otthein Rammstedt), pp. 687-779; LEFÈBVRE, Henri: The Production of Space. Malden MA: Blackwell 1991, pp. 1-67; BAUMAN, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003, Kap. 3. Ausdrücklich danken möchte ich Edit Király und Ursula Reber, die im Rahmen der Forschungsprojektes das Thema für die Gruppe sondiert und präsentiert haben. 9 DÜNNE, Jörg/ GÜNZEL, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie, und Kulturwissenschaften. Frankfurt/ Main; Suhrkamp 2006, pp. 105-128, 289-303. <?page no="23"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 23 dern eher das Schloss, das es zu öffnen oder zu knacken gilt. Dabei kommt es darauf an, die verschiedenen Dimensionen des Raumes, die buchstäblichen und die übertragenen, die sozialen und sie symbolischen Aspekte des Spatialen zu bestimmen. Erst wenn das gelingt, dann könnte die spatiale Wende den Kulturwissenschaften eine, wenn auch nicht die einzige Basis liefern. Viel wahrscheinlicher ist indes, dass es die Differenz von unterschiedlichen Disziplinen und Konzepten ist, die das unabschließbare Feld der Kulturwissenschaften konstituiert. Zentrum und Peripherie sind Teil ökonomischer, politischer und kultureller Raumordnungen. Es ist wiederholt der Verdacht ausgesprochen worden, dass das Herrschaftsgebiet der k. u. k. Monarchie das Gebilde gewesen ist, das quantitativ wie qualitativ die markantesten symbolischen Raumteilungen hervorgebracht hat. Noch zu Lebzeiten der Habsburger Monarchie gab es, vom indischen Halbkontinent vielleicht abgesehen, keinen kleinteiligeren sprachlichen Raum als Mittel- oder Zentraleuropa, eine der Geburtsstätten des modernen Nationalismus. Das ist insbesondere dann eine spannende Hypothese, wenn man sich von essenzialistischen Konzepten von natürlichen Räumen verabschiedet, wie sie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts selbstverständlich gewesen sind. Vormoderne Gesellschaften, so ließe sich mit Georg Simmel, dem Begründer des modernen Raum-Diskurses behaupten, sind - bei aller kultureller Differenz - dadurch charakterisiert, dass sie soziale Ordnung räumlich eins zu eins abzubilden versuchen - das gilt für traditionelle indische Städte ebenso wie für die mittelalterliche Stadt und den ländlichen Raum, der um Schloss, Burg, Kirche oder Kloster herum gruppiert ist. 10 In der Neuzeit zerfällt diese systematische Einheit zunehmend. Kulturwissenschaftlich besehen stellt die Neue Mythologie 11 des Nationalismus den Versuch dar, die ›natürlichen‹ Raumordnungen unter neuen Vorzeichen wiederherzustellen. Dafür ist - als Gegenpol - vor allem die Dynamik der kapitalistischen Ökonomie wie auch die Eigenlogik moderner technischer Medien mit ihrer Tendenz zum Ubiquitären verantwortlich. 12 Will man mit Robert Musil die Donaumonarchie zwischen 1867 und 1918 als eine Versuchsstation der Moderne begreifen, dann ist im Hinblick auf die Raumorganisation gerade diese Differenz einschlägig, die Musil mit dem »zehnten Charakter« des Menschen - neben Zuordnung zu Beruf, Nation, Staat, Klasse, Geografie, Geschlecht, Bewusstsein, Unbewusstsein und Privatheit - in Zusammenhang bringt: »Jeder Erdbewohner« habe, so meint die sondierende Stimme im Roman, 10 Vgl. SIMMEL 1992, p. 588. 11 FRANK, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie I. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1982; DERS.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1988. 12 Radikale Vertreter sind: HARDT, Michael/ NEGRI, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt: Campus 2002; DELEUZE, Gilles/ GUATTARI, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin: Merve 1992. Das »Empire« sehen Hardt und Negri ausdrücklich durch dessen Grenzenlosigkeit bestimmt: »Der Begriff Empire charakterisiert maßgeblich das Fehlen von Grenzziehungen« (HARDT & NEGRI 2002, p. 12). Damit ist aber zugleich eine Raumlosigkeit nach ›innen‹ wie nach ›außen‹ behauptet, ein Nicht-Raum, der von Nomaden bewohnt ist. <?page no="24"?> 24 Wolfgang Müller-Funk auch noch einen zehnten Charakter; und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume [! ]; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. 13 Angesichts dieses Befundes, der diverse Aspekte des Räumlichen beinahe restlos mit der Frage von Charakter und Identität verschränkt, wird es zu einer methodischen Herausforderung für kulturwissenschaftliche Ansätze, zu bestimmen, in welchem Verhältnis die verschiedenen Räume und Raumteilungen, die ›realen‹, die symbolischen und die imaginären zueinander stehen. Am schwierigsten dürfte es sich mit dem ›realen‹ Raum verhalten. Geografisch verstanden, ist er von Symbolisierungen der verschiedensten Art - von der Karte bis zum Roman abhängig, phänomenologisch gewendet handelt es sich um einen Grenzbegriff, der um Leiblichkeit und Körperlichkeit kreist. In beiden Fällen wird ein Jenseits vorausgesetzt, eine physische Welt bzw. der Körper, der indes nur durch den Symbolismus sichtbar wird. Das gilt letztendlich auch für den sozialen Raum. Aber der nahe liegende Umkehrschluss, dass eigentlich nur der Symbolismus maßgeblich ist, weil es ohne ihn keine sozialen und ›realen‹ Räume gebe, ist unzulässig. Seit Georgs Simmels epochaler Analyse, die ihn im Foucault’schen Sinn zum Diskursbegründer stempelt, lässt sich Raum nicht länger als eine fixe natürliche Größe begreifen, die politische, soziale und kulturelle Ordnungen determiniert. Raum muss vielmehr als ein subjektives Vermögen begriffen werden. Simmel selbst hat dabei drei Aspekte des Räumlichen unterschieden: 1. Das Phänomen der Ausdehnung, das sich auf psychische Energien und Kräfte bezieht, die einen Raum erst zu einem sozialen oder kulturellen Raum machen. 2. Das Phänomen von Nähe und Distanz, das heißt das Verhältnis von Fremde und Nachbarschaft. Das Phänomen der räumlichen Ordnung des Sozialen und Kulturellen: das umfasst dessen interne sowie externe Struktur und Organisation, aber auch die Integration von Teilen einer gegebenen soziokulturellen Einheit. 14 Als Beispiel für soziokulturelle Kompaktheit diskutiert Simmel die frühneuzeitlichen Städte in Flandern, in denen ein bestimmter territorialer Raum durch Wälle und Gräben definiert, d. h. begrenzt ist. Der territoriale Raum ist aber zugleich ein juristischer Raum, der die Bürgerschaft zu einer juristischen Person verschmilzt; schließlich gibt es noch innerhalb der Mauern der Stadt ein religiöses Band, das alle Einwohner in einer Pfarrgemeinde vereint. Aber selbst diese 13 MUSIL, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Gesammelte Werke, hg. von Adolf Frisé 1) 1978, p. 34. 14 SIMMEL 1992, pp. 690-698. <?page no="25"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 25 soziokulturelle Kompaktheit hat ihre Ausnahmen in Gestalt der Sonderordnung des Klosters und der jüdischen Gemeinde. Mit Blick auf die Städte in Zentraleuropa ließe sich sagen, dass sie im 19. Jahrhundert - zeitlich verspätet - auf dem Weg waren, diese alte Raumordnung zu verlassen. Modernisierung und Ethnisierung gehen also im Falle der Länder der Habsburgischen Kronen Hand in Hand. Im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von territorialen und virtuellen Räumen ist es vielleicht nicht unwichtig, zu konstatieren, dass Simmel meint, dass der nationale Territorialstaat vom Konzept der Deckung von geografisch-realem und politisch-symbolischem Raum ausgeht, während etwa die monotheistischen Religionen - der Katholizismus ebenso wie der Islam - eigentümlich ortlos sind. Sie sind ›Schulen der Abstraktion‹ 15 . Das heißt aber auch - entgegen so manchen Prophetien, dass sich die Bedeutung der territorialen Räume gänzlich erübrigt habe -, dass diese sich behaupten, weil sie »Schulen« der körpernahen Konkretion und der Anschaulichkeit sind. Warum sich der Raum für die Konstruktion soziokultureller Gebilde so hervorragend eignet, machen jene drei Eigenschaften deutlich, die Simmel dem Räumlichen zuschreibt: 1. Exklusivität 2. Fixierung 3. Begrenzung. 16 Die erste Eigenschaft bezieht sich auf ein Phänomen, das in den heutigen Kulturwissenschaften von enormer Bedeutung ist, auf die Identität. Selbst für den Fall, dass zwei kulturelle Gebilde oder zwei städtische Räume völlig identisch in ihrer Struktur sind, unterscheiden sie sich doch auf Grund ihrer Platzierung in den Koordinaten des geografischen Raumes: Orleans von New Orleans, Birmingham/ Alabama von Birmingham/ UK, der katholische Gottesdienst in Wien von jenem in Buenos Aires, der symbolische Raum des Katholizismus in Deutsch-Österreich von jenem in Böhmen und jenem in Mähren usw. Die zweite Eigenschaft, die räumliche Fixierung, hat auch unter den Bedingungen der Bewegungsmoderne ihre soziale Kraft behalten, selbst wenn sie sich verschoben und in mancherlei Hinsicht auch abgeschwächt haben mag. Die Fixierung sozialer und kultureller Interaktion ist die zentrale Funktion traditioneller Räume: Man denke nur an die gigantischen architektonischen Hauptstadtprojekte in den neuen mitteleuropäischen Nationalstaaten nach 1918 und 1945. Oder in Berlin nach 1989. Je größer und langlebiger die jeweiligen kulturellen Ordnungen konzipiert werden, desto wichtiger sind für sie reale, symbolische und vielleicht auch imaginäre Zentren. 15 Ibid., p. 693; ANDERSON, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2. erw. Aufl. A. d. Engl. von Benedikt BURKARD U. Christoph MÜNZ. Frankfurt/ Main: Campus 1996, p. 21: »Vorstellbar waren das Christentum, der Ummah-Islam und auch das Reich der Mitte […] weitgehend durch das Medium einer heiligen Sprache und überlieferten Schrift.« 16 SIMMEL 1992, pp. 690 ff. <?page no="26"?> 26 Wolfgang Müller-Funk Die dritte Eigenschaft, die Grenze, 17 ist heute - in Zeiten der Globalisierung - eine besonders fokussierte Eigenschaft des Räumlichen, wobei hier die doppelte Bedeutung erhellend ist. Ihre Bedeutung reicht vom mittelalterlichen Torwächter, wie ihn Kafka noch einmal in moderner Absicht gleichnishaft verwendet hat, über den Schlagbaum (der zum Beispiel das Kapstadt der reichen Weißen von jenem der armen Schwarzen trennt) bis zu jenen Grenzen, die wir - sozusagen von Mensch zu Mensch - einzuhalten angewiesen sind, wobei dieses Einhalten mit der Definition korrespondiert, wer als gleichberechtigter Mensch zu uns gehört und wer nicht. 18 Die Grenze, ohne die kein Raum möglich ist, regelt also Ausschluss wie Zugang. Es gibt zum Beispiel Räume, die man nur zeitweilig betreten darf. Der Gast ist eine solche Figur, der zeitweilig Grenzen überschreiten darf: die Grenzen zu einem Haus (Gasthaus), zu einem Privatplatz (Parkplatz) oder in ein Land (Visum). Es ist gerade die Grenze, die eine zeitliche Dimension hat. Sie zu überschreiten, hat eine Bedeutung in sich. Bernhard Waldenfels hat in diesem Zusammenhang auch von einer »Schwelle« gesprochen. 19 Es gibt also Grenzen, die kein absolutes Hindernis bilden, und deren Überwindung mit der Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Veränderung in Zusammenhang steht. Um solche intrakulturellen Phänomene geht es im damaligen wie im heutigen Zentrum Europas, das sich selbst rein geografisch als Zentrum versteht, aber doch wohl, global betrachtet, einen peripheren Ort darstellt. III. Literarische Texte, Epen, Romane, Erzählungen und natürlich auch das Gesamtkunstwerk Film eignen sich besonders gut, die Interdependenzen von realen, symbolischen und imaginären Räumen abzubilden: Sie zeigen Räume, und sie zeigen Menschen, die sich in ihnen bewegen und agieren. Sie wählen eine Perspektive, in der das Räumliche - in seinen drei Dimensionen - nachvollziehbar wird. In diesem spezifischen Sinn hat Gaston Bachelards Poetik des Raumes, die Drinnen und Draußen als eben nicht-reziproke Elemente des Räumlichen sieht, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. 20 Aber im Gegensatz zu einer exklusiven Fokussierung auf die Zeit, wie sie in manchen theoretischen Konzepten der »spatialen Wende« programmatisch formuliert und postuliert werden, enthält die Literatur auch eine historische 17 SIMMEL 1992, p. 697: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.« Cf. auch: SCHIMANSKI, Johan/ WOLFE, Stephen (Hg.): Border Poetics De-limited. Hannover: Werhahn 2007. 18 BAUMAN, Zygmunt: Flüchtige Moderne. A. d. Engl. von Reinhard Kreissl, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003, p. 110 f. 19 WALDENFELS, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990, pp. 28-40. 20 BACHELARD, Gaston: Poetik des Raumes. A. d. Frz. von Kurt Leonhard. Frankfurt/ Main: Fischer 1987, p. 215. <?page no="27"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 27 Tiefendimension. Die Menschen hinterlassen Spuren im Raum, verändern ihn, durchschreiten ihn, verlassen ihn, kommen zu ihm zurück. Der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin hat - lange vor der spatialen Wende - in diesem Zusammenhang von »Chronotopos« gesprochen, von einer ganz spezifischen Verbindung von Raum und Zeit zu einer Raumzeit, in der auch eine ganz bestimmte Eigenart der betreffenden Kultur zum Tragen kommt. Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt an Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos. 21 Das gilt, als Beispiele für eine Matrix spezifisch zentraleuropäischer Grenzgeschichten (border narratives) vor und nach 1989, für Ivo Andri ć ’ berühmten Roman Die Brücke über die Drina, das Œuvre von Danilo Kiš, für das Werk von Miroslav Krleža, der den zeitgenössischen kroatischen Raum als »Kolonat« bezeichnet hat, 22 für die Erzählungen des ungarischen Epikers Kálmán Mikszáth oder auch für das Werk von Peter Handke. Dessen Roman Die Wiederholung (1986) beginnt an einer realen und symbolischen Demarkationslinie; eine Grenze ist ein Raumteiler, der zwei geografische Räume trennt. Die Grenzstadt des Ich-Erzählers, der sich auf die Suche nach dem verschollenen Bruder begibt, heißt Jesenice, und sie trennt seit 1918 Kärnten und Slovenien. Damit ist schon klar, dass Grenzen eine Geschichte haben, dass sie veränderlich, zumindest aber überschreitbar sind. Der Ich-Erzähler überschreitet diese Grenze, um eine, seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie zu finden: Ich bin lange vor dem Bahnhof gestanden, die Kette der Karawanken, die mir in meinem bisherigen Leben immer fern vor Augen gewesen war, nah im Rücken. Die Stadt beginnt gleich am Ausgang des Tunnels, zieht sich durch das enge Flußtal: über dessen Flanken ein schmaler Himmel, der sich nach Süden erweitert und zugleich verhüllt wir von dem Qualm der Eisenwerke; eine sehr lange Ortschaft mit einer sehr lauten Straße, von der links und rechts nur Steilwege abzweigen. 23 21 BACHTIN, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. A. d. Russ. von Michael Dewey. Frankfurt/ Main: Fischer 1989, p. 8. 22 KRLEŽA, Miroslav: Politisches Alphabet. Graz 1967, pp. 54 f: »[…] die Habsburger Monarchie war eine katholische Satrapie par excellence, und als solche stellte sie eine prinzipielle Negation jeder Variante des griechischen Orthodoxentums dar, folglich selbstverständlich auch des serbischen. Jedoch im Bereich österreichischer Gewalttaten handelte es sich überhaupt nicht, falls man die Dinge historisch exakt betrachten will, um irgendwelche moralische oder geistige Kategorien einer metaphysischen Bekehrung, sondern um Kolonatsfragen.« 23 HANDKE, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1986, pp. 8 f. <?page no="28"?> 28 Wolfgang Müller-Funk Handkes Roman ist bestimmt, ja bis zu einem gewissen Grad determiniert von der Bedeutung des Räumlichen, der vor allem symbolischen Macht, die sie über sie ausübt. Schon die Beschreibung der Stadt an der Grenze verweist auf markante, den geografischen Raum strukturierende Elemente: die Alpenkette, den Tunnel, die Straße und wohl auch den Grenzbahnhof. Dieser Raum, ein symbolisch »erfüllter Raum« (Simmel), ist doppelt kodiert: Das bildet den Kern einer Geschichte, die eine der Entdeckung und der Erinnerung ist. Im Kontext des Romans wird klar, dass diese Grenze ein Innen hat; sie geht mitten durch den Kopf und bildet eine Mauer auch der inneren emotionalen Welt. Die territoriale Grenze ist zugleich eine symbolische; sie ist auch in dem kleinen Kärntner Dorf wahrnehmbar, von dem aus der Ich-Erzähler aufbricht. Trotz aller Trennung korrespondieren die beiden Räume, der slovenische und der österreichisch-kärntnerische, miteinander, und bilden einen verdoppelten, ja einen doppelgängerischen Raum. Die Suche des Ich-Erzählers ist aber nicht nur eine räumliche, sondern - fast im Sinne Prousts - eine nach der verlorenen Zeit. Was der Ich-Erzähler sucht, das ist der slovenische Raum in einer anderen Zeit, deren Spuren in der Gegenwart ablesbar sind. Der Chronotopos, der dem Roman zugrunde liegt, ist, um mit dem englischen Kulturwissenschaftler Roger Bromley zu sprechen, a lost narrative, 24 eine verloren gegangene Erzählung, die einen Raum und eine zeitliche Tiefendimension hat, in die der homodiegetische Erzähler hineingestellt ist. Mit der Poetik und der Architektonik des Raumes operiert auch die Erzählung Das Geschäft des Grafen Kozsibrowszky (1905) von Kálmán Mikszáth (1847-1910). Der Erzählstil, Mimesis mündlichen Erzählens im Sinne Benjamins, 25 markiert eine Zeit, die in diesem Raum nicht enden will: das Zeitalter des Feudalismus, der Agrar- und Adelsgesellschaft. Die vordergründig naive Erzählweise - »ich nehme an, dass Sie den Grafen Kozsibrowszky kennen« 26 - ähnelt dem systematischen Schwindel, der Thema nicht nur dieser Erzählung Mikszáths ist. Geschickt wird eine Topografie entworfen, in welche die Hauptfigur hineingestellt wird, jene Figur, die sich leichtfüßig in dem heterogenen und doch geschlossenen Kulturraum zwischen Krakau, Wien und Budapest, zwischen Lemberg und Graz, »der Stadt der pensionierten Leute« 27 bewegt. Die Bewegung macht sinnfällig, dass es sich, ungeachtet aller ethnischen Differenzen, um einen kulturellen Raum handelt, in dem es einem auch nicht die Sprache verschlägt. 24 BROMLEY, Roger: Lost Narrative. Popular Fiction, Politics and Recent History. London: Routledge 1988, pp. 1-23. 25 BENJAMIN, Walter: Der Erzähler. In: DERS.: Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997, pp. 385-410. 26 MIKSZÁTH, Kálmán: Das Geschäft des Grafen Kozsibrovszky. A. d. Ungar. von Andreas Oplatka. In: Ungarische Erzähler. Zürich: Manesse 1974, pp. 98-110, hier p. 104. 27 Ibid. Eine der wenigen deutschsprachigen Aufsätze zu Mikszáth ist: HÁRS, Endre: Die Vergesslichkeit der Literatur. Erinnerungsfiguren der ungarischen Gentry bei Kálmán Mikszáth. In: KEREKES, Amália/ MILLNER, Alexandra/ PLENER, Peter/ RÁSKY, Béla (Hg.): Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns. Tübingen: Francke 2004, pp. 163-177. <?page no="29"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 29 Die Figur des durch Spiel und Salonleben verarmten Grafen und Hochstaplers ist durch den Raum geprägt, zugleich aber ist er dessen Repräsentant. Den städtischen Metropolen der Monarchie ist - GermanistInnen mögen sich an die Joseph-Roth-Welt erinnert fühlen 28 - eine Peripherie der Superlative zugeordnet: Es wird als das Komitat Zemplén bezeichnet, das in Gustav Berndts Karte der Doppelmonarchie aus dem Jahr 1890 auch verzeichnet ist. Eine Stadt wird erwähnt, die Homona heißt, und von einer größeren Stadt ist die Rede, die als Kassa bezeichnet wird. Das ganze Gebiet heißt Oberungarn, was für den heutigen Leser schon das Problem mit sich bringt, dass sich die Namen der Orte und Räume geändert haben: Dieses Oberungarn heißt heute Slovakei, und die oberungarische Metropole Kassa heißt heute offiziell weder Kassa noch Kaschau, sondern Košice. Der heutige Leser fügt der Lektüre der Erzählung also eine zusätzliche raumzeitliche Verschiebung hinzu. Selbstredend impliziert auch der Name des Grafen, Kozsibrowszky, eine räumliche Zuordnung, denn der offenkundig slavische Name, der auf die »oberungarische« Herkunft verweist, ist orthografisch magyarisiert (zs, sz). Damit ist dieser scheinbar nur geografischterritoriale Raum auch in seiner soziokulturellen Struktur bezeichnet: Oben sind die Ungarn, darunter sind die slovakischen Bauern, Mägde und Dienstboten, außerhalb des Herrschaftsraumes befinden sich die Geschäfte machenden Juden, ganz unten stehen die ›Zigeuner‹ 29 , die als musikalische Komparsen einen Auftritt in der Erzählung bekommen. Darüber aber stehen in geordneter Reihenfolge die Verwandtschaft aus Wien und - noch höher - die, wenn auch lächerlichen, hohen Herren aus Berlin. Damit sind Zentrum und Peripherie als Faktoren der sozialen Raumordnung namentlich festgelegt; die Zuordnungen, Bewertungen und Platzierungen sind dabei jedoch niemals objektiv und essenziell, sondern relational und transitorisch. Das wird deutlich, wenn auch die anderen Orte der Erzählung - Orte, die nur Erwähnung finden, und Orte, in denen ein Teil der Handlung spielt - ins Blickfeld gerückt werden: Aus dem Blickwinkel des imperialen Berlin nimmt sich das gesamte Gebiet einschließlich der großen Städte der Monarchie als peripher aus. Die Erzählung erwähnt an zwei Stellen aber auch außereuropäische Räume: zum einen Amerika, als es um die Frage geht, wie viel Lohn die slovakischen Bauern für ihren folkloristischen Spieleinsatz bekommen sollen. Der magyarisierte Graf will und kann natürlich keine amerikanischen Löhne bezahlen, was insbesondere für das zeitgenössische Publikum den Schluss zulässt, dass Amerika ein attraktives Land - etwa für die Migration - sein müsse. Zum zweiten kommt - als scheinbare Nebensächlichkeit - zur Sprache, dass die Begleiterin des tölpelhaften und arroganten Berliner Barons Knopp, die 28 HARTMANN, Telse: Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Tübingen: Francke 2006. Momentan arbeitet der Germanist Danile Bitouh aus Kamerun an einem Buch über die Marginalisierung im Werk von Joseph Roth. 29 Ich gebrauche das Wort hier ganz bewusst, weil die heutige und korrekte Bezeichnung Sinti und Roma die historische Konnotationen löschen würde. <?page no="30"?> 30 Wolfgang Müller-Funk schöne Frau Wraditz (sie hat nicht umsonst einen slavischen Namen und Wiener Verwandtschaft), ihren Mann bei der Großwildjagd in Australien - das ist die zweite außereuropäische Raumbenennung - verloren hat. Er wurde, so heißt es, ein Opfer des Kannibalismus. Die Pointe an der Geschichte ist die Analogie: Das australische Kolonialabenteuer und die oberungarische Exkursion werden ganz bewusst miteinander in Verbindung gebracht. Der gemeinsame Nenner ist die Reise in die Wildnis, die im ungarischen Fall freilich inszeniert wird. Der überhebliche »Knopp« (Knopf) aus dem Zentrum der Zivilisation sucht ein Gut in der Wildnis, um sich in seiner Freizeit der Jagd widmen zu können. Am Ende werden die deutschen Gäste aber nicht von und in der Wildnis aufgefressen, sondern lediglich um ihr Geld betrogen. Insofern unterliegt die Begegnung zweier unterschiedlicher ›Kulturräume‹ dem quasi-kolonialen Deutungsmuster von Zivilisation und Wildnis, von städtischer Moderne und dörflicher Folklore, von Zentrum und Peripherie, von Kapitalismus und Agrargesellschaft, von Reichtum und Pleite - auch hier haben Grenze und Raum im Sinne der Lacan’schen Triade reale, symbolische und imaginäre Bedeutung. Der Graf agiert als Hochstapler und Falschspieler, vielleicht sogar als Betrüger, aber nicht als Kleinbürger, denn er kann sich den Anderen vorstellen. Daraus bezieht er nicht zuletzt seinen Charme. Es gibt nicht nur die List des Übermächtigen, also Odysseus’, sondern - anders als bei Homer - auch die List des Inferioren. Der Graf kennt die Selbst- und Fremdbilder, die in den angrenzenden ›Räumen‹ vagieren und konstruiert einen symbolischen Raum à la carte für den hochmütigen Berliner, der über alles Bescheid zu wissen glaubt: Er drapiert seine Arbeiter als Bauern, fingiert einen Besuch des Landwirtschaftsministers, simuliert eine falsche Hasenjagd, erfindet Heilwasser und lässt Hunderte von Hirschgeweihen, die er von einem jüdischen Tandler erstanden hat, im Wald verscharren, um den Eindruck zu erwecken, dass es sich um ein besonders attraktives Herrengut und Jagdgebiet handle, das er dem Berliner ›Freund‹ zu einem Freundschaftspreis anbiete. Der oberungarische Graf serviert seinen deutschen Gästen aber nicht nur ein Feuerwerk von Illusionen - sozusagen Wildnis mit Champagner -, sondern auch ein Ensemble von Geschichten, die gerade in der österreichischen Wortbedeutung - »G’schicht’ln«- schon die Falschheit strukturell in sich tragen. 30 Interessant ist aber auch das Agieren in dem zeitweiligen intrakulturellen Zwischenraum. Wie Simmel in seiner Soziologie des Raumes dargelegt hat, wird ein Raum erst zu einem erfüllten Raum, wenn Menschen miteinander kommunizieren und agieren. 31 Sie tun das, indem sie implizit und informell Regeln befolgen und Grenzen des Schicklichen einhalten. Gerade im Umgang mit Phänomenen wie Besuch und Gastlichkeit gibt es eine ganze Reihe von Ritualen 30 Zur Kritik des Erzählens cf. auch: MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. 2. erw. Aufl. Wien; New York: Springer 2008. 31 Cf. Anm. 3. <?page no="31"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 31 der Distanzierung. Der Etablierung äußerer Grenzen entsprechen habituelle, die durch einen komplexen Mix aus Distanznahme und wohlwollendem Entgegenkommen sozial verwaltet werden. Die Asymmetrie der beiden kulturellen Räume, die auf dem Gut des Grafen aufeinander treffen, gestattet es freilich, diese zu unterlaufen, ohne sie völlig außer Kraft zu setzen. Sie erlaubt ihm, einen Karneval der Kulturen zu veranstalten. Das tritt im Umgang mit dem anderen Geschlecht als wilder Galan markant zu Tage. Er trägt die Maske des Fremdbildes als Selbstbild - Camouflage und Mimikry desjenigen, der um seine prekäre und asymmetrische Position weiß. 32 Viel früher verlässt er die konventionellen Grenzen der Geschlechterordnung als dies bei der erotischen Annäherung an eine Frau der eigenen Kultur möglich wäre. Der zeitweilige imaginäre »Dritte« Raum 33 eröffnet die Möglichkeit einer diskursiven Freizügigkeit, die der List des Einheimischen zugute kommt und die er schamlos für sich nutzt. So beurteilt die schöne Frau Wraditz gegenüber ihrem Reisebegleiter den Grafen: »Er hat etwas kräftiges Männliches. Ein wahrer Wilder.« Und über die Bewirtung heißt es ganz analog: »Das feine Frühstück, das sie hier unter Wilden erhielten.« 34 Polyphem kennt die guten Manieren, und er weiß auch, wie man sie elegant überschreitet. Das ist die angenehme ›Überraschung‹, dass nämlich auch die Menschen von Zemplén über gute Sitten, Roastbeef und Champagner verfügen. Zunächst ist die Erzählung so gebaut, dass der adlige Betrüger beide - Mann und Frau - überlisten will, indem er sie mit jenen Projektionen bedient, der sie ihre eigene Identität verdanken, mit dem Bild des Wilden, der um seine Wildheit weiß und sich zugleich fast so zu benehmen weiß wie die vornehmen Gäste aus dem kulturell, ökonomisch und politisch privilegierten Raum: der Baron, den er als Käufer seines bankrotten Guts ins Visier nimmt und die attraktive Schöne, die er als Frau gewinnen möchte, zwei Geschäfte, die sowohl seine realen finanziellen Probleme lösen als auch seine symbolische Reputation heben würden. Doch List in der Liebe birgt stets ein enormes Risiko, und so findet sich der elegante Graf selbst in der Situation des Schmetterlings wieder, der, wie es in der Erzählung sinngemäß heißt, an der Nadel der Liebe aufgespießt worden ist. Dass die Sympathie des weiblichen wie des männlichen Publikums dem Grafen zufällt, hat ganz offenkundig mit dem bekannten Effekt zu tun, dass sich die Überlegenheit des Herrn, hier des Deutschen, in sein Gegenteil verkehrt. Schiffbruch mit Zuschauer. Weil der Subalterne attraktiv auf die Frau wirkt, besitzt er, wie ambivalent auch immer, Anziehungskraft für den männlichen Leser. Die Dummheit des Herrn ist überdies stets ein passabler Grund für Gelächter, für ein Gelächter, das Autor und Leserschaft auf Kosten einer Figur vereint. (Das ist der Grund, warum Schwindler in der belletristischen Literatur sehr leicht als 32 BHABHA, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000. A. d. Engl. von Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl, pp. 125-136. 33 BHABHA 2000, p. 55 ff. 34 MIKSZÁTH 1974, pp. 129-131. <?page no="32"?> 32 Wolfgang Müller-Funk charmant erscheinen, geschädigt wird ja nicht die Leserschaft, sondern ein Anderer, die Figur in einem Roman.) Und doch enthält die ganze Aktion des Grafen auch eine kritische Invektive gegen die eigene Kultur: Nicht nur ist dieses Land öde und unfruchtbar, vielmehr sind auch die Menschen unfähig, es ökonomisch effizient zu nutzen. Dies zu tun widerspricht aber dem feudalen Habitus des heruntergekommenen Adligen, der der Arbeit und dem Management allemal die Geschäftemacherei, das Spiel, die ›gute Partie‹ oder den ungleichen Tausch vorzieht. Der Potemkin’sche Schwindel besteht also darin, dass in dieser intrakulturellen Begegnung der symbolische Raum changiert. Kozsibrowszky gestaltet ihn - so wie die Tourismusindustrie des 20. Jahrhunderts - nach dem jeweils gültigen Fremdbild in der anderen Kultur, weil diese Zuordnung der Wildnis unter gewissen Bedingungen einträglich ist und zugleich auch eine kleine Rache für die geringschätzige Behandlung der superior agierenden Kultur darstellt. Für die Raum(an)ordnung in der Erzählung ist es sinnfällig, dass Kozsibrowszkys Betrug mit den Hirschgeweihen nicht in Berlin, sondern in einem Wiener Salon aufgedeckt wird, was - nicht nur für das zeitgenössische Publikum - den Schluss nahe legt, dass es einen höheren Grad von kultureller Verwandtschaft und kulturellen Kenntnissen zwischen Wien und der oberungarischen Peripherie gibt, als zwischen, sagen wir, Berlin und Budapest. Damit ist aber auch ein schiefes Machtgefüge beschrieben, das von Amerika über Berlin, Wien, Budapest bis in die oberungarische Provinz reicht. Die Erzählung kokettiert mit der gesamtösterreichischen Gemeinsamkeit auf Kosten eines unverkennbar anti-deutschen Affekts, der mit dem Anti-Amerikanismus unserer Tage vergleichbar ist. Das zeigt auch das launige Ende der Erzählung, in der die Beziehung zwischen dem oberungarischen Galan und der schönen Frau Wraditz von dieser selbst listig mit der Liaison zwischen Cleopatra und Marc Anton in Zusammenhang gebracht und damit uminterpretiert wird. Sie erzählt dem »Wilden« die Geschichte, wie sich Cleopatra am Betrug, den Antonius an ihr beging, rächt. Die überlistete Frau greift also selbst zur List der uneigentlichen Rede, löst damit die Asymmetrie zwischen den beiden auf und gibt dem Grafen damit zu verstehen, dass sie um die vertrackten Mechanismen interkultureller Kommunikation und ihre Codes weiß. Dies eröffnet dem schlauen Grafen am Ende immerhin die Chance, in einem Raum als ebenbürtig zugelassen zu werden, wo er ansonsten bestenfalls in der Ecke zu stehen gekommen wäre - und auch das nur dank seiner aristokratischen Herkunft. »Liebte Kleopatra Antonius noch, als sie ihm diese bittere Lektion erteilte? « fragt der Graf, nachdem sein weibliches Gegenüber die Geschichte des gezinkten Angelwettbewerbs zwischen der ägyptischen Prinzessin und dem römischen Politiker erzählt hatte. Worauf die Frau schelmisch entgegnet »Wohl möglich« 35 . Dem oberungarischen ›Wilden‹ wird so von einem versöhnlich gestimmten, einheimischen wie auswärtigen weiblichen Publikum 35 MIKSZÁTH 1974, p. 170. <?page no="33"?> Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie 33 Pardon gegeben. Rezeptionsästhetisch ist der Text so gebaut, dass die Figur der Frau Wraditz im Sinne einer Statthalterin der weiblichen Leserschaft wirkt. Die ethnische Anordnung und die Geschlechteranordnungen überkreuzen sich. Der magyarische Liebhaber ist der Vorläufer des latin lover. Um zum methodischen Ausgangspunkt zurückzukommen, lässt sich die These aufstellen, dass es sich im Falle der beiden diskutierten Topographien, den Grenzraum zwischen Slovenien und Kärnten und Oberungarn/ Slovakei um Räume handelt, die - mit Bezugnahme auf die vorgeblich fixe Geographie - symbolisch mehrfach codiert sind. Diese Räume sind sozial betrachtet hierarchisch organisiert. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen des Räumlichen bleiben eigentümlich in der Schwebe und erlauben eine gewisse Bewegungsfreiheit, ein Überschreiten von Innen und Außen, von Zentrum und Peripherie, von Ohmacht und Macht. Grenze ist immer auch dort, wo Fremd- und Selbstbilder aufeinander prallen. <?page no="35"?> A NDREI C ORBEA -H OISIE (J ASSY ) Czernowitz 1892 Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle Sowohl für die Zeitgenossen als auch für die Bukovina-Forscher galt das Jahr 1892 als eine »Epochenschwelle«. 1 Tatsächlich kann man aus heutiger Sicht die Einschätzung wagen, dass zu jenem Zeitpunkt die politischen Ereignisse das bisherige Kräftegleichgewicht auf dem sozial-politischen »Feld« der östlichsten Habsburgischen Provinz, die 1774 infolge einer schon damals umstrittenen Vereinbarung mit der Hohen Pforte erworben worden war, 2 in einer Art und Weise in Frage stellten, dass sich nun erstmals der konflikthafte Rahmen abzeichnete, der bis 1918 den örtlichen Alltag in wachsender krisenhafter Stimmung beherrschen sollte. Ein wirklich seltsamer Zwist war im Februar 1892 zwischen dem Landespräsidenten Anton Graf Pace (1851-1923) 3 und dem Landeshauptmann Alexander Freiherr von Wassilko-Serecki (1827-1893) 4 ausgebrochen, nachdem der Letztere - und mit ihm alle Vertreter des rumänischen Adels der Provinz samt orthodoxem Erzbischof - sich geweigert hatten, beim jährlichen Ballfest des Ersteren 1 Cf. BOGDAN-DUICA, Gheorghe: Bucovina, notite politice asupra situatiei. Sibiu 1895, p. 217; SBI- ERA, Ion G.: Familiea Sbiera, dupa tradiţiune şi istorie şi Amintiri din viata autorului. Czernowitz 1899, pp. 336 f.; IORGA, N.: Histoire des Roumains de Bucovine à partir de l’annexion autrichienne (1775-1914). Jassy 1917, p. 114 f.; PROKOPOWITSCH, Erich: Die rumänische Nationalbewegung in der Bukovina und der der Dako-Romanismus. Graz, Köln 1965, p. 116; CEAUŞU, Mihai-Ştefan: Parlamentarism, partide şi elită politică în Bucovina habsburgica (1848-1918). Iasi 2004, pp. 312 f. 2 Die 1774 erfolgte Besetzung der nordwestlichen Region des Fürstentums Moldau durch österreichische Truppen war von Kaiser Josef II. als Kompensation für die Neutralität seines Reiches während des russisch-türkischen Krieges 1768-1774 gedacht gewesen, wobei das eigentliche Ziel der Expedition die Errichtung einer direkten strategischen Verbindung zwischen Siebenbürgen und dem neu angeschlossenen Galizien war. Die Hohe Pforte als souveräne Macht gab dem österreichischen Druck nach und akzeptierte die Grenzverschiebung, während der moldawische Fürst Grigore III. Ghica, der in Konstantinopel gegen die österreichische Okkupation zu protestieren wagte, drei Jahre später von einer Schar türkischer Soldaten in Jassy ermordet wurde. Das neue Territorium, Bukovina genannt, stand bis 1786 unter österreichischer Militärverwaltung, wurde dann als Bezirk dem Königreich Galizien und Lodomerien einverleibt und erhielt erst 1848 den autonomen Status eines Kronlandes. Cf. u. a. TURCZYNSKI, Emanuel: Geschichte der Bukovina in der Neuzeit. Wiesbaden 1993. 3 Anton Graf Pace war vom 9. Januar 1891 bis zum 22. Mai 1892 Landespräsident der Bukovina. Bereits 1890 war er zum Stellvertreter des erkrankten Landespräsidenten Felix Freiherr von Pino- Friedenthal ernannt worden. Cf. PROKOPOWITSCH, Erich: Das Ende der österreichischen Herrschaft in der Bukovina. München 1959, p. 69. 4 Alexander Freiherr von Wassilko-Serecki war als einer der wichtigsten Führer der föderalistischen Fraktion des rumänischen Adels zum Landeshauptmann der Bukovina (1870-1871 und 1884-1892) gewählt worden. Cf. u. a. CEAUŞU 2004, pp. 531 f.; DERS.: Der Landtag der Bukovina. In: RUMP- LER, Helmut/ URBANITSCH, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1948-1918. Bd. VII. Verfassung und Parlamentarismus. Wien 2000, pp. 2187 f., hier p. 2191. Sein Sohn Georg Freiherr von Wassilko- Serecki galt nach dem orthodoxen Religionsfond vor dem Ersten Weltkrieg mit ungefähr 30.000 Hektar als der reichste Großgrundbesitzer der Bukovina. Cf. SANDGRUBER, Roman: Österreichische Agrarstatistik 1750-1918. Wien 1978, p. 239. <?page no="36"?> 36 Andrei Corbea-Hoisie zu erscheinen. Damit wollten sie ihren Unmut gegen den Verdacht des Landespräsidenten kundtun, demzufolge ein beleidigender anonymer Brief an dessen Frau durch den Nikolaus Baron Mustatza (1839-1904) 5 , eine Schlüsselperson jener Kreise, gerichtet worden war, wenngleich dieser ihm, bei seiner Ehre, die Beteiligung abgestritten hatte. Man sandte sich daraufhin gegenseitig Zeugen, um Ehrenerklärungen einzufordern, während jener Baron Mustatza infolge eines Disziplinarverfahrens auf seine Beamtenstelle als Domänenrat verzichten musste. Um ihrerseits Solidarität mit dem Landeschef zu bekunden und gleichzeitig die Gelegenheit zu ergreifen, die allgewaltige rumänische Adelspartei herauszufordern, legten die sechzehn nichtrumänischen der insgesamt 31 Mitglieder des gerade einberufenen Landtags ihre Mandate nieder, 6 was automatisch zur Auflösung des Hauses und zu Neuwahlen führte. Diese fanden tatsächlich einige Wochen später statt, jedoch ohne dass daraus eine neue und stabile Mehrheit im Landtag entstehen konnte: denn einerseits scharten sich die zwei politischen Hauptflügel der Rumänen (die »Altrumänen« und die »Jungrumänen«) mit erstaunlichem Erfolg unter der Flagge einer damals zum ersten Mal entstandenen einheitlichen Rumänischen Nationalpartei, 7 und andererseits wollte die Regierung in Wien, die wie immer ihren ganzen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen geltend machte, offensichtlich an den etablierten Verhältnissen im Lande um keinen Preis rühren. Der Störenfried Graf Pace wurde also kurzerhand abgelöst; das Vorhaben der Koalition, die ihn unterstützte, in der ersten Sitzung des neuen Landtags Ende September die Macht an sich zu reißen, erwies sich als illuso- 5 Der rumänische Großgrundbesitzer Nikolaus (Nicolae) Baron Mustatza war einer der einflussreichsten Mitglieder der rumänischen Adelsfraktion im Bukowiner Landtag und jahrelang Mitglied des Landesausschusses und Domänenrat (cf. CEAUŞU 2004, pp. 507 f.). Die politischen Gegner griffen ihn wegen seiner angeblichen Intrigen und dunklen Affären heftig an (cf. u. a. Rechenschaftsbericht des Abgeordneten Nikolai von Wassilko über seine Tätigkeit im Reichsrathe und Landtage in den Jahren 1898 bis incl. 1900. Czernowitz 1901, pp. 183 ff.). Ihrerseits warfen ihm die »Jung-Rumänen« seine mangelhafte nationale Gesinnung vor, insbesondere nach dem berühmten Vorfall im Juli 1898 auf dem Czernowitzer Bahnhof, als er sich weigerte, König Carol von Rumänien auf Rumänisch zu begrüßen (cf. u. a. den bericht in: Bukowiner Rundschau Nr. 2789 v. 28.7.1898; PROKOPOWITSCH 1965 p. 115). 6 Die rumänische Zeitung Gazeta Bucovinei, die darin einen »Schlag« gegen »alle Rumänen« sah, bemerkte, dass die faktische Auflösung der machthabenden übernationalen konservativen Koalition in der Bukovina einen Vorstoß in Richtung nationaler Umgruppierungen auf der politischen Szene darstelle (cf. den Leitartikel in: Gazeta Bucovinei Nr. 15 v. 20.2.1892). In seinen Memoiren hebt auch der damalige Ordinarius für Rumänische Sprache und Literatur an der Czernowitzer Universität Ion G. Sbiera die für die nationale »Solidarisierung« der Rumänen »gute« Wirkung der »schrecklichen Allianz« der Nicht-Rumänen hervor (cf. SBIERA 1899, p. 337). Die liberale Bukowiner Rundschau meinte, dass man dadurch die Rumänen »in übermäßiger Weise« herausgefordert habe (cf. Bukowiner Rundschau Nr. 1122 v. 10.4.1892). 7 Die Rumänische Nationalpartei der Bukovina (Parţidul National Român) wurde am 7. März 1892 unter dem Vorsitz von Iancu Zotta als Ausdruck einer nationalen Interessenvertretung sowohl des rumänischen Mittelstandes und Bildungsbürgertums als auch der konservativen Großgrundbesitzer rumänischer Abstammung gegründet. Infolge mehrerer Konflikte zwischen diesen beiden Flügeln der Partei und des wachsenden Einflusses der nationalistisch geprägten »Jungrumänen« wurde die Partei im Frühling 1897 praktisch aufgelöst und durch eine neue national-rumänische Partei, die Nationale Volkspartei (Partidul Poporal Naţional), ersetzt. Cf. SBIERA 1899, pp. 336 f.; NISTOR, Ion: Istoria Bucovinei. Hg. v. Stelian Neagoe. Bucureşti 1991, p. 261; COCUZ, Ioan: Partidele politice romaneşti din Bucovina 1862-1914. Suceava 2003, pp. 201-234; CEAUŞU 2004, p. 313. <?page no="37"?> Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle 37 risch, da sich zwei ruthenische Abgeordnete der rumänischen Fraktion anschlossen und ihr wiederum zur Mehrheit verhalfen. Der Eindruck, dass alles beim Alten blieb, 8 täuschte jedoch. Hinter den mondänen Querelen in Czernowitz schwelte eine dramatische Auseinandersetzung um das institutionelle System des Kronlandes, wie es zu Beginn der 1860er Jahre aufgebaut worden war. Die damals bestimmte Wahlordnung und die daraus resultierende Sitzverteilung im Landtag 9 gab genau das Verhältnis zwischen den wichtigsten politischen und nationalen Gruppierungen in der Bukovina wie auch ihre Beziehung zur Wiener Regierung wieder: Das habsburgtreue Bündnis des rumänischen Adels, der gemeinsam mit der orthodoxen Kirche die »historische Nation« 10 des Landes verkörperte, mit dem noch schwachen deutsch-jüdischen Bürgertum der Städte - ein Bündnis, dem immerhin die Erlangung des Autonomiestatus der Provinz 1848 zu verdanken war 11 - verfügte über eine breite und sichere Mehrheit, die nur kurzfristig unter den Ministerien Potocki (April 1870 - Februar 1871) und Hohenwart (Februar - November 1871) von der föderalistisch-konservativen Partei rumänischer und »armeno-polnischer« Großgrundbesitzer aus der Regierung verdrängt worden war. 12 Ende der 1870er Jahre aber schien die soziale und die nationale Lage, auf der jene Machtverteilung beruhte, erheblich verändert: Einerseits fühlte sich das ökonomisch gefestigte liberale Bürgertum durch seinen wachsenden steuerlichen Beitrag zum Landeshaushalt 13 berechtigt, eine entsprechende Teilnahme an den politischen Geschäften zu fordern, andererseits wiesen die seit 1880 - nach dem Kriterium der Umgangssprache - durchgeführten Volkszählungen auf eine deutliche Mehrheit der in den autonomen Körperschaften des Landes praktisch nicht vertretenen Ruthenen gegenüber den Rumänen hin. 14 Die Gegensätze spitzten sich zu, als 8 Noch vor den Neuwahlen glaubte man in Czernowitzer Kreisen zu wissen, dass laut den vom Fremdenblatt zitierten Bukowiner Nachrichten die konservative Regierung in Wien die Absicht habe, »alles beim Alten« zu lassen; auch die Bukowiner Rundschau prophezeite, dass es »beim alten Curs« bleiben werde. Cf. Fremdenblatt Nr. 78 v. 18.3.1892; Bukowiner Rundschau Nr. 1111 v. 15.3.1892. 9 Cf. CEAUŞU 2000, pp. 2171-2198; cf. auch LESLIE, John: Der Ausgleich in der Bukovina von 1910. Zur österreichischen Nationalitätenpolitik vor dem ersten Weltkrieg. In: BRIX, Emil/ FRÖSCHL, Thomas/ LEIDENFROST, Josef (Hg.): Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag. Graz 1991, pp. 113-144. 10 CORBEA-HOISIE, Andrei: Bukovina als Symptom. Marginalien zu Mariana Hausleitners Buch »Die Rumänisierung der Bukovina«. In: BOSSHART-PFLÜGER, Catherine/ JUNG, Joseph/ METZGER, Franziska (Hg.): Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2002, pp. 481-490. 11 Cf. TURCZYNSKI 1993, pp. 121 ff. 12 CEAUŞU 2000, pp. 2187 f. 13 Symptomatisch erscheint in diesem Zusammenhang die von der liberalen Zeitung Bukowiner Nachrichten formulierte Kritik am vermeintlich ungerechten Verhältnis zwischen dem Beitrag der Stadt Czernowitz (272.760 fl. durch direkte Steuern) zum Landeshaushalt (1.100.803 fl.), was ein Viertel der Gesamtsumme ausmacht, und ihrem geringen Einfluss auf die Landespolitik infolge einer Vertretung durch nur zwei der insgesamt 31 Abgeordneten zum Landtag. Cf. Bukowiner Nachrichten Nr. 1042 v. 6.3.1892. 14 Cf. HITCHINS, Keith: Die Rumänen. In: RUMPLER/ URBANITSCH 2000, Bd. III. Die Völker des Reiches, p. 618. Cf. auch die statistischen Ausführungen in: BOLOGNESE-LEUCHTENMÜLLER, Birgit: Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich. Wien 1978, pp. 30-31: 1880 wurden in der Bukovina aufgrund der angegebenen Umgangsprache 190.005 <?page no="38"?> 38 Andrei Corbea-Hoisie in Wien nach 1880 die konservativ-klerikale Koalition der alten Föderalisten, die im Reichsrat auch mit den Stimmen ihrer Bukowiner Gesinnungsgenossen rechnete, zur parlamentarischen Stütze der Regierung Taaffe wurde. 15 Favorisiert durch den Landespräsidenten Hyeronimus Baron Alesani (1837-1887) 16 und trotz liberaler Opposition gelang es damit einer adligen, überwiegend rumänischen ›Kaste‹, alle Schlüsselpositionen im Landtagsausschuss und in der Verwaltung in die Hände zu bekommen - mit verheerenden Folgen unter anderem für die ökonomisch-soziale Dynamik der Provinz, weil nämlich die Konservierung ihrer alten Privilegien gleichzeitig eine heftige Widerspenstigkeit dieser technologisch zurückgebliebenen, ständischen Agrargesellschaft gegen die industrielle Modernisierung und die Durchsetzung bürgerlicher Lebensformen implizierte. 17 Ähnlich nahmen die politischen Konfrontationen im Czernowitz der 1880er Jahre - ähnlich wie in Wien und den anderen Kronländern, wenngleich mit abgebremster Intensität 18 - nunmehr ein verschärftes nationales Gepräge an: Während sich die bürgerlichen Liberalen zu einem habsburgtreuen zentralistischen Deutschtum bekannten, neigten mehrere Vertreter der an der Macht befindlichen Fraktion im Bündnis mit national motivierten bildungsbürgerlichen Rumänen zu 239.690 Ruthenen - d. h. 33,43 %/ 42,17 % - und 1890 208.301 Rumänen zu 268.367 Ruthenen - d. h. 34,42 %/ 41,77 % verzeichnet; cf. die noch präzisere Ausführungen in: UNGURE- ANU, Constantin: Bucovina în perioada stăpînirii austriece 1774-1918. Aspecte etnodemografice şi confesionale. Chisinau 2003, pp. 251 ff. In der Tradition der rumänischen Geschichtsschreibung, welche die österreichischen Volkszählungen als unzuverlässig und politisch einseitig abstempelte, erschienen noch in den 1990er Jahren kritische Auseinandersetzungen mit deren Ergebnissen (cf. etwa GRIGOROVICI, Radu: Studiu critic al recensamintului austriac din 1880 cu privire la populaţia Bucovinei. In: Analele Bucovinei, Jg. 1, H. 2 (1994), pp. 351-368 und Jg. 2, H. 2 (1995), pp. 339-356). 15 HÖBELT, Lothar: Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat. In: RUMPLER/ URBANITSCH 2000, Bd. VII, pp. 928-941. 16 Hyeronimus Baron Alesani war Landespräsident der Bukovina von 7. Juli 1874 bis zu seinem Tode am 8. Februar 1887. Cf. PROKOPOWITSCH 1959, p. 69. 17 Zur gesamtösterreichischen Problematik mit Bezug auch auf die Bukovina cf. MOMMSEN, Hans: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. Wien 1963, pp. 21 ff.; MATIS, Herbert: Österreichs Wirtschaft. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel. Berlin 1972; HOFFMANN, Alfred: Grundlagen der Agrarstruktur in der Donaumonarchie. In: DERS. (Hg.): Österreich-Ungarn als Agrarstaat. Wirtschaftliches Wachstum und Agrarverhältnisse in Österreich im 19. Jahrhundert. Wien 1978, pp. 11-65; BRUCKMÜLLER, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien 1985, pp. 376 ff.; GOOD, David: Der wirtschaftliche Aufstieg der Habsburgermonarchie 1750-1914. Graz 1986; cf. auch die statistischen Angaben zur Bukovina im Vergleich zu den anderen Kronländern in BOLOGNESE-LEUCHTENMÜLLER 1978, pp. 146-165, 208-217 und SANDGRUBER 1978, pp. 222-233. Eine sehr scharfe und weitsichtige Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Stagnation der Bukovina vor dem Ersten Weltkrieg unternahm der Rechtssoziologe Eugen Ehrlich in einem veröffentlichten Vortrag, cf. EHRLICH, Eugen: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten. Czernowitz 1909. 18 Die oben erwähnten Memoiren von Ion G. Sbiera stellen eine glaubwürdige Quelle zu den wachsenden politischen Spannungen in der Bukovina seit 1860 dar. Cf. SBIERA 1899. <?page no="39"?> Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle 39 Kreisen. 19 und trotz deren antisemitischer 20 bis irredentistischer Entgleisungen 21 dazu, eine rumänische Identität zu beanspruchen, in deren Namen dann prompt die ruthenischen Forderungen nach Gleichberechtigung innerhalb der orthodoxen Kirche abgewiesen wurden. 22 Die Tatsache, dass der damalige Stellvertreter des Landespräsidenten Felix Freiherr von Pino-Friedenthal (1826-1906) 23 , Graf Pace, sich vor den Landtagswahlen 1890 persönlich eingesetzt hatte, um den ruthenischen Kandidaten vier Mandate zu sichern, 24 und sich ein Jahr später öffentlich dem rumänisch-nationalen Programm des griechisch-orthodoxen Erzbischofs Samuel Silvestru Andriewicz-Morariu (1818-1895) 25 und seinen Bestrebungen um die kirchliche Autonomie widersetzt 26 hatte, lässt darauf schließen, dass die Wiener Regierung erst im Umfeld der gescheiterten Verhandlungen über einen deutsch-tschechischen Ausgleich und der gerade ausgebrochenen 19 Die 1885 erfolgte Gründung der »Concordia«-Gesellschaft versammelte zum ersten Mal die rumänische Intelligenzija unter einem gemeinsamen kulturellen und politischen Programm, in dem die nationalen Ziele als vordergründig galten. Cf. MORARIU, Constantin: Culturhistorische und ethnographische Skizzen über die Rumänen der Bukovina. Resicza, Wien 1888-1891, p. 244; SBIERA 1899, pp. 331 f.; NISTOR 1991, pp. 258 ff.; COCUZ 2003, pp. 187-201. Zum Nationalismus der osteuropäischen Intelligenzija im Vergleich zum deutschen Bildungsbürgertums cf. HROCH, Miroslav: Das Bürgertum in den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Ein europäischer Vergleich. In: KOCKA, Jürgen (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 2, pp. 337-359. 20 Antisemitische Äußerungen enthalten schon zu jener Zeit sowohl die rumänischen Presseorgane Revista politica und Gazeta Bucovinei als auch die Gazeta Polska und die ruthenische Zeitung Bukowyna. Über eine ungewöhnlich brutale Schlägerei zwischen rumänischen und jüdischen Studenten, die von einem Rumänen, der in einem Kaffeehaus über die Juden schimpfte, provoziert wurde, berichten die Bukowiner Nachrichten (Nr. 1026 v. 17.2.1892; Nr. 1029 v. 20.2.1892) und die Bukowiner Rundschau (Nr. 1100 v. 18.2.1892). Während der Landtagswahlen wurde der rumänische Kandidat im Czernowitzer Wahlbezirk Baron Mustatza von dem offen antisemitischen »christlich-socialen« Verein, der vor allem aus deutschen Kleinbürgern bestand, unterstützt (cf. Wahlverwandschaft. In: Bukowiner Nachrichten Nr. 1054 v. 20.3.1892, p. 1). 21 Die deutschsprachige Czernowitzer Presse nahm etwa mit Entrüstung eine Äußerung des rumänischen Politikers Dr. Iancu Zotta auf einer Kundgebung der »Concordia« zur Kenntnis, wo dieser die Nichtrumänen in der Bukovina als »fremd im Lande« bezeichnete, wobei in der Replik des liberalen Organs Bukowiner Nachrichten das Österreichertum zum »Merkmal des Einheimischen« erklärt wurde (cf. Bukowiner Nachrichten Nr. 1046 v. 11.3.1892). 22 NISTOR, Ion: Istoria bisericii din Bucovina şi a rostului ei naţional-cultural in viaţa romanilor bucovineni. Bucuresti 1916, pp. 153 ff.; PROKOPOWITSCH 1965, pp. 75-83. 23 Felix Freiherr von Pino-Friedenthal war zwischen 4. Oktober 1870 und 7. Juli 1874 und zum zweiten Mal zwischen 14. Februar 1887 und 23. Juli 1890 Landespräsident der Bukovina; cf. PROKOPO- WITSCH 1959, p. 69. 24 CEAUŞU 2000, pp. 2184 f. 25 Samuel Silvestru Andriewicz-Morariu war von 1880 bis zu seinem Tod 1895 griechisch-orthodoxer Metropolit (Erzbischof ) von Bukovina und Dalmatien. Bereits in den 1860er Jahren war er in national gesinnten rumänischen Kreisen aktiv gewesen; als Oberhaupt der Bukoviner orthodoxen Kirche geriet er häufig wegen seiner rumänisch-nationalen Positionen gegenüber den ukrainischen Forderungen bezüglich der Mitsprache in der Verwaltung der Diözese und des Religionsfonds in Konflikt mit den ruthenischen Politikern und auch mit den österreichischen Behörden; cf. auch CEAUŞU 2004, pp. 418 f. 26 SBIERA 1899, p. 335; NISTOR 1916, pp. 148-152. Der oben erwähnte Dr. Zotta war derjenige, der auf dem in Czernowitz einberufenen Kongress der griechisch-orthodoxen Kirche darauf bestand, in Anwesenheit des Grafen Pace Rumänisch zu sprechen; der Vorfall wurde von der lokalen Presse mit großer Aufmerksamkeit registriert (cf. Bukowiner Nachrichten Nr. 913 v. 1.10.1891; Nr. 915 v. 3.10.1891). <?page no="40"?> 40 Andrei Corbea-Hoisie slovenischen Agitationen 27 begann, sich ernsthaftere Gedanken über eine »nationale« Färbung der Bukowiner Lokalpolitik zu machen. Es stellt sich die Frage, inwieweit den Entscheidungsträgern der Monarchie die Zukunftsrisken eines neuen nationalen Konfliktherdes bewusst gewesen sein mögen. Wenngleich die Archivalien der österreichischen Verwaltung von einer regen Kommunikation zwischen Czernowitz und Wien zeugen - wobei die Behörden in der Hauptstadt nicht nur über die Lage in der Bukovina bestens informiert waren, sondern die wichtigsten Beschlüsse der Landesregierung geradezu diktierten, 28 - musste ihre Aufmerksamkeit wohl nicht nur wegen der Brisanz der Ereignisse, sondern vielmehr aufgrund der inneren (aus der Spannung zwischen Metropole und Provinz resultierenden) Logik des politischen Handelns 29 zuerst den Entwicklungen im Zentrum des Reiches und erst in zweiter Linie denjenigen an der Peripherie gegolten haben. In diesem Fall gehörte der Peripherie das ehemals nord-moldauische Territorium aufgrund aller ökonomischen, sozialen und politischen Kriterien an, die an eine typologische Differenzierung jener eigentlich geografischen Größen angelegt wurden. 30 Jenseits aller idyllisch-föderalistischen Vorstellungen von einer »mehrpoligen« österreichischen Reichshälfte, die ja immerhin auch durch die »nicht-deutsche Option« des Kaisers Franz Joseph und des Kronprinzen Rudolf genährt wurden, 31 und bei aller faktischen Pluralität in der Gesellschaft und Kultur der Doppelmonarchie 32 blieb die oben erwähnte Logik bis ins 20. Jahrhundert von Grund auf von einer »zentralistischen« Mentalität getragen: Die sich angeblich noch im Zuge der »Zivilisierung« befindende »orientalische« Peripherie, einschließlich der Bukovina, 33 wurde darin »im Sinne eines Randbezirkes, der als solcher aufgrund mangelnder, nämlich nicht-zentraler Wichtigkeit nur teilweise sichtbar ist und sich nur kon- 27 RUMPLER, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997, pp. 506-510. 28 Cf. etwa die Korrespondenz zwischen dem Ministerpräsidenten Auersperg und dem Landespräsidenten Alesani in Bezug auf die Aktivitäten der rumänisch-nationalen Kulturgesellschaft »Arboroasa«, in Nistor 1991, pp. 245-247. 29 Cf. HANISCH, Ernst: Zentrum-Peripherie. Modellüberlegungen am Beispiel des Kronlandes Salzburg. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 131 (1991), pp. 187-199; cf. auch DERS.: Zentrum und Peripherie in der Ersten Republik. In: Bericht über den neunzehnten österreichischen Historikertag in Graz veranstaltet vom Verband Österreichischer Geschichtsvereine in der Zeit vom 18. bis 23. Mai 1992. Wien 1993, pp. 147-149; MITTERAUER, Michael: Zentralorttheorie und historische Zentralitätsforschung. In: EBDA., pp. 215-222. 30 Cf. u. a. STEKL, Hannes: »Zentren« und »Peripherien« der westlichen Reichshälfte in der Einkommensverteilung; HEINDL, Waltraud: Bildungsbürgertum zwischen Metropole und Provinz: die kaiserliche Bürokratie. In: CORBEA-HOISIE, Andrei/ LE RIDER, Jacques (Hg.): Metropole und Provinzen in Altösterreich (1880-1918). Jassy, Wien 1996, pp. 37-80 bzw. 81-93. 31 Cf. u. a. HASELSTEINER, Horst: Die Nationalitätenfrage in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und der föderalistische Lösungsansatz. In: RUMPLER, Helmut (Hg.): Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/ 71-1914. Wien, München 1991, pp. 21-30. 32 CSÁKY, Moritz: La pluralité. Pour contribuer a une théorie de l’histoire autrichienne. In: Austriaca 33 (1991), pp. 27-42. 33 CORBEA-HOISIE, Andrei: Ein deutsch-österreichischer Missionär in Halb-Asien: Karl Emil Franzos. In: CSÁKY, Moritz/ ZEYRINGER, Klaus (Hg.): Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachkodierung des historischen Gedächtnisses. Innsbruck, Wien, München 2000, pp. 151-164. <?page no="41"?> Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle 41 zentrisch erschließt« 34 , behandelt. Die Unsicherheit hinsichtlich der Bukoviner Autonomie gegenüber Galizien, die nach 1861 jahrzehntelang von polnischen Kreisen in Wien und Lemberg geschürt worden war, 35 beziehungsweise die Selbstverständlichkeit, mit der die Bukovina in den Verhandlungen vor dem Ausbruch und am Ende des Ersten Weltkriegs von Wiener Politikern und Diplomaten zum Tauschobjekt gemacht wurde 36 , stellen nur extreme Konsequenzen eines sich aus jener Denkgewohnheit ergebenden Verhaltens dar. Schon die deutschsprachige Czernowitzer Presse um die Jahrhundertwende glaubte daher, ständig auf diese Vorstellung der Bukovina als Peripherie des Reiches und eben auf die entsprechende Behandlung seitens des »Zentrums« aufmerksam machen zu müssen: Noch bevor ein Theodor Mommsen sein vernichtendes Urteil über die Czernowitzer Universität gefällt hatte, indem er sie laut Karl Emil Franzos als eine »k. u. k. Strafkolonie« titulierte, 37 war diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung von einem örtlichen Journalisten in Bezug auf die Bukovina und ihren Ruf bei der »westlichen« Beamtenschaft verwendet worden. 38 Des Öfteren rekurrierte man auf die Metapher des »Stiefkindes«, um die besagte Vernachlässigung der sich dort anhäufenden Probleme aller Art von den Behörden in Wien anzumahnen. 39 Das Desinteresse der Öffentlichkeit in der Metropole für die Vorkommnisse in jener östlichsten Provinz der Monarchie wurde lediglich als deutlichstes Symptom einer auf lange Sicht alarmierenden Gleichgültigkeit des »Zentrums«, besonders der Zentralregierung, gegenüber dem Schicksal des entfernten Kronlandes aufgefasst. »In der Redaktion der ›Neuen Freien Presse‹ scheint man auch über die Vorgänge und Zustände in Sibirien mehr zu wissen als über die in der Bukovina«, hieß es dazu etwas resigniert-sarkastisch im Leitartikel der Bukowiner Rundschau von 24. Oktober 1900. 40 Gerade vor der Kulisse eines von den üblichen Klischees der Peripherie geprägten »Bildes« der Bukovina und verglichen mit der Zeit, so die Bukowiner 34 REBER, Ursula: Periphere Angelegenheiten/ Angelegenheiten der Peripherie. Einschreibungen in eine Karte von »Adiáphora«. In: FEICHTINGER, Johannes/ PRUTSCH, Ursula/ CSÁKY, Moritz (Hg.), Habsburg Postkolonial. Innsbruck, Wien, München, Bozen 2003, p. 231. 35 Cf. u. a. die anonyme Broschüre: Die Slavisierung der Bukovina im XIX. Jahrhundert als Ausgangspunkt großpolnischer Zukunftspolitik. Wien 1900. 36 Cf. PROKOPOWITSCH 1959, pp. 24-27; SONEVYTSKY, Leonid: Bukovina in the diplomatic negotiations of 1914. New York 1960. Die rein strategischen Überlegungen nach der ersten polnischen Teilung, die zum Anschluss der Bukovina führten (cf. Anm. 2), waren schon längst nicht mehr aktuell gewesen, cf. u. a. RUMPLER, Helmut: Der »Zweibund« 1879. Das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie. Wien 1996. 37 FRANZOS, Karl Emil: Erinnerungen an Mommsen. In: Neue Freie Presse Nr. 14095 v. 22.11.1903, p. 1. 38 Cf. den Leitartikel »Die Strafkolonie« in: Bukowiner Rundschau Nr. 2749 v. 11.6.1898. 39 Cf. etwa Bukowiner Nachrichten Nr. 470 v. 3.4.1890; Bukowiner Rundschau Nr. 2211 v. 15.8.1896; cf. auch die sehr kritische Haltung der Czernowitzer Presse gegenüber Wien in dem Leitartikel in: Bukowiner Nachrichten Nr. 1109 v. 26.5.1892, p. 1: »Bekanntlich war es lange Zeit eine zur Gewohnheit gewordene Übung der Regierung, sich um die Bukovina nur wenig zu kümmern und die Dinge in ihr gehen zu lassen.« 40 Bukowiner Rundschau Nr. 3452 v. 24.10.1900. Das Motiv beherrschte interessanterweise nach 1918, als die Bukovina zur Peripherie des rumänischen Zentrums wurde, auch die Kommentare der Czernowitzer Presse aller Sprachen. <?page no="42"?> 42 Andrei Corbea-Hoisie Nachrichten, als man in den hauptstädtischen Blättern »ganze Nummernreihen […] durchblicken [konnte] und […] den Namen der Bukovina kaum ein oder das andere Mal genannt [fand]« 41 , ist die auffällige Anhäufung der »recht sensationellen Titel« 42 über die Ereignisse in und um Czernowitz in der Wiener Presse des Jahres 1892 43 nunmehr ein Indiz dafür, dass ihre Tragweite - wenngleich nur in nuce - von der österreichischen Öffentlichkeit wenigstens zur Kenntnis genommen wurde. Mehr noch als die politischen Streitigkeiten im Landtag, bei deren Kommentierung die Redaktionen auf ihre vorgegebenen ideologischen Tendenzen angewiesen blieben und sich zurückhielten, boten die Enthüllungen im Zuge eines riesigen, im September 1892 in Wien geführten Skandal-Prozesses gegen ehemalige Bukoviner Finanz- und Zollbeamte, die ein weitverzweigtes Netz von Schmuggel, Korruption und Vetternwirtschaft aufgebaut und den Staat um ungeheure Summen betrogen hatten, Anlass zu einer ernsteren Reflexion über die bestehenden Verhältnisse in der entfernten »Grenzprovinz« 44 und die Art und Weise, wie sich das Band zwischen dem »Zentrum« und der östlichen »Peripherie« des Reiches, »ultima Thule der diesseitigen Reichshälfte« 45 , damals beurteilen ließ. Gegenüber den pathetischen Beteuerungen aus Czernowitz, dass die Bukovina »Fleisch vom Fleische [der Monarchie] und Blut von ihrem Blute« sei, 46 klingt der wiederholte Rekurs der Wiener Journalisten auf das Motiv der »Grenze« wie ein kalt-nüchternes Pendant in imagologischer Perspektive zu dem optimistischen, im frühen 19. Jahrhundert entstandenen und noch 1875 von Karl Emil Franzos feierlich bestätigten Czernowitz-»Bild« 47 vom »imaginierten Westen im Osten« 48 . Jene skandal-getönten Prozess-Berichte verweisen auf eine Andersheit, die nur durch das Beschwören des dezidiert Fremden angesprochen werden sollte: Man sprach also von »Pascha-Wirtschaft« 49 oder erwähnte Russland, »über dessen Grenzen […] auch der Corruptions-Bacillus nach Westen dringt« 50 ; bald wurde die Floskel von der »polnischen Wirtschaft« 51 bemüht, 41 An die Adresse der Neuen Freien Presse; cf. Neuen Freien Presse Nr. 1035 v. 27.2.1892, p. 1. 42 Wir sind hier nicht in der Bukovina. In: Bukowiner Rundschau Nr. 1191 v. 22.9.1892, p. 1. 43 Cf. SAGL, Hermann: Wiener Tageszeitungen 1890-1914. In: SCHEICHL, Sigurd Paul/ DUCHKO- WITSCH, Wolfgang (Hg.): Zeitungen im Wiener Fin de siècle. Wien, München 1997, pp. 268-275. 44 Nachklänge. In: Bukowiner Rundschau Nr. 1141 v. 26.5.1892, p. 1. 45 Wien, 13. September. In: Neue Freie Presse Nr. 10078 v. 14. September 1892, p. 1. 46 Bukowiner Rundschau Nr. 3452 v. 24.10.1900. 47 FRANZOS, Karl Emil: Von Wien nach Czernowitz. In: Neue Freie Presse Nr. 3989 v. 3.10.1875; wieder aufgenommen in DERS.: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukovina, Südrußland und Rumänien. Bd. 1. Leipzig 1876, p. 93. 48 Cf. CORBEA-HOISIE, Andrei: Czernowitz: Der imaginierte »Westen im Osten«. In: LE RIDER, Jacques/ CSÁKY, Moritz/ SOMMER, Monika (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa. Innsbruck, Wien, München, Bozen 2002, pp. 79-98. 49 Die Paschawirtschaft und die Zollmalversationen in der Bukovina. In: Fremdenblatt Nr. 253 v. 12.9.1892 (Montagbeilage), p. 1; das ebenfalls konservative Wiener Tagblatt spielt seinerseits in dem Artikel »Das Duell des Landespräsidenten« auf die »orientalischen« Sitten des Landes an, als man über die »Ehrenaffäre« des Landespräsidenten mit dem Baron Mustatza berichtet; cf. Wiener Tagblatt Nr. 90 v. 30.3.1892. 50 Neuen Freien Presse Nr. 1035 v. 27.2.1892, p. 1. 51 Drei Wochen Korruption. In: Deutsche Zeitung Nr. 7449 v. 24.9.1892, p. 6. <?page no="43"?> Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle 43 wobei (nicht zufällig) der »ausgeprägt polnische Typus« 52 des Hauptangeklagten erwähnt wurde. Während das Fremdenblatt befand, dass »ein Grenzkordon […] sich ja leichter gegen die Cholera als gegen die Korruptionsseuche ziehen [lässt]« 53 , wurde die Neue Freie Presse noch deutlicher, als der Czernowitzer Korrespondent der Zeitung zu behaupten wagte, dass »dort, wo die Käuflichkeit der staatlichen Functionäre ein öffentliches Geheimnis ist und fast als etwas Selbstverständliches gilt, […] der Geist der Bevölkerung bei einem grossen Theile derselben vergiftet wird« 54 . Eine (später zurückgenommene) Überschrift in der Wiener Allgemeinen Zeitung, in der die Bukovina als »Land der Korruption« beschimpft wurde, 55 oder der Zorn des Präsidenten des Wiener Gerichtshofes, als er einen Angeklagten in jenem »Monster-Prozess« mit dem Satz »Wir sind hier nicht in der Bukovina! « apostrophierte 56 - was zu einiger Empörung nicht nur in der Czernowitzer Presse, sondern auch im Landtag führte 57 -, deuten auf eine Art mentaler »Aus- Grenzung« einer »weltabgeschiedenen« 58 Peripherie hin, deren »Grenzmoral« 59 scheinbar im Gegensatz zu den bürgerlichen Tugenden im »Westen« stand und »mit einem im Allgemeinen minder entwickelten Gefühl für sittliche Pflichten« 60 einherging. In diesem Zusammenhang taucht in erstaunlich vielen Kommentaren über die Bukovina der Gemeinplatz einer künstlich »verkehrten Welt« in einer Manier auf, die nahezu an die spätere literarische Rezzorische Diktion in der Schilderung des fiktionalen Reichs »Maghrebinien« heranreicht: »Ist Österreich das Land der Unwahrscheinlichkeiten, so könnte man die Bukovina das Land der Unmöglichkeiten nennen. Hier erweisen sich die natürlichsten [siehe die westlichen! ] Voraussetzungen als trügerisch. Was dem Staate, was dem Lande dienen soll, schlägt hier in das Gegentheil um.« 61 Diejenigen, die darin das Scheitern 52 Der große Zolldefraudationsprozeß. In: Neue Freie Presse Nr. 10075 v. 12.9.1892, p. 3. 53 Fremdenblatt Nr. 253 v. 12.9.1892 (Montagbeilage), p. 1. 54 Neue Freie Presse Nr. 3989 v. 3.10.1875. 55 Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 4319 v. 1.9.1892, p. 4. Gegenüber der heftigen Reaktion der ganzen Czernowitzer Öffentlichkeit, und um wahrscheinlich das Risiko eines Beleidigungsprozesses zu vermeiden, wird eine Woche später von Seiten der Redaktion erklärt, dass »die Überschrift jener Notiz nur in Folge eines Versehens im Blatte Aufnahme fand« (cf. Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 4324 v. 7.9.1892, p. 4). Zur Verbitterung der Presse in der Bukovina cf. den Leitartikel mit dem Titel »Eine Ehrenbeleidigung der Bukovina«. In: Bukowiner Rundschau Nr. 1183 v. 7.9.1892. 56 Bukowiner Rundschau Nr. 2211 v. 15.8.1896. 57 In einem einstimmigen Beschluss des Landtages, der von dem rumänischen Abgeordneten Zotta beantragt worden war, verlangte man vom Justizministerium die Protektion gegen die »verletzenden Angriffe« der Wiener Richter (cf. Ein Widerhall. In: Bukowiner Rundschau Nr. 1192 v. 25.9.1892, pp. 1-2). 58 Wien, 23. Februar. In: Neue Freie Presse Nr. 9878 v. 24.2.1892, p. 1. 59 Grenzmoral. In: Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 4329 v. 13.9.1892, p. 1. 60 Neue Freie Presse Nr. 1035 v. 27.2.1892, p. 1. 61 Die Zustände in der Bukovina. In: Neue Freie Presse Nr. 10091 v. 27.9.1892, p. 2. Eine symptomatische Übertragung dieses kritischen Urteils auf die Situation in Österreich bekommt man in einem Leitartikel (»Österreich und die Bukovina«) der liberalen Bukowiner Nachrichten zu lesen: »Auch das Unwahrscheinliche kann bei uns eintreten. Hat ja Österreich noch nicht aufgehört das Land der Widersprüche und der Scheu vor dem Erfolge zu sein, so daß Alles bei uns möglich ist«. Bukowiner Nachrichten Nr. 1109 v. 26.5.1892, pp. 1-2. <?page no="44"?> 44 Andrei Corbea-Hoisie der josephinischen Illusionen eines durch Österreich »aufgeklärten« Raumes im Mittelosteuropa zu erkennen glaubten, setzten die räumliche Distanz mit einer symbolischen Zeitentrückung gleich: Jener mondäne Zwischenfall, der zur Auflösung des einfach beschlussunfähig gewordenen Landtags führte, hätte sich zu einer Zeit abspielen können, »wo das ganze öffentliche Leben noch in Bällen, Festen und ähnlichen Hofereignissen bestand« und wo die Bevölkerung »trotz Staatsgrundgesetz und Staatsgrundrechten […] noch in vormärzlichständischen Anschauungen steckt[e]« 62 . Als einige Monate später wiederum die Gefahr der Obstruktion im neugewählten Landtag drohte, beeilte sich das regierungsnahe Fremdenblatt, den rebellierenden Abgeordneten das friedlich-»zivilisierte« Modell der Länder vor Augen zu führen, »in denen der Parlamentarismus seit langem eingebürgert ist« 63 . Gerade die vom Fremdenblatt mehrmals geäußerten Sorgen signalisieren eine vermutlich wachsende Aufmerksamkeit der Wiener Behörden gegenüber den Spannungen in der Bukovina, als deren Hintergrund die Öffentlichkeit eine beinah »exterritorialisierende« Rückständigkeit des hybriden sozialen Gefüges und die daraus resultierende Schwäche der staatlichen Strukturen diagnostizierte. Zwar gab es halbherzig beruhigende, von der Reichsratsmehrheit des »Eisernen Ringes« 64 inspirierte Akzente in der konservativen Presse, die wie immer darauf bedacht war, gegen die politischen Ansprüche der Czernowitzer Deutschliberalen anzugehen 65 und alle Parteien vor »nationalen Kämpfen« in einem »Grenzland« zu warnen, dessen Lage »das Aufwühlen von Leidenschaften, das Herausbilden von schroffen Gegensätzen« 66 nicht erlaube. Doch erwecken mehrere Gesten der Regierung den Eindruck, dass die Gegenargumente der liberalen Organe nicht ungehört geblieben waren: So war in der Neuen Freien Presse ein zentralistisches Plädoyer gegen eine, auf der Basis nationaler oder sprachlicher Erwägungen partikularistisch konstituierte Beamtenschaft der Länder 67 zu lesen; und in der Wiener Allgemeinen Zeitung kam die Angst vor einem im alten 62 Neue Freie Presse Nr. 3989 v. 3.10.1875. Ein ähnlicher Bezug auf die »Zeit des persönlichen Regimes« formuliert das konservative Wiener Tagblatt, in dem an die Adresse des als Freund der Liberalen verdächtigten Grafen Pace gerichteten bissigen Artikel »Der aufgewärmte Braten«. In: Wiener Tagblatt Nr. 64 v. 4.3.1892, p. 2. 63 Wien, 13. September. In: Fremdenblatt Nr. 255 v. 14.9.1892, p. 1. 64 Cf. RUMPLER, Helmut: Parlament und Regierung Cisleithaniens 1867 bis 1914. In: DERS. 2000, pp. 785-830. 65 Das regierungsnahe Wiener Fremdenblatt beschuldigte etwa die Czernowitzer Verbündeten der liberalen Vereinigten Linke, in der Provinz einen »lustigen und fröhlichen Nationalitätenkrieg« entfesseln zu wollen. Cf. Fremdenblatt Nr. 78 v. 18.3.1892. 66 Wien, 13. September. In: Fremdenblatt Nr. 255 v. 14.9.1892, p. 1. Zur die Einstellung der konservativen Organe Wiener Tagblatt und Konservative Correspondenz, die mehrmals auch deswegen mit großer Genugtuung von der rumänischen Gazeta Bucovinei in Czernowitz zitiert werden, cf. etwa Fremdenblatt Nr. 15 v. 20.2.1892. Graf Pace wird in der Konservativen Korrespondenz, der Zeitung des vom Grafen Hohenwart geführten Abgeordnetenklubs, direkt angegriffen, weil er »nicht zu rathen wußte, um eine Lappalie, die eigentlich doch nur seine Frau anging, daß eine politische Katastrophe mit vielleicht Jahrzehnte langem nationalen Unfrieden im Lande vermieden werden konnte«. Cf. Der aufgewärmte Braten. In: Wiener Tagblatt Nr. 64 v. 4.3.1892, p. 2. 67 Neuen Freien Presse Nr. 1035 v. 27.2.1892, p. 1. <?page no="45"?> Die imagologische Projektion einer Epochenschwelle 45 rumänischen Föderalismus verkappten Nationalismus zur Sprache, der für den »österreichischen Staatsgedanken« überhaupt »in einem Grenzlande eine ernste Gefahr bedeutet« 68 . So kam es auch, dass in der longue durée der Bukoviner Geschichte nicht die Entfernung des Grafen Pace aus seiner Funktion - die wahrscheinlich wegen der Brüskierung der rumänischen Mitglieder des konservativen Klubs des Grafen Hohenwart beschlossen worden war 69 - zählte, sondern die von Pace begründete, in Wien dennoch vorerst für zu gewagt gehaltene Politik einer allmählichen Anpassung an die Realitäten der bisher zu wenig beachteten nationalen Gegensätze. 70 Der Einschätzung von Helmut Rumpler, dass im Unterschied zu den österreichischen Liberalen, denen es nicht gelang, »den Weg der Nationalisierung zu vermeiden«, die Regierung des Grafen Taaffe »den Wandel von einer Elitegesellschaft zur Massengesellschaft erkannt [hatte]«, wird man auch in Anlehnung an das nord-moldauische Kronland folgen können. Denn wenngleich jene Regierung die Bildung nationaler Parteien für unausweichlich hielt, so verstand sie es doch gleichzeitig, mit allen Mitteln »die Reichsidee im Kern zu bewahren«. 71 Sehr rasch nach der scheinbaren Wiederherstellung des status quo in Czernowitz 1892 erwies sich die Zusammenarbeit der österreichischen Behörden mit einer sich selbst nunmehr national definierenden rumänischen Partei merklich schwieriger, 72 zumal sich deren wachsende Ressentiments gegen die Wiener Bestrebungen um Kompromisse mit den ihrerseits national gesinnten Ruthenen in einer immer radikaler klingenden Rhetorik Gehör verschafften. Die versöhnende Bukovinismus-Doktrin 73 indes, die das ideologische Erbe des Liberalismus mit dem föderalistischen Realismus à la Taaffe in der programmatischen Grundlage des übernationalen und bürgerlich gesinnten, wiewohl kurzlebigen »Freisinnigen Verbandes« der Rumänen, Ruthenen, Juden und Deutschen (1904-1905) vereinbaren sollte, 74 hatte gegenüber den wachsenden nationalen Konflikten in der 68 Aus Klein-Österreich. In: Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 4331 v. 15.9.1892, p. 1. In demselben Artikel werden die vermeintlichen großrumänischen Ziele der neuen Rumänischen Nationalpartei der Bukovina direkt angesprochen: »eine Partei […,] deren Ziele über die österreichischen Grenzpfähle hinausreicht«. 69 Die drei Rumänen des Grafen Hohenwart. In: Wiener Allgemeine Zeitung Nr. 4341 v. 27.9.1892, p. 1. 70 Darüber war die Wiener Öffentlichkeit bestens informiert; cf. etwa den Leitartikel »Die Wahrheit über die Bukovina«. In: Deutsche Zeitung Nr. 7276 v. 1.4.1892, p. 1: »Die Wiener maßgebenden Politiker sollten sich […] vor Augen halten, daß die thatsächlichen Verhältnisse der Bukovina anders liegen, als Ihnen von der Feudalpartei vorgespiegelt wird. Man möge nur an jener Stelle bedenken, daß der befürchtete ›Nationalitätenhader‹, der in der Bukovina seit einem Decennium nicht mehr bloß geheim herrscht, gerade durch eine Einflußnahme zu Gunsten der rücksichtslosen Hegemonen nur neue Nahrung und Kräftigung erhalten wird«. 71 RUMPLER 1997, pp. 486 ff. 72 Infolge der Landtagswahlen 1892 stellte der bisherige Landeshauptmann Freiherr von Wassilko, der sich als »langjähriger Führer der Rumänen« verstand, »die Umwandlung der früheren politischen Parteien in nationale Parteien« fest (cf. seine Erklärung in: Fremdenblatt Nr. 155 v. 3.6.1892, p. 1). 73 Zur kritischen Haltung der rumänischen Intelligenzija gegenüber der Bukovinismus-Doktrin cf. SBIERA 1899, pp. 333 f.; ebenfalls von nationalrumänischen Standpunkt behandelt auch Nistor die politischen Wurzeln dieser Doktrin (cf. NISTOR 1991, pp. 206-211). 74 Immerhin initiierte der Verband den parlamentarischen Ausgleich von 1909. Cf. LESLIE 1991. Der Bukoviner Rechtsanwalt und Journalist Philipp Menczel meinte dagegen in seinen Memoiren, dass <?page no="46"?> 46 Andrei Corbea-Hoisie Provinz keine Chancen und scheiterte endgültig im Zuge des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Monarchie. gerade die nationale Basis, auf der sich der Freisinnige Verband als »übernational« konstituiert hatte, das »nationale« Prinzip in der Bukowiner Politik definitiv durchgesetzt habe, so dass die infolge des Ausgleichs reformierte Wahlordnung den Landtag ausschließlich als Versammlung nationaler Kurien konzipierte. Cf. MENCZEL, Philipp: Trügerische Lösungen. Erlebnisse und Betrachtungen eines Österreichers. Stuttgart, Berlin 1932, pp. 66 ff. <?page no="47"?> SYMBOLISCHE GRENZKONSTRUKTIONEN <?page no="49"?> E DIT K IRÁLY (B UDAPEST ) Der Kongo fließt durch Ungarn 1 Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ Das Vorfinden von Grenzen … ist stets nur ein Wiederfinden … Markus Bauer, Thomas Rahn »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.« Mit dieser Definition wurde die Grenze in Simmels Soziologie (1908) aus dem Kreis der naturgegebenen räumlichen Phänomene in den Bereich des Sozialen verwiesen, und in der Folge etablierte sich die Grenze als selbstständiges Untersuchungsobjekt der Sozialwissenschaften. 2 Während jedoch Simmel Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Grenze noch als Umrahmung definierte, welche dem Staat ähnlich wie der Rahmen dem Kunstwerk Universalität und Kunstcharakter verleiht, 3 wurde die Grenze in den letzten Jahrzehnten immer mehr als ein Ort verstanden, der nicht nur trennt, sondern auch verbindet, der nicht nur abschottet, sondern auch unterwandert wird, als ein Ort, wo ein intensiver Austausch von kommerziellen, kulturellen und ideologischen Gütern stattfindet. 4 Grenzkulturen funktionieren auf zwei einander überlappenden und voneinander untrennbaren Ebenen: Kultur verbindet Menschen und Institutionen der Grenzgebiete mit Menschen und Institutionen in ihrem eigenen Staat und zugleich mit Menschen und Institutionen, die sich auf der anderen Seite der Grenze befinden. Während noch in den 1920er Jahren die Grenze als räumlicher Ausdruck der politischen Macht verstanden wird, rücken sozialgeschichtliche und kul- 1 Für die Idee des Titels danke ich Prof. Hans Medick. 2 SIMMEL, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. RAMMSTEDT, Otthein (Hg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992, p. 697. 3 »Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die beiden Funktionen, die eigentlich die zwei Seiten einer einzigen sind: das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und es in sich zusammenschließen.« SIMMEL 1992, p. 694. 4 In neueren Forschungen zur Grenze wird die in älteren Untersuchungen vorgegebene zentrierende Perspektive in Frage gestellt. In Sahlins’ Boundaries etwa wird die lokale Gesellschaft an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und aus diesem Blickwinkel auch der Vorgang der neuzeitlichen Staats- und Nationenbildung untersucht. Für Sahlins ist die Grenzbildung ein Jahrhunderte langer Prozess, in dem die lokalen Gesellschaften eine bedeutende Rolle spielen. Damit wird das herrschende Verständnis des Vorgangs moderner Staats- und Nationenbildung hinterfragt, wonach der Ausgangspunkt dieser Entwicklung das politische Zentrum ist. Cf. SAHLINS, Peter: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley: University of California Press 1989; MOTSCH, Christoph: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575-1805). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 164). <?page no="50"?> 50 Edit Király turanthropologische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte jene Rolle in den Vordergrund, die Grenzgebiete in der Konstruktion und Gestaltung von Staat und Nation spielen. 5 Wichtig wurde dieser Gegenstand auch für neuere Theorien der Moderne und Postmoderne, die gerade jene essenzielle Homologie zwischen Territorium, Kultur, Nation, Staat und Identität in Frage stellen, die das Konzept des Nationalstaates voraussetzt. Dieser Fragmentarisierung der Kultur trägt das Begriffspaar Raum (space) und Ort (place) Rechnung, das die Grundlage zu differenzierteren räumlichen Konzeptualisierungen in der kulturellen Anthropologie bietet. Raum wird dabei als eine konzeptuelle Karte betrachtet, die das soziale Leben ordnet und strukturiert. Er ist die allgemeine Vorstellung der Menschen davon, wo sich Dinge in physikalischer und kultureller Relation zueinander befinden sollten. In diesem Sinne ist Raum eine Konzeptualisierung jener imaginierten physischen Relationen, welche Kultur mit Bedeutung versehen. Ort hingegen bezeichnet jenen sozio-ökonomisch bestimmten Raum, wo Menschen leben. 6 Durch die Ausdehnung des Grenzbegriffes auf Topografien und Konstellationen verschiedener Art zeigt sich sein universeller Charakter. Dennoch gibt es kaum Versuche, die Grenze als kulturwissenschaftliches Thema zu erfassen. Zu diesen wenigen gehört die Aufsatzsammlung von Markus Bauer und Thomas Rahn von 1997, in welcher der modernen Tendenz, die Grenze zu einer Linie zu verdichten bzw. zu minimieren, die Notwendigkeit entgegengesetzt wird, diese Linie durch eine Art Imaginations- oder Erlebniszone kenntlich zu machen: »Um wirksam werden zu können, muß die Linie besetzt werden: im Raum durch Zeichenensembles, Rituale, Bilder und Bauten, im Kopf durch verschiedene Einbildungen und Verhaltenslehren.« 7 1 Überblick über den Aufsatz Gerade in diesem Sinne sollte auch die Bedeutung von literarischen Texten untersucht werden zu einer Zeit, als die Literatur noch ein Leitmedium war: Wie konstruieren sie Abgrenzungen? Welche Rolle spielt hierbei die Inszenierung von Grenzen und Grenzkonflikten? Trotz einer Reihe von Sammelbänden zum Thema Grenze, 8 die, dem neu geweckten Interesse an Grenzen nach dem Fall der Berliner Mauer entwachsen, 5 SAHLINS 1989, MOTSCH 2001. 6 GUPTA, Akhil/ FERGUSON, James: Beyond ›Culture‹. Space, Identity, and the Politics of Difference. In: Cultural Anthropology 7, H. 7 (1992), pp. 6-23; KEITH, Michael/ PILE, Steve (Hg.): Place and Politics in Identity. London: Routledge 1993; HASTRUP, Kirsten/ OLWIG, Karen Fog: Introduction. In: DIES. (Hg.): Siting Culture. The Shifting Anthropological Object. London: Routledge 1997. 7 BAUER, Markus/ RAHN, Thomas (Hg.): Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin: Akademie Verlag, 1997, p. 8. 8 FABER, Richard/ NAUMANN, Barbara (Hg.): Literatur der Grenze - Theorie der Grenze. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995; LAMPING, Dieter: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. <?page no="51"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 51 seit Mitte der neunziger Jahre erschienen sind, gibt es in der Literaturwissenschaft kaum Versuche, die Grenze als ästhetischen bzw. literarischen Gegenstand zu definieren. Die meisten Studien begnügen sich mit der einfachen thematischen Feststellung: Grenzliteratur sei Literatur über Grenzen. 9 Interessant wird die literarische Fragestellung freilich erst dort, wo der literarische Text nicht nur referenziell, sondern selbst als Praxis analysiert wird: Wie vielfältig trägt die Literatur zur Konstruktion von Grenzen bei, gerade auch dort, wo Grenzen fragwürdig geworden oder gar nicht erst vorhanden sind? 10 Im Folgenden untersuche ich, wie literarische Texte in einer multiethnischen Region zur Konstruktion von Grenzen und zur symbolischen Besetzung der Landschaft beitragen. Am Beispiel von literarischen Texten Adam Müller-Guttenbrunns (ab S. 62) und Ferenc Herczegs (ab S. 88) versuche ich zu ermitteln, wie in verschiedenen Literaturen dieser Region das Landschaftselement Donau in unterschiedliche Diskurse eingefügt worden ist und zur »Naturalisierung« ethnischer Abgrenzungen beiträgt. Es sollen also hauptsächlich die Werke zweier deutschstämmiger Autoren aus dem Banat untersucht werden, deren literarischer Rang und schriftstellerischer Weg sich zwar sehr unterschiedlich gestaltete (einer wurde ungarischer Politiker und angesehener Autor, der andere populärer deutscher Schriftsteller), die sich aber durch die räumliche Nähe ihrer Herkunft, durch die zeitliche Nähe ihrer Werke und durch ihre nationalistische Argumentationsweise für einen Vergleich anbieten. Dabei wird gezeigt, wie nicht nur ethnische Kategorien, sondern auch Klasse und Geschlecht verhandelt werden. Die Donau wird dabei mal als Verbindung oder als Grenze imaginiert und ideologisch-symbolisch mit dem Rhein, dem Kongo und dem Amazonas verglichen. Hierbei sind nicht allein die Texte, nicht nur ihre gegenseitige Wahrnehmung, sondern auch jene Strategien von Bedeutung, mit deren Hilfe sich beide im Feld ihrer jeweiligen nationalen Literatur ›positioniert‹ haben. Abgerundet wird die Darstellung durch die Rezeption dieser Donauentwürfe durch den jüngeren, ebenfalls ›schwäbischen‹ Schriftsteller Károly Molter. 9 Cf. LAMPING 2001 e. a. 10 Die diskursive Konstruktion der Sprachgrenze in der österreichischen Literatur ist ein beredtes Beispiel dafür Cf. SONNLEITNER, Johann: Deutscher Wald und Böhmisches Dorf. Die böhmisch-märischen Landschaften im Nationalitätenkonflikt. In: KASZYNSKI, Stefan/ PIONTEK, S ł awomir (Hrsg.): Die Habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens Warschau 1994. Warschau: Wydawnictwo Naukowe Uniw. im. Adama Mickiewicza, 1995; JUDSON, Pieter M.: Frontier Germans. The Invention of the Sprachgrenze. In: INGRAM, Susan/ REISENLEITNER, Markus/ SZABÓ-KNOTIK, Cornelia (Hg.): Identität, Kultur, Raum: Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nordamerika und Zentraleuropa. Wien: Turia und Kant 2001; MICHLER, Werner: Die Wacht an der Donau. Aspekte österreichischer Literatur im Prozeß der Nationalisierung. In: KLANSKA, Maria/ LIPNISKI, Krzysztof/ JASTAL, Katarzyna/ PALEJ, Agnieszka (Hrsg.) Grenzgänge und Grenzgänger in der österreichischen Literatur. Beiträge des 15. Österreichisch-Polnischen Germanistentreffens Kraków 2002. Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego 2004, pp. 87-98. <?page no="52"?> 52 Edit Király 2 Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie 11 Die Gleichung zwischen Territorium, Kultur, Nation, Staat und Identität wird besonders problematisch im Fall von Staaten, deren Grenzen sich nicht mit denen eines nationalen Projekts decken, d. h. wo mehrere Ethnien in einem Staat leben oder eine ethnische Gruppe in mehreren Staaten lebt, besonders wenn die Herrschenden zu einer anderen ethnischen Gruppe gehören als die Beherrschten. Eben dieser komplexe Fall lag in der österreichisch-ungarischen Monarchie vor. In diesem Kontext ist daher nicht nur das »nationale Erwachen« verschiedener Ethnien der Monarchie ohne eigene Staatlichkeit zu sehen, sondern auch die Nationalisierung der Deutschen in der Habsburger Monarchie. Die Irritation des deutschösterreichischen Nationalgefühls tritt in Bezug auf die territoriale Abgrenzung offen zu Tage; auf der einen Seite hatten es die Deutschösterreicher mit ›falschen‹, auf der anderen hingegen mit ›fehlenden‹ Grenzen zu tun. Die symbolische Errichtung und Begehung wie auch die symbolische Transzendierung von Grenzen sind in diesem Rahmen daher von besonderer Relevanz. Neben sozialen Medien, wie Schulvereinen, studentischen Verbänden u. a. m., entsteht ab den 1880er Jahren auch eine literarische Massenproduktion mit deutschnationaler, später auch völkischnationaler Widmung, die in Lyrikanthologien, Zeitschriften und nach der Jahrhundertwende immer mehr auch in Verlagsprogrammen zu Buche schlägt. 12 Als Terrain intensivierter »Schutzarbeit« boten sich besonders die gemischtsprachigen Peripherien der Monarchie an. Eine Identifizierung mit der imaginären Gemeinschaft der Deutschösterreicher forderte hier die Abgrenzung gegenüber anderen Ethnien und sorgte für wiederkehrende Konflikte. 2.1 Deutsche in Ungarn und im Banat Aus ähnlichen Gründen, nur unter anderen Bedingungen, erfuhren die Deutschen in Ungarn deutschnationale, später völkische Förderung. Denn hier unterstanden sie der Suprematie und den Magyarisierungssbestrebungen des ungarischen Staates. Obwohl sie die drittgrößte ethnische Gruppe des Landes bildeten, entwickelten sie im Vergleich zu anderen Nationalitäten erst relativ spät ein (deutsches) nationales Bewusstsein. Als Grund für diese späte Nationalisierung wird einerseits die »geographische Streulage« ihrer Wohnorte und ihre uneinheitliche Sozialstruktur, 13 andererseits ein relativ früh einsetzender und gerade 11 Zu der Beziehung Grenze und Modernisierung des Staates cf. HEINDL, Waltraud/ SAURER, Edith (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1867. Wien; Köln; Weimar: Böhlau Verlag 2000. 12 Cf. MICHLER 2004, p. 88. 13 GOTTAS, Friedrich: Die Deutschen in Ungarn. In: URBANITSCH, Peter/ WANDRUSZKA, Adam (Hg.): Die Österreichisch-Ungarische Monarchie (1848-1918), Bd. 3. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1980, pp. 340-410, hier p. 340. <?page no="53"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 53 die bürgerlichen Schichten erfassender Assimilationsprozess angegeben. 14 Eine nationale Intelligenzija, wie sie die rumänische, serbische, slovakische Ethnie aufzeigen konnte, hatten die ungarländischen Deutschen kaum. Die Ziele der sich hier erst nach der Jahrhundertwende formierenden deutschen nationalen Bewegung wurden daher stark von Deutschen und Österreichern mitbestimmt, und vom Koordinationszentrum Wien aus. 15 Institutionell ist hier in den 1880er Jahren vor allem der Schulverein, in den 1890er Jahren und besonders nach der Jahrhundertwende der in Berlin gegründete Alldeutsche Verband zu erwähnen, wobei besonders der letztere der deutschnationalen Bewegung in Ungarn finanzielle Hilfe leistete. 16 Dem Banat kommt in dieser Konstellation eine Sonderstellung zu, weil hier die deutsche Bevölkerung relativ dicht war. Die Zahl der Deutschen im Banat betrug 1880 bis 1900 346.842-410.359, d. h. 26-27 % der Gesamtbevölkerung des Königreichs Ungarn. Sie waren mehrheitlich Bauern, die in relativ geschlossenen Siedlungsgebieten lebten. Aus diesem Grund wurde das Banat am Ende des 19. Jahrhunderts der Zielpunkt geballter Anstrengungen, eine deutsche Nationalitätenbewegung ins Leben zu rufen. Die Politisierung der Banater Schwaben begann zuerst in Form von Vereinsbildungen, zunächst noch ohne politische Zielsetzungen. Als eine Vorstufe zur Entfaltung einer nationalpolitischen Bewegung wurde anfangs eine wirtschaftliche Organisation (Südungarischer Bauernverein 1891, später: Deutscher Bauernbund 1913) sowie die Gründung lokaler und regionaler Zeitungen (Ungarisch-Weißkirchner Volksblatt, Neue Werschetzer Zeitung, Großkikindaer Zeitung, Deutsches Tagblatt für Ungarn) angestrebt. Ende 1906 kommt es schließlich zur Gründung der Ungarländischen Deutschen Volkspartei. Wichtigste politische Themen dieser Partei waren das Schulgesetz, das den Magyarisierungsbestrebungen des Staates diente und die Bildung in der eigenen Muttersprache mehrheitlich unmöglich machte (vgl. als Schlussstein einer längeren Entwicklung: Lex Apponyi 1907), 17 und der Plan einer Wahlrechtsreform. Politische Organisation wie identitätsbildende Praktiken der Banater bzw. der Ungarndeutschen entfalten sich daher immer schon in der Relation von Zentren und Peripherien, im Aufeinanderwirken und in den Spiegelungen regionaler 14 PUKÁNSZKY, Béla: Német polgárság magyar földön, Niederhauser Emil bevezetőtanulmányával [Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden mit einer Einleitung von Emil Niederhauser]. Budapest: Lucidus Könykiadó [1940] 2000. 15 GOTTAS 1980, 340 ff. 16 Bei der Frage, ob diese Bewegung nicht überhaupt ferngesteuert war, stellt Günter Schödl fest, dass der Alldeutsche Verband in der politischen Organisation der Ungarndeutschen zwar eine wichtige Rolle gespielt hat, jedoch ohne lokale Kräfte kaum hätte erfolgreich werden können. Cf. SCHÖDL, Günter: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn 1890-1914. Zur Geschichte des deutschen »extremen Nationalismus«. Frankfurt/ Main: Peter Lang 1978 (= Erlanger historische Studien 3). 17 Cf. PUTTKAMER, Joachim v.: Nationale Peripherien. Strukturen und Deutungsmuster im ungarischen Schulwesen 1867-1914. In: HÁRS, Endre/ MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ REBER, Ursula/ RUTHNER, Clemens: Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen; Basel: A. Francke 2006, pp. 97-110. <?page no="54"?> 54 Edit Király und - zumindest ungarischer und deutscher - nationaler Öffentlichkeiten. Das Zusammenwirken und die Konkurrenz dieser verschiedenen Anliegen bilden das Thema der hier folgenden Darstellung. 2.2 Assimilation und Abgrenzung Die Assimilation großer Teile der deutschen Bevölkerung im Ungarn des 19. Jahrhunderts ist ein anhaltender Prozess, der in Folge des Ausgleichs von 1867 weiter vorangetrieben wird. Ein wichtiger Kontext ist diesbezüglich die Entwicklung des ungarischen Staates. Die erhöhte Geschwindigkeit kultureller und technischer Veränderung, die Entstehung einer größeren und stärker zentralisieren Verwaltung bzw. Bürokratie und parallel dazu die Nationalisierung großer Bereiche des sozialen Lebens (Schulgesetze, Amts- und Protokollsprache etc.) beeinflussten die Lebensweisen der ungarndeutschen Bevölkerung und ihre ethnische Abgrenzung erheblich. Dabei scheinen zwei gegenläufige und zeitlich verschobene Prozesse von Relevanz zu sein: einerseits die Assimilationsfreudigkeit großer Teile des ungarndeutschen Bürgertums, 18 die vor allem die Eliten erfasste; andrerseits setzte um die Jahrhundertwende eine Gegenbewegung ein, die darauf abzielte, die deutsche Minderheit als nationale Minderheit politisch zu organisieren und ihr zugleich eine eigene wirtschaftliche Organisation und Struktur zu verschaffen. Sowohl der Assimilationsprozess der deutschen Bürger als auch die Gegenbewegung lässt sich als ein Zusammenspiel der lokalen Gesellschaften (Eliten) und der nationalen Zentren (Eliten) beschreiben. 2.3 Ethnische Verhältnisse im Banat Als eines der ethnisch am meisten durchmischten Gebiete der Monarchie ist das Banat der Jahrhundertwende denkbar ungeeignet, als Teil eines einheitlichen nationalen Raumes zu figurieren. Die Sonderstellung des Gebietes erklärt sich aus seiner Grenzlage am südöstlichen Rand des Königreichs Ungarn. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es hauptsächlich von Deutschen, Serben, Rumänen und Ungarn bewohnt, doch keine einzige Ethnie konnte eine eindeutige Mehrheit für sich beanspruchen. Die ethnischen Verhältnisse hatten sich im 18. Jahrhundert herausgebildet, nachdem es von den Osmanen zurückerobert worden war. Die zum Großteil versumpften Gebiete wurden mehrheitlich durch deutsche, in geringerer Zahl durch spanische, französische und italienische Siedler wieder landwirtschaftlich nutzbar gemacht. Es wurde damals auch die Banater Militärgrenze (das »Konfin« aus lat. »confinium militare«) eingerichtet, die mit Serben und Rumänen besiedelt wurde. Sie erstreckte sich von der Theißmündung 18 Cf. PUKÁNSZKY 2000. <?page no="55"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 55 längs der unteren Donau bis Or ș ova/ Orsova und bildete eine so genannte »nasse Grenze« 19 . Ursprünglich gegen die Vorstöße des osmanischen Reiches errichtet, wurde zwei Jahre nach dem ›österreichisch-ungarischen Ausgleich‹ 1867 ihre Auflösung und Einverleibung in das Königreich Ungarn beschlossen. 20 Damit beginnt auch hier die Magyarisierungspolitik in Verwaltung und Schulwesen, die zuerst unter den Serben und Rumänen, um die Jahrhundertwende aber auch unter den Deutschen auf Widerstand stieß. 3 Müller-Guttenbrunn, der literarische Nationalisierer des ›Banater Raums‹ Nach dem Ausgleich und vor allem ab den 1880er Jahren kommt in Ungarn der symbolischen Inbesitznahme des Raumes große Bedeutung zu. Seien es die Eliminierung von Denkmälern, die zu Ehren der Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1848 von den Kaiserlichen errichtet worden waren (wie etwa das Henzi-Denkmal in Budapest) oder die Kampagnen gegen deutsche Theater in Budapest und in Temeschburg oder Temeschwar/ Temesvár/ Timi ş oar ă / Temešvar oder die Ungarisierung von Ortsnamen - alles zielt darauf ab, den öffentlichen Raum symbolisch und praktisch in Besitz zu nehmen. Selbst die Ungarisierung des Familiennamens war häufig mit dem symbolischen Eintritt in die größere Öffentlichkeit verbunden - als wäre es eine Art Initiation, wie im Falle Ferenc Herczegs, der die Hauptperson des übernächsten Abschnitts ist. 21 In Analogie dazu stehen auch die Versuche, den Raum diskursiv zu besetzen, was u. a. durch die Literatur geleistet wird. Damit sind aber auch jene Anliegen formuliert, die in der sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etablierenden banaterdeutschen Heimatliteratur eine allgemeine und kanonfähige Form erlangen. Das ländliche Leben mit seinem Alltag und seinen Festen, die Geschichte der Schwabenzüge, die Schulerfahrungen der Bauern- und Handwerkersöhne und vor allem und immer wieder: das Entstehen des Deutschtums aus den vielen in sich geschlossenen Dörfern sowie die symbolischen und sozialen Eingriffe des ungarischen Staates in dieses dörfliche Leben - das sind die thematischen Blöcke dieser Literatur, die auch 19 WOLF, Josef: Die Banater Militärgrenze, ihre Auflösung und Einverleibung in das Königreich Ungarn. Inauguraldissertation, eingereicht zur Erlangung der Doktorwürde der philosophischen Fakultät der Leopold Franzens-Universität zu Innsbruck 1947, p. 7. 20 Cf. Die k. k. Militärgrenze. Beiträge zu ihrer Geschichte. Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst 1973 (Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums [Militärwissenschaftliches Institut] in Wien). 21 Ein berühmtes Beispiel hierfür ist jener János Haberhauer, der, als er 1897 zum Bürgermeister von Budapest gewählt wurde, aus Dankbarkeit seinen Namen auf Halmos änderte. Cf. PUKÁNSZKY p. 83. Franz Herzog entscheidet sich bei der Herausgabe seines ersten Romans auf Anraten eines Schriftstellerkollegen, den ungarischen Namen Herczeg auf den Buchdeckel setzen zu lassen. Der Name Herczeg Ferenc wird aber erst bei seinem Amtsantritt als Abgeordneter im ungarischen Parlament offiziell, als die Parlamentskanzlei den Namen des Werschetzer Abgeordneten ohne seine Befragung ungarisiert. Cf. HERCZEG, Ferenc: Emlékezései. A várhegy. A gótikus ház [Lebenserinnerungen. Der Burgberg. Das gotische Haus]. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó 1985, pp. 225 f. <?page no="56"?> 56 Edit Király die literarische Tätigkeit des in Wien ansässigen Schriftstellers, Publizisten und »suspendierten Theaterdirektors« Adam Müller-Guttenbrunn bestimmen. Seine Heimat- und historischen Romane, Erzählungen, Feuilletonsammlungen und eine Anthologie 22 fungieren als Gründungstexte einer literarischen Tradition. Im Unterschied zur lokalen und regionalen Presse entsteht Adam Müller-Guttenbrunns banaterdeutsche Literatur jedoch nicht im Rahmen regionaler Öffentlichkeit, sondern in einer der großen Werkstätten des deutschen Buchmarkts. Dieser Umstand dürfte auf das komplexe räumliche und institutionelle Umfeld hinweisen, welches die Nationalisierung des Banater Raumes impliziert. Denn die Bedeutung von symbolischen Räumen und Grenzen für die nationale Identitätsbildung wird nur in konkreten lokalen Zusammenhängen analysierbar. Neben der Frage nach den diskursiven Strategien der Heimatliteratur ist es sinnvoll, auch einen sozialgeschichtlichen Fokus auf ihre literarischen Institutionen zu legen: Welche politischen Konstellationen, literarischen Institutionen bzw. Verlagsprogramme brachten die massenweise Zirkulation der Heimatkunst hervor? Welche gesellschaftspolitischen Problemlagen reflektierten ihre antimodernen Positionen? Welche räumlichen Muster bot die banaterdeutsche Heimatliteratur an? Wie wird darin die Banater Landschaft zum Träger (deutsch-)nationaler Bedeutungen? 3.1 Historische und literaturhistorische Bewertungen von Adam Müller- Guttenbrunns literarischem Schaffen Für die historische wie literaturhistorische Bewertung von Adam Müller-Guttenbrunns literarischem Schaffen ist seine Tätigkeit als banaterdeutscher Schriftsteller ausschlaggebend. Während ihm in Darstellungen über das österreichische literarische Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 23 meistens die Rolle des Episodisten zukommt, wird seine schriftstellerische, journalistische und politisch-praktische Tätigkeit meist über sein späteres Werk als Teil (wenn nicht überhaupt als Anfang) der banaterdeutschen Literatur zu einem Lebenswerk stilisiert. 24 Doch eine genauere Überprüfung der Fakten lässt eine solche, in der 22 Romane: Götzendämmerung (1907), Die Glocken der Heimat (1912), Meister Jakob und seine Kinder (1918), Der große Schwabenzug (1913), Barmherziger Kaiser! (1916), Joseph der Deutsche (1917). Erzählungen: Der kleine Schwab (1909). Feuilletonsammlung: Deutsche Sorgen in Ungarn (1918) u. a. Anthologie: Schwaben im Osten. Ein deutsches Dichterbuch aus Ungarn (1911). 23 Etwa in Zusammenhang mit der Anthologie Trost- und Trutzbüchlein der Deutschen in Österreich oder mit seiner literaturpolitischen Kampfschrift Die Lectüre des Volkes im Kontext der Substitutionsdebatten cf. MICHLER 2004, pp. 87-98; KNÖFLER, Markus: Die Schmach dieser bauernfeldpreisgekrönten Zeit. Literaturpreise. In: AMANN, Klaus/ LENGAUER, Hubert/ WAGNER, Karl: Literarisches Leben in Österreich 1848-1890. Wien: Böhlau Verlag 2000 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 1), pp. 250-318, p. 269. 24 Cf. MILLEKER, Felix: Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben und sein Dichten. Grossbetschkerek <?page no="57"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 57 Sekundärliteratur z. T. noch immer gängige Identifizierung von Banater Heimatschriftstellern und Banat keineswegs zu. Im Folgenden werden drei literatursoziologische Aspekte von Müller-Guttenbrunns Schaffen genauer betrachtet, die bisher in der Literatur zu seiner Person nur punktuell Beachtung gefunden haben und nie in einen systematischen Zusammenhang gestellt worden sind. Es geht hierbei erstens um den Umstand, dass er seine banaterdeutsche Heimatliteratur von Wien aus schrieb; zweitens darum, dass er dies auf Nachfrage oder zumindest im Kontext österreichischer und deutscher Verlagspläne tat, und drittens um das Publikum seiner Heimatromane, das vor dem Ersten Weltkrieg größtenteils aus Deutschen bzw. Deutsch- Österreichern und nur in geringem Maße aus Banaterdeutschen bestand. Neben einer längeren Tradition von literaturhistorischen Darstellungen, die Müller-Guttenbrunn seinen eigenen Selbstdarstellungen entsprechend als den »Erzschwaben« oder auch als den banater »Rosegger« oder einfach als banaterdeutschen Heimatschriftsteller verstehen, ist erst in jüngster Zeit eine Lektüre gegen den Strich, eine entmythisierende Darstellung des Lebenslaufs wie des Lebenswerkes von Dieter Kessler versucht worden. Seine notwendigerweise kurze Darstellung ist die erste, die keine Vereinheitlichung von Müller-Guttenbrunns Gesamtlaufbahn anstrebt. 25 Stattdessen arbeitet er genau jene Widersprüche in Müller-Guttenbrunns Tätigkeit heraus, die sich mit den oben angeführten Etiketten schwer in Einklang bringen lassen, so etwa, dass Müller-Guttenbrunn in Wien lebt und arbeitet oder dass seine Werke an österreichischen Vorbildern geschult sind. Selbst die Bewertung relativ geringfügiger biografischer Fakten scheint von der Gesamtbewertung des Lebenswerkes abzuhängen. Während in den meisten Kurzdarstellungen von Müller-Guttenbrunns Lebensweg als Grund für dessen Schulabbruch in Temeschwar/ Timi ş oar ă (der Selbstdarstellungen des Autors folgend) die Einführung der ungarischen Unterrichtssprache angegeben wird, 26 behauptet Kessler, leider ohne seine Quellen anzuführen, dass Adam Müller ein schlechter Schüler war, der selbst in seinen Lieblingsfächern Deutsch und Religion nur ein Genügend bekam. 27 (Pleitz) [Veliki Be č kerek] 1921; HOLLINGER, Rudolf: Adam Müller-Guttenbrunn, der Erwecker des Donaudeutschtums. Vortrag. Temeschburg [Timişoară] 1942; ROGL, Ludwig: Der Anteil Adam Müller-Guttenbrunns am völkischen Erwachen des Donauschwabentums. Brünn [Brno] 1943 (Südosteuropäische Arbeiten 33); WERESCH, Hans: Adam Müller-Guttenbrunn. Sein Leben, Denken und Schaffen. 2 Bde. Freiburg i. Br. im Selbstverlag des Verfassers 1975. 25 Cf. KESSLER, Dieter: Die Deutschen Literaturen Siebenbürgens, des Banates und des Buchenlandes von der Revolution bis zum Ende des ersten Weltkrieges (1848-1918). Wien: Böhlau 1997. 26 »Der begabte Knabe wurde vollends in eine Außenseiterrolle gedrängt, als er nach der Umstellung auf die magyarische Unterrichtssprache die dritte Klasse des Temesvarer Piaristengymnasiums nicht bestand […].« SENZ, Ingomar: Die nationale Bewegung der ungarländischen Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Alldeutschtum und ungarischer Innenpolitik. München: R. Oldenbourg 1977 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 30), p. 139. 27 »Müller ist ein ungewöhnlich fauler Schüler, der es selbst in seinen beiden besten Fächern, Deutsch und Religion, nur zu einem ›genügend‹ bringt.« KESSLER 1997, p. 449. <?page no="58"?> 58 Edit Király Eine kritische Analyse der Rezeption von Müller-Guttenbrunns Werken ist schon von mehreren Seiten versucht worden, um die Legende von Müller- Guttenbrunn als »Volkserwecker« der Schwaben zu hinterfragen. Vor allem in Zusammenhang mit Müller-Guttenbrunns erstem »Banater« Kulturbild, der Götzendämmerung, ist von Eva V. Windisch und Günther Schödl bemerkt worden, dass jene »in Südungarn […] zunächst keinerlei Beachtung fand und erst eine Verteilungsaktion des ADV [Alldeutschen Verbandes], der damit lange zögerte, das Interesse belebte. […] Die hohen Umsatzziffern der Müllerschen Werke [müssen daher] zum großen Teil auf die starke Nachfrage in deutschnationalen Kreisen a u ß e r halb Ungarns« zurückgehen. 28 3.2 Das literarische Feld und seine Akteure: Müller-Guttenbrunn und seine Verlage Im Folgenden möchte ich Bourdieus Feldbegriff auf die Institution der Literatur anwenden, wobei Felder, als »Mikrokosmen gesellschaftlicher Praxisformen«, durch die ungleichmäßige Distribution von Fertigkeiten und Machtressourcen strukturiert sind. Die »aufeinander bezogene[n] soziale[n] Positionen« 29 des literarischen Feldes bedeuten etwa die Möglichkeit der Veröffentlichung und Zirkulation von Texten einerseits und die sich in Kunstwerken und ästhetischen Stellungnahmen manifestierenden Diskurspositionen andererseits. Müller-Guttenbrunns Heimatromane sind von Anfang an das Produkt eines Zusammenspiels zwischen Verlag(en) und Autor. Das erste Buch über das Banat und die Lage der Deutschen in Ungarn, Götzendämmerung, schrieb Müller-Guttenbrunn im Auftrag des Akademischen Verlags in Wien. Dr. Jakob Hollitscher, der Leiter des Verlages, forderte Müller-Guttenbrunn am 1. April 1907 auf, einen Roman zu schreiben, der das ungarische Problem behandeln sollte. 30 Doch der Akademische Verlag spielte nur eine vorübergehende Rolle in der Gestaltung von Müller-Guttenbrunns Karriere als Heimatautor, denn der Verlag ging trotz des 28 SCHÖDL 1978, p. 146, cf. WINDISCH, V. Éva: Egy század eleji kulcsregény és politikai háttere. Ferencz Ferdinánd és Adam Müller-Guttenbrunn [Ein Schlüsselroman der Jahrhundertwende und sein politischer Hintergrund. Franz Ferdinand und Adam Müller-Guttenbrunn]. In: Filológiai Közlöny 3-4 (1966), pp. 446-462, p. 460 ff. 29 SCHWINGEL, Markus: Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie Pierre Bourdieus in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis- und Kultursoziologie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22, H. 2 (1997), pp. 119-151, hier p. 119. 30 »Den Anstoß dazu gab der Leiter des Akademischen Verlags in Wien, Dr. Jakob Hollitscher«, der Müller Guttenbrunn am 1. April 1907 aufforderte, »einen Roman zu schreiben, der das ungarische Problem behandeln sollte.« WERESCH 1975. Bd. 2. p. 17. Welcher Natur Dr. Hollitschers Erwartungen gewesen sein mussten, darüber geben Müller-Guttenbrunns Tagebücher Auskunft: »Reise am 12. Mai für einige Tage nach Ungarn, um unangenehme Eindrücke für meinen Roman zu sammeln.« Tagebuch ohne Datum zw. dem 24.4. und dem 18.5.1907, cf. MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Der Roman meines Lebens. Aus dem Nachlaß zusammengestellt von seinem Sohne. Leipzig: L. Staackmann Verlag 1927, p. 267. <?page no="59"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 59 Erfolgs der Götzendämmerung Pleite. 31 Wer aus Müller-Guttenbrunns einzelnen Romanen und Kulturbildern die Banaterdeutsche Literatur machte, 32 war der Verlag Alfred Staackmann in Leipzig. Dieser Verlag, dem von Karl Wagner neben einem forcierten Deutschnationalismus auch »vehementer Antimodernismus mit häufig antisemitischer Schattierung« 33 bescheinigt wird, war für »die massenhafte Verbreitung völkisch-nationaler Literatur aus Österreich« 34 verantwortlich. Denn, so Karl Wagner: Institutionell gesehen repräsentiert der Staackmann-Verlag die Gegenposition zu S. Fischer, der die von den österreichischen ›Staackmännern‹ bekämpfte Literatur der Wiener Moderne verlegte. 35 Der forcierte Deutschnationalismus präsentierte sich im Verlagsprofil allerdings als eine Vielfalt der »Stämme und Landschaften«, die in den Leitbildern Peter Rosegger (für den österreichischen Süden) und Friedrich Spielhagen (für den deutschen Norden) ihre Parnasslinie erhielt. Doch der ›Vielfalt der Stämme und Landschaften‹ eignete eine weitgehende ideologische Konvergenz. Der programmatische Antimodernismus des Verlags, der u. a. in der grundsätzlichen Ablehnung von Autorinnen und sozialen Thematiken seinen Ausdruck fand, paarte sich jedoch mit den »fortgeschrittensten ökonomischen Organisationsformen«, Werbe- und Verkaufmethoden. 36 Die Staackmann-Linie kommt Müller-Guttenbrunn durchaus entgegen. Der geborene Banaterdeutsche, der seit frühester Jugend in Wien und zeitweise in Linz lebt, hat sich in den 1880er und 1890er Jahren in Wien durch seine kulturpolitischen Streitschriften und Theaterkritiken, die eine Vorliebe für das Bodenständige und Klassische bekunden, einen Namen gemacht. In der »scharfen politischen Konkurrenz«, die sich um die Lektüre und Unterhaltung der Unterschichten herausbildet, stimmt er für volkstümliche Autoren und vertraute »auf eine Kontrafaktur der Kolportageliteratur in Form und Distribution« 37 . Seine diesbezügliche Position macht ihn geeignet, die Führung von zwei Theatern in Folge zu übernehmen, die das Feld zwischen Burgtheater und gewöhnlicher 31 Dieter Kessler interpretiert die Beziehung zwischen Autor und Verlag über ein eindeutig pekuniäres Modell: »Die ständigen Krisen Ungarns […] sorgen für großes publizistisches Echo in der Welt. Insofern ist es für einen in Geldnöten steckenden Verlag naheliegend, ein Werk über die ungarische Krise in Auftrag zu geben und sich dazu eines in Geldnöten lebenden Autors zu versichern, der schnell zu schreiben vermag und dessen journalistische Fähigkeiten beachtlich sind […].« KESSLER 1997, p. 454. 32 Müller-Guttenbrunn schrieb am 29.6.1909 in sein Tagebuch, nachdem er die Erzählung »Der kleine Schwab« an Staackmann geschickt hat: »Staackmann hat mich neuerlich eingeladen auf Intervention Roseggers. Wenn er Verständnis hat und die ›Götzendämmerung‹ auch übernimmt, haben die Banater Schwaben plötzlich eine Literatur. Denn darauf läuft es hinaus, das ist der Sinn und Zweck meiner Bücher, diese Schwaben in die Literatur einzuführen.« MÜLLER-GUTTENBRUNN 1927, p. 274. 33 WAGNER, Karl: Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen: Max Niemeyer 1991, p. 302. 34 Cf. WAGNER 1991, p. 297. 35 Cf. ibid., p. 307. 36 Ibid., p. 306. 37 Cf. MICHLER, p. 124 f. <?page no="60"?> 60 Edit Király Unterhaltung abdecken sollen. Als Direktor zuerst des Raimund-, später des Kaiser-Jubiläumstheaters versucht er das Programm eines deutschen Volkstheaters zu verwirklichen, ausländische oder jüdische Autoren sind dabei verpönt. In der Zuspitzung des Kulturkampfes im Wien der Jahrhundertwende sorgt seine exponierte Stelle an der Spitze eines Theaters 38 mit antisemitischem Ruf für seine Zuordnung zum antisemitischen Lager und auch für zeitweiligen Boykott seitens der liberalen Presse. Damit rundet sich vorerst eine Laufbahn ab, die im polarisierenden Klima der Wiener Jahrhundertwende für viele deutschnational Gesinnte als charakteristisch gelten kann. Als er an der Spitze des Kaiser-Jubiläumstheaters abgelöst wird und in Geldnot gerät, erlebt er zwischen 1903 und 1908 den Tiefpunkt seiner Laufbahn. In dieser existenziellen Krise entdeckt er für sich das Banat als literarisches Revier und zugleich auch den Kanonisierungseffekt der banaterdeutschen Heimatliteratur. 3.3 Literarische Darstellungen des ländlichen Lebens: Das Genre Aus der Tradition der Dorfgeschichte hervorgegangen, machte sich die Heimatliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Dorf und dessen Umgebung zum Thema, die in scharfem Kontrast zu den städtischen Verhältnissen als ein überschaubares Sozialmodell vorgestellt wurden. 39 Die Darstellung des bäuerlichen Lebens lässt sich dabei kaum von ideologischen Positionen trennen; selbst Autoren, die dem Bauernstand entstammten, waren in ihren Schilderungen des ländlichen Lebens durchaus literarischen und ethnografischen Vorbildern verpflichtet. 40 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich dabei mehrere Perspektiven unterscheiden, aus denen die bäuerliche Lebenswelt betrachtet wurde. Diese reichen von der liberalen Auffassung, nach der das Leben der Bauern als Veränderbares und als zu Veränderndes galt, bis zur Sichtweise, welche die »Sitte des Volkes« als eine politische Macht verstand und sie zu einem ständisch-patriarchalischen Gesellschaftsmodell ausdehnen wollte, mit dem Ziel, dem Zersetzungsprozess des Fortschritts Einhalt zu gebieten. 41 Eine Verschiebung vom einen zum anderen Standpunkt lässt sich nicht nur in der gesamten Heimatliteratur, sondern auch innerhalb der jeweiligen Œuvres beobachten. Tendenziell bildet die Provinzliteratur der Jahrhundertwende mit ihren konser- 38 Es gab in seinem Vertrag tatsächlich den Punkt der »Judenfreiheit«. Müller-Guttenbrunn bezeichnete sich nach dem Misserfolg seines Theaters voller Selbstmitleid als den »Don Quijote des Antisemitismus«. MÜLLER-GUTTENBRUNN 1927, p. 273. 39 Cf. ROSSBACHER, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart: Klett 1975 (Literaturwissenschaft - Gesellschaftswissenschaft 13). 40 Cf. WAGNER 1991. 41 Cf. ibid., p. 104. <?page no="61"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 61 vativen ästhetischen wie sozialen Idealen einen Gegenentwurf zur literarischen Moderne. In Adam Müller-Guttenbrunns Heimatromanen bzw. -erzählungen, 42 denen sein erstes, den politischen Verhältnissen in Ungarn im Jahre 1907 gewidmetes Buch Götzendämmerung nur sehr bedingt zuzurechnen ist, werden viele Muster dieser Literatur nachgebildet: die Nähe von Kulturbzw. Sittenbildern und romanhafter Darstellung etwa oder Oralität als Stil, indem die »Signale mündlichen Erzählens in der Schrift [als] Vertrautheitsgesten« fungieren und eine »Gemeinsamkeit zwischen Erzähler und seinen Zuhörern« simulieren, 43 oder die in Topografien wieder erkennbaren Ordnungsmuster des ländlichen Lebens. Auch bei ihm dienen landschaftliche Grenzen dazu, bäuerliche Lebensformen von anderen, fremden Einflüssen zu trennen. Doch im Gegensatz zu Roseggers Darstellungen sind die Gefährdungen, die in seinen Romanen durch die Aufhebung oder das Durchlässig-Werden dieser Grenzen entstehen, nicht sozialer oder ökonomischer, sondern identitätspolitischer Natur. Die Auflösung herkömmlicher bäuerlicher Lebens- und Produktionsformen wird hier nicht reflektiert, Müller-Guttenbrunn stellt das Leben der schwäbischen Bauern und Handwerker durchwegs als Erfolgsmodell dar. In den banaterdeutschen Heimatromanen Müller-Guttenbrunns spielen bäuerliche Figuren zwar eine wichtige Rolle, doch entwickelt sich die Handlung meistens aus ihrer Berührung mit gebildeten Leuten (meistens Vertreter der Dorfintelligenz, Lehrer, Pfarrer, oder auch Ingenieure), manchmal auch aus dem Konflikt zwischen Bauern und Handwerkern - so etwa in Meister Jakob und seine Kinder. Dieser Roman, der sich am intensivsten mit bäuerlichen Lebensformen und Konflikten beschäftigt und Müller-Guttenbrunns Herkunftsgeschichte erzählt, zeichnet ein erschreckendes Bild von diesem Milieu. Doch diese kritische Darstellung bleibt die Ausnahme. In den meisten Romanen wird der Bauer zum Kronzeugen in einem ideologischen Kampf um die Bodenständigkeit. Die Hinweise auf den strengen Traditionalismus des Bauernstandes, auf seine Zuständlichkeit und auf seine immer gleichen Beschäftigungen dienen als Kontrapunkt zu den als Maskerade und Verkleidung versinnbildlichten Lebensformen der städtischen Assimilation und des damit verbundenen Identitätsverlusts. Die Vertreter der Intelligenz sind meistens für die Aufrechterhaltung der ethnischen Tradition zuständig. 42 Damit sind vor allem Der Kleine Schwab. Abenteuer eines Knaben, Die Glocken der Heimat und Meister Jakob und seine Kinder gemeint. 43 WAGNER 1991, p. 221. <?page no="62"?> 62 Edit Király 3.4 Der politische Wert banaterdeutscher Kulturbilder und Heimatromane: die LeserInnen Die Leser von Müller-Guttenbrunns Banater Heimatromanen lassen sich weit weniger genau ermitteln als die Ziele und Verkaufsmethoden ihres Verlages. Die Rezeption ist lediglich im Falle der Götzendämmerung eingehender untersucht worden, was mit deren politischer Bedeutung zu erklären ist. Denn genau an dieses Buch war das Bild von Müller-Guttenbrunn als »Volkserwecker« in erster Linie gekoppelt - eine Verbindung, die hauptsächlich in den hohen Auflagen (fünf in einem Jahr) 44 und in der dem Buch zuteil gewordenen »hohen« Aufmerksamkeit 45 begründet lag. Inwiefern jedoch das Buch gerade von Banaterdeutschen gelesen wurde, lässt sich kaum eruieren. Der Historiker Ingomar Senz, der in seinem Buch über Die nationale Bewegung der ungarländischen Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg dem Kapitel über Adam Müller-Guttenbrunns Götzendämmerung den Titel »Literarische Aufrüttelung« gegeben hat, räumt darin selbst ein, dass die Schlussfolgerung auf die große politische Wirksamkeit des Buches nur indirekt, aus seiner Fähigkeit oder noch mehr: aus den Annahmen über seine Fähigkeit aufzurütteln, gezogen werden kann. Günther Schödl hingegen bezeichnet diese Annahmen schlichtweg als »propagandistisch« 46 und hebt hervor, dass der Roman gerade in Südungarn zunächst keinerlei Beachtung fand »und erst eine Verteilungsaktion des ADV [Alldeutschen Verbandes], der damit lange zögerte, das Interesse belebte. Die hohen Umsatzziffern der Müllerschen Werke gehen offenbar zum großen Teil auf die starke Nachfrage in deutschnationalen Kreisen außerhalb Ungarns zurück.« 47 Ein ähnliches, aber noch differentierteres Bild zeichnet die ungarische Forscherin Éva V. Windisch, 48 die in ihrem Aufsatz über Müller-Guttenbrunns Götzendämmerung die Meinung vertritt, dass sich vor dem Ersten Weltkrieg kein breiteres ungarndeutsches Publikum für diese und andere Werke Müller-Guttenbrunns herausgebildet hatte und diese lediglich in Deutschland und Österreich ein bedeutendes Lesepublikum anzogen. 49 »Jene Romane des Verfasser, die 44 Bei den Auflagen zwei bis fünf handelt es sich »mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um reine Titelauflagen«. Cf. KESSLER 1997, p. 455. 45 Die ungarische Regierung richtete eine Note an die österreichische in Angelegenheit des Buches. Andererseits wurde schnell bekannt, dass dem Thronfolger Franz Ferdinand das Buch »riesig gefallen« habe. Cf. MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Tagebucheintragungen vom 6.12.1907. In: DERS.: Roman meines Lebens, p. 269. Um seine Verbreitung zu Beeinträchtigen, wurde dem Buch in Ungarn das Postdebit entzogen. Cf. SENZ 1977, p. 153. 46 SCHÖDL 1978, p. 146. 47 Ibid. 48 Cf. WINDISCH 1966. 49 »Ein breiteres Publikum bildet sich aber nicht heraus; die ungarländischen Deutschen stehen meistens noch nicht auf der Stufe des Nationalitätenbewusstseins, wo sie auf diese Romane Anspruch erheben könnten. Sein wahres Lesepublikum findet Müller-Guttenbrunn in Deutschland: Jene, die ihn vom nationalistischen Standpunkt würdigen, halten später für das wichtigste Ergebnis seiner Arbeit, dass er verhältnismässig weite Kreise in Deutschland mit der Existenz des ungarländischen Deutschtums bekannt gemacht hat.« (Cf. ROGL 1943, pp. 61 f. Übersetzt von E. K.) »Szélesebb magyarországi olvasóközönség azonban nem alakul ki; a magyarországi németek általában nem állnak még a nem- <?page no="63"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 63 die Geschichte der Banater Deutschen im 18.-19. Jahrhundert behandeln, haben schließlich nach 1918 den Weg zu bestimmten - relativ breiten - Kreisen der um diese Zeit schon in Rumänien und Deutschland lebenden Deutschen gefunden«, schreibt Windisch. 50 Für eine genauere Einschätzung von Müller-Guttenbrunns ungarischer Rezeption vor dem ersten Weltkrieg sollte man beachten, dass auf die Götzendämmerung fast ausschließlich Budapester Zeitungen reagierten 51 und dass das Buch in der Banater Presse gänzlich unbeachtet blieb. Zudem gingen die ungarischen Reaktionen kaum auf das Werk, geschweige denn auf dessen politische Argumente ein. Eva V. Windisch erklärt dies mit der Unreife und mit der mangelnden Klarsicht der ungarischen politischen Öffentlichkeit, die dementsprechend auch nicht dazu fähig war, »die sich für sie aus dem Roman ergebenden Konsequenzen von den böswilligen und verleumderischen Details zu trennen und diese für sich zu nutzen«. 52 Bezeichnend für das Desinteresse ist auch Ferencz Herczegs Artikel in Az Ujság (siehe S. 77 ff.). Herczeg nimmt den Titel Götzendämmerung lediglich als Vorwand, um anlässlich des skandalösen Moltke-Harden-Prozesses 53 in Berlin den Niedergang preußischer Tugenden zu beklagen und in einem Seitenhieb Müller-Guttenbrunn, dessen Werk er für blutleer und arrogant hält, zu einem »namenlosen Routinier der Schreibfeder« zu erklären. 54 Bemerkenswerterweise trägt auch eine Mitteilung Müller-Guttenbrunns über seine Autorschaft an den in Temeschwar/ Timi ș oar ă herausgegebenen Deutsch-Ungarischen Volksfreund im Februar 1908 eben dieser Hierarchie der Öffentlichkeiten Rechung: ›Götzendämmerung‹ ist ein Buch, das nicht geeignet ist, in das Volk selbst zu dringen. Es wendet sich ausschließlich an die Intelligenz. Und es ist vornehmlich für Europa geschrieben, es wendet sich an ein Weltpublikum. Die Leitartikel, die in Berlin über Götzendämmerung geschrieben wurden, sind mir daher wichtiger, als die in zetiségi öntudatnak azon a fokán, hogy igényt tartanának ezekre a regényekre. Müller-Guttenbrunn igazi olvasóközönségét Németországban találja meg: német nacionalista méltatói utóbb munkássága legjelentősebb eredményének azt tekintik, hogy ő ismertette meg közelebbről Németország viszonylag széles rétegeit a magyarországi németség létezésével, problémáival.« WINDISCH 1966, p. 460. 50 A szerzőnek »azok a regényei azonban, amelyek a bánsági németek XVIII-XIX. századi történetével foglalkoztak, 1918 után végül is megtalálták az utat a most már a jugoszláv és román államban élő németek egyes - elég széles - réteigeihez; « (Übersetzt von E. K.). Ibid. p. 462. 51 Der Historiker Ingomar Senz und der Literaturwissenschaftler Dieter Kessler schreiben von einem groß angelegten Presseecho, das sich nach meinen Nachforschungen kaum belegen lässt. Cf. SENZ 1977, KESSLER 1997. 52 »[…] a magyar politikai közvélemény ekkor nem volt sem eléggé érett, sem eléggé tisztánlátó ahhoz, hogy a regényből számára adódó politikai tanulságokat a rosszindulatú vagy rágalmazó részletektől különválassza és hasznosítsa.« (Übersetzt von E. K.) Cf. WINDISCH 1966, p. 460. 53 Am 23. Oktober 1907 begann vor dem Schöffengericht Berlin Mitte das Gerichtsverfahren Molkte gegen Harden, in dem der Armeeoffizier Gustav von Moltke, der von dem Publizisten Maximilian Harden der Homosexualität beschuldigt worden war, diesen wegen übler Nachrede anklagte. Im Verlauf des Prozesses hat die geschiedene Ehefrau Moltkes ihren Mann stark belastet. 54 »az írótoll névtelen routinier-ja […]« (Übersetzt von E. K.). Az Ujság 1.12.1907, p.1 ff. <?page no="64"?> 64 Edit Király Pest oder Temesvar. Aber ich bin stets erfreut aus der Heimat zu hören, dass einige Schovinisten grün und gelb geworden sind bei der Lesung des Buches. 55 Was Müller-Guttenbrunns ungarndeutsches Publikum betrifft, gab es gewiss begeisterte Leser, und es gab auch die Verteilungsaktionen des Alldeutschen Verbands, die im »deutschnationalen Sozialmilieu« 56 des Banats für Leser sorgten, doch deren wirkliches Ausmaß lässt sich selbst aus der indirekten Evidenz kaum ermitteln. 57 Von einer »literarische[n] Aufrüttelung« 58 der Deutschen im Banat lässt sich daher nur bedingt reden. 4 Grenzen und Abgrenzungen in Adam Müller-Guttenbrunns Heimatromanen Die Grenzlage des Banats spielt in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen eine Schlüsselrolle. Dieser Topos ist zuvörderst mit dem historischen Ursprung der Banaterdeutschen verbunden, die nach der Rückeroberung des Territoriums von den Türken zum ersten Mal im Zeitraum 1720-1740 unter General Mercy in großer Zahl als Siedler ins Land kamen. In Kombination mit dem ähnlich zentralen Topos vom Pioniergeist und von der Arbeitswut der deutschen Siedler konstituiert er den Gründungsmythos des Deutschtums im Banat. Die daraus erwachsende Gefährdung als Lebensgrundlage ist in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen jedoch weniger militärisch (gegen die im 18. Jahrhundert noch durchaus vorkommenden Türkeneinfälle ist ja die Militärgrenze - hauptsächlich mit Hilfe der serbischen Bevölkerung - errichtet worden) als vielmehr klimatisch und ethnisch bedingt. Es gilt hierbei den Urzustand einer versumpften und einer landwirtschaftlich unfruchtbar gewordenen Landschaft zu bekämpfen und sich von den oft auch als »wild«, »halborientalisch« oder einfach nur als unberechenbar bezeichneten anderen Einwohnern dieses Gebietes abzusetzen. Es ist eben diese 55 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Zuschrift aus Wien. In: Deutsch-Ungarischer Volksfreund 28.2.1908, p. 2. 56 Cf. SCHÖDL 1978, p. 139. 57 Die diesbezüglichen Quellen und Fakten werden meistens ohne jede Kritik zitiert, so etwa auch Steinackers Angaben über jenen Neusatzer Bürger, der wegen des Besitzes des Buches verurteilt worden war: »Die Leser und Verbreiter von Müller-Guttenbrunns Roman Götzendämmerung, der zum Ärger der chauvinistischen Presse eine Auflage nach dem anderen erlebte und unter der deutschen Bevölkerung von Hand zu Hand ging, wurden gerichtlich verfolgt, der deutschgesinnte Neusatzer Bürger Friedrich Hess zu vier Monaten Gefängnis verurteilt und eine polizeiliche Hausdurchsuchung nach dem gefährlichen Buch folgte der anderen.« STEINACKER, Edmund: Lebenserinnerungen p. 183. Immerhin macht Steinacker ein paar Seiten später ganz andere Angaben über denselben Fall: »Der wegen angeblicher Verbreitung von Müller-Guttenbrunns Götzendämmerung ursprünglich zu zehn Monaten Gefängnis verurteilte, in zweiter Instanz freigesprochene volksbewusste Volksgenosse Friedrich Hess bekam vom Obersten Gerichtshof, ohne dass sein Advokat auch nur von der Verhandlung verständigt worden wäre, schließlich zwei Wochen Gefängnis zuerkannt.« (Hervorhebungen von E. K.) STEINACKER, Edmund: Lebenserinnerungen. München: Schick 1937 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München 13), p. 191. 58 U. a. Titel von Ingomar Senz’ Müller-Guttenbrunn Kapitel Cf. SENZ 1977, p. 139. <?page no="65"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 65 Opposition von Kultur und Verwahrlosung, die letztendlich die deutsche Kulturmission im Banat begründet, diese nicht nur wünschenswert, sondern geradezu notwendig erscheinen lässt. Indem der militärisch geprägte Gründungsmythos der Banaterdeutschen als Subtext für die alltäglichsten wirtschaftlichen Formen der Naturaneignung dient, wird aber jede Arbeit zur »Eroberung« und im räumlichen Kontext des Banats freilich auch zu einem territorialen Vorstoß, einem Zurückdrängen der anderen ethnischen Gruppen. Denn »[…] das wäre das Übelste nicht für einen Schwaben, auf Eroberung auszugehen. Und ein guter Handwerker in solch einem Dorfe wäre ein Eroberer.« So lautet der Kommentar, als ein schwäbischer Handwerker sich in einem walachischen (sprich: rumänischen) Dorf niederlässt. 59 Die Gefährdung durch die Grenzlage motiviert zugleich auch die Abriegelung gegen die Außenwelt, die in romanhaften Konstellationen in einem großen Formenreichtum der räumlichen Abgrenzungen, der geografischen Grenz- und Trennlinien sowie Wachposten ihren Ausdruck findet. 4.1 Die Donau als Landschaftsmodell einer deutschen Kulturmission Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Rolle der Donau in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen und feuilletonistischen Texten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Sein Zeitungsartikel »Donaufahrt in unsere Kulturgeschichte«, erschienen im Jahre 1916 in der Aufsatzsammlung Österreichs Beschwerdebuch, schildert eine Schifffahrt Donau abwärts, mit besonderem Augenmerk auf die niederösterreichische Landschaft und ihre katholischen Stifte und Klöster. Das kurze Schreiben führt ein altes Sujet der Donau-Reiseliteratur aus, es beschreibt eine Reise von Passau nach Wien. Doch schildert es weder Gefahren noch Mühen oder Komfort und Genüsse des Reisens, reiht nicht abwechslungsreicher Landschaftsbilder aneinander, sondern bietet eine triumphale Schau, die zerstreute Punkte der Landschaft in eine »Linie in der Zeit« 60 verwandelt: In Bezug auf »unsere Kulturgeschichte« oder, wie es an anderer Stelle auch heißt, »Weltgeschichte«, ihre sichtbaren Spuren und »Etappen« 61 werden die alten Stifte erklärt. Auf der Fahrt durch die Geschichte wird die Donau restlos in ein ideologisches Raster eingefügt. Grundmotiv dieser Ideologisierung ist der Kampf zwischen Wasser und Stein. Eingefangen im Bild des Kampfes wird die Donau-Landschaft zur Illustration jener vermeintlich historischen Gegensätze, die angeblich das Leben in dieser 59 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Meister Jakob und seine Kinder. Leipzig: L. Staackmann Verlag 1918, p. 337, auch: p. 229. 60 SCHAMA, Simon: Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination. A. d. Engl. von Martin Pfeiffer. München: Kindler 1996, p. 13. 61 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Donaufahrt in unserer Kulturgeschichte. In: DERS.: Österreichs Beschwerdebuch. Einige Eintragungen von Adam Müller-Guttenbrunn. Konstanz am Bodensee: Reuß & Itta Verlag 1916, pp. 13-25, hier p. 21. <?page no="66"?> 66 Edit Király Landschaft prägten. Selbst Zeichen ihrer Kultiviertheit weisen nur darauf hin, mit welcher Anstrengung diese Kultur der Natur »abgetrotzt« 62 werden musste: »Denn diese Uferwände sind eine einzige große Festung, die bisher die Opfer, die ihre Einnahme erfordern würde, nicht wert schienen.« 63 Der Kampf gegen die Natur wird hier zum Naturpendant jenes Krieges, der an den Ufern der Donau von alters her geführt wurde. Das Gebiet selbst muss und, so legt es uns Müller-Guttenbrunns Text nahe, musste immer wieder der Barbarei abgerungen werden. Obwohl dieser Kampf um vermeintlich universale Werte wie Leben, Kultur und Ordnung ausgetragen wurde, sind diese Werte bei Müller-Guttenbrunn letztendlich immer ethnisch codiert. Das heutige Mittelafrika ist bekannter als unsre Heimat damals den germanischen Stämmen war. Sie hatten schon ein römisch-deutsches Kaisertum, und hier tumelten sich noch die Heerhaufen der Hunnen, hier herrschten noch die Avaren. 64 Die koloniale Anspielungsebene des Satzes legt eindeutig fest, wer Subjekt und wer Objekt des Erkennens sein kann, Wörter wie »tummeln« und »Haufen« als Attribute der Hunnen im Gegensatz zu dem Kaisertum der Germanen ergänzen diese Unterscheidung um die Opposition von Chaos und Ordnung. Der Name römisch-deutsches Kaisertum macht es vergessen, dass ein paar Jahrhunderte früher auch die Germanen noch kein Kaisertum »hatten«, und dass das Epithet ›deutsch‹ oder ›deutscher Nation‹ zur Zeit der Existenz des Heiligen Römischen Reiches selbst keineswegs üblich gewesen war, also eine retrospektive Nationalisierung durch die Diskurse des 19. Jahrhunderts und weiter darstellt. Vor diesem landschaftlichen Hintergrund agieren Männer des Wortes. Zuerst ist es ein Geistlicher, der »jeden Fremden aufspürte, sich vorstellte und ihm die Reize der Landschaft erklärte«, 65 ab Krems übernimmt es der Verfasser des Artikels, sich »ungefragt« 66 in das Gespräch seiner Reisegefährten einzumischen und einem »Oberlehrer aus Sachsen« 67 die historischen Umstände auseinanderzusetzen. In dem etwa zwanzig Seiten umfassenden Aufsatz wird die Donau als die Grenze zweier Welten in die Pathosformeln deutscher Geschichte aufgenommen. Die Fahrt Donau abwärts wird jedoch selbst in ihrer harmlosesten Form, als Touristenreise, zum Nachvollzug einer historischen Mission. Hierzu dienen historische Parallelen: Eine Kulturgeografie, welche die Gegenüberstellung von Kultur und Barbarei noch in der römischen Zeit ansetzt, als die Donau limes des römischen Reiches war, und diese um die mittelalterliche Gegenüberstellung von Osten und Westen im Nibelungenlied ergänzt. 62 Ibid. p.18. 63 Ibid. 64 Ibid. p. 22. 65 Ibid. p. 14. 66 Ibid. p. 19. 67 Ibid. p. 18. <?page no="67"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 67 Weltgeschichte wird allerdings erst nachträglich am Schreibtisch entfaltet. Das Gesehene wird dort in die Zusammenhänge des Schreibens und Nach-Denkens eingebettet und mit einem »historischen Leitgedanken« 68 versehen. Dessen totalisierende Sichtweise findet in der 360-Grad-Perspektive der zeitgenössischen Panoramenbilder ihre optische Entsprechung: »Ein perspektivisches Bild aller menschlichen Kulturkämpfe rollt sich vor uns auf, wie auf einer riesigen Wandeldekoration.« 69 Doch die sich schnell ablösenden Bilder, welche die landschaftliche Vielfalt zu »Wandelbilder[n]« 70 verwandeln, dienen lediglich zum Einprägen des immergleichen historischen Leitgedankens. Dieser ist in Adam Müller-Guttenbrunns Ausführungen durch Schlüsselwörter wie »Kulturarbeit« 71 bzw. »Kulturwerk[.]« 72 abrufbar. Alles, was hier an historischen Spuren und Denkmälern zu sehen ist, wird zum Zeugen eines deutschen Kulturkampfes gegen Chaos und Barbarei erklärt. Die von Müller-Guttenbrunn hervorgehobenen Baudenkmäler an beiden Ufern des Stromes sind Zeichen von Macht und Herrschaft, deren Alter allein schon von ihrem Bestand und ihrer Kontinuität kündet. Herrschaftsinsignien, wie etwa die Krone Karls des Großen auf dem einen Turm des Augustiner-Stiftes in Klosterneuburg und der Herzogshut von Österreich auf dem anderen, »[…] erzählen, daß dieses Stift Teil hat an der Befestigung der Macht des deutschen Kaisertums in der Ostmark«. 73 Überraschen dürfte an diesem Text, wie er zwei einander widersprechende Vorstellungen der Donau unbekümmert miteinander vereint. Er stilisiert den Fluss zum Ort eines immerwährenden Kampfes und weist ihm dadurch die Rolle einer Grenze zu. Zugleich stellt er ihn aber als ein landschaftliches Bindeglied zwischen Orten dar, die durch Deutsche bzw. Deutschösterreicher besiedelt sind, und stilisiert ihn zu einem Fluss, über den sich »Deutsches Leben« von Passau bis zur Mündung (bis zum Schwarzen Meer) ›ergießt‹. In der Überblendung der beiden motivischen Bedeutungen der Donau als Band und als Grenze entsteht die Idee einer »Donaulandschaft« mit ihrer vollkommen imaginären Geografie. Denn die Donau wurde erst in der südöstlichen Ecke der Monarchie zum Grenzfluss und erfüllte damit keine einzige Voraussetzung einer (deutschösterreichischen) Grenzlandschaft. Die Bedeutung dieser Vorstellung lag denn auch im symbolischen Bereich, in einer »Kartographie der Identitäten«. 74 68 Ibid. p. 15. 69 Ibid. 70 Ibid. p. 16. 71 Ibid. p. 19. 72 Ibid. p. 23. 73 Ibid. p. 20. 74 DEREK, Gregory: Imaginierte Geographien. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtsforschung 3 (1995), pp. 366-425, hier p. 420. <?page no="68"?> 68 Edit Király 4.2 Deutsche Kulturmission Wie konnte die Donau, die Mitte des 19. Jahrhunderts noch als emblematische Landschaft des Vielvölkerstaates heraufbeschworen wurde, am Ende desselben Jahrhunderts zu einer landschaftlichen Figur nationalistischer Diskurse werden? Welche Machtverhältnisse, welche Identitätsvorstellungen und Abgrenzungsnöte wurden in Müller-Guttenbrunns Repräsentationen des Donau-Raumes eingeschrieben? Kultur gehörte neben Begriffen wie Fortschritt bzw. Evolution zum »Kernbestand« einer »selbstüberhöhten, sendungsbewussten Ideologie« der europäischen Industriegesellschaften im 19. Jahrhundert. Aus dem Fortschrittsmodell und dem Axiom der Vergleichbarkeit der verschiedenen Kulturen folgte eine für alle Völker gültige strenge Stufenabfolge der Entwicklung. In dieser wurden zumeist die Stufen der Wildheit oder Barbarei und der Zivilisiertheit unterschieden. 75 Während europäische Gesellschaften sich selbst ans obere Ende dieser Leiter imaginierten, stellten sie außereuropäische Kulturen auf deren unterste Stufe. In diesem Modell wurden außereuropäische Völker für »Wilde«, »Barbaren« oder auch schlechthin für »Primitive« gehalten. Die europäische Seite entwarf hingegen ihre Geschichte »als Distanz von der Geschichtslosigkeit der ›Wilden‹«. 76 Während das mit dem Begriff »Kultur« verbundene Selbstbewusstsein bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht national ausgerichtet war, sondern im Gegenteil zumeist gesamteuropäisch verstanden wurde, wird Kultur vor dem Ersten Weltkrieg zum Inbegriff einer deutschen Mission. Auch Adam Müller-Guttenbrunns Heimatromane zeigen, dass die Distinktion zwischen »kultiviert/ zivilisiert« und »primitiv« im späten 19. Jahrhundert im inner-europäischen Kontext an Bedeutung gewann und in der österreichisch-ungarischen Monarchie zunehmend als Abgrenzungsstrategie gegenüber anderen Ethnien eingesetzt wurde. Die Gegenüberstellung von »Kultur-« und »Naturvölkern« diente als Legitimationsgrundlage für bestehende oder angestrebte Herrschaftspositionen und wurde systematisch für die Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen verwendet. In der Formulierung einer spezifisch deutschen Kulturmission kommt diese Dichotomie zum Tragen. 75 MORGAN, Lewis H.: Preface. In: DERS.: Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization. New York 1878: »[…] savagery preceded barbarism in all the tribes of mankind, as barbarism is known to have preceded civilisation. The history of human race is one in source, one in experience, and one in progress.« 76 KAUFMANN, Stefan/ HASLINGER, Peter: Einleitung: Der Edle Wilde - Wendungen eines Topos. In: FLUDERNIK, Monika/ KAUFMANN, Stefan/ HASLINGER, Peter: Der Alteritätsdiskurs des edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg: Ergon Verlag 2002 (Identitäten und Alteritäten 10), p. 14; CERTEAU, Michel de: Das Schreiben der Geschichte. A. d. Französischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt/ Main; New York: Campus Verlag 1991 (Historische Studien 4). <?page no="69"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 69 4.3 Die Wacht an der Donau Müller-Guttenbrunns Darstellung der Donau als Inbegriff einer deutschen Mission in Mitteleuropa stand freilich nicht voraussetzungslos da. Mochte auch die Donau als Verbindungselement für die dynastisch-habsburgische Tradition bestimmend sein, für die deutschnationale Lyrik nach 1870 wurde sie zum österreichischen Pendant des Rheins, an dem sämtliche Formen und Figuren einer nationalistischen Rheinlyrik (Niklas Beckers »Rheinlied« 1840, Max Schneckenburgers »Die Wacht am Rhein« 1840, Georg Herweghs »Rheinweinlied« 1840 u. a.) und damit alle Parolen einer gefährdeten Grenzlandschaft durchdekliniert werden konnten, 77 so etwa auch in der von Adam Müller-Guttenbrunn und Gustav Panikowski herausgegebenen Lyrik-Anthologie aus dem Jahre 1888, dem Trost- und Trutz-Büchlein der Deutschen in Österreich. In dieser wie in anderen Lyrik-Anthologien der 1880er Jahre wird eine nationale Semantik der deutschen und der österreichischen Landschaften formuliert. Diese werden durch die rhetorische Figur der Parallelität miteinander verbunden: »Auf, mein Deutsch- Österreich,/ Rüste walkürengleich/ Helm, Schild und Speer: / Wie an des Rheines Strand/ Glorreich die Wache stand, - / So für dein Donauland/ Schwinge die Wehr! « - schreibt etwa Felix Dahn (1834-1912) in seinem Gedicht »An Deutsch- Österreich«. 78 Jener geografische Umstand, dass die Donau Deutschland und Österreich tatsächlich miteinander verband, spielte in dieser Lyrik eine weitaus bescheidenere Rolle als die Adaptierung der »Wacht am Rhein«-Symbolik auf die Donaulandschaft, welche die Idee des nationalen Bedrohtseins auf eindringliche und leicht verständliche Art und Weise vermitteln konnte. 79 Die Serialität dieser Lyrik 80 findet auch in der rapiden »Fortregionalisierung« nationaler Wachsamkeit etwa in Form einer »Wacht an der Kulpa« 81 bzw. einer »Wacht an der Prut« ihren Ausdruck. Die landschaftliche Variabilität dieser pa- 77 Cf. MICHLER 2004. 78 PANIKOWSKI 1888, p. 25. 79 Zu welch festem Bestandteil der deutschnationalen Rhetorik die Parole von der »Wacht an der Donau« in den achtziger Jahren geworden ist, davon zeugt auch ein Brief von Ludwig Anzengruber an Ada Christen vom Sommer 1881, in dem er die auf das Preisausschreiben der »Deutschen Zeitung« eingelangten Hymnen und Nationallieder fogendermaßen charakterisiert: »[…] entweder schreibt so ein deutscher Sangesbruder paar kurze Strophen nieder, in welchen er den Deutschösterreichern den Rat gibt, ›festzustehen‹, alle ›wie ein Mann auszuhalten‹, ›nicht zu wanken‹, und erforderlichenfalls auch ›mit Mund und Hand‹, ›Gut und Blut zu opfern‹, und denkt, das wäre für hundert Dukaten genug geleistet, oder er hat Einsehen, begreift, dass man für solch eine Summe doch etwas verlangen kann, und dann führt er einem ganze Wälder ›deutscher Eichen‹ ins Haus, macht Angebinde von deutschen Schwertern, Keulen, Bannern, Panieren, Oriflammen, Fahnen, arrangiert die Wacht an der Donau, die Ostmarkwächter und andere Volksbelustigungen, so dass man sich nimmer aus weiß und einem die Wahl Kopfweh macht. Wenn man nun immer solche Zeilen lesen muß, so klingt einem das noch im Ohr, endlich hört man Tag und Nacht die Donauwacht und gerät in einen Zustand, dass man ohne Bedacht auf des Nächsten Wohlbefinden patriotische Zeilen auf jedes unbeschriebene Fleckchen Papier wirft.« BETTELHEIM, Anton (Hg.): Briefe von Ludwig Anzengruber. Bd. 2. Stuttgart; Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, 1902, p. 107 f. 80 Cf. MICHLER 2004. 81 OBERPFÖLL, J. in: PANIKOWSKI 1888, p.123. <?page no="70"?> 70 Edit Király triotischen Klischees kommt allerdings dem Konzept einer Nation als Einheit der »Stämme und Landschaften« sehr entgegen. Das Trost- und Trutz-Büchlein war selbst nach diesem Prinzip angelegt und verzeichnete seine Autoren mit Namen und Herkunftsort. Als ein »Standardprodukt [der] Anthologienliteratur der Zeit« 82 fungierte es Werner Michler zufolge als eine Art »Kanonisierungsagentur«. Neben einer Reihe von älteren renommierteren deutschen (und in diesem Fall auch österreichischen) Autoren zeigte es eine Gruppe jüngerer nicht kanonisierter Autoren auf, zu der auch die beiden Herausgeber gehörten. 83 In Müller-Guttenbrunns nach der Jahrhundertwende entstandenen Heimatromanen und Aufsätzen wird dieses imaginär-geografische Schema mit historischen und ökonomischen Realien aufgefüllt. Dabei kommt besonders dem Banat und der Geschichte seiner Kolonisierung im 18. Jahrhundert eine große Bedeutung zu. Zudem wird auch den Fragen der Donau-Regulierung eine relativ große Beachtung geschenkt. Im Gegensatz zu den Klischees der »Wacht an der Donau«-Lyrik, werden hierbei ökonomische Diskurse bemüht, wird der Katalog deutscher Tugenden in eine koloniale Rhetorik überführt und um die universalistische historische Gegenüberstellung von Kultur und Barbarei ergänzt. 5.1 Götzendämmerung: Von Zivilisierten und von Schwarzen. Müller-Guttenbrunns literarische Donaufahrten Teil 1 Schon in der Götzendämmerung, jenem Buch, das die Reihe von Müller-Guttenbrunns Banater Heimatromanen eröffnete, wird der Donau eine politische Idee zugeordnet. An sie ist das Konzept eines durch Arbeit zu erwerbenden Neulandes gekoppelt, das als Gegenpol und Alternative zu dem Auswanderungsziel Amerika imaginiert wird. Diese inner-europäische terra nuova sollte durch die Regulierung der Donau bzw. ihrer Nebenflüsse und durch die Trockenlegung ihrer Nebenarme nach den Plänen des Hauptprotagonisten entstehen. Obwohl der Schilderung der einschlägigen Pläne nur geringer Platz eingeräumt wird, zeigt sie gewissermaßen in nuce, welch enge Verbindung Vorstellungen von Landschaft und Herrschaft in den Banater Werken Müller-Guttenbrunns eingehen. In Götzendämmerung wird anhand der Reiseeindrücke des aus dem Ausland heimgekehrten Wasserbauingenieurs Georg Trauttmann die Lage der Deutschen in Ungarn um das Jahr 1905 geschildert. Trauttmanns Reisen führen ihn zuerst in das donauschwäbische Dorf seiner Herkunft (›Rosental‹ im Roman) und dessen weitere Umgebung sowie nach Budapest und in verschiedene andere Teile Ungarns. Er wird Zeuge der antideutschen und antihabsburgischen Demonstrationen in der Hauptstadt und der aggressiven Magyarisierung im Banat. Neben dem Hauptstrang der Handlung, in der Trauttmanns Erlebnisse in Rosental, 82 MICHLER 2004, p. 93. 83 Ibid. p. 93. <?page no="71"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 71 seine Arbeit für die Beamtenregierung des Freiherrn Géza von Fejérváry 84 und schließlich sein Abschied aus Ungarn geschildert werden, gibt es zwei Nebenhandlungen in der Götzendämmerung, die unmittelbar in diesem politischen Milieu verankert sind. In der Zusammenführung solch heterogener Lebenswelten, der ewiggleichen, ereignislosen Beständigkeit des Dorflebens einerseits mit der Sphäre der Politik andererseits, liegt auch das Darstellungsproblem der Götzendämmerung. Als Gattungsbezeichnung stand in den ersten Ausgaben »Kulturbild«, ein Genre, das »die ›ethnografische‹ mit fiktionalen Passagen und narrativen Sequenzen« verbindet und »für eine ganz besonders authentische Form der Vermittlung fremder Kulturen« erachtet wurde. 85 Das Land, auf das das Buch solchermaßen Bezug nahm, war Ungarn, ein Land, das nicht nur für den heimkehrenden Trauttmann fremd war, sondern nach Meinung des Erzählers »durch die schonungslose Verletzung aller natürlichen Volksüberlieferungen, durch die Züchtung einer theoretischen Nation« sich immer weiter »von Europa« entfernte und »direkt zu Hohn und Spott« herausforderte. 86 Der Donau kommt in der Götzendämmerung eine wichtige, wenn auch keine zentrale Stelle zu. Georg Trauttmanns Reformvorstellungen beziehen sich auf die Trockenlegung der Donau- und Theißufer, um mehrere hunderttausend Katastraljoch Land zu gewinnen. Mit der genauen Bemessung und Kalkulierung dieser Arbeiten wird Georg Trauttmann von der Fejérváry-Regierung betraut. Er unternimmt eine Donau-Reise bis zur Mündung und vermisst Ufergegenden in Südungarn. Während die Trockenlegung in der ungarischen Hautpstadt als soziales Projekt behandelt wird, macht Trauttmann sie seinen Banater Landsleuten als Lösung ihrer Nationalitätenprobleme schmackhaft. Das Neuland an der Donau sollte eine Art Reprise der deutschen Kolonialisierung des Banats werden. Er berechnete das Werk. Es war viel Geld. Aber an Land, glaubte er, wären viele hunderttausend Katastraljoch zu gewinnen. Urweltboden von ungeahnter Fruchtbarkeit und für Millionen arbeitsamer Bauern. Man konnte sie wieder heimholen, die Ausgewanderten, die Entflohenen, und ihnen einen Anteil geben am Vaterland … Im Geiste aber sah er den einsamen Strom, dessen Ufer heute die Menschen meiden, schon umblüht von einem Kranz von Dörfern und Industriestädten, die friedlich hinter den Riesendämmen eines kunstvollen Hochwasserbettes, das er ihm geschaffen, gediehen, Dämme, die aus dem vertieften Normalbett gehoben wurden. Und auch all die Nebenflüsse der Donau sah er schiffbar gemacht, und mit ihr durch Kanäle verbunden zu einem Netz für den Weltverkehr. Endlich war der alte Danubius der Strom Europas geworden, der auf seiner Dreitausendkilometerbahn den Westen mit 84 Im Roman: Gömöry. 85 KAISER, Max: Strategien im literarischen Feld: Karl Emil Franzos’ ›Aus Halb-Asien‹ und ›Deutsches Dichterbuch aus Österreich‹ im Kontext. Diplomarbeit Wien 2000, p. 39. 86 [MÜLLER-GUTTEBRUNN, Adam]: Götzendämmerung. Ein Kulturbild aus dem heutigen Ungarn. Wien Leipzig: Akademischer Verlag 1908, p. 108. <?page no="72"?> 72 Edit Király dem Osten verband, den Rhein und die Nordsee mit dem Schwarzen Meere. Und sein Vaterland war das Zentrum dieses Verkehres. 87 Das Bild des aus »Dörfern und Industriestädten« bestehenden blühenden »Kranzes«, der um den sonst »einsamen«, von den Menschen gemiedenen Strom durch die Regulierung entstehen soll, kehrt die herkömmliche semantische Besetzung von natürlich und künstlich um. Es sind die hinter kunstvollen Dämmen befindlichen, von Menschen bewohnten Dörfer und Industriestädte, die blühen und gedeihen, während die Fruchtbarkeit des Stromlandes in Ermangelung einer Landwirtschaft lediglich als »ungeahnte« Möglichkeit verbucht wird. Die Blüte der Landschaft ist der Schilderung Müller-Guttenbrunns zufolge nicht durch ihre natürliche Fruchtbarkeit, sondern durch ihre Eingliederung in den Weltverkehr bedingt. Georg Trauttmanns Donau-Projekt ist den »makroökonomische[n] Zirkulationsvorstellungen und ihrer äquilibristischen Logik« verpflichtet und adaptiert das Bild des Blutkreislaufes mit dem Herz als Mittelpunkt auf die Zirkulation von Waren und Gütern. 88 Die Metaphorik impliziert auf der landschaftlichen Ebene einen politischen Zentralismus, für den sich das Buch übrigens auch argumentativ einsetzt. 89 In der gegenwärtigen Lage des Staates erscheint folglich auch die Donaulandschaft in völlig desolatem Zustand. Die tatsächlichen Regulierungsbemühungen des ungarischen Staates, die an der unteren Donau in Form des Eisernen-Tor-Kanals und durch die Regulierungsarbeiten bei Gönyü unterhalb von Pressburg/ Pozsony Früchte trugen, werden dementsprechend im »Kulturbild« völlig unterschlagen. An anderer Stelle werden die Gegensätze, welche die Donau prägen, noch radikaler gezeichnet. In einer Vorstudie zum Roman, die unter dem Titel »Donaufahrt bis Peterwardein« 1918 in der Aufsatzsammlung Deutsche Sorgen in Ungarn ein zweites Mal erschien, wird die Idee eines Todesreiches, das sich bei der nächtlichen Fahrt auf der Donau auftut, weiter ausgeführt: Die Ausfahrt aus dem beleuchteten Budapest ist einzig schön. Wie Perlenschnüre umsäumen hunderttausend Gasflammen die Ufer der Donau, sie klettern nach Ofen hinauf und steigen bis auf den Gipfel des Blocksberges empor. Und auf einmal geht es in das Dunkel hinaus, in das Nichts. Aber siehe, da steigt, wie bestellt, der Vollmond empor über der unabsehbaren Ebene. Gespenstische Inseln gleiten an uns vorüber… Wir bleiben auf Deck bis Mitternacht, das Bild ist immer dasselbe, kein Kirchturm zeigt an, dass auch hier noch Menschen wohnen. 90 87 Ibid., pp. 162 f. (Hervorhebungen von E. K.) 88 SCHMIDT, Harald: Umlauf der Sprache, Umlauf des Geistes. Nationalromantische Zirkulationsmodelle als integrative Kulturkonzepte. In: BÖHLER, Michael/ HORCH, Hans Otto (Hg.): Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen: Max Niemeyer 2002, pp. 45-70, hier p. 55 und 54. 89 Nicht von ungefähr wurde der Götzendämmerung von Franz Ferdinand so viel Anerkennung gezollt. 90 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Donaufahrt bis Peterwardein. In: DERS.: Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse. Wien; Warnsdorf; Leipzig: Ed. Strache 1918, p. 16-27, hier p. 22 (Hervorhebungen von E. K.). <?page no="73"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 73 Die Donau-Landschaft außerhalb von Budapest wird hier als ein Gegenbild zu der in Georg Trauttmanns Zukunftsträumen blühenden Neuen Welt geschildert. Wie diesem die Gegenüberstellung von Kultur und Unkultur bzw. von Europa und der außereuropäischen Welt unterlegt wird, zeigt folgendes Zitat: Wie ausgeschaltet aus dem Gefüge der Kulturwelt kommt man sich vor, ein wahres Dämmerleben beginnt und man hat das Gefühl, auf einer weiten, weiten Seereise zu sein. 91 Die kolonialen Assoziationsräume, die sich hierbei auftun, werden an der undurchdringlichen Dunkelheit der ungarischen Donau-Strecke sinnfällig gemacht. Ihr »freies, ungebändigtes, von keiner Stromkultur belecktes Wasser« 92 wird abwechselnd dem Begriff Nichts oder der geografischen Größe Kongo zugeordnet. In der Götzendämmerung ist von der »afrikanische[n] Verlassenheit« der Donau die Rede oder davon, dass die »Ströme des zentralen Afrika […] nicht einsamer sein« könnten »als dieser gewaltige Fluss«. 93 In der Vorstudie heißt es auch unzweideutig: »Es kann am Kongo nicht anders sein.« 94 Die Schwärze der unbeleuchteten Donau-Ufer wird mit der Schwärze jenes Kontinents gleichgesetzt, der im 19. Jahrhundert als Gegenpol zum aufgeklärten Europa gedacht wurde. Der Zustand der ungarischen Donau verlangt geradezu nach Entdeckung und Nutzbarmachung. Die Donau-Regulierung wird zu einer Kulturmission. Der Mangel an Regulierung erscheint hingegen als ein Problem mangelnder Disziplin: »Hinter Pest aber beginnt die Fahrt in das Nichts. Wie in Urweltzeiten gleitet der Strom in die Ebene hinaus und fließt im Zickzack wohin er mag.« 95 Die grundsätzlichen Mängel der ungarischen Donau-Politik werden zudem durch zwei historische Parallelen verdeutlicht: durch das Beispiel des römischen und des Habsburger Reiches: »Den Römern war der Strom so, wie er noch heute ist, recht, weil er ihrem Reich eine uneinnehmbare Grenze gab. Die Ungarn haben es verabsäumt, ihn zu gewinnen […]«. 96 An anderer Stelle werden die großen Schwabenzüge des 18. Jahrhunderts heraufbeschworen und als Gegenbewegungen zur jetzigen Auswanderungswelle interpretiert: »Jetzt führten diese Schiffe noch Auswanderer die Donau hinauf, die über Wien nach Bremen und Hamburg strebten. Künftig einmal wird das anders sein. Da werden sie wieder die Donau herabkommen, so wie einst …«. 97 91 Ibid., p. 26 (Hervorhebungen von E. K.). 92 Ibid., p. 19. 93 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1908, p. 161. 94 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1918, p. 25. Oder auch: »[…] es kann am Kongo nicht schöner sein.« Ibid. p. 27. 95 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1908, p. 161 (Hervorhebung von E. K.). 96 Ibid., p. 221. 97 Ibid., p. 163. <?page no="74"?> 74 Edit Király 5.2 Der große Schwabenzug: Das Banat als Laboratorium der deutschen Einheit. Müller-Guttenbrunns literarische Donaufahrten Teil 2 Der Versuch, den Fluss und die Schifffahrt als narratives Ordnungsmuster zu verwenden, wird von Müller-Guttenbrunn am ausgiebigsten im historischen Roman Der große Schwabenzug aus dem Jahre 1913 unternommen. Dieser verbindet die Rhetorik der Donau-Mission mit den Themen der Banater Heimatliteratur, nur um das Paradoxon des Stromes, der gleichzeitig Grenze und Verbindungsglied ist, in einem historischen Setting auszumalen. Der Roman schildert die Neubesiedelung des Banats unter General Mercy im 18. Jahrhundert (in der Geschichte als »Karolinische Besiedlung« bekannt), als zwischen 1716 und 1740 die ersten Siedler aus Deutschland über Wien kommend im Banat, in der Baranya/ Baranja und in der Bacska/ Ba č ka/ Batschka (im Roman zusammenfassend als »schwäbische Türkei« bezeichnet) ankamen. Das Banat wird hierbei als »Neuland« bezeichnet und im Vergleich zu Amerika als eine bessere, weil noch ganz leere »neue Welt« beschrieben: Jetzt schüttelte der Wirt auch diesem [dem stattlichen Eiman aus Gerhausen] die Hand. Und der hub gleich einen Diskursch mit ihm an. Was der Adlerwirt von Amerika halte, wollte er wissen. Dort säßen schon die Engländer, meinte der Wirt. Und die vergunnen keinem Schwaben einen guten Bissen. Von den Pfälzern seien viele als Bettler wieder heimgekehrt. Er wisse jetzt ein besseres Land. Und daheim könne man von Ulm auf der Donau fahren. »Hungarn? ! « rief der Peter. »Das kann nur Hungarn sein.« »Der Bote weiß es schon«, sagte der Wirt lachend. »Der spioniert alles aus.« Und er setzte sich zu den Leuten und erzählte ihnen, was seine Schwester Theres wieder für einen Brief bekommen habe. Der Jakob Pleß - der aus Ulm - habe ihr geschrieben, das ganze Hungarn wäre jetzt gesäubert vom Türken, und es sei Friede. Der Eugenius habe viele Soldaten entlassen und es jedem freigestellt, sich dort drunten anzusiedeln im Banat, rings um die Festung Temeschwar. Nicht einen Kreuzer kostet das. So viel Land einer bebauen könne, so viel bekäme er. Gleich könnte der Jakob, wenn er Landwirtschaft verstünde, fünfzig Joch haben und Haus und Hof. Der Kaiser habe dem Prinzen Eugenius und seinen Feldherrn große, herrenlose Güter geschenkt zur Belohnung. Mancher hat zwanzig bis dreißig Dörfer. Aber die seien menschenleer. Man brauche überall Ackerbauern und Handwerker. Und der Jakob meint, die überzähligen Schwaben sollten halt kommen, wenn sie Kurasche haben. 98 Die Parallele zwischen den von den Osmanen zurückeroberten Gebieten und dem amerikanischen Neuland impliziert ein leeres Stück Land, ohne Menschen, ohne Geschichte, das per definitionem auf seine Kolonialisierung wartet. Um dieses durch die historischen Tatsachen keineswegs belegte Bild glaubwürdig zu machen, werden ihre früheren Einwohner teils als Halbwilde, teils als Halbkriminelle dargestellt. Im Gegensatz zu diesen zur Bewirtschaftung des Landes unfähigen »Ureinwohnern« sollten die den Absichten des Generals Mercy gemäß 98 Ibid., p. 14 f. <?page no="75"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 75 angesiedelten neuen Kolonisten daran mitwirken, das Banat nach ideellen Gesichtspunkten fruchtbar zu machen. Entsprechend wird die Auswanderung ins Banat der amerikanischen auch deshalb vorgezogen, weil sie planmäßig verläuft und von der Obrigkeit eingeleitet und reguliert wird. Die geografische Nähe bestätigt lediglich diesen Vorzug, denn die Donau erscheint trotz aller Gefahren vertrauenswürdiger als das von vornherein »tückische« Meer. Die Donau bildet jenes geografische Band, das sehr entfernte Schauplätze des Romans miteinander verbindet. Auf diesem fahren Bauern und Handwerker von Ulm bzw. Regensburg bis nach Peterwardein/ Petrovaradin/ Pétervárad. In Wien, wo die Kolonisten Station machen, wird die Kolonisation geplant und organisiert. Auswanderer sind in Müller-Guttenbrunns Darstellung durch ökonomische, Sicherheitsbzw. durch religiöse Interessen motiviert, ihr Land zu verlassen. Anhand der Schicksale mehrerer Einwandererfamilien wird ein groß angelegtes Tableau der historischen Ereignisse angestrebt. Mit der Darstellung der beschwerlichen Fahrt und oft abenteuerlichen Ankunft von Wirtsleuten (Therese, die Braut des Konstablers Pless) und Bauern (Philipp Trautmann), der Tätigkeit des Grafen Mercy sowie seines adoptierten Neffen, Graf Anton, und dessen Braut wird ein geografisch wie sozial komplexes Bild entworfen. Dabei dürfen weder die Vertreter verschiedener Glaubensbekenntnisse noch verschiedene moralische Charaktere fehlen; Verräter, die Nichtdeutsche heiraten, gibt es ebenso wie standhafte Kolonisten. Auch andere Ethnien Südungarns sind im Kulturbild vertreten, doch werden sie entweder als Halbwilde (Rumänen und Serben) oder aber als Hintertreiber des »großen Schwabenzuges« dargestellt (der ungarische Adlige Parkóczy). In geografischer Hinsicht reichen die Schauplätze des Romans von der Ulmer Gegend über Wien bis Peterwardein, Temeschburg sowie Dörfer im Banat und in der Ba č ka. Allein die Herkunft der Figuren ist weit verzweigt, manche kommen aus Baden oder Württemberg, andere aus der Pfalz, »aus Hessen und Franken, aus Nassau und Westfalen, aus der Rheinpfalz und aus Luxemburg, aus dem Elsaß und aus Lothringen« 99 . Ähnliche Listen deutscher Länder werden von Müller-Guttenbrunn mit Vorliebe aufgezählt, Vielfalt gern durch »bunte Trachten« repräsentiert und kaum durch individuelle Züge der Auswanderer gezeichnet. Doch so interessant die Schilderung von Vielfalt, so programmatisch die gleichzeitige Betonung von Einheit. Dies impliziert schon der Titel des Romans, der die darin dargestellten individuellen Schicksale unter der Einheit eines historischen Ereignisses subsumiert. Der Zug der Schwaben wird im Roman denn auch als Völkerwanderung auf eine historisch verbürgte Einheitsformel gebracht. Im Roman sind grundsätzlich zwei Ideen zur Einheitsstiftung berufen: die Idee des Landes und die Idee des Volkes. Diese beiden Ideen müssen im Laufe des Romans aufeinander abgestimmt werden. 99 MÜLLER-GUTTENBRUNN: Der große Schwabenzug, Sersheim: Hartmann 1992 [1913], p. 84. <?page no="76"?> 76 Edit Király Das Territorium, auf das diese späte Völkerwanderung gerichtet ist, entspricht jenen durch die Türkenkriege verwüsteten und entvölkerten Gebiete im südlichen und südöstlichen damaligen Ungarn, dem Banat, der Bacska und der Baranya. Zum Land wird dieses Territorium erst durch den Schwabenzug, der ihm die Vorstellung des »Gelobte[n] Land[es]« unterlegt. Der Intertext des biblischen Kanaan impliziert nicht nur den Reichtum des Gebietes, sondern vor allem seine geradezu sakrale Zugehörigkeit zum »auserwählten Volk«. Diese Vorstellung ist jedoch lediglich eine von mehreren, mit denen das als »leer« imaginierte »Neuland« des Banats aufgefüllt wird. Für Mercy etwa bedeutet das Banat »sein künftiges Paradies« 100 (Kap. 18) im Sinne eines künstlich angelegten Gartens, in den erlesene Pflanzen und Betriebe der Welt verpflanzt werden: Sollten die Tausende da draußen in Frieden ackern, sollten sie säen und ernten und zu steuerkräftigen Bürgern dieser kaiserlichen Provinz erstarken, brauchten sie in diesem wilden Lande den mächtigen Schirm und Schutz eines Herrn. Aber mit dem Ackerbau war das Werk nur halb getan; die Gewerbe mussten belebt, die Industrien des Westens hierher verpflanzt werden, denn die Rohprodukte, die dieses Neuland in Fülle hergab, waren wertlos, wenn sie nicht in höhere Erzeugnisse menschlicher Betätigung verwandelt werden konnten. Zahlreiche Werkstätten und Fabriken erhoben sich im Südosten der Festung, Schlote rauchten, die Weberschifflein flogen, Mühlen klapperten und Hammer und Sägewerke klopften und schleiften, und es bildete sich schon eine eigene Stadt um all diese Betriebe, diese holländischen Ölpressen, diese Tuch- und Hutfabriken, diese Papiermühlen. […] Die hunderttausende Maulbeerbäume aber, die Mercy aus Sizilien herbeischaffte, und die jetzt alle Landstraßen einsäumten, sie ernährten die Millionen Seidenraupen, die die erste Seidenfabrik des Landes mit ihren goldigen Kokons beschenkten. Und die Todesstrafe hatte er ansetzen müssen für die Beschädigung der Maulbeerbaumkulturen. Die Todesstrafe! Hängen ließ er jeden, der seine idealen Kreise bösartig störte. Er dürstete danach, alles Nützliche und Schöne, das er auf seinen Heerfahrten im Elsaß, in Frankreich, in Italien und Sizilien gesehen, hierher zu verpflanzen, in sein künftiges Paradies; er lockte eine Anzahl von Menschen aus aller Herren Länder in das Banat, und der Name des Kaisers, den er dafür ausspielen konnte, verdoppelte die Zauberkraft, die das Neuland ausübte[…]. 101 Die Heterogenität der Elemente wird durch die Einheitlichkeit ihrer Anordnung aufgewogen. Mercys Paradies wird durch die perfekte geometrische Form der »idealen Kreise« 102 als die Beste aller Welten gekennzeichnet, als eine künstlich angelegte Kolonie, deren erlesene Elemente nach dem Prinzip der Nützlichkeit und Schönheit geordnet sind. Das Maß des Nützlichen und des Schönen ist dabei Mercy selbst. 100 MÜLLER-GUTTENBRUNN [1913], p. 161. 101 Ibid. 102 Ibid. <?page no="77"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 77 Für andere wiederum entsteht die Einheit der neuen Kolonie aus jenen Menschen, die hier »eine neue Heimat erwerben wollten«, 103 d. h. zu einem Volk wurden: Das Entstehen des Volkes aus der Vielfalt der deutschen Siedler wird im Roman durch die Netzwerke der Kommunikation sowie durch die einfachsten Formen der Presseöffentlichkeit dargestellt und ist hauptsächlich im Wirtshaus lokalisiert. Die Verbindung zwischen Deutschland und dem durch die Türkenkriege gewonnenen Banater Neuland wird am Anfang des Romans durch einen Brief des Konstablers Pless hergestellt, der später durch »ähnliche Soldatenbriefe«, dann aber auch durch Blätter zu einer starken und vielfältigen Verbindung ausgebaut wird. Schon »überall hörte man«, wie es am Anfang des zweiten Kapitels heißt, daß ähnliche Soldatenbriefe neuestens nach Schwaben und Württemberg und Baden gekommen waren, von wo schon seit einigen Jahren ab und zu Leute nach Hungarn auswanderten. In den Blättern von Frankfurt, Augsburg und Stuttgart war sogar davon zu lesen. 104 Die Einheit des Volkes findet aber auch in der durch das Wörterbuch verkörperten Idee der einheitlichen Sprache ihren Ausdruck: Die deutschen Mundarten, die sich daheim nie zusammenfanden, hier [in Temeschwar/ Timi ş oar ă ] führten sie einen lustigen Krieg miteinander, in dieser Fremde, die ihnen allen zur Heimat werden sollte. Die Schwaben und Pfälzer waren in der Mehrheit, das hörte jeder, der Ohren hatte. Der ehemalige Hilfslehrer Leonhard Wörndle aus dem Elsaß, der jetzt richtig Schuldirektor in Temeschwar geworden war, kam fleißig zur Frau Theres bei den »Sieben Kurfürsten«, und er versäumte es nie, auch in die Bauernstube zu gehen. Das Heimweh plagte ihn sehr, und jeder Landsmann aus dem Elsaß war ihm wie ein Bruder. Und er fand ein wahres Vergnügen darin, hier den babylonischen Verständigungskrieg der heimatlichen Dialekte zu belauschen. Und er prophezeite am Herrentisch drüben, daß da eine ganz neue deutsche Mundart entstehen müsse, an der sich die Gelehrten in zweihundert Jahren die Köpfe zerbrechen würden, weil sie daheim nicht zu finden sein wird. Man werde ein Banater Wörterbuch herausgeben als deutsche Rarität, sagte er. 105 Der »babylonische Verständigungskrieg der heimatlichen Dialekte«, aus dem eine »ganz neue deutsche Mundart entstehen müsse«, impliziert das Modell einer »durch die wechselseitige orale Durchdringung aller Mundarten« entstehenden Nationalsprache. 106 In dieser Urszene der Nationsbildung werden die in Temeschwar/ Timi ş oar ă ankommenden Siedler, die aus verschiedenen Gegenden Deutschlands kommen, eben durch ihre Vermischung, durch den Verlust ihrer regionalen Eigenart zu Deutschen, d. h. zu Mitgliedern einer Nation. 103 Ibid. 104 MÜLLER-GUTTENBRUNN [1913], p. 14. 105 Ibid. p. 84. 106 So charakterisiert Harald Schmidt Adam Müllers Sprachkonzept in seinen »Zwölf Reden über die Beredsamkeit«. Cf. SCHMIDT 2002, p. 66. <?page no="78"?> 78 Edit Király Die Gründung des deutschen Banats wird dadurch zum Modell der Nationsbildung, dass sie die Zusammengehörigkeit von Volk und Land in den narrativen Zusammenhang einer historischen Initiation setzt. Diese Weihe wird aber nicht allein durch die Arbeit, sondern hauptsächlich durch den Tod erlangt. Der Roman, der mit einer Brautwerbung anfängt und die Fortpflanzung des deutschen Volkstums durch deutsche Bräute propagiert, endet mit dem Bild der Generationenabfolge einer imaginären Armee von Männern, die sich im Tode den Boden weitergeben: Neue Sendboten zogen ins Reich hinaus, neue Patente der jungen Kaiserin, die in schwerer Zeit den Thron bestiegen, wurden von allen Kanzeln verlesen, und der große Schwabenzug nach dem Osten setzte wieder ein. […] Und die jetzt kamen, traten schon ein deutsches Erbe an. […] Die Gefallenen haben diesen Boden geweiht für künftige Geschlechter. 107 In diesem Vexierbild, das Arbeit als Kampf, die menschliche Generationenabfolge aber als das Vorrücken bzw. Verschwinden einer Armee imaginiert, wird der deutsche Kolonist, der an den Grenzen des Reichs den Boden von der Natur zurückerobert, als Mitglied einer Arbeiterarmee bestimmt. Denn zu ›Heimat‹ wird der Boden erst durch den ›Blutzoll‹ der Arbeiter. 6 Austauschbare Grenzregionen, Vorposten des Deutschtums Wie dieses Modell und das Konzept der Grenze übereinandergeblendet werden können, zeigt eine Tagebucheintragung Müller-Guttenbrunns vom Sommer des Jahres 1894. Er beschreibt darin, wie der Schriftstellerkongress in Hamburg dem vier Jahre zuvor vom deutschen Kaiser entlassenen Reichskanzler a. D. Bismarck seine Aufwartung macht, und kombiniert den Topos von der Vielfalt der »Stämme und Landschaften« mit jenem der Grenze: Was sich nun entwickelte, das war die schönste Improvisation, die sich denken ließ. Wir zogen vor dem Fürsten vorbei, und er reichte jedem die Hand. Aber auch jetzt nannte keiner seinen Namen, sondern das Land, aus dem er stammte, oder die Stadt, aus der er gekommen war. Ein Thüringer! Ein Sachse! Ein Bayer! […] Es herrschte zuletzt die allgemeinste Rührung, und die Frauen küssten dem Fürsten die Hand. […] Als ich an die Reihe kam, war ich so bewegt, dass ich kaum den Mund aufbrachte. Das Gefühl, vor diesem einzigen Manne zu stehen, dieser weltgeschichtlichen Gestalt, überwältigte mich fast. »Mein Gruß, Durchlaucht, kommt von den Deutschen in Ungarn.« »Deutschungar? « fragte er überrascht und hielt meine Rechte in beiden Händen. »Schwabe aus dem Banat! « stotterte ich. »Kein verlorener Posten! « sagte er, sonst nichts. […] Schon hielt er die Hand eines andern in der seinen, und der war aus dem Elsaß. Was er ihm sagte, verstand ich nicht. 108 107 MÜLLER-GUTTENBRUNN [1913], p. 219. 108 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1927, p. 196 f. <?page no="79"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 79 Aus der erhöhten Perspektive dieser gesamtnationalen literarischen »Truppenschau« deutet die Engführung der Namen zweier Grenzregionen wie des Banats und des Elsass auf ihre gegenseitige Austauschbarkeit hin und enthält die Botschaft des Anspruchs auf (fremdes) Territorium. Noch pointierter formuliert diesbezüglich ein Brief von Müller-Guttenbrunn, den er im Jahre 1916 an den Bürgermeister von Timi ș oar ă schickte und in dem er sich stolz als der Abkomme von Vorfahren erklärt, die »ihre von den Franzoseneinfällen an der Rheingrenze ständig bedrohten Felder und Weinberge verkauft haben, um sich, dem Rufe des Kaisers folgend, als wohlbestallte Bauern im Banat niederzulassen.« 109 Grenzregionen scheinen in der privaten Mythologie Müller-Guttenbrunns ebenso austauschbar zu sein wie in der deutschnationalen Lyrik und in der Heimatliteratur. Die Nationalisierung von Räumen und Menschen verlangte nach Mustern beispielhafter Grenzkonflikte, doch ihre konkreten Gegebenheiten ließen sich in den literarischen Überhöhungen des Themas ohne weiteres unkenntlich machen. Die Donau ist lediglich eine jener imaginären Grenzlandschaften, an der sich kulturelle Oppositionen festmachen ließen. 7 Literatur als ethnische Säuberung? - Verführer und Verräter Die Pathosformeln historischer Grenzlandschaften gehen in Müller-Guttenbrunns Romanen mit anderen Abgrenzungsszenarien einher. Vor allem die alltäglichen Kontakte zu anderen Ethnien scheinen hierbei relevant zu sein. Wird die Assimilation der Deutschen schlicht und einfach unter der moralischen Kategorie des Verrats eingeordnet und als Renegatentum verworfen, erscheinen verschiedene andere Formen der zwischenethnischen Kontakte mit den Vorstellungen von Unreinheit und Unredlichkeit oder der Obszönität besetzt. Während die geografische Formel der Grenze saubere ethnische Trennungen zu ermöglichen scheint, werden in den Alltagskontakten Desiderate deutlich. Der Gegensatz von (ethnischer) Reinheit und Vermischung wird auf unterschiedlichen Ebenen festgehalten und meistens als nicht authentische Rede oder Kleidung markiert. In Meister Jakob und seine Kinder (1918) etwa wird eine Wallfahrt nach Maria Radna erzählt, wobei Susi Weidmann, die Heldin der Geschichte, und ihre Schwester Ammerich sich von den vielen Sprachen, in denen in der Kirche gebetet wird, gestört fühlen: »Der Ammerich wurde ganz schwül in diesem fremden Gelärm. Wie laut die mit ihrem Herrgott redeten! Das empfand sie unbewusst als fremd. Es störte ihre Andacht.« 110 Der in dieser Szene vermittelten Inauthentizität von fremden Sprachen wird die Echtheit und Reinheit des Deutschen entgegengehalten. Ähnlich erhält die 109 Ibid., p. 284. 110 MÜLLER-GUTTENBRUNN, Adam: Meister Jakob und seine Kinder. Bukarest: Kriterion Verlag 1978, p. 65. <?page no="80"?> 80 Edit Király fremde, städtisch-ungarische Kleidung im Dorf subversive Züge, die »ungarische Gala« des aus der Stadt heimgekehrten Handwerkergesellen erntet nur Spott: Als Jakob sich am nächsten Sonntag für die Kirche angekleidet hatte und stolzen Schrittes ins Zimmer der Mutter trat, schrie diese auf vor Schreck. Und die Kathl nebenan, die auch schon fertig war und mit ihm gehen sollte, hub ein Gelächter an, als ob sie bersten wollte. Der Jakob stand in einem braunroten reichverschnürten ungarischen Anzug vor ihnen, in engen Hosen und einem Attila mit langen Schößen, Sporen an den Csismen, den Fokosch in der Hand. Und auf dem Kopf saß ihm ein Kalpak. Wie aus einem der verbotenen Revolutionsbilder herausgeschnitten, so wie man den Kossuth Lajos und seine Freunde abgebildet hatte, so sah er aus. […] Ob er sich denn um des Himmels willen so auf die Gasse traue, fragte die Mutter. Warum denn nicht? So gingen in Arad alle Gesellen. Man solle nur merken, dass er fort war, erwiderte Jakob. 111 Auch die aus der Fremde mitgebrachte (gottscheeer-deutsche) Ehefrau gibt sich in ihrer städtischen Kleidung im Dorf der Lächerlichkeit preis. Als der aus der Fremde heimkehrende Johann seiner Frau Rosa so gar nicht dorfmäßig den Arm reichte und sie in die Kirche geleitete, da verspielte er seine Partie bei den Weibern des Dorfes vollends. Sie stellte ihren städtischen Modebettel zur Schau, die Krinoline und den Federhut, und sie legte sogar Handschuhe an. Das setzte ein Gerede! Die herrische Frau will ihm die Wirtschaft führen? 112 Mischbeziehungen zwischen Deutschen und anderen Nationalitäten hingegen werden in Müller-Guttenbrunns Romanen als ausgesprochen obszön dargestellt. In der Götzendämmerung wird die Tatsache, dass eine junge verwitwete Schwäbin von einem ungarischen Knecht geschwängert wurde, nicht nur deshalb als Familienschande angesehen, weil ihre Beziehung nicht geheiligt war, sondern weil sie als Teil der ungarischen Assimilationspolitik angesehen wird. In der vorzugsweise einseitigen Beziehung zwischen Kulturen, die Müller- Guttenbrunn vorschwebt, wird aber lediglich die Assimilation in eine Richtung kritisiert, die Assimilierung an das Deutschtum hingegen als löbliche Tat anerkannt. Georg Trauttmann, der den »Fall« seiner verwitweten Schwägerin als schmachvoll empfindet, findet sich sehr wohl damit ab, dass der ungarische Knecht bald »in halb schwäbischer Tracht, und schon leidlich deutsch redend« in einem Hochzeitszug hinter seiner deutschen Frau hergeht. 113 Obszönität haftet daher lediglich dem Verrat am Deutschtum an, dies aber auch dann, wenn es sich keineswegs um obszöne Begebenheiten handelt. Schon in der Götzendämmerung werden Schwaben, die mit Namen und Ansinnen zu Ungarn werden, mit den obszönsten Bezeichnungen besetzt. Als Georg Trauttmann in der Dorfversammlung seine Wahlrede hält, macht er einen 111 Ibid. p. 262. 112 Ibid. 282. 113 MÜLLER-GUTTENBRUNN 1908, p. 332. <?page no="81"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 81 Ausfall gegen diese, die er pauschal als »Düngerhaufen« bezeichnet: »[…] unsere Intelligenz aber ist zum Dünger der magyarischen Kultur geworden.« 114 Die dem Bild des »Düngerhaufens« unterlegte Vorstellung, derzufolge die ungarische Kultur ohne die Stärkung deutscher Intellektueller verkümmern würde, ist der politischen Rhetorik der Zeit entnommen. Ursprünglich hätte der Roman Glocken der Heimat überhaupt dem Renegatenproblem gewidmet sein und den Titel »Verlorene Söhne« tragen sollen. Von dieser Thematik ist Müller-Guttenbrunn durch seine Erlebnisse im Sommer 1907 auf seiner Donaufahrt durch den überschwemmten Rudolfsgnad an der Donau und an der Theiß abgekommen, und es ist bei einem »wohlfeile[n] Ausfall gegen Franz Herzog« 115 geblieben. Im Roman als Autor des erfolgreichen Theaterstückes Zápolya brigadéros 116 vorgestellt, wird der gleich noch ausführlich zu behandelnde Herczeg von einem Schauspieler als »Schwabe« und »Neumadjare« beschimpft. 117 Damit ist in Müller-Guttenbrunns Heimatromanen ein Phänomen angesprochen, das um die Jahrhundertwende ein bevorzugtes Kampfthema in der nationalen Erweckungsbewegung der ungarländischen Deutschen war, nämlich die Assimilation des deutschen Bürgertums und jene Rolle, die es in der Herausbildung der ungarischen Honoratiorenklasse spielte. An der Figur des Renegaten hatten sich die ins Ungarntum assimilierten Deutschen abzuarbeiten; im ungarischen Kontext wurde sie immer wieder positiv umgewertet. Indem der Vorwurf des Renegatentums auf Heroen der ungarischen Geschichte adaptiert wird, deren Vorfahren keine Ungarn waren, verliert er seine spezifische moralische Bedeutung und wird zu einer ironischen figura nationaler Zusammengehörigkeit. Ferenc Herczeg (1863-1954) entwirft etwa in seinen Lebenserinnerungen als Antwort auf die Beschuldigung des Renegatentums eine äußerst prominente Ahnenreihe von Autoren. Nacionalista német lapok néha renegátnak neveztek. Hidegen hagyott. Az én családom kétszáz esztend ő vel ezel ő tt jött ki Németországból, egy német fejedelem el ő l menekült, olyan id ő ben, mikor az ő shazában a nemzeti kérdés még ismeretlen fogalom volt. Ezt az érzést itt ismerték meg Magyarországon, alattvalókból itt lettek polgárokká. Nekem különben az a meggy ő z ő désem, hogy a kapás ember lehet sváb vagy tót, kultúrember azonban Magyarországon csak magyar lehet. Ha ezért renegát vagyok: annyi baj legyen, Zrínyi Miklós és Pet ő fi Sándor társaságában vagyok. Nationalistische Deutsche Blätter haben mich gelegentlich einen Renegaten genannt. Das ließ mich kalt. Meine Familie ist vor zweihundert Jahren aus Deutschland gekommen, floh vor einem deutschen Fürsten, zu einer Zeit, als die nationale Frage in der Urheimat noch unbekannt war. Dieses Gefühl haben sie erst in Ungarn kennen gelernt, hier sind sie von Untertanen zu Bürgern geworden. Ich meinerseits 114 Ibid., p. 302. 115 KESSLER 1997, p. 459. Im Roman heißt Herczeg Franz Häberle. 116 In Wirklichkeit: Ocskay brigadéros. 117 MÜLLER-GUTTENBRUNN: Glocken der Heimat. Leipzig: Staackmann 1912, p. 168 f. <?page no="82"?> 82 Edit Király bin der Auffassung, dass ein Ackermann sehr wohl Schwabe oder Slovake, aber ein Kulturmensch in Ungarn nur ein Ungar sein kann. Wenn ich deswegen ein Renegat bin, umso besser, ich bin in der Gesellschaft von Miklós Zrínyi und Sándor Pet ő fi. 118 Der deutschstämmige ungarische Autor der Zwischenkriegszeit Károly Molter (siehe Schluss dieses Aufsatzes) verlängert die von Herczeg heraufbeschworene Ahnenreihe noch um einiges - freilich ohne Herczegs ausgesprochene ethnische Vorurteile. Als ihn bei seiner »Möller-Guttenbrunn«-Lektüre [sic! ] der Vorwurf der »Paprika-Ungarn«, »Magyaronen« und »Renegaten« begegnet, führt er den Namen anderer prominenter ungarischer Autoren wie Herczeg selbst, Tömörkény und Gárdonyi an. Die Hinzufügung von solch internationalen Größen wie Nikolaus Lenau und Franz Liszt und deren ungarisches Bewusstsein lässt den Parnass nicht-ungarischstämmiger Ungarn besonders imposant erscheinen. Während die ironisch verwendete Figur des Renegaten bei manchen in das Ungarntum assimilierten Ungarn zur beliebten rhetorischen Form wurde, um ethnische Grenzen in einer Richtung zu verwischen, wurden ethnische Grenzen in andere Richtungen durchaus bestätigt. Sofern sie, wie Ferencz Herceg, banaterdeutscher Herkunft waren, spielte auch für sie die Donau die Rolle einer modellhaften Grenzlandschaft. Bei anderen, wie etwa dem aus der Batschka gebürtigen Károly Molter, wurde die Donau zum Ort allegorischer Grenzauflösung, indem sie einem geläufigen Topos der Zwischenkriegszeit entsprechend zum geografischen Bindeglied zwischen Minderheitenvölkern stilisiert wurde. 8 Ein Konservativer und Renegat par excellence: Ferenc Herczeg Ferenc Herczeg wird in der ungarischen Literaturgeschichte als Repräsentant einer Klasse und als Vertreter einer ungarischen Schriftkultur angesehen, die vor dem Ersten Weltkrieg noch wichtige liberale Werte hochgehalten hatte, diese aber im Ersten Weltkrieg und in der Zeit danach weitgehend verlor. 119 Die divergierenden Bewertungen, die Herczeg zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Seiten gegeben wurden, lassen sich gerade aus dieser repräsentativen Rolle heraus erklären. Die Geister scheiden sich dabei sowohl 118 Übersetzt von E. K. HERCZEG 1985, p. 226. 119 Deswegen schreibt Béla G. Németh in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Ferenc Herczegs historischen Romanen im Jahre 1983, dass »Ferenc Herczeg […] die Nachwelt sowohl literarisch als auch gesellschaftsethisch wesentlich vorteilhafter beurteilen [würde], wenn seine schriftstellerische und öffentliche Tätigkeit irgendwann am Anfang der zehner und noch mehr am Anfang der zwanziger Jahre abgebrochen wäre.« (Übersetzt von E. K.) »Herczeg Ferencet például alighanem kedvezőbb ítéletben részesítené az utókor irodalomkritikai s társadalometikai bírálata egyaránt, ha írói s közéleti tevékenysége valahol a tízes, főleg pedig a húszas évek elején megakadt volna.« Cf. NÉMETH, G. Béla: A lektűr magyar mestere. Herczeg Ferenczről [Der ungarische Meister der Lektüre. Über Ferenc Herczeg]. In: HERCZEG, Ferenc: Történelmi regények [Historische Romane]. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó 1983, pp. 5-22, hier p. 5. <?page no="83"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 83 an seiner konservativen politischen Tätigkeit als auch an seinem konservativen Literaturverständnis. Wie in den 1950er Jahren der Literaturhistoriker János Barta und in den 1980er Jahren Béla Németh G. festhielten, war Herczeg die repräsentative Rolle des konservativen, »nationalen« Autors erst nach dem Ersten Weltkrieg zuteil geworden, als er zur Galionsfigur des christlich-nationalen Kurses, der im Ungarn der Zwischenkriegszeit dominanten politischen Ideologie, geworden war. Dabei ist es kaum geklärt, wie Barta formuliert, »inwieweit dies von Herczeg eine aktive Teilnahme erforderte, inwieweit er die groß angelegte Verwendung seines Namens lediglich tolerierte«. 120 Die öffentliche Rolle, die Herczeg in der Zwischenkriegszeit spielte, lag Bartas Meinung nach in seiner politischen Tätigkeit begründet, in seiner Freundschaft zu dem konservativen Politiker István Tisza sowie in seiner aktiven Mitarbeit in der »Ungarischen Revisionsliga« (Magyar Reviziós Liga). Wie Barta formuliert: »[…] man sah in ihm weniger den Schriftsteller als den tadellosen Gentleman.« 121 Für die Überdimensioniertheit dieser öffentlichen Rolle habe dann, so Barta, auch der ansonsten keineswegs unbegabte Schriftsteller »einen Preis zu entrichten gehabt«. 122 Gemäß der Rolle eines repräsentativen Autor hat er Sinn und Form eines neuen Akademismus gepflegt und große historische Dramen und Romane verfasst, die dem aktuellen Kult von Széchenyi (im Drama A híd, Die Brücke), dem Rákóczi- (im Roman Pro libertate) bzw. dem Pet ő fi-Jubiläum (A költ ő és a halál, Der Dichter und der Tod) dienten und in Bartas Urteil nicht seinem eigentlichen Talent gerecht wurden. Dieses bestand eher im satirischen Ton und kam in seinen Werken aus der Jahrhundertwende (Andor és András, Andor und Andreas) und in der »liederlichen« Darstellung des Gentry-Lebens in seinen Werken aus den 1890er Jahren (A dolovai nábob lánya, Die Tochter des Nabobs von Dolova, Gyurkovics-lányok, Die Gyurkovics-Töchter) besser zum Vorschein. Als die ungarische Akademie im Jahre 1925 das erste Mal die Möglichkeit bekam, einen ungarischen Nobelpreiskandidaten für Literatur zu stellen und die Wahl der einberufenen Literaturwissenschaftler 123 auf Herczeg fiel, der selbst zweiter Präsident der Akademie war, 124 wurde wiederum ein historischer Roman, Az élet kapuja (Das Tor des Lebens), zum Höhepunkt des Lebenswerks gekürt. Der historische Roman Pogányok (Heiden) hingegen wurde zur Schulpflichtlektüre. An diesem Punkt gehen die Meinungen der Literaturhistoriker der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit am entschiedensten auseinander. Während 120 »[…] hogy ez mennyiben jelentett aktív szerepet Herczeg részére, s mennyiben tűrte esetleg csak passzív módon nevének nagyarányú felhasználását.« (Übersetzt von E. K.). BARTA, János: Herczeg Ferenc - mai szemmel. Alföld 1 (1955), p. 62. 121 »[…] nem annyira az írót nézték benne, hanem a kifogástalan úriembert.« (Übersetzt von E. K.). BAR- TA 1955, p. 62. 122 »[…] az árat neki is meg kellett fizetnie […]« (Übersetzt von E. K.). Ibid. 123 Négyesy László, Császár Elemér, Horváth János, Papp Ferenc és Tolna Vilmos. Cf. BARTA 1955, p. 59. 124 Der deutsche Verlag, dem das Buch Az élet kapuja zur Übersetzung vorgelegt wurde, wies es als literarisch wertlos zurück. Cf. BARTA 1955 p. 59. <?page no="84"?> 84 Edit Király János Horváth Herczeg 1915 gerade als jenen Erzähler lobt, der das literarische Publikum durch seine »reinere, edlere und poetischere Richtung« vor den »Extremen des naturalistischen Romans« und der dekadenten Linie bewahren konnte, 125 meint Barta 1955, dass »im Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen […] Herczeg der bedeutendste Unterstützer des morschen Alten« 126 war. Schon in der Begründung von Herczegs Nobelpreiskandidatur spielt das Argument des klassischen Erbes, insbesondere im Zusammenhang mit den Namen Jókai und Mikszáth als zwei unanfechtbaren Größen der nationalen Epik des 19. Jahrhunderts, eine Rolle. 127 Vor allem in der Schilderung des Lebens der ungarischen Gentry, also des Kleinadels, war er deutlich ein ›Erbe‹ der beiden. Ein Erbe war Herczeg jedoch auch in einem literatursoziologisch besser fassbaren Sinne des Wortes, indem er beide Meister der zweiten Jahrhunderthälfte in manchen ihrer öffentlichen Positionen 128 und zum Teil auch in der literarischen Stellung tatsächlich beerbt hat. Denn zum Rollenrepertoire jenes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beheimateten Typus des ungarischen Schriftstellers, als dessen Nachfolger und letzter bedeutender Vertreter Herczeg vielfach angesehen wurde, gehörte es fast ebenso selbstverständlich, Abgeordneter im ungarischen Parlament in den Reihen der Regierungspartei zu sein, eine groß angelegte politisch-publizistische Tätigkeit zu verfolgen und eine repräsentative Funktion an der Spitze von nationalen Schriftsteller-Vereinen wie der Kisfaludy Társaság (Kisfaludy-Gesellschaft) oder der Petőfi Társaság wahrzunehmen. Im Allgemeinen könnte man sagen, dass das literaturhistorische Interesse an Herczeg sich seit seinem Tode wesentlich verschoben hat. Aufeinander folgende Generationen von Literaturhistorikern haben immer mehr sein Leben und immer weniger sein Werk als der Analyse würdig erachtet. Schon in Bartas Studie gerät die Diskrepanz von Schriftstellerrolle und Talent in den Mittelpunkt der Betrachtung, und der bislang letzte ernsthafte literaturwissenschaftliche Versuch, das Phänomen Herczeg zu fassen, nämlich Némeths Herczeg-Studien, stellte gerade die literatursoziologischen und kulturhistorischen Aspekte seiner Karriere in 125 »Herczegnek a magyar irodalomtörténetben az lesz egyik legnagyobb jelentősége, hogy oly időben, mikor a naturalista regény szélsőségei számára nálunk is megnyílt az út s megvolt a hajlam; másfelöl pedig pedig oly ábrázoló tehetséggel, mely élethűségben párját ritkítja: az ő kiváló elbeszélő művészetével egy tisztább, nemesebb és költőibb irány hűségében tudta megtartani s megóvni a magyar olvasóközönséget. E közönsége lelkében, klasszikus irodalmunk nagy hagyományához társultan, jelentékenyen növelte Herczeg hatása azt az ellenállóképességet, melyet e közönség az irodalmi dekadenciával szemben tanusít. Irónk egyébként éles tolal, az erkölcsi józanság frappáns ítéletével nem egyszer lépett fel nyíltan is a dekadens irány ellen.« (Übersetzt von E. K.). HORVÁTH, János: Herczeg Ferenc. In: Irodalomtörténeti Közlemények 3-4 (1925), pp. 153-170, p. 161. 126 »[…] az új és régi harcában ő lett a roskadozó réginek legjelentősebb támogatója […]« (Übersetzt von E. K.). BARTA, János: Herczeg Ferenc - mai szemmel. [Ferenc Herczeg - aus heutiger Sicht]. Alföld 4 (1955), pp. 59-69, hier p. 60. 127 HORVÁTH 1925, p. 154. 128 Herczeg war ab 1891 Mitglied der Petőfi-Gesellschaft und übernahm seine Leitung von Jókai nach dessen Tod, Mikszáth delegierte ihn vor seinem Tod in die Ungarische Direktion der Adria Versicherungs-Gesellschaft mit den Worten: »›Macht aus meinem Posten ein literarisches Stallum - wählt Herczeg! ‹« [ »›Csináljatok a helyemből irodalmi stallumot - utánam válasszátok meg Herczeget.‹«] Cf. HERCZEG 1985, p. 455. <?page no="85"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 85 den Vordergrund. In der Einleitung zur Werkneuausgabe 1983 bezeichnet der Literaturhistoriker Géza B. Németh den Autor als ein prominentes Beispiel für die Mobilitätsgewinne jener Teile des ungarndeutschen Bürgertums, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders assimilationsfreudig zeigten. Denn, so Németh, neben seinem unzweifelbaren Selbstwert stelle Herczegs Lebenswerk »aus der Perspektive einer wichtigen Schicht und einer wichtigen Epoche […] ein besonders gut verwendbares Material« dar. 129 Vor dem Hintergrund dieser kulturhistorischen und literatursoziologischen Herangehensweise hebt Németh »die fast vollständige Angleichung an die Bildungsgewohnheiten und öffentlichen Tendenzen der als Idealbild angesehenen Gesellschaftsschicht« als Herczegs bezeichnendstes menschliches und schriftstellerisches Charaktermerkmal hervor. 130 Die Schicht, an welche die Angleichung erfolgt, ist die ungarische Gentry. Jene aber, für deren Verständnis laut Németh Herczegs Lebenswerk besonders gut verwertbar sei, bestehe aus den in die Verwaltungs- und Kulturzentren strömenden reichen Bauern und städtischen Bürgern der Bacska und des Banats. 131 In der Interpretation von Herczegs Assimilationsgeschichte stützt sich Németh weitgehend auf die 1940 zum ersten Mal veröffentlichte Monografie von Béla Pukánszky, Német polgárság magyar földön (Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden), die bis zum heutigen Tag umfassendste Darstellung der Assimilationsbestrebungen des deutschen Bürgertums in Ungarn. Diese Bestrebungen liegen Pukánszky zufolge in dem Zusammenhang zwischen Assimilation und gesellschaftlichem Erfolg begründet: Die Assimilationsbereitschaft des Bürgertums im modernen ungarischen liberalen Nationalstaat hat, stärker denn je, fast ausschließlich der Wunsch nach gesellschaftlichem Vorwärtskommen genährt und angetrieben. 132 Schon 1848 habe dieses Bürgertum seine schlummernden politischen Ambitionen in der Assimilation befriedigt, doch nach dem Ausgleich habe diese Alternative noch an gesellschaftlicher Anziehungskraft dazugewonnen. Laut Pukánszky werde der Zusammenhang von ›Herr und Ungar‹ zu einer ebenso selbstverständlichen Gleichung wie in den vierziger Jahren die Verbindung ›Freiheit und Ungar‹. Ein ›Schwabe‹ zu sein bedeutete hingegen in der gesellschaftlich wenig geachteten Unterschicht zu bleiben. 133 Die von Pukánszky herausgearbeiteten Gründe für die Assimilation der Deutschen in Ungarn sind freilich auch deswegen so leicht auf den Fall von Fe- 129 NÉMETH 1983, p. 21 130 »Ez a párhuzamosság a kor és az életmű minőségének együttes változása között Herczeg legjellemzőbb emberi-írói karakterjegyét mutatja föl: a majdnem teljes alkalmazkodást az ideálképnek tekintett társadalmi réteg művelődési-közéleti mozgásához.« (Übersetzt von E. K.). NÉMETH, G. Béla: A lektűr magyar mestere. Herczeg Ferencről [Der ungarische Meister der Lektüre. Über Ferenc Herczeg]. In: HERCZEG 1983, pp. 5-22, hier p. 5. 131 NÉMETH 1983, p. 6. 132 »A modern magyar liberális nemzetállam polgárságának beolvadási készségét eröösebben mint valaha, csaknem egyedül a társadalmi emelkedés vágya táplálja és hajtja«. PUKÁNSZKY 2000, p. 77. 133 Cf. Ibid. p. 79. <?page no="86"?> 86 Edit Király renc Herczeg adaptierbar, weil er sein Material größtenteils aus den Biografien ähnlich prominenter Beispiele wie ihm selbst geschöpft hatte. 134 8.1 Herczegs Assimilationsgeschichte Warum er zum Ungarn wurde, schilderte Herczeg in seinen Lebenserinnerungen als einen selbstverständlichen, logischen und von langer Hand vorbereiteten Vorgang. Der Sohn des wohlhabenden und geachteten Werschetzer (Vršacer) Apothekers wurde von seinem Vater nach Szeged ins Gymnasium geschickt, um gut Ungarisch zu lernen. Seine Familie war der ungarischen Kultur seit 1848 zugetan, einem Jahr, das er öfters als prägendes, Deutsche und Ungarn zusammenschweißendes Erlebnis beschrieben hat. 135 Auf die Zeit in Szeged folgten die Jahre am ungarischsprachigen Gymnasium in Weißkirchen/ Fehértemplom/ Bela Crkva) unweit seiner Vaterstadt im Banat. Für die Abiturienten dieses Gymnasiums war neben Berlin, Wien und München Budapest einer der möglichen Studienorte. 136 Die Entscheidung des Sohns für Budapest erscheint lediglich als die Fortsetzung der Pläne und Erziehungsprinzipien der Familie. Die Entscheidung, (ungarischer) Schriftsteller zu werden, scheint hierbei der wesentlich gewagtere Schritt gewesen zu sein, den er durch die Wahl eines gesicherten Berufes, den des Politikers, hatte wettmachen müssen. Dass Herczeg sich nicht lediglich einer Nation, sondern auch einer Klasse angepasst hat, wird in fast allen neueren Analysen hervorgehoben. 137 Er gehörte in Budapest in kürzester Zeit der ungarischen politischen Klasse an, verkehrte mit Politikern, Schauspielern, Theaterdirektoren und Chefredakteuren. Der Habitus der ungarischen Gentry war ihm noch von Weißkirchen her bekannt, wo er mit deren Mitgliedern verkehrt hatte. In seiner Anpassung an diese Klasse spielten offenbar Männlichkeitsrituale wie Duelle eine entscheidende Rolle. Im ungarischen Duellbuch kommt Herczeg sowohl als Duellant als auch als Sekundant 134 Fritz Valjavec modifiziert das Bild kritisch in folgende Richtung: »Seitens der ungarischen Forschung wurde immer die Ansicht vertreten, dass das deutsche Bürgertum der Städte sich freiwillig aus eigenem Antrieb dem Madjarentum angeschlossen hätte, dass das Deutschtum der städtischen Siedlungen durch den Schwung des ungarischen Nationalismus mitgerissen, zuerst politisch, gefühlsmäßig, dann auch sprachlich dem Madjarentum angeglichen worden sei. Diese stark verallgemeinernde Auffassung lässt sich ebenso wenig wie die Meinung halten, dass das deutsche Bürgertum etwa einer zwangsweisen Entvolklichung zum Opfer gefallen sei. Gegen die erste Auffassung spricht die Tatsache, dass wir nahezu in jeder Stadt Vorkriegsungarns im Laufe des 19. Jh.s völkischen Abwehrwillen wahrnehmen können. Die zweite Anschauung wiederum wird dadurch widerlegt, dass etwa bis 1867 von der Anwendung nennenswerter Druckmittel auf das deutsche Element der Städte nicht gesprochen werden kann, während andererseits der Vorgang der Umvolkung bis zu diesem Zeitpunkt bereits im wesentlichen abgeschlossen und der weitere Verlauf vorgezeichnet war.« VAL- JAVEC, Fritz: Das deutsche Bürgertum und die Anfänge der deutschen Bewegung in Ungarn. In: Südostdeutsche Forschungen 3 (1968), p. 215. 135 Cf. HERCZEG 1985, p. 53; Herczeg, Ferenc: A hét sváb [Die sieben Schwaben]. In: DERS.1983. 136 Cf. HERCZEG 1985, pp. 149-152. 137 Cf. NÉMETH, G. Béla: Az »úri középosztály« történetének egy dokumentuma: Herczeg Ferenc Emlékezései. In: HERCZEG 1985, pp. 7-32. <?page no="87"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 87 öfters vor. In der Tat fand er die Muße zum Schreiben seines ersten Buches während einer viermonatigen Gefängnishaft, die er 1889 für den Tod eines Duellgegners 138 absitzen musste. 8.2 Die deutsche Nationalitätenfrage Als einen Kontext der Assimilation hat Herczeg öfters jene ethnische Hierarchie angeführt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Banat geltend war. So schreibt er im 1933 veröffentlichten ersten Band seiner Lebenserinnerungen 139 : Im Südland hielt sich damals die Auffassung, dass man nur bis fünfhundert Joch Serbe oder Schwabe sein kann, darüber hinaus müsse man aber unbedingt Ungar sein, wenn man ein seinem Vermögen entsprechendes Leben führen wolle. 140 Die Regel gilt aber Herczegs Meinung nach auch für alle gebildeten Menschen, denn ein Bauer mag Serbe oder Schwabe bleiben, »ein Kulturmensch [jedoch] kann in Ungarn nur Ungar sein«. 141 János Barta macht in seiner Herczeg-Studie zu Recht darauf aufmerksam, dass der Begriff »Kultur« bzw. »Kulturmensch« an dieser Stelle keineswegs irgendwelche tieferen Kenntnisse der ungarischen Kultur impliziert, sondern lediglich als Distinktionsmarke der ungarischen Gentry gegenüber anderen Schichten fungiert. 142 Die politischen und theoretischen Grundlagen dieser mehrfach verlautbarten Meinung wurden in einem politischen »Aufsatz« ausgearbeitet, den Herczeg 1902 in der Budapesti Hírlap unter dem Titel »A német nemzetiségi kérdés« (Die deutsche Nationalitätenfrage) in vier Teilen veröffentlichte. Das Blatt, eines der wichtigsten politischen Presseorgane der Jahrhundertwende, vertrat eine aggressiv-nationalistische Linie, sein Chefredakteur Jen ő Rákosi wurde als deutschstämmiger ungarischer Patriot zu einem der vehementesten Bekämpfer der pangermanischen Gefahr. Bei seinem Blatt legte man großen Wert auf den richtigen und bodenständigen Gebrauch des Ungarischen, und er selbst ging mit seinem Purismus so weit, dass er etwa Shakespeare phonetisch als Sekszpir oder Bordeaux als Bordó schrieb, einer für nichtungarische Personennamen im Ungarischen nicht gängigen Praxis. 143 138 Das Duell wurde am 31.7.1886 mit einem Honvéd-Offizier gefochten. Cf. CLAIR, Vilmos: Magyar Párbajok. Attila hun király idejétől az 1923. év végéig. Budapest: Singer és Wolfner 1930. Neue Ausgabe: Magyar párbaj [Das ungarische Duell], Budapest: Osiris 2002, pp. 299 ff. 139 Im Original: A várhegy [Der Burgberg]. 140 »Akkoriban azt tartották a Délvidéken, hogy az ember csak ötszáz holdig lehet rác vagy sváb, azon felül magyarnak kell lennie, ha a vagyonához méltó életet akar élni.« HERCZEG 1985, p. 226. 141 »[…] a kapás ember lehet sváb vagy tót, kultúrember azonban Magyarországon csak magyar lehet.« Herczeg 1985, p. 226. 142 BARTA 1955, p. 61. 143 HERCZEG 1985, p. 236. Andere europäische Orthographien, insbesonders das am Kyrillischen orientierte lateinschriftliche Serbisch, schreiben ganz selbstverständlich Šekspir und Bordo, analog zu <?page no="88"?> 88 Edit Király Herczeg war von 1890 bis 1894 interner Mitarbeiter von Rákosis Budapesti Hírlap, und obwohl er sich in seinen Lebenserinnerungen von Rákosis chauvinistischer Linie abgrenzt und seine Position in dessen Zeitung als die eines »die eigenen Prinzipien verleugnenden Mameluken in einer Kuruzzenfestung« beschreibt, schildert er Rákosi mit großer Bewunderung als faszinierende Persönlichkeit. 144 In dem 1902 veröffentlichten Artikel über »Die deutsche Nationalitätenfrage« gibt Herczeg eine umsichtige Analyse der Lage und empfiehlt der Regierung entsprechende politische Maßnahmen. Er argumentiert wie ein genauer Kenner der Schwaben, als Sachkundiger und nicht als Betroffener. Der Aufsatz geht zunächst von der Notwendigkeit der Assimilation aus: Az egyén csakis a nemzet közvetítésével vehet részt az emberiség munkájában […]. A fajától messzire elszakadt svábság magában soha nem lehet nemzet. Legföljebb csak ugynevezett nemzetiség. A jöv ő jét illet ő leg két lehet ő ség képzelhet ő el. Vagy eggyé lesz a magyarsággal és akkor beleviheti speciális faji tulajdonságait a nemzet állami és kultúrális életébe, értékesítheti nagy munkaerejét a maga és az emberiség javára, szóval nemzeti életet élhet. Vagy elzárkózik a nemzettől, átalakul a nagynémetség platonikus gyarmatává és akkor az ellenséges földön magára hagyottan teng ő d ő kolónia medd ő és szomorú életét éli. Das Individuum kann nur durch die Vermittlung der Nation an der Arbeit der Menschheit teilnehmen […]. Das Schwabentum, das von seiner Art weit getrennt lebt, kann in sich selbst nie eine Nation werden. Nur eine so genannte Nationalität. Für die Zukunft kann man sich zwei Möglichkeiten vorstellen. Entweder wird es eins mit dem Ungarntum und dann kann es die spezifischen Eigenschaften seiner Art in das staatliche und kulturelle Leben der Nation reinbringen. Oder es verschließt sich vor der Nation, verwandelt sich in eine platonische Kolonie des Großdeutschtums und es wird das unfruchtbare und traurige Dasein der in Feindesland sich selbst überlassenen Kolonie fristen. 145 Eine andere Alternative gibt es in Herczegs Augen nicht. Entsprechend ist die Bereitschaft zur Assimilation lediglich das Anerkennen einer »welthistorischen Notwendigkeit«. 146 Es ist gerade die Notwendigkeit einer überregionalen Zusammengehörigkeit, die Teilnahme an wirklicher Geschichte, die für die Schwaben den Handlungsraum der ungarischen Nation eröffnet. Gerade hierfür steht ›1848‹ als Beispiel. 147 Шекспир und Бордо. Die Praxis hat sich in verschiedenen Orthographien aber auch gewandelt. So schrieb J. W. Goethe in seiner berühmten Rede von 1771 »Schäkespeare« und »Schäckespeare«. Cf. GOETHE, Johann Wolfgang von: Schriften zur Literatur. In: Goethes Werke Bd. 12. Hamburg: Christian Wegner 1960, pp. 272-364, Anmerkungen p. 670. 144 Ibid., pp. 235-241. 145 Übersetzt von E. K. HERCZEG, Ferenc: A német nemzetiségi kérdés (négy újságcikk) [Die deutsche Nationalitätenfrage. Vier Zeitungsartikel]. Budapest: Singer és Wolfner, 1902, p. 6. 146 »A svábok hajlandósága a magyarosodásra egy világtörténelmi igazság ösztönszerű megismeréséből fakad.« (Übersetzt von E. K.) HERCZEG 1902, p. 6. 147 HERCZEG 1902, p. 6. <?page no="89"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 89 Dementsprechend kann es Herczeg zufolge auch keine Zwangsungarisierung geben, sondern nur eine freiwillige. 148 Die Unzufriedenheit, die es bei einem Teil der Banater Bevölkerung gibt, entstamme nicht den wirklichen Nöten der Banater Deutschen, sondern sei das Ergebnis pangermanischer Propaganda. In diesem Sinne wird das Verhältnis von deutscher Nation und deutscher Nationalität durch ein hypertrophes Bild beschworen: »Wenn der Ozean schwillt, rauscht auch die Seeschnecke auf dem Kamin.« 149 Die im Bild enthaltene Vergrößerung und Verkleinerung sind gängige rhetorische Griffe im journalistischen Kampf gegen die »pangermanische Gefahr«. Während die Bedeutung der banaterdeutschen Beschwerden heruntergespielt wird (»am Kamin«), bekommt die gesamtdeutsche Gefahr eine bedrohliche Dimension (»Ozean«). Es ist bemerkenswert, dass sich Herczeg in seinem Aufsatz ebenso auf den banaterdeutschen Bauern beruft wie Müller-Guttenbrunn. Nur sind es bei ihm, dem gefeierten ungarischen Schriftsteller, Klima und Geografie und nicht Geschichte, die diesen bestimmen und zur Grundfigur einer ebenfalls konservativen Argumentation machen. A beláthatatlan nagy sikságon elszórt falvakban és civis-városokban élve, a legújabb id ő kig extenzív gazdaságot folytatva, gabonát és bort termelve, lovat neveleve: a sváb gondolkozása, jelleme, de még a vérmérséklete is gyökeresen átalakult. A déli égboltozathoz, az alföldi éghajlathoz, a zsíros magyar földhöz, az új környezethez alkalmazkodó életmód és táplálkozás megtette a népre a maga hatását: a bánsági sváb ma nem hasonlít sem bajorhoz, sem szászhoz, sem württembergihez, sem semmiféle német felekezethez, de igenis hasonlít a keleteurópai nagy sikságok lakóihoz és édesrokona mindenekel ő tt az alföldi magyar embernek. Zerstreut auf der unermesslich weiten Ebene und bis zur jüngsten Zeit externe Landwirtschaft betreibend und Wein produzierend, haben sich das Denken, der Charakter, ja selbst das Temperament der Schwaben von Grund auf verändert. Die Lebensweise, die sich dem südlichen Himmel, dem Klima der Tiefebene, dem fetten ungarischen Boden, der neuen Umgebung anpasste, hat das ihre getan: Der Banater Schwabe ähnelt heute nicht dem Bayer, dem Sachsen, dem Württemberger noch irgendeiner deutschen Gemeinde, sondern dem Bewohner der großen osteuropäischen Steppen und ist am meisten mit dem Ungar der Tiefebene verwandt. 150 Die Zugehörigkeit der Schwaben zum Deutschtum ist hingegen nach Herczegs Meinung eine »papierne Verwandschaft«. 151 Obwohl in Herczegs Œuvre die regionale Zugehörigkeit zum Banat oder gar zum Schwabentum keine vordergründige Rolle spielt, tauchen in einigen Werken dennoch Aspekte der »deutschen Nationalitätenfrage« auf, so etwa die symbolische Geografie des Banats, der Wechsel der Identitäten oder die Figur des Renegaten, beispielsweise im historischen Roman A hét sváb (Die sieben Schwaben) und in den Lebenserinnerun- 148 »A Bánságban soha nem magyarositott senki.« (Übersetzt von E. K.) Herczeg 1902, p. 16. 149 »Ha dagad az óceán, akkor zúgni kezd a kandallón fekvő tengeri csiga.« HERCZEG 1902, p. 19. 150 Übersetzt von E. K. HERCZEG 1902, p. 6. 151 »[…] papírrokonság […]« Cf. HERCZEG 1902, p. 16. <?page no="90"?> 90 Edit Király gen. In den literarischen Texten erscheinen jedoch diese Elemente der Nationalitätenfrage ganz anders konfiguriert. 152 8.3 Die sieben Schwaben Der Roman A hét sváb erschien zuerst Anfang 1914 in Herczegs belletristischem Wochenblatt Új Idők als Fortsetzungsroman (Nr. 1-22, 1914). Der Erstausgabe 1916 bei Singer & Wolfner, einem der erfolgreichsten ungarischen Verlage der Jahrhundertwende, als dessen Hausautor Herczeg galt, folgten schon im nächsten Jahr zwei weitere. Bei dem Entschluss, diese zu dramatisieren, dürfte die Entdeckung ihrer ursprünglich unbeabsichtigten Aktualität, die schon von den ersten Rezensenten 1916 allseits hervorgehoben worden war, 153 mit eine Rolle gespielt haben. Die dramatisierte Fassung, 1918 unter dem Titel A fekete lovas (Der schwarze Reiter) entstanden, hat Herczeg in direkter Auflehnung gegen die vermeintlich antinationalistische Tendenz der Zeit und als Kritik an der Gleichgültigkeit gegenüber territorialen Fragen verfasst. Ihre Uraufführung wurde 1919 während der kommunistischen Räterepublik von Georg Lukács, dem Kommissar für Unterrichtswesen, wegen seiner nationalistischen Tendenz nicht zugelassen. Sie erfolgte daher erst nach der Niederschlagung der Kommune am 5. Dezember 1919 im Ungarischen Nationaltheater in Budapest und wurde zu einem großen Erfolg. Sie wurde von Politikern gerühmt und im Rahmen der Revisionspolitik gefeiert und rezipiert. 154 Der Roman gehört zu einer Reihe von historischen Romanen, die Herczeg verfasst hat, unterscheidet sich aber von diesen in der Wahl seiner bürgerlichen Helden und in deren zum Teil durchaus ökonomischen Motivation. Schon der jüngere Schriftstellerkollege Kosztolányi hebt in seiner Rezension aus dem Jahre 1916 den miniaturisierenden Charakter des Romans hervor, der Geschichte in intime Familiengeschichte verwandelt. 155 Das Verhältnis von ›klein‹ und ›groß‹, von intimer und öffentlicher Geschichte scheint einen wichtigen Aspekt des Romans abzugeben, wobei man ›klein‹ als lokale, persönlich erlebte und ›groß‹ als nationale oder europäische Geschichte interpretieren kann. 152 Das Banat und vor allem Werschetz/ Vršac spielt in folgenden Werken Herczegs eine Rolle. Romane: Fenn és Lenn; Gyurka és Sándor; Gyurkovics Milán mandátuma; A Gyurkovics fiúk; A Gyurkovics-lányok; A hét sváb; Dramen: A dolovai nábob lánya; A Gyurkovics-lányok; Ocskay brigadéros, Novelle: Új-Vineta; Ahol én gyermek voltam; Tizenhárom levél; A turkesztán; Zubovics Fedor; A fehértemplomi összeesküvés; Az ürményházi harang; Versec usw. Cf. NÉMETH Ferenc: Dél-Bánát Herczeg Ferenc műveiben. In: BAGI, Ferenc (szerk.): Herczeg Ferenc tanácskozások 1998-2002. Újvidék [Novi Sad]: Atlantis 2003, pp. hier p. 54. 153 Cf. KOSZTOLÁNYI, Dezső: Herczeg Ferencz. A hét sváb. In: Világ (4.6.1916), pp. 23 f. VOINOVICH, Géza: Herczeg Ferencz. A hét sváb. In: Budapesti Szemle 180 (1919), pp. 231-234. MOHÁCSI, Eugen. In: Pester Lloyd (Morgenausgabe, 28.7.1916). LENGYEL, Ernő. In: Pesti Napló (11.6.1916), pp. 19-20. 154 Sie wurde z. B. von dem Kultusminister, István Haller, als »nationale und patriotische Literatur« gelobt. Cf. Figáró (17.12.1919), p. 1. 155 Cf. »Történelmi regényt írt, mely intim családi regény.« Kosztolányi Dezső 1916, pp. 23 f. <?page no="91"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 91 Der Vergleich mit Müller-Guttenbrunns Banater historischen Romanen, vor allem mit dem Roman Der große Schwabenzug (1913) ist naheliegend, da dieser fast zeitgleich erschien und ebenfalls als Produkt der Suche nach einem Gründungsmythos der Banater Schwaben gelesen werden kann. Doch während bei Müller-Guttenbrunn die Kolonisierung des Banats und das Massensterben infolge der schlechten klimatischen Verhältnisse und der Pest im 18. Jahrhundert zu Urszenen der banaterdeutschen Geschichte werden, macht Ferenc Herczeg die Revolution und den Freiheitskrieg von 1848 zu einer Art Initiationserlebnis. Prekärerweise »argumentieren« beide Romane ähnlich, sie interpretieren ein kollektives Opfer als jene symbolische Handlung, die das Territorium in einen nationalen Raum verwandelt. Doch tun sie das mit konträrer Zielsetzung und mit anderen literarischen Mitteln. Die im Titel enthaltene Anspielung auf die Sage von den sieben Schwaben, die große Helden sein wollen, 156 sich dabei aber tölpelhaft benehmen, bezieht sich hier auf sieben schwäbische Helden des ungarischen Freiheitskrieges von 1848/ 49, deren Kreis im Frühsommer 1848 über Nacht in den Mittelpunkt der revolutionären und kriegerischen Ereignisse gerät. Der durch den Titel evozierte Dummenschwank wird hier als Negativfolie benutzt: Die sieben Schwaben, von denen schließlich allein Jani Graf (sein Name ist eine offenbarer Anspielung auf die Familie Herzog) am Leben bleibt, werden als zivile Helden der Geschichte dargestellt. »Toll« sind in Herczegs Roman nicht in erster Linie die Schwaben, sondern die Zeiten. Es ist die Revolution mit ihren im Banat unerhörten Ideen von Freiheit und Völkerverbrüderung, die im Roman als »die große Tollheit« 157 bezeichnet wird. Es kommt zur Umkehrung der gewohnten Verhältnisse, als die deutschen Bürger von Werschetz/ Vršac (und Weißkirchen/ Bela Crkva) zu den Waffen greifen, um ihr eigenes Leben, ihr Hab und Gut und schließlich ihre Stadt und ihre Gesetze zu verteidigen. In dieser langen Reihe von immer entfernteren Zielen steht als Letztes die Idee des ungarischen Freiheitskrieges, deren fliehenden Vertretern, den drei Generälen Czecz, Figyelmessy und Stein, Jani Graf nach der Niederlage von Világos im Jahre 1849 zur Flucht verhilft. Die Opferbereitschaft der Schwaben in den Zeiten des großen Umsturzes wird im Roman mit primären ökonomischen Interessen, mit einer Vorliebe für Beständigkeit und mit einer grundsätzlichen Anständigkeit begründet, wodurch sie sich allmählich immer weiter von ihrer üblichen Untertanenmentalität entfernen. Im Freiheitskrieg wird das Anrecht der Schwaben auf das von ihnen bewohnte und bewirtschaftete Land wiederholt diskutiert. Wie am Anfang des Romans Jani Graf in seiner Rede an die deutschen Bauern sagt, haben ihre Väter das Banat nicht durch ihr Blut, sondern durch ihren Schweiß erworben. 158 156 BECHSTEIN, Ludwig: Neues deutsches Märchenbuch. Pest: Hartleben 4 1865. 157 »[…] a ›nagy bolondság‹ […]« HERCZEG 1919, p. 425. 158 »[…] ez a föld itt a minek. Apáink meghódították, nem a vérük, hanem a verejtékük hullásával.« Ibid., p. 438 f. <?page no="92"?> 92 Edit Király Die Zugehörigkeit zum Land bekommt erst durch die Teilnahme am Krieg eine neue Kraft. Das Heimatrecht der Schwaben wird im Drama von 1848 erworben. Wie Oberst Maderspach im Roman formuliert: Bis jetzt habt ihr auf dem geschenkten Boden nur wie Gäste gelebt, doch jetzt zahlt ihr dafür mit eurem Blut, wie vor 1000 Jahren die Ungarn dafür gezahlt haben, ab jetzt könnt ihr von euch sagen: das hier ist unser Land, wir sind hier zuhause. 159 Heimat ist nach der Logik seiner Ansprache nur durch Blutopfer zu erwerben, die Zugehörigkeit zur Nation nur in der allgemeinen Mobilisierung des Freiheitskrieges. Die Ideen der Heimat und der Nation werden in historischen Kataklysmen, doch nicht nach völkischen oder ethnischen Kriterien geschmiedet - das geht aus dem Roman hervor. Im Roman wird dieser Gedanke unter anderem durch die Gestalt des berühmten serbischen Renegaten, Damjanich exemplifiziert, einer jener Generäle des ungarischen Freiheitskrieges, die bei Arad am 6. Oktober 1849 von den Kaiserlichen hingerichtet worden sind. Damjanich wurde von den »seinen«, d. h. von den Serben, die auf der Seite der Kaiserlichen gegen die Ungarn gekämpft hatten, als der große Renegat bezeichnet. Der Roman unterstreicht sein slavisch-serbisches Aussehen und Temperament. Wenn Damjanich zwischen seinem Fußvolk reitet, schaukelt seine »vollbärtige flache Visage oberhalb der Köpfe seiner Soldaten, als wäre es ein Heiligenbild, auf seinem Gesicht war der Ausdruck von finsterer Kraft und slavischer Rätselhaftigkeit zu sehen«. 160 Dennoch oder auch gerade deswegen schwärmen Schwaben wie Ungarn für diese »Perle der Soldaten« 161 . Denn in großen historischen Kataklysmen ist nationale Zugehörigkeit nicht an ethnische Herkunft, sondern an die persönliche Entscheidung gekoppelt. Dieses Konzept der alles verändernden historischen Kataklysmen wird im Roman durch die stabilen Gesetzmäßigkeiten bäuerlicher Arbeit und durch die im Banat geltenden ethnischen Hierarchien und notwendigen ethnischen Abgrenzungen konterkariert. In seinem ethnischen Zuschreibungssystem, in dem vor allem drei Banater Ethnien, die Serben, die Deutschen und die Ungarn, mit deutlicher Semantik versehen sind, stellen die Serben und die Schwaben die Hauptopposition dar. Ihre Gegenüberstellung wird an der symbolischen Topografie der Orte ausbuchstabiert. Die Beschreibungen der serbischen und der schwäbischen Stadtteile von Werschetz/ Vršac charakterisieren stellvertretend ihre Bewohner. Die serbische Stadt ist verwinkelt, in ihren Winkeln vermodern Überreste der türkischen Zeit; die schwäbische Stadt hingegen besteht aus 159 »Eddig mint vedégek éltetek itt az ajándékföldön, de most vérrel fizettek meg érte, akár ezer évvel ezelőtt a magyarok, most már elmondhatjátok: ez az ország a miénk, itthon vagyunk.« Ibid. p. 517. 160 »[Damjanich] [l]óháton jött a gyalogosok közt, és körszakállas, lapos és széles ábrázatán, amely úgy ringott a katonái feje fölött, mint a rác szentkép a processzióban, a komor erő és a szláv titokzatosság kifejezése ült.« Ibid, p. 502 f. 161 »[…] katonák gyöngye […]«. Ibid. p. 556. <?page no="93"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 93 pfeilgeraden langen Straßen mit nummerierten Häusern ohne Geheimnis, ohne Andenken. 162 Die Topografie der Stadt wird in dieser Gegenüberstellung zum Ausdruck für die Zweckrationalität der Deutschen einerseits und für die unberechenbaren und irrationalen Seiten des serbischen Lebens andererseits. Die schwäbische Mentalität wird am Anfang des Romans mit einer gewissen Ironie beschrieben. Es ist von der »Banater Arbeitswut« 163 die Rede, von der Gewohnheit, Gegenstände anzuhäufen, die nicht verwendet werden, 164 oder von der »fürchterlichen Hast« und vom »brutalen Lärm der Deutschen«, mit dem sie »das ganze Banat aufgescheucht und verbittert haben«. 165 Die Hygiene wird sogar auf die Landschaft übertragen: Die Straßen sind sauber und offen, der Wind und der Sonnenschein können frei durch sie hindurchziehen. 166 Offenheit erscheint aber nicht nur als räumliches, sondern auch als moralisches Charaktermerkmal der Deutschen. Die verwinkelten Straßen der serbischen Stadt und die Sümpfe des Banats sind hingegen topografische Metaphern für den serbischen Charakter. 167 Dieser erscheint als gefährlich, unberechenbar und wild. 168 Während aber die schwäbischen Helden des Romans im Laufe der Handlung eine Entwicklung durchmachen, bleiben sich die »Serben« immer gleich. Denn die nüchterne, nur auf die Arbeit bedachte Mentalität der Schwaben wird durch ihre Kampfbereitschaft, ihre Begeisterung und ihr Heldentum überhöht und zu militärischen Ehren erhoben. Die Serben hingegen erfüllen nur alle Erwartungen, die man ihnen gegenüber gehegt hatte. Neben dieser grundlegenden Opposition gibt es auch einen ökonomisch geprägten Konflikt zwischen den beiden Ethnien. Denn die früheren Einwohner des Landes, die Serben, sind den Schwaben wirtschaftlich eindeutig unterlegen. Serben und Rumänen sind die Tagelöhner und Diener der Deutschen - eine ethnische Hierarchie, die sich perpetuiert, indem diejenigen von ihnen, die einen bestimmten Besitzstand erreicht haben, nicht mehr als Serben (bzw. als Rumänen) gelten. Die von der serbischen nationalen Bewegung heraufbeschworenen Unruhen im Banat drohen gerade diese stabile ethnische Hierarchie durcheinander zu bringen und das Herr-Knecht-Verhältnis umzukehren. Umgekehrt mobilisiert die Schwaben gegen die Serben der Wunsch, ihr Eigentum und die bestehenden Besitzverhältnisse zu verteidigen. Sie sind daher auf eine entsprechende 162 »A girbe-gurba rácváros mellé, amely már a temesvári vilajet idejében is ott állott a maga helyén, és amelynek zegzugaiban itt kallódott török emlékek poshadnak, négy nyílegyenes, hosszú utcát tűztek ki a katonai mérnökök: ott laknak a sváb telepesek. A németvárosnak nincs se titka, se emléke […].« Ibid. p. 426. 163 »[…] bánsági munkadüh […]« Ibid. p. 428. 164 »[…] az özvegyasszony mindig vásárol, hogy több legyen, de semmit sem használ, hogy el nem pusztuljon.« Ibid. p. 427. 165 »Rettenetes sietségükkel és brutális lármájukkal a németek fölriasztották és elkeserítették az egész Bánságot, amely addig oly édesdeden sütkérezett virágos mocsarai között.« Ibid. p. 426. 166 »[…] tiszta és nyílt, utcáit szabadon járhatja a szél és a napfény […]« p. 426. 167 »[…] amely addig oly édesdeden sütkérezett viragos mocsarai között […]« Ibid. p. 426. 168 »[…] ijesztő külsejű martalócok, akik farkasokká vadultak a török háborúkban […]«, »[…] prédára éhes, vérre szomjas csőcselék[.]« Ibid. p. 436. <?page no="94"?> 94 Edit Király militärische Unterstützung von außen angewiesen. Da die kaiserliche Armee 1848/ 49 die nationale Bewegung der Serben gegen die revolutionären Ungarn ausspielen möchte, unterstützen sie die Schwaben nur sehr halbherzig, was zur Folge hat, dass die Schwaben Verbündete der Ungarn, die Serben hingegen, zumindest zeitweise, Verbündete des Wiener Hofes sind. In Herczegs Schilderungen werden die Ebenen lokaler/ regionaler und nationaler/ imperialer Interessen genau unterschieden. Der Roman stellt mit großer Umsicht dar, wie lokale Konflikte durch nationale Gegensätze in Bewegung gebracht bzw. von diesen hochgeschaukelt und überlagert werden. Das historische Sujet ist mit großem dramaturgischem Gefühl aufgebaut. Die Handlung ist voller Überraschungen, trotzdem erscheint ihr Verlauf als einheitlich und von einer inneren Konsequenz gekennzeichnet. Diese Einheitlichkeit liegt u. a. in der symbolischen Topologie des Romans begründet. Sie beruht auf der räumlichen Opposition zweier Prinzipien, die man als dunkel versus hell, nüchtern versus irrational, beständig versus eruptiv bezeichnen könnte. Es ist dieser Gegensatz, der den Charakter der Region auch als Grenzlandschaft prägt. Während auf der Banater Seite alles luftig, hell und heimelig ist, tummeln sich auf der anderen, der serbischen Seite der Grenze jene als dunkel und barbarisch charakterisierten Kräfte, die nach der symbolischen Geografie des Romans mal als Osten, mal mit einem zeitlichen Begriff als Mittelalter bezeichnet werden. 169 Indem die Grenze, in diesem Fall die Donau, Gegensätze voneinander trennt, sorgt sie für die Ordnung der Region. Auf der einen Seite existiert eine eindeutige Hierarchie der Ethnien, auf der anderen deren Umkehrung. Der Metaphorik des Romans zufolge bedeutet die Eliminierung der Grenze Umsturz und Chaos. Denn nur die Grenze garantiert die gängige Hierarchie von Menschen und Dingen diesseits der Donau. Die größte »Schuld« der Habsburger gegenüber den Banater Schwaben liegt denn auch darin, dass sie die Tore für jenes gut abgeriegelte Segment menschlichen Daseins geöffnet hatten. Die Symbolik von Oben und Unten impliziert zugleich Übersicht bzw. deren Verlust. Es ist der Berg mit der Kapelle, wo die Hauptfiguren einander Treue schwören, er wird durch ihren jeweiligen Tod zum Ort der Erinnerung. Dort oben treffen sich die sieben Schwaben bei wichtigen Wendepunkten und Todesfällen. Oben, die Burgruine hoch oben, beleuchtete noch das rote Abendlicht, doch unten breitete sich schon die Dämmerung über der Stadt aus. Mehrere hundert schmale Rauchschwaden stiegen von den Dächern empor. […] Und sie [Jani Graf und seine Gesellschaft] stiegen von der sonnigen, kühlen Höhe in die dunkle warme Tiefe hinunter. 170 169 »Mindez olyan volt, mint egy rossz álom. A véres, mocskos és ostoba középkor visszatért megint, hogy legázolja a jelent. […] Láthatatlan kezek kinyitották az ország déli kapuját, és beeresztették a Balkán szellemeit. A császár kapuőrei, a granicsárok hívogatták és uszítgatták őket.« Ibid. p. 457. 170 »Fönn, a magas várromot még sütötte a vörös esti fény, de lenn, a város már alkonyba borult. Sok száz vékony füstsáv szivárgott föl a háztetőkről. [˙…] És mentek a napfényes, hűvös magasból a homályos, meleg mélységbe.« (Übersetzt von E. K.) Ibid. p. 557. <?page no="95"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 95 Der panoramatische Blick über die Landschaft, der die Erinnerung an historische Ereignisse in Gang setzt, inszeniert zugleich eine historische Bedeutsamkeit, die unten, in den Niederungen des Alltags, verloren geht. In diese räumliche Hierarchie der Daseinsformen wird denn auch die für Herczeg so relevante Unterscheidung von Nation und Nationalität eingefangen. Denn der Blick von oben wird nur anlässlich nationaler Kataklysmen und der damit einhergehenden Wendepunkte sowie der Erinnerung an diese geschildert. Außer dieser symbolischen Topologie dienen zwei Metaphernfelder zur Beglaubigung des historischen Sujets. Ein astrologisches, das Meteorenschwärme und auseinanderbrechende Himmelskörper den chaotischen Verhältnissen im Banat zuordnet, und das Bild des zerstückelten Körpers, dessen Teile ein selbstständiges Leben zu führen beginnen. Beide Metaphern beschreiben das Verhältnis der Teile zum Ganzem und legen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise den Verlust eines Zentrums in den Unruhen von 1848/ 49 aus. Während die Burschen mit geladenen Gewehren die streunenden kaiserlichen Reiter erwarteten, beobachteten sie die immer wieder auftauchenden Meteorschwärme am Himmelsgewölb. Es schien, als wäre auch das Banater Schwabentum ein solcher herrenloser Funkenschwarm, die entfesselten Reste eines auseinanderfallen Himmelskörpers. 171 Nicht nur die Schwaben, auch die kaiserliche Armee wird als peripherer Teil eines verlorenen Gesamtzusammenhanges metaphorisiert: Die kaiserlichen Garnisonen im Banat führten ein zweckloses und geheimnisvolles Leben wie der abgeschlagene Menschenkopf in den arabischen Märchen. Sie vegetierten in sich und erinnerten sich nur verworren daran zurück, dass sie früher einmal zu einem riesigen Körper gehört haben. 172 Ähnlich wird auch das Auftreten eines neuen Kraftzentrums im Bereich der Astrologie metaphorisiert. Mit Damjanich’ Ankunft im Banat gerät »die ausgestoßene und herrenlose schwäbische Stadt in das Kraftfeld eines neuen, jungen Sonnensystems« 173 . Abspaltung wie Affiliierung der Peripherie wird damit in kosmische Bilder eingefangen. Doch Astronomie ist nur ein Teil jenes naturwissenschaftlichen Metapherngefüges, das die historischen Ereignisse von 1848 im Banat auslegen soll. Markieren einerseits geografische Metaphern die historische Ebenen der 171 »A legények töltött karabéllyal lesték a portyázó császári lovasokat, közben pedig az égboltozaton föl-fölbukkanó meteorrajokat nézték. Úgy tetszett, hogy a bánsági svábság is ilyen gazdátlan szikraraj, egy széthulló égitest elszabadult törmelékei.« (Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.) Ibid. p. 499. 172 »A császári garnizonok olyan céltalan és titokzatos életet éltek a Bánságban, mint a levágott emberfej az arab mesében. magukban vegetáltak, és homályosan emlékeztek vissza, hogy valamikor egy hatalmas testhez tartoztak.« (Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.) Ibid. p. 485. 173 »November első napján a kitaszított és gazdátlan sváb város egy új, ifjú naprendszer vonzási körébe jutott.« Ibid. p. 502. (Übersetzung und Hervorhebung von E. K.) <?page no="96"?> 96 Edit Király longue durée, so bezeichnen die meteorologischen die Flüchtigkeit der Ereignisgeschichte. Entsprechend metaphorisieren Wind und Wetter die Wechselhaftigkeit der historischen Ereignisse. Die serbischen und ungarischen Fahnen in Werschetz flattern im selben Wind, wenn sie auch zu völlig Unterschiedlichem aufrufen. Der beißende Wind von jenseits der Donau bringt auch Botschaft von der anderen, verdrängten, Umsturz bringenden Welt der Serben jenseits der Donau. 8.4 Herczegs Lebenserinnerungen Die Lebenserinnerungen von Herczeg erschienen 1933 bzw. 1939 im Singer és Wolfner-Verlag in Budapest. Der erste Band gibt einen Überblick über Herczegs Leben bis zur Veröffentlichung seines ersten Romans Fenn és lenn (Oben und unten) im Jahre 1890, der zweite über die Zeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Titel der beiden Bände, A várhegy (Der Burgberg) und A gótikus ház (Das gotische Haus), beziehen sich auf die Schauplätze zweier Lebensabschnitte und weisen zugleich auf die mit diesen Lebensabschnitten verbundenen Loyalitäten hin. Unter Burgberg ist der Berg oberhalb der Banater Stadt Werschetz gemeint, die Jahrhunderte lang Wohnsitz der Familie Herzog und in Kinder- und Jugendjahren ein wichtiger Schauplatz von Herczegs Leben war; als gotisches Haus hingegen wird das neugotische Gebäude des ungarischen Parlaments bezeichnet, in dem Herczeg viele Jahre lang als Abgeordneter tätig war. Beide Titel implizieren Herczegs Identifikation mit den für historisch gehaltenen Herrschaftsformen und ihren repräsentativen Bauten, doch sind mit ihnen auch zwei symbolische Endpunkte von Herczegs Leben angegeben, mit deren Hilfe man dieses unschwer als einen Weg vom Rande ins Zentrum Ungarns auslegen könnte. Die Lebenserinnerungensind aus anekdotenhaften Erinnerungssplittern und kleinen geografischen, ethnografischen und zeithistorischen Erklärungen zusammengefügt; ihr Mangel an großer epischer Form wird durch die Konstruktion modellhafter Räume ausgeglichen. Besonders der erste, teils der Banater Kindheit und Jugend gewidmete Teil der Lebenserinnerungen kann entsprechend als Versuch gelesen werden, ein verlorenes Territorium literarisch zu rekonstruieren. Im Burgberg wird der Ort der Kindheit als Erinnerungsraum imaginiert, der gerade durch seine Abgeschlossenheit zum Chronotopos eines historischen Bruchs wird. Als ein Stück von jenem an Wundern reichen »alten Ungarn« 174 , das es zur Zeit der Niederschrift der Lebenserinnerungen nicht mehr gibt, steht er für ein verlorengegangenes historisches Territorium. Die Lebenserinnerungen machen 174 »[…] a régi Magyarországon.« HERCZEG 1985, p. 186. <?page no="97"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 97 die Zäsur, die zwischen ihrer Gegenwart und der erinnerten Vergangenheit liegt, als das historische Trauma von Trianon 175 identifizierbar. Werschetz/ Vršac, der Schauplatz von Herczegs Kindheitserinnerungen, wird zunächst als eine versunkene, nicht mehr greifbare Welt beschrieben. Die Stimmen, mit denen sich die Erinnerung ankündigt, sind als »Glocken einer ins Meer versunkenen Stadt« metaphorisiert. Das Meer als räumliche Metapher der Vergangenheit macht die Vorstellung einer linear ablaufenden Zeit zunichte. Obwohl es in der Wirklichkeit nicht mehr verfügbar ist, wird »das alte Ungarn« symbolisch erhalten. Die Verlagerung der Vergangenheit in die Tiefen der Meere und (wie an anderen Stellen) in die archäologischen Schichtungen des Erdbodens macht Dauer und Beständigkeit zu zentralen Fragen der Geschichte. 176 Die Verräumlichung der Geschichte wie der eigenen Biografie ist ein allgemeines Kennzeichen des Burgbergs. Für Herczegs Schilderungen sind nicht das Fortschreiten der Zeit, sondern ihre Sackgassen und Nischen von Relevanz. Die Überlagerung und das Nebeneinander verschiedener Zeitspuren lassen die Landschaft des Banats als geschichtsgesättigt erscheinen. In den Tiefen des Banater Bodens werden der kaiserliche Beschluss wie dessen Boykott als archäologische Schichtungen greifbar. Unter der Puszta von Deliblat, der »imposantesten Wüste Europas«, wo alle Versuche, Bäume zu pflanzen und Grundwasser heraufzuholen, gescheitert sind, findet man unter dem Sand kunstvoll gebaute Gewölbe, unter dem Gewölbe aber, als man es durchbrach, glänzte ein klarer Wasserspiegel. Es hat sich herausgestellt, dass vor zweihundert Jahren die treuen Granitscharen die Brunnen verbaut und begraben haben, um Maria Theresia die Lust am Sand von Deliblatt zu nehmen. Sie befürchteten, die Kaiserin würde noch Schwaben ansiedeln. 177 Ähnlich findet man die Reste jener Baumschule, die die Wiener Regierung zur Bindung des Sandes von Deliblat geschickt hat, als verwachsenes Unterholz wieder. 178 Der Wille zur Nutzung wie der zum Verwildern-Lassen sind unter dem Erdboden zu Allegorien historischer Vergeblichkeit erstarrt. Modellhaft ist das Banat aber hauptsächlich, indem es sich als die Grenze zwischen zwei grundverschiedenen Welten darstellt. Die Struktur dieser Grenzlandschaft lässt sich mit Lotmans Konzept der komplementären Teilräume be- 175 Im Vertrag von Trianon 1919, einem der Pariser ›Vororteverträge‹ nach dem Ersten Weltkrieg (Österreich: St. Germain, Deutschland: Versailles), verlor Ungarn etwa zwei Drittel seiner ehemaligen Gebiete. 176 Cf. RAULFF, Ulrich: Die lange Dauer. In: DERS.: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte. Göttingen: Wallstein 1999, p. 13-49 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 9). 177 »[…] és a homok alatt nagy gonddal épített bolthajtásokat találtak, a bolthajtások alatt pedig, mikor betörték, tiszta víztükör csillogott. Kitűnt, hogy kétszáz esztendővel ezelőtt a hű granicsárok beépítették és betemették a kutakat, hogy elvegyék Mária Terézia kedvét a delibláti homoktól. Attól féltek, hogy a királynő svábokat találna oda telepíteni.« HERCZEG 1985, p. 186. 178 »A sivatag közepén összevissza bozótot leltek. A bécsi kormány annak idején százezerszámra küldte a facsemetéket, a granicsárok azonban, akiket a fásítással megbíztak, egy helyre dobálták, ahol aztán egy részük mégis gyökeret eresztett, amiből sete-suta csalit lett.« Ibid. <?page no="98"?> 98 Edit Király schreiben. 179 Er ist im gegebenen Fall durch die topologische Opposition von Hoch und Tief gekennzeichnet und mit dem ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaar von Kraft versus Nichts besetzt. Diese semantisch aufgeladene topologische Ordnung wird bei Herczeg in dem topografischen Gegensatz von Berg und Tal bzw. von dies- und jenseits der Donau konkretisiert. Der Burgberg und der Strom sind für die Konstruktion dieser Grenzlandschaft bestimmend. 8.5 Der Burgberg Die Beschreibung des Turmes ist eingebettet in das panoramische Bild des Banats, dem Schauplatz von Herczegs Kindheit, dem Ort seiner Herkunft. Sie wird mit einem Satz über die Banater Ebene eingeleitet: »Die Banater Tiefebene ist hell wie ein Zimmer […]« 180 , der danach zu einer Beschreibung und Auflistung der Werschetzer Bergkette überführt: »Die Heide endet am Fuß der Werschetzer Bergkette. Die Berge schließen den Horizont gleich einer Kulisse ab […]«. 181 Damit wird die gesamte Landschaft als Erinnerungsraum evoziert, als eine zeitlich und räumlich abgeschlossene Bühne. Mit dieser Rahmensetzung beginnt eine vollkommen subjektive und mythisierende Beschreibung bzw. Interpretation der lokalen Geografie. Diese scheint in keinerlei Beziehung zum »Hier und Jetzt« des Erzählens zu stehen. Sie hebt mit der Beschreibung des verfallenen Turmes an. Der Turm ist ein geheimer Mittelpunkt dieses geschlossenen Erinnerungsraums. Er erscheint als ein Rätsel. Er besitzt Kraft, obwohl er verfallen und halb zerstört, funktionslos und verlassen dasteht. Ein Grund für seine Anziehung scheint gerade in seiner Unzugänglichkeit, in seiner »Fremdheit«, 182 zu liegen, der Turm ist kein Gegenstand des Alltags, sondern des Phantasierens: »Als Kind beschloss ich, dass ich, wenn ich mal ›groß bin‹, das Schloss wieder aufbaue und dort wohnen werde, hoch oberhalb der Türme und Schornsteine der Stadt.« 183 Es werden auch bei dieser Beschreibung die Ferne und die Höhe der Burgruine betont: Hoch oberhalb der Türme und Schornsteine der Stadt sollte der junge Herczeg einmal leben. Bezeichnenderweise steht hier nicht einer jener Türme, die in Werschetz von den kulturellen Leistungen der Schwaben zeugen, so etwa der Kirchturm, den sein eigener Großvater mütterlicherseits erbaut hat, sondern das Wahrzeichen einer längst vergangenen Zeit. Hierbei mag auch eine deutliche Distanz 179 LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. GRÜBEL, Rainer (Hg.). Frankfurt/ Main 1973, p. 360. Zit. n. MARTINEZ, Matias/ SCHEFFEL, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 42002, p. 140. 180 »A bánsági róna olyan világos, mint egy szoba […].« (Übersetzt von E. K.) HERCZEG 1985 p. 50. 181 »A rónaság a verseci hegyláncnál ér véget. A hegyek […] színfalként zárják el a láthatárt […].« (Übersetzt von E. K.) Ibid. 182 »[…] idegenszerü kép […]«. (Übersetzt von E. K.) Ibid. 183 »Gyermekkoromban elhatároztam, hogy ›majd ha nagy leszek‹, akkor újjáépítem a várkastélyt, és ott fogok lakni, magasan a város tornyai és kéményei fölött.« (Übersetzt von E. K.) Ibid. <?page no="99"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 99 zum Ort und zu den Verhältnissen seiner Herkunft eine Rolle spielen. Denn die Anziehungskraft des historischen Turms beruht darauf, dass er aus diesen Lebenszusammenhängen herausragt. Auf der Spitze des Burgbergs steht, wie ein die türkische Sintflut überdauerndes antidiluviales Denkmal, die Turmruine einer uralten Burg. In meinem jungen Leben spielte der vom Alter silbergrau gewordene Turm, der sich als Symbol der Kraft, der Beständigkeit und des unzugänglichen Stolzes hart in das blaue Himmelsgewölbe über dem Banat bohrte, eine große Rolle. Sie war jene geheimnisvolle, zentrale Kraft, um die sich jahrzehntelang meine Phantasie drehte. 184 Im Gegensatz zu dem Nützlichkeits-, Übersichtlichkeits- und Beschaulichkeitsprinzip, das die Straßen und das Leben der Schwaben formt, scheint die geheime Kraft der Burgruine gerade in ihrem zeichenhaften Charakter zu liegen, der nur in der Phantasie vollendet werden kann. Die geheimnisvolle Anziehungskraft des Turmes wird andererseits durch seine Umgebung erklärt. Denn die Beschreibung der Landschaft wechselt von der Beschreibung des Burgbergs in die Beschreibung einer anderen (schwindelerregenden und bedrohenden) Einbildung, »als wäre ich am Ende der Welt, am Ufer des Nichts.« Der Turm auf dem Burgberg von Werschetz wird im Verhältnis zu dieser gefährlichen Zone des Chaos hinter der Donau zu einem Wach- und Grenzturm. Es ist der Bezug zu der jenseits des Stromes lauernden Gefahr, dass er als »Symbol der Kraft, der Beständigkeit und des unerreichbaren Stolzes« eine phallische Gegenfigur zum jenseits der Grenze lauernden »Nichts« darstellt. 9 Die Donau als Grenze Die Vorstellung von der unteren Donau als Grenze der zivilisierten Welt blickt auf eine lange Tradition zurück. In der Schilderung seiner Orientreise im Jahre 1834 beschreibt der englische Reiseschriftsteller Alexander William Kinglake (1809-1891) die Donau bei der Überquerung der Flussgrenze bei Semlin/ Zimony/ Zemun 185 wie einen Todesfluss, von dessen anderem Ufer es kein Zurück gibt. Der Grund hierfür ist allerdings praktischer Natur: Der Pestkordon an der Grenze sorgte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür, dass jeder, der den Strom von Süden kommend überquerte, vierzehn Tage im Lazarett bleiben musste. 186 184 »A Várhegy csúcsán, mint a török vízözönt túlélt antidiluviális emlék, ősrégi várkastély csonka tornya áll. Az én ifjú életemben a kortól ezüstszürke torony, amely mint az erő, az állandóság, a hozzáférhetetlen büszkeség szimbóluma, keményen fúródik a kék bánsági égboltba, nagy szerepet vitt. Ez volt a titokzatos központi erő, amely körül évtizedekig keringett a képzeletem.« (Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.) Ibid. 185 Semlin/ Zemun/ Zímony liegt Belgrad gegenüber am Zusammenfluss von Sava und Donau. Kinglake blickt zwar über die Donau in Richtung Belgrad, überquert jedoch die weniger breite Sava. 186 »After coming in conduct with any creature or thing belonging to the Ottoman Empire it would be impossible for us to return to the Austrian territory without undergoing an imprisonment for fourteen days in the Lazaretto. We felt therefore that before we committed ourselves, it was important to take care that none of the arrangements necessary for the journey had been forgotten; <?page no="100"?> 100 Edit Király Als Herczeg in seinen Lebenserinnerungen auf seine Werschetzer Kindheit und Jugend in den 1870er zurückblickt, spricht er buchstäblich vom Nichts, das einem von der anderen Seite dieses bei ihm durch die griechische Bezeichnung Istros ins Mythische erhobenen Flusses anschaut. Ich hatte auch später, sooft ich in meiner Heimatstadt weilte, jene schwindelerregende und bedrohliche Vorstellung, ich sei am Ende der Welt, am Ufer des Nichts. Die Untere Donau, der Istros der Hellenen fließt, nicht weit von Werschetz, an seinem gegenüberliegenden Ufer ist Serbien, der Balkan, mit einem Wort das unbekannte Nichts. Von drüben kamen ab und zu merkwürdige Menschen zu uns, als kämen sie von einem fremden Planeten. Sie trugen rote Mützen und lächerlich geschnittene Pluderhosen; an ihrer Halskette hing eine Uhr von der Größe einer Schildkröte; Zigaretten rauchten sie aus Bernsteinpfeifen vom Umfang eines Gewehrs. Sie waren aktive, ehemalige oder zukünftige Minister, manche von ihnen sogar Helden blutiger Balkan-Abenteuer, in Begleitung von Frauen, die auch rote Mützen und breite Krinolinen zu einer Zeit trugen, als diese bei uns längst schon aus der Mode gekommen sind. Sie brachten ihre Töchter in die Mädchenbildungsanstalt von Fräulein Kutka. Die serbischen Jungfrauen waren ziemlich wild, aber sehr fesch. Die feurigen und traurigen östlichen Augen mancher dieser Jungfrauen sind in meinen Erinnerungen noch immer nicht erloschen. Bei Fräulein Kutka lernten sie Klavierspielen und Tanzen, Französisch und Ungarisch Reden, und wenn sie alles konnten, kehrten sie wieder heim und verschwanden für immer im Nichts jenseits des Istros. 187 and in our anxiety to avoid such a misfortune we managed the work of departure from Semlin with nearly as much solemnity as if we had been departing this life. Some obliging persons from whom we had received civilities during our short stay in the place, came down to say farewell at the river’s side; and now, as we stood with them at the distance of three or four yards form the ›compromised‹ officer, they asked if we were perfectly certain that we had wound up all our affairs in Christendom, and whether we had no parting request to make. We repeated the caution to our servants, and took anxious thought lest by any possibility we might be cut off from some cherished object of affection: - were they quite sure that nothing had been forgotten - that there was no fragrant dressing-case with its gold-compelling letters of credit from which we might be parting for ever? - No - every one of our treasures lay safely stowed in the boat, and we - we were ready to follow. Now, therefore, we shook hands with our Semlin friends, and they immediately retreated for three or four paces, so as to leave us in the centre of a space between them and the ›compromised‹ officer; the latter then advanced, and asking once more if we had done with the civilized world, held forth his hand - I met it with mine, and there was an end to Christendom for many a day to come. We soon neared the southern bank of the river, but no sounds came down from the blank walls above, and there was no living thing that we could yet see, except one great hovering bird of the vulture race flying low and intent, and wheeling round and round over the Pest-accused city.« Cf. KINGLAKE, Alexander: Eothen. Oxford: Clarendon 1948, p. 8 f. 187 »Nekem később is, valahányszor a szülővárosomban voltam, az a szédítő és fenyegető képzetem volt, mintha a világ végén, a nagy Semmi partján volnék. Versechez elég közel van az Al-Duna, a hellének Isztrosz folyama, annak túlsó partján van Szerbia, a Balkán, szóval az ismeretlen Semmi. Odaátról, mint egy idegen planétáról, néha furcsa emberek jöttek a városunkba. Piros sapkát és nevetséges szabású plundrát viseltek; a nyakba vető láncukon akkora órát hordtak, mint egy kisebb teknősbéka; a cigarettát puskacső vastagságú borostyánkő szipkából szívták. Aktív, volt vagy leendő miniszterek, némelyek véres balkáni kalandok hősei. Asszonyok is jöttek velük, azok is piros sapkát viseltek, és széles abroncsos szoknyában jártak még akkor is, mikor azt nálunk már régen nem hordták. A leányaikat hozták Kutka Mária kisasszony verseci leánynevelő intézetébe. A szerbiai szüzek meglehetősen vadak, de nagyon csinosak voltak. Egyik-másiknak tüzes és szomorú keleti szeme még ma <?page no="101"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 101 Herczeg charakterisiert den Ort seiner Herkunft als eine Weltrandgegend, wo sich das Diesseits der bekannten Welt mit dem Jenseits eines bedrohlichen und schwindelerregenden Fremden berührt. In der »mythische[n] Topographie« 188 von Herczegs Landschaftsbeschreibung wird die Donau zur »Schwelle zum Anderen und zum Tod«. 189 Denn der Balkan erscheint in seiner Darstellung als ein Ort »blutiger […] Abenteuer«, 190 ein Ort, auf dessen ewiges Einerlei auch die sich gegenseitig auslöschenden Bedeutungen der Attributkette »aktive, gewesene oder werdende Minister« hinweisen. Seine Schilderung des kleinen Grenzverkehrs um die Mädchenbildungsanstalt des Fräuleins Kutka folgt den klassischen Regeln der Fremdwahrnehmung. Fremde werden durch ihr Äußeres charakterisiert, als ein groteskes Ensemble merkwürdiger, nicht zusammenpassender Einzelheiten, wie Uhren »von der Größe einer Schildkröte« oder »Bernsteinpfeifen vom Umfang eines Gewehrs« oder Krinolinen, die »bei uns längst aus der Mode gekommen sind«. Einzig »ihre Töchter« werden durch die - gemeinhin für den Ausdruck der Seele gehaltenen - Augen charakterisiert. Im einseitig dargestellten Personenverkehr zwischen dem serbischen und dem ungarischen Ufer erscheinen die Serben als die Empfänger von kulturellen Gütern (Tanzen, Klavierspielen, Französisch- und Ungarisch-Unterricht), die selbst nichts zu bieten zu haben. In Bezug auf die Grenze stellen Kinglake und Herczeg zwei grundsätzlich unterschiedliche Haltungen dar: Der eine überquert sie, der andere wähnt sich nur hinter ihr sicher. Doch so unterschiedlich auch Position und Anliegen der beiden Autoren sein mögen, die Grenze wird von beiden als eine tiefgehende, existenzielle Trennlinie dargestellt, die zwei einander diametral entgegengesetzte Welten von einander trennt. Kinglake betont etwa, dass er im Verlauf seiner Reise später nie mehr so »ultra-türkisch« aussehende Türken gesehen hätte 191 wie gerade an der Grenze von Christentum und Osmanentum. Damit wird auch für ihn die Grenze zu einem fundamentalen Einschnitt, der keine Übergänge, sondern nur absolute Gegensätze zulässt. Für Herczeg jedoch ermöglicht die Darstellung der anderen Seite als »Nichts« eine heroische Hochstilisierung des »alten Ungarn«. sem csukódott le az emlékezetemben. Kutka kisasszonynál megtanultak zongorázni és táncolni, franciául és magyarul beszélni, és ha mindent tudtak, akkor megint hazamentek, és örökre eltűntek az Isztroszon túli semmiben.« HERCZEG 1985, p. 50 f. [Übersetzung und Hervorhebungen von E. K.] 188 KOSCHORKE, Albrecht: Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a. M. Suhrkamp 1990, p. 15. 189 KOSCHORKE 1990, p. 14. 190 HERCZEG 1985, p. 51. 191 »[…] never have I seen such ultra-Turkish looking fellows as there who received me on the banks of the Save […]« KINGLAKE 1948, p. 9. <?page no="102"?> 102 Edit Király 9.1 Das Überqueren des Amazonas Der Turm wie der Fluss werden in den Lebenserinnerungen öfters zu Marksteinen der eigenen Biografie. So etwa verdeutlicht jene symbolische Geografie, die Herczeg in seinen Memoiren seinem Lebensweg unterlegt, dass Herczegs Werdegang vom banaterdeutschen Patriziersohn zum ungarischen Schriftsteller kein nahtloser Übergang war, sondern auch einen Wechsel der Loyalitäten implizierte. Der Augenblick, in dem sein erster Roman vom Verlag Singer és Wolfner herausgegeben und von zwei Größen der ungarischen Literaturkritik gelobt wird, ist geografisch markiert: Und in diesem Augenblick verlor sich die Jahrzehnte lange Anziehungskraft des Werschetzer Burgbergs. Die Rothaut ist über den Amazonas geschwommen und hat eine neue Heimat für sich gefunden. 192 Das Überschwimmen eines Flusses wird einige Seiten vorher als ein symbolischer Akt der Selbstvernichtung beschrieben und mit folgenden Worten auf die Situation des jungen Herczegs bezogen: Weg von der Vergangenheit, alle Ketten der Familie, der Erziehung und der Gewohnheit von sich schütteln, über den großen Fluss schwimmen, wie ein verfolgter indianischer Krieger, und von der anderen Seiten nie mehr zurückschauen. 193 Das Überschwimmen des Flusses wird schon an dieser Stelle als eine Initiation interpretiert. Die einige Seiten später erfolgte Identifizierung mit dem indianischen Krieger und die Benennung des Flusses als Amazonas machen jedoch die geografische Fremdheit der Allegorie besonders augenfällig. Herczeg beschreibt sich damit selbst am Ort seiner Ankunft als Fremden, als Exoten und identifiziert sich mit der Sichtweise der anderen Seite. Bei diesem Bild dürfte es sich weit weniger um seine ethnische Zugehörigkeit als vielmehr um seine Berufswahl handeln, denn wie er in seinen Lebenserinnerungen schreibt: In jenem bürgerlichen Milieu, in dem ich verwurzelt bin, wird man mich für einen aus der Bahn geworfenen Menschen halten, so lange ich nur Schriftsteller bin. Wenn ich Abgeordneter werde, wird man mir glauben, dass ich nicht verlottert bin. 194 Das Überschwimmen des Amazonas macht das eigentliche Sujet des Burgbergs aus. Denn wie Jurij M. Lotman formuliert: »Das Sujet kann […] immer zu einer Grundepisode kontrahiert werden - dem Überqueren der grundlegenden topolo- 192 »És ebben a percben végleg megszűnt a verseci Várhegy évtizedes vonzóereje. A rézbőrű átúszott a nagy Amazon folyamon, és új hazát talált magának.« Ibid. p. 227. 193 »Szakítani a múlttal, lerázni a cslád, a nevelés és a megszokás minden láncát, átúszni a nagy folyón, mint az öldüzött rezbőrű harcos, viszza se nézni többet a túlsó partról […]« Ibid. p. 225. 194 »Abban a polgári környezetben, ahol az én gyökereim vannak, pályatévesztett embernek fognak tekinteni mindaddig, amíg csak író maradok. Ha képviselő leszek, akkor el fogják hinni, hogy nem vagyok züllött ember.« (Übersetzt von E. K.) Ibid. p. 300. <?page no="103"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 103 gischen Grenze in seiner räumlichen Struktur.« 195 Dieses Sujet ist in dem Bild der Banater Grenzlandschaft präfiguriert. Nur wird das Grenzbewachungsszenario bei der Darstellung seines Identitätswechsels zur Grenzüberquerung. Die geschlossene Welt der Familie, der Erziehung und der Gewohnheit wird verlassen, und jede direkte Kontinuität mit ihr wird aufgekündigt. Franz Herzog erlangt durch die Überquerung dieses Flusses seinen neuen Namen: Herczeg Ferenc. Diese Strukturierung der Lebensabschnitte im Burgberg durch eine symbolische Geografie, insbesondere durch die Symbolik des Flusses, wiederholt sich am Ende des Bandes Das gotische Haus. Als der Kriegsausbruch bekannt wird, bricht die Aufzählung der Tagesereignisse ab. Alles, was danach kommt, wird in Futurform berichtet und immer wieder mit der Formel »damals wussten wir noch nicht« eingeleitet. Auch hier steht der Fluss allegorisch für eine zeitliche Zäsur, allerdings geht es dabei um einen Blutstrom: »Ein breiter Blutgraben wird unser aller Leben in zwei Teile schneiden.« 196 10 Müller-Guttenbrunn und Herczeg als Schriftsteller eines nationalen Landschaftskanons So unterschiedlich Müller-Guttenbrunns und Herczegs »symbolische Geografien« in ihrer politischen Tendenz und vor allem in ihrem literarischen Niveau auch sind, wenn man sie als Teil der Arbeit am Kanon der nationalen Landschaften versteht, lassen sie sich an manchen Punkten durchaus miteinander vergleichen. Zu diesen gehört, dass beide Autoren in ihren hier besprochenen Werken die Grenzlandschaft zu einem räumlichen Modell historischer Gegensätze erheben. Doch obwohl thematisch deutlich mit einer Region verbunden, sind sie vor 1918 keineswegs auch einer regionalen Öffentlichkeit verhaftet. Sowohl Müller-Guttenbrunns als auch Herczegs Werke erscheinen bei einem großen Verlagshaus auf dem jeweiligen nationalen Buchmarkt. Ihre literarische Zuständigkeit für eine gewisse Region, obwohl unterschiedlich stark ausgeprägt, wird im Rahmen der nationalen Archivierung von Landschaften rezipiert. Bei Müller-Guttenbrunn wird eine auf Diskontinuität gegründete Vorstellung von der Grenze zu einem zentralen Element des Kolonisten-Mythos, zu jener Trennlinie, die im Kampf gegen Natur und Unkultur immer weiter nach vorne gedrängt wird und zugleich zu immer neuem Kampf anfacht. In einigen Werken Herczegs hingegen wird die Grenze zur existenziellen Zäsur und einer Identitäten bestätigenden Trennlinie, während Vermengung, Vermischung bzw. die Umkehrung von Hierarchien diese gefährden. Während die Grenze und die Welten, die durch sie von einander getrennt werden, bei beiden Autoren im Allgemeinen sehr unterschiedlich besetzt sind, 195 MARTINEZ & SCHEFFEL 2002, p. 142. 196 »Egy széles vérárok fogja kettéválasztani mindannyiunk életét.« (Übersetzt von E. K.) HERCZEG 1985, p. 479. <?page no="104"?> 104 Edit Király ist bei beiden eine Verflechtung von Grenzlandschaft bzw. Identitätsvorstellungen zu verbuchen. Das Leben an der Grenze erscheint bei dem einen wie bei dem anderen an bestimmte, wenn auch unterschiedliche Männlichkeitsideale gekoppelt. »Ein Buch für Männer«, schrieb Müller-Guttenbrunn in sein Tagebuch am 10. August1907 über die Götzendämmerung und ließ dieses Männlichkeitsideal auch in der strammdeutschen Haltung seiner Figuren manifest werden. Auch bei Herczeg findet man verstreute Hinweise auf die Gleichsetzung von männlicher und nationaler Identität. Gerade in seinem die Götzendämmerung Müller-Guttenbrunns »erörternden« Artikel verbindet Herczeg nationale Tugend und Genderidentitäten. Im Zusammenhang der Homosexualitätskandale bei der preußischen Garde wird die Männlichkeit bzw. der weibische Charakter einzelner Nationen diskutiert. Während die Nachbarn der Ungarn allesamt als »listige slavische Weibernationen« 197 veranschlagt und den männlichen und kämpferischen Ungarn gegenübergestellt werden, stellt er die militärischen und männlichen Tugenden der Deutschen im Zusammenhang mit dem Moltke-Harden- Prozess rundweg in Frage. Obwohl Müller-Guttenbrunns und Herczegs einschlägige Texte 198 neben den Interessenlagen und Repräsentationsbedürfnissen zweier unterschiedlicher nationaler Öffentlichkeiten durchaus auch von einer, wenn auch begrenzten, gegenseitigen regionalen Wahrnehmung deutschsprachiger und ungarischsprachiger Banater Autoren zeugen, kommt ein weiterreichendes Konzept von Regionalität, das neben Abgrenzung auch die Vermischung oder das Nebeneinander von Lebensformen und ethnischen Merkmalen verzeichnen würde, bei ihnen nicht zum Tragen. 11 Károly Molters Müller-Guttenbrunn-Lektüre Als Beispiel für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Fragen der Assimilation wie mit Fragen ihrer literarischen Darstellung soll abschließend der Roman Tibold Márton von Károly Molter erörtert werden. Im Gegensatz zu den besprochenen, auf Oppositionen beruhenden Landschaftsbilder der unteren Donau wird hier auch der Strom eher als Berührungspunkt zwischen verschiedenen Ethnien verstanden. Károly Molter (1890-1981) gehört zu einer späteren Generation von ungarischen Schriftstellern als Herczeg. Er selbst hat sich der zweiten Generation der so genannten Nyugat-Schriftsteller zugerechnet. 199 Mit dieser Selbstbestimmung wurde nicht zuletzt die innere Verbundenheit der siebenbürgisch-unga- 197 »[…] furfangos szláv asszony-nemzetek […]« (Übersetzt von E. K.) Herczeg: Götzendämmerung. In: Az ùjság (1.12. 1907), p. 2. 198 Müller-Guttenbrunns »Brief an den…«, »Die Glocken der Heimat« bzw. Herczegs Rezension »Götzendämmerung«, pp. 1 f. 199 Nyugat [Westen] - die bedeutendste moderne ungarische bürgerliche Literaturzeitschrift in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. <?page no="105"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 105 rischen Literatur mit der ungarländischen Literatur ausgesprochen, denn Molter, von der Herkunft her Batschkaer Schwabe, war erst 1914 nach Siebenbürgen gekommen. Er debütierte dort in der Zwischenkriegszeit als ungarischer Stückeschreiber, Romancier und Feuilletonist. Im Gegensatz zu Herczeg ist Molters Weg nicht durch die glorreiche Bewegung von der Peripherie ins Zentrum, die Assimilation eines aus einer ethnischen Minderheit Stammenden an das dominante Ethnikum, gekennzeichnet, sondern durch den Wechsel von einer Peripherie zur anderen, aus einer ethnischen Minderheit in die andere. Entsprechend ist auch Molters Auffassung von Assimilation und ethnischer Abgrenzung von jener Herczegs deutlich unterschieden. Die schwäbischen Bauern und Handwerker sind in seinem autobiografisch inspirierten Roman Tibold Márton (Márton Tibold, 1938) weder durch ihre deutschen Traditionen gebunden, wie bei Müller-Guttenbrunn, noch sind sie durch Klima und Boden dem ungarischen Bauern verwandt geworden, wie bei Herczeg. In Molters Romanen sind es vielmehr die gemeinsame Erfahrung und die ähnlichen Interessen, welche die schwäbischen Handwerker mit dem ungarischen Milieu verbinden. Molters Schilderungen des schwäbischen Milieus zeichnen sich denn auch durch ihre große Differenziertheit in Bezug auf die Vermengung von Sprachen, kulturellen Merkmalen und Rollenvorstellungen aus. Auch werden bei Molter die Ungarn keineswegs mit der ungarischen Herrenklasse gleichgesetzt. 200 Über seinen Großvater sagt Martin, der sei wahrscheinlich deswegen 48er Honvéd geworden, weil ihn »das niedergeworfene, niedergetretene, oppositionelle Ungarntum« anzog. 201 In Tibold Márton findet sich auch ein seltener Reflex von Müller-Guttenbrunns ungarndeutscher Rezeption. Das Werk zeichnet den Weg eines Batschkaer Schwabenjungen nach, der durch seine ungarische Schule in Kecskemét und das Universitätsstudium in Budapest den von seinem Vater vorbereiteten Weg der Assimilation geht. 202 Der nie verheimlichte Plan der Eltern ist es, dem Sohn durch die ungarischen Schulen eine Stelle im staatlichen Dienst zu sichern. Dass Márton Tibold schließlich 1913 die Peripherie und nicht die Hauptstadt wählt und nach dem Ersten Weltkrieg als Lehrer in Siebenbürgen zum Minderheitenungar wird, ist bis zu einem gewissen Grad dem Zusammenfall der Umstände 200 Cf. besonders den Anfang des Romans. 201 »Talán az alulmaradó, letiport, az ellenzéki magyarság vonzotta.« (Übersetzt von E. K.) Ibid. p. 252. 202 Schon von dem zeitgenössischen Kritiker László Kardos wurde die Verbindung von Minderheiten- Position und Assimilation als thematischer Komplex des Romans hervorgehoben, zugleich aber auch gerügt, weil Kardos die Darstellung der Assimilation als allzu »euphemistisch und retuschiert« empfand. »Der Weg aus dem Germanentum (sic! ) zum Ungarntum« ist ihm zufolge nicht interessant, nicht glaubwürdig genug dargestellt. »Viszont nem szabad elhallgatnunk, hogy […] az egész asszimilációs rajz valahogyan eufémisztikussá, retusálttá lesz. Nagyon is sima, nagyon is zavartalan és töretlen vonalú ez az út a germánságból a magyarságba, s ennélfogva nem is eléggé érdekes, nem is eléggé hiteles.« KARDOS, László: Molter Károly - Tibold Márton. In: DERS.: Vázlatok, esszék, kritikák [Skizzen, Essays, Kritiken]. Budapest: Szépirodalmi 1959, p. 368 f. Ursprünglich in: Nyugat 1 (1938), p. 303. <?page no="106"?> 106 Edit Király zu verdanken. Seine tolerante und nationalismuskritische Haltung wird aber als Folge seiner inneren Entwicklung dargestellt. In einer Episode beschreibt Molter, wie Müller-Guttenbrunns Romane unter der deutschsprachigen Bevölkerung verbreitet wurden und welche Gefühle sie bei dem assimilationswilligen Teil der Schwaben hervorzurufen vermochten. Der Hauptprotagonist des Romans, der Student Martin (ungarisch Márton), bekommt Müller-Guttenbrunns Romane von einer ehemaligen Dorfnachbarin, die ähnlich wie er einsam in Budapest lebt. Die ehemalige Nachbarin holt im Zuge einer Diskussion die Bücher aus einer Lade hervor, um Martin von seiner Zugehörigkeiten zum Deutschtum zu überzeugen. Martin hat den Namen Möller-Guttenbrunn [sic! ] noch nie gehört. Der Streit zwischen den ehemaligen Dorfnachbarn entbrennt darüber, ob ein Schwabe zum Ungarn werden und, als Ausdruck größter Intimität, eine Ungarin lieben kann. In ihrer Debatte erörtern sie freimütig Körper- und Kleidungsmerkmale der beiden Ethnien auch mit Hinblick auf deren erotische Komponenten. Die Frau wird als massiv gebaut beschrieben und könnte durchaus als Göttin Germania durchgehen, wenn sie nur ein bisschen größer wäre. An anderer Stelle wird auf ihre Walkürengestalt Bezug genommen. 203 Er ist hingegen durch sein längliches Gesicht als Schwabe gekennzeichnet. Dennoch ist Martin der Auffassung, dass nicht die äußeren Merkmale, sondern das Herz ausschlaggebend sei. Der Streit wird mit einem Liebesakt und mit einer anschließenden Müller-Guttenbrunn-Lektüre beendet, wenn auch nicht entschieden. Die erotische Besiegelung ihrer ethnischen Zusammengehörigkeit wird allerdings durch Martin, der die ehemalige Nachbarin im Liebesrausch nicht Suschen, sondern auf ungarisch Zsuzsikám nennt, subversiv unterlaufen. Nach diesem Kapitel folgt eine detaillierte Beschreibung von Martins Lektüre der beiden Müller-Guttenbrunnschen Heimatromane Glocken der Heimat und Meister Jakob und seine Kinder, die er nicht einzeln, sondern pauschal einer kritischen Prüfung unterzieht, um zu einem ambivalenten Schluss zu kommen: Anziehend findet Martin den bekannten Gegenstand, die Landschaft, das Dorfleben; dessen Darstellung hält er jedoch für allzu unschuldig. Wegen der Kleinformatigkeit der Darstellung bezeichnet er die Heimatromane als Heldenepen einer Landnahme in Schubladenformat. 204 Doch die wichtigsten Kritikpunkte beziehen sich auf Müller-Guttenbrunns ethnische Voreingenommenheit. Der Erzähler schildert Martins Ambivalenz mit großer Umständlichkeit. Seine emotionale Teilnahme, soweit es um den Stoff, um die Milieuschilderung, und seine Alarmiertheit, wo es um die Kritik Ungarns geht: »Ihn quälten andauernd Widersprüche.« 205 Die Feststellung, dass Müller- 203 MOLTER, Károly: Tibold Márton. Regény. Kolozsvár-Napoca: Dacia Könyvkiadó 1984 [1938], pp.172-175. 204 Ibid. p. 176. 205 »Folytonosan ellenmondások gyötörték […]« (Übersetzt von E. K.) Ibid. p. 176. <?page no="107"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 107 Guttenbrunns Darstellung anderer Nationalitäten hasserfüllt ist, löst den Zwiespalt auf und bringt Erleichterung: Und da kam die Wende, er empfand es geradezu als wohltuend, dass der Autor sich irgendwo im Ton geirrt hatte. Denn sein Buch kippte immer halsschreierischer in einen ganz billigen Hass gegen andere Völker. Márton ertappte ihn nach und nach bei einer Ungerechtigkeit nach der anderen. Da wurde er böse: Er merkte jetzt die kunstfälschende Agitation im Text. Wie dieser Guttenbrunn die Ungarn hasste […], mit welch kalter Verachtung sprach er von den Serben und von dem »Walachenvolk«, das hinter dem Marosch sein Dasein fristete. Der Wiener Herr hatte keine Ahnung von dem sozialen Unterschied, der diese drei Arten trennte. 206 Müller-Guttenbrunns Werke werden in Molters Darstellung im politisch und ideologisch besetzten Kontext nationaler Agitation verbreitet. Suschen hat die Bücher von ihrem Mann bekommen, der in Hamburg arbeitet und seine Familie ins Reich heimholen möchte, und gibt sie weiter, damit sie auch andere dazu bewegen. Die Themen von Martins und Suschens Auseinandersetzung kehren in einer anderen Episode des Romans wieder, in der zwei aus dem Ausland heimkehrende Familienmitglieder Martin zu seinem Deutschtum bekehren möchten. In einem äußerst heftigen Familienstreit wird der Vorwurf des Renegatentums von Martins Vater mit einer Ohrfeige erwidert. Die aus dem Ausland kommenden deutschnationalen Verwandten werden von den Einheimischen als Agenten und falsche Propheten wahrgenommen, deren Agitation (in Form von Stipendienversprechen) sich hauptsächlich an die studierende Jugend richtet. Doch die Agitation, die sämtliche Lebensbereiche zu politisieren sucht, stößt in der Handwerkerfamilie auf heftigen Widerstand. 207 11.1 »Civis Danubius« Die Donau - bei Müller-Guttenbrunn und Herczeg ein geografisches Modell der Grenze - wird bei Molter weder als Grenze und noch als Verkehrsweg einer bevorstehenden großen wirtschaftlichen Eroberung beschrieben, sondern als »Landstraße der Völker«. Im Kapitel XXII seines Romans reist eine kleine Gesellschaft mit Márton Tibold von Palanka in der Südbatschka mit dem aus Wien kommenden Schiff nach Peterwardein/ Petrovaradin. Márton erklärt seine Idee von der Donau als Völker verbindende Landstraße: 206 »És akkor jött a fordulat, szinte jólesőn érezte, hogy az író valahol elvétette a hangot. Mert könyve mind telibb torokkal csapott át egy egészen olcsó gyűlöletbe más népek iránt. Márton apránként rajtakapta egyik igazságtalanságon a másik után. Erre felbőszült: megérezte a művészethamisító agitációt a szövegből. Mennyire utálta ez a Guttenbrunn a magyarokat […], aztán milyen hideg megvetéssel beszélt a ›rácok‹-ról és a Maroson túl tengődő ›Walachen Volk‹-ról. Fogalma se volt a bécsi úrnak a szociális különbségről, mely elválasztotta ezt a három fajtát.« (Übersetzt von E. K.) Ibid. p. 178. 207 Ibid. pp. 249-257. <?page no="108"?> 108 Edit Király Haben Sie noch nie über die Bedeutung der Donau zwischen den Völkern nachgedacht? Allein der Name entsteht auf besondere Art und Weise: Wann und warum ist aus dem alten Ister die heutige Donau, Duna, Dunava und Dun ặ rea mit ihrem gemeinsamen Stamm entstanden? Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, wie aus diesen mannigfachen Völkern ein freundschaftliches Bündnis entstehen soll, damit unsere Nachkommen stolz sagen können: Civis Danubius sum! 208 Seine Rede wird durch die Ereignisse an Bord konterkariert. Bald nachdem Márton Tibold seine Ideen über die Vielvölker-Donau zum Besten gibt, kommt es auf dem Schiff zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den aus verschiedenen Ecken des Balkans kommenden Vertretern der Donau-Völker. Die Tambura, die zuerst schöne musikalische Unterhaltung versprochen hat, wird dabei zerbrochen. Mit dieser allegorischen Vorwegnahme des Ersten Weltkrieges wird der utopische Charakter von Tibolds Donau-Ideen hervorgekehrt. Die Donau erscheint wieder einmal als Projektionsfläche politischer Sehnsüchte und gleichsam natürliche Legitimation historischer Konstrukte. 12 Zusammenfassung Neben der fortschreitenden Vereinheitlichung von Zoll- und Steuerregelungen und dem Ausbau von Verkehrsnetzen spielen bei der Konstruktion des nationalen Raumes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts symbolische Praktiken eine nicht zu unterschätzende Rolle. Als Anleitungen zu solchen symbolischen Raumkonstruktionen lassen sich auch literarische bzw. trivialliterarische Werke lesen, die Landschaftsbeschreibung mit Narrationen nationaler Krisen und zivilisatorischer Kämpfe überblenden. Mag aber auch diese Literatur die Grenzregion zu ihrem landschaftlichen Hintergrund haben, sie entstand, wie es sich erwies, nicht in den Grenzregionen, sondern in den jeweiligen politischen und literarischen Zentren, auch sollte durch sie nicht eine regionale, sondern die nationale Identität gefestigt werden. Die Grenzregion spielte dabei die Rolle eines Modells und war letztendlich austauschbar. Den spezifischen ethnischen Dilemmen der Grenzregion trugen jene literaturpolitischen Abgrenzungen Rechung, die zwischen Assimiationsfreudigen und die Assimilation ablehnenden Autoren wirksam wurden. Die Hypertrophien der gegenseitigen Darstellung (als Renegat oder als Verbrecher) wie auch die demonstrative Ablehnung der Wahrnehmung verweisen auf die tatsächlichen Dilemmen, die sich Intellektuellen einer nationalen Minderheit stellten und auf jene Entscheidungen, die Identitätsbildend für sie wurden. Im vorliegenden Aufsatz wurde nachgezeichnet, wie konkrete geografische Orte in den diskursiven 208 »›Nem gondolkodott még a Duna népközi fontosságán? Már a neve is furcsa keletkezés: mikor és miért lett az ősi Isterből a mai közös tövű Donau, Duna, Dunava és Dunặrea. S nem gondolkodott még azon, hogyan leszünk itt majd annyiféle népből baráti szövetséggé, hogy mondják majd utódaink büszkén: Civis Danubianus sum! ‹« Ibid. p. 276. (Übersetzt von E. K.) <?page no="109"?> Literarische Grenzinszenierungen am Beispiel der ›Donau‹ 109 Raum nationaler Diskurse eingefügt werden. Besonders prekär erscheint hierbei das Beispiel eines Flusses wie der Donau, die in unterschiedlichen nationalen wie auch übernationalen Erzählungen vorkommt und sowohl als Verbindungsals auch als Trennungselement figuriert. In Adam Müller-Guttenbrunns Banater Heimatromanen und Zeitungsaufsätzen werden gerade im Zusammenhang mit der Donau die Zugehörigkeit der Banater Schwaben zur deutschen Geschichte und ihre Distanz gegenüber dem ungarischen Staat herausgearbeitet. Die Donau ist dabei nicht nur jener Verkehrsweg, über den die großen »Schwabenzüge« nach Ungarn gelangt sind, sondern auch der Inbegriff eines Grenzflusses, der immer schon die Demarkationslinie im Kampf zwischen Kultur und Barbarei bildete, mithin den landschaftlichen Hintergrund für den Mythos des deutschen Kolonisten im Südosten Europas abgibt. Der Gegensatz von staatlicher Ordnung und Chaos, wie er sich im Krieg zwischen Römern und Barbaren, Babenbergern und Awaren, später von Habsburgern und Türken manifestiert, wird gerade am Beispiel der Donau in den ökonomisch und kulturell markierten Gegensatz von Stromregulierung einerseits und Bewahrung des »Urzustandes« andererseits überführt. Die Regulierung wird dadurch zu einer in der Region nur von Deutschen und Österreichern wahrgenommenen Kulturmission stilisiert, die Donau hingegen zu einer Figur kultureller und ökonomischer Abgrenzung. Der historische Roman Der große Schwabenzug zeigt zugleich, wie diese Figur am Vorabend des Ersten Weltkriegs jederzeit auch in einen kriegerischen Gegensatz umgedeutet werden kann. Eine ganz andere Landkarte der Identitäten entwirft der deutschstämmige ungarische Autor Ferenc Herczeg in seinem historischen Roman Die sieben Schwaben. Die Zugehörigkeit der Banater Schwaben zu Ungarn wird hier durch ihre Teilnahme an dem ungarischen Freiheitskrieg von 1848 erklärt und beglaubigt. Untertanen werden durch Blutopfer zu Staatsbürgern. Ihr ursprünglich rein ökonomisches Verhältnis zum Banater Boden wird im historischen Kataklysmus von 1848 zu Patriotismus verklärt. In diesem Roman, wie auch in Herczegs Lebenserinnerungen spielt die Donau als Grenzfluss eine markante Rolle. Ihre Schilderung fügt sich in jene Tradition mythisierender Donau-Darstellungen, die den Unterlauf des Flusses als eine Art Todesfluss imaginieren, dessen Überquerung ins Totenreich führt. Gefahren drohen nur von jenseits des Flusses, und die Donau als Grenze erscheint als Garant jener ethnischen Hierarchie zwischen Deutschen und Serben, die in Herczegs Werken als die Ordnung des Banats schlechthin angesehen wird. Die Grenze und der Grenzfluss erscheinen somit sowohl in Müller-Guttenbrunns als auch in Herczegs Werken als jene bedeutungsgeladene Linie, auf die hin die Verhältnisse des ethnisch gemischten Banater Gebietes geordnet werden. Der nationale Raum wird durch seine Abgrenzung von anderen Nationen definiert. Müller-Guttenbrunns wie auch Herczegs einschlägige Texte werden in der jeweiligen deutsch-österreichischen beziehungsweise in der ungarischen Öf- <?page no="110"?> 110 Edit Király fentlichkeit als nationale Modellfälle gelesen. Dennoch zeigt eine genauere Untersuchung des literarischen und politischen Feldes, in dem beide Autoren agieren, dass trotz der Ausschließlichkeit ihrer jeweiligen Öffentlichkeiten und sogar ihrer zur Schau gestellten gegenseitigen Abneigung durchaus auch die gegenseitige Rezeption in Werken beider festzustellen ist. Gerade die Gegenläufigkeit ihrer jeweiligen Lektüren scheint den wahrhaft regionalen Aspekt ihrer Tätigkeit darzustellen. Gegenmodelle werden nicht in den großen Werkstätten der nationalen Öffentlichkeit, sondern im begrenzten Bereich der Minderheitenliteratur entworfen. Das trifft etwa auf die Werke des deutschstämmigen siebenbürgisch-ungarischen Autors Károly Molter zu, der in seinem in der Zwischenkriegszeit veröffentlichten Roman Márton Tibold die Donau als eine Landstraße der Völker schildert, die sich an der utopischen Schnittstelle einander ausschließender Nationalismen befindet. <?page no="111"?> M ARGIT F EISCHMIDT (B UDAPEST / P ÉCS ) Die Verortung der Nation an den Peripherien Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 1 Die Verortung der Nation, bzw. die Strategien der Nationalisierung des Territoriums eines Staates, wird im folgenden Artikel am Beispiel der Denkmalerrichtung in dem ungarischen Teil der österreich-ungarischen Monarchie dargestellt werden. Der Zeitraum umfasst die Jahrzehnte nach dem Ausgleich 1867 bis zur Jahrhundertwende als die wichtigste Periode für die Inszenierung der Nation durch Denkmäler und Statuen in Ungarn. Das Ziel war die Erfindung und zugleich die monumentale Darstellung einer Tradition, die einerseits die Unabhängigkeitsbestrebungen von Wien und der Monarchie, andererseits die Besetzung des Territoriums des ehemaligen ungarischen Königreichs und ihre Umwandlung in ein ungarisches Vaterland (magyar haza) legitimieren konnte. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen Denkmäler, die in multiethnischen Grenzgebieten Ungarns errichtet wurden: die Millenniumssäulen, die 1896 zur Erinnerung an die »Landnahme« an sieben Punkten des Landes in ähnlicher Form aufgestellt wurde (siehe Illustration 1), und zwei städtische Denkmäler, Meisterwerke des ungarischen Historismus, nämlich das Freiheitsdenkmal in Arad (auch rumänisch und ungarisch Arad), und die Matthias Corvinus Statue in Klausenburg/ Cluj/ Kolozsvár (siehe Illustration 2 und Illustration 5). Auch das spätere Schicksal dieser Denkmäler und Statuen möchte ich verfolgen, vor allem mit der Absicht, ihre wechselnden Rollen in der Gedächtnispolitik, sozialen Erinnerung und in der Inszenierung der jeweiligen Nation in einem multiethnischen Raum zu erörtern. 1 Theoretische Vorbemerkungen Räume können auf unterschiedliche Art und Weise mit kulturellen Zeichen und Symbolen ausgestattet werden und werden dadurch im sozialen Sinne konstruiert. Ausgehend von seinen afrikanischen Feldforschungserfahrungen formulierte Edmund Leach, ein Klassiker der britischen Sozialanthropologie, dass Räume in jeder Gesellschaft mit bestimmten Narrativen verknüpft sind 2 . Vermittelt 1 Der Aufsatz wurde mit der Unterstützung des Nachwuchsstipendiums der Ungarischen Akadamie der Wissenschaften Bolyai János erstellt. Ich danke den OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen der Konferenz »Räume und Grenzen in der österreich-ungarischen Monarchie von 1867 bis 1918« für ihre Fragen und Kommentare zu meinem Vortrag, die meine Argumentation geschärft haben, und besonders Alexandra Millner, Wladimir Fischer und Edit Király, die auch die Lektoratsarbeit dieses Textes besorgt haben. 2 Cf. LEACH, Edmund: Conclusion. In: PLATTNER, Stuart/ BRUNER, Edward M. (Hg.): Text, Play and Story. The Construction and Reconstruction of Self and Society. Proceedings of the American Ethnological Society 1983. Washington: American Ethnological Society 1984, pp. 356-364. <?page no="112"?> 112 Margit Feischmidt werden sie im Allgemeinen durch Rituale, performative Akte, die soziale Kategorien und Narrativen verorten, das heißt sie bestimmten Orten in Raum und Zeit zuordnen. Die neueste Literatur in den Sozial- und Kulturwissenschaften beschäftigt sich wieder mit der sozialen Konstruktion der Zeit und des Raumes, oder wie Arjun Appadurai es nennt: »the production of locality and time« 3 . Man kann sagen, dass es gleichzeitig mit der zunehmenden Transnationalisierung der Welt und der Deterritorialisierung vieler Lebenswelten in den Sozialwissenschaften immer wichtiger wird, über die territoriale Organisation des Sozialen nachzudenken. 4 Eine der wichtigsten Kultur-Raum-Verknüpfungen wurde vom modernen Nationalstaat verwirklicht, der das geografische Territorium des Staates zum nationalen Raum umgestaltet und auf Deutsch offen als »Vaterland«, auf Ungarisch auf ähnliche Weise als »haza« bezeichnet wird. Diese Verknüpfung wird laut Anthony D. Smith durch die Einprägung der Herkunfts- und Gründungsmythen der Nation in die Landschaft verwirklicht. Dies geschieht entweder durch die Historisierung bestimmter Elemente der gewählten Naturlandschaft - »A modern romantic historiography of the homeland turns lakes and mountains, rivers and valleys into authentic repository of popular virtues and collective history.« 5 - oder durch Naturalisierung bestimmter historischer Ereignisse - »Tells, temples and stone circles are treated as natural components of ethnic landscape with a historical poetry of their own« 6 . Die Nation wurde als distinkte territoriale Einheit definiert und die nationale Identität als eine kulturelle und emotionelle Verbindung der Einzelnen zu diesem Raum. Diese Verortung sozialer Subjekte wurde durch symbolische Praxen naturalisiert. 7 Nach Appadurai besteht die Nationalisierung des Raumes in der Produktion eines kontinuierlichen und homogenen Territoriums der Nation und eines Bestandes von speziellen, ausgezeichneten Orten und Räumen, die für staatliche Zeremonien, Disziplinierung und Mobilisation geeignet sind. The nations-state relies for its legitimacy on the intensity of its meaningful presence in a continuous body of bounded territory. It works by policing its borders, producing its people, constructing its citizens, defining its capitals, monuments, cities, waters, and soils, and by constructing its locales of memory and commemoration, 3 Cf. APPADURAI, Arjun: The production of locality. In: DERS.: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1996, pp. 178-199. 4 Eine gute Zusammenfassung der Diskussion über die »geografischen Wende« (spatial turn) findet sich in: GUNN, Simon: The spatial turn. Changing histories of space and place. In: DERS./ MORRIS, Robert J. (Hg.): Identities in Space. Contested Terrains in the Western City since 1850. London: Ashgate 2001, pp. 1-14. 5 Cf. SMITH, Anthony D.: The Origins of Nations. In: Ethnic and Racial Studies 12 (1989) H. 3, 340-67, hier p. 357. 6 Cf. ibid., p. 357. 7 Der Raum des Nationalstaates kann in derselben Weise imaginiert werden wie die Nation. Benedict Anderson betont die Funktion des Mapping, der Herstellung der nationalen Landkarten in der Imagination (Imagining) der Nation. Cf. ANDERSON, Benedict: Imagined Communities. London: Verso 1983. <?page no="113"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 113 such as grave-yards and cenotaphs, mausoleums and museums. The nation-state conducts throughout its territories the bizarrely contradictory project creating a flat, contiguous, and homogeneous space of nationness and simultaneously a set of places and spaces (prisons, barracks, airports, radio stations, secretariats, parks, marching ground, processional routes) calculated to create the internal distinctions and divisions necessary for state ceremony, surveillance, discipline and mobilization. 8 Als in diesem Sinne ausgezeichnete Orte wurden die nationalen Denkmäler und die um sie herum liegenden Paradeplätze ersonnen. Das Denkmal wurde als »objektivierte« Darstellung der Nation, 9 als »Monumentalisierung der Kultur und der Geschichte« 10 bzw. in neueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen als Strategie der Identitätspolitik betrachtet. Als solche verwirklichen Denkmäler die Zuordnung von Vergangenheitsvisionen zu spezifischen Orten eines strukturierten Raums. Viele Forschungen haben in der jüngsten Zeit darauf hingewiesen, dass demselben Symbol bzw. demselben Denkmal zu verschiedenen Zeiten oder in verschiedenen politischen Kontexten völlig neue und unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden können 11 . Die Geschichte der Denkmäler handelt demzufolge von den Bestrebungen verschiedenen Personen und Gruppen, ihre Bedeutung zu bestimmen und den gültigen Diskurs über die Vergangenheit zu definieren. Denkmäler prägen und institutionalisieren durch das symbolisch auf sie bezogene soziale Handeln den sozialen Raum 12 , weil sie, in Diskursen und Ritualen eingesetzt, die herrschenden Prinzipien der sozialen Gliederung, die vision of divison 13 einer Gesellschaft widerspiegeln. Charlotte Tacke untersuchte, auf welche Weise die der Nation immanenten Ordnungsvorstellungen und -prinzipien mittels des Hermann- und des Vercingetorix-Denkmals in Deutschland bzw. in Frankreich in drei verschiedenen historischen Momenten durchgesetzt wurden. 14 8 APPADURAI 1996, p. 189. 9 Zu der Kategorie objectification siehe: HANDLER, Richard: On Social Discontinuity. Nationalism and Cultural Objectification in Quebec. In: Current Anthropology 25 (1984), pp. 55-64; DERS.: Nationalism and the Politics of Culture in Quebec: Madison 1988. 10 Siehe ASSMANN, Aleida: Kultur als Lebenswelt und Monument. In: DIES./ HARTH, Dietrich (Hg.) Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, pp. 11-25, p. 13. 11 Siehe hier vor allem: TACKE, Charlotte: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995 und LANGEWIE- SCHE, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Neue Politische Literatur 40 (1995), pp. 190-236. 12 TACKE 1995, p. 22. 13 Pierre Bourdieu spricht in seinem Konzept der symbolischen Macht von der »Macht, Prinzipen der sozialen Gliederung (di-vision) und mit ihnen eine bestimmte Vorstellung (vision) von der sozialen Welt durchzusetzen«, siehe BOURDIEU, Pierre: Die Macht der Repräsentation. In: DERS. Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller1990, pp. 94-103, hier p. 95. 14 Die von den Historikern in den letzten Jahren favorisierte soziale Analyse der Denkmäler hat auch für die anthropologische Forschung Vorbildcharakter. Der Punkt, an dem die Anthropologie oder Kulturwissenschaft allerdings etwas Neues hinsichtlich der Denkmalforschung leisten und gleichzeitig die diesbezüglichen Fragestellungen spezifizieren kann, ist die Beschreibung der einzelnen Ereignisse, die bei der Bedeutungszuschreibung der symbolischen Objekte eine besondere Rolle spielen, nämlich der Feste, Feierlichkeiten. Charlotte Tacke rekonstruiert in ihrer Arbeit die unter- <?page no="114"?> 114 Margit Feischmidt In ihrer Analyse der bürgerlichen Festkultur in Deutschland im 19. Jahrhundert zeigen Hettling und Nolte, dass die öffentlichen Feste eine Form der Visualisierung der symbolischen Kommunikation von Politik und sozialer Ordnung sind: Es geht darum, das Fest als kollektive Handlung und Erfahrung für die Teilnehmer zu rekonstruieren und nach der Bedeutung zu fragen, die diese ›außeralltägliche‹ Erfahrung für die Festteilnehmer und -zuschauer hatte. Dazu soll das Fest in seinem Ablauf und im Ineinandergreifen seiner verschiedenen Elemente und Bestandteile beschrieben werden: die Festzüge, die Festreden, die Sprache der Symbolik und der Bilder. 15 Die Feste der Einweihung oder der Neudefinition der Denkmäler sind Rituale, in deren Mittelpunkt das gemeinsame kulturelle Gedächtnis oder die gemeinsame historische Tradition steht. Die Rituale sind vor allem feierliche Akte der Klassifizierung und der Institutionalisierung sozialer Kategorien. Die Grenzen, die im Ritual dargestellt werden, geben den Differenzen im sozialen Raum eine sakrale Bestätigung. 16 2 Die ungarische Millenniumsfeier 1896 und ihre Denkmäler Die Denkmäler, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts europaweit eine Konjunktur erfuhren, wurden auch in den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie als Objektivierung der Nation bzw. bestimmter Traditionen und historischer Mythen benutzt. Über die Inszenierung und Instrumentalisierung der nationalen Geschichte und über den Kult nationaler Helden in Form von Nationaldenkmälern gibt Katalin Sinkó eine historische Übersicht. Sie vertritt die Ansicht, dass das Verhältnis der staatlichen oder vom Staat unterstützen Ideologien zu den inszenierten Geschichtsbildern in Ungarn bzw. jenen in der ungarischen Reichshälfte mit Deutschland vergleichbar sei und deswegen die Typologie von Nipperdey auf Ungarn angewendet werden könne. 17 In der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Ungarn erstens monarchistische Denkmäler, zweitens historische Helden und Mythen darstellende und drittens nationaldemokratische Denkmäler errichtet. Die monarchistischen Denkmäler verkörperten die Habsburger Dynastie, den Gesamtstaat, und vermittelten ein harmonisches Verhältnis zwischen dem Kaiser und seinen ungarischen Untertanen. Im Kult der historischen Helden trat hingegen etwa am schiedlichen Bedeutungen des Hermannsdenkmals und die Verschiebung der mit dem Denkmal symbolisierten Idee von der Nation im Kontext von drei Feiern (1841, 1875 und 1909). 15 Cf. HETTLING, Manfred und Paul NOLTE: Bürgerliche Feste und symbolische Politik im 19. Jh. In: HETTLING, Manfred/ NOLTE, Paul (Hg.): Bürgerliche Feste. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, hier p. 9. 16 Cf. BOURDIEU 1990; CONNERTON, Paul: How Societies Remember. Cambridge: Cambridge University Press 1989. 17 Siehe NIPPERDEY, T.: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 3 (1968), pp. 529-533. <?page no="115"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 115 Ende des 19. Jahrhunderts die ethnische Vorstellung der ungarischen Nation immer mehr in den Vordergrund. Die nationaldemokratischen Denkmäler wiederum sind in Ungarn vom Ideal der staatlichen Unabhängigkeit von der Habsburger Monarchie inspiriert. Die meisten von ihnen beziehen sich auf die »ungarische Revolution« von 1848/ 49. Die Inszenierung einer nationalen Heldenmythologie erreichte in der Tausendjahr-Feier der ungarischen Landnahme im Jahre 1896 ihren Höhepunkt. Einer der wichtigsten Initiatoren der Millenniumsfeier, der Historiker und Politiker Kálmán Thaly (1839-1909), präsentierte im Parlament sein Konzept einer würdigen Feier und der Bedeutung neuer Denkmäler und Statuen: Ich gestehe, dass auch ich mir eine solche Statue wünsche, welche die Unerschütterlichkeit der ungarischen Staatsidee ausdrückt und in so viele Richtungen schlägt, aus wie vielen sie misshandelt wird. Verstehen Sie, worauf ich hindeute? Ich will niemandem gegenüber feindlich gesinnt sein, doch bestehe ich auf die Darstellung der Stärke unseres konsolidierten Staates […]. Es wäre sehr wünschenswert, die Monumente der Landnahme in der Nähe der Grenzen und in den Gebieten, die hauptsächlich von Minderheiten bewohnt werden, aufzustellen. 18 Noch deutlicher findet man die Frage nach den Gründen in seinem Buch über die Geschichte der ungarischen Millenniumsfeier beantwortet: […] um den Reisenden, den Eingeborenen und die abtrünnig gewordenen Nationalitäten zu warnen, dass dieser Boden seit tausend Jahren dem ungarischen Staat gehört. Und wir wollen, dass der ungarische Staat in den kommenden tausend Jahren wie eine Eiserne Säule weiter besteht. 19 1890 legte der Politiker einen konkreten Plan für die Verwirklichung dieser Idee vor. Sieben Säulen, die an die Stämme der Land nehmenden Ungarn erinnern würden, sollten an verschiedenen herausragenden Punkten des Landes errichtet werden: fünf an den »Haupttoren«, das heißt an den symbolischen Punkten der Grenzgebiete, im Osten in Munkács (Mukacevo, heute in der Ukraine), im Süden in Zimony (Zemun/ Semlin, heute in Serbien), im Westen in Dévény (Devín/ Theben, heute in der Slovakei), im Norden in Nyitra (Nitra/ Neutra, heute in der Slovakei), im Südwesten auf dem Zenkberg neben Brassó (Bra ş ov/ Kronstadt, heute in Rumänien) und zwei an symbolischen Orten im Landesinneren, in Pannonhalma und Pusztaszer. Der Antrag des Abgeordneten Thaly wurde vom ungarischen Parlament im Jahre 1896 angenommen und die Denkmäler auf Landeskosten noch im selben 18 Zitiert nach SINKÓ, Katalin: A nemzeti emlékmű és a nemzeti tudat változásai [Das Nationaldenkmal und die Veränderungen des nationalen Bewusstseins]. In: Müvészetörténeti Ertesítő 4 (1983), pp. 185-201, p. 193. Aus dem Ungarischen von der Autorin übersetzt. 19 Vgl. THALY, Kálmán: Az ezredévi országos hét emlékoszlop történte [Die Geschichte der sieben Millenniumssäule]. Pozsony 1898, hier zitiert nach KOVÁCS, Ákos: Árpád-ünnep, Szent-Istvánkor. Egy kultikus emlékhely genealógiája [Árpád-feste um Sankt Stephan. Die Genealogie eines kultischen Ortes]. Mozgó Világ 3 (2004), http: / / www.mozgovilag.hu/ 2004/ 06/ 03kovacs.htm. <?page no="116"?> 116 Margit Feischmidt Jahr an sieben historisch bedeutenden Punkten des Landes errichtet. 20 Der Plan sollte sehr schnell ausgeführt werden, weshalb es keinen öffentlichen Wettbewerb gab. Die Denkmäler wurden vom technischen Rat der Regierung entworfen und galten schon damals - wie der Historiker János Potó unterstreicht - nicht als gestalterisch bedeutungsvolle Werke. Sie hatten eine rein politische Funktion. Das aus zwei dorischen Portiken bestehende Denkmal von Pusztaszer erhebt sich als eine von Löwen flankierte staffelförmige Pyramide, auf der die Heldengestalt Árpáds, des Landesfürstens (840 (? ) - 907), steht, unter dessen Leitung im Jahre 896 die Besetzung Pannoniens durch die ungarische Stämme - laut der zeitgenönisschen Geschichteschreibung - geschehen ist. 21 Das in der Nähe des Pannonhalma-Stifts befindliche Denkmal ist einem griechischen Tempel ähnlich und mit nationalen Symbolen geschmückt. Es zeigt ein Wappen und die allegorische Figur der Hungaria. Das Millenniumsdenkmal in Munkács war 33 Meter hoch und bestand aus zwei Hauptteilen: dem sechs Meter hohen Sockel mit vier in Türmchen endenden Kanten und einem daraus emporragenden schlanken Obelisken, auf dessen Spitze ein Adler seine Schwingen entfaltete. Das Denkmal aus Nyitra (Nyitra-Zoborberg) ist in seiner Grundidee dem Munkácser insofern ähnlich, als es ebenfalls aus einem Obelisken mit Piedestal besteht. Das Dévényer Monument stand am Zusammenfluss von March und Donau auf einer felsigen, mit den Ruinen einer mährischen Burg bedeckten Anhöhe. Es handelte sich um eine reich geschmückte Säule, auf deren Kapitellen ein Krieger aus der Árpádenzeit stand. Auf der Spitze des Zenker Berges, an dessen Fuße Kronstadt/ Bra ş ov/ Brassó) liegt, erhob sich eine zehn Meter hohe dorische Säule, auf der ein der Dévényer Figur ähnlicher Krieger aus der Árpádenzeit stand. 20 Das Gesetz Nr. VIII. aus dem Jahre 1896 »Über die Werke zur Ehrung der Tausend Jahres Feier der Landnahme« (Törvénycikk a honalapítás ezredik évfordulójának megörökítésére alkotandó művekről) ordnete die Errichtung eines Denkmals »zur Verewigung des Landbegründers Árpád in Budapest an, sowie von sieben Gedenksäulen an sieben Punkten des Landes, einer Sankt-Stephans-Statue in der Budapester Burg und eines nationalen Kunstmuseums in Budapest, wie auch die Gründung von 400 neuen Grundschulen auf dem Gesamtterritorium des Landes. János Potó macht uns darauf aufmerksam, dass das Verhältnis der Beiträge für Denkmäler und Museen auf der einen Seite und jener für Schulen auf der anderen - zweimal so viel für Monumente als für Schulen - die Wichtigkeit der Erinnerungspolitik in dieser Zeit zeigt. Siehe: POTÓ, János. Az emlékeztetés helyei. Emlékművek és politika [Erinnerungsorte. Denkmäler und Politik]. Budapest: Osiris 2003, p. 272. 21 Das ist das einzige der sieben Monumente, das bis heute als nationaler Gedächtnisort funktioniert. Über den nationalen Erinnerungsort Ópusztaszer wie auch über die dortigen Rituale schreibt Ákos Kovács. Er betont die Zusammenhänge des Arpád-Kultes und der Mythen über die orientalische Herkunft der ungarischen Nation. Später erschien innerhalb dieses Kultes ein rassistischer Diskurs der Nation. Cf. KOVÁCS 2004. <?page no="117"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 117 Illustration 1: Nationale Gedächtnisorte auf dem Gebiet des Königreichs Ungarn Fünf der sieben Millenniumsdenkmäler waren an strategisch und symbolisch wichtigen Punkten situiert und markierten die Grenze Ungarns. Die Säulen blickten in die Richtung der Nachbarländer Österreich, Serbien, Russland und Rumänien und verkündeten auf diese Weise die Integrität des neuen Staates nach außen. Gleichzeitig waren sie dazu berufen, die Nationalitäten, die in diesen Gegenden die numerische Mehrheit der Bevölkerung bildeten - die RuthenInnen, die SlovakInnen, die KroatInnen, die RumänInnen und die Sachsen und Sächsinnen - an die Einheit der Nation zu gemahnen. 22 Thaly wurde auch in der Diskussion um das Budapester Millenniumsdenkmal aktiv. Er vertrat den Standpunkt, dass nicht der erste König, der Heilige Stephan, ins Zentrum des einem Kaiserforum ähnlichen Denkmals gestellt werden sollte, sondern Árpád, umgeben von den anderen sechs Stammesfürsten, die Pannonien erobert hatten. Der zentrale Held der Millenniumsfeier wurde Árpád, dessen kultische Verehrung das ethnische Element der ungarischen Nationsvorstellung in den Vordergrund rückt. Im Gegensatz zum offiziellen Kult des Heiligen Stephan und zur politischen Vorstellung der Nation, wie sie die lange Zeit regierende Liberale Partei propagierte, verlieh der Árpád-Kult der ethnischen Ausschließlichkeit und Nationalitätenfeindlichkeit der Unabhängigkeitspartei eine symbolische Sprache. 23 Intellektuelle und Politiker mit rumänischem, slovakischen, wie 22 Cf. POTÓ 2003, p. 273. 23 Cf. SINKÓ, Katalin: Arpád versus Szent István. Competing Heroes and Competing Interests in the Figurative Representation of Hungarian History. In: Ethnologia Europaea 19 (1989), pp. 67-83; SIN- <?page no="118"?> 118 Margit Feischmidt auch anderen nicht-magyarischen ethnischen Hintergrund signalisierten schon damals, dass die neue Nationsvorstellung, die sich durch die Millenniumsfeier in einer immer klareren Form manifestierte, sie ausschließe, und sie noch mehr als Untergeordnete darstelle. 24 In dieser Atmosphäre der Traditionserfindung und -etablierung entdeckten auch lokale Eliten in kleineren Städten und Orten Ungarns ihre einheimischen Helden und feierten diese. Noch größer war die Begeisterung in jenen Ortschaften, deren Einwohner eine lebhafte Erinnerung der lokalen Ereignisse der Revolutionszeit bewahrt haben. Wichtige ungarische Nationalmonumente wurden auch in Städten errichtet, die selbst eine multiethnische Bevölkerung aufwiesen oder regionale Zentren von multiethnischen Regionen waren. Die erste in dieser Reihe war Arad, eine sich schnell modernisierende Stadt in Südungarn, wo 1890 das Märtyrerdenkmal der hier 1849 hingerichteten Offiziere des ungarischen Freiheitskampfes aufgestellt wurde. Die Statue, ein Meisterwerk von Adolf Huszár und György Zala, 25 mit ihrer monumentalen Frauengestalt, der Hungaria, wurde nicht nur eine Gedenkstätte zu Ehren der Revolution, deren Jahrestag an jedem 6. Oktober feierlich begangen wurde, 26 sondern auch ein Symbol der ungarischen Freiheits- und Autonomiebestrebungen. Pressburg/ Bratislava/ Pozsony bekam sein erstes Nationaldenkmal, das Maria-Theresia- Denkmal, 1896. 27 Die andere monumentale Reiterstatue, das Matthias-Cor- KÓ, Katalin: A História a mi erős várunk. A millenniumi kiállítás, mint Gesamtkunstwerk [Die Geschichte ist unser feste Burg. Die Milleniumsaustellung als Gesamtkunstwerk]. In: ZÁDOR, Anna (Hg.): A historizmus művészete Magyarországon. Művészettörténeti tanulmányok. Budapest: MTA Művészettörténeti Kutatóintézet 1993, pp. 132-147, p. 132. 24 Wie Emil Niederhauser und Gábor Gyáni es formulieren: »A clear-cut difference was made here between the two notions of the Hungarian nation, between the medieval and the modern one. In the Slovak language […] the double meaning of the concept has usually been expressed by two separate words, Uhorso referring to the historical country and Mad’arsko to its present-day equivalent. The distinction made between the two notions also occurred in the Serb, the Croatian and even the Romanian languages. One could say that the nationalities of the late 19th century protested against the notion of Mad’arsko, a kind of nation propagated by the current Hungarian nationalist discourse, but were apt to come to compromise with the concept of Uhorsko, applied to a country which would incorporate their own narrative as well. ›We protest against […] the planned celebration which portrays us as subdued and subjugated nations‹ - reads the text unambiguously.« Cf. GYÁNI, Gábor: Forgetting the Diversity of the National Past. Contrasting Memories of the Hungarian Millenniums. In: FEICHTINGER, Johannes/ PRUTSCH, Ursula/ CSÁKI, Móritz (Hg.): Habsburg Postcolonial. Machstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck et al.: Studien Verlag 2003, pp. 209-220, p. 213; NIEDERHAUSER, Emil: Honfoglalás és millennium [Landnahme und Millennium]. In: Magyar Tudomány 40 (1996) H. 8, pp. 1404-1415. 25 Adolf Huszar (1843-1885) und György Zala (1858-1937), Bildhauer. 26 Es handelt sich um das Datum der Hinrichtung der 13 Offiziere der revolutionären Armee. 27 Über die Denkmäler und Erinnerungsorte in Pressburg/ Bratislava/ Pozsony siehe: MANNOVÁ, Elena: Von Maria Theresia zum Schönen Náci. Kollektive Gedächtnisse und Denkmalkultur in Bratislava. In: JAWORSKY, Rudolf/ STACHEL, Peter (Hg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin: Frank & Timme Verlag 2007, pp. 203-216. Mannová argumentiert, dass sich im Pressburger Maria-Theresia-Denkmal historische Bindungen Pressburgs/ Pozsonys zur den Habsburgern mit der Loyalität zum Königreich Ungarn überlappten. Die Erinnerungen an die »deutsche« und »ungarische« Stadt sind um diese Zeit noch nicht voneinander getrennt. Sowohl die Statue als auch ihr Enthüllungsfest wurden von der Stadt finanziert. Mit der staatlichen Unterstützung wurde in dieser Zeit ein anderes Monument in diesem Raum errichtet, und zwar der Árpádische Kämpfer auf der Burg Theben (Devín, Devény), der ganz <?page no="119"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 119 vinus-Denkmal von Johannes/ János Fadrusz 28 , wurde 1902 in Klausenburg (Cluj/ Kolozsvár) eingeweiht. Die Massenproduktion von Denkmälern fing in den multiethnischen Provinzen Ungarns erst im nächsten Jahrzehnt an und verfolgte drei Strategien: die Helden der nationalen Ursprungsmythen, der ungarischen Staatlichkeit und der antihabsburgischen Revolution zu monumentalisieren. Die ersten beiden wurden von den in der Region lebenden anderen Nationalitäten bzw. von der rumänischen, slovakischen und serbischen Eliten wegen der Ethnisierung, das heißt der ethnischen Ausschließlichkeit der Nationsvorstellung, kritisiert, die dritte wegen der unterschiedlichen, manchmal sogar entgegengesetzten kollektiven Erinnerung an 1848/ 49. Viele Denkmäler, die während der Millenniumsfeier errichtet wurden, hat man später verändert oder vernichtet - darunter vor allem auch jene, die bei Ungarn verblieben sind. Das anschaulichste Beispiel ist der Heldenplatz mit dem Millenniumsdenkmal in Budapest. Die Denkmäler seien für die Ewigkeit gebaut, dennoch hätten sie oft nur ein ganz kurzes Leben - formuliert Sinkó in ihrem Aufsatz über das Budapester Millenniumsdenkmal. Dieses wurde umgestellt, umgestürzt, umgestaltet oder auch nur umgedeutet, wobei dies öffentliche Äußerungen sozialer Spannungen oder Konflikte sein können und oft in Form von Krawallen stattfinden. Solch’ rituelle Revanche bestätigt entweder die vom Denkmal bisher dargestellte Gedächtnisideologie oder weist diese zurück und verkehrt deren Botschaft in ihr Gegenteil. 29 Die ersten wichtigen Veränderungen am Budapester Millenniumsdenkmal wurden während der Räterepublik vorgenommen, als die Galerie der Könige und der krönende Engel mit den sieben Feldherren mit einer riesigen roten Kulisse verdeckt wurden. Nach dem Friedensvertrag von Trianon 1920 wurde hier das Grab des Unbekannten Soldaten aufgestellt - unter dem Schlagwort der revisionistischen Politik »um die tausendjährige Grenze«. Nach der kommunistischen Machtübernahme wurden die Habsburg-Könige entfernt und durch die Helden des ungarischen Unabhängigkeitskampfes ersetzt. Wichtige Ereignisse der politischen Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert fanden gerade hier statt: 1956 der Umsturz der monumentalen Stalin-Staue, 1989 die Neubestattung von Imre Nagy (1896-1958). Und was wissen wir über jene Denkmäler, die sich infolge des Zerfalls der Doppelmonarchie und der Verschiebung der Staatsgrenzen von einem Tag auf den anderen auf dem Gebiet der Nachbarländer und unter der Kontrolle von eindeutig die Grenzen des ungarischen/ magyarischen nationalen Territoriums gegen Österreich markieren sollte. 28 Johannes Fadrusz (1858-1903), ungarischer Bildhauer deutscher Abstammung, geboren in Pressburg/ Pozsony, gestorben in Budapest. 29 Über die politischen Rituale um die Denkmäler bzw. Denkmalerrichtungen und -vernichtungen schreibt Sinkó auch im Zusammenhang mit einer späteren Periode: SINKÓ, Katalin: A továbbélő historizmus. A Millenniumi emlékmű mint szimbolikus társadalmi akciók színtere [Der weiterlebende Historizismus. Das Milleniumsdenkmal als Terrain symbolischer Aktionen] In: ZÁDOR 1993, pp. 277-293. Über das Schicksal des Millenniumsdenkmals im Zusammenhang mit anderen Budapester Denkmälern cf.: POTÓ 2003, pp. 274-280. <?page no="120"?> 120 Margit Feischmidt Eliten - oder von deren Nachfolgern - fanden, die schon früher ihr Missfallen gegenüber diesen Denkmälern geäußert hatten? Die einfachste Antwort ist jene, die die ungarische Geschichtsschreibung gegeben hat: Die meisten dieser Denkmäler wurden »Opfer der losgelassenen antiungarischen Regungen« 30 (»áldozatául estek a szabadjára bocsátott magyarellenes indulatoknak«). Die Árpádsäule in Kronstadt/ Brassó/ Braşov wurde schon 1913 gesprengt. Jene in Devín/ Theben/ Dévény (heute in der Slovakei) wurde 1921 in die Luft gejagt, den Pendants in Nitra und Munkács wurde kurze Zeit danach dasselbe Schicksal zuteil. 31 Das Maria-Theresia-Denkmal in Bratislava wurde von einer Gruppe nationalistischer Jugendlicher in einem Krawall im Jahre 1921 umgestürzt und in kleine Teile zerhackt. 32 In diesem Sinne handelt es sich bei der Denkmalgeschichte, die man von Gabriela Kilianova über Devín/ Theben erfährt, um einen typischen Fall. 33 Von den sieben Säulen war die Árpád gewidmete dort vielleicht die provokanteste. Die Burgruinen, die vorher dort gestanden hatten, waren im 19. Jahrhundert vor allem mit der ›großmährischen‹ Tradition in Verbindung gebracht worden, wobei slovakische Schriftsteller, Dichter, Lehrer und Pfarrer an den »vergangenen Ruhm« der Slovaken erinnert hatten. Zugleich trug Devín/ Dévény für die Ungarn die Konnotation porta hungarica, was bald als Grenze, bald als Verbindung zur Monarchie interpretiert wurde. In die ungarische Öffentlichkeit tritt Dévény durch die Entscheidung, dass hier eine der sieben Säulen zum Gedächtnis der ungarischen Landnahme errichtet werden soll. Das Bild des Millenniumsdenkmals in Theben - ein Kämpfer Árpáds mit Schwert in der Hand - war in den 30 Siehe zum Beispiel POPÉLY o. Z.: (http: / / home.nextra.sk/ madszu/ szemle3.htm. 31 Eine umfangreiche Zusammenfassung der Denkmälerumstürze von 1918 bis 1925 auf dem Boden der jungen tschechoslovakischen Republik gibt Lubomir Liptak, siehe: LIPTAK, Lubomir: Monuments of Political Changes and Political Changes of Monuments. In: DERS. Changes of Changes. Society and Politics in Slovakia in the 20th Century. Bratislava: Academic Electronic Press, Historicky ustav SAV 2002, pp. 71-93. Der slovakische Historiker betont, dass die gewaltlose Machtübernahme in der Slovakei durch spektakuläre Denkmalstürze ersetzt wurde. Liptak zufolge fand der Umsturz der habsburgischen und ungarischen Denkmäler in der Tschechoslovakei in drei Phasen statt, die erste bald nach der Machtübernahme in den Städten, die zweite während der Kämpfe gegen die ungarische Räterepublik im Sommer und Herbst 1919, und die dritte während Erzherzog Karls letztem Versuch einer Machtübernahme im Jahre 1921, cf.: LIPTAK 2002, p. 76. 32 »The best known ›memorial-breaking‹ operation in the post-revolutionary years is definitely the destruction of Bratislava’s Maria Theresa. The style of the operation also differed from the norm. After former King Charles’ unsuccessful attempt to take over in neighboring Hungary, after the Czechoslovak mobilization and the fear that the war had returned yet again, a crowd led by legionaries smashed the statue literally into pieces on 26-27 October 1921. […] Later the major Slovak historian, Professor Varsik, recalls how as a student he enthusiastically pulled on the thick rope. […] Many fragments of statues also went to Budapest, where they were exhibited in the National Museum. Many Hungarian institutions, including the Academy of Sciences, protested against the destruction. In the whole interwar period, the statue’s destruction was frequently used in Hungarian propaganda to show the ›barbarism of the Czechs‹, just as another statue in Budapest, this time a new one, dedicated to the revision of Trianon, was fixed testimony to the Hungarians’ ›incorrigibility‹ in Czechoslovak propaganda.« LIPTAK 2002, p. 79. 33 KILIANOVA, Gabriela: Ein Grenzmythos: Die Burg Devin. In: STECKL, Hannes/ MANNOVA, Elena (Hg.) Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich. Wien: Facultas 2003, pp. 49-80. <?page no="121"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 121 kommenden Jahren auf manchen Buchdeckeln, in Broschüren über Ungarn oder über das Pressburger Komitat zu sehen. Im Januar 1921, beinahe gleichzeitig mit dem Trianoner Friedensschluss, jagten unbekannte Täter das Millenniumsdenkmal in die Luft. Später bemühte sich die neue slovakische und tschechoslovakische Elite, die slavischen Grundlagen Devíns wieder hervorzuheben. Es wurde zum wichtigen nationalen und staatlichen Gedächtnisort, wohin in den 1920er und 30er Jahren nationale Wallfahrten zu Ehren der Apostel Kyrill und Method organisiert wurden. Am selben Ort wurde in den 1950er und 60er Jahren die »Brüderschaft der slavischen Völker« gefeiert. Nach 1989 verlor er, obwohl niemand mehr den slovakischen Besitz des Gedächtnisorts Devín anzweifelt, viel von seiner symbolischen Kraft. Weder in den slovakischen, noch in den meisten ungarischen touristischen Beschreibungen der Burg - einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der slovakischen Hauptstadt - findet die Árpádsäule noch Erwähnung. 34 Im Folgenden werde ich zwei weitere Geschichten darstellen: jene des Arader Märtyrerdenkmals und des Klausenburger Matthias-Corvinus-Denkmals. Den beiden Fällen ist der soziale Kontext der Errichtung gemeinsam, zwei Städte mit einer ungarischen Mehrheit inmitten von zwei Regionen, deren Bevölkerung von anderen Ethnien - RumänInnen, Deutschen und SerbInnen - dominiert wurde. Beide sind Denkmäler mit einem hohen ästhetischen Wert, aber mit einer sehr kontroversiellen politischen Bedeutung: aus eben diesem Grund haben diese Statuen seit ihrer Errichtung mehrere Umgestaltungen und Umdeutungen erlebt, welche die vorliegende Analyse rekonstruieren und verstehen möchte. 2.1 Arad: Freiheitsdenkmal mit auferstehender Hungaria Die Lage dieser Stadt auf der Landkarte der Monarchie und später auf der Landkarte Ungarns ist durch eine Ende des 18. Jahrhunderts erbaute militärische Festung bestimmt, die nach der Kapitulation der ungarischen Armee in Schiria/ Világos/ Siria (Rumänien) am 13. August 1849 zum Schauplatz der Hinrichtung von dreizehn ungarischen Offizieren und der Arretierung von weiteren zehn geworden war. Die Markierung des Hinrichtungsortes wurde erst durch den Ausgleich möglich. Trotzdem scheint das tragische Ereignis in der lokalen kollektiven Erinnerung nicht verblasst zu sein. 35 Einen Monat nachdem Franz Joseph zum ungarischen König gekrönt worden war, erschien in der Arader Lokalzeitung ein Aufruf zur Errichtung eines Obelisken. Im selben Jahr fand die erste öffentliche Gedenkveranstaltung in Anwesenheit der Teilnehmer eines nationalen Chortref- 34 Siehe: KILIANOVA 2003, p. 65 35 Ethnologen haben die Kapitulation am Világos und die Hinrichtung der »13 Märtyrer des Freiheitskampfes« als ein Ereignis beschrieben, das tief in die populäre Erinnerung eingeschrieben ist und in vielen Formen, Liedern, Balladen, Geschichten und Bildern tradiert wurde. Cf.: SZABÓ, Zoltán: Az aradi vértanúk emlékezete. [Die Erinnerung der arader Märtyrer] http: / / www.neprajz.hu/ 48/ tanulmanyok/ tan8.shtml. <?page no="122"?> 122 Margit Feischmidt fens statt. Der Ort, wo die Offiziere hingerichtet worden waren, wurde von einer lokalen Gruppe begeisterter Patrioten mit einem getrockneten Maulbeerbaum bezeichnet. Ab diesem Jahr wurde die Erinnerung an den 6. Oktober regelmäßig gepflegt. Unter der Leitung des lokalen Heimwehr-Vereins, und später auch des Kulturvereins, der den Namen des Dichters der Nationalhymne, Ferenc Kölcsey (1790-1838), trug, konnte sich ein Revolutionskult etablieren. Die Erinnerung an die niedergeschlagene Revolution und den Freiheitskampf, die kollektive Trauer, waren wichtig, vielleicht entscheidend, aber nicht genug um hier das erste Nationaldenkmal der ungarischen Provinz errichten zu können. Einen anderen Ansporn bedeutete die ökonomische und soziale Wirklichkeit der Stadt. Arad erlebte in den 1870er und 1890er Jahren eine rasante Modernisierung und Industrialisierung. Einer zeitgenössischen Beschreibung zufolge 36 gab es in Arad 30 Fabriken; in der Stadt lebten 1.328 Handwerker und 615 Kaufleute. Im Jahr 1891 hatte die Stadt insgesamt 42.052 Einwohner, davon waren etwa 60 Prozent UngarInnen, 18 Prozent RumänInnen, 15 Prozent Deutsche und 5 Prozent SerbInnen. In der Stadt hatte sich ein relativ starkes Bürgertum entwickelt, das viele lokale Institutionen und Initiativen unterstützen konnte. 37 Arad war gleichzeitig ein wichtiges kulturelles und Schul-Zentrum für die Banater Rumänen, wo lange Zeit Ioan Slavici, Vasile Goldiş 38 und andere wichtige Persönlichkeiten der rumänischen Literatur, Publizistik und Politik lebten. Slavici schreibt - die rumänische Anwesenheit subjektiv betonend - in seinen Memoiren über Arad: Arad hatte damals etwa dreißigtausend Einwohner, davon waren etwa acht tausend Rumänen und fünf tausend Ungarn 39 . Die Anderen waren Schwaben, Ungarn, Juden und obwohl die Ungarn nur etwa ein Viertel der Bevölkerung bildeten, wurde die ganze Stadt als ungarisch angesehen. Auf dem Markt sprachen trotzdem alle Rumänisch, während man in den Geschäften und in allen anderen öffentlichen Räumen vor allem Ungarisch verwendete. 40 Als erstes bleibendes Mahnmal der Revolution von 1848/ 49 wurde 1881 ein Obelisk am Ort der Hinrichtung aufgestellt, gleichzeitig wurde auch eine Kopie der Statue gezeigt, die die Arader auf einem der Hauptplätze ihrer Stadt aufstellen wollten. Um dies verwirklichen zu können, organisierten die Initiatoren in den kommenden Jahren mehrere lokale und nationale Sammlungen. Es ist bemerkenswert, dass der erste Erinnerungsort der ungarischen Revolution und das erste Nationaldenkmal in der ungarischen Provinz mit Hilfe von Privatspenden - aber nicht nur von der Spende der Arader - aufgebaut wurde. Wie einer 36 Siehe VARGA, Ottó (Hg.) Aradi vértanúk albuma [Album der Märtyrer von Arad]. Budapest 1890, hier zitiert nach MURÁDIN, Jenő: Az aradi Szabadság-szobor [Das Freiheitsdenkmal in Arad]. Cluj: Gloria 2003, p. 46. 37 Die beste historische Monografie der Stadt aus dieser Zeit ist: MÁRKI, Sándor: Arad-vármegye és Arad szabad királyi város története [Die Geschichte von Arad und des Komitats Arad]. Arad 1895. 38 Ioan Slavici (1848-1925), Vasile Goldis (1862-1934). 39 Das sind Schätzwerte. 40 Vgl. SLAVICI, Ioan: Inchisorile mele. Amintiri. Lumea prin care am trecut [Meine Gefängnisse. Erinnerungen. Die Welt, die ich kennen lernte] București: Albatros 1998, p. 400. (Übersetzung M. F.). <?page no="123"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 123 der begeisterten Befürworter des Arader Denkmals, der Politiker Béla Barabás (1855-1934), später schrieb, wurde von den für diesen Zweck gesammelten 133.000 Forint, etwa ein Fünfzehntel von AraderInnen und Bewohnern des Komitats Arad gespendet, der größere Teil jedoch vom ganzen Lande. Interessante Daten tauchen in der Lokalzeitung Alföld auf, wo man eine Zeit lang regelmäßig die Namen der Freigiebigeren und die Summe ihrer Spende veröffentlichte. Unter den AraderInnen finden sich »deutschsprachige Bürger« der Stadt, die Elite der Israelitischen Gemeinde, bekannte rumänische Intellektuelle und sogar rumänische politische Führer. Der Autor des ersten im Jahre der Enthüllung veröffentlichten Buches über das Denkmal schreibt über eine rumänisch-ungarisch-serbische Veranstaltung, die 250 Forint für das Denkmal einbrachte. Unter den Mitwirkenden waren auch die Frau des rumänischen Oberstaatsanwalts von Arad und sein Vorsitzender Aurel Popovici (wahrscheinlich Vater des bekannten Politikers Aurel C. Popovici) zu finden. 41 Das Denkmal, dessen Modell 1881 veröffentlicht wurde, war ein Werk Adolf Huszárs, eines bekannten Bildhauers des ungarischen Historismus, der unter anderem die Budapester Petőfi- und Ferenc-Deák-Statuen 42 , wie auch die Statue von Joseph Bem 43 in Marosvásárhely/ Neumarkt/ Tărgu Mureş geschaffen hatte. Nach Huszárs unerwartetem Tod wurde das Denkmal von György Zala - einem Mitglied der jüngeren Trias des ungarischen Historismus 44 - weitergeführt und vollendet. Zala war auch der Schöpfer des berühmten Budapester Millenniumsdenkmals. Die Statuenkomposition zu Ehren der Arader Märtyrer, die später immer öfter als Freiheitsdenkmal bezeichnet wird, besteht aus vier allegorischen Figuren - der Opfer- und der Kampfbereitschaft, dem sterbenden Kämpfer sowie der auferstehenden Freiheit - und einer zentralen Frauengestalt, Hungaria. Letztere wird durch die vielen historischen Requisiten auf ihrer Gestalt zu einem nationalen Symbol: durch den Helm auf ihrem Kopf, der für die Schwarze Armee von König Matthias charakteristisch war, durch die Krone der Heiligen Margit und das Schwert des (Heiligen) Stephan I., das sie in ihrer linken Hand hält. In ihrer hochgehaltenen Rechten hält sie eine den Sieg der Nation symbolisierende Lorbeerkrone. 41 Cf.: SZŐLLŐSSY, Károly: Az aradi tizenhárom vértanú szobor története [Die Geschichte der dreizehn Märtyrer von Arad]. Arad 1890, p. 49 und MURÁDIN 2003, p. 22-3. 42 Ferenc Deák (1803-1876). 43 Joseph Bem (1794-1850). 44 Die drei sind: Aurel Stróbl, János Fadrusz und György Zala. Alle drei Männer waren ihrer Herkunft nach Deutsche. <?page no="124"?> 124 Margit Feischmidt Illustration 2: Arader Freiheitsdenkmal (Foto: M. F.) <?page no="125"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 125 Das Einweihungsfest fand am 6. Oktober 1890 statt. Die Budapester Zeitungen berichten darüber, dass: »[e]twa zehntausend Menschen vom ganzen Lande anreisten. Ungefähr ebenso viele waren per Kutsche gekommen wie zu Fuß.« Witwen und Kinder der dort Hingerichteten, überlebende Offiziere des Freiheitskampfes und einige wichtige politische und kulturelle Persönlichkeiten aus Budapest nahmen ebenfalls daran teil. 45 Repräsentanten des offiziellen Ungarn waren jedoch, wie zeitgenössische Kommentare bemerken, nicht anwesend. 46 Die Eröffnungsrede wurde vom Arader Bürgermeister gehalten, nachdem deren Schöpfer György Zala die Statue der Stadt übergeben hatte. Nachdem der Vorsitzende des Honvéd-Vereins 47 , der mit der Organisation des Einweihungsfestes betraut war, seine Rede gehalten und das Opfer der Helden der ungarischen Revolution für das ungarische haza (Vaterland) gerühmt hatte, wurde eine eigens für diesen Anlass geschriebene Ode rezitiert. Schließlich sangen alle Anwesenden gemeinsam die ungarische Hymne. Von diesem Tag an war das Denkmal ein lokaler Gedächtnisort und Zielort nationaler Wallfahrten an jedem 6. Oktober, dem Gedenktag der Märtyrer der Revolution von 1848/ 49, der später in »nationaler Trauertag« umbenannt wurde. Die rumänischen Reaktionen der zwei großen Zeitungen, der in Kronstadt/ Braşov veröffentlichten Gazeta Transilvaniei und der in Hermannstadt/ Sibiu veröffentlichten Tribuna, zeigen verschiedene Ausdrucksformen und Schattierungen der Ablehnung. Die Redakteure der Gazeta nehmen die Statue und ihr Enthüllungsfest einfach nicht zur Kenntnis. Gleichzeitig schreiben sie in denselben Oktobertagen von 1890 viel über die »Magyarisierung« und die »Nationalitätenfeindlichkeit der ungarischen Politik«. 48 Nicht so die Tribuna, wo der erste Bericht, gleich am Tag nach der Enthüllung erscheint und zwar mit der Bemerkung, dass das Fest auch »zwei Rumänen verschluckt hat«, »denen der Herr verzeihen soll, weil sie (das heißt die richtigen Rumänen) ihnen nicht verzeihen können«. 49 Ein Tag später, am 11. Oktober 1890, wird im Leitartikel diese Ablehnung erläutert: Die Statue wurde aufgestellt und die Feier des ungarischen Ruhmes organisiert »inmitten einer rein rumänischen Region, loyal zur Monarchie und zum Thron.« Es sei außer Acht gelassen worden, dass die Revolution und deswegen auch ihre Märtyrer für die Rumänen wie auch für die restlichen Nationalitäten des Landes etwas völlig anderes bedeuteten. Der Autor meint, dass, während die Ungarn ihren antihabsburgischen Emotionen Ausdruck geben und jener Zeit gedenken könnten, die mit Ausnahme der Ungarn für die ganze 45 Unter anderem: Mihály Munkácsy, Károly Eötvös, Dániel Irányi, Miklós Bartha, Gusztáv Keleti, Alajos Stróbl. 46 Vgl. SZÜCS, György: Az 1848-49-es emlékművek és az aradi szabadságszobor [Die Denkmäler von 1848-49]. In: MERVA, Mária G. (Hg.): 48 kultusza: tanulmányok [Der 1848-Kult. Studien]. Gödöllő: Gödöllői Városi Múzeum 1999, pp. 99-118. 47 Der Verein der ehemaligen Soldaten. 48 Zum Beispiel im Leitartikel am 7.10.1890. 49 »Tambalaul de la Arad, adică festivitatea de dezvăluire a celor 13 martiri, a inghiţit si doi romăni. […] iart-i domnule ca noi nu-i putem.« In: Tribuna, 7.10.1890. <?page no="126"?> 126 Margit Feischmidt Monarchie ein trauriger Augenblick sei, und dass es umgekehrt den Rumänen verboten sei, jener Männer zu gedenken, die für ihre Freiheit und in der Verteidigung der Dynastie gekämpft hätten. 50 Als Beispiel wird hier der 15. Mai, der Tag der so genannten Großen Volksversammlung der Siebenbürger Rumänen in Blaj 1848 erwähnt, der im Kalender rot markiert sei, um nur nicht zu vergessen, an diesem Tag alle Gedenkfeier und Versammlungen der Rumänen zu behindern. 51 1919, kurz nach Einführung der rumänischen Verwaltung, noch bevor die neue Staatsgrenze offiziell gezogen war, wurde beschlossen, dass das Freiheitsdenkmal, gemeinsam mit der Kossuth-Statue aus dem Zentrum der Stadt weggeräumt werden sollte. Béla Barabás, pensionierter Obergespan, Abgeordneter im ungarischen, später im rumänischen Parlament, zeichnete in seinen Memoiren auf, dass der Präfekt noch im Oktober 1919 dem Bürgermeister brieflich mitgeteilt habe, die zwei Statuen (die der Märtyrer und die Kossuth-Statue) hätten in dem zu Rumänien gehörenden Arad nichts zu suchen. 52 Er machte dabei darauf aufmerksam, dass die Entfernung der Denkmäler mit größter Umsicht vorgenommen werden solle, um sie nicht zu beschädigen. Im Dokument, dessen Autor - nicht zu vergessen - der Repräsentant der rumänischen Regierung und nicht der Stadt ist, gibt es zwei Argumente für die Entfernung der Statuen: ein direktes, das sich auf das Gerücht bezieht, dass jemand entschlossen sei, die Denkmäler zu sprengen, und ein indirektes, das besagt, dass ›hier‹ jetzt Rumänien sei und die neue Nationalisierung des Raumes mit der Besetzung und Entnationalisierung alter symbolischer Orte anzufangen habe. 1921 wurden die Nebenfiguren der Kossuth-Statue heruntergestürzt. In den darauf folgenden Tagen wurden beide Statuen, um weiteren Schäden vorzubeugen, in einen Verschlag gebracht. 1923 beantragte eine Gruppe von Jugendlichen beim Bürgermeister, die Kossuth-Statue und das Freiheits- (oder Märtyrer) Denkmal so bald wie möglich zu entfernen zu lassen. Sie beriefen sich auf »historische, nationale und ästhetische Gründe« und bemerkten, dass die Arad besuchenden rumänischen Patrioten aus Regat berechtigterweise über ihre 50 »Desi ceeace concet ǎ ţenii nostrii maghiari au serbat si glorificat in anul acesta la Arad, in centrul unui ţinut curat românesc, pentru monarchie, pentru Tron, pentru celelate popoare din ţar ǎ şi indeosebi pentru noi românii nu inseamn ǎ şi nici nu poate insemna ceeace inseamn ǎ pentru maghiari, nou ǎ nici pe departe nu ne trecaea prin minte a conturba fie intr-un fel, fie intr’altul evlavia cu care s-au apropiat ei de momentul martirilor lor naţionali. […] Dar’ daca Maghiarii care nici azi nu-şi v ǎ d realizate ideiile şi principiile de la 1848/ 49 şi cu Ungaria tot fac parte din monarchia habsburgic ǎ şi sunt supusii aceluiasi tron, pe care inainte de asta cu 41 de ani voiau s ǎ -l r ǎ stoarne, pot s ǎ -si serbeze in toat ǎ tigna amintiriile acelori ani de trista memorie pentru intreaga imp ǎ r ǎ tie, de ce tocmai ei sunt aceia care vor s ǎ inn ǎ buşeasc ǎ buba-oara in poporul românesc orice sentiment de evlavie pentru barbaţii aceia care in acelasi timp s’au luptat şi ei şi au murit moarte de martiri pentru libertatea poporului şi intru ap ǎ rarea dinastinei.« In: Tribuna, 11.10.1890. 51 »De ce buna-oar ǎ , ziua de 3/ 15 Maiu in care s’a proclamat libertatea popurului român şi in care 40.000 de reprezentanţi ai poporului au jurat credinţ ǎ şi supunere tronului, e pus ǎ cu litere rosii in registrele solgabir ǎ ilor şi ale procurorilor regesti, drept o zi in care aceşti slugitori ai administratiunii şi al statului unguresc s ǎ fie cu b ǎ gare de seama si s ǎ opreasc ǎ ori-ce manisftatiune de pietate, ba s ǎ urmeasc ǎ chiar pe aceia, care s’ar cuteza m ǎ car a se ruga in locasul lui D-zeu pentru odihn ǎ sufletelor repoşatiilor din ani 1848-49? « In: Tribuna, 11.10.1890. (Übersetzung M. F.). 52 Vgl. BARABÁS, Béla: Emlékirataim [Memoiren]. Arad 1929. <?page no="127"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 127 Existenz empört seien. 53 Letztendlich wurden 1925 beide fachgerecht abgebaut, in eine Plache verpackt und in die Reitschule der Arader Burg gebracht. Warum dauerte diese Entfernung so lange? Erstens, weil die Verteidigung der Statuen in Arad nicht nur stark, sondern auch politisch effizient war. Der Abgeordnete Barabás, dessen Vater eine bedeutende Rolle bei der Errichtung der Märtyrer-Statue gespielt hatte und selbst als Politiker in Arad bekannt war, stand ständig in Kontakt mit den Repräsentanten der neuen Macht, dem rumänischen Bürgermeister und dem Präfekten. Er war in diesen sechs Jahren auch mehrmals in Budapest, um über die Chancen des Transports und der Wiederaufstellung der Statuen auf dem Territorium ›Restungarns‹ zu verhandeln. Vom Märtyrer-Denkmal dachte nämlich vor allem er, dass es nicht nur den Aradern gehöre, sondern der gesamten ungarischen Nation und deswegen die Repräsentanten der ungarischen Nation bzw. ihre Regierung über sein Schicksal entscheiden sollten. 54 Darüber hinaus richtete sich das Märtyrer-Denkmal nicht gegen andere Nationalitäten, meinte Barabás, sondern gegen die Habsburger Dynastie. »Dieses Märtyrerdenkmal ist ein Freiheitsdenkmal.« 55 Zweitens, weil in Siebenbürgen die Entfernung der meisten Denkmäler, welche die ungarische Staatlichkeit symbolisierten, nicht in einem spontanen antiungarischen Krawall geschah. Vor allem in Bezug auf öffentliche Statuen von höherem ästhetischem Wert gab es längere Verhandlungen zwischen den lokalen und den zentralen Mächten, manchmal unter Teilnahme der ungarischen Elite. In vielen Fällen kam es am Ende dennoch zur Entfernung, in anderen wiederum kamen Kompromisse zustande, wie zum Beispiel in Cluj/ Kolozsvár/ Klausenburg, wo das Matthias-Corvinus-Denkmal mit einer bedeutungsverengenden Aufschrift weiter existieren konnte. 56 53 Siehe: Ibid., p. 247 54 »Mert az aradi vértanuk-szobra nem az aradiaké, annál kevésbé nem Arad városáé. Ez a páratlanul szép műalkotás az egész magyar nemzeté és efelett csakis a magyar nemzet képviselete, kormánya rendelkezhetik […].« Ibid., p. 227. 55 »nem sért, nem bánt semmiféle nemzeti, faji vagy politikai érdekeket, még csak nem is ellentétes a román érzelmekkel.« (Ibid, p. 229) »Ez a vértanú szobor szabadság szobor! Ez a műalkotás nem román ellenes, hanem Habsburg dinasztia ellenes.« (Ibid, p. 231) Dieselbe Idee kehrt interessanterweise 75 Jahre später im Diskurs politischer Lieder rumänischer Ungarn in sehr ähnlichen Worten wieder. 56 Ein ähnliches Argument in den Begriffen seiner Zeit findet man bei Barabás: »Én nem ismerem a Romániához csatolt területeken maradt magyar történelmi emlékek, szobrok eltávolításának kíméletes vagy kíméletlen végráhajtását, de van egynéhány példám és bizonyítékom, amely Románia kultúrfokozatát kedvezőbb színben tünteti fel, mint a többi utódállamok felfogását. A marosvásárhelyi Kossuthés Bem-szobrok, bár elég sietve, de kíméletesen bontattak le és elraktározódtak. A segesvári Petőfi-szobornak, csak a bronzalakja lett leszedve és eltéve. […] Aki Kolozsváron megfordul, ott találja régi helyén, azon a szép főtéren, a katolikus nagytemplom oldala előtt Fadrusz János szobrászművésznek egy örökbecsű, hatalmas alkotását, a Mátyás király szobrot. […] A kultúrfelfogásnak megfelelő eljárásban részesültek az aradi tizenhárom vértanú, valamint Kossuth Lajos emlékszobra is. Nem tartom magamat hivatottnak arra, hogy a történtek után ma is vitatkozzam a szobrok eltávolításának ténye felett, mert - ismétlem - ez a kérdés nemcsak magyar szemüvegen keresztül, de román nemzeti gondolkodás s a román politikai közvélemény szempontjából is, ítélendő meg. A tény az, hogy a szobrok le vannak bontva s már több mint három és fél év óta úgy vannak elraktározva, hogy azok bármikor elszállíthatók s az újabban kijelölendő magyar területen elhelyezhetők és felállíthatók legyenek.« BARABÁS 1925, pp. 219-20. <?page no="128"?> 128 Margit Feischmidt Zwischen 1925 und 1990 tauchte mehrmals die Idee auf, das Freiheitsdenkmal in Arad wieder aufzubauen - genauer gesagt: Fast jedes Mal, wenn sich die politische Position der Rumänienungarn in Bukarest verbesserte, brachte jemand die Idee wieder aufs Tapet: 1948 kam die Anregung vom Ungarischen Volksbund (Magyar Népi Szövetség), der Vorwand war die Hundertjahrfeier der Revolution. 1955 entstand ein rumänisch-ungarisches Abkommen, dem entsprechend in Ungarn ein Denkmal zu Ehren der 1944 dort kämpfenden rumänischen Soldaten errichtet wurde, während auf der anderen Seite das Freiheitsdenkmal in Arad restauriert und wiederaufgestellt werden sollte. Diese Initiative wurde jedoch nach der ungarischen Revolution von 1956 abgelehnt. Die Initiatoren waren lokale ungarische Intellektuelle, während die Stadtverwaltung und Mitglieder der rumänischen Elite dagegen waren, welche die ursprüngliche Bedeutung der zentralen Frauenfigur - die ungarische Freiheit - und ihre antirumänischen Konnotationen nicht vergessen konnten. 1989 wollten die Arader UngarInnen das Denkmal bald nach dem Umsturz des Ceau ş escu Regimes sehen. Bald verlangte man seine »Befreiung« 57 . Der erste Bürgermeister unterstützte noch die Idee, aber er war nur kurze Zeit im Amt. Aus diesem Grund und wegen der eindeutigen Ablehnung der Idee von Seiten aller nachfolgenden Bürgermeister mussten die Arader Ungarn bis 1999 warten. Diesmal wurde die Sache aber auf der Ebene der großen Politik zur Sprache gebracht, die Akteure waren die rumänische und die ungarische Regierung und die zum Koalitionspartner gewordene Minderheitenpartei Demokratischer Bund der Rumänienungarn (Romániai Magyarok Demokrata Szövetsége). Trotz des Widerstandes und trotz einiger von den rumänischen nationalistischen Parteien organisierter Demonstrationen 58 wurde das Denkmal 1999 ins Gebäude des Minoritenordens transportiert und dort restauriert. Gemäß dem Abkommen zwischen den beiden Ministerpräsidenten sollte noch am selben 6. Oktober die Grundsteinlegung eines neuen »Parks der Versöhnung« in Arad stattfinden, wo später das Freiheitsdenkmal auch wiederaufgestellt werden sollte. Die lokale Verwaltung aber, die von diesen Verhandlungen ausgeschlossen war, hatte diesen Anlass verhindert 59 , und es schien, als würde sie von der Mehrheit der Arader unterstützt. Den Wendepunkt in der Diskussion über die öffentliche Neuerrichtung der Statue brachte der neue Bürgermeister, ein baptistischer Prediger, der 2002 zum ersten Mal in diesem Amt eine Festrede zum 6. Oktober hielt, in der er die Brüderlichkeit der Völker in Europa und innerhalb Rumäniens betonte. 60 Ei- 57 Über das Ritual der Einnahme öffentlicher Räume und Denkmäler und ihre Rolle im politischen Systemwechsel 1989 und 1990 siehe auch KOVÁCS, Éva: A terek és a szobrok emlékezete. Ettűd a magyar nemzetváltó mítoszokról [Die Erinnerung der Räume und der Statuen. Etüde über die Mythen des politischen Systemwechsels]. In: Regio 1 (2001), pp. 68-90. 58 Oft jedoch unterstützt von anderen Parteien sowohl von der rechten, als auch von der linken Seite des politischen Spektrums in Rumänien, unter dem Stichwort »eure Helden, unsere Mörder«. 59 Aus der online-Zeitung des Bürgermeisteramtes. http: / / www.virtualarad.net/ news/ 1999/ va_ n021099_ro.htm 60 »Exist ǎ trei considerenţe. Tr ǎ im impreun ǎ in Romania, tr ǎ im impreun ǎ în Europa, dar inainte de orice, suntem oameni. Suntem creştini şi trebuie s ǎ tr ǎ im impreun ǎ . Contaţi pe noi, vrem s ǎ cont ǎ m pe voi. <?page no="129"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 129 nige Tage später erschien in der Lokalzeitung Observatorul unter dem Titel »Die Übung der Normalität« die Nachricht, dass die Arader Magistrate die Neuerrichtung des Denkmals gebilligt hätten, was folgendermaßen kommentiert wurde: »Die Abstimmung der Ratsleute über die Neuerrichtung des Freiheitsdenkmals bedeutet einen sicheren Schritt in Richtung Europäisierung dieser Stadt.« 61 Das Denkmal wurde in dem neu errichteten »Park der Versöhnung« aufgestellt, 62 wo auch ein anderes Denkmal zu Ehren der rumänischen Revolution in Siebenbürgen 1848 aufgebaut wurde. 63 Beide wurden am 25. April 2004 in Gegenwart der Repräsentanten beider Regierungen eingeweiht. Der Präsident des Demokratischen Bundes der Rumänienungarn erklärte zum Arader Märtyrer- Denkmal: Es ist Zeit, historische Wahrheiten zu erkennen. Es soll akzeptiert werden, dass hier in Arad das Freiheitsdenkmal gleichzeitig einen rumänischen und einen ungarischen Wert darstellt. Wenn es keine ungarische Freiheit an sich und rumänische oder deutsche Freiheit an sich gibt, so muss das Freiheitsdenkmal das Denkmal unserer gemeinsamen Freiheit sein. 64 Das ist wieder eine Verortung staatlich unterstützter politischer Ideen, diesmal aber nicht ihrer jeweiligen Nationalismen, sondern gerade der Überwindung derselben, der Versöhnung zwischen Nachbarnnationen à la Europäische Union. Es ist bemerkenswert und interessant, dass die Absicht der lokalen ungarischen Gemeinde, »ihren« nationalen Gedächtnisort wieder in Besitz zu nehmen, nur in diesem transnationalen, europäischen Kontext geschehen konnte. Das bedeutet aber auch, dass das Denkmal eine Doppelbedeutung hat und das Verhältnis zwischen diesen zwei Bedeutungen nicht widerspruchsfrei ist: eine nationale, die bei den jährlichen Gedenkritualen am 6. Oktober mit ungarischen Fahnen und unter Teilnahme der Delegation der ungarischen Regierung vollzogen wird, und Aşa s ǎ ne ajute Dumnezeul.« In: Observator 7.10.2002, http: / / www.virtualarad.net/ news/ 2002/ va_ n071002_ro.htm. 61 »Pozitia aceast ǎ unitar ǎ intr-o problem ǎ considerat ǎ foarte delicat ǎ relev ǎ gradul nostru de civilizaţie, de toleranţa, de inţelegere şi de apreciere a adev ǎ ratelor valori. In realitate, votul de ieri a reprezentat un exerciţiu de normalitate, intro societate care incepe incet s ǎ revin ǎ .« In: Observator, 27.11.2002, http: / / www.virtualarad.net/ news/ 2002/ va_n271102_ro.htm. 62 Inzwischen gab es noch einige Versuche der nationalistischen Parteien, die Neuerrichtung zu verhindern. Am 14. April 2004 haben 39 Senatoren der Großrumänien Partei einen Antrag gestellt, in dem sie die Regierung aufgefordert haben, die Entscheidung über das Park der Versöhnung und das Freiheitsdenkmal zu widerrufen. Der Historiker Petre Turlea schrieb in seinem Buch über »die Denkmäler ungarischer Mörder in Rumänien« ein ganzes Kapitel über Arad: »Aşa cum constată o ţară intreagă coaliţia aflată la putere batjocoreşte in continuare spiritul public şi istoric a Romaniei. Este vorba despre amplasarea grupului statuar ›Hungaria‹ care nu e orice fel de statuie, ci este un omagiu adus celor 13 generali maghiari care in anii 1848-49 au trecut prin foc şi sabie 280 de sate Romanesti şi au ucis 40.000 de Romani nevinovaţi, intre care circa 100 de preoţi şi călugari ortodocşi.« TURLEA 2004, p. 40. 63 Das Denkmal in der Form einer Siegessäule (rum. arc de triumf) ist ein Werk von Ioan Bolborea. 64 »Itt az ideje, hogy ezeket a történelmi igazságokat mindenki felismerje, hiszen akkor rá kell jönnie majd mindenkinek, hogy itt Aradon például a Szabadság-szobor egyszerre magyar érték és közös érték, mert ha nincsen külön magyar szabadság és román vagy német szabadság, akkor a Szabadság-szobor is mindannyiunk közös szabadságának szobra kell hogy legyen.« MARKÓ, Béla <?page no="130"?> 130 Margit Feischmidt eine transnationale, die durch dieses Nebeneinander der historischen Mythen im lokalen Diskurs erscheint. Eine dritte Bedeutungsschicht bildet in diesem Zusammenhang die ungarische Minderheitenorganisation, die, seitdem sie sich mit der Eroberung des Denkmals große Verdienste erworben hat, das Freiheitsdenkmal zum politischen Symbol gemacht hat. 65 Illustration 3: Arader Freiheitsdenkmal als politisches Symbol (Foto: M. F.) 65 Das Bild des neu gestalteten Denkmals und die Losung »Wir haben es befreit« erschienen auf ihrem Wahlplakat 2004 (siehe Illustration 4). <?page no="131"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 131 Illustration 4: Auf dem Wahlplakat des Demokratischen Bundes der Rumänienungarn 2.2 Mátyás király versus Matei Corvin. Umdeutungen der Statue in Cluj/ Kolozsvár Der Schauplatz einer anderen Denkmaldebatte der letzten Zeit, die weitere Fragen hinsichtlich der Vorgeschichte der Verortung der Nation aufwirft, war Cluj/ Kolozsvár/ Klausenburg. Kurz nach der politischen Wende 1989 entstand dort ein »Krieg um die Denkmäler«. Es handelte sich hierbei um einen Symbolkonflikt, in dem einerseits neue Denkmäler errichtet wurden, andererseits eine politische Bestrebung auftauchte, die den alten Denkmälern neue Bedeutungen zuzuschreiben wünschte. Zur Zeit der ›Wende‹ in Osteuropa war es eine allgemeine Strategie, durch Denkmäler neue Identitätsformen und symbolische Räume zu schaffen und dadurch die symbolischen Machtstrukturen umzugestalten. 66 Das Denkmal von Matthias Corvinus, des mythischen ungarischen Königs aus dem 15. Jahrhundert, wurde zwischen 1896 und 1902 auf dem zentralen Platz der Stadt erbaut. Die Auftraggeber beabsichtigten die Errichtung eines nationalen Symbols, das aber zugleich auch Symbol der Stadt - wo der König geboren war - sein sollte und ein Gedächtnisort, der einem Vergleich mit jenen in der Hauptstadt standhielt. Das Ziel des Künstlers war das Schaffen eines nationalen 66 Zur tiefergehenden Analyse des »Matthias-Corvinus-Konfliktes« siehe FEISCHMIDT, Margit: Ethnizität als Konstruktion und Erfahrung. Symbolstreit und Alltagskultur im Siebenbürgischen Cluj. Münster, Hamburg, London: LIT-Verlag 2003. <?page no="132"?> 132 Margit Feischmidt Denkmals, einer Reiterstatue nach europäischem Muster. Über sein Matthias- Bild schrieb Fadrusz in einem Privatbrief: »Mit der Matthias-Statue in Kolozsvár möchte ich die Glanzzeit Ungarns darstellen, als die Ungarn eine gleichzeitig gefürchtete und bewunderte Nation unter den europäischen Völkern waren.« 67 Wenn die Arader Denkmalerrichtung die Ouvertüre der ungarischen Millenniumsfeier und der Verortungspraxis des ungarischen Nationalismus war, so bildete das Matthiasfest in Kolozsvár im Jahre 1902 dessen Abschluss. 68 Die Hauptrede des Einweihungsfestes wurde von dem damaligen ungarischen Ministerpräsidenten gehalten und der Einweihungsakt vom Vertreter des Kaisers vollführt. Die lokale Zeitung berichtete über die Teilnahme weiterer Repräsentanten der Regierung, beider Häuser des Parlaments, sowie über »eine große Ansammlung von Klausenburgern und Leuten aus der Siebenbürger Provinz auf den Straßen der Stadt«. 69 Die feierliche Einweihung des Matthiasdenkmals wurde als staatliche Zeremonie inszeniert und gleichzeitig auf lokaler Ebene als nationale Massenveranstaltung wahrgenommen. 67 Zit. n. MALONYAI, Dezső: A kolozsvári Mátyás-szobor [Das Kolozsvárer Matthiasdenkmal]. In: Művészet [Die Kunst] (1902), pp. 418-421, hier p. 419. 68 Für die Gestaltung eines Matthiaskultes war das monumentale »Gedenkbuch« desselben Autors, der die historische Monografie von Arad geschrieben hat, besonders wichtig: MÁRKI, Sándor: Mátyás király emlékkönyv. Kolozsvári szobrának leleplezése alkalmára [König Matthias Gedenkbuch. Anlässlich der Enthüllung seines Denkmals in Kolozsvár]. Kolozsvár 1902. 69 Ellenzék, 11.10.1902. Illustration 5: Klausenburger Matthias-Statue vor, während und nach der Konstruktion. Historische Postkarte <?page no="133"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 133 1902 erschien in der wissenschaftlichen Zeitschrift des Siebenbürgischen Museumsvereins Erdélyi Múzeum ein Artikel mit dem Titel »König Matthias und Klausenburg« (Mátyás király és Kolozsvár), welches alte und neue Argumente für die Errichtung des Matthiasdenkmals in Cluj anführte. Sein Autor war der Universitätsprofessor Lajos Szádeczky 70 , der einige Zeit Dekan an der Fakultät der Geisteswissenschaften und Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften war und begeistert für das Matthiasdenkmal kämpfte. Er war der Meinung, dass in »Kolozsvár«, der zweitgrößten Stadt Ungarns, ein Symbol des ungarischen Nationalstaates vorhanden sein sollte: Und vergessen wir nicht, dass die Statue sich auf dem Hauptplatz von Kolozsvár gegenüber dem siebenbürgischen Gebirge befindet, von dem ein schlüpfriges, kühles Lüftchen gegen die Ideen der ungarischen Nation bläst. Hier entfaltet die Statue eine erzieherische und politische Wirkung: der uralte ungarische Ruhm und die großartige Repräsentation der ungarischen Staatsidee werden hier wach gehalten. 71 Was die Metapher des »kühlen Lüftchens« andeutet, wird in einem Artikel der Lokalzeitung konkreter gesagt. Es handele sich hierbei um »die inneren Feinde, 70 Lajos Szédeczky (1859-1935), Historiker, Universitätsprofessor und Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. 71 Vgl. SZÁDECZKY, Lajos: Mátyás király és Kolozsvár [König Matthias und Kolozsvár]. Erdélyi Múzeum, 1902, pp. 412-417, hier p. 415. Illustration 6: Das Denkmal als Symbol der Stadt. Alte Postkarte aus der Zwischenkriegszeit, neu aufgelegt <?page no="134"?> 134 Margit Feischmidt die ihre Waffen gegen ihre eigene Heimat gekehrt haben«. 72 Damit wird Stellung gegen die rumänische Bevölkerung Siebenbürgens und die nationalen Bestrebungen ihrer Elite bezogen. Zu jener Zeit gab es in Cluj keine rumänische Zeitung, in anderen Städten Siebenbürgens wurde aber sowohl über das neue Denkmal als auch über das Enthüllungsfest berichtet. In der Hermanstädter Tribuna unterstrich der Journalist den nationalistischen Charakter der Matthiasfeier, der »in zwei Richtungen zugespitzt wird: im Hass gegen die Nationalitäten und im Hass gegen die Habsburger Dynastie«. 73 Im Diskurs über das Denkmal und dessen Ort trat das Thema der Zugehörigkeit der Städte Siebenbürgens, wie anderer Gebiete mit einem großen Bevölkerungsanteil anderer Ethnien, in den Vordergrund. Das monumentale Symbol der »mächtigsten Nation Mittel-Europas« wurde als Katalysator der Nationalisierung der multiethnischen Stadt und Region dargestellt. In der hauptstädtischen Öffentlichkeit erschien ein metaphorisches Bild von Cluj als »Grenzfestung des Ungarntums«. Damit ging die Vorstellung einher, dass die Nation an diesen Grenzen verteidigt werden müsse: »Siehe da, die starke Bastei des ungarischen nationalen Geistes, eine echte ungarische Stadt, die nicht von gestern auf heute entstanden ist, sondern die eine ruhmvolle Vergangenheit hat und die eine große Zukunft verspricht«, war in einer Budapester Zeitung am Tag der Enthüllung der Klausenburger Matthias-Statue zu lesen. 74 An anderer Stelle wurde behauptet, dass Orte und Ereignisse, wie Kolozsvár und das Matthiasfest, die ungarische Nation gegen den Kosmopolitismus und die »antinationale Agitationen« verteidigten, also die »Reinheit« der Nation bewahrten. 75 Der siebenbürgischen Stadt wurde so symbolisch die Funktion der Vereinigung der ungarischen Nation, die Bewahrung und Konservierung ihrer historischen Traditionen zugeschrieben. Aufgrund dieser Bedeutung war die Matthiasstatue nach dem Trianoner Friedenschluss und dem Anschluss Siebenbürgens an Rumänien oft umstritten. In den 1920er Jahren gab es offizielle Meinungen, das Denkmal gemeinsam mit anderen Symbolen der ungarischen Herrschaft zu entfernen. 1922 wurde aber nur eine kleinere Statue vor dem Denkmal aufgestellt, ein Abbild des in Rom stehenden Lupus Capitolium, das Symbol der Latinität, der Herkunftsmythos der neuen rumänischen Machthaber der Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand eine offizielle Umschreibung der Bedeutung der Reiterfigur statt, »Mátyás király - Matei Corvin«, wurde durch die lateinische Inskription »Matthias Rex« internationalisiert. Die symbolischen Zentren und nationalen Gedächtnisräume der Stadt traten nach 1989 in den Mittelpunkt der medialen Öffentlichkeit und wurden in nationalen Identitätsdiskursen thematisiert. Am 1. Dezember 1992, kurz nach der Einsetzung des neuen Bürgermeisters - der in seiner Po- 72 Ellenzék, 11.10.1902. 73 Tribuna, 3./ 16.10.1902. 74 Budapesti Hírlap, 13.10.1902. 75 Magyar Állam, 13.10.1902. <?page no="135"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 135 sition damals die wichtigste und populärste rumänische nationalistische Partei der Nationalen Einheit der Rumänen (Partidul Unităţii Naţionale a Româniilor) repräsentierte - wurde auf die Initiative des Stadtrates und mit großen Feierlichkeiten eine neue Inschrift am Matthiasdenkmal eingeweiht. Sie weist auf die rumänische Abstammung des ungarischen Königs und auf den ›Verrat‹ an seiner Nation hin. Die festliche Inschriftanbringung wurde von den neuen Machthabern als ein Akt der »Wiederherstellung« der lange Zeit unterdrückten »historischen Wahrheit« verstanden. Einige Tage später veranstaltete die politische Organisation der ungarischen Minderheit - der Demokratische Bund der Rumänienungarn -, welcher die Anbringung der neuen Inschrift als »kollektive Kränkung der Siebenbürgerungarn« empfand, eine Gegendemonstration, die als ein Ritual der symbolischen Wiedereroberung des Platzes und des als ungarisches Patrimonium verstandenen Objekts interpretiert werden kann. Die Diskussion über das Matthiasdenkmal kehrte zwei Jahre später noch einmal zurück. Das Bürgermeisteramt veranlasste, gemeinsam mit dem Historischen Museum Siebenbürgens, eine archäologische Untersuchung in der unmittelbaren Nähe des Matthias-Denkmals, mit dem Ziel, die römisch-rumänische Tradition der Stadt sichtbar zu machen. Die ungarische Partei sowie die katholische und reformierte Kirche als Opposition hegten die Vermutung, es sei eine Versetzung des Matthias-Denkmals geplant; als Antwort darauf fanden wiederum Demonstrationen statt, denen zum Trotz mit der archäologischen Ausgrabung begonnen wurde. Auf dem Hauptplatz der Stadt befand sich so jahrelang ein riesiges Loch, in dem die Historiker und ihre Hilfskräfte mit wechselnder Begeisterung suchten und gruben - und in dessen Tiefe sich immer wieder politische Meinungs- und Interessenunterschiede fanden, die als Katalysator ethnischer Konflikte benutzt werden konnten. Seitdem aber in Cluj ein zweiter politischer Systemwechsel stattgefunden hat - weil nach den Lokalwahlen 2004 die nationalistische Stadtführung durch einen demokratischen und ›Europa-orientierten‹ Bürgermeister und eine ebensolche Verwaltung abgelöst wurde -, sind ihre Denkmäler, wie im Allgemeinen, selten nationalisierte und nationalisierende, desto häufiger unbemerkte Objekte der urbanen Landschaft. 76 3 Konklusion Der ungarische Nationalismus der Jahrhundertwende, und speziell die nationale Denkmalerrichtung als Praxis des nation building hat eine besondere Art von ausgezeichneten Orten und im Zusammenhang damit eine besondere Art der 76 Mehr über die symbolische Kämpfe in Cluj, cf.: FEISCHMIDT, Margit: Symbolische Kämpfe der Nationalisierung. Die Auseinandersetzung um ein Denkmal im multiethnischen Ort Cluj. In: BINDER, Beate/ NIEDERMÜLLER, Peter/ KASCHUBA, Wolfgang (Hg.): Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Böhlau 2001, pp. 263-284; BRUBAKER, Rogers/ FEISCHMIDT, Margit/ FOX, Jon/ GRANCEA, Liana: Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transylvanian Town. Princeton: Princeton University Press 2007. <?page no="136"?> 136 Margit Feischmidt Kultur-Raum-Verknüpfungen hervorgebracht. Dies sind symbolische Orte, die in Grenzgebieten oder inmitten von heterogenen, multiethnischen Landschaften errichtet wurden, um dort als rituelle Zentren des ungarischen Nationalismus zu funktionieren. An diesen symbolischen Orten wurden bestimmte Narrative, nämlich die nationalen Gründungs- und Herkunftsmythen verankert. Verankerung bedeutet auch symbolische Besetzung, die Eingrenzung des Territoriums, das der Nationalstaat symbolisch verbinden und kontrollieren will - einschließlich, oder besonders einschließlich jener, die eine »problematische« multiethnische Bevölkerung haben. Die ungarischen nationalen Denkmäler stiften in diesen Gegenden und Gemeinden machtvolle Verortungen und Objektivationen einer speziellen kulturellen Logik der Repräsentation und Gemeinschaftsbildung. Die Ausschließlichkeit ist der allertiefste und langlebigste Einfluss dieser Logik in unserer posthabsburgischen Region, die sowohl in den symbolischen Konflikten lokaler ethnischer Eliten, als auch in den neusten Formen der Nationalismen immer wieder erkennbar ist. Folglich werden diese symbolischen Orte nach jedem nationalstaatlichen Regnumswechsel Zielpunkte neuer Macht- und Legitimationsbestrebungen. Was ich in diesem Beitrag beschrieben habe, sind drei exemplarische Beispiele für die symbolische Revanche des rumänischen Nationalismus an den in Siebenbürgen und den Grenzgebiete der Monarchie hinterlassenen ungarischen Denkmälern: 1.) Vernichtung (das war der Schicksal der Millenniumssäule), 2.) Versetzung (des Freiheitsdenkmals in Arad) und 3.) Umdeutung (mehrmals in Cluj, und in den letzten Zeit auch in Arad). Weil die Denkmäler die Erinnerung an Konflikte bergen, produzieren sie in solchen Momenten Erinnerungskonflikte. Den Konflikt, den ich weiter oben anhand der ungarisch-rumänischen Beispiele beschrieben habe, unterscheide ich deutlich von anderen Arten von Konflikten, vor allem von gewalttätigen interethnischen Konflikten. Es ist hier eher von einer Art symbolischem Konflikt die Rede, in dem es um die symbolische Macht geht, die Wirklichkeit zu klassifizieren und zu kategorisieren. Das symbolische Kapital, das einer ethnischen oder nationalen Kategorie, ihrer Kultur oder Geschichte zugeschrieben und von einer Elite vertreten wird, ist in den wichtigsten Identitätssymbolen verkörpert und steht im Mittelpunkt solcher Konflikte. Der Kampf um die Symbole ist ein Wettbewerb zwischen Eliten um dieses symbolische Kapital 77 . Wenn man über Konflikte des kulturellen Gedächtnisses in Siebenbürgen spricht, dann handelt es sich fast immer um Konflikte der erfundenen und instrumentalisierten Tradition oder um abstrakte Helden aus dem 15. oder 19. Jahrhundert. Es geht nicht um die lebendige, kommunikative Erinnerung an die gewaltsame Konflikte der vorangegangenen Generation, bei denen sich die Nachbarn verschiedener Ethnien gegenseitig ermordeten. Am Beispiel der interethnischen Konflikte in den multiethnischen Regionen des ehemaligen Jugoslavien, wo die Erinnerung an 77 Über symbolic competition zwischen ethnischen Minderheiten und einer dominierenden ethnischen Mehrheit siehe: HARRISON, Simon: Four Types of Symbolic Conflict. In: Journal of the Royal Anthropology Institute 1 (1994), pp. 255-272, hier p. 257. <?page no="137"?> Ungarische Nationaldenkmäler in multiethnischen Gebieten der Monarchie 137 den Massenmord nach fünfzig Jahren noch lebendig ist, zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu dem Konflikt in Siebenbürgen. Die symbolischen Konflikte produzieren durch die Inszenierung der Bedrohung trotzdem eine Zwangshomogenität innerhalb der jeweiligen als Nationen dargestellten Gruppen sowie auch starke Gemeinschaftsgefühle. Nach außen wird durch die Feindbilder, welche die Gegenwart und die Vergangenheit in eine visionäre Einheit verschmelzen, eine Trennung entlang der ethnischen Bruchlinie vollzogen. Die symbolischen Konflikte als Ereignisse, die immer wieder in den Mittelpunkt einer Öffentlichkeit gestellt werden, legitimieren die nationalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer multiethnischen Gesellschaft, wo Gemeinsamkeit und Differenz sonst gar nicht so eindeutig wären. Das Beispiel des Freiheitsdenkmals in Arad zeigt, dass neben zweifelsohne mächtigen Tendenzen der Kontinuität in nationaler Repräsentation und Vergangenheitsbewältigung, trotzdem neue Bestrebungen auftreten, die statt Ausschließlichkeit die interethnische Gemeinschaft bei der Traditionserfindung in den Mittelpunkt stellen. <?page no="139"?> PRÄSENZEN VON MIGRANTiNNEN <?page no="141"?> W LADIMIR F ISCHER (W IEN ) Von Einschusslöchern und Gesäßabdrücken Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 And my chutneys and kasaundies are, after all, connected to my nocturnal scribblings - by day amongst the pickle-vats, by night within these sheets. I spend my time at the great work of preserving. Memory, as well as fruit, is being saved from the corruption of the clocks. Salman Rushdie, Midnight’s Children (1981) Am 4. Oktober 1911 gelangte der Holzarbeiter Nikolaus Njeguš nach mehrtägiger Reise aus Sebenico, dem heutigen Šibenik, über Triest nach Wien. Dort fuhr er mit einem Einspänner in die Margaretenstraße 112, um einen Angestellten des Holzarbeiterverbandes, Josef Paulin, im dortigen Verbandslokal zu besuchen. Paulin besorgte zwei Eintrittskarten für die Eröffnung des Parlaments an der Ringstraße am folgenden Tag. Am 5. Oktober also besuchten Njeguš und Paulin als Zuschauer die besagte Eröffnungssitzung des Abgeordnetenhauses im Reichsrat (im heutigen Nationalratsgebäude). 1 Es war dies ein ›heißer Herbst‹ in Wien: Die jahrelange Teuerung vor allem von Wohnraum und Lebensmitteln trotz günstiger Wirtschaftslage hatte im Spätsommer 1911 in den Wiener Vorstädten zu Unruhen geführt. Sozialdemokratische Massenkundgebungen gerieten außer Kontrolle, und am 17. September kam es zu derart ausgedehnten Krawallen, dass die gesamte Innenstadt militärisch abgeriegelt wurde. Das Rathaus wurde mit Steinen attackiert, und als das Militär die Menge durch den Achten Wiener Gemeindebezirk hinausdrängte, gesellte sich ›der Mob‹ zu den Protestierenden und demolierte in Ottakring öffentliche Gebäude. 2 Als nun am 5. Oktober im Reichsrat der Abgeordnete Victor Adler in seiner Rede die strengen gerichtlichen Abstrafungen der anlässlich dieser »Ottakringer- Exzesse« Angeklagten besprach, zog Nikolaus Njeguš »auf der 2. Galerie plötzlich einen Revolver hervor und feuerte unter Hochrufen auf die Sozialdemokratie 4 Schüsse gegen den Justizminister Dr. von Hochenburger ab, die jedoch ihr Ziel verfehlten und niemanden verletzten. Der Versuch des Mannes, noch einen fünften Schuss abzugeben, gieng [sic] infolge Versagens der Patrone fehl« 3 . 1 Diese und die weitere Darstellung des Falls beruhen auf dem Gerichtsprotokoll aus dem Akt Wiener Stadt- und Landesarchiv. Landesgericht für Strafsachen A11, Fasz. 8138, Zahl 9032, 1911, SNr. 244, 1. 2 MADERTHANER, Wolfgang/ MUSNER, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Frankfurt am Main: Campus Verlag 1999, pp. 18-33. 3 Zitate aus Gerichtsprotokoll 1911, ibid. <?page no="142"?> 142 Wladimir Fischer Anderntags verwahrte sich die Sozialdemokratische Partei Österreichs in ihrem Zentralorgan, der Arbeiter-Zeitung, gegen den Vorwurf, zu dem Attentat aufgestachelt zu haben, mit dem Argument, der Revolverschütze hätte ihre Propaganda gar nicht verstehen können, weil er nicht Deutsch spreche, sei also unmöglich von der Österreichischen Sozialdemokratie aufgestachelt gewesen, 4 wie etwa die Die Neue Freie Presse insinuiert hatte. 5 Illustration 7: Einschusslöcher im Parlamentsgestühl. Beweisfotos mit Einschusskanalmarkierung aus den Prozessakten (Wiener Stadt- und Landesarchiv) Njeguš wurde nach einem spektakulären Prozess wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren schweren Kerkers verurteilt und in die Haftanstalt nach Stein an der Donau überstellt. Dort starb er »am 26. September 1915 um 8 Uhr abds. an allg. Tuberkulose« nach knapp drei Jahren Haft im Alter von 29 Jahren. 6 In den Prozessakten finden sich Fotografien der Einschusslöcher in dem Gestühl der Ministerbank (siehe Illustration ). 4 »Er ist ein Kroate, dessen Kenntnis der deutschen Sprache ungemein bescheiden ist, der nicht mehr Deutsch versteht, als gerade nötig, sich notdürftig verständigen zu können. Der Mann hat in Sebenico von jenen angeblichen hetzerischen Reden der Wiener Sozialdemokraten nicht eine vernommen, er hat keine Berichte über sie gelesen, in den Bannkreis dieser angeblich so gefahrvollen Agitation ist er überhaupt nicht getreten.« Eine Wahnsinnstat. In: Arbeiter-Zeitung. Morgenblatt, 6.10.1911, pp. 1-4, pp. 1f. 5 Leitartikel. Neue Freie Presse, 6.10.1911, pp. 1 und 6. 6 Mitteilung der K. k. Strafanstalts-Direktion Stein A. d. an das K. k. Landesgericht für Strafsachen vom 29.9.1915. Wiener Stadt- und Landesarchiv. Landesgericht für Strafsachen A11, Schachtel 319, Zahl 9032, 1911, II. Teil, IV. Band. <?page no="143"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 143 Drei Projektile wurden im Sitzungssaale des Abgeordnetenhauses vorgefunden; ein viertes Geschoss blieb in der Brustwand der Schriftführertribüne stecken. Spuren der abgefeuerten Projektile befinden sich an den Brustwänden der Ministerbank, der Schriftführer und Präsidententribüne. 7 Das sind sichtbare Spuren eines ›Subalternen‹ aus der Peripherie an einem der zentralsten Orte Wiens und der Monarchie. Wie der Schlagabtausch in den Tageszeitungen zeigt, hinterließ der »Tischlergehilfe aus Sebenico« 8 auch Spuren im österreichischen Diskurs. Szenenwechsel: Sigmund Freud erwähnt 1918 in seiner als »Wolfsmannstudie« bekannt gewordenen Abhandlung mit dem Titel Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, dass einer seiner Klienten als Kind mit seinem Glied spielend von seinem Kindermädchen, »der Nanja«, entdeckt, bestraft und dadurch »enttäuscht« wurde. Der Patient habe infolge der Unterdrückung der Onanie ein sadistisch-anales Sexualleben angenommen und das Kindermädchen gepeinigt, bis es in Tränen ausbrach. Der Patient, der so genannte Wolfsmann, zeigte in der Folge ein »entschiedenes Interesse für ›die arme Frau‹, so für das auf allen vieren kauernde und Wäsche waschende Bauernmädchen oder das den Boden scheuernde Kindermädchen«. 9 Das Gesäß einer Migrantin hinterließ damit seine Spuren in Freuds Schriften. Gilles Deleuze und Félix Guattari gingen in ihrem Anti-Ödipus so weit, von einer »Theorie der Kindermädchen und Hausangestellten im Denken Freuds« zu sprechen. Auch in Freuds Beschreibung seines eigenen ödipalen Komplexes spielte ein Dienstmädchen eine wichtige Rolle. Diese Frau beziehungsweise diese Frauen haben also einen bleibenden Eindruck in der Literatur der Psychoanalyse hinterlassen, zwar nicht im Zentrum eines hegemonialen Diskurses, wohl aber in einem Diskurs des Zentrums, der bis heute wichtig geblieben ist. Es gibt zwei Arten, wie Migrantinnen und Migranten in hegemonialen und zentralisierten Diskursen sichtbar werden: erstens als sich willentlich bemerkbar Machende, wie der Attentäter, oder zweitens als Objekte der Diskurse der Eliten - sei es der Textproduktion der Verwaltung oder der öffentlichen Kommunikation - wie das Dienstmädchen. Die erste Möglichkeit bleibt meist ElitenmigrantInnen vorbehalten. Beispiele wie die ten minutes of fame des bis dato unbekannten Attentäters Nikolaus Njeguš sind die Ausnahme. Die zweite Möglichkeit des Sichtbarwerdens wird zwar ebenfalls in größerem Maße den ElitenmigrantInnen zuteil beziehungsweise hinterlassen in der Regel marginalisierte und unterdrückte MigrantInnen bestenfalls dann Spuren, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Diese zweite Möglichkeit des Spurenhinterlassens ist aber die einzige, über die ein Historiker oder eine Historikerin Nicht-ElitenmigrantInnen 7 Gerichtsprotokoll 1911, ibid. 8 Leitartikel 1911, ibid. 9 Zitiert nach DELEUZE, Gilles/ GUATTARI, Félix: Anti-Ödipus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, p. 458. <?page no="144"?> 144 Wladimir Fischer überhaupt sichtbar werden lassen kann, so es nicht einen glücklichen Zufallsfund im Archiv oder auf einem der sprichwörtlichen Dachböden gibt. Um diese Gedanken zum Auftakt abzurunden sei das bewusste, vielleicht sogar öffentliche ›Managen‹ des Eigenen, der eigenen Differenz im hegemonialen Diskurs, 10 genannt, das für gewöhnlich ohne Revolverschüsse abging: Damit sind jene Eingriffe in den deutschsprachigen Diskurs der Hauptstadt gemeint, in welchen sich MigrantInnen als kollektive Subjekte darstellten, zumeist als ethnische oder religiöse Gruppen, und dabei versuchten auf ihre diskursive Repräsentation Einfluss zu nehmen. Wie weiter unten zu zeigen sein wird, handelte es sich dabei nicht nur um relativ flüchtige Formulierungen wie etwa publizistische Interventionen, sondern auch um architektonische Selbstrepräsentation im öffentlichen Raum. Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass auch MigrantInnen, die den Eliten angehörten, eine relativ schwache Stimme hatten. Denn was sie mit den Unsichtbaren und Stimmlosen gemein hatten, war, dass auch sie in fast jeder Position der Stadt am Rande standen. Auch wenn ein bukovinischer Bischof in seiner Diözese eine zentrale Stellung innehatte, so gehörte er als Abgeordneter im Wiener Reichsrat einer Randgruppe an, und auch ein begüterter kroatischer Adeliger oder General war in einer Wiener katholischen Kirchengemeinde, ohne weitere Netzwerke, nicht unbedingt eine zentrale Figur. Nur in abgeschlossenen ›Differenzräumen‹ wie vor allem den »akatholischen« Gemeinden waren, was MigrantInnen aus dem Südosten anbelangt, ›fremde‹ BesitzerInnen symbolischen und/ oder ökonomischen Kapitals automatisch zentral, also etwa in den zwei griechisch-orthodoxen Kirchen (Heilige Dreifaltigkeit und Heiliger Georg) und in der vornehmlich serbischen orthodox-orientalischen Kirche ›Heiliger Sava‹. Entscheidend für den vorliegenden Aufsatz ist es aber, zwischen MigrantInnen zu unterscheiden, die mit Differenz vornehmlich im Alltag umgehen mussten, also Differenz ›lebten‹, und jenen, die Differenz auch ›managten‹. Im Folgenden wird nach einer Begriffsbestimmung (etwa von Subaltern oder Zentrum/ Peripherie) diskutiert, wie migrantische Geschichte an konkreten Orten festgemacht werden kann und inwiefern es möglich ist, um 1900 von kollektiver migrantischer Subjektivität zu sprechen. Schließlich werden die Bedeutung von Nischen und die individuelle Handlungsfähigkeit erörtert. Am Ende steht eine historisch-anthropologische Betrachtung über Migration und Tod. Der Grund, weshalb ich mich mit der zweiten Möglichkeit, den ›Gesäßabdrücken‹, besonders intensiv beschäftigt habe, liegt in dem heuristischen Rahmen, in dem ich meine Forschungen über die MigrantInnen aus den südöstlichen Gebieten der Habsburger Monarchie nach Wien um 1900 betreibe. Diesen Rahmen könnte man als Streben nach einer Demokratisierung der Geschichte umschreiben. HistorikerInnen brauchen Quellen, sie sind auf die Überlieferung 10 Dass Hegemonie nach Antonio Gramsci die Fähigkeit voraussetzt, eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen zu definieren und durchzusetzen, nehme ich als allgemein bekannt an. Dementsprechend sind hegemoniale Personen/ Gruppen solche, die sich an der Zirkulation der entsprechenden hegemonialen Repräsentation beteiligen und über sie ihre Interessen durchsetzen. <?page no="145"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 145 angewiesen. Da jedoch überall auf der Welt Eliten versuchen, Überlieferung zu monopolisieren (ein Unterfangen, für das unter anderem die Historikerzunft ursprünglich gebildet worden war), muss eine Geschichte der Nichteliten mit anderen Quellen arbeiten. Das geschieht ungefähr seit den 1970er Jahren. Anstelle einer Staatsgeschichte und einer Geistesgeschichte, in deren Zentrum ein am Bewusstsein der Oberschichten und Bildungsschichten orientierter Kulturbegriff steht, gab es damals eine »Neuorientierung in Richtung einer alltägliche Lebenszusammenhänge thematisierenden Wissenschaft«; neuere Forschungen haben gefragt, »wie bestimmte Lebensbedingungen von den Betroffenen wahrgenommen, erlebt und gestaltet wurden«. 11 Wenn Oral-History-Interviews nicht möglich sind und autobiografische Nachlässe fehlen, sind die Quellen solcher »Geschichte von unten« nicht selten Dokumente der Apparate zur Kontrolle und Verwaltung der Unterschichten, also Akten der Polizei und Sozialverwaltung. Speziell in der Wiener Geschichte ist das Quellenproblem ein doppeltes: Erstens wurden - etwa durch die Inbrandsetzung des Wiener Justizpalastes mitsamt Archiv bei einer Arbeiterkundgebung am 15. Juli 1927 oder die Konfiskation der sozialistischen Archive durch die Austrofaschisten - viele wichtige Quellen vernichtet. Der Klassenkampf in Österreich hat sozusagen seine eigene Geschichte vernichtet beziehungsweise seine Quellen gefressen. Hinzu kommt zweitens, dass es anders als etwa in Paris, Berlin und London auch kaum eine vergleichbare bis heute im hegemonialen Diskurs präsente Tradition der Beschreibung der Unterschichten gibt. Die künstlerische Verarbeitung, welche die Verelendung dieser Großstädte bearbeiteten und die inzwischen zum Kanon der globalen Bildproduktion gehören, genannt seien nur Charles Dickens, Heinrich Zille, und Victor Hugo, haben ihre unpassenden ›Amtskollegen‹ in Sachen gegenwärtiger Metropolenrepräsentation in Franz Schubert und Arthur Schnitzler. 12 Obwohl Wien um die Jahrhundertwende international als Slumstadt galt, 13 hat sich dieses Bild nicht in den Texten niedergeschlagen, die auch heute noch Teil unserer vorherrschenden Gedächtnisprojektion sind. 14 Das elende und proletarische Wien erahnten Autoren wie Hugo von Hofmannsthal nur - außerhalb des Tempels der Kunst, wie Carl Schorske es formulierte 15 - und weil nur diese Autoren im hegemonialen Erinnerungsdiskurs zitiert werden, existiert es auch in 11 EHALT, Hubert Christian: Geschichte von unten. In: DERS. (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags. Wien, Graz e. a.: Böhlau 1984 (Kulturstudien 1), pp. 11-39, pp. 11, 13 und 22. 12 Es wäre freilich möglich, eine Parallele zwischen den Zeichnern des Elends in Wien und Paris zu ziehen, Henri de Toulouse-Lautrec und Egon Schiele, deren beider Porträts etwa von Prostituierten zu Ikonen einer nostalgischen Erinnerungspolitik geworden sind, aber immerhin diesen Aspekt der Stadtgeschichte im hegemonialen Diskurs der Gegenwart sichtbar werden lassen. 13 PIERI, Michael: Shining Light In Poverty’s Bleak Corner; Star’s Publisher Laid Open the Slums Of Toronto. Then, As Now, Children Were the Main Victims. In: Toronto Star, 29.10.2005, p. A. 27. 14 Zeitgenössische Literatur, die Elend und Prostition thematisierte, gab es allerdings sehr wohl, besonders aus dem naturalistischen Kreis. Vergl. etwa schon die Werke von Marie von Ebner-Eschenbach oder den erfolgreichen ›Prostitionsroman‹ Der heilige Skarabäus (1909) von Else Jerusalem. Ich danke Alexandra Millner für diese Hinweise. 15 SCHORSKE, Carl E.: Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture. New York: Vintage Books 1981, pp. 14 f. <?page no="146"?> 146 Wladimir Fischer der Gegenwart nur als Gespenst zwischen den Denkmälern des fin de siècle. Erst langsam tragen Publikationen und nicht zuletzt Ausstellungen dazu bei, dieses verklärte Wien-Bild zu revidieren. 16 Deshalb ähnelt meine Herangehensweise in Bezug auf MigrantInnen in Wien um 1900 eher einer archäologischen Spurensuche als einer sozialgeschichtlichen Studie: Nicht die Amphore kann ich finden, sondern deren Abdruck im komprimierten Unrat der Vergangenheit, in den meisten Fällen nur einzelne Scherben der Vase. Und schließlich ist das Leben viel komplexer als Keramikgefäße. Carlo Ginzburg hat in einem Aufsatz, dem diese Metapher entnommen ist, ein leidenschaftliches Plädoyer für den heuristischen Wert von ›Spuren‹ und ›Indizien‹ im Geiste der Kriminalistik und der Fährtenleser gehalten. 17 Somit sind die zwei Modi, wie nicht-hegemoniale MigrantInnen Wissen über ihre Vergangenheit hinterlassen, nicht nur meine einzige Möglichkeit, diese Geschichte zu erzählen. Es handelt sich auch um sehr heikle Quellen, was die Sache nicht eben erleichtert: Die Abdrücke, wenn man so will, sind schwach, und willentliche Hinterlassenschaften sind rar. Hinzu kommt die Frage des Einflusses der Überlieferung, der Umstände der Quellenproduktion, auf die Art des Wissens: Da fast alle Quellen aus einer hegemonialen Perspektive produziert wurden, ist die persönliche Eigenständigkeit der MigrantInnen, die uns in diesen Quellen begegnen, oft nur zu erahnen. Die Methode meiner Arbeit besteht darin, die übermächtigen hegemonialen Erinnerungsdiskurse über das Eigene (Wien, Österreich…) durch die Sichtbarmachung der ›Subalternen‹ in den Diskursen des Zentrums selbst zu dekonstruieren. Dabei ist klar, dass nicht gleich jedeR MigrantIn im Sinne Gayatri Chakravorty Spivaks subaltern war. 18 Per definitionem handelt es sich um jene, die keine Stimme im Diskurs hatten. Somit sind nicht einfach all jene als subaltern anzusehen, die nicht den hegemonialen Kulturformationen angehörten (wobei diese im Kontext der Zeit wiederum nicht einfach mit ethnischen Epitheta verbunden werden können). ›Die Deutschösterreicher‹ oder ›das Deutsche‹ mit Hegemonie oder Zentrum gleichzusetzen, würde eine Übersimplifizierung bedeuten. 19 Zu 16 In den letzten Jahren haben verstärkt Ausstellungen des Wien Museums zu einer Revision beigetragen. Siehe zum Beispiel SCHWARZ, Werner Michael (Hg.): Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York. Wien Museum Karlsplatz, 14. Juni bis 28. Oktober 2007. Wien: Brandstätter 2007; KOS, Wolfgang (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Wien Museum im Künstlerhaus. 25. Nov. 2004-28. März 2005. Wien: Czernin 2004. 17 Cf. GINZBURG, Carlo: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: DERS. (Hg.): Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1983, pp. 61-96. 18 Cf. SPIVAK, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? In: NELSON, Cary/ GROSSBERG, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation Of Culture. London: Macmillan 1988, pp. 271-313. 19 Der Nachweis, dass die Hegemonie in der späten Habsburger Monarchie überhaupt als ›deutsch‹ bezeichnet werden kann, steht nach wie vor aus, existierte doch noch immer parallel zu den neuen bürgerlichen und ethnonationalen Machtkategorien die adelig-imperiale Herrschaftsform, was dazu führte, dass im Herrenhaus zu Wien, sozusagen dem Oberhaus des Reichsrats, serbische Bischöfe und ungarische Großgrundbesitzer saßen, aber natürlich keine Vertreter oder gar Vertreterinnen der - mehrheitlich aus Böhmen und Niederösterreich immigrierten - Wiener Mehrheitsbevölke- <?page no="147"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 147 den Subalternen gezählt werden dürfen etwa auch jene in Wien, die Deutsch als Muttersprache hatten, sich aber nicht öffentlich artikulieren konnten, außer in so seltenen Irruptionen wie den erwähnten »Ottakringer Exzessen«. Andererseits scheint die Kategorie ›Subaltern‹ deplatziert im Falle etwa der Angehörigen von nicht-deutschen Eliten, auch wenn diese in peripheren Gebieten wie der Bukovina ansässig waren oder einer ethnischen Minderheit angehörten oder MigrantInnen waren. Der erwähnte orthodoxe Bischof im Wiener Reichsrat hatte gewiss nichts Subalternes, denn er verfügte über eine ›Stimme‹: im Herrenhaus, in der bukovinischen und damit auch in der überregionalen österreichisch-ungarischen Öffentlichkeit. Es kann aber durchaus angenommen werden, dass MigrantInnen nichtdeutschen kulturellen Hintergrunds weniger Stimme (voice) hatten (was ein wichtiger Unterschied ist zu ›keine Stimme‹). Dies deshalb, weil in den sich entwickelnden nationalen Diskursen über das ›deutsche Wien‹ ihre Präsenz nicht als selbstverständlich eingeschrieben war, während selbst die »gefährlichen Klassen«, so lange sie deutsch waren, als Selbstverständlichkeit erschienen. Diese Annahme ist nicht frei von Widersprüchlichkeit. Wie bereits erwähnt wurde, waren deutschnationale Diskurse in der späten Monarchie zwar in Österreich stark, aber nicht hegemonial (schon gar nicht in Böhmen und Mähren). Wie in mehreren Beiträgen in diesem Band deutlich wird, argumentierten deutsche Nationalisten damals, besonders was die Stellung des ›Deutschtums‹ in Ungarn, aber auch in Böhmen und Mähren anging, aus einer defensiven Position. 20 Wahrscheinlich wurde in der Literatur über die späte habsburger Monarchie oft zu viel auf die ethnische Kategorie fokussiert, weil diese den Staatszusammenhalt gefährdete, und zu wenig auf Gender und Klasse, obwohl diese gerade die Sprengkraft besaßen, um das ancien régime zu Fall zu bringen. Letztendlich hatten alle nicht-besitzenden Klassen und alle Frauen in der Monarchie ein Problem der Unterrepräsentation, was nicht nur im Zensuswahlrecht, sondern auch in ihrer schwachen oder nicht vorhandenen Stimme in den Diskursen deutlich wurde. 21 rung. Dementsprechend wahrscheinlich ist es, dass ein ethnisches Etikett auf dem hegemonialen Diskurs der Zeit (»der deutsche Diskurs«…) fehl am Platze wäre, wenn auch der Tatsache Rechnung getragen werden sollte, dass Deutsch und Ungarisch, aber auch Tschechisch, jene Sprachen waren, in denen der hegemoniale Diskurs geführt wurde und dass anderssprachige Diskurse wie etwa der rumänischsprachige oder der serbische, von der Textproduktion in den so genannten großen Sprachen (Deutsch, Ungarisch, Tschechisch) abhängig waren, und zwar sowohl in produktionsökonomischer als auch in diskursiver Hinsicht. FISCHER, Wladimir: Zwischen Anpassung und Widerstand. Stationen der Entstehung einer Gegen-Hegemonie im Diskurs der serbisch-vojvodinischen Eliten (1848-1905). In: Kakanien Revisited. http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ WFischer1. pdf (2002), pp. 1-35 (zuletzt eingesehen am 29.6.2009). 20 Siehe die Beiträge von Margit Feischmidt, Edit Király und Viktoriya Hryaban in diesem Band. 21 Cf. BADER-ZAAR, Birgitta: Bürgerrechte und Geschlecht. Zur Frage der politischen Gleichberechtigung von Frauen in Österreich, 1848-1918. In: GERHARD, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. München: Beck 1997, pp. 547ff; DIES.: Frauenbewegungen und Frauenwahlrecht. In: RUMP- LER, Helmut/ URBANITSCH, Peter (Hg.): Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation (=Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 8: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Teilbd. 1). Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 2006, pp. 1005-1027; HEINDL, Waltraud: Frauenbild und Frauenbildung in der Wiener Moderne. In: FI- <?page no="148"?> 148 Wladimir Fischer Auch das Begriffspaar Zentrum/ Peripherie bedarf einer Differenzierung. Wo Raum als bloßer Behälter betrachtet wird, erscheinen beide Begriffe als absolut: ein Zentrum mit es umgebenden Peripherien. Wird Raum aber etwa mit Henri Lefèbvre als sozial konstruiert aufgefasst, können scheinbare Paradoxien aufgelöst werden: so das Phänomen, dass geografisch zentral situierte Personen sozial peripheralisiert sein können, wie etwa Nikolaus Njeguš in dem Moment, als er sich im Reichsrat befand; oder dass nach Walter Christaller auch raumgeografisch zentrale Orte jeweils Peripherie haben, beziehungsweise dass - nicht nach Christaller - zentrale Orte der Peripherie nicht einfach Subzentren sind 22 . Vor allem aber sollte vermieden werden, Zentrum und Peripherie als Akteure in einer simplistischen dichotomisierten Unterdrückungsbeziehungsweise Widerstandsnarration einzusetzen, nach dem Muster ›das Zentrum beherrscht die Peripherie, aber es gibt auch in der Peripherie Zentren, die wiederum die Peripherie der Peripherie hegemonialisieren‹. Die Verwendung räumlicher Kategorien in den kritischen Kulturwissenschaften seit den 1970er Jahren hat ja gerade bezweckt, sich von binären Mustern zu lösen und der Komplexität der Realität Rechnung zu tragen. Dies bedeutet konkret, die verschiedenen Arten von Raum (nach Lefèbvre perçu, conçu und vecu, siehe die Ausführungen bei Fußnote 29) ebenso zu unterscheiden wie unterschiedliche Arten von Zentralität, wie eben die raumgeografische als Verkehrs- und Wirtschaftsort, die ökonomische (etwa nach Wallerstein), und die soziale, und dabei zu bedenken, dass es auch Konzepte wie Foucaults hétérotopies gibt, in denen Differenz verräumlicht wird, sei es auch zur Eindämmung derselben wie etwa auf Friedhöfen oder in Kasernen. 23 Hinzu kommt, dass auch in der Beschreibung kultureller Phänomene, insbesondere literarischer Texte, schon seit geraumer Zeit räumliche Kategorien verwendet werden, wie etwa in der Moskau-Tartuer semiotischen Schule in den 1960er Jahren, wo literarische Texte »topologisch« beschrieben wurden. Derartige sehr produktive Modelle überschneiden sich zum Teil mit den oben genannten sozialwissenschaftlichen und sozialhistorischen, besonders im Begriff espace conçu von Lefèbvre. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Konzepte nicht austauschbar sind, denn während es bei Lefèbvre bekanntlich noch die andern Raumarten gibt und sich hier Produktionsverhältnisse gegenseitig dialektisch bedingen, konzentriert sich die Lotman’sche Raumsemiotik auf den künstlerischen Raum, also auf eine zweite Metaebene. Die beiden Foucault’schen heterotopischen Beispiele (Friedhof und Kaserne) regen dazu an, sich zu vergegenwärtigen, dass alle zuvor genannten Definitions- SCHER, Lisa/ BRIX, Emil (Hg.): Die Frauen der Wiener Moderne. Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik/ Oldenbourg 1997, pp. 21-34. 22 Cf. CHRISTALLER, Walter: Die zentralen Orte in Süddeutschland. Jena: Fischer 1933. 23 LEFÈBVRE, Henri: La production de l’espace. Paris: Anthropos 4 2000; WALLERSTEIN, Immanuel: Das moderne Weltsystem. Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1986; FOUCAULT, Michel: Von anderen Räumen. In: DÜNNE, Jörg/ GÜNZEL, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, pp. 317-329. <?page no="149"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 149 arten zur gleichen Zeit auf ein und dieselbe räumliche Situation zutreffen können. So wird ein Friedhof zwar nicht das ökonomische Zentrum einer Stadt sein, aber trotz seiner räumlichen Peripherielage an einem zentralen Ort sowohl im ökonomischen als auch im verkehrsräumlichen Sinne (wie im Falle des Wiener Zentralfriedhofs nahe des Verschubbahnhofes); und er wird in den drei sozialen Raumkategorien ganz unterschiedliche Rollen spielen, wie auch wenn wir ihn als Heterotopie betrachten. Derart theoretisch gewappnet sollte es erstrebenswert sein, jeden Moment der Darstellung vergangener sozialer und kultureller Realität mit sozialräumlichen Koordinaten zu versehen. Dies führt zur letzten theoretisch-methodischen Betrachtung: Das Dekonstruieren hegemonialer Diskurse wie eben Erinnerungsdiskurse bedeutet nach Spivak die Sichtbarmachung des Subalternen im hegemonialen Diskurs. Dazu genügt es eben nicht, wie öfters angenommen wird, den hegemonialen Diskurs als solchen zu bezeichnen und zu beschreiben. Eine solche Vorgehensweise unterscheidet sich in nichts vom hegemonialen Diskurs selbst (denn aus der Logik dieses Diskurses im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert diskreditiert ihn sein hegemonialer Charakter nicht einmal - eher im Gegenteil, war doch ›Hegemonie‹ im ›Zeitalter des Imperialismus‹ nicht unbedingt ein negativ besetzter Begriff). 24 Es geht also darum, die Positionen zu rekonstruieren, welche MigrantInnen im Stadtraum zu bestimmten Zeitpunkten einnahmen, oder um in der Archäologiemetapher zu bleiben, sie aus der hegemonialen Überlieferung ›herauszupinseln‹. Dies ist eine bewusste Art der Erinnerungspolitik, eine dekonstruierende Identitätspolitik. Ich lege mein Erkenntnisinteresse deshalb so explizit dar, um nicht selbst in die Fallstricke der Geschichtsschreibung zu geraten, die ich kritisiere, da ich als Historiker einer Zunft angehöre, deren Profession es ist, Erinnerung zu produzieren, Wissen über die Vergangenheit zu schaffen. 1 A Street Level History Es ist unschwer zu erkennen, dass der vorliegende Aufsatz einen andauernden Forschungsprozess dokumentiert. Obwohl mein Interesse den Lebensverhältnissen südosteuropäischer MigrantInnen in Wien um 1900 gilt, besteht der wissenschaftliche Mehrwert dieser Forschungen nicht, wie vielleicht zu erwarten, in neuen Erkenntnissen über die allgemeine Sozialgeschichte der Migration. Mit Bruno Latour gesagt: es handelt sich nicht um eine Sozialgeschichte des Sozia- 24 Dazu mehr in FISCHER, Wladimir: Of Crescents and Essence. Why Migrants’ History Matters To the Question Of ›Central European Colonialism‹. In: GOW, Andrew Colin (Hg.): Hyphenated Histories: Articulations Of Central European Bildung and Slavic Studies In the Contemporary Academy. Leiden, Boston: Brill Publishers 2007, pp. 61-101. <?page no="150"?> 150 Wladimir Fischer len, sondern eine Sozialgeschichte von Verbindungen. 25 Der Mehrwert besteht in erster Linie in einer Lokalisierung und Nominalisierung dessen, was über die sozialräumlichen Verhältnisse im Wien des Fin de siècle bereits bekannt ist. Ich präsentiere daher keine neuen allgemeinen Erkenntnisse über die Wohnverhältnisse in Wien um 1900, aber ich kann bestimmte MigrantInnen in bestimmten Wohnungen verorten. Daraus ergibt sich ein differenzierteres Nachdenken über die Integration der südosteuropäischen MigrantInnen im urbanen sozio-ökonomischen Geflecht im Verhältnis zu den dominanten Lebensbedingungen. Was bedeutete es etwa, dass der Friseur Leopold Timarčević (in der Quelle: »Timarcevic«) 1914 im Ersten Wiener Gemeindebezirk am Fleischmarkt 1 gemeldet war? War er in einer ähnlichen Position wie der »türkische Großhändler« P. N. Dimtza? Oder hatte er sich wie der Friseur Orestes Unguran (Adlergasse 8, heute Franz-Josefs-Kai) in der Gegend angesiedelt, um als Balkanmigrant orthodoxer Konfession von der Nachbarschaft der beiden bereits erwähnten griechischorthodoxen Gemeinden, St. Georg und Heilige Dreifaltigkeit, geschäftlich zu profitieren? 26 Gehörten beide Friseure etwa zu jenen aromunischen Netzwerken, die vor dem Ersten Weltkrieg noch ›im Schoße‹ der griechischen Gemeinde lebten? Orestes wohl kaum, denn er stammte aus Velika Kikinda in der Vojvodina (damals Komitat Bács-Bodrog), war Sohn von Eltern mit serbischen Vornamen, Saveta und Pera Unguran, griechisch-orientalisch und mit Eufrosinija Sofie Kaludjerski verheiratet, die aus einer ebenfalls in Wien ansässigen Friseursfamilie stammte, welche wiederum durch Heirat mit den Friseuren der Familie Živanovi ć verbunden war. Geheiratet hatten sie 1891 in der griechisch-orientalischen Gemeinde (Sankt Georg), die orthodox-orientalische gab es damals noch nicht. In dieser ließen sie allerdings 1897 und 1900 ihre Kinder Marie, Alexander und Sofie taufen. Damals wohnten sie noch in der Großeschiffgasse (Floßgasse) im Zweiten Wiener Gemeindebezirk, im selben Haus wie die Familie der Mutter, wie gesagt ebenfalls eine Friseursfamilie. 27 Solche MigrantInnen und ihre Netzwerke sichtbar zu machen ist relativ einfach, denn als Geschäftsleute oder Handwerker hinterließen sie diverse Spuren in den Archiven. Weniger ist über Männer wie den Feldwebel Sima Vukov oder Frauen wie die Lehramtskandidatin Wilhelmine Kuhn aus Esseg/ Osijek zu erfahren, noch weniger über Paul Kovarovits, von dem wir nur die Adresse kennen; und von Stanislaus Hrdy wissen wir lediglich, dass er in der Infanteriekadettenschule in Breitensee ausgebildet wurde. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist, durch das Studium heterogener Quellen einzelne solcher ›stummer‹ MigrantInnen in 25 LATOUR, Bruno. Reassembling the Social. An Introduction To Actor-Network-Theory (Clarendon Lectures In Management Studies). Oxford; New York: Oxford University Press 2005. 26 LENOBEL, Josef (Hg.): Lenobel’s Adreßbuch der Häuser, Hausbesitzer und Hausbewohner von Wien. Nach Bezirken, Straßen und Häusern geordnet. I. Bezirk. Wien: Verlagsbuchhandlung Josef Lenobel 1914. 27 Matriken-Zweitschriften der Kirche des Hl. Sava. Geburts- und Taufmatriken. WStLA - Wiener Stadt- und Landesarchiv. Zahl 3 und 9/ 1897, 7/ 1898, 10/ 1899 und 15/ 1900, sowie 6/ 1901. <?page no="151"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 151 ihrer Lebenswelt sichtbar zu machen. Vorläufige Ergebnisse habe ich in den vorliegenden Aufsatz eingewoben. Bisherige Geschichten der südosteuropäischen MigrantInnen in Wien sind quasi von einer angenommenen a priori existenten nationalen Gemeinschaft (einer serbischen, kroatischen etc.) ausgegangen und haben dann Beispiele gezeigt, in denen sich diese in Wien manifestierten. 28 Ich gehe umgekehrt von einzelnen Individuen und deren Verbindungen aus, von ihrem Leben in Bezug auf Beruf, (Ehe-)Partnerschaften, Kindern, Wohnen, Vermögensverhältnisse, Freundschaften, Krankheiten und Tod, um dann, in Anlehnung an Michel de Certeau und Bruno Latour, aus dieser ›Straßenperspektive‹ nachzuvollziehen, wie Personen sich in Netzwerke einbanden und schließlich in Organisationen eingebunden waren und diese betrieben. 29 Es ist ein Weg, auf dem sowohl der espace vécu als auch der espace perçu beschrieben werden, in dem sich die migrantischen Personen bewegten und an dessen »Produktion« sie mitunter beteiligt waren. Es geht also sowohl um räumliche Praktiken als auch um den Raum der Vorstellung. 30 Dieser Weg geht freilich zunächst von den ›Subalternen‹ aus und führt dann in Richtung des hegemonialen Diskurses. Diese Vorgehensweise wirft viele Fragen auf, die vor allem die Bedeutung der Überschneidung kontingenter Kategorien wie Klasse, Ethnos (›Rasse‹) und Geschlecht betreffen, wie sie sich in den Lebenswelten von MigrantInnen auf besondere Weise überlagerten und stellenweise gegenseitig amplifizierten, und welche Rolle sie in der politischen Subjektwerdung von MigrantInnen spielten. 31 Diese Fragen werde ich im Folgenden auf vier Leitgedanken meiner Forschung beziehen: 1. die Verortung im sozialen Raum und dessen symbolische Funktion am Beispiel stärker und weniger reglementierter Räume, 2. die Rolle von Netzwerken und Organisationen bei der Integration in den sozialen Raum und die Bedeutung einer anthropologischen Geschichtsbeschreibung in einem transnationalen beziehungsweise transregionalen Setting, wie es das migrantische Leben in der österreichisch-ungarischen Metropole Wien darstellte, 3. die Einzigartigkeit historischer Individuen und ihre 28 Zu diesen Geschichtsschreibungen cf. FISCHER, Wladimir: Wege zu einer Geschichte von MigrantInnen aus dem Südosten in Wien um 1900. In: Pro Civitate Austriae, NF 10/ Themenschwerpunkt »Migration« (2005) pp. 3-22; DERS: An Innovative Historiographic Strategy. Representing Migrants From Southeastern Europe in Vienna. In: KÖNIG, Mareike/ OHLIGER, Rainer (Hg.): Enlarging European Memory: Migration Movements In Historical Perspective. Stuttgart: Thorbecke Verlag 2006, pp. 155-162. In diese Darstellungen hatte ich die Arbeit von Wolfgang Rohrbach noch nicht eingebunden, der im Gegensatz zu den anderen Autoren einen überzeugenden wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansatz verfolgt. ROHRBACH, Wolfgang: Na tragu Srba u Beču. Beograd: Matica Iseljenika Srbije 2005. In deutscher Sprache auf: www.jedinstvo.at/ Deutsch/ Serben%20in%20Wien%20-%20 Prof.%20Dr.%20Rohrbach.doc 29 CERTEAU, Michel de: L’Invention du quotidien. 1. Arts de faire. [Paris]: Gallimard 1990 (Collection Folio/ essais146, 238); LATOUR 2005. 30 LEFÈBVRE 2000, pp. 49 f. 31 Ernesto Laclau und Lilian Zac beschreiben grundsätzliche Fragen der Konstitution von politischen Subjekten in: LACLAU, Ernesto/ ZAC, Lilian: Minding the Gap: The Subject Of Politics. In: LACLAU, Ernesto (Hg.): The Making Of Political Identities. London, New York: 1994 pp. 11-39. <?page no="152"?> 152 Wladimir Fischer Handlungsmöglichkeiten, und 4. die Bedeutung der kulturellen Repräsentation am Beispiel von Fragen der Leichenbestattung. 2 Von guten und weniger guten Adressen Wenn es darum geht, MigrantInnen, marginalisierte zumal, sichtbar zu machen, bedeutet dies auch, ihre körperliche Anwesenheit an konkreten Orten herauszuarbeiten, mit anderen Worten, sie lokalisierbar zu machen: Menschen wandern, Orte bleiben. Das soll nicht nur bedeuten, dass Personen auf die räumlichen Verhältnisse bezogen werden können, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit herrschten, und damit in Beziehung zur sozialräumlichen Struktur gesetzt werden können (was nicht immer einfach, und manchmal unmöglich, aber dennoch eine Strategie ist, die bei beharrlicher Recherche andere Ergebnisse bringen kann, als bisher vorhanden waren): die Beharrung des Lokalen ist auch eine Tatsache, die sich gegen traditionelle Modelle der Modernisierung ›sträubt‹, gleichzeitig wird das Lokale beständig neu ausformuliert, um bestehen zu können. 32 Lokalisierung ist freilich darüber hinaus eine heuristische Strategie. Das Erfahrbar- und Sichtbarmachen an Orten, die auch heute noch genutzt werden, ist eine typische Vorgehensweise aus der Tradition der Geschichte von Unten, des ›dig where you stand‹ und der Geschichtswerkstätten der 1980er Jahre. 33 Es ist eine Strategie, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren als Gegenwartspolitik von den ›Neuen Sozialen Bewegungen‹ entwickelt und angewandt wurde, von FeministInnen und besonders erfolgreich von der Lesben- und Schwulenbewegung. Bis heute von Bedeutung sind die jährlichen Christopher-Street-Day-Paraden, wie die ›Regenbogenparade‹ in Wien, welche die Anwesenheit Homosexueller in der urbanen Gesellschaft zum kaum mehr negierbaren öffentlichen Fakt gemacht hat. Um 2000 herum haben auch MigrantInnen-Organisationen verstärkt zum Mittel des Sichtbarmachens jenseits von Demonstrationen und Graffitis gegriffen. 34 Ungefähr um dieselbe Zeit haben diese Bewegungen auch die historische Überlieferung als ein relevantes Betätigungsfeld entdeckt. 35 Davon legen zwei erfolgreiche Ausstellungsprojekte in Wien beeindruckendes Zeugnis 32 APPADURAI, Arjun: Modernity At Large. Cultural Dimensions Of Globalization. Minneapolis, Minnesota: University of Minnesota Press 1996 (Public worlds 1), p. 179. 33 Cf. EHALT 1984. 34 Siehe auch das Manifest des anti-identitätspolitischen Zusammenschlusses ›Kanak Attak‹ in Deutschland: http: / / www.kanak-attak.de/ ka/ down/ pdf/ manifest_d.pdf (zuletzt eingesehen am 29.6.2009). In Österreich hat die Gruppe ›Kanak Attak‹ das ›Ottakringer Manifest‹ mit ähnlicher Ausrichtung veröffentlicht. Siehe dazu das ID-Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte: http: / / www2.iisg.nl/ id/ Systematik.asp? cat=3&id=3567 (zuletzt eingesehen am 29.6.2009). 35 BÜRO FÜR UNGEWÖHNLICHE MASSNAHMEN (Hg.): Historisierung als Strategie. Positionen, Macht, Kritik. Wien: 2004. <?page no="153"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 153 ab, die sich mit den ArbeitsmigrantInnen seit den 1960er Jahren beziehungsweise mit Schwulen und Lesben in Wien seit dem 19. Jahrhundert befassten. 36 2.1 »Ein Rauschen wie von herabgelassenen Kleidern« Das Lokalisieren unsichtbar Gemachter ist naturgemäß ein schwieriges Unterfangen. Um den ›Zufall der Überlieferung‹ etwas zu bändigen, erscheint es bei der Erforschung der MigrantInnen aus dem Südosten in Wien geraten, besonders auch disziplinierende Räume in den Blick zu nehmen, da in diesen die körperliche Anwesenheit von Menschen auf Grund des Kontrollcharakters der Institutionen besonders gut überliefert zu sein pflegt, wie Michel Foucault so anschaulich dargestellt hat. 37 Wider Erwarten waren es nicht die Wiener Gefängnisse, die den ersten anschaulichen Fund lieferten, sondern die Militärschulen, in denen Offiziersnachwuchs ausgebildet wurde. An Orten wie der bereits erwähnten Infanteriekadettenschule in der Infanteriekaserne im Stadtteil Breitensee 38 wurden die Körper junger Männer diszipliniert, ihre Gesundheit überwacht und ihr sexuelles Begehren reglementiert. Auch außerhalb der Kaserne blieben die ›Zöglinge‹ dem Kasernenraum verbunden, da sie durch die Uniform, die sie am Leib trugen, als Teil des höheren Militärapparates erkennbar waren. Übertraten sie die Reglements, wurden besonders die körperlichen Beweise ihrer Verfehlung registriert: Die folgenden Beispiele umfassen etwa die Kleidung am Leib, von Syphiliserregern verursachtes Fieber und Hautausschlag, die zu starke Annäherung an andersgeschlechtliche Körper oder die gewaltsame an Männer. Im Fall des Zöglings Marius Margetich, der 1914 unehrenhaft aus der Infanteriekadettenschule entlassen wurde, handelte es sich um einen ganzen Komplex von Verstößen verschiedener Personen. Angefangen hatte es mit einer Schlägerei auf der Mannschaftsstube, bei der ein Bajonett zum Einsatz gekommen war und an der auch Margetich beteiligt war. Dann wurde bei seinem Kameraden Siegfried Krakauer auf der Krankenstation (»Marodenzimmer«) Syphilis festgestellt. Im Zuge der Untersuchungen wurden Beziehungen Krakauers zu minderjährigen Mädchen aus der Ottakringer Vorstadt nachgewiesen. Dort habe er sich nicht nur mit »Plattenbrüdern«, also Angehörigen krimineller Banden, abgegeben, sondern sich im ›Reich der Platte‹ auch noch zur Mittagszeit in Uniform gezeigt, wodurch er von jedermann gesehen werden konnte. 36 GÜRSES, Hakan/ KOGOJ, Cornelia/ MATTL, Sylvia (Hg.): Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration. Wien: Mandelbaum 2004; BRUNNER, Andreas/ HOFMANN, Johann: Geheimsache: Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts anlässlich der Ausstellung, 26.10.2005 bis 8.1.2006, Neustifthalle, Wien. Eine Ausstellung von Ecce Homo. Wien: Löcker 2005. 37 Cf. FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (erstmals auf Französisch 1975). 38 Militär-Adreßbuch für Wien und Umgebung. 2 Bde., Bd. 2,. Wien: K. K. Hofu. Staatsdr. 1914, p. 266. <?page no="154"?> 154 Wladimir Fischer Dem Zögling Margetich wiederum war das Schulkommando durch Liebesbriefe eines unbekannten Mädchens an ihn auf die Schliche gekommen. Dieses Mädchen war »unehelich« und ihre Briefe in »ungelenker Handschrift an ihn adressiert«, zwei klassenpolitisch relevante Umstände, die dem zu Gericht sitzenden Lehrerkollegium nicht vorenthalten wurden. 39 Die ultimative Provokation stellt aber das Eindringen des Weiblichen in den Raum der männlichen Disziplin dar: Der Schulinspektionsunteroffizier, der Margetich in der Kegelbahn betreten hatte, machte hierüber folgende Angaben: ›Als ich am 15. d. M. Schulinspektionsdienst versah visitierte ich etwa von 4h15’ nachm. an, wiederholt den Schulpark. Hiebei fielen mir zwei Mädchen auf die mit Zögling Margetich promenierten und anscheinend immer einsame Stellen des Parkes, z. B. hinter der Kapselschießbahn, aufsuchten. Gegen 5H15’ nachm., nach Einbruch der Dunkelheit, ging ich den Park nochmals ab, da ich bei der Torinspektion erfahren hatte, daß die zwei Mädchen die Schule noch nicht verlassen hatten. Da ich sie im ganzen Parke nicht vorfand, ging ich zur Kegelbahn und öffnete rasch deren Türe. Unwillkürlich schloß sich beim Eintritt hinter mir die Türe halb zu. Da ich sah, daß es im inneren Raume zu dunkel war, öffnete ich rasch die Türe wieder vollends und hörte dabei ein Rauschen wie von herabgelassenen Kleidern. Auf der Bank rechts von der Türe bemerkte ich 3 Gestalten sitzend, ein Mädchen knapp bei Margetich, das zweite etwas abseits sitzend. Auf meine Aufforderung die Kegelbahn zu verlaßen [sic] - erhebt sich eines der Mädchen und geht durch den Raum], um zu ihrem gegenüber auf einem Rechen hängenden Mantel zu gelangen. Hiebei bemerkte ich, daß sie sich die Bluse über der Brust zuknöpfte. Die Mädchen verließen sofort die Anstalt. Zögling Margetich gab auf mein Befragen an [sic] die Mädchen seien seine Cousinen und hießen ›Carla‹ und ›Anieta‹. Zögling Margetich mit Zugsführer Perzina konfrontiert gibt an von dem Rauschen der Kleider nichts zu wissen, was Zugsführer Perzina jedoch deutlich gehört haben will. Margetich gab auch an, des Mädchens Bluse sei rückwärts zum Knöpfen gewesen. Zugsführer Perzina jedoch gibt an, deutlich gesehen zu haben, daß sie an ihrer Bluse in der Kragengegend herumnestelte. Margetich will noch, nur gesprächsweise [sic] gesagt haben, die Mädchen könnten auch seine Cousinen sein, was Zugsführer Perzina als möglich bezeichnet. Die Namen Anieta und Carla will Margetich nicht genannt haben, während der Unteroffizier angibt, sie deutlich gehört und sich dieselben sofort im Wachzimmer notiert zu haben. 40 Schulkommandant Hauptmann Rudolf Pfeiffer von Tuberg verhängt die unehrenhafte Entlassung über Marius Margetich ob seines »unmoralische[n] und dreiste[n] Vorgehen[s]«, letztlich nur auf Grund des Berichts über die akustische Wahrnehmung eines »Rauschens wie von herabgelassenen Kleidern« 41 . 39 ÖStA - Österreichisches Staatsarchiv. Kriegsarchiv. Militärschulen. Infanteriekadettenschule. 1914. Strafprotokollauszüge 1914. 40 Ibid. 41 Ibid. <?page no="155"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 155 2.2 »…und man siehet die im Lichte…« Beengte Raumverhältnisse waren ein Problem, das gerade in Wien um die Jahrhundertwende die Mehrheit der Bevölkerung betraf. Die meisten MieterInnen lebten in Kleinwohnungen von zwei oder drei Zimmern, die überdurchschnittlich teuer waren. Dadurch kam es zu einer massiven Überbelegung. Durchschnittlich wohnten im Jahr 1900 in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung 1,57 Personen pro »Bestandteil«, das schließt die Küche mit ein. In den kleineren Wohnungen war das Verhältnis noch schlechter; in den größeren war nicht nur die Raumbelegung besser, sondern auch der Quadratmeterpreis günstiger. 42 Insofern ist das Zinshaus in der Adamsgasse 9 im Dritten Wiener Gemeindebezirk eines der schlechteren (siehe Illustration 8) in diesem Bezirk, der in Bezug auf Mieten, Wohnungsgrößen, Wohndichte und Sterblichkeit eine Mittelstellung einnahm: Um 1900 entstanden hier viele neue Häuser, weshalb sich manches statistisch gesehen veränderte. 43 Hier lebten um 1897 die »Kleidermacherin« Anna Maria Rosenberg (geboren 1877) aus Pola/ Pula in Istrien mit ihren beiden Brüdern, dem »Buchbindergehilfen« Franz Carl (geb. 1875) und dem »Comptoir- Praktikanten« Rudolf Wilhelm (geb. 1879), in einer Wohnung, also mit einer im Vergleich zum Schnitt gesehen nicht ganz so hohen Belegung. 44 Das Wohnen auf solch trotz allem beengtem Raum bedeutete nicht nur einen Mangel an persönlichem Freiraum, sondern Einschränkungen in vielerlei anderer Hinsicht, die ganz grundlegend bei der Lebenserwartung anfing. So stand in Wien der Anteil an Tuberkulosetoten noch um die Jahrhundertwende in linearem Verhältnis zur Besiedelungsdichte der Wiener Stadtteile. 45 Der Dritte Wiener Gemeindebezirk war wie alle inneren Bezirke dicht besiedelt. Hier betrug die Tuberkulosesterblichkeit noch 1891 zwischen 4,1 und 6 Prozent - im ›bürgerlicheren‹ Vierten und Fünften Wiener Gemeindebezirk war sie niedriger. 1900 hatten sich diese drei Bezirke zwischen 2,1 und 4 Prozent angeglichen. Obwohl (oder weil? ) die drei Geschwister nicht zum klassischen Proletariat gehörten, sondern eher dem unteren Mittelstand zuzurechnen waren, da die Männer Berufe als Angestellte beziehungsweise in einer besser situierten Zunft anstrebten, lebten sie in diesem Kontext, am ›schlechteren‹ Ende eines dynamischen mittleren Bezirks. Es bleibt 42 JOHN, Michael: Hausherrenmacht und Mieterelend. Wohnverhältnisse und Wohnerfahrung der Unterschichten in Wien 1890-1923. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1982 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 14), pp. 3-9. Weitere Aspekte, wie etwa die Diskursivierung des Massenwohnens und strukturelle Fragen behandeln HÖSL, Wolfgang/ PIRHOFER, Gottfried: Wohnen in Wien. 1848-1938. Studien zur Konstitution des Massenwohnens. Wien: Deuticke 1988 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 19). 43 Historischer Atlas von Wien. Blätter 2.4.1 (2002), 2.4.5/ 1 (1987), 3.6.1 (1990), 3.7.1. (1984). 44 Wiener Stadt- und Landesarchiv. Konskriptionsamt III. Bezirk. 1887. Pass- und Heimatscheinprotokolle 1892-1899. HSch. ROSENBERG. Zahl 181. Signatur B 73/ 1. 22.04.1897, p. 8. Der Dritte Wiener Gemeindebezirk hatte 1910 einen Anteil an Arbeitern und Taglöhnern von 20-30 %, im klassischen ArbeiterInnenbezirk Favoriten lag dieser darüber. JOHN 1982, p. 10. 45 WEIGL, Andreas: Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien. Wien: Pichler 2000 (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 1), p. 248. <?page no="156"?> 156 Wladimir Fischer weiteren Forschungen vorbehalten, ihre Wohnsituation detaillierter zu schildern, sie im Kontext anderer BewohnerInnen und Wohnverhältnisse zu zeigen, und herauszufinden, ob dies nur eine Etappe während ihrer Lehrzeit war. Immerhin war der Vater Postbeamter und hatte ein Heimatrecht in Wien, das sich auf die Kinder vererbte. Illustration 8: Der Eingang zu dem Haus, in dem Anna Maria Rosenberg mit ihren Brüdern wohnte (Foto: Autor) <?page no="157"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 157 Festzuhalten ist, dass Klassenunterschiede, wie sie die gesamte Wiener Bevölkerung betrafen, auch bei MigrantInnen aus dem Südosten nachvollziehbar sind. So sind Angehörige der Familie Ostoji ć , die ihr Vermögen mit »Borstenviehhandel« und der Herstellung von Papiertüten erwirtschaftete, nicht nur unter den erfolgreichen Abgängern der Infanteriekadettenschule zu finden, sondern auch unter den Wiener Hausbesitzern. 46 Michael Ostoic (die Schreibweise folgt der Quelle) etwa war Eigentümer eines vierstöckigen Hauses in der Darwingasse im Dritten Bezirk, mit 48 Wohnungen und einer Jahreszinseinnahme von 18.471 Kronen (das wären heute ca. 69.310 €). 47 Natürlich residierte die Familie im relativ ›gesunden‹ Siebzehnten Wiener Gemeindebezirk in der Hernalser Hauptstraße. Frauen aus den südöstlichen Provinzen der Habsburger Monarchie finden wir hingegen sehr selten in den Listen der HausbesitzerInnen. Charlotte von Dessovic ist da eine Ausnahme, und sie besaß die Bartensteingasse 4 auch nur gemeinsam mit ihrem Mann Cornelie. 48 Hier zeigt sich ein Unterschied zu griechischen (beziehungsweise aromunischen) MigrantInnen der oberen Klassen, unter denen wesentlich mehr Hausbesitzerinnen zu finden sind, allen voran die Frauen der prominenten aromunischen Familie Dumba. Anna Dumba besaß die Löwengasse 2 a und b, Helene die Beatrixgasse 6, und Irene das Haus am Heumarkt 7. Anna nahm mit diesen Häusern jährlich umgerechnet 90.487 € und 61.621 € Zins ein, Helene 78.703 € und Irene sage und schreibe 489.464 €, denn es handelte sich um ein prächtiges Haus in repräsentativer Lage mit 103 Wohnungen. 49 Die Größenordnung des Häuserertrages markiert ebenfalls einen (allgemein bekannten) Unterschied zwischen griechischen und anderen ElitenmigrantInnen aus dem Südosten. Sie zählten eindeutig zu den reicheren. An diesen Angaben über Häuser und Wohnungen, die in den Quellen überliefert sind, lassen sich also zahlreiche Differenzen unter den MigrantInnen darstellen - mehr erfahren wir über die Eliten; doch auch über MigrantInnen, die sich in die proletarischen und mittleren Schichten (mehr oder weniger) integrierten, lässt sich so ein qualifiziertes Bild rekonstruieren. Diese Differenzen sind nicht nur soziale, sondern auch ethnische und Genderdifferenzen. Die Untersuchung der Verortung im Raum kann auch eine Methode sein, die Repräsentation im Diskurs und damit die Repräsentationsmöglichkeiten in den öffentlichen und halbformellen Institutionen zu beschreiben. Gilt die Faustregel, 46 Namen verzeichnis [sic! ] über die Abgangs Gruppe I [Offiziere]. K. und K. Infanterie-Cadettenschule in Wien. Karton 847. Österreichisches Staatsarchiv 47 Häuser Kataster [sic] der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Heft II. Wien: Josef Lenobel 1905. Umrechnung und alle weiteren Umrechnungen sind für das Jahr 2007 berechnet, nach: Indizes zur Wertsicherung. Anleitungen, Langzeitreihen, Beispiele. Wien: Österreichisches Statistisches Zentralamt 1998. Ich verdanke diesen wertvollen Hinweis Andreas Weigl, Wiener Stadt- und Landesarchiv, dem auch mein Dank für die Hilfe bei der Umrechung gilt. 48 LENOBEL1914. 49 Lenobels Buch der Häuser und Hausbesitzer 1908; Häuser Kataster Heft I. <?page no="158"?> 158 Wladimir Fischer wer wenig Wohnraum hatte, hatte in der Regel auch schlechten Zugang zur räumlichen Repräsentation? Es war etwas komplizierter. Zur Verdeutlichung unterschiedlicher Sichtbarkeitsgrade mag noch einmal das Beispiel der Familie Dumba dienen. Bekanntlich hat der Fabrikant, liberale Politiker, Reichsratsabgeordnete und Musikmäzen Nikolaus von Dumba (1830-1900) im Jahr 1898 die Renovierung der griechisch-orientalischen Kirche zum Heiligen Georg in der Griechengasse beziehungsweise am Hafnersteig gestiftet. 50 Doch nicht nur der griechisch-orientalischen Gemeinde verhalf Dumba mit seinem Reichtum zu dauerhafter Sichtbarkeit, auch seine Familie selbst verband er eng mit dem Stadtimago Wiens, indem er sich und die Seinen in die Imagination der Musikstadt Wien einflocht. Das Palais Dumba am Parkring 4, erbaut 1856-66 von den Architekten Johann Romano und August Schwendenwein, war mit einer »herrschaftlichen Wohnung« ausgestattet, die von den begehrtesten Künstlern der Zeit, wie Klimt und Makart, zu repräsentativen Zwecken des bürgerlichen Musiklebens großzügig und prunkvoll gestaltet war und über einen Musiksalon und ein ›Schubert-Zimmer‹ verfügte. Johann Strauss’ »An der schönen blauen Donau« war zur Erstaufführung in diesen Räumlichkeiten komponiert worden. 51 Das Palais von Dumba, der auch Vizepräsident der Gesellschaft der Musikfreunde war, ist nicht zufällig am Parkring gelegen, einem Ort, der nicht zuletzt durch die Denkmalbautätigkeit des späten 19. Jahrhunderts bis heute mit der Vorstellung von Wien als ›Musikstadt‹ verbunden ist. Angrenzend an den Park befinden sich noch heute die bekanntesten Institutionen der ›Musikstadt Wien‹. Nikolaus Dumba selbst hielt am 15. Mai 1872 in seiner Funktion als Vorsitzender des Wiener Männergesangsvereins eine Rede zur Einweihung des Schubert- Denkmals dort. 52 Das Haus, das Irene Dumba gehörte, liegt vis-à-vis auf der anderen Seite des Stadtparks, und alle weiteren genannten Dumba-Adressen befanden sich wenig entfernt davon im Dritten Wiener Gemeindebezirk, was auch für die Häuser der Männer der Familie galt. Damit ist es eigentlich nur noch das Tüpfelchen auf dem i, dass Nikolaus von Dumbas Porträt die Räumlichkeiten der Ersten Österreichischen Sparkasse am Graben 21 ziert, ebenso wie ein Dumba-Stifterporträt von Georg Mayer das Stifterzimmer (heute Ranftl- Zimmer) im Künstlerhaus, Karlsplatz 5. 53 Die Familie Dumba erreichte diese Sichtbarkeit nicht auf Grund ihrer ökonomischen Möglichkeiten, die sie für symbolische Identitätspolitik einsetzte, was wiederum mit der Sozialgeschichte der griechischen Gemeinde in Österreich und Ungarn zusammenhing. MigrantInnen aus den südöstlichen Gebieten der Habsburger Monarchie selbst hatten durch eine etwas andere Sozialgeschichte weniger günstige Bedingungen der Selbstrepräsentation. 50 DEHIO, Georg: Wien. Wien: Schroll 6 1973 (Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs 12/ 1), p. 72. 51 DEHIO 1973, pp. 335 ff. 52 NUSSBAUMER, Martina: Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images. Edition Parabasen 6. Freiburg i. Br.; Berlin; Wien: Rombach Verlag 2007, pp. 95 und 105 ff. 53 DEHIO 1973, pp. 342, 489. <?page no="159"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 159 Auf Grund der bisherigen Archivrecherchen lässt sich sagen, 54 dass katholische MigrantInnen aus diesen Regionen einen relativ geringeren Anteil an Eliten in Wien hatten, was nicht bedeutet, dass ihr Anteil an den Eliten absolut geringer war. Vielmehr war der Anteil von Nicht-ElitenmigrantInnen unter ihnen höher, da die Regionen, in denen KatholikInnen lebten (Krain, Istrien und Kroatien-Slavonien), näher lagen und deshalb die Migration weniger qualifizierter Arbeitskräfte und die saisonale Migration hier stärker war. Ein solches Gewicht wie die Familie Dumba zu haben, blieb allerdings auch Familien der Elitenmigration aus dem habsburgischen Südosten vorenthalten, denn die Familie Dumba gilt als die in der Monarchie ökonomisch zweitbedeutendste nach den Rothschilds. Hinzu kam, dass KatholikInnen zum Zwecke der ethnonationalen Selbstrepräsentation sozusagen im katholischen Meer aufgingen, während bei Jüdinnen und Juden und Orthodoxen die Interessen der Selbstrepräsentation eher mit der kirchlichen Organisation korrespondierten. Da Kirchenbauten in der Monarchie das probateste und dauerhafteste Mittel zur Repräsentation ethnischer Minderheiten im öffentlichen Raum waren, lag hier eindeutig ein Startvorteil vor. Doch auch den orthodoxen MigrantInnen aus dem k. u. k. Südosten, die nicht (mehr) der Dreifaltigkeitskirche angehörten, gelang bei weitem kein vergleichbares Statement im gebauten Raum der Stadt Wien wie ›den Griechen‹. Die Kirche zum heiligen Sava - wo Menschen orthodox-orientalischer Konfession ihre Sakramente bescheinigt bekamen, und, da Kirchen damals die Aufgaben der heutigen Standesämter hatten, auch ihre Existenz- und Lebensbestätigungen - ist dezent in eine Wohnhausfassade integriert und nur am Eingangstor erkennbar (siehe Illustration 9). Die ›fremde‹ byzantinische Symbolwelt schmückt das Innere des Baus, nach außen dringt sie nur um die unvermeidliche Zugangsöffnung herum, ähnlich wie die Schleimhäute im Innern des menschlichen Körpers sich im Gesicht am andersartigen Gewebe der Lippen ankündigen. Die Kirche wurde vorwiegend von SerbInnen und ruthenischen orthodoxen BukovinerInnen genutzt. Doch MigrantInnen wie Anna Maria Rosenberg sieht man im Dunkel der Geschichte nicht … 54 Cf. FISCHER 2006. <?page no="160"?> 160 Wladimir Fischer Illustration 9: Portal der orthodox-orientalischen Kirche zum Heiligen Sava in der Wiener Veithgasse. <?page no="161"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 161 3 Kollektive Subjektwerdung und pragmatische Clusterbildung Im vorangegangenen Abschnitt war bereits die Rede von Verbänden, Gruppen und Gemeinschaft, als wäre das ganz selbstverständlich, beziehungsweise als hätte es nie eine poststrukturalistische Kritik des kartesianischen Subjekts gegeben. Tatsächlich bedeutet eine solche Herangehensweise immer auch, ungesicherte Schlüsse über alle Angehörigen einer Gemeinschaft zu ziehen und die reine Annahme der Zugehörigkeit allein auf Grund der Eintragung unter ›Religion‹ oder ›Nation‹ beziehungsweise ›Sprache‹ in der Volkszählung oder in den Taufmatriken oder gar auf Grund des Nachnamens. Wissen wir, ob Marius Margetich irgendeiner solchen Gemeinschaft zugehörte? War für Anna Maria Rosenberg ihr Religionsbekenntnis ›römisch-katholisch‹ oder ihre ethnische ›Herkunft‹ oder ihr Geburtsort Pula von Belang? Was wir wissen, ist lediglich, dass sie einen Heimatschein für Wien wollte. Wir können wohl annehmen, dass auch für die meisten Menschen der damaligen Zeit die Zugehörigkeit zum Familienverband eine wichtige Rolle spielte, doch gibt es Beispiele, wie die weiter unten erwähnte Maria Stella Philomena Redthammer, die hier eine Ausnahme bildeten (s. u.). Über wohlhabende MigrantInnen wie die Dumbas und Ostoi ć ’ wissen wir mehr, zum Beispiel wie ökonomisch wichtig für sie das Vorgehen im Familienverbund war. Während wir von Letzteren das Bedürfnis, in Beziehung zu einer bestimmten weiteren Gemeinschaft zu treten, nur erahnen können, setzten sich die Dumbas für ihre Gemeinde politisch ein, doch in die Geschichte eingegangen sind sie als Wiener, was nicht zuletzt mit ihrer aromunischen Herkunft zusammenhängen dürfte. Sie integrierten sich in die Elite und in das historische Gedächtnis der Stadt, doch eine griechische oder aromunische Identitätspolitik war das nicht, jedenfalls keine erfolgreiche. Auffälliger waren hier MigrantInnen wie der Medizinstudent und nationalistische Aktivist Velimir Deželi ć , auch er mit der Musikwelt in Wien und Zagreb verbunden, 55 der öffentlich eine kroatische nationalistische Identitätspolitik betrieb, allerdings ohne dauerhafte Spuren im öffentlichen Raum oder historischen Gedächtnis zu hinterlassen. Er griff in studentischen Publikationen die offizielle Sprachenpolitik der Monarchie, verkörpert in dem Begründer der wissenschaftlichen Slavistik, Ritter Franz Miklosich (1813-1891), scharf an. Wie können wir dann überhaupt von kollektiver migrantischer Subjektivität sprechen? Was wir mit Hilfe des Quellenmaterials 56 nachvollziehen können, sind Beziehungen zwischen Menschen, verwandtschaftlicher oder geschäftlicher Art oder als Angehörige von Vereinen und Institutionen. Die Qualität solcher Netzwerke ist aber eine weitere schwer zu beantwortende Frage. Im Falle freiwilliger 55 Cf. BEZIĆ, Nada: Linking Peoples, Cultures and Arts Through Family: Sofija Deželić and Her Ancestors. In: INGRAM, Susan/ REISENLEITNER, Markus/ SZABÓ-KNOTIK, Cornelia (Hg.): Identität, Kultur, Raum. Cultural Practices and the Formation Of Imagined Communities Around 1900. A Comparison Between North America and Central Europe. Wien: Turia & Kant 2001, pp. 141-152. 56 Wie das Quellenmaterial beschaffen ist, habe ich dargelegt in FISCHER 2005 und 2006. <?page no="162"?> 162 Wladimir Fischer Netzwerke, wie etwa von Vereinen, können wir zumindest von einer Art Integrationsabsicht ausgehen: Es ist anzunehmen, dass die Mitglieder in einem Verein wie dem Südslawischen Unterstützungsverein oder dem Verein »der in Wien lernenden serbischen Jugend« Zora, den Willen haben, sich zusammenschließen und damit zum politischen Subjekt werden wollten. 57 Anders gelagert ist der Fall von familialen und professionell-ökonomischen Clustern. Hier ist davon auszugehen, dass in erster Linie die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Interessen im Vordergrund standen. Ob es sich um ethnische Clusterbildung handelte, wenn etwa kroatische Offiziere aus der Familie Jellačić von Bužim sich um die Schwarzenbergkaserne (Marokkanergasse 2) herum ansiedelten, bleibt dahingestellt. Nahe liegend ist, dass es sich um Interessen bezüglich der Karriere im Militärapparat handelte, die mit Hilfe der Verwandtschaft verfolgt wurden und denen ein Wohnort in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes (nicht aber wie die Mannschaft in der Kaserne) förderlich war. Klar ist, dass derartige Verbindungen, die Einbindung in den Apparat und damit die Karriere befördern. So konnte etwa Oskar Jellačić Julius helfen, im Regimentsstab Fuß zu fassen, aber auch umgekehrte Vorteile waren möglich, was aber nur eruierbar wäre wenn wir wüssten, was Julius Otto hätte bieten können. 58 Hinzu kommt, dass eine ethnische Agenda bei weitem nicht die einzige sein musste, die für kollektive migrantische politische Subjektivierungen von Bedeutung sein konnte, schließlich war die Ethnisierung verschiedener sozialer Milieus selbst in den südöstlichen Herkunftsregionen im späten 19. Jahrhundert gerade noch im Gange. Wie bereits erwähnt, scheint es unter den ElitemigrantInnen in Wien außerdem Tendenzen gegeben zu haben, sich in ›das Bürgertum‹ als solches zu integrieren, wobei natürlich die in Entwicklung befindliche (deutsche) Ethnisierung der mittleren Schichten in Wien eine Herausforderung darstellte. Mit anderen Worten blieben die Optionen der ›Assimilation‹ an ein deutsch definiertes Kleinbürgertum oder aber die Hoffnung auf Integration in ein kosmopolitisches Großbürgertum (nach dem Modell Dumba). Dies war aber keine Frage der freien Wahl, sondern der Klassenzugehörigkeit, also ein weiteres unerforschtes Feld, was MigrantInnen aus dem Südosten in Wien anbelangt. Eine andere Option war die politisch-ideologische Integration in verschiedenen Bereichen der ArbeiterInnenbewegung oder der Frauenbewegung. Auch die Wahl einer ethnischen Positionierung war politisch beeinflusst: So neigten etwa konservativ-klerikale serbische Kreise zur Loyalität mit der Krone und einer Option für den Vielvölkerstaat, während Liberale und Radikale sich auch eine Zukunft außerhalb der Monarchie vorstellen konnten. Doch jegliche derartige Identitätspolitik in Wien konnte letztendlich nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass man sich vor Ort in der Minderheit befand, und transnationale 57 Cf. LACLAU & ZAC 1994. 58 Siehe Militär-Adreßbuch 1914. <?page no="163"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 163 Identitätspolitik beschränkte sich zumeist auf das Eintreten für ethnische Interessen in den jeweiligen Herkunftsregionen im Königreich Ungarn. Solch radikale Interventionen wie das Attentat von Nikolaus Njeguš waren die Ausnahme. Es gab also ein Spannungsverhältnis zwischen diversen Integrationsstrategien auf der einen und transnationaler, zumeist auf Ungarn orientierter Identitätspolitik auf der anderen Seite. Es kam also zu ambivalenten oder auch widersprüchlichen Praktiken. So betrieben etwa nationalistische Vereine die Integration von Mitgliedern in ihre »Reihen« sowohl als Integration in ein größeres exklusives ethnisch-nationales Projekt als auch in den multinationalen Gesamtstaat. Wenn wir die Lebenswelten der Beteiligten mit einbeziehen, wird die Situation noch widersprüchlicher wie im Falle des schillernden Intellektuellen Jovan Skerlić (1877-1914), der gleichzeitig mehrere serbisch-nationalistische literaturpolitische Projekte betrieb und sich in Wien »transnational« mit einer Schweizerin verheiratete. 59 Es stellt sich heraus, dass gerade Widersprüche und Ambivalenzen konstitutiv für historische Lebensrealitäten sind und dass deren ›Ausräumung‹ oder ›Klärung‹ im Sinne einer Geschichte von unten kontraproduktiv wäre. Am Beispiel des Tschechischen Orthodoxen Vereins können wir sehen, wie sich ein Netzwerk aus böhmischen Handwerkern bildete, um einen Glauben anzunehmen, der für TschechInnen höchst ungewöhnlich war. František Alois Soukup, einer der ersten Chronisten der Tschechen in Wien, wusste 1928 über diesen Verein zu berichten, dass die Persönlichkeiten, die in der Politická jednota (Politische Einheit) wirkten, […] auch den orthodoxen Bildungs- und Geselligkeitsverein im Juli 1897 gegründet [haben]. […] Bei der Gründung hatte der Verein 37 Mitglieder. […] Bald arbeitete der Verein im Sinne des orthodoxen Klerikalismus. Somit kam es zu Konflikten mit den Zeitschriften Slovan und V ě stnik (auch wenn letztere nicht religiös ausgerichtet war). Der Verein veranstaltete viele Vorträge, Geselligkeitsabende, Ausflüge Tanzabende usw. Auch die Wallfahrten nach Velehrad und eine Gedenkfeier für Hus. […] Zur Errichtung des orthodoxen Hauses ist es nicht gekommen, auch wenn dies proponiert worden war. Beim Verein entstand auch der Sparverein ›Gorazd‹. Im Krieg - da alles Russische leidenschaftlich verfolgt wurde, wurde der Verein aufgelöst. Der erste Vorsitzende, Šohaj, blieb mit einer kleinen Unterbrechung bis zur Auflösung des Vereins in dieser Funktion. Seine Frau war die Seele der Frauenabteilung des Vereins. 60 Vladimir Hanika und Vlastimila Vokač gehörten wahrscheinlich ebenfalls diesem Verein an. Sie waren 1894 römisch-katholisch getraut worden, ließen sich als 59 Eine solche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist allerdings nur ein scheinbarer Widerspruch, der durch die aus dem 19. Jahrhundert tradierte geistesgeschichtliche Ideologie des Evolutionismus erzeugt wird, der nach wie vor breite akademische Diskurse beeinflusst - jenseits dieser mächtigen Narration ist solche Ambivalenz eine selbstverständliche Tatsache. 60 SOUKUP, František Alois: Česká menšina v Rakousku. Přehled vývoje české menšiny na území dnešní republiky Rakouské, zvlástě ve Vídni. Praha: 1928, pp. 346 f. Übersetzung aus dem Tschechischen: Vlasta Valeš und Wladimir Fischer. <?page no="164"?> 164 Wladimir Fischer Erwachsene orthodox taufen und taten dies auch mit ihren Sohn Jaroslav, der 1899 zur Welt kam. 61 Über die Gründe können wir wiederum nur spekulieren. Fest steht, dass die Mitglieder dieses Vereins durch ein Netzwerk aus Patenschaften zwischen Meistern und Lehrlingen verbunden waren und dass es durch die Konfession auch Kontakte zu anderen orthodoxen Menschen über die Sankt Sava-Kirche gab. 4 Von Nischen, Individuen und Milieus: Handlungsmöglichkeiten Ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Arbeit ist es, die einzelnen Personen, die im Quellenmaterial zugegen sind, als Persönlichkeiten zu begreifen, und das entsprechend der vorher beschriebenen strategischen Entscheidung, Geschichte nicht ›von oben‹ zu schreiben, unabhängig davon, ob es sich um prominente oder ›einfache‹ Menschen handelte. Diese Vorgehensweise bedeutet, die Handlungsspielräume Einzelner (agency) zu einer zentralen Kategorie der Darstellung zu machen und dabei immer darüber nachzudenken, ob diese Spielräume so begrenzt oder so groß waren, wie wir das vor dem Quellenstudium angenommen hätten: Hatte Ana Maria Rosenberg vielleicht mehr Möglichkeiten, als ihr Wohnort vermuten lassen würde? Welche Grenzen waren dem Handeln von Irene und Nikolaus Dumba gesetzt? Bei diesen Handlungsspielräumen geht es nicht in erster Linie um politischen Einfluss oder Einfluss in medialen Diskursen: Diese Art von agency spielt zwar eine wichtige Rolle bei kollektiven Subjektwerdungen ebenso wie in Erfolgsstrategien einzelner oder kleinerer Cluster, doch es geht in einer Geschichte ›auf Straßenniveau‹ ebenso um Spielräume, das eigene Leben, und dabei auch den ›Alltag‹, zu gestalten. 62 Das bedeutet auch, die Einzigartigkeit der AkteurInnen nicht zu vergessen, ähnlich wie der historische Moment, den wir betrachten, immer einzigartig ist. 63 Beeindruckende Beispiele von Lebensgestaltung treten uns - wie nicht anders zu erwarten als Bruchstücke - in den Personenstandsdokumenten der Kirche des Heiligen Sava entgegen: Maria Stella Philomena Redthammer aus Nürnberg, katholisch, uneheliches Kind einer Balletttänzerin, am 27. Dezember 1867 geboren, nahm den orthodoxen Glauben und den Nachnamen ihres Gatten Peter Schwarz an, wurde von diesem geschieden und ist laut den Taufmatriken: … auf eigenen Wunsch und Verlangen in Anbetracht des Umstandes, dass sie an Eides statt die Erklärung abgegeben hat, von ihrer mit Peter Schwarz in Sofia in Bulgarien eingegangenen Ehe den orthodoxen Glauben angenommen zu haben, hierüber sich aber kein schriftliches Document vorfindet […] sub conditione seu 61 Pass- und Heimatschein-Protokoll 1903-1906. WStLA - Wiener Stadt- und Landesarchiv. Konskriptionsamt, 13.7.1900. 62 Cf. HIGHMORE, Ben: Everyday Life and Cultural Theory. An Introduction. London, New York: Routledge 2002. 63 FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. <?page no="165"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 165 reservatione in den Schoss [sic] der orthodoxen griechisch-orientalischen Kirche aufgenommen worden. 64 Bei dieser Gelegenheit, anlässlich der Firmung, ließ sich Maria, die Sängerin im »Etablissement« Ronacher war, durch den orthodoxen Priester Eugen Kozak, offiziell als Tochter des ebenfalls ledigen Künstler Gregor Zscholli anerkennen. An diesem Dokument ist vieles bemerkenswert: Zur Hochblüte der Entrechtung von Frauen in Österreich anerkennt ein lediger Mann sein uneheliches Kind. Dieses ›Kind‹ ist eine erwachsene Frau von 28 Jahren, die von ihrem Ehemann Peter Schwarz geschieden wurde. All’ dies erhält Stempel und Siegel des orthodoxorientalischen Priesters, obwohl nur die Angaben Marias selbst dafür stehen, dass sie nicht der katholischen Kirche angehört. Gewiss können wir einiges am Zustandekommen dieses historischen Dokuments dem Interesse der Wiener Minderheitengemeinde Sankt Sava am Mitgliederzuwachs zuschreiben. Einiges können wir auch auf das Milieu zurückführen, in dem Maria sich bewegte. Nahe liegend wäre, anzunehmen, dass die Welt der KünstlerInnen einen gewissen Freiraum darstellte, was Sexualleben und familiäre Bindungen betraf. Auch die Tatsache, dass Maria geografisch mobil gewesen zu sein scheint (sie gab an, in Bulgarien getraut worden zu sein), dürfte zu ihrer relativen Unabhängigkeit in dieser Angelegenheit beigetragen haben. Dies alles zusammengenommen bedeutet aber schon, dass es im späten 19. Jahrhundert in Wien Räume gegeben hat, in denen, ganz im Gegensatz zur Kadettenschule in Breitensee, der Spielraum von Individuen unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit in bestimmter Hinsicht größer war als allgemein. Es bedeutet aber auch, dass Maria Stella Philomena Redthammer als zentrale Persönlichkeit beim Zustandekommen dieses historischen Monuments migrantischer Lebensgestaltung, auch ihre individuelle Stärke zum Tragen gebracht hat. Über eine andere Familie, die Böhms, wissen wir, dass die Eltern, Jacob Böhm und Maria, geborene Pachner, die beide dem »israelitischen Bekenntnis« angehörten, ihr Kind in derselben Kirche wie Maria Redthammer, also orthodox-orientalisch, taufen ließen. Das Mädchen erhielt den Namen Rosalie Milica, also eine Kombination aus einem damals in Wien gängigen Erstnamen mit einem südslavischen Zweitnamen. Die Namenswahl stand wohl in Zusammenhang mit dem jüdischen Bekenntnis der Eltern und der Entscheidung, das Kind orthodox taufen zu lassen, in einer Kirche, die sonst nicht für derartige Zwecke von böhmischen JüdInnen (mit deutschen Namen) genutzt wurde, sondern eher von SerbInnen beziehungsweise BukovinerInnen. Die TschechInnen, die, wie erwähnt, in der Gemeinde beteiligt waren, waren katholisch gewesen und konvertiert. Nichts davon die Böhms: sie waren jüdisch und konvertierten nicht. Die Gründe bleiben im Dunkeln - es kann gemutmaßt werden, ob es sich zum Beispiel um eine Opportunität gegenüber ›der Gesellschaft‹ handelte oder einen ›Privatkompromiss‹. 64 Matriken-Zweitschriften der Kirche des Hl. Sava. Geburts- und Taufmatriken: WStLA - Wiener Stadt- und Landesarchiv. Vol. 3/ 1897 und 15/ 1900, p. 275. <?page no="166"?> 166 Wladimir Fischer Doch welche Gesellschaft oder welche privaten Gründe könnten die Entscheidung beeinflusst haben? Gesellschaftlicher Druck, sich der Mehrheitsreligion anzuschließen, kann hier keine Rolle gespielt haben, es sei denn es lag der Plan vor, ins orthodoxe Ausland zu übersiedeln. Familienpolitisch wäre es verständlich bei einer Erwachsenen, die heiraten möchte (wie im Falle von Rittmeister a. D. Johann Nepomuk Sturm, nunmehr Wladimir aus dem südostslovenischen Metlika/ Möttling, der im Jahr 1893 für die Heirat mit Almeria Enescu zur Orthodoxie konvertierte - Pate war übrigens der Großhändler Theodor Ostoits 65 ). Doch das einzige, das wir außer Namen und Konfession wissen, ist, dass Jacob Böhm »Handelsmann aus Divišau in Böhmen« 66 war. 5 Anthropologische Geschichte: Migration der Toten Wenn von kulturellen Praktiken von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wien im späten 19. Jahrhundert die Rede ist, wird meist auf die Bereiche der Literatur und Musik verwiesen. Diesen Fokus auf Elitenkultur gibt es nicht ohne Grund, denn da die in Frage stehenden MigrantInnen anders als jene aus Böhmen und Niederösterreich sich nicht massenhaft in ein proletarisches Identitätsprojekt integrierten, sind uns hier auch nicht so etwas wie Dokumente einer organisierten migrantischen Arbeiterkultur oder Alltagskultur überliefert. 67 Gewiss stellte sich aber die Frage kultureller Praktiken für die betroffenen MigrantInnen zu tagtäglichen Gelegenheiten, beim Sprechen, beim Lesen, beim Zuhören, bei Erziehungspraktiken, und zwar besonders wenn auch Fragen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft berührt wurden, wie etwa beim Beten. Auch zu nicht alltäglichen Gelegenheiten stellte sich die Frage nach der Wahl und Gestaltung kultureller Praktiken, und im Falle minoritärer Gemeinschaften hat diese Tatsache die Überlieferung begünstigt: So haben wir reichhaltiges Material über Taufen, Heiraten und Sterbefälle. Migrationsgeschichte beschreibt gewöhnlich die Wanderungen Lebender. Vom kulturgeschichtlichen Standpunkt her sind aber auch die Migrationen der Toten interessant. Die Art und Weise, wie die Lebenden mit den Toten umgehen, sagt viel über die Kultur der Lebenden aus. In ihrem Buch über die Mobilisierung von Leichen zum Zweck politischer Symbolik formulierte Katherine Verdery das folgendermaßen: […] unlike a tomato can or a dead bird, [corpses] were once human beings with lives that are to be valued. They are heavy symbols because people cared about them when they were alive, and identify with them. […] In many human communities, to set up right relations between living human communities and their ancestors de- 65 Matriken-Zweitschriften, Zahl 4/ 1893. 66 Gemeint ist wohl die Stadt Divišov im Kreis Benešov, ca. 35 km von Prag und etwa 240 km von Wien, mit einer traditionellen jüdischen Gemeinde und einer Synagoge aus dem 18. Jahrhundert. 67 Es könnte diskutiert werden, wo hier die Unterschiede zu jüdischen Identitätsprojekten liegen, und die Antwort dürfte mit der geringeren zahlenmäßigen Größe zusammenhängen. <?page no="167"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 167 pends critically on proper burial. Because the living not only mourn their dead but also fear them as sources of possible harm, special efforts are made to propitiate them by burying them properly. 68 Deshalb behandle ich auch die Wege von MigrantInnen nach ihrem Tod und deren Umstände. Die Tode der südöstlichen MigrantInnen waren so mannigfaltig wie jene der Mehrheitsbevölkerung. Sie reichten von so verbreiteten und unausweichlichen Fällen wie dem Tuberkulosetod des dreijährigen Božidar, Sohn des montenegrinischen Kulturattachées, im Jahr 1891 bis zu solch ›individuellen‹ Toden wie den Selbstmorden des Medizinstudenten Bogdan Musulin, der sich am 23. März 1895 erschoss, oder der Brüder Milan und Dušan von Baich im Jahr 1909 (siehe Illustration 10). Milan starb am 16. Jänner an »Blutleere nach einem Schnitte am Halse (Selbstmord)«. Dušan folgte seinem älteren Bruder wenige Monate nach dessen Selbstmord in den Tod. Er schoss sich am 8. Mai, vermutlich an seinem Arbeitsplatz, eine Kugel in den Kopf. Freilich war die Mortalität von MigrantInnen auf Grund allgemein weniger sicherer Bedingungen und Verbindungen in der Stadt, insgesamt höher als jene der Gesamtbevölkerung, wie Andreas Weigl nachgewiesen hat. 69 Doch wie sich dies bei MigrantInnen aus dem Südosten verhielt, müsste erst erhoben werden. Immerhin war unter ihnen der Anteil an besser vernetzten ElitenmigrantInnen mit ›besseren‹ Wohnorten, wie bereits ausgeführt, aller Wahrscheinlichkeit nach höher als bei den übrigen MigrantInnen in Wien. 68 VERDERY, Katherine: The Political Lives Of Dead Bodies. Reburial and Postsocialist Change. New York: Columbia University Press 1999 (The Harriman Lectures), pp. 32 und 42. 69 Cf. WEIGL 2002. <?page no="168"?> 168 Wladimir Fischer Illustration 10: Die Grabstätte der Familie von Bai ć (Foto: Autor) Wie es scheint, blieben damals im Gegensatz zu heute die Toten aus der südöstlichen Peripherie meist dort, wo sie gestorben waren. Die meisten in Wien Verstorbenen wurden am Zentralfriedhof beerdigt. Doch einige wurden an anderen Orten, in der ›Heimat‹, beigesetzt. So etwa der Kupferschmied Efrem Nemschitz aus Likodra in Serbien, verschieden am 12. Dezember 1893 an einer Gesäßgeschwulst, der am 15. Dezember von Wien nach Belgrad überführt wurde. Die <?page no="169"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 169 Mobilität der Toten wurde Ende des 19. Jahrhunderts für das neue Verkehrsmittel Eisenbahn neu geregelt. Schon zuvor (seit dem 18. Jahrhundert) gab es strenge Sanitätsbestimmungen, wie Tote zu befördern seien. So wie Lebende erhielten die Toten ein Ausweisdokument zum Grenzübertritt: den Leichenpass. 70 Die Organisation lief sehr speditiv ab, so war es Vorschrift. So kündigte etwa am 19. Juli 1876 ein Telegramm für den folgenden Tag die Durchreise der sterblichen Überreste von Fürstin Marie Obrenovitch an, die von Würzburg über den Grenzposten Passau führte. 71 Am 7. Februar 1864 starb in Wien der einflussreiche Sprachwissenschaftler, Ethnograf und Reformer Vuk Stefanović Karadžić (1787-1864), schon zu Lebzeiten ein serbischer Nationalheld, nach fast einem halben Jahrhundert Aufenthalts in der Reichshauptstadt. 23 Jahre später, in seinem 110. Geburtsjahr, sollte er nach Belgrad überführt werden, um den Makel dieses Lebens als Gelehrter in der Migration auszugleichen und einer symbolischen Politik der Inbesitznahme nationalen Territoriums durch Begräbnispraktiken genüge zu tun. 72 In Belgrad wartete bereits eine symbolisch aufgeladene Grabstätte auf ihn: Er sollte neben der letzten Ruhestätte von Dositej Obradović (1741-1811) beigesetzt werden, der für SerbInnen zentralen Figur der Aufklärung, welcher auch als Begründer der modernen serbischen Geistesgeschichte gilt. So sollte symbolisch eine Kontinuität zwischen Aufklärung und Romantik hergestellt werden, zwei Strömungen, deren Verhältnis tatsächlich eher in Gegensätzen und Brüchen bestand. 73 Die von der österreichischen Polizei befürchteten »Manifestationen politischen Inhalts« an der Fahrtstrecke des Zuges mit den »irdischen Überresten[n] des gefeierten serbischen Schriftstellers« am 12. Oktober 1897 blieben aus. 74 Bei der Exhumierung am Sankt Marxer Friedhof in Wien selbst hielt niemand geringerer als Bürgermeister Karl Lueger (1844-1910) eine Ansprache und betonte, wie stolz die Stadt Wien sei, diesen großen Gelehrten beherbergt zu haben, und wie froh, dass er nun in seine Heimat zurückkehren könne - eine Freude, die auch so ausgelegt werden kann, dass nun ein Fremder weniger in deutschem Erdreich ruhte, oder aber eine Genugtuung darüber, dass nun dem Nationalstaatsprinzip in so fern entsprochen wurde, als wichtige Leichname jenes Territorium zu nationalisieren haben, dem sie zugehören, auch wenn sich ihr Leben dort nicht ab- 70 Siehe zum Beispiel die »Vorschrift über die Verbringung von Leichen«. Reichsgesetzblatt 1862, p. 2245. 71 Telegramm »statthalterej praesidium an innenministerium wien«, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium des Innern, 36/ 8, Karton 1155, Fasz. Nr. 601 N-R, Protokollnummer 10216-1876, 19.7.1876. 72 VERDERY 1999, pp. 39 f. 73 FISCHER, Wladimir: Dositej Obradović als bürgerlicher Kulturheld. Zur Formierung eines serbischen bürgerlichen Selbstbildes durch literarische Kommunikation 1783-1845. Frankfurt am Main e. a.: Peter Lang 2007 (Studien zur Geschichte Südosteuropas 16) 2001, pp. 274-280; DERS.: The Role of Dositej Obradović in the Construction of Serbian Identities (1811-1911). In: Spaces of Identity 1/ 3 (2001) pp. 67-87, hier pp. 69-72 und 82 f. 74 »Einsichtsact des Ministeriums des Aeusseren betreffend die Ueberführung der irdischen Ueberreste des serbischen Schriftsteller Vuk Karadžić von Wien nach Belgrad«. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium des Innern, Protokollnummer 31290-1897, 7.10.1897. <?page no="170"?> 170 Wladimir Fischer gespielt hatte (eine Konstruktion, die natürlich gerade im Zuge meines Projekts, Geschichte von unten und des Alltags zu schreiben, ins Auge stechen muss). Eine Nationalisierung der Toten schien aus der Perspektive der Blut-und-Boden- Ideologie serbischer wie deutscher Nationalisten erstrebenswert. 75 Was Lueger übrigens nicht erwähnt ist, dass Vuks Gattin Wilhelmine Karadžić bereits drei Jahre zuvor in ›serbischen Boden‹ transferiert worden war. Sie war eine Deutsche im Sinne Luegers. Also hatte schon wieder eine Vermischung ethnischer Körper mit ›fremder‹ Erde stattgefunden. Oder durfte die Ausweisung des serbischen Leichnams als Kompensation für die Deplatzierung der deutschen Wilhelmine gelten? Womöglich war ihre Bestattung der Auslöser gewesen, der den Leichnam ihres berühmteren Gatten erst in Bewegung gesetzt hatte. 6 Resümée und Ausblick Im Forschungsprojekt Zentren und Peripherien - Kulturen und Herrschaftsverhältnisse in der späten Habsburger Monarchie schien das Thema der MigrantInnen in den Metropolen der Monarchie ein ideales Querschnittthema zu sein, das alle Aspekte von Räumlichkeit und Abgrenzung tangiert. Indem sich die Kategorie von Mobilität und Dynamik durch die Beschaffenheit des Gegenstandes gewissermaßen von selbst einführte, wurde die Infragestellung eines dichotomischen Verständnisses von Zentrum, Peripherie, Grenze und noch allgemeiner von Raum als theoretisch-methodische Notwendigkeit mit in den Mittelpunkt gerückt. Es wurde schnell klar, dass verschiedene existierende Modelle zur Beschreibung von MigrantInnen aus dem Südosten in Wien um 1900 diesen Vorgaben nicht entsprechen. Die Darstellung von geschlossenen ethnischen communities, wie sie in den pauschalierenden Bezeichnungen ›die Serben‹ oder ›die Kroaten‹ oder gar ›die Südlsaven‹ zum Ausdruck kommen, entsprach eher den Anforderungen gegenwärtiger nationaler Identitätspolitik, sagte aber wenig aus über die Tatsache, dass es sich um MigrantInnen handelte, und wurde auch den im Archiv vorgefundenen Quellen nicht gerecht. Diese Quellen ließen auch bald den Schluss zu, dass eine heroische Narration über proletarische oder UnterschichtenmigrantInnen allein schon wegen der Quellenlage fehl am Platze wäre, da die offensichtlichen sozialen Zugehörigkeiten der migrantischen Subjekte eine andere Sprache sprachen (siehe oben). Dies gemahnte zu großer Behutsamkeit in der Beschreibung von kollektiven Subjektivitäten. Schon die Kritik an den hegemonialen master narratives und erfundenen Traditionen aus den Nationalgeschichten von Staaten wie England, Frankreich und Deutschland lehrte, beim Umgang mit der Sprache über ›nationale‹ oder ›ethnische‹, aber auch 75 LUEGER, Karlo: Govor na groblju Sv. Marka. In: GAVRILOVIĆ, Andra (Hg.): Spomenica o prenosu praha Vuka Stef. Karadžića iz Beča u Beograd 1897. Beograd: U štampariji kraljevine Srbije 1898, pp. 38 f. <?page no="171"?> Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900 171 über ›soziale‹ Subjekte Vorsicht walten zu lassen. Im Falle der MigrantInnen aus dem Südosten kam hinzu, dass erstens die Ethnisierungsprozesse auch bei den Oberschichten im späten 19. Jahrhundert noch voll im Gange waren und dass zweitens die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gezeigt hatten, wie instabil diese waren (diese Erfahrung hatte nicht zuletzt die Diskussion über nationale Narrative in den 1990er Jahren begleitet). Andererseits boten die Darstellungen der Geschichte verschiedener sozialer Milieus, der Lebensbedingungen und des Alltags in Wien in der späten Habsburger Monarchie wenig Anhaltspunkte bezüglich der Positionierungen von MigrantInnen aus dem Südosten. 76 Herausgekommen ist aus diesen Gründen ein Forschungsdesign, das konsequent induktiv und von den weniger komplex organisierten zu den komplexeren und öffentlicheren, im Diskurs beharrenden, sozialen Formationen fortgeschritten ist. Retrospektiv manipulierende Geschichtsnarrative sollten so weitgehend vermieden werden - freilich sind auf diese Weise viele Fragen offen geblieben, das Thema ist nicht ›abgeschlossen‹. Klar ist, dass wir noch viel zu wenig wissen über die konkreten Lebensumstände und Lebenswege von MigrantInnen, die sich nicht in hegemoniale Diskursformationen ›eingeschrieben‹ haben oder in diesen verewigt wurden. Die weiteren Wege von Anna Maria Rosenberg bleiben ebenso unklar wie die Motive der Eltern von Rosalie Milica Böhm. Hier ist noch viel zu tun und es liegt auf der Hand, dass nur durch weitere Archivarbeit und die Verschränkung mit Massendaten in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen sind. Wir können bereits einiges über ›mittlere‹ Netzwerke sagen, also jenen Bereich, der als Vorbedingung politischer Subjektwerdung betrachtet werden kann. Familien wie die Baich’ und Ostoich’ haben ausreichend Material hinterlassen, so wie auch andere Kaufleute, Bankiers, Handwerker, Beamte und Offiziere. Nur durch das Studium solcher Cluster können wir einschätzen, in welchen Fällen von Identitätspolitik gesprochen werden kann und in welchem Sinne etwa von einer kollektiven Subjektivität, die in bisherigen Darstellung allzu oft einfach als gegeben angenommen worden war. Außerdem müssen auch Organisationen in den Blick genommen werden, die eine andere als die ethno-linguistische Identitätspolitik betrieben, wie der beschriebene Tschechische Orthodoxe Verein oder die südslavische zionistische Gesellschaft ›Bar Giora‹. Die zahlreichen Beispiele haben gezeigt, weshalb ein solches Projekt nur durch eine verortete Darstellungsweise sinnvoll wird. Die Kasernenkegelbahn und das Marodenzimmer, der verbotene Bezirk der ›Platte‹, die Palais am Stadtpark, das Hauseigentum im Dritten Gemeindebezirk, die engen und die großzügigen Wohnungen, jene in gesunden und solche in ungesunden Wiener Gemeindebezirken, die Gotteshäuser religiöser Minderheiten… sie sind allesamt Orte, an denen die konkrete Anwesenheit von MigrantInnen aus den südöstlichen Provinzen der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht nur sichtbar wird, sondern auch in ihrer soziospatialen Bedeutung erfassbar. 76 Zu diesem Fragenkomplex cf. FISCHER 2005 und 2006. <?page no="172"?> 172 Wladimir Fischer Es war durchgängiges Prinzip der Darstellung, soziale Differenzierungen herauszuarbeiten. Wohnorte, Hausbesitz, Möglichkeiten der kulturellen Repräsentation, Freiräume im Alltag und ganz grundlegend (Über-) Lebenschancen waren nicht für alle MigrantInnen gleich. So banal diese Feststellung klingen mag, so wichtig ist sie angesichts immer wieder auftauchender simplistischer Darstellungen, die homogene und per se dauerhafte Einheiten ethnonationaler oder anderer Natur konstruieren wollen. Die Komplexität der historischen Wirklichkeit aber ist nur erfassbar, wenn wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Redthammers, der Margetich’, Kovarovits’, Timarcevic’, der Jellačić von Bužims, der Krakauers und Kuhns, der Rosenbergs und Hrdys in Betracht ziehen und vieler anderer mehr… in diesem Sinne ist die Geschichte der MigrantInnen in Wien um 1900 ein andauernder Forschungsprozess, der bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. <?page no="173"?> É VA K OVÁCS (W IEN ) Wandernde Identitäten Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa In seinem Roman »Scham und Schande« schrieb Salman Rushdie: »Wenn Individuen sich von ihrem Heimatland lösen, werden sie Migranten genannt. […] Was ist das Beste an Migranten? Ich glaube, dass sie so voller Hoffnung sind. […] Und was ist das Schlimmste? Dass das Reisegepäck so leer ist. Ich spreche von unsichtbaren Koffern, nicht von den realen, die, seien sie aus Pappe oder was auch immer, nur ein paar sinnentleerte Erinnerungsstücke enthalten: wir haben uns von mehr als vom Boden gelöst. Wir sind der Geschichte, der Erinnerung, der Zeit entschwebt.« 1 Das Thema dieser Studie ist die narrative Komplexität und Ambivalenz im Zusammenspiel von Migration und Identität aus der Perspektive biographischer Erzählungen. Die allgemeine Erfahrung einer Migrantin oder eines Migranten der Moderne wie sie im einleitenden Rushdie-Zitat sehr poetisch beschrieben wurde, wird hier ganz konkret auf eine spezielle Gruppe aus einer ganz spezifischen Region stammender Migranten - nämlich auf jüdische Männer aus Mitteleuropa. Es wird versucht, mit Hilfe lebensgeschichtlicher Beispiele zu zeigen, wie die Wanderung von solchen Männern, die sich als »Juden« identifizieren, mit speziellen master narratives rekonstruiert wird. 2 Die Shoah zwang bereits ab den 1930er Jahren unzählige europäische Juden zur Auswanderung. Nach 1945 fühlten viele Überlebende, dass sie nicht mehr dazu fähig waren, in ihre Heimat zurückzukehren. Zwischen 1945 und 1948 beschlossen Tausende, die heimgekehrt waren, das Land zu verlassen, solange es noch möglich war. Auch im Zuge der letzten großen Welle der Emigration verließen viele Juden ihre Heimat: aus Ungarn 1956, aus Polen und aus der Tschechoslovakei 1968. In Rumänien ermöglichte seit den 1960er Jahren ein politischer Deal die Möglichkeit zur Alija, im Zuge dessen der Großteil der jüdischen Bevölkerung das Land verließ. Sozialwissenschaftler bringen die Nachkriegsauswanderungen im Falle der ersten Generation mit der Shoah in Verbindung. Das Überleben des Genozids wäre demnach ein zweifaches: Man muss weiterleben, wenn man schon die Möglichkeit dazu hat, aber man muss das Land verlassen, in dem diese Gräuel 1 RUSHDIE, Salman: Scham und Schande. München: Piper Verlag 1985, p. 119. 2 Es gibt hier keine Möglichkeit, das je Spezifische des männlichen und weiblichen Erzählens zu thematisieren. Die Genderperspektive der Migration haben wir aufgrund unserer Interviewsammlung in einem anderen Beitrag diskutiert. Cf. KOVÁCS, Éva/ MELEGH, Attila: A vándorlást elbeszélő narratívák neme, avagy nők és férfiak elbeszélései - női és férfi elbeszélésmódok. [Das Geschlecht der Wanderungsnarrationen. Erzählungen von Männern und Frauen, oder männliche beziehungsweise weibliche Narrationen.] In: PETŐ, Andrea (Hg.): Társadalmi nemek képe és emlékezete Magyarországon a 19-20. században. [Repräsentation und Erinnerung sozialer Geschlechter in Ungarn in den 19. und 20. Jahrhunderten] Budapest: Nők a Valódi Esélyegyenlőségért Alapítvány 2004, pp. 175-198. <?page no="174"?> 174 Éva Kovács passieren konnten. Dem inneren Befehl zur Emigration folgte aber nicht nur die erste (die Generation der Überlebenden), sondern auch die zweite Generation, und sogar in der dritten findet er noch bis heute ein breites Echo. Shoah und Auswanderung waren und sind in den erzählten Lebensgeschichten der aus dem Ostblock ausgewanderten ungarischsprachigen Juden - wenn wir sie als Emigranten und Dissidenten interviewen - in vielen Fällen nicht voneinander zu trennen. Als ob für alle - natürlich für jeden auf seine eigene Art, im Zusammenhang mit der eigenen Lebensgeschichte - nur die Shoah eine Erklärung für die Migration sein könnte. Die Dualitäten von Triumph und Schande, Abenteuer und Selbstverlust, die Sehnsucht wegzugehen und das Sich-zurück-Sehnen, ziehen sich durch jede Flucht, jede Wanderung. Für die Auflösung dieser inneren Widersprüche sucht man master narratives (Mythen, Legenden, Märchen und Mythologien wie zum Beispiel die Odyssee oder die antijudaistische Legende von Ahasver), um der Wanderung einen Sinn zu verleihen - das erwartet von ihm, das bietet ihm, das zwingt ihm sogar die verlassene und gefundene Welt auf. 3 Das Problem der zu interpretierenden Texte, die Reflexion auf das »Entschweben« ist so alt wie die Menschheit. Man kann sich an sie wenden, wenn man in seiner eigenen Erzählung die zum Schicksalsereignis 3 gewordene Auswanderung interpretiert und seine neuen Bindungen erklärt. Man wendet sogar in den gemeinsamen Erzählungen über die tragischen Vorkommnisse des 20. Jahrhunderts diese alten master narratives an. 4 Demzufolge stehen dem Wanderer zahlreiche Möglichkeiten offen, wenn er ansetzt, seine Lebensgeschichte zu erzählen und zu interpretieren und seine Wanderer-Identität zu erfassen. Er muss jedoch neben der begrenzten Freiheit der Wahl auch mit dem Zwang der von der Gesellschaft akzeptierten Narrative rechnen. Vielleicht haften die beiden Themen, Shoah und Wanderschaft, deswegen so oft aneinander. Das muss jedoch nicht prinzipiell so sein. Unsere Frage ist nicht die, ob sich für die Post-Shoah-MigrantInnen ausschließlich der Genozid für die Begründung ihrer Wanderungen anbietet, denn diese Frage könnten wir einfach verneinen, weil es sowohl jüdische Auswanderungen vor der Shoah gab, als auch solche Juden, die nicht wegen der Shoah auswanderten. Viel spannender ist für uns die Frage danach - wenn es trotzdem wie eben geschildert geschieht - welche Gründe die Erzähler dazu motivieren, die Shoah als master narrative bei der Erzählung ihrer Lebensgeschichte heranzuziehen? Uns interessiert daher, wie sich die Shoah und die Emigration in der lebensgeschichtlichen Erzählung verbinden 3 Vgl. RICHIR, Marc: Phänomenologische Meditationen. Wien: Turia & Kant 2000. 4 Siehe KOVÁCS, Éva/ MELEGH, Attila: It could have been worse: we could have gone to America. In NYÍRI, Pál/ TÓTH, Judit/ FULLERTON, Maryellen (Hg.): Diasporas and Politics. Budapest: MTA PTI 2001, pp. 108-138. <?page no="175"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 175 und was für narrative jüdische Identitäten sie schaffen. 5 Im Folgenden stellen wir drei solche Erzählungen vor. 6 1 In die Flucht getrieben, eingesperrt: Ferdinánd Ferdinánd 7 , unser ältester Erzähler, wurde 1920 als einziges Kind einer wohlhabenden bürgerlichen jüdischen Familie in Budapest geboren. Die Universität konnte er wegen des geltenden Numerus clausus 8 nicht besuchen. 1942 wurde er einberufen und war zwei Jahre lang in Polen im Zwangsarbeitsdienst. Er kehrte 1944 mit falschen Papieren nach Ungarn zurück, dann floh er auf die gleiche Weise nach București/ Bukarest, dann nach Cluj-Napoca/ Klausenburg; die Befreiung (ung. felszabadulás) erlebte er schließlich in Kiskunhalas, Ungarn. Seine Eltern überlebten die Shoah im Budapester Ghetto. 1945 inskribierte er in Budapest an der Hochschule für Bildende Kunst, begann zu fotografieren, unterbrach aber bald seine Studien und bekam eine Arbeit als reisender Dolmetscher im Außenministerium. Er kehrte 1947 von einer Reise nicht mehr zurück, blieb in London. Mit der Unterstützung von jüdischen Organisationen inskribierte er an der dortigen Filmakademie. Sein gleichermaßen emigrierter ungarischer Freund in London überzeugte ihn, Mitglied einer zionistischen Gesellschaft zu werden, die ihn als Freiwilligen nach Palästina mitnahm. Er war in mehreren Städten, suchte Arbeit, aber schon bald floh er, mit einem israelischen Einberufungsbefehl in der Hand, mit dem Schiff zurück nach London. Dort fuhr er anfänglich abends Taxi, später wurde er Fotoreporter einer bedeutenden Tageszeitung. Bis 1955 bereiste er die Welt als Fotoreporter, lebte länger in Chicago, später in Rio de Janeiro und Sydney. 1955 siedelte er sich in Wien an und heiratete. Ab 1956 kümmerte er sich einige Jahre lang um die Anliegen der ungarischen 1956er Flüchtlinge in Wien, dann kehrte er zu seiner ursprünglichen Berufung zurück und war bis 1990 freier Fotograf. Ferdinánds Leben scheint auch symbolisch mit den Judenverfolgungen zu verschmelzen: in seinem Geburtsjahr wird das Numerus-clausus-Gesetz verabschiedet, und dieses Gesetz stellt sich ihm als Erwachsenem in den Weg, als er weiterlernen möchte. Zwar glaubten viele im Ungarn der 1920er und 30er Jahre trotz des Numerus clausus noch an die Möglichkeit der Assimilation und 5 Zur narrativen Identität cf. RICOEUR, Paul: Oneself as Another. Chicago: Chicago University Press 1992, pp. 113-139. 6 Unsere 67 Gesprächspartner suchten wir im Rahmen einer internationalen Studie in den Jahren 1999-2000 als Migranten auf. Viele von ihnen bezeichneten sich in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung als Juden. Von ihnen stammen auch die folgenden drei Lebensgeschichten. Die Übersetzung sämtlicher Zitate aus den Interviews besorgten Gerhard Baumgartner und Zsófia Kovács. Zu den Projektergebnissen cf. KOVÁCS/ MELEGH 2001. 7 Die Interviews wurden aus Rücksicht auf unsere Gesprächspartner anonymisiert. 8 Das erste Rassengesetz in Ungarn (1920), das den Universitätszugang jüdischer Studenten beschränkte. <?page no="176"?> 176 Éva Kovács daran, dass derjenige, der seinen Glauben aufgibt, berechtigt ist, ein friedliches bürgerliches Leben zu führen. Als Ferdinánd sich dessen besann, begann sich der Traum jedoch bereits aufzulösen. Er konnte nicht mehr an die Universität, wurde bald zum Zwangsarbeitsdienst einberufen und war zwischen 1942 und 1955 in ständiger Bewegung: In den ersten Jahren verfolgte man ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft - seine Flucht war also notgedrungen. Nach 1945 sieht es trotz der Befreiung so aus, als würde er weiterfliehen, und erst in Wien zur Ruhe kommen - einer Stadt, die seinem Geburtsort, seiner Kultur nahe, aber trotzdem sicher ist (man darf nicht vergessen, dass die Sovjets zu dieser Zeit bereits das Land verlassen hatten). Zwischen 1942 und 1945 hatte er wohl das Gefühl, dass die Flucht der einzige Weg sei, um am Leben zu bleiben. Und dann, als bliebe er in der Bewegung ›stecken‹: seine Berufe haben auch viel mit Reisen und Bewegung zu tun. Er geht seinen Weg, er bereist einmal als Dolmetscher, ein anderes Mal als einfacher Taxifahrer oder als Fotoredakteur die Welt, aber nicht einmal die Londoner Filmakademie oder die Möglichkeit einer englischen Filmerkarriere bieten ihm genügend Grund, um zur Ruhe zu kommen. Er flieht auch vor dem Krieg; und obwohl er auf Drängen seines Freundes nach Palästina reist, treibt ihn der Gedanke an das Militär nach einem halben Jahr wieder zur Flucht. Ferdinánd scheint erst nach zehn Jahren die Erschütterungen so weit überwunden zu haben, dass er sesshaft wird. Er zeigt sich als permanent Fliehender und Reisender. Als wäre das für ihn das einzige Pfand des Überlebens, der Möglichkeit zum Leben. Was befähigte Ferdinánd nach zehn Jahren dazu, sesshaft werden zu können? Welche Bedeutung hatte es für ihn, dass er Flüchtlingen aus Ungarn half? Was empfand er? Wem half er? Denen, die vor dem kommunistischen Regime Zuflucht suchten? Oder erlebte er alles, als würde er Juden zur »Freiheit« verhelfen, die in den »Händen der Mörder« geblieben waren? So viel ist sicher: Ferdinánd ist es nicht genug, dass er sich niederlässt. Er verbringt Jahre mit der Flüchtlingshilfe. Als ob diese Sorge um die ungarischen Flüchtlinge von 1956 die Kluft zwischen seinen »beiden Leben« überbrücken helfen könnte. Als ob genau das notwendig wäre, um die fortwährende Flucht endlich zu beenden und seine eigene schöpferische Karriere anzugehen. Vielleicht konnte er erst durch die Hilfeleistung an andere Flüchtlinge aufarbeiten, dass er nicht ausreichend Hilfe bekommen hatte, als er sie gebraucht hätte? Oder genau umgekehrt, trägt er in Gedanken an seine ehemaligen Helfer auf diese Weise seine Schuld ab? Ferdinánds Lebenslauf zeigt anhand der ausgewerteten Daten trotz seines langen Lebens merkwürdige Sequenzen und Unterbrechungen auf. Die mit der Shoah in Zusammenhang stehenden und seine nachfolgenden großen Bewegungen, ob Flucht oder Reise, sind ausreichend dokumentiert, während wir über die Zeit, die an einem Ort - wahrscheinlich in Frieden - verbracht wurde, fast keine biografischen Daten besitzen. Das macht sich in der Kindheit, aber auch an der langen, fast ein halbes Jahrhundert andauernden Periode bemerkbar, die mit der Ansiedelung 1955 beginnt. Könnte die Flucht auch in diesem Aspekt Fer- <?page no="177"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 177 dinánds Leben beeinflusst haben? Wäre für ihn bloß die Flucht erzählbar, hat er über die »Friedenszeit« nichts zu sagen? Oder gerade umgekehrt: sind die privaten Ereignisse der »Friedenszeit« schwerer zu erzählen als die gesellschaftlichen Katastrophen? Als würde es in seinem Fall nicht nur darum gehen, was bei Migranten schon früher beobachtet wurde, dass die Flucht eine Zäsur darstellt und die Zeiten vor der Wanderung schwerer in die Ereignisse von nachher integriert werden können (oder umgekehrt), sondern auch darum, dass die »friedlichen« und »freiwillig« unternommenen Reisen und Umzüge auch nur im Rahmen der Flucht der Schreckenszeit erzählt werden können. Zweieinhalb Stunden der insgesamt dreistündigen Erzählung Ferdinánds handeln von den fraglichen 17 Jahren zwischen 1940 und 1957, die der Interviewte mit einer Erklärung der Ereignisse der vergangenen fünfzig Jahre abschließt. Auf seine Kindheit und die Jahrzehnte nach 1957 geht er erst später, auf Nachfragen ein. In seiner Erzählung erinnert er sich an seine Kindheit: in aufblitzenden idyllischen Bildern von der liebenden Familie und den schönen Urlauben, die uns das diskriminierungsfreie bürgerliche Dasein vor Augen führen. Aber er lässt nicht mehr als eben nur ein Aufblitzen zu, er entfaltet die Idylle nicht und verunsichert uns damit, sollen wir diese für die Realität oder für Phantasie, für die obligatorische Fassade der glücklichen Friedenszeit halten? Stattdessen werden - ständig auf die Einhaltung der chronologischen Reihenfolge achtend - seine Flüchte und Wanderungen aufgetischt, um dann über das bereits von Idylle befreite Zurückfinden in den bürgerlichen Wohlstand zu sinnieren. Seine Texte werden von Erzählungen über Bewegung beherrscht, der man auf Grund ihrer verwirrenden Dichte nur schwer folgen kann. Das geht so weit, dass Verben, die Bewegung ausdrücken, am häufigsten vorkommen. Während die Erzählung der Shoah und der langen Flucht ereignislos, distanziert und aus literarischen Geschichten ist, wird Ferdinánd zum Abschluss ideologisierend. Seine kurzen Berichte über die Kindheit sind hingegen gefühlsbetont. Sehen wir uns seinen Textteil über die Shoah genauer an: ’40 habe ich Abitur gemacht, dann gab es schon - ›Numerus Nosus‹ und es war ziemlich unangenehm sich diese Bemerkungen anzuhören, und dann dann versuchte ich zu inskribieren, aber es konnte keine Rede mehr sein von irgendeiner universitären Anmeldung, und ich versuchte es bis ’42 hin und her und wurde im Herbst ’42 einberufen, - mit einer SAS-Einberufung in eine Strafkolonie. Ich wurde in Vác in so eine Strafkolonie eingeteilt und war nach einem Monat bereits auf polnischem Gebiet, das ging so bis ’44, ich war in drei, vier solchen Kompanien, immer nur mit Glück und vor allem mit Grips, denn ich sah - dass ich das nicht überleben werde, weil - ich schmächtig und klein war, und ich sah mir diese zwei Meter großen Burschen neben mir an und dachte, wie gut die es haben, sie werden nach Hause kommen und ich nicht, und das Ende - im Endeffekt fielen die Großen zuerst und die Dünnen blieben überall am Leben. Ich habe versucht, mich rauszuschummeln - ich ging mit gefälschten Papieren zu anderen Einheiten, ich schnitt mir unter die Zunge, dass - dass ich Blut spuckte in den meterhohen Schnee und sagte, dass ich lungenkrank sei, sie wussten nicht, dass die Lunge kein Blut hervorbringt. <?page no="178"?> 178 Éva Kovács Wieder ein Krankenhaus, wieder kam ich zu einer anderen Einheit, und so gelang es mir im September ’44 ins Land [nach Ungarn] zu kommen. Ferdinánd erzählt über diese Zeit, als sei er in fortwährender Flucht, Bewegung und in erzwungener Bewegtheit gewesen - obwohl wir wissen, dass er Monate an einem Ort verbracht hatte. Die alltäglichen Belastungen des Arbeitsdienstes frischt er nicht auf, berichtet nicht über die dort gesehenen Gräuel, die schweren Momente der Flucht tauchen nicht auf, er weist nur manchmal auf sie hin. In seiner Erinnerung nehmen den Platz der Gräuel das »in die Falle Tappen« und die erfolgreichen Fakten der Flucht ein. Die Schrecknisse der Shoah weist er von sich - und lebt gleichzeitig mit ihnen, indem er sein Überleben mit der andauernden Flucht erklärt. Und obwohl er für seine Taten nicht wenig Mut aufbringen musste, zieht er für seine Selbstdarstellung - obwohl er es eigentlich ruhig tun könnte - nicht das Bild eines Helden heran. Er stellt Taten, wie die Produktion falscher Papiere, das Aufschneiden seiner Zunge oder eine Geschichte, die hier nicht zitiert wurde, nämlich als er in falscher Uniform in die Zentrale der Pfeilkreuzler spazierte, als alltägliche, als gewöhnliche »Betrügereien« dar. Bis heute betont er nicht, dass er mutig, man könnte auch sagen, heldenhaft war - er hat ja, während er sich versteckt hielt, mehrere Menschenleben gerettet - sondern nur die Tatsache, dass er es geschafft hat, am Leben zu bleiben: als ob er heute deswegen tief in sich drinnen ein schlechtes Gewissen hätte. Auch die Erzählungen über die Jahre nach der Befreiung sind dadurch gekennzeichnet, dass er von allen Ereignissen gerade die außergewöhnlichen für selbstverständlich hält. Er berichtet lange darüber, wann und wohin er als Dolmetscher reiste - als ob er zwischen 1945 und 1947 immer auf Achse gewesen wäre. Das tut er, obwohl es so aussieht, als wäre er tatsächlich nur sieben Mal für ein Paar Tage im Ausland gewesen und hätte die restliche Zeit wahrscheinlich im Ministerium verbracht. Von Letzterem spricht er aber trotzdem nicht. Als ob ihm diese Jahre heute schon so erscheinen würden, als hätte er sie als Auswirkung der Shoah in einer geistigen Verfassung erlebt, in der er die Sicherheit und sich selbst nur durch ständige Bewegung und Flucht fand, gleichsam seine späteren Bewegungen, seine Emigration legitimierend. Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum Ferdinánd - obwohl er binnen eines Tages beschlossen hatte, nicht in die kommunistische Partei einzutreten, sondern lieber zu dissidieren - den politischen Konflikt trotzdem nicht darstellt und seine damalige Entscheidung nicht untermauern möchte. Er gibt einfach kund, dass er gegangen ist: Die Lage war schon wirklich hässlich Ende ’47. Dann brachten sie eine - eine Liste ins Ministerium, nur die Parteiliste, und an diesem Abend ging ich zu meinem Freund und sagte ihm: »Du, Sanyi, ich unterschreibe das nicht.« Dann schimpfte er mit mir, sagte: »Du bist nicht normal, du weißt nicht, was dir für eine Zukunft bevorsteht, du sprichst Sprachen, man hat dich auf die Hochschule aufgenommen, du weißt nicht, was du für eine Zukunft hast«. »Das interessiert mich alles nicht, ich <?page no="179"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 179 trete nicht ein in die Partei«, sagte ich. »Was willst du tun? « »Ich gehe weg«, und am nächsten Tag gab es so eine Gesandtschaft, mit der ich über Hegyeshalom nach Österreich kam, dann nach London. In seinem Text erscheint die damalige Entscheidung als Kombination von Notwendigkeit und glücklichem Zufall. Gleichzeitig deutet seine Fortsetzung darauf, dass seine lange Flucht in London zu Ende gekommen wäre, hätte ihn sein Freund nicht in das Abenteuer in Palästina ›hineingeritten‹: Da kommt eines Tages mein Freund und sagt: »Hör zu, wir fahren übermorgen.« Ich sage: »Das geht nicht - wohin? « Er sagt: »Nach Palästina.« »Wohin fahren wir? « »Nach Palästina.« Ich sagte: »Du bist ja nicht normal! « »Das interessiert mich nicht«, antwortete er. Man brachte uns mit einem Zug weg und sagte uns dann in der Nacht, dass man noch irgendwo hinübergehen muss, wo wir dann in ein Schiff steigen werden. Als ob er heute den »Abstecher« nach Palästina nicht mehr als seine eigene Entscheidung akzeptieren könnte. Wie auch im Text über das Verlassen Ungarns, skizziert er auch hier die Migration wie einen zwangsläufigen Zufall, in den er von einem Moment zum anderen hineingetrieben wurde: Man steckte uns in so eine alte Dakota-Maschine, damit wir dann auf das Schiff kommen. Jeder stieg ein, man bekam bereits die Fallschirme umgeschnallt, es war kalt, ich fror, ich hatte auch Hunger, wir waren so ungefähr 23, und ich erwachte in der Früh, weil es zog, irgendwie war die Tür des Flugzeugs offen und wir waren in der Luft und ich schaute, ob ich träumte oder halluzinierte, was das war, immer verschwand ein dunkler Fleck, es war mal hell, mal dunkel. Er schildert die Reise wie einen Angsttraum, doch gibt es kein rettendes Erwachen: […] und dann sah ich, dass sie hinaussprangen, und sagte auf Englisch zu einem der Typen: »Was ist los? « »Jetzt sind wir am Ufer, wir steigen jetzt schon aus.« Ich sagte: »Wir steigen aus, aber wo sind wir denn, was heißt, wir steigen aus, ich habe in meinem Leben noch kein Flugzeug gesehen? ! « Er versetzte mir so einen Tritt in den Hintern, dass ich fertig, dass ich auch schon fertig war, das war ein selbstaufgehender Fallschirm, ich sagte mir: »Fredi, jetzt kannst du ein Gebet sprechen, was du willst, wie du nur kannst« - und unten sammelte man uns zusammen, schnell entfernte man uns vom Ufer und führte uns zu so einem Lager. Die Frage nach dem Gehen oder Nicht-Gehen wird in den beiden Grenzübertrittsgeschichten als Spannungsfeld zwischen ›Normalität‹ und ›Abnormalität‹ aufgespannt. In beiden Dialogen ist derjenige ›normal‹, der bleibt. Nur die Rollen werden vertauscht: in der ersten Geschichte ist er derjenige, der gerne gehen würde, in der zweiten, derjenige, der lieber bliebe. Schließlich zeigt er sich in beiden Fällen als der, der die ›Abnormalität‹ - nämlich die Reise - wählt. Ging es darum, dass man sich, wenn man der Shoah entgangen war und nicht später mit den Zurückgekehrten in Ungarn blieb, zumindest auf die Seite derer stellen sollte, die für den Staat Israel kämpften? Als ob Ferdinánd mit dem Wi- <?page no="180"?> 180 Éva Kovács derspruch zu kämpfen hatte, ob jemand vor der Verantwortung des Überlebenden davonlaufen darf. Es scheint, als hätte die Reise nach Palästina für ihn die Erfahrung der ständigen Bewegung fast über ein Jahrzehnt lebendig gehalten. Sein Jahr in Palästina/ Israel beschreibt er ebenfalls in der vorher dargestellten Weise: Er ging von einem Amt zum nächsten, zog von einer Stadt in die andere, bis er den zweiten Einberufungsbefehl seines Lebens in der Hand hielt und sofort floh. Vom Alltag in Israel hingegen berichtet er nicht. Und auch jetzt wissen wir noch nicht genau, was sich hinter der Erfahrung der ständigen Bewegung verbirgt. Ich sagte: »Na gut, da kann man nichts machen«, ging nach Haifa und kehrte in einem Flüchtlingsboot, im untersten Teil - unter schrecklichen Umständen - nach England zurück, und es war der größte Skandal, weil ich schon wieder Flüchtling war, ich war schon einmal dort als Flüchtling, ging weg als Auswanderer und kehrte nun wieder zurück, ich bekam dann eine Aufenthaltsgenehmigung und begann Taxi zu fahren, und es war sehr angenehm die englische Sprache zu pflegen. Ferdinánd präsentiert sich noch immer als Verfolgter, obwohl die Geschichte auch zeigt, dass er nicht fähig war, auf die Seite der Kämpfenden zu wechseln. Als ob er wieder nicht das Bleiben, ›die Normalität‹ - die wahrscheinlich Kriegserinnerungen in ihm wachgerufen hätte - wählen konnte. So ist es nicht verwunderlich, dass wir ihn wieder als Flüchtling sehen. In seiner Erzählung scheint er im Laufe der Jahre in London, Chicago, Rio de Janeiro und Sydney langsam zu sich zu finden: Das Fliehen tauscht er - zumindest formell - gegen die freie Wahl des Lebensortes ein. Obwohl in seinem Text noch immer sehr viel Bewegung ist, tauchen immer öfter Protagonisten seines Lebens darin auf (Zeitungsredakteure, Fotografen, Liebschaften) - meistens jedoch noch immer als Auslöser, Unterstützer oder Verhinderer von Veränderung. Die wahre Wende bringt 1956. Ab diesem Zeitpunkt bewegt sich Ferdinánd nicht mehr. In seinem Leben und seiner Erzählung sind das Fliehen und die Flucht noch immer gegenwärtig. Jetzt handelt es sich nicht mehr um seine eigene Flucht, sondern um die anderer, der Ungarnflüchtlinge. Als ob Ferdinánd die Flucht noch immer nötig hätte, als ob er ohne Flucht nicht erzählen könnte, nicht über wirklich Alltägliches, über die Arbeit, Familie. Aber langsam kann er umschalten, um über die Flucht anderer zu erzählen. Sein Text zeugt davon, dass er sich auch wirklich mit Hilfe der Tragödie der 1956er Flüchtlinge befreien konnte: Endlich kann er jetzt über sich sprechen, als über einen, der nicht »zu flüchten« braucht. Jetzt ist er derjenige, der den Flüchtlingen hilft. Der 1956er Revolution an sich misst er in seiner Erzählung keine große Bedeutung bei: es gibt keine politische Argumentation, keinen Hinweis auf die konkreten Ereignisse in Ungarn; fokussiert werden die Hilfeleistung, das Organisieren und die damit im Zusammenhang stehenden Konflikte. Dann erzählt er, wie enttäuscht er plötzlich von seinen Wiener Bekannten gewesen sei, von einigen seinen Kameraden, die die Shoah überlebt hatten, die mit der Flucht <?page no="181"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 181 ein Geschäft machten, und wie er sich daraufhin zurückgezogen habe. Schon nach einem ersten Blick auf seine biografischen Daten scheint es so, dass ihn die Revolution paradoxerweise - weil er immer auf der anderen politischen Seite gestanden hatte - vom Zwang zur Flucht befreit hätte, sodass er in den bürgerlichen Alltag zurückkehren konnte. Aber verhält es sich wirklich so? Ist er wirklich befreit vom inneren Befehl zur Flucht? Ferdinánd bietet uns im Interviewsetting im Kontext der Wanderschaft diese Lebensgeschichte. Die Ereignisse nach 1956 kann er nicht im Rahmen der Wanderung erzählen. Weil ich gelernt habe, dass dem sein großes Elaborat, sein Buch, Das Geld [eigtl.: Hitel/ dt. Kredit], dazu gibt es eine dreibändige Fortsetzung. Im ersten Band steht, dass man sich das Geld beschaffen muss. Jedermann hatte in seinem Leben solche Perioden, dass ihm was gelungen ist. Der zweite Band handelt davon, dass du das Geld, das du verdient hast, versuchen sollst zu behalten, nicht so dass du dann erzählst, also pass’ auf, wie viel ich 1956 verdient habe, jeden Tag hab’ ich ein Haus gekauft, na und jetzt zahlen Sie bitte meinen Kaffee! Und der dritte Band, was das Allerschwierigste ist und was mir leider sehr sehr oft begegnet ist, das ist das, dass das Geld, das du verdient hast und behalten hast, dass dir das ja nicht zu Kopf steigt, dass du nicht in eine Cäsaromanie verfallen sollst, sondern dass du damit umgehen kannst. Man braucht keinen Mercedes, oder ich weiß nicht was, man muss das nicht nach außen zeigen, man kann auch so gut leben, ohne dass man zeigen muss, was man hat, denn viele sagen, was fährst du mit einem Opel, warum kaufst du dir nicht einen Mercedes? Ich brauch das nicht, also ich konnte Gott sein Dank alle drei behalten, und aus diesen drei Buchauszügen, da lebe ich sehr, sehr gut, lebe ich bequem, bin alt geworden, fertig, das Alter, das ist ein Zustand, an dem muss man sich genauso gewöhnen, wie an vieles andere, fertig, nichts anders. Er betrachtet seine lange Lebensgeschichte an diesem Punkt als beendet, und generiert uns die folgende Botschaft: Es gibt Leben, solange es Wanderung gibt. Wir fragen umsonst nach. Die Geschehnisse nach 1956 kann er in diesem Kontext nicht erzählen, er berichtet sichtlich anhand einer ganz anderen, sequenziell geordneten Karrieregeschichte vom letzten halben Jahrhundert, in der es um das Geld geht. In dieser Erzählung scheint es so, als würden den Platz der geografischen Bewegungen immer neue Positionen und Aufgaben einnehmen, was darauf hindeutet, dass er tief in seiner Seele bis heute eine verstecktere Form der Flucht lebt. 2 Unterwegs angekommen: Miklós Miklós wurde 1955 in Budapest als viertes Kind einer nicht religiösen jüdischen Familie geboren. Sein Vater überlebte die Shoah als Zwangsarbeiter, seine Mutter im Budapester Ghetto. Nach 1945 hatte die stetig wachsende Familie aus <?page no="182"?> 182 Éva Kovács den Einnahmen von Übersetzungsarbeiten des Vaters zu leben begonnen - die Eltern traten nie in die kommunistische Partei Ungarns ein. Miklós besuchte Grund- und Mittelschule mit deutsch-französischem Schwerpunkt, absolvierte die Fächer Deutsch und Französisch der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös Lóránt Universität in Budapest und kurz darauf auch das Fach »Fachdolmetschen in der Wirtschaft«. Er arbeitete ab 1977 als Fachdolmetscher bei mehreren Außenhandelsfirmen. 1980 heiratete er, seine Frau war Außenhandelsvertreterin in Budapest. Sie bekamen drei Kinder. In der Zwischenzeit gründete Miklós gemeinsam mit drei seiner Kollegen eine Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Fachübersetzungen. 1989 gründete eine ungarische Firma, bei der Miklós angestellt war, ein joint venture mit einer österreichischen Bank, Miklós wurde nach Österreich versetzt. Seitdem lebt er mit seiner Familie in Wien. Die Biografie deutet darauf hin, dass Miklós zu jenen Menschen gehört, denen der Regimewechsel Ende der 80er zugute kam. Der im letzten, schon ziemlich lockeren Jahrzehnt des Sozialismus wenig an Politik interessierte, auf neutralem politischem Boden agierende Mann, der einen gut bezahlten Beruf erlernt hatte und später auch ausübte, baute eine berufliche Karriere auf, die geradewegs zum ungarisch-österreichischen joint venture und später zum Umzug in das finanziell bessere Möglichkeiten bietende Österreich führte. Aber was passierte während all dieser Entwicklungen mit Miklós’ Identifikation, seiner jüdischen Herkunft, mit seiner Vergangenheit? Die Daten deuten auf eine »normale« ökonomische und soziale Entscheidung, in der die Emigration nach Wien für ein Wiederzurückfinden zum (assimiliert-jüdischen) bürgerlichen Dasein stehen könnte. Miklós gab uns, obwohl er - wie man bereits an seinen biografischen Daten erkennen kann - wortkarg über sein Leben berichtete und den Fokus auf seine berufliche Laufbahn legte, ziemlich viel Information im Zusammenhang mit der Shoah. Von seinen Eltern wissen wir, dass sie die Schreckenszeit überlebt hatten und dann nicht zu Befürwortern des Regimes wurden, wie auch Miklós versuchte, sich auf politisch neutralem Gebiet zu bewegen. Die Daten lassen darauf schließen, dass die beiden Hauptthemen in Miklós’ Biografie die Shoah und die Karriere sind. Gleichzeitig scheint bei ihm im Gegensatz zur Mehrzahl der MigrantInnen die Auswanderung nicht als Zäsur auf. Es scheint, als hätte Miklós in den 1970er und 80er Jahren als Erwachsener mit den Möglichkeiten und Begrenzungen des Regimes so leben können wie so viele andere, die im Kádárschen Gulasch-Sozialismus unpolitisch-friedlich-wohlhabend wurden. Da wir ihn als Ausgewanderten aufsuchten, galt die Geschichte, die er uns erzählte, auch dieser Interviewsituation. Die Erzählung analysierend können wir uns die Frage stellen, welche Bedeutung die Shoah im Kontext der Migration bekommt, wie sich die Schreckenszeit in die von außen vollkommen ›glatte‹, auf die Migration aufbauende, Erzählung einfügt. <?page no="183"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 183 In seiner Erzählung hält sich Miklós an die chronologische Reihenfolge. Er berichtet kurz darüber, was 1944 mit seiner Familie passiert war, dann zählt er seine Studien und Stellen auf, die alle von Erfolg gekrönt waren. Das Thema ›Judentum‹ wird nicht erwähnt. Als er zum österreichischen Jobangebot gelangt, fährt er so fort: Beim Weggehen - spielt sicher das Trauma eine Rolle, das -- was unsere Familie eigentlich nie verarbeiten konnte, dass die Nazis im Zweiten Weltkrieg meine Großeltern ermordet haben, und und sie waren eigentlich ziemlich wohlhabende Menschen, sie hätten bis zum letzten Augenblick aus Ungarn weggehen können, solange man noch weggehen konnte, und sie sind nicht gegangen. Miklós erwähnt seine jüdische Herkunft und die Shoah zum zweiten Mal also in Verbindung mit der Emigration. Die Auswanderung erklärt er damit, dass auch seine Familie vor der Shoah hätte fliehen können, aber dies unterlassen hat - ausgehend von diesem ›Irrtum‹ und dem darauf folgenden Sterben, zog Miklós die Konsequenz, das Land verlassen zu müssen. Weil es gefährlich ist, dort zu leben? Vielleicht deshalb, weil er ›zufällig‹ dort geboren wurde? Und warum genau 1989? Und warum verließen die Eltern, die keine Anhänger des Kommunismus waren, nicht schon früher, 1945 oder 1956, das Land? Miklós erklärt weiter: […] ich zog für mich die Konsequenz, dass, wenn, wenn man von hier weggehen kann, dann muss man weggehen, weil Mitteleuropa ist ein gefährlicher Ort, langfristig gesehen ein geschichtlich gefährlicher Ort, wo alles passieren kann. Und wenn man die Chance bekommt, seine Familie hinüberzuretten an einen - einen - einen - zivilisierteren Ort, dann - dann muss man das tun. Man muss gehen. Obwohl 1989 viele in Ungarn vor der Wiederauferstehung des Antisemitismus Angst hatten, stellt Miklós das nicht in dieser Form dar. Er beruft sich auf geschichtliche Erfahrungen (»langfristig gesehen ein geschichtlich gefährlicher Ort«). Weder beruft er sich auf den Antisemitismus und konkrete Gefahren, noch spricht er von Rettung (menteni), sondern von »Hinüberrettung« (átmenteni), und benützt damit einen gerade im Zusammenhang mit der Wende sehr häufig verwendeten Ausdruck, den man vor allem gebrauchte, um den ›Transfer‹ von Geld und Macht zu beschreiben oder vielleicht das Sich-aus-der-Affäre-Ziehen, bevor man zur Verantwortung gezogen werden könnte. In seinem Text ist keine Rede davon, dass, wenn man unbedingt gewollt hätte, schon in den 1970er und 80er Jahren die Möglichkeit bestand, auszureisen, zu »dissidieren«. Aus seiner Biografie wird ersichtlich, dass ihn die Idee der Auswanderung, solange der Eiserne Vorhang dem »Hinüberretten« im Weg stand, nicht beschäftigt hatte. Er stellt es auch nicht so dar, als wäre er - frei nach dem damals kursierenden Witz - aus Abenteuerlust lieber zu Hause geblieben. Er lässt es lieber so aussehen, als hätte er - genauso wie seine Eltern und Großeltern - das Verlassen »des geschichtlich gefährlichen Ortes« dem Schicksal überlassen. Er präsentiert seine Auswanderung als eine große Überwindung: »man muss es tun«, »man muss ge- <?page no="184"?> 184 Éva Kovács hen«. Aber was bedeutet die Aussage, dass Österreich »zivilisierter« sei? Dass es weniger antisemitisch ist? Oder deutet Miklós daraufhin, dass er von Österreichs Reichtum angezogen ist, von einem Leben, das im Alltag größere Bequemlichkeit bietet? Es war eine enorm, enorm wichtige Sache, dass wir gesagt haben, nur provisorisch, wir kämen nur für eine kurze Zeit, denn am Anfang ging alles so schwer, und wir fühlten uns so unruhig, und das war unser Rettungsring, dass wir gut, gut, es ist jetzt alles schlecht, aber wir verdienen mal, legen es auf die Seite, dann gehen wir nach Hause und leben wie Könige. Und wir stritten jeden Tag, ob wir zurückgehen sollten oder nicht, dass es reicht. - Und dann war dieses Streitthema irgendwie verblasst, und dann fiel uns auf, dass wir meine liebe Güte, seit einem halben Jahr nicht mehr darüber gestritten haben, wann wir zurückgehen sollten. Seine durchgängige und chronologische Erzählung bleibt daher an diesem Punkt stecken und verweilt bei der Frage, die er sich selbst stellt, warum sie eigentlich gehen mussten und was ihnen das Gehen eigentlich bedeutet hat. Die Trivialität der Shoah-Konsequenzen wird bei Miklós Schritt für Schritt in Frage gestellt: Obwohl er es für ein fundiertes und überzeugendes Motiv hält, dass er ging, weil seine Eltern das nicht getan hatten, ist er verunsichert, wenn er damit konfrontiert wird, dass er Ungarn tatsächlich verlassen hat. Die früheren Generationen der Familie hatten sich dem tradierten nicht gebeugt. Miklós hingegen, der auch flüchtete, stellt diese Tat als aufgrund von Heimweh nur schwer realisierbar dar: er beschreibt die erste Zeit als »unruhig« und »voll von Streit«. Er präsentiert seine Geschichte so, als wäre sein Dasein in Österreich Zwang gewesen - als wären die Grenzen nicht offen gestanden, als wäre die Rückkehr nur unter schrecklichen Gegebenheiten möglich gewesen. Er präsentiert sich also als einer, der sich trotz aller Widrigkeiten dem Befehl beugt und im Ausland bleibt, auch wenn »alles schlecht ist«. Er erlebt also auch diese in Wahrheit viel freiere Welt durch die phantasierte Welt der ewigen Verbannung. Und wie in der ersten Geschichte Ferdinánd, versucht auch Miklós sich auf Biegen und Brechen am finanziellen, am bürgerlichen Wohlstand und am Versprechen des reich Zurückkehrens festzuhalten. Es scheint so, als würde in seinem Text aus den Schlussfolgerungen, die ihm die Shoah vorgibt, mit der Zeit der Wunsch nach bloßem Wohlstand durchscheinen - Miklós hält es aber trotzdem nicht für vertretbar, auszusprechen: Obwohl jeder Ortswechsel Schwierigkeiten bringt, lebt die Familie in Österreich viel besser, als sie dies in Ungarn tun könnten, und das hat sich gelohnt, das lohnt sich für sie noch heute. …als sei sein letzter Satz ein Schritt zum Eingeständnis, dass die anfänglichen Eingliederungsschwierigkeiten und das Heimweh mit der Zeit geringer wurden und die Familie in Österreich zur Ruhe fand. Auch die Fortsetzung deutet darauf hin: Er berichtet darüber, wie sie durch die Arbeit und die Kinder in Wien Wurzeln schlagen konnten. Und wie damit einhergehend die Bindungen an Ungarn Schritt für Schritt verblasst sind. Jetzt tauchen weder Judentum noch Shoah <?page no="185"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 185 auf: Miklós berichtet stolz von den Erfolgen seiner Kinder und schildert sichtlich affektlos, wen und was er in der Heimat verlor, indem er nach Wien gezogen ist. Der von vielen Migranten erster Generation bekannte Monolog schimmert auch in seiner Erzählung durch: bescheiden aufgeblasene Geschichten am neuen Ort, leise enthüllte Verluste am alten. Die ritualisierte Erzählung handelt vom langen Weg nach der physischen Trennung über den neuen Übergang in die fremde Welt bis zur Ankunft, die Miklós so beendet: Wenn ich mich definieren müsste, was - was ich für einer bin, dann hätte ich ein großes Problem, denn -- denn -- denn ich könnte nur unterschiedliche Mosaiksteine aus einem Bild wählen, aber was das Ganze darstellt? Weil - weil ich fühle mich auch als Ungar und als Mitteleuropäer und als Weltbürger und als Jude, mit keiner Definition kann ich mich hundertprozentig identifizieren, aber ich würde auch auf keine für kein Geld der Welt verzichten. Nun, wenn der Mensch sich solche vielschichtigen - Identitäten aufbaut, dann steht er dazu, dass ihn die Ungarn vielleicht nicht als ganzen Ungarn, die Juden nicht als ganzen Juden -- aber - aber es würde mich unglaublich verletzen, wenn ich nach irgendeiner Seite hin eine Grenze ziehen müsste, dass das nicht, weil --. Nun, als was ich mich überhaupt nicht empfinde, das ist Österreicher zu sein (er lacht), und ich weiß nicht, ob sich der Mensch überhaupt als Österreicher fühlen kann, und was habe ich mit einem Volk zu tun, das Hitler feierlich empfangen hat und wo jeder vierte den Haider wählt? 9 Mit seiner Erzählung in der Gegenwart angekommen formuliert er für sich aus der Perspektive des nach Wien Emigrierten die Frage: »Was bin ich denn für Einer? « Ungar, Mitteleuropäer, Weltbürger und Jude, aber keines davon ganz, sagt er - als ob er befürchtete, dass ein Mensch gar keine so ›vielschichtige‹ Identität haben könnte, denn dann könnten ihn sowohl die Ungarn als auch die Juden ausschließen. Zwischen den beiden Punkten fungieren sein Mitteleuropäer-Sein und sein Weltbürgertum als Brücke. Er stellt sich so dar, als müsse er zwischen ›Identitätsmustern‹ wählen und als würde er auf paradoxe Weise von diesen vier, die er sich wählte und die er uns nannte, gleichzeitig gebunden sein und beflügelt werden. Und obwohl er es vielleicht gerne tun würde, weil es seine Sesshaftigkeit bedeuten würde, kann er sich nicht als »Österreicher« empfinden. Es ist also die Lust und Sehnsucht zur Flucht (das so genannte ›on the road‹ oder ›in-between‹ master narrative), die er aus der Shoah ableitet, ein wichtiges Element seines Selbstbildes. Gleichzeitig kann man aber auch sagen, dass er eine charakteristische mitteleuropäisch-urban-intellektuelle Selbstdefinition vorbringt - die nicht nur in jüdischen Kreisen gängig ist. 10 Miklós begann seine Erzählung damit, dass »Mitteleuropa ein gefährlicher Ort sei«, trotzdem sagt er am Schluss des Interviews von sich - als einer, der das »östliche« Mitteleuropa 9 Das Interview wurde Im Jahr 2000 geführt. 10 Siehe aus dem literarischen Gebiet zum Beispiel: KUNDERA, Milan: Das Leben ist anderswo. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; aus dem Gebiet der Politikwissenschaft: BUSEK, Erhard/ WILFLINGER, Gerhard (Hg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Wien: Edition Atelier 1986. <?page no="186"?> 186 Éva Kovács verlassen hat - dass er (auch) Mitteleuropäer sei. Was bedeutet dieses verlassen-gefundene Mitteleuropäisch-Sein? In unserem Kulturkreis bedeutet(e) Mitteleuropäer zu sein - um mit Milan Kundera zu sprechen - dass wegen der unerträglichen Leichtigkeit des Seins das Leben immer anderswo ist (war). Dieses misstrauische, in Grenzen gesperrte und dieses zugleich ständig übertretende, ehemals »grenzverletzende« Dasein war das Mitte der östlich-mitteleuropäischen Intelligenz, um an ihrer Welt zu hängen und diese zugleich abzulehnen. Diese Art der Existenz machte den Verbleib innerhalb ›des Blocks‹ ebenso schwierig wie das Ankommen außerhalb ›des Blocks‹. Ein Grundstein dieser Identität wurde die ständige reale und/ oder virtuelle Bewegung, die Phantasie und das Gefühl des »reisenden Seins«. 11 In Miklós’ erzählter Lebensgeschichte hingegen finden wir diese Spuren des intellektuellen Daseins nur verstreut. Sein reisendes Ich wird in Wahrheit von seiner jüdischen Herkunft und der Shoah genährt; 12 in seinem Geständnis vereinigen sich zwei gesellschaftlich akzeptierte master narratives, sein mitteleuropäisches Sein ›bekräftigt‹ die sonst vielleicht zu schwache Shoah-Interpretation. Miklós scheint damit zu kämpfen, wie er diesen Widerspruch in sich auflösen könnte, warum seine Eltern nicht einmal in der Schreckenszeit aus Ungarn geflohen waren, er aber, sobald dies aufgrund der Grenzöffnung leicht war, die bereits gefahrlose Heimat verließ. Wie kann der Mensch nach der Shoah gleichzeitig treu und weise sein, ungarisch und jüdisch? Und wenn man jeweils beides ist, was sucht man dann in Österreich, dem Land mit einer nationalsozialistischen Vergangenheit und politischen Gegenwart, die beide peinvoll sind? Dieser Konflikt lässt sich aber mit der Taktik des Mitteleuropäer- und Weltbürger-Seins aufzulösen, da die Idee für beide in Wien geboren wurde. Miklós könnte es ja so erleben, dass diese Stadt heute um nichts gefährlicher ist, als Budapest für ihn wäre, und indem er dorthin ging, er mehr oder weniger auch dem ererbten Befehl gehorchte. Er fand zwar nicht das Gelobte Land, wo er als Jude sicher nicht verfolgt würde, aber zumindest sein eigenes privates Wohlergehen. 11 In der neueren, postmodernen Anthropologie wurde der Begriff der »in-between« Identität wieder produktiv gebraucht. Ein Grund dafür ist sicher das Erscheinen einer neuen und eigentümlich aus der Bewegung hervorgehenden Identität der in Bewegung befindlichen, der globalen Nomaden. Diese Identität lässt sich nicht in die gängigen Kategorien von Identität und Ethnizität einordnen. Siehe: BHABHA, Homi K.: Culture’s in-between. In DUGAY, Paul (Hg.): Production of Culture/ Culture of Production. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage 1996, pp. 53-60. 12 Für das Thema des sich in ständiger Bewegung befindlichen Juden beziehen wir uns hier exemplarisch auf zwei Romane; der eine skizziert das ewige »Umherirren« vor der Shoah, der andere das »unruhige auf dem Weg sein«. Siehe ROTH, Joseph: Juden auf Wanderschaft. In DERS.: Werke 3. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, pp. 291-371; SINGER, Isaac B.: Feinde. Die Geschichte einer Liebe. München: Hanser 1974. <?page no="187"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 187 3 Die Ambivalenz der ständigen Wanderung: Max Max, der jüngste unserer Wanderer, wurde 1957 in Timișoară/ Temeschburg/ Temesvár (Rumänien) geboren. Seine Eltern waren aus Jugoslavien nach Rumänien gekommen. Die Eltern lebten zwischen 1941 und 1946 in Istanbul; beide stammten aus ungarischsprachigen religiös-jüdischen Familien, die, obwohl sie die Traditionen nicht mehr befolgten, aus ihrer Abstammung kein Geheimnis machten. Nach 1945 verließen die Verwandten nach und nach Rumänien. Zu Beginn der 1950er Jahre zog die Familie nach București. Max ging dort zur Schule und machte sein Abitur in einem Gymnasium mit französischem Zweig. 1977 entschlossen sie sich zur Alija, aber die Eltern siedelten 1979 zurück von Israel in die Schweiz und leben seither in Zürich. Max blieb in Israel, weil er seine Studien an der Wirtschaftsfakultät der Tel Aviver Universität noch nicht beendet hatte. Zu Beginn freundete er sich mit Israelis an, später suchte er die Gesellschaft von dort lebenden Rumänen. An der Universität lernte er Englisch. Er machte sein Diplom, war bei der Armee und absolvierte dann eine business school in Boston. 1987 bekam er eine Stelle bei der Citibank in London, kam dann 1988 zur Schweizer Filiale und zog nach Zürich. Er nahm sich eine Wohnung in der Nähe seiner Eltern. Er lernte in der Züricher jüdischen Gemeinde seine spätere Frau Judit kennen, die als Kind einer ungarischsprachigen jüdischen Familie aus Bratislava/ Pressburg (Slovakei) in den 1970 Jahren in die Schweiz emigriert war. Max und seine Frau sprechen zu Hause Ungarisch. Zum Zeitpunkt der »Wende« kam Max als Leiter der Citibank nach București, seine Aufgabe war die Einrichtung der dortigen Dépandance. 1993 kam ihre Tochter zur Welt, und die Familie zog nach Budapest. Seither pendelt Max zwischen Budapest und București. Zu Beginn flog er wöchentlich, später zwei Mal monatlich von einer Stadt in die andere und zurück. 1995 verließ er die Citibank und gründete eine eigene Investitionsberatungsfirma in București. Judit fand eine Stelle im Budapester Goethe-Institut. Sie fuhr seitdem kein einziges Mal in ihre Heimatstadt nach Bratislava zurück, ebenso wenig begleitete sie Max nach București. In Max’ Familie ist die Wanderung ein bekanntes Muster: Seine Großeltern und Eltern hatten ihren Lebensort vor 1945 öfters gewechselt, aus der ziemlich geschlossenen Kultur von Siebenbürgen aussteigend; seine Verwandten verließen Rumänien nach 1945 - meistens mit Hilfe der Unterstützung von bereits im Ausland lebenden Cousins und Cousinen. Max und seine Familie waren die letzten in Rumänien. Aus Max’ Biografie geht hervor, dass die Alija ihn nicht aus seinem früheren Leben riss, denn er setzte seine Studien in Israel fort. Dank seinen Freunden konnte er sich wahrscheinlich gut an seine neue Heimat anpassen und bekam gleichzeitig von seinen aus Rumänien stammenden Bekannten etwas aus seiner Kindheit zurück. Hierauf lässt auch die Tatsache schließen, dass er, obwohl seine Eltern nach einigen Jahren in die Schweiz gezogen waren, <?page no="188"?> 188 Éva Kovács ihnen nicht folgte, sondern seine Studien beendete - und als pflichtbewusster israelischer Staatsbürger auch noch seinen Militärdienst absolvierte. Nur danach verließ er Israel und reiste in einen anderen Kontinent, nach Nordamerika. Ab diesem Punkt scheint er eine Weltbürgerkarriere zu absolvieren: Er bildet sich in den Vereinigten Staaten fort und findet Arbeit in London. 1988 kehrt er aber trotzdem zu den Eltern nach Zürich zurück und heiratet in der Person Judits eine Frau, mit der ihn offensichtlich die gemeinsame Muttersprache, die Abstammung und die Kultur verbindet. Als 31-jähriger junger erwachsener Mann wählt er statt der kosmopolitischen Lebensweise, die gewohnte, intime ost-mitteleuropäische Lokalität - natürlich als Teil der Züricher Diaspora. Für Max’ Leben bringt der Regimewechsel eine rasche - und rückblickend etwas radikal erscheinende - Wende: Vielleicht würde er bis heute in Zürich leben, wenn der ›Ostblock‹ nicht zusammengebrochen wäre. Auf diesen Einbruch reagiert Max als ›Glücksritter‹, aber auch mit der Rückkehr aus nostalgischen Motiven. Seine Entscheidung bekommt eine sonderbare Note, weil ihn niemand und nichts dazu gezwungen hatte, und weiters durch die Tatsache, dass Max nach zwei Jahrzehnten der Abwesenheit mit gewaltigen Gegensätzen zwischen Zürich und București konfrontiert war - nicht nur bezüglich des Lebensstandards, sondern auch des täglichen Umgangs und der Verhältnisse vor Ort. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb Max und seine Familie nach Budapest ziehen, also näher zu Max’ alt-neuer Welt, aber trotzdem in eine ›westlichere‹ osteuropäische Stadt, die zwar sowohl für ihn als auch für seine Frau fremd ist, aber ihnen möglicherweise ›zivilisierter‹ als Bratislava oder București vorkommt. Gleichzeitig könnten sie die Stadt als Schnittpunkt ihrer Muttersprache und ihrer Herkunft, als ungarische Juden aus Siebenbürgen und der Slovakei, betrachten. Es ist nicht unvorstellbar, dass Judit eigentlich nicht nach București ziehen wollte und ihr Mann deswegen zum ständigen Pendeln gezwungen ist. Die rumänisch-ungarische Grenze dürfte auf jeden Fall eine Trennungslinie für das Paar sein, denn Judit hat bis heute keinen Fuß nach Rumänien gesetzt, und Max trennt sich trotzdem nicht von diesem Land, im Gegenteil, er gründete dort nach einiger Zeit seine eigene Firma. Aus Max’ Erzählung geht hervor, dass diese Grenze für Judit markanter und schärfer sein dürfte, denn sie war auch nie wieder in ihrer eigenen Heimat und bewegt sich auch in Budapest in deutschsprachigen Kreisen. Als ob Judit ihre Vergangenheit vergessen, sie ab- und ausschließen wollte und Max eher Brücken zwischen seinen Welten bauen und vielleicht sogar ganz in seine Vergangene zurückkehren würde - würde ihn seine Familie nicht an einen anderen Ort binden. In seiner Erzählung präsentiert Max seine Lebens- und Wandergeschichte als eine der kulturellen Wechsel und stellt diese meistens im positiven Licht dar: Sich selbst beschreibt er als Vermittler zwischen den Kulturen, als Übersetzer. Seine Alija-Geschichte schildert er mit der atemberaubenden Schönheit der israelischen Landschaft, die Aufenthalte in den USA und Großbritannien mit der Begeisterung für die englische Sprache, seinen Weg nach Zürich mit den Her- <?page no="189"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 189 ausforderungen der neuen Arbeit. Sein ist die ganze Zeit über sehr reflektiert: Die Erinnerung an die Ereignisse folgt der Logik des zurückgelegten Weges, und sie wird oft von nachträglichen Erklärungen und Bewertungen begleitet, in denen Max - ungefragt - die ganze Zeit über erforscht, ob er es wohl geschafft hat, sich in seine neue Umgebung zu integrieren und falls ja, unter welcher Anstrengung. So hält er es bis zu dem Zeitpunkt, wo er wieder nach Rumänien kommt. Von seiner »Heimkehr« spricht er nicht in der eben geschilderten Weise. Seine Angelegenheiten in București schildert er noch lakonischer und stellt sich gleichzeitig als Pendler dar. Seine Erklärungen beziehen sich nie auf Rumänien oder Ungarn, sondern auf das Migranten-Dasein als solches. In seiner Selbstdarstellung wird bei der Erinnerung an diese Ereignisse die Betonung auf die Tatsache gelegt, dass ihn die Migration mit kulturellem Kapital (Sprachkenntnis, Ortskenntnis im ›Westen‹ und in seiner Heimat, Beziehungen an beiden Orten) ausgestattet hätte, das er im Augenblick der Wende aktivieren konnte. Er stellt das Dolmetscherdasein als schicksalhaft dar: Was hätte er sonst tun können, als »nach Hause zurückzukehren«, als sich ihm diese Möglichkeit bot. Die Vorstellung der Schicksalhaftigkeit überdeckt die konkreten Bindungen: Max spricht überhaupt nicht über seine Gefühle zu București oder Budapest. Im Gegenteil: er präsentiert sich auch in diesem fixierten Schwanken noch als Weltbürger (siehe sein nächstes Zitat, weiter unten). Vom rumänischen Antisemitismus dürfte er in seiner Kindheit nur wenig oder gar nichts mitbekommen haben, die Alija betrachtet er auch nicht als Wendepunkt bezüglich seines Jüdischseins. Die Struktur des Texts lässt aber genau das Gegenteil erahnen: Max’ Jüdischsein taucht in seinen Kindheitsjahren überhaupt nicht auf, erst in Israel, mehr noch beim Verlassen Israels gewinnt das Thema an Bedeutung. Seine Erzählung über ihre Auswanderung reiht sich eher in die Wanderungsgewohnheiten der Großfamilie ein und hat für Max weder die Bedeutung von Flucht noch von Bekehrung. Obwohl er damals schon zwanzig Jahre alt war, beschreibt er die Auswanderung als elterliche Entscheidung, wenn sie auch nicht gegen seinen Willen war. Mehr noch, er stellt sich so dar, als hätte er es als vollkommen natürlich empfunden, das »kaputte« Rumänien zu verlassen. Es scheint, als wäre sein Jüdischsein erst in den darauf folgenden Jahrzehnten herangereift, als er durch die Wanderung seine anderen Identitäten, Zugehörigkeiten, Bindungen verlieren oder zumindest darin verunsichert sein sollte, obwohl er nach Budapest zog und in București lebt, und sich auf Ungarisch und Rumänisch, mit Ungarn und Rumänen umgibt. Als ob in der fortwährenden Bewegung diese Bindungen inhaltsleer geworden wären, als würde seine in Israel erworbene jüdische Identität diese Lücke füllen. Er schließt seine Ausführungen folgendermaßen: Und - eigentlich ohne dass ich ernsthafter das Gefühl hätte, dass ich mich irgendwie integriert habe, sehe ich mich noch heute, wenn mich jemand fragt, in irgendeiner Weise, als so - einen Israeli mit Siebenbürger Wurzeln, oder als nur <?page no="190"?> 190 Éva Kovács jüdisches Etwas, weil eigentlich die Staatsbürgerschaft - habe ich mit der Zeit so oft geändert, dass die schon beschränkt ist - darauf mit welchem Pass es leichter ist, von Punkt A nach Punkt B zu kommen, die Staatsbürgerschaft als solche ist also nicht ausschlaggebend, oder ich habe nicht das Gefühl, als würde sie viel über mich aussagen, was die Sprache betrifft, also Rumänisch und Hebräisch kann ich am besten, Ungarisch schon viel weniger, ach ja und Englisch, das ist, sagen wir mal so wie Hebräisch, und Französisch ist vielleicht noch schlechter als Ungarisch - aber das ist auch nicht ausschlaggebend in dieser Sache. Indem er sich zunächst als »Israeli mit Siebenbürger-Wurzeln« und dann als »jüdisches Etwas« definiert, schwankt er also, ob er sich mit in der Kindheit und der Migration - und an konkreten Orten - entstandenen Zugehörigkeiten beschreiben oder ob er, den Ort verlassend, eine weniger fassbare, aber tiefer wurzelnde Identität formulieren soll. Ersteres spiegelt sein vielleicht schon heimatloses, aber sich nach Heimat sehnendes Wesen, letzteres seine weltbürgerliche Einsamkeit wider. Schließlich lässt er die eben formulierten Stationen der Entleerung aufleuchten: die Verminderung, den Verlust der staatsbürgerlichen Loyalitäten und des bestimmenden der Muttersprache. Nichtsdestotrotz spannen sich zwischen Max´ Erzählung und seinen biografischen Daten Widersprüche auf. Wir wissen aus seiner Lebensgeschichte, dass er sein Weltbürgerdasein Schritt für Schritt aufkündigte und ihn sein Alltag eher an Rumänien bindet, in Budapest besucht er nur seine Familie - er kehrt also nach zwei Jahrzehnten der Wanderschaft wieder an seinen Heimatort zurück. Es scheint aus seiner Narration so, dass sein Pendeln aus einer Not erwuchs, wenn es nur nach ihm gegangen wäre, dann wäre er mit seiner Frau und seiner Tochter vielleicht »endgültig« nach București gezogen. Es kann sein, dass ihn dann das Sesshaftwerden vor eine ernste psychische Entscheidung gestellt hätte, so trägt das Pendeln, die ewige Anziehungskraft der Stadt București und sein schuldbewusster Abschied zu seiner brüchigen Lebensweise und Erzählung bei. Seine weltbürgerliche Vergangenheit wurde langsam von Heimweh überwältigt, er wählte seine Ehefrau auch aus dieser verwandten Welt. Die Ironie oder Tragödie dieses Schicksals ist, dass Max sich diese Familiarität in der gemeinsamen Herkunft (ungarisch, jüdisch, mitteleuropäisch) und nicht im gemeinsamen Migranten-Dasein vorstellte. Er entdeckte wohl die gemeinsame Vergangenheit in Judit, während Judit von etwas ganz anderem, nämlich von der gemeinsamen Erfahrung des Verlassens dieser - ungarischen, jüdischen und mitteleuropäischen - Vergangenheit angezogen war. Max nahm sich die ungarische Jüdin Judit zur Frau, Judit heiratete den Migranten Max. In diesem Licht betrachtet würde die Rückkehr an den Pfeilern der Ehe rütteln: Deswegen zieht Judit lieber nach Budapest. Max macht in seiner Erzählung keine Anstalten, diesen Widerspruch aufzulösen, seine gewohnten Erklärungen bleiben aus, und wir haben das Gefühl, das Thema wurde nicht nur zwischen den beiden zu einem Tabu, sondern er kann auch mit uns nicht darüber reden. Sich an einer alltäglichen Routine festklam- <?page no="191"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 191 mernd kann er so tun, als würde ihm das ewige Wandern nichts ausmachen, als wäre er als »Gewohnheitstier« gezwungen, mal hier, mal dort aufzuwachen. Der Mensch ist so ein Gewohnheitstier, und wenn man sie schon hat, und egal wie sonderbar, egal wie jung - vielleicht ist etwas nicht angenehm, nicht leicht, ist aber schon Routine und dann - ist es beruhigend, es kann sein, dass es deswegen - dass dieser Integrationsprozess bei mir immer sehr schnell vonstatten ging, dass ich nach zwei, drei Tagen irgendwo am Morgen aufwache und weiß, was ich machen werde, und ich weiß, was passieren wird, und ich verstehe noch nicht alles, aber die Dinge fließen irgendwie, und es gibt - einen natürlichen Gang der Dinge, und ich glaube, dass man von, also man hat - diesen Wunsch nach einer Art von Routine, dass man weiß, womit man seinen Tag verbringt, also man steht auf - und nachdem man Zähne geputzt hat und sich angezogen hat, was nachher passiert und - wenn das passiert ist, kommt diese Basis, diese Basiseinstellung, dass ich das tatsächlich schaffe und ich das akzeptieren kann und damit leben kann. - Ich denke, dass ich ein ziemlich akzeptierender Mensch bin, dass ich eigentlich fast alles, was mir das Leben so entgegenwirft - ziemlich schnell akzeptiere, also - oder ich löse es schnell, oder lege es auf die Seite, oder ich weiche ihm aus, oder lerne damit zu leben, also aufgrund der Tatsache, dass ich eine ziemlich frohe Natur habe, meine Grundstimmung ziemlich, ich hatte das Gefühl, dass ich mit diesem Leben gut leben kann, und gut damit auskomme. 4 Resümee: Schutzlos oder Trost gefunden? In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selbst verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im Stromkreis des geschichtlichen Lebens. 13 Wir haben am Anfang die These formuliert, dass in der Flucht, aber auch in ihrer freieren Form, der Wanderung, Konträres wie Triumph und Schande, Abenteuer und Selbstverlust sowie Gefühle der Sehnsucht nach dem Weggehen und dem Zurückkehren nebeneinander existiert. Wir wiesen weiters daraufhin, dass uns die Außenwelt im Falle der Wanderung, wie in so vielen anderen Dingen, master narratives vorschreibt, dass wir aber gleichzeitig nach den zu uns passenden Erzählungen suchen, um schmerzhafte Widersprüche aufzulösen. Unerwähnt haben wir bisher gelassen, dass bereits auf dem Weg, aber noch ohne Text, unsere Emotionen nicht vom wohlwollenden Schutz der geformten Worte überdeckt werden. Dass uns die Wanderungen oft aushöhlen und entkleiden, damit wir werden und erneut schüchtern unsere Scham verstecken können, die das Verlassen der alten Heimat und das Misstrauen der neuen Außenwelt in uns geweckt haben: diese condition des »Entschwebens« (Rushdie), die Spuren des Auszie- 13 GADAMER, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Bd. 1. Tübingen: Mohr 1983, p. 345. <?page no="192"?> 192 Éva Kovács hens, bis man nackt ist, und des An-den-Pranger-gestellt-Werdens, weisen alle Geschichten, nach dem Alter des Erzählers geordnet, auf. Unsere einführende Frage war, wie das Ich des Erzählers - das über die verschiedensten Situationen und Lebenszeiten hinweg als das immergleiche Ich erscheinen wird - sein autobiografisches ›Jüdischsein‹ mit Hilfe seines historischen Grenzereignisses 14 der Shoah und seiner Schicksalsereignisse von der Wanderung kann. Ferdinánd wurde von der Shoah in die »ewige« Wanderung getrieben, wo er an einem Punkt sogar in seinem Selbst verunsichert war. Wie der polýtropos Odysseus irrt auch Ferdinánd umher, verirrt sich, geht verloren, sucht sich und seinen Platz auf der Welt, die Shoah treibt ihn, verfolgt ihn, in seiner Flucht wünscht er sich, nicht nachvollziehbar zu sein, nicht erkennbar und vor allem, dass er sich mit keiner Sache identifizieren muss. Paradoxer Weise bewegt ihn der Wunsch nach Beruhigung, Ansiedelung, nach bleibender Ankunft, er treibt ihn an, er verfolgt ihn, ihn sucht er in seiner Wanderung. Als er einen Platz für sich findet und sein Wunsch in Erfüllung geht, verliert er die darauf aufbauenden Identitäten. Es bleibt ihm nichts anderes übrig als »der dritte Band der Bibel des Geldes«, der ihm diktiert, er solle nichts anderes wollen und sich mit materiellem Wohlstand begnügen. Verfolgung und Wanderung bilden einen Kausalzusammenhang in seinem Leben. Die Wanderung machte sein in der Shoah wurzelndes ›Jüdischsein‹ zunichte - dieses Jüdischsein wurde bloß ein Grund der Wanderung, aber keine Identität für ihn. Er wurde der »ewige Wanderer«, aber kein Jude mehr. Wie Odysseus, so stört auch ihn seine Treulosigkeit. In Miklós’ Fall ist die Antwort auf den Widerspruch zwischen Treue und Weisheit nicht die Rückkehr: Über diesen Widerspruch hilft ihm die ›mitteleuropäische Identität‹ hinweg, aufgrund derer er dem Befehl, der sich in den früheren Generationen als zu schwach erwiesen hatte, gehorchen kann. Und so kann er auch in seinem Selbst als ›ewiger Jude‹ stärker werden. Im 19. und 20. Jahrhundert war es keine Seltenheit, dass die eigentlich antijudaistische Metapher des »fliegenden Juden« auch diejenigen Juden annahmen, die in der Assimilation erfolgreich waren. 15 In 14 Die Verfolgten der Shoah erfuhren den fundamentalen Bruch, den lebenslangen Verlust des basalen Weltvertrauens. Die Shoah selbst wurde ein historisches Grenzereignis - nämlich die Erfahrung der Grenzen einer Interpretation. Cf. FRIEDLÄNDER, Saul: Die »Endlösung«. Über das Unbehagen in der Geschichtsdeutung. In: PEHLE, Walter H. (Hg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Fischer 1990, pp. 81-93. 15 Sigmund Freud zum Beispiel bezeichnete sich in seinem ersten, schon aus England verfassten Brief als »alten Ahasver«. Wie Kafka in einem seiner Briefe schreibt: »Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, dass mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muss erworben werden.« Cf. KAFKA, Franz: Briefe an Milena. Frankfurt am Main: Fischer 1986, p. 294. Walter A. Strauss versteift die im Kafka Text noch spürbare Spannung, das Streben nach einem Ziel, die Dynamik des »ewigen Juden« und befreit so den »ewigen Juden« von den antijudaistischen Wurzeln des »fliegenden Juden« und somit auch von der daraus resultierenden Schande: »Kafka ist Ahasver, der ›Ewige Jude‹, und er ist auch die Verkörperung der für das 20. Jahrhundert charakteristischen Variation dieses Typus: assimiliert und doch nicht assimiliert, dem Judaismus verhaftet und doch von ihm losgelöst; fahrender Ritter und Drache; ein Gesandter, dem eine Botschaft anvertraut ist, die er nicht genau gehört oder klar verstanden hat; Befreier-Held, dessen <?page no="193"?> Narrationen jüdischer Männer aus Mitteleuropa 193 Miklós’ Erzählung spiegelt sich die Legende des Ahasver wider. Die aus der Narrativ-Mixtur von Shoah und mitteleuropäischer Identität entstandene Selbstdefinition gibt ihm jedoch die Möglichkeit, bereits angekommen, das ewige Gefühl des Unterwegs-Seins dort aufrechtzuerhalten, wo man das im Angesicht des ursprünglichen Befehls eigentlich nicht dürfte… Die Legende von Odysseus ist deswegen großartig, weil man sie außer den oben beschriebenen Varianten noch auf zahlreiche weitere Arten lesen kann. Wenn wir gerade die besondere homerische Struktur in ihr bewundern - die mit dem Moment vor der Ankunft beginnt - dann ist sie, so wie die Liebe, im weiteren Sinne die Geschichte von Treue und Betrug. Wie die Welt von Max, in der die kosmopolitische jüdische Existenz eine Konsequenz des doppelten Treuekonflikts darstellt: die Unvereinbarkeit der Liebe der Frau und der Sehnsucht nach der nicht-jüdischen Heimat hält ihn in der ›Freiheit‹ der ständigen Bewegung. Und bei der nicht stattfindenden Rückkehr kann sich Max an der Sicherheit und Gewissheit, die ihm paradoxerweise die Wanderung gewährt hat und an seiner existentialistischen israelisch-jüdischen Identität, die frei von der Shoah ist, festhalten. Stärke seine Schwäche ist; ein Parsifal - aber dieser ist ein ›unreiner Tor‹ - der zu viele Fragen stellt und niemals die richtige.« Cf. STRAUSS, Walter A.: On the Threshold of a New Kabbalah. New York: Peter Lang 1988, p. 94. <?page no="195"?> RAUM UND DIFFERENZ: GENDER, ETHNOS, KLASSE <?page no="197"?> A LEXANDRA M ILLNER (W IEN ) Konkrete Räume - soziale Konstruktionen Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender am Beispiel von Marie Eugenie delle Grazies Erzählung Die Zigeunerin (1885) 1 Grenzen Obwohl ein Staatengebilde in seiner topografischen Ausdehnung an ein reales Territorium gebunden ist, sind seine Grenzen wie seine Größe nur über ein symbolisches Konstrukt erfahrbar, das sich als Verwaltungs- und politischer Raum mit einer spezifischen Gesetzgebung und Regierungsform, mit einer bestimmten Staatssprache und Staatsreligion(en) etc. identifizieren lässt. In den Grenzgebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie war die Wahrung eines konstruierten imperialen Raumes, der die Gemeinschaft der ansässigen EinwohnerInnen in Bezug auf ihre staatliche Zugehörigkeit überformte, naturgemäß von eminenter Bedeutung, stoßen an internationalen territorialen Grenzen doch auch symbolische Machtgefüge aufeinander, die für einander eine stete Bedrohung darstellen. Dies traf insbesondere auf die südliche Grenze der ungarischen Reichshälfte zu, deren historische Entwicklung nicht nur von Unruhe und Wechselhaftigkeit, sondern auch von einer großen ethnischen Heterogenität gekennzeichnet war. Die Mündungsgebiete der Drau, Theiß bzw. Temes waren einer ethnisch kodierten Karte aus dem Jahr 1911 1 zufolge nördlich der Donau ethnisch stark gemischt besiedelt. Ungarische, deutsche, kroatische, serbische und rumänische Ethnien waren hier vertreten. Lange Zeit bildeten Save und Donau die Reichsgrenze. Im Zwischenstromland zwischen dem Sarvístal westlich der Donau beziehungsweise der Donau und der Theiß erstreckt sich die südliche ungarische Tiefebene (Nagy Alföld), die so genannte Puszta, ein Steppengebiet, das der römischen Provinz Pannonia entspricht und lange Zeit vor allem für Viehwirtschaft genutzt wurde und deshalb dünn besiedelt war. Der über 10.000 km² große Keil, der sich als Ödnis - so die Übersetzung des slawischstämmigen ungarischen Wortes Puszta - in Nord-Süd-Richtung in die Landschaft schiebt und sich im Süden hin bis zum Grenzbereich der damaligen Monarchie erstreckte, war im Süden von eben dieser ethnischen Pluralität gekennzeichnet. Man kann sich das Zusammenleben der ethnisch differenten BewohnerInnen vielleicht so vorstellen, wie es Wilma von Vukelich oder Roda-Roda in ihren Memoiren bzw. auto- 1 Volkszählung vom 31. Dezember 1910, veröffentlicht in: GEOGRAPHISCHER ATLAS ZUR VATER- LANDSKUNDE AN DER ÖSTERREICHISCHEN MITTELSCHULEN. Wien: K. u. k. Hof-Kartographische Anstalt G. Freytag & Berndt 1911. Für wertvolle Hinweise danke ich Wladimir Fischer und Edith Király. <?page no="198"?> 198 Alexandra Millner biografisch orientierten Texten in Bezug auf Slavonien rund um Osijek beschrieben: als eine zwar nach gesellschaftlichen Funktionen, Stand und Berufsstand sowie Stadtviertel getrennte, in ihren Teilen dennoch aufeinander in Kongruenz bezogene hierarchische Gemeinschaft. 2 Was könnte nun der Beweggrund einer im Zentrum Wien lebenden Autorin wie Marie Eugenie delle Grazie (1864-1931) sein, im Jahre 1885 eine Erzählung am südöstlichsten Teil dieses »öden« Landstriches Puszta im Banat und somit in einer Grenzregion der österreichisch-ungarischen Monarchie anzusiedeln? 3 Wenn im Folgenden der Text Die Zigeunerin. Eine Erzählung aus dem ungarischen Haideland 4 genau analysiert werden soll, dann um an ihm exemplarisch darzustellen, mit welch raffinierten Gestaltungsmittel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue gesellschaftskritische Aspekte in konventionell wirkende Stoffe eingearbeitet wurden und mit welcher Stringenz eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren ihren Text im Sinne ihres naturalistischen Kunstkonzepts durchgestaltete. Dabei werden die meisten sozialkritischen Inhalte nicht direkt angesprochen, sondern erschließen sich erst über Details, die - wie in diesem Fall die literarischen Raumkonstruktionen - auf allegorische Lesarten hinweisen. Die Entstehungszeit der Erzählung fällt auch in jene Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, in der Raum von Soziologen wie Émile Durkheim oder Georg Simmel 5 zum ersten Mal auch als etwas Gemachtes, als soziales Konstrukt gedacht wird. Räume und Grenzen werden somit nicht länger als feste Größen betrachtet, sondern sind »Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen und Prozesse« 6 . Räume im Sinne von sozial geformten Räumen sind demnach aufgrund des 2 Cf. VUKELICH, Wilma: Spuren der Vergangenheit. Osijek um die Jahrhundertwende. Hg. v. Vlado Obad. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1991; RODA-RODA: Roda Rodas Roman. Mit Zeichnungen von Andreas Szenes. München 1925 (1924); MILLNER, Alexandra: Slawonische Retrospektion. Erinnerungen an Österreich-Ungarn von Wilma von Vukelich und Roda Roda. In: MITTERBAUER Helga/ RITZ, Szilvia (Hg.): Kollektive und individuelle Identität in Österreich und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg. Wien: Präsens Verlag 2007, pp. 171-192. 3 Delle Grazie erwähnt zwar mit keinem Wort das Banat, es ist jedoch davon auszugehen, dass sie sich auf einen Landstrich bezieht, der ihr vertraut ist. 4 DELLE GRAZIE, Marie Eugenie: Die Zigeunerin. Eine Erzählung aus dem ungarischen Haideland. Wien: Konegen 1885; cf. MILLNER, Alexandra: ›Die Zigeunerin‹ als Projektionsfigur feministischer Gesellschaftskritik bei Marie Eugenie delle Grazie. In: PATRUT, Iulia-Karin/ GUŢU, George/ UERLINGS, Herbert (Hg.): Fremde Arme - arme Fremde. ›Zigeuner‹ in Literaturen Mittel- und Osteuropas. Frankfurt e. a.: Peter Lang 2007, pp. 107-124. 5 Cf. etwa DURKHEIM, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984; SIMMEL, Georg: Über räumlich Projektionen sozialer Formen. In: DERS.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908/ I. Bd. 7. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, pp. 201-220; DERS.: Soziologie des Raumes. In: ibid., pp. 132-183; cf. SCHROER, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, p. 47-81; DÜNNE, Jörg: Einleitung. In: DÜNNE, Jörg/ GÜNZEL, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, pp. 289-303. 6 »Grenzen und damit auch der Umfang von Räumen sind nicht mehr festgelegt, sondern Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen und Prozesse.« SCHROER 2006, p. 223; zum Performativitätskonzept in Bezug auf die Genderkonstruktionen cf. BUTLER, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge 1990. <?page no="199"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 199 (Inter-)Agierens der Individuen, überindividuellen Gruppen und Körperschaften prinzipiell variable Größen, die durch Grenzziehungen, -überschreitungen oder auflösungen Veränderungen unterworfen sind und unterworfen werden können. Diese in der Formulierung angesprochene Möglichkeits- und Gestaltungsdimension von Raum ist es auch, die auf die literarische Gestaltung von Räumen einwirkt und in der Folge den literaturwissenschaftlichen Fokus in der Textanalyse von der räumlichen Beschreibung der strukturalen Ordnung der Gesellschaft auf die Aspekte der raumkonstitutiven Praxis lenken muss. 7 Aus diesem Grund lassen sich Raumdarstellungen in der Literatur niemals »als ›Abbildungen‹ einer bestimmten Realität« lesen, sondern müssen als »Zeichensysteme, welche die Bedeutung des Dargestellten durch mehr oder minder komplexe symbolische Codierungen und Semantisierungen stiften«, 8 betrachtet werden. Diese Jurij Lotman folgende Theorie der literarischen Raumgestaltung soll im Folgenden mit einer Soziologie des Raumes zusammengeführt werden. Denn delle Grazies Erzählung ist unter anderem ein Text über die Begegnung und den Umgang mit dem Fremden und insofern (und natürlich auch wegen seines konkreten geografischen Schauplatzes) ein Grenztext. Doch niemals wird eine Reichsgrenze genannt, sondern es ist eine Art innere, eine symbolische Grenze, die weit in das Land reichende Ödnis der Tiefebene, die im Süden die Außengrenze des Reiches bildet, und die als fremd betrachteten ZigeunerInnen, die eigentlich »eigene Fremde« sind. Die Erzählung zeigt, wie eine solche Grenzsituation in der täglichen sozialen Praxis bewältigt wird und in welch wechselseitiger Dynamik politische, reale und soziale Räume zu einander stehen. Im Text werden anhand der sozialen Organisation der literarisch dargestellten Räume und der ethnischen und genderspezifischen Differenzierung hegemoniale Kodierungen sichtbar gemacht, vor deren Hintergrund Gegenstrategien entworfen werden. Insofern handelt es sich bei delle Grazies Erzählung in Lotmans Terminologie um einen »sujethaltigen Text«, da die titelgebende Zigeunerin (Dora) - und für kurze Zeit natürlich auch László - die bestehende Ordnung negiert und die Grenzen diverser semantischer Felder, die sich in Lotmans Darstellung zwischen binären Oppositionen wie Reiche - Arme, Eigene - Fremde, Menschen der Natur - Menschen der Gesellschaft etc. aufspannen, zu überwinden trachtet. 9 Die Grenze erweist sich jedoch nur als temporär überwindbar, was durch die durchgehend strenge Separierung der zigeunerischen und ungarischen Lebenswelten nachdrücklich angezeigt wird. Doch eine Rückkehr in den Urzustand, ein Rückfall hinter die Grenzen des eigenen semantischen Feldes, erscheint für Dora undenkbar; sie steuert ein neues, ein Antifeld an, überschreitet in mehrfacher Hinsicht 7 Cf. DÜNNE 2006, pp. 289-303, hier p. 290; LÖW, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 8 HUBRATH, Margarete: Einführung. In: DIES. (Hg.): Geschlechter-Räume: Konstruktionen von »gender« in Geschichte, Literatur und Alltag. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001, pp. 1-6, hier p. 1; zur Raumtheorie in der Literatur cf. im Folgenden: LOTMAN, Jurij: Die Struktur des künstlerischen Textes. A. d. Russ. v. Rainer Grübel. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp 1973. 9 Cf. LOTMAN 1973, p. 355. <?page no="200"?> 200 Alexandra Millner die Grenze zum Tod. Die beschleunigte Abfolge von Handlungssequenzen am Ende der Erzählung führen zu einem »Rausch der Raumbildung« 10 und verstärken somit den Eindruck der völligen Entgrenzung der dem Wahnsinn verfallenen Dora. Damit wird sie zur Antiheldin, deren Geschichte erzählt werden muss, um die Utopie ihres Freiheitsdranges in Erinnerung zu rufen. 2 Marie Eugenie delle Grazie Delle Grazies Text eignet sich deshalb so gut zur Untersuchung des literarischen Umgangs mit Grenze, da die Autorin aus dem Banat stammt und in ihrem Gesamtœuvre immer wieder zu ihrem Herkunftsgebiet an der Südgrenze der Habsburger Monarchie zurückkehrt: Ihre Biografie prädestiniert sie für eine differenzierte Wahrnehmungen des sozialen Grenzraumes, der vom Zusammenleben der damals ungarischen Mehrheitsbevölkerung mit den aus politischen Gründen im Laufe der Jahrhunderte angesiedelten deutschen, serbischen, rumänischen und slovakischen Minderheiten geprägt ist. 11 Das Erscheinungsdatum dieser frühen Erzählung fällt in das zehnte Jahr von delle Grazies Migration nach Wien, wo sie seit dem Tod des Vaters im Jahre 1874 zuerst mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, sehr bald aber - nach Aufgabe der Lehrerinnenausbildung - alleine bzw. unter der Obhut des im selben Haus lebenden, liberal gesinnten katholischen Theologen, geweihten Priesters und späteren Professors für christliche Philosophie 12 und Rektors der Universität Wien Laurenz Müllner (1848-1911) in Döbling lebt. 13 Um delle Grazie und Müllner, ihrem Mentor, väterlichen Freund und Wegbegleiter, versammelt sich in über eineinhalb Jahrzehnten (1885-1900) 14 jeden Samstag ein Kreis katho- 10 CERTEAU, Michel de: Praktiken im Raum. In: DERS.: Kunst des Handelns. A. d. Frz. v. Ronald Voullié. Berlin: Merve 1988 (1. Arts de faire. Union Générale d’Editions, coll. 10/ 18, Paris 1980), pp. 177-238, hier p. 220. 11 Ihr Geburtsort Ungarisch-Weißkirchen (Bela Crkva/ Fehértemplom/ Biserică Alba) liegt in den Ausläufern der Karpaten in der heute serbischen Provinz Vojvodina. Ihr erstes Lebensjahrzehnt verbrachte Delle Grazie allerdings in einem Banater Gebirgsdorf. 12 Müllners Spezialgebiet waren Naturphilosophie und Darwinismus; er war Gegenspieler des antiklerikalen Friedrich Jodl und von Ernst Mach. 13 Zur Darstellung von Delle Grazies Biografie abseits von einschlägigen Nachschlagewerken cf. DIES.: Mein Lebensweg. In: Die Gesellschaft: politisches illustriertes Wochenblatt 11 (1895), pp. 655-660; MÜNZ, Bernhard: Marie Eugenie delle Grazie als Dichterin und Denkerin. Wien, Leipzig: Braumüller 1902; BENEDIKT, Clotilde: Marie Eugenie delle Grazie (Zum fünfzigsten Geburtstag). In: Österreichische Frauen-Rundschau (1914) 12. Jg., Nr. 123, pp. 7-8; WENGRAF, Alice: Marie Eugenie delle Grazie. Versuch einer geistgemässen biographischen Skizze. Wien: Selbstverlag 1932; FLASCHBERGER, Maria: Marie Eugenie delle Grazie (1864-1931). Eine österreichische Dichterin der Jahrhundertwende. Studien zu ihrer mittleren Schaffensperiode. Graz: Univ. Diss. 1978. 14 Zu den regelmäßigen Gästen zählten u. a. DichterInnen wie Ricarda Huch, Fritz Lemmermayer, Emil Marriot (=Emilie Mataja), Goswine von Berlepsch; der Literaturhistoriker Emil Reich, der Komponist Alfred Stroß, Professoren der theologischen Fakultät, Johann Fercher von Steinwand, der Vorsitzende der konservativen Schriftstellervereinigung Iduna etc. Cf. STEINER, Rudolf: <http: / / www.anthroposophie.net/ steiner/ Lebensgang/ bib_steiner_lebensgang7.htm#Grazie>; CASTLE, Eduard (Hg.): Deutsch-österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung <?page no="201"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 201 lisch-liberal Gesinnter. Wie der Anthroposoph Rudolf Steiner (1861-1925) mit Ehrfurcht und kritischer Distanz zugleich als Augenzeuge berichtet, wurde hier musiziert und über philosophische Themen diskutiert, vor allem aber wurde von der jungen Dichterin aus ihren jüngsten Werken vorgetragen. Steiner kritisiert die zutiefst pessimistische Haltung und den Anti-Goethianismus der beiden Gastgeber und weiß von der Ablehnung einiger Gäste gegenüber ihrem naturalistischen künstlerischen Ansatz zu berichten, der nicht länger das Schöne, Wahre und Gute, sondern die Schattenseite des menschlichen Lebens in das Zentrum der Dichtung stellte. 15 In einem Porträt anlässlich ihres 50. Geburtstags wird sie aus diesem Grund als »Dichterin des Mitleids« 16 bezeichnet und in der zeitgenössischen Rezeption gerne neben Marie von Ebner-Eschenbach genannt. Dies weist auf die bedeutende Rolle hin, die diese heute in Vergessenheit geratene Autorin zu jener Zeit in der Wiener Geisteswelt spielte. Bereits in ihrem 17. Lebensjahr beginnt mit einem Gedichtband ihr etwa vierzig Werke umfassendes Œuvre zu erscheinen, das von der Parteinahme für die sozial Unterdrückten und Marginalisierten gekennzeichnet ist und mit zahlreichen Preisen gewürdigt wurde. 17 Aus der Ferne des intellektuellen und kulturellen Zentrums Wien lässt die junge, deutsch und katholisch sozialisierte Bürgerstochter mit adligen venezianischen und bürgerlichen deutsch-französischen Wurzeln aus ihrer persönlichen Erinnerung die Welt der südlichen Peripherie der Donaumonarchie wiederauferstehen. Dabei zeigt sie sich, wie sie in der autobiografischen Schrift Mein Lebensweg (1895) festhält, nachhaltig von der Landschaft ihrer Kindheit geprägt: Mehr als die besten Erziehungsgrundsätze aber hat die Natur an mir vollbracht. Sie sprach in dem Lande, das ich so glücklich bin meine Heimat zu nennen, in den wechselvollsten Reizen zu mir. Ungarn vereint vom melancholischen Zauber der Ebene bis zur schroffen Erhabenheit der Alpenwelt alles, was uns die Natur verwandt oder göttlich erscheinen läßt. Nur das Meer fehlt. Aber die Pussta träumt auch von diesem. Und nun erst gar die Landschaftsbilder an der unteren Donau! 18 Umso mehr befremdet die Vereinnahmung der Dichterin für die deutschnationale Literatur, die sehr früh schon durch Rudolf Steiner erfolgt, der sie neben dem aus Kärnten stammenden Johann Fercher von Steinwand (1828-1902) als »nationalen Dichter Österreichs« bezeichnete 19 - ein Missverständnis oder in Österreich-Ungarn. Bd. 4. Von 1890 bis 1918. Wien: Fromme 1937, pp. 1581-1585. 15 Cf. Ibid. 16 Cf. BENEDIKT 1914, p. 8. 17 Ihr Robespierre-Epos (1894) und das naturalistische Bergarbeiter-Drama Schlagende Wetter (1899) bringen ihr nachhaltig literarischen Ruhm. Ihre Werke werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, ihre Dramen im In- und Ausland aufgeführt. Weiters erhält sie ein Staatsstipendium, 1901 den Bauernfeld-Preis, 1906 den Volkstheater-Preis und 1916 den Ebner-Eschenbach-Preis. 18 DELLE GRAZIE 1895 zitiert nach: DIES.: Sämtliche Werke. Bd. 9. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1904, pp. 72-84, hier p. 77. 19 STEINER, Rudolf: Zwei nationale Dichter Österreichs. Fercher von Steinwand und Marie Eugenie delle Grazie. In: Nationale Blätter (1890), 2. Jg., Nr. 6, pp. 124-129. <?page no="202"?> 202 Alexandra Millner Missbrauch, der mit dem Erscheinen von Hermann. Deutsches Heldengedicht in 12 Gesängen (1883) vorgezeichnet gewesen sein dürfte und sich trotz der in der antiken jüdisch-frühchristlichen Welt spielenden Tragödie Saul (1885) und ihrer dem Naturalismus verpflichteten Weltanschauung, von der sich Steiner deutlich distanzierte, 20 durchsetzen konnte. Durch einen anderen Porträtisten, der nur auf die Sprache ihrer Werke, nicht jedoch auf deren Inhalte zu rekurrieren scheint, wird sie unter die deutschnationale Tendenzliteratur der Banater Deutschen Literatur, als deren bekanntester Vertreter wohl Adam Müller-Guttenbrunn 21 zu nennen ist, subsumiert: Sie ist eine universelle, kosmopolitische Natur, aus dem Wesen der verschiedensten Nationen setzt sich ihre Eigenart zusammen, was indes nicht hindert, dass ihr tiefstes Sehnen und ihr tiefstes Lieben dem deutschen Volke gilt, dass sie sich mit ihm eins fühlt. 22 Die Bestimmung des tiefsten Sehnens und Liebens lässt sich unschwer in den Bereich der Konstruktion verweisen und entbehrt aufgrund mangelnder Beweisführung jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Vielmehr steht dieser Festschreibung eine Selbstcharakterisierung in lyrischer Form gegenüber: Araber, Gallier, Römer und Barbaren, Und der Normannen sturmgebräunte Scharen, Der Trotz des Nordens und des Südens Glut Begegnen brünstig sich in meinem Blut. 23 3 Der Text und seine intertextuellen Bezüge »Zigeuner« 24 galt zwar am Ende des 19. Jahrhunderts als polizeilicher Ordnungsbegriff, war jedoch im Alltagsgebrauch, wie auch heute, mit negativen Konnotationen belastet. Da es sich bei den für gewöhnlich unter dem Begriff subsumierten Roma und Sinti um in Stämmen organisierte Bevölkerungsgruppen handelt, und da dieser nicht ihre Selbstbezeichnung ist, ist er als ethnische Bezeichnung ungeeignet. Die bis in das 18. Jahrhundert geltende soziale Konstruktion der ZigeunerInnen als Synonym für Alterität beziehungsweise Kriminalität wurde 20 »Es kommt natürlich dabei gar nicht darauf an, wie man sich zu dieser Weltanschauung selbst verhält. Man kann, wie zum Beispiel der Schreiber dieser Zeilen, ein entschiedener Gegner derselben sein; aber man hat die Pflicht, jenes Talent als solches zu bezeichnen, in welchem diese Anschauung ihre künstlerische Verklärung findet. Und es erscheint uns notwendig zu betonen, dass diese Verklärung notwendig aus deutschem Geiste hervorgehen musste.« STEINER 1890, pp. 127 f. 21 Siehe den Beitrag von Edit KIRÁLY in diesem Sammelband. 22 MÜNZ 1902, p.13. 23 Zit. n.: Donauschwäbische Biographien. <http: / / www2.genealogy.net/ privat/ flacker/ Grazie.htm>. 24 Als »ZigeunerInnen« werden im Beitrag als solche stigmatisierte Personen oder Figuren in der Literatur bezeichnet. Zur Begriffsgeschichte cf. WIGGER, Iris: Ein eigenartiges Volk. Die Ethnisierung des Zigeunerstereotyps im Spiegel von Enzyklopädien und Lexika. In: HUND, Wilf D. (Hg.): Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburg: DISS 1996, pp. 37-66. <?page no="203"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 203 in Heinrich Moritz Gottlieb Grellmanns pseudowissenschaftlicher Abhandlung Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volkes seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung 25 - bis weit in das 20. Jahrhundert das Standardwerk über Zigeuner - in ein ethnisch-rassisches Zigeunerbild verwandelt. Das ist vom heutigen Stand der Forschung zwar nicht richtig; doch kommt im Folgenden die Kategorie der ethnischen Differenzierung in diesem Beitrag dennoch zur Anwendung, da delle Grazie ihre Erzählung auf Basis des damaligen Wissensstands entwickelt, demgemäß ZigeunerInnen als eine Ethnie betrachtet wurden. 26 Der Plot der Erzählung wirkt stereotyp, da er mit durchaus gängigen Versatzstücken aus der damaligen Populärliteratur und ihren Zigeunerdarstellungen arbeitet: In der Nähe eines südungarischen Pusztadorfes an der Theiß wird eine Gruppe von ZigeunerInnen von Panduren 27 des Uhrendiebstahls verdächtigt und verfolgt. Ein zufällig vorbeikommender Passant rettet die Gruppe aus der bedrohlichen Situation: Der ungarische Richtersohn László bietet ihr, als er sie als jene MusikerInnen identifiziert, deren Musik er vier Jahre zuvor genossen hatte, und unter ihnen die wunderschöne junge Dora wiedererkennt, den Eichenwald seines Vaters als Lagerplatz an. László wird Doras Geliebter und bleibt dies auch, obwohl er seinem Vater versprechen musste, die schöne, reiche, adlige Etelka zu heiraten. Er schreckt auch nicht davor zurück, mit Dora Zigeunerhochzeit zu feiern, verlässt sie jedoch einen Monat später, ohne von Doras Schwangerschaft zu erfahren. Nachdem Dora von der kurz bevorstehenden Hochzeit von László und Etelka erfahren hat, unterbricht sie zur rechten Zeit die Hochzeitszeremonie in der Dorfkirche, um László um die Richtigstellung dieses für sie offensichtlichen Irrtums zu bitten. Doch coram publico wird sie für eine Gotteslästerin und für verrückt erklärt und augenblicklich arretiert. Mithilfe des alten Zigeunergeigers Peti gelingt ihr die Flucht aus dem Gefängnis. Im Fieberwahn erdolcht sie den im Ehebett schlafenden László. In der daraufhin einsetzenden Hetzjagd auf die beiden ZigeunerInnen wird Peti von einem Stein erschlagen, und Dora rettet sich vor dem Erhängungstod, indem sie sich mit demselben Dolch, mit dem sie László getötet hat, das Leben nimmt. 25 GRELLMANN, Heinrich Moritz Gottlieb: Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung. Zweyte, viel veränderte und vermehrte Auflage. Göttingen: Dieterich 1787 (1783); cf. KUGLER, Stefani: Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des »Zigeuners« in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Trier: WVT 2004. 26 Cf. WIGGER 1996, pp. 37-66; zu historischen Texten der Ziganologie cf. WILLEMS, Wim: Außenbilder von Sinti und Roma in der frühen Zigeunerforschung. In: GIERE, Jacqueline (Hg.): Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners: zur Genese eines Vorurteils. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag 1996, pp. 87-108; KUGLER 2004, pp. 77f; UERLINGS, Herbert/ PATRUT, Iulia-Karin (Hg.): ›Zigeuner‹ und Nation. Repräsentation-Inklusion-Exklusion. Frankfurt am Main e. a.: Peter Lang 2008. 27 Delle Grazie bezeichnet sie auch als »Gerichtsdiener«. Zur wechselhaften Geschichte dieser österreichischen Soldaten ursprünglich slavisch-rumänischer Abstammung seit dem 17./ 18. Jahrhundert cf.: <http: / / www.kuk-wehrmacht.de/ regiment/ grenzer/ panduren.html>. <?page no="204"?> 204 Alexandra Millner Delle Grazie verwendet hier durchaus populäre Stoffe, die sie jedoch bewusst variiert: Die Aussichtslosigkeit einer Liebe über Standesgrenzen hinweg verstärkt sie durch die Unüberbrückbarkeit der ethnischen Differenz, doch führt sie die Geschichte von Dora und László keinem märchenhaft-glücklichen Ende zu. Damit fokussiert sie ihre Erzählung nicht auf die Möglichkeit, durch wahre Liebe alle Hindernisse zu überwinden, sondern auf die Tatsache, dass der ausgrenzende Umgang mit fremden Kulturen alle Mitmenschlichkeit und Solidarität verhindert; nicht auf vereinigende Kräfte verweist sie, sondern auf das Trennende als Motor gesellschaftlicher Dynamiken. Die Figuren der Erzählung sind zwar stereotyp gezeichnet, doch werden die Liebenden durchaus mit individuellen Zügen ausgestattet, sodass Lászlós Ringen um eine Entscheidung im Kampf zwischen Pflicht und Neigung, zwischen der finanziellen Versorgung durch Etelka und der Liebe zu Dora durchaus nachvollziehbar ist und das allgemeine Dilemma des Individuums in der Gesellschaft exemplarisch dargestellt wird. Das böse Ende der Geschichte straft jene gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Zwänge, denen László sich durch seine vernunftgeleitete Entscheidung für Etelka unterwirft, jedoch Lügen. Abgesehen von diesen stofflichen Versatzstücken aus Liebesgeschichten bedient sich die Autorin auch stereotyper Zigeunerdarstellungen, wie sie sich zu jener Zeit großer Beliebtheit erfreuten, wählt darin jedoch bewusst aus unterschiedlichen Konventionen aus, die sie frei miteinander kombiniert. Dabei sind vor allem die Parallelen zu zwei prominenten Werken augenscheinlich, für die Wien als Aufführungsort von besonderer Bedeutung war: Georges Bizets Oper Carmen (1875) und Johann Strauß’ Operette Der Zigeunerbaron (1885). Für die Oper Carmen begann nach einer nur wenig erfolgreichen Uraufführung an der Pariser Opéra-Comique erst mit der deutschsprachigen Erstaufführung an der Wiener Hofoper im selben Jahr ein weltweiter Erfolg; 28 die Operette Der Zigeunerbaron wurde ein Jahrzehnt später (im Erscheinungsjahr der Erzählung) im Theater an der Wien erfolgreich uraufgeführt. Da beide Aufführungen in der Wiener Hochkultur großes Aufsehen erregten, ist anzunehmen, dass delle Grazie beide Werke wenn schon nicht direkt rezipierte, so zumindest die im Allgemeinen positive Rezeption aus nächster Nähe miterlebte und mit den Inhalten der Libretti oder deren jeweiligen literarischen Vorlagen - Prosper Mérimées Novelle Carmen (1845) beziehungsweise Mór Jókais Roman A czigánybáró/ Der Zigeunerbaron (1885) wenigstens in groben Zügen vertraut war. 29 28 Cf. GROVE’S DICTIONARY OF MUSIC AND MUSICIANS. 5. Aufl. Hg. v. Eric Blom. Bd. I. A-B. London e. a.: Macmillan 1976, pp. 739 f. 29 Cf. MÉRIMÉE, Prosper: Carmen. Paris: Imprimerie de H. Fournier et Cie 1845. Mérimées Novelle diente als Vorlage für das von Henri Meilhac und Ludovic Halévy verfasste Libretto zu Georges Bizets Oper Carmen (1875). Cf. ›http: / / www.theater-nordhausen.de/ img/ progheft05/ programmheft_carmen. pdf‹; cf. JÓKAI, Mór: A czigánybáró. Regény. Budapest: Révai Testvérek 1885. Jókais Roman wurde für Johann Strauß’ Operette Der Zigeunerbaron, am 24. Oktober 1885 im Theater an der Wien uraufgeführt, vom Librettisten Ignaz Schnitzer bearbeitet. Cf. KLOTZ, Volker: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München: Piper 1991, pp. 37-47; 602. <?page no="205"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 205 In der Figur der Dora finden sich zwar Anklänge an die »schöne Zigeunerin« als unwiderstehlich schöne Wilde, doch entspricht sie nicht dem »Prototyp […] der femme fatale« 30 , wie sie von Mérimées Carmen verkörpert wird. Wie Carmen ist auch Dora mit einem Mann konfrontiert, der sich im Dilemma zwischen individuellem Begehren und gesellschaftlicher Verpflichtung, zwischen zwei moralischen Grundsätzen befindet, und auch ihr gelingt die Flucht aus dem Gefängnis, vor dem gesetzlichen Zugriff der Mehrheitsgesellschaft, deren Gesetzgebung und ethischen Normen sie sich unterworfen sieht. Doch anders als in Carmen ist es bei delle Grazie nicht der Mann, sondern die Zigeunerin, die hingebungsvoll und treu liebt und die verschmähte Liebe durch den Mord an der geliebten Person rächt - eine Umkehrung des Stereotyps der leidenschaftlich liebenden, doch treulosen Zigeunerin. Damit durchbricht delle Grazie die Erwartungshaltung des Lesepublikums. Wie im Zigeunerbaron ist auch Doras genaue Herkunft ungeklärt, weshalb sie in der eigenen Gruppe eine Randbeziehungsweise Sonderstellung einnimmt. In beiden Texten wird die Verbindung der Liebenden in einer Zigeunerhochzeit gefeiert, was zugleich Ausdruck der Akzeptanz des Fremden durch die Gruppe ist. Doch zerstört delle Grazie dieses (vorläufig) gute Ende, indem sie dem märchenhaften Waldidyll des Zigeunerlagers die im Dorf vorherrschenden unmenschlichen und ungerechten sozialen Praktiken gegenüberstellt. Auch verwehrt sie die Aufklärung der tatsächlichen Abstammung der vermeintlichen oder halben Zigeunerin als Ausweg aus einem ethnisch bedingten Konflikt. Dennoch wird wie im Zigeunerbaron auch in delle Grazies Erzählung - wenn auch auf völlig andere Art - die ursprüngliche gesellschaftliche Ordnung wiederhergestellt. Während bei Strauß die Restauration gefeiert wird, wird diese bei delle Grazie - aufgrund der Fokussierung auf die individuellen Opfer - betrauert. In Analogie zum Franzosen Mérimée, der seine Carmen-Geschichte wegen des exotischen Kolorits im spanischen Sevilla 31 ansiedelt, wählen sowohl der Ungar Jókai als auch die aus dem damaligen Südungarn stammende Wahlwienerin delle Grazie das Banat als Schauplatz ihrer jeweiligen Handlung. Beide Regionen galten damals aufgrund ihrer - von einem gedachten Zentrum Zentraleuropa aus - südlichen Randlage als Grenzgebiete des europäischen Zivilisationsraums und als durchlässig zu den noch südlicher gelegenen und für unzivilisiert gehaltenen Völkern des Orients, Asiens und Afrikas. 32 Auch in Bezug auf ihre Erzählung Die Zigeunerin kann von einer bewussten Gestaltung intertextueller Bezüge ausgegangen werden, die auf eine spezielle 30 HÖLZ, Karl: Zigeuner, Wilde und Exoten. Fremdbilder in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002, pp. 103-129, hier p. 103. 31 Der Ausspruch »Jenseits der Pyrenäen beginnt Afrika.« wird auf Mérimée zurückgeführt. Cf. KIND- LERS NEUES LITERATUR LEXIKON. Hg. v. Walter Jens. Bd. 11: Ma-Mo. München: Kindler 1988, pp. 573 f. 32 Cf. Den Beitrag von Christian MARCHETTI in diesem Band, insbesondere den Abschnitt über frontier orientalism. <?page no="206"?> 206 Alexandra Millner Wirkung abzielen wollte. Denn delle Grazie bewies nicht zuletzt aufgrund ihrer literarischen Bearbeitung historischer Stoffe 33 Belesenheit und Bildung. 4 Ordnung des Raumes - Raum der Ordnung Die Autorin fingiert eine Geschichte von einer transethnischen und nicht standesgemäßen Liebe mit tragischem Ende. Abgesehen von den neuen Wendungen, die sie dem konventionellen Stoff gibt, liegt das Überraschungsmoment dieses Textes in seiner Erzählstrategie, der Raumkonstruktion und, damit verbunden, der ethnischen und genderbezogenen Differenzierung der Figuren. Delle Grazie lässt eine heterodiegetische Erzählerin zu Wort kommen, die häufig aus Doras Perspektive erzählt, was die Identifikation mit deren Problematik fördert. Die Autorin versucht selbst die Nebenfiguren individuell zu zeichnen und zugleich mit ihren Zugehörigkeiten und ihrem sozialen standing innerhalb der jeweiligen Gruppierung zu erfassen. Dadurch enthebt sie ihre Figuren und ihre Geschichte der Gefahr stereotyper Symbolisierungsprozesse durch die Leserschaft, welche zur originären Lektüre gezwungen ist. Im vorliegenden Beitrag wird zwischen den Begriffen »Raum« und »Ort« in der Nachfolge von Michel de Certeau unterschieden: Raum kommt demnach durch die Gesamtheit der Aktivitäten, der Praktiken durch historische Subjekte erst zustande und ist zeitlichen Transformationen unterworfen, während der Ort eine Ordnung bezeichnet, die sich auf die Koexistenz von Objekten bezieht und von einer - zumindest momentanen - Stabilität gekennzeichnet ist. 34 Der erzählte Raum in delle Grazies Erzählung wird einer immer enger werdenden Fokussierung unterzogen, wobei durch die dadurch erzielte Annäherung an die Figuren deren Verortung in der sozialen Hierarchie und deren individuelle Problematik immer plastischer zum Ausdruck kommen. Zudem sind die Räume in Analogie zur inneren Befindlichkeit der Protagonistin gestaltet, deren entgrenzende Liebeserfahrung hin zu einer lebensbedrohlichen Notsituation enggeführt wird. Grundsätzlich sind die Naturräume - die Puszta, das Eichenwäldchen - positiv und von christlichen Tugenden der Nächstenliebe und Menschlichkeit gekennzeichnet, während die Orte der Zivilisation - das Dorf, die Funktionsräume des Gerichts, des Gefängnisses, ja sogar der Kirche - negativ skizziert werden: In ihnen herrscht das erstarrte Prinzip sozialer Ungerechtigkeit vor, durch welche die gesellschaftliche Hegemonie mit ihren auf Undurchlässigkeit abzielenden Grenzziehungen performativ stets aufs Neue gefestigt wird. Die acht Kapitel der Erzählung spielen jeweils an einem anderen Schauplatz, wobei die erste Hälfte zum Großteil im Freien spielt: die Begegnung zwischen Dora und László, in der sich ihre Liebe manifestiert, findet auf der Heide statt (I), 33 Mit ihrem Robespierre-Epos (1894) erlangt delle Grazie große Berühmtheit. 34 Cf. CERTEAU 1988, pp. 218 f. <?page no="207"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 207 die Entfaltung dieser Liebe (II) und der Zenith ihrer Entwicklung (IV) sind im Zigeunerlager im Eichenwald angesiedelt. Die positive Utopie neuer sozialer Praktiken findet außerhalb der »Zivilisation« statt. Nur das dritte Kapitel, das im Dorf spielt, unterbricht diesen Entwurf einer Gegenwelt und gibt eine Vorahnung von der die Zivilisationsgesellschaft beherrschenden sozialen Ungerechtigkeit: mit der Kirche, dem Gefängnis und dem Richterhaus sind die wichtigsten Säulen der Gesellschaftsordnung genannt, die Religion und der Staat mit ihrer jeweiligen Gesetzgebung, wobei delle Grazie vorerst nur in eines der Gebäude Einblick gewährt: Im Richterhaus werden wir Zeugen von in mehrfacher Hinsicht ungerechten Vorgängen (siehe unten), welche die Wende in der Entwicklung der Ereignisse ankündigen. Waren die UngarInnen und ZigeunerInnen - bis auf Dora und László - bislang räumlich voneinander getrennt, so beginnen sich die beiden gesellschaftlichen Sphären in der zweiten Hälfte der Erzählung, die nach einer dreimonatigen Zäsur einsetzt, auf unheilvolle Weise miteinander zu vermischen: Im Zigeunerlager lässt sich Lászlós glückliche Braut Etelka unbekannter Weise von der vom selben Mann verlassenen, verzweifelten Dora ihre Zukunft vorhersagen und segnen; ein alter Jude aus dem Dorf erzählt Dora ebendort von der bevorstehenden Hochzeit (V), Dora dringt während der Hochzeitszeremonie in die Dorfkirche ein (VI), sie landet im Gefängnis und dringt in das Richterhaus vor, um sich für die erlittene Ungerechtigkeit zu rächen (VII). Am Ende steht Doras und Petis kaum als solches erkennbares Grab in der Heide. Auf den ersten Blick fällt sofort auf, dass die erzählten Räume - nicht nur in Bezug auf deren räumliche Ausdehnung, sondern auch auf die persönliche Freiheit - immer enger werden. Die Zigeunerin kommt aus dem von der Zivilisation unberührten Raum der weiten Puszta, in die dem Dorf gegenüberstehende Gegenwelt des Zigeunerlagers, in die Repräsentationsräume der Zivilisation und gesellschaftlichen Ordnung (Kirche, Richterhaus) und endet schließlich nach einem kurzen Aufenthalt in der Gefängniszelle und dem vergeblichen Versuch, in die Weite der Puszta zu fliehen, in einem Grab. Mit dem Gefängnis und dem abgeschiedenen Grab sind jene Orte angesprochen, die Michel Foucault als Abweichungsheterotypien bezeichnet, da sie Orte sind, »an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht« 35 . Das Grab ist in diesem Fall nicht nur weit außerhalb des Dorfes gelegen, sondern noch dazu nicht als solches gekennzeichnet, was durch die Beinahe-Auslöschung einer Extremform dieser »anderen Räume« 36 gleichkommt. Delle Grazies Erzählung beginnt und endet an der Schnittstelle von Naturraum und Gesellschaftsraum, dort, wo ein besiedelter Teil des Banats (ein Dorf) in das nur dünn besiedelte und damals größtenteils zur Viehzucht genutzte Land 35 FOUCAULT, Michel: Von anderen Räumen. A. d. Frz. v. Michael Bischoff. In: DERS.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4. Hg. v. Daniel Defert, Francois Ewald. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, pp. 931-942, hier p. 937. 36 Diese Räume im Foucault’schen Sinne wären in Certeaus Terminologie weitgehend als Orte zu bezeichnen; ich begnüge mich hier mit der Kennzeichnung dieses Problems durch Anführung, zur genaueren Unterscheidung siehe oben. <?page no="208"?> 208 Alexandra Millner der Puszta übergeht. Delle Grazie macht im Certeau’schen Sinne die Puszta als Raum erst durch die Bewegung der Subjekte erzählbar 37 und entwirft sie in exotistischer Manier als zivilisationsferne Wildnis und damit als Gegenraum, der die Gruppe der »edlen Wilden« 38 , der ZigeunerInnen, in den »Erzählraum« der Erzählerin »hineingebiert«. Zu Beginn der Erzählung stehen also die Leere, die Weite und die Unendlichkeit der Puszta, die »in sich selbst verloren, einsam und schwermütig […] das verkörperte Bild der menschlichen Sehnsucht, die sich ewig in’s Unendliche ergießen will und ewig von den hemmenden Schranken der Endlichkeit umschlossen findet«. 39 Die Puszta - hier mit einer metaphysischen Dimension versehen und als Projektionsraum einer nicht näher bestimmten Sehnsucht in ihrer Unerfüllbarkeit als menschliche Grundkonstante, als Utopie/ Nicht-Ort nicht-realisierbarer Wünsche entworfen - wird von ungarischen Schafhirten bewohnt, die erst bei Sonnenuntergang zur Aktivität erwachen und ihren beinahe rituellen Tätigkeiten nachgehen, bevor sie sich der Abendruhe hingeben. Die Handlung der Erzählung setzt erst in dem Augenblick ein, als durch das Zusammentreffen der unterschiedlichen Gruppen - der ZigeunerInnen, Panduren, Schafhirte und des Richtersohns - die Verhandlung der Differenzen notwendig wird. Delle Grazie zeichnet insofern die Schaffung eines möglichen sozialen Raums nach, in dem soziale Hierarchien und Gesetze in Kraft treten. In die friedliche Abenddämmerung bricht der Lärm einer herannahenden Menschengruppe ein: Nur aus einzelnen Hürden schallt das Gebell der wachsamen Hunde, nur aus einzelnen Gehöften klingt die leise, schwermütige Melodie eines ungarischen Volksliedes. Da horch! Plötzlich ertönen laute Hilferufe und in das wirre Geschrei banger Weiber und Kinder mischt sich das knarrende Geräusch alter Wagenräder, der dumpfe Hufschlag schnaubender Pferde, Säbelgeklirr und das wüste Fluchen rauher Männerkehlen. Rasch springen die Hirten vom Lager und eben so rasch greifen sie nach ihren langen, eisenbeschlagenen Stöcken. 40 Die auffällige akustische Gestaltung der Szene ist nicht nur der Sichtverminderung durch die Abenddämmerung geschuldet, sondern stellt auch ein Mittel dar, den Eindruck der Unendlichkeit der Pusztalandschaft durch eine akustisch sich äußernde Zeitkomponente zu zerstören. Die Geräusche lassen auf die Verfolgung einer ängstlich und wütend protestierenden Menschengruppe durch Bewaffnete 37 Cf. CERTEAU 1988, p. 219. 38 FRENZEL, Elisabeth. „Wilde, der edle.“ Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4. Aufl. Stuttgart: Kröner 1992, pp. 830-844; cf. KAUFMANN, Stefan/ HASLINGER, Peter: Einleitung: Der Edle Wilde - Wendungen eines Topos. In: FLUDERNIK, Monika/ KAUFMANN, Stefan/ HASLINGER, Peter (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg: Ergon 2002, pp. 13-29; FLU- DERNIK, Monika: Der »Edle Wilde« als Kehrseite des Kulturprogessivismus. In: ibid., pp. 157-175. 39 DELLE GRAZIE 1885, p. 1. 40 Ibid., p. 5. <?page no="209"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 209 schließen. Interessant sind die Reaktionen unter den Hirten, die von Solidarität über Angst um das eigene Wohlergehen bis zu Gleichgültigkeit reichen. Meinen sie zuerst, einen betrunkenen Kameraden aus »Pflicht lautester Nächstenliebe« 41 aus den Fängen der Panduren befreien zu müssen, so befürchten sie bald, Zeugen eines Raubüberfalls durch Angehörige des als räuberisch und roh geltenden magyarischen Volksstammes der Batyáren 42 zu werden, und lassen schließlich vom ursprünglichen Gedanken der Hilfeleistung völlig ab, als sie erkennen, dass es sich um eine Gruppe von ZigeunerInnen handelt. Damit sind von Seiten der Hirten gegenüber den Fremden die ethnisch-sozialen Grenzen gezogen. Durch ihr taten- und kommentarloses Zusehen akzeptieren sie die Handlung der Panduren beziehungsweise die Misshandlung der ZigeunerInnen und fixieren sie in ihrer gesellschaftlich konstruierten Alterität. Die Erzählerin übernimmt zu Beginn für kurze Zeit die Sichtweise der Hirten, hört, wie sich die scheinbar aus dem Nichts kommenden »Störenfriede« nähern. Mit der Annäherung der Störenfriede in Sichtweite der Hirten kristallisieren sich aus der diffusen akustischen Szene drei Lager heraus: die stumm beobachtenden ungarischen Hirten, die in ihrer stoischen Privatheit gestört werden und in der Folge völlig in den Hintergrund treten, sich in ihm aufzulösen scheinen; die auf ihrer Flucht laut schreienden und fluchenden ZigeunerInnen und zwei »drohend und säbelklirrend« 43 dahinreitende Panduren, welche die ZigeunerInnen verfolgen. Der klare Klang des Säbelklirrens der Panduren hebt sich vom wirren Geräuschteppich des chaotischen Zigeunertrosses deutlich ab; seine Dominanz deutet an, dass die Gruppe von den Panduren bereits unter Kontrolle gebracht wurde. Mit dieser Szene beginnt die Darstellung des performativen Akts einer sozialen Grenzziehung zwischen drei ethnisch-sozial differenzierten Bevölkerungsgruppen, die der Gesetzestreue (Hirten), Gesetzesrepräsentation (Panduren) und Gesetzlosigkeit (ZigeunerInnen) zugeordnet werden können. Dabei wird andeutungsweise der analytische Versuch unternommen durch Fokalisierungswechsel (zwischen den Hirten und den ZigeunerInnen) einen Teil der Reaktionen zu motivieren. Da die ZigeunerInnen aus dem undefinierbaren, weiten Raum der Puszta kommen, wird ihre Fremdheit und damit ihre Bedrohlichkeit in Bezug auf die herrschende Ordnung unterstrichen. Auch in dieser Hinsicht zeichnet delle Grazie eine Grenzsituation nach, die zwar an geografische wie politische Begebenheiten geknüpft ist, tatsächlich aber ein inneres Konstrukt, ein soziales Phänomen darstellt. Die Zigeunergruppe wird des Weiteren genauer nach Geschlecht und Alter differenziert: Die Männer sind durch ihr dunkles, stämmiges Äußeres charakterisiert, das keinerlei Emotionen durchscheinen lässt, obwohl sie sich zugleich aktiv zur Wehr setzen. Im Gegensatz dazu haben sich die Frauen und Kinder in 41 Ibid., p. 6. 42 Cf. PIERER’S UNIVERSAL-LEXIKON, Band 19. Altenburg 1865, p. 808. 43 DELLE GRAZIE 1885, p. 7. <?page no="210"?> 210 Alexandra Millner ihre durch Geschrei und Gesten zum Ausdruck kommende Verzweiflung und Schrecken förmlich aufgelöst. Delle Grazie folgt durch diese Aufteilung der Dichotomien aktiv/ passiv, rational/ emotional zwischen den Geschlechtern den tradierten Mustern der Geschlechterstereotypen. Zwei Personen stehen, nicht zuletzt aufgrund ihres ruhigen Verhaltens und ihrer Positionierung am Rande der Szene, gänzlich außerhalb dieser Kategorisierung: »ein hoher, halberblindeter Greis, der fast zärtlich eine alte Violine an sein Herz drückt, und ein schlankes, etwa achtzehnjähriges Mädchen, das träumend und selbstvergessen zum hellgestirnten Himmel emporschaut. 44 « Ihnen gilt die Aufmerksamkeit der Erzählerin: Durch die genaue Beschreibung werden zwei Figuren nicht nur als Individuen und damit Sympathieträger des Lesepublikums gekennzeichnet, sondern auch als Außenseiter der Gruppe markiert. Als der Menschenzug zum Stillstand kommt, wird auf die Interaktionen zwischen den Gruppierungen fokussiert, wobei die Erzählstimme durch Epitheta deutlicher hinter den Ereignissen hervortritt und dadurch auf gesellschaftliche Vorurteile gegen ZigeunerInnen verweist: Mit einer bewunderungswürdigen Resignation ergeben sich die braunen Landstreicher jetzt in ihr Schicksal und nehmen in Erwartung der kommenden Dinge womöglich die demütigsten und unschuldigsten Mienen an. Die Zigeuner fragen überhaupt nie, warum sie verfolgt werden; denn erstens sind sie schon von jeher die traditionellen Sündenböcke, und zweitens haben sie wirklich nur höchst selten ein reines Gewissen. 45 Die anfängliche Bewunderung der Erzählerin für die gelassene Ergebenheit der ZigeunerInnen in ihr vorgezeichnet erscheinendes Schicksal wird von ihrem Erklärungsversuch abgelöst, der den Zirkelschluss der allgemeinen Vorurteile gegen ZigeunerInnen vorführt: Weder kann die Klärung der Schuldfrage am Stereotyp der halbkriminellen ZigeunerInnen etwas ändern, noch wird diese überhaupt angestrebt. Ob die Beschuldigten nun zu einer Verteidigungsrede anheben oder sich resignativ in die oktroyierte Rolle der Sündenböcke ergeben - immer werden ihre Reaktionen als Schuldbekenntnisse ausgelegt werden, immer wird ihre Andersheit dadurch nur noch stärker verfestigt werden. Es ist das Dilemma einer double bind-Situation, in der die Beurteilung des Eigenen einer beherrschenden fremden Logik und keineswegs wohlwollenden Macht ausgeliefert ist und in jedem Fall ungünstig ausfallen muss. Da es sich bei diesen negativen Eigenschaften um Fremdzuschreibungen handelt, muss die ausgrenzende Differenzproduktion von außen unaufhörlich diskursiv und performativ erneuert werden: » ›[…] Erbärmliches Gesindel, Diebsvolk, haben wir euch endlich! ‹ ruft der eine Pandur mit rollenden Augen, während der andere gewandt vom Pferde herabspringt und den Zigeuner beim Kragen seines schmutzigen Hemdes faßt.« 46 44 Ibid. 45 Ibid., p. 8. 46 Ibid., p. 9. <?page no="211"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 211 Die verbale Attacke ist gegen die Gesamtheit der ZigeunerInnen gerichtet und fragt nicht nach dem Individuum - ein Mechanismus, der xenophob-ausgrenzenden Strategien inhärent ist. Es folgt ein Verhör des Verteidigungsredners der ZigeunerInnen, durch dessen Innenansicht die Unschuld - zumindest für die Leserschaft - beglaubigt wird: Dieser aber befreit sich durch einen schnellen Ruck aus den Händen seines Peinigers, stemmt beide Arme in die Seite und blickt die fluchenden Ungarn mit herausfordernden Mienen an. Hat er doch zum erstenmale in seinem Leben das Bewußtsein, unschuldig verfolgt zu werden, warum sollte er da nicht den Entrüsteten, den Beleidigten spielen? 47 Während in Bezug auf die Panduren konsequent externe Fokalisierung vorherrscht, ist die Distanz zum Redner der Zigeunergruppe plötzlich überwunden: In transponierter Rede soll der Einblick in seine Gedanken den Unschuldsbeweis erbringen, auch wenn die Erstmaligkeit dieses Vorfalls seine generelle Schuldhaftigkeit indirekt unter Beweis stellt. Durch die kurze interne Fokalisierung zwingt delle Grazie ihre LeserInnen dazu, die Perspektive des Zigeuners einzunehmen und die Ordnung der Mehrheitsgesellschaft von seinem externen Standpunkt aus zu betrachten. In der darauf folgenden Durchsuchung wird die Beschreibung der Männer völlig ausgeblendet, während die Frauen zu unheimlichen Wilden stilisiert werden: Schon geht es an die Weiber; aber hier haben die Panduren einen schwereren Stand, denn mit Ausnahme des schon früher erwähnten Mädchens ist das weibliche Geschlecht dieser Bande nur durch keifende Mütter und alte Hexen vertreten, welche den Gerichtsdienern bei jeder Annäherung wütende Blicke zuwerfen und ihnen, offenbar nicht ohne Berechnung, ihre mit langen Nägeln bewaffneten Finger zeigen. Es ist jedoch keineswegs ein besonders ausgebildetes Schamgefühl, welches sie vor jeder Berührung mit Männern zurückschrecken läßt; auch wollen sie ihren Eheherren durch ein solches Benehmen keinen Beweis ihrer Treue liefern - aber Rache ist es, glühende Rache! Ja, rächen wollen sie sich für die unnütze Angst, für die umsonst vergossenen Thränen, kurz für Alles, was sie durch die Verfolgung der Panduren ausgestanden haben. 48 Wiederum werden die äußere Beobachtung - die Zigeunerinnen mit ihren wütenden Blicken und langen Fingernägeln - und das Stereotyp der bösen Hexe untrennbar ineinander verwoben, Eigenschaften und Zugehörigkeiten essenzialisiert und damit Vorurteile geschürt. Dabei ist auffällig, dass die negativen Eigenschaften der ZigeunerInnen stets indirekt formuliert werden: Ex negativo also werden die Frauen als untreu und schamlos bezeichnet. Gleichzeitig versucht die Autorin aber auch durch die Innensicht auf die nachvollziehbare Motivation ihres Verhaltens (Rache) aufmerksam zu machen und zu empathischen Reakti- 47 Ibid. p. 11. 48 Ibid., pp. 12 f. <?page no="212"?> 212 Alexandra Millner onen zu animieren, welche der üblichen Essenzialisierung eines archetypischfurienhaften Temperaments entgegenwirken soll. Auch in dieser Notsituation erfahren die beiden Außenseiter eine Sonderbehandlung und bleiben sowohl von der pejorativen Beschreibung der Frauen durch die Erzählerin als auch von der Durchsuchung durch die Panduren verschont: Peti, weil er für verrückt erklärt wird, und Dora, weil die Amtshandlung vom »Hufschlag eines näher und näher herangaloppirenden Pferdes« 49 unterbrochen wird. Damit tritt durch die individualisierende Hervorhebung der Figur neben dem ungleichen Paar ein dritter Sympathieträger auf, der junge Richtersohn László, der, wie bereits erwähnt, die Gruppe fortan in Schutz nehmen wird. Das Zusammentreffen von Panduren und ZigeunerInnen führt einerseits die scharfe Trennung zwischen den beiden ungleichen Bevölkerungsgruppen vor Augen und zeigt andererseits die interne soziale Differenzierung der ZigeunerInnen. Mit den Gerichtsdienern, den Repräsentanten des Gesetzes, wird im sozial unmarkierten Raum der Puszta - zumindest temporär - die universalistische Ordnung der (österreichisch)-ungarischen Mehrheitsgesellschaft installiert. Deutlich sind die sozial und ethnisch differenzierten Bevölkerungsgruppen im Text auch dementsprechend räumlich »segregiert«: Während die sozial niedrig stehenden ungarischen Schafhirten sommers in der Nähe des Dorfes in Streusiedlungen und am Rande der weiten Puszta leben und sich als Teil einer natürlichen Ordnung nur dem Wetter beugen, sind ihre Frauen mit Hausarbeit und Kindererziehung beschäftigt und fürchten die Besuchstage ihrer Männer, da sie von Streit und Prügel geprägt sind. Die traditionelle Geschlechterhierarchie bleibt in der Erzählung ungeachtet der ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit der Figuren unangetastet und korrespondiert durchwegs mit der üblichen räumlichen Segregation. Die hierarchischen Strukturen der ungarischen Mehrheit und deren gesellschaftliche Ordnung sind im Zentrum des geschlossenen Gebäude-Ensembles des Dorfes, konkret an den öffentlichen Gebäuden der Kirche, Richterstube und des Gefängnisses ablesbar. Damit ist auch die soziale Position der DorfbewohnerInnen als Teil einer Hierarchie fixiert, die jene Akteurinnen und Akteure schafft, durch die sie zugleich aufrecht erhalten wird. Innerhalb der Dorfgemeinschaft ist nur ein alter Jude ohne bestimmten Ort und als Außenseiter stigmatisiert, der zu allen Äquidistanz hält: Er wandert zwischen den Räumen, verbreitet wirkmächtige Neuigkeiten und trägt insofern Züge des Ewigen Juden. Aufgrund seiner integren Moral als Überbringer der Wahrheit (über den Diebstahl, dessen die ZigeunerInnen verdächtigt werden) muss er außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehen, deren Hüter sich - vor allem zum eigenen Vorteil - durch Willkürakte die Macht zu sichern versuchen: Der Richter lässt sich sein Schweigen vom wirklichen Uhrendieb teuer bezahlen und besticht wiederum seine Gerichtsdiener; der Jude aber wird vor den Augen des Richters vom Dieb verprügelt und beraubt. Damit verkörpert der Jude das offene 49 Ibid., p. 15. <?page no="213"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 213 Geheimnis einer zu unrecht bestehenden Ordnung. Er ist jene verdrängte Wahrheit, die zum Licht drängt und dadurch bedrohlich wird, ein der Gesellschaft entfremdeter ursprünglicher Zustand, der im Freud’schen Sinne unheimlich ist. 50 Während er durch sein Festhalten an den Werten der Wahrheit, Ehrlichkeit und Sittlichkeit die Erhaltung des unmoralischen Universalismus bedroht, stören zwei Gruppen, die gänzlich außerhalb der ansässigen Bevölkerung stehen - die Zigeuner und die Batyáren -, aufgrund ihres Nomadentums die soziale Ordnung, da sie sich mangels Zugehörigkeit und aufgrund eines erschwerten Zugriffs durch die »Obrigkeit« deren Machtinstrumenten zu entziehen drohen. 51 5 Grenzüberschreitungen László setzt sich über die ausgrenzende hegemoniale Ordnung hinweg und stellt damit nicht nur seine Zivilcourage, sondern im Sinne Zygmunt Baumans (in Anlehnung an Richard Sennett) auch seine »Zivilität« unter Beweis, da er fähig ist, »mit Fremden zu interagieren, ohne ihnen ihr Fremdsein zum Vorwurf zu machen, oder sie zu nötigen, das, was sie zu Fremden macht, abzulegen oder zu verleugnen« 52 . Damit ist eine klare Differenzierung des Eigenen vom Anderen und das wechselseitige Belassen der Alterität angesprochen. Es ist diese Haltung grundsätzlichen Respekts, die erst jene »soziale Offenheit in Reinform« 53 und damit jenen neutralen Verhandlungsraum in der interkulturellen (und zwischenmenschlichen) Begegnung ermöglicht, der von Homi K. Bhabha als Begriff des Dritten Raums in den postkolonialen Diskurs eingeführt wurde. 54 Transgression verhindert die Wahrnehmung des Anderen, wie umgekehrt Distanz erst die Schaffung dieses Verhandlungsraums ermöglicht, in dem gemeinsam neue Formen kultureller Bedeutung geschaffen werden können. Paradoxerweise führt gerade die Wahrnehmung der Differenz, des abgrenzenden Unterschieds und der daraus resultierenden wahrnehmbaren Grenze zwischen dem Ich und 50 FREUD, Sigmund: Das Unheimliche (1919). In: DERS.: Gesammelte Werke. Bd. 12. Werke aus den Jahren 1917-1920. Hg. v. Anna Freud e. a. Frankfurt am Main: Fischer 1999, pp. 227-268, hier p. 254: »[…] denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.« Cf. Julia Kristeva, die Sigmund Freuds Theorie über das Unheimliche zu einer Theorie des Fremden weiterentwickelt in: KRISTEVA, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, pp. 199 ff. 51 Dabei ist zu beachten, dass in der zeitgenössischen Ethnografie das Nomadentum und alle daraus gefolgerten kollektiven Charaktereigenschaften nicht als Folge bestimmter Lebensumstände, sondern durchwegs als essenzialistisch betrachtet wurden. 52 BAUMAN, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press 2000), p. 125. Sennett versteht darunter jenes Verhalten, das als schützende Maske helfen soll, andere nicht mit den eigenen Problemen zu belasten. Cf. SENNETT, Richard: The Use of Disorder: Personal Identity and City Life. London: Faber & Faber 1996. 53 SENNETT, Richard: The Fall of Public Man: On the Social Psychology of Capitalism. New York: Vintage Books 1978, p. 264. 54 BHABHA, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000 (The Location of Culture. London, New York: Routledge 1996). <?page no="214"?> 214 Alexandra Millner dem Du dazu, diese Grenzen - in gewisser Hinsicht - überwinden zu können, ohne dabei dieses Ich oder Du ent-grenzen zu müssen. Diese Grenzüberwindung »in gewisser Hinsicht« meint die Tatsache, dass Grenzen als inhärenter Teil der Differenz zwar bestehen bleiben, doch durch den - notwendigen - Akt der Verhandlung als Trennendes und Ungleichheiten Schaffendes zugleich unerheblich werden. Mit diesem Akt kultureller Übersetzung wird, nach Judith Butler, das Problem der Universalität gelöst. 55 Lászlós Erscheinen markiert den Beginn einer sozialen Utopie als Alternative zu jener ausschließenden Differenzproduktion, die sich - will man delle Grazie die Absicht zu einer Bestandsaufnahme der späten Habsburger Monarchie unterstellen - im Umgang zwischen den ethnischen Gruppen, namentlich zwischen der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft, eingebürgert hat und deren performative Gültigkeit von den Panduren verkörpert wird. Delle Grazies Erzählerin distanziert sich von deren Verhalten, indem sie es der Lächerlichkeit preisgibt und in Form einer veralteten Ausrüstung als überholt darstellt: »mit wichtiger Miene und lächerlicher Bravour seinen alten, verrosteten Säbel ziehend« 56 machen sich die Panduren beim Vernehmen der Hufschläge für eine neue Gefahr bereit, die sich jedoch als Lászlós - zumindest für den Moment - relativ harmlose Ankunft herausstellt. In dieser Szene treten die Allianzen und hierarchischen Beziehungen zwischen den Figuren deutlich hervor. Werden in Abwesenheit einer sozial höher stehenden Instanz die ZigeunerInnen mit Vorurteilen beladen und weitgehend negativ konnotiert und die Panduren als unhinterfragte Autorität dargestellt, so kehrt sich das Bild mit Lászlós Auftauchen um. Als Sohn des Richters, jenes Repräsentanten der Macht des Gesetzes, ist er Teil des Rechtsraumes, dessen Exekution wiederum von den Panduren verkörpert wird. László wird als Angehörigem der Eliten symbolisch das Wort erteilt, ihm fällt auch die Aufgabe zu, eine Entscheidung herbeizuführen: Die ZigeunerInnen werden nun aus den wohlwollenden Augen des jungen Richtersohns gesehen, die Panduren aus seiner relativierenden Sicht des Elitenangehörigen kritisch betrachtet. Die ZigeunerInnen lassen László durch ihr devotes Verhalten und die förmliche Anrede, die ihm aufgrund seiner höheren sozialen Position gebührende Ehrerweisung zukommen. László begibt sich ungeachtet seiner hegemonialen Stellung mit ihnen auf eine Gesprächsebene: Er bittet die Panduren zurückzutreten, »damit ich mir die Zigeuner besser betrachten kann! « 57 Damit durchbricht er den Teufelskreis der Vorurteile, der sich konkreten Erfahrungen verschließt. Nicht als diffuse Bedrohung durch ein Fremdes, sondern als Ansammlung von Individuen nimmt er sie 55 Cf. BUTLER, Judith: Die Subjekte von Geschlecht/ Geschlechtsidentität/ Begehren. In: DIES.: Das Unbehagen der Geschlechter. A. d. Amerikanischen v. Katherina Menke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, pp. 15-62; BUDEN, Boris: Cultural Translation: Ein überforderter Begriff. In: NOWOTNY, Stefan/ STAUDIGL, Michael: Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien. Wien: Verlag Turia + Kant 2003, pp. 57-76. 56 DELLE GRAZIE 1885, p. 16. 57 Ibid., p. 18. <?page no="215"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 215 wahr, die er noch vier Jahre nach ihrer ersten Begegnung beim Namen nennen kann - den Anführer Bándi, den Spaßmacher Balthasar, den alten Geiger Peti und die schöne Dora. - Delle Grazie entwirft eine zwischenmenschliche Begegnung »auf gleicher Augenhöhe«, in der durch die Außerkraftsetzung sozialer Hierarchien ein Dritter Raum geschaffen werden kann. In der Folge wird sich allerdings herausstellen, dass Lászlós Grenzüberschreitung die universalistische Ordnung bedroht. Dieser symbolische Dritte Raum wird im Text fernab der Zivilisation in die Puszta projiziert. Die Aneinanderreihung der Perspektiven von Peti, Dora, László und jener des Richters bringt jene Polyphonie hervor, die - nach Michail M. Bachtin - einen »heterogenen Sinn« 58 erschließbar macht. Die Geschichte wird auf differenzierte Weise erzählt und enthält für jede einzelne der Figuren eine je unterschiedliche Wahrheit. Die Empathie der Erzählinstanz liegt jedoch beim schwächsten Glied der sozialen Kette, bei Dora, der die meiste interne Fokalisierung zukommt. Delle Grazie versucht in die privilegierte Rede der Literatur marginalisierte Perspektiven einzubauen, wobei dies - in Anlehnung an die postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivaks - aufgrund der zentralistischen Verankerung damaliger öffentlicher Literaturproduktion ein unmögliches Unterfangen ist: 59 Die als dezentral konstruierten Perspektiven der Unterprivilegierten und Marginalisierten bleiben auf die Vorstellungsmöglichkeiten ihrer im privilegierten (politischen wie sozialen) Zentrum lebenden Schöpferin beschränkt und bezogen. Doch soll dies nicht die literarische Leistung der jungen Autorin schmälern, die sich für ihr naturalistisches Projekt, wie wir aus Rudolf Steiners Schrift wissen, auch heftiger Kritik unterziehen musste. Da sich Interaktionen zwischen den gesellschaftlich hergestellten Räumen am deutlichsten auf der zwischenmenschlichen Beziehungsebene manifestieren, stehen die Begegnungen der einzelnen Charaktere pars pro toto für die Verhandlungen zwischen den jeweiligen »sozialen Räumen«. Natürlich werden darin auch Zugehörigkeitsdifferenzen (Geschlecht, Generation, Ethnie, Klasse, Konfession etc.) mitverhandelt - in delle Grazies Erzählung setzen sich diese letztendlich gegenüber den in der literarischen Utopie neu eröffneten Räumen durch. Gerne wird das Phänomen interkultureller Begegnung in der Literatur und Kunst anhand der Begegnung zwischen Mann und Frau dargestellt, da sich darin die jeweiligen Einschreibungen hegemonialer Beziehungen - zwischen den Ethnien wie zwischen den Geschlechtern - wechselseitig verstärken und die Differenzen besser zum Ausdruck kommen, da zu jener Zeit in diversen Diskursen der Unterschied der Geschlechter als die Differenz schlechthin galt. Diese Assoziation ist nicht nur gemäß zahlreichen Untersuchungen augenfällig, 60 sondern 58 Cf. LACHMANN, Renate: Vorwort. In: BACHTIN, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übers. v. Gabriele Leutpold, Hg. v. Renate Lachmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, pp. 7-48, hier p. 33. 59 Cf. SPIVAK, Gayatry Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Speculations on Widow Sacrifice. In: Wedge 7/ 8 (Winter/ Frühling 1985), pp. 120-130. 60 Cf. DE CERTAU, Michel: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag <?page no="216"?> 216 Alexandra Millner konstitutiver Teil der Genese diverser historischer Emanzipationsdiskurse, wie etwa jenem der Frauenbewegung, die in der zeitgenössischen Fachliteratur von der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika hergeleitet wurde. 61 Durch die alternative Perspektivierung können die Mechanismen einer universalistischen Gesellschaftsordnung - wie jener der (patriarchalen) Mehrheitsgesellschaft - sichtbar gemacht werden. Da der Fokus auf den Differenzen liegt, können deren auf Performativität beruhende Konstruiertheit und damit auch deren prinzipielle Veränderbarkeit aufgezeigt und alternative Modelle sozialer Praxis entworfen werden. Dennoch geht das Vorstellungsvermögen der Autorin nicht über den Erfahrungsraum einer bürgerlichen Frau hinaus; damit bleibt auch ihre literarische Utopie zum Großteil - und zumindest in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern - auf den hegemonialen Diskurs beschränkt. Delle Grazie bleibt in ihrem Frauenbild im Allgemeinen zwar den traditionellen Rollenbildern verhaftet, stellt mit einer sich im ersten Anschein über jegliche Differenzen hinwegsetzenden Verbindung jedoch die Liebesheirat in das Zentrum ihrer Utopie. Damit bringt sie eine der wichtigsten Forderungen der Ersten Frauenbewegung im Kampf gegen die ungleiche Sexualmoral und Heiratsethik zur Sprache. Anders verhält es sich mit den ethnischen Zugehörigkeiten, die in der literarischen Konstruktion weitaus stärker dem Möglichkeitssinn der Kunst verpflichtet sind. Am Schicksal einer jungen Zigeunerin zeigt delle Grazie das Scheitern einer sozialen Utopie, nämlich die Überwindung ethnisch-sozialer Grenzen. An der geschlechtlich, sozial und ethnisch als diskriminiert kodierten und als Symbolfigur mehrfacher Alterität entworfene Zigeunerin Dora können nicht nur die Unterdrückungsmechanismen der patriarchalen Gesellschaft drastisch sichtbar gemacht werden. Von ihrem Körper werden die historischen Einschreibungen des anderen Geschlechts, der hegemonialen Kultur und der herrschenden Klasse ablesbar, wobei die Entwicklung von der völligen Unterordnung bis zur ultimativen Selbstermächtigungsgeste reicht: Ist Dora zu Beginn ein nur geduldetes Anhängsel ihrer Gruppe, so entfaltet sie sich innerhalb des Eichenwaldes zu einer zentralen Persönlichkeit, deren Liebe zu László der gesamten Gruppe ein besseres Leben ermöglicht. Im Gegensatz zu Etelka bleibt ihr jedoch jegliche Bewegungsfreiheit verwehrt. Ihr Vorstoß in das Dorf und in dessen Zentrum (Kirche) ist eine Präfiguration der bevorstehenden Katastrophe; mit dieser Grenzüberschreitung wird die Sphäre der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung - deren Kristallisation die kirchliche Heiratszeremonie darstellt - in ihrer Scheinhomogenität gestört und eine noch strengere Einhaltung der Grenz- 1991, p. 7; UERLINGS, Herbert: Das Subjekt und die Anderen. Zur Analyse sexueller und kultureller Differenz. Skizze eines Forschungsbereichs. In: VERLINGS, Herbert/ HÖLZ, Karl/ SCHMIDT-LINSEN- HOFF, Viktoria (Hg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin: E. Schmidt 2001, pp. 19-53. 61 Cf. TROLL-BÓROSTYÁNI, Irma von: Katechismus der Frauenbewegung. Leipzig: Verlag der Frauen- Rundschau 1903. <?page no="217"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 217 ziehungen eingefordert: Dora wird ins Gefängnis geworfen, wo sie zur unfreiwilligen und ohnmächtigen Zeugin der Hochzeitsfeierlichkeiten wird, die gegenüber ihrem Fenster stattfinden. Nach ihrer Flucht dringt sie bis in den intimsten Bereich eines Individuums - in das Schlafgemach des Richtersohnes, ihres ehemaligen Bräutigams - vor. Seine Schlafstätte, einst Keim jeder Hoffnung, wird zum Tatort des Verbrechens. Damit wird der im Roman männlich bestimmte Raum der Familie, des Dorfes, der Mehrheitsgesellschaft durch eine mehrfach Marginalisierte nicht nur gestört, sondern auch zerstört. Das Zigeunerstereotyp des Freiheitsdranges wird hier, in die Abwehr gegen gesellschaftliche Zwänge gewendet, denen Dora im Kontakt mit der »zivilisierten Gesellschaft« zum Opfer fällt. Da ihre anklagenden und an die Mitmenschlichkeit appellierenden Worte im Repräsentationsraum christlicher Nächstenliebe nicht erhört werden, sondern im Gegenteil nur zur neuerlichen Ausgrenzung durch den Richter und den Pfarrer führen, setzt sich die Sprache des Körpers über alle symbolischen (Ver-)Ordnungen hinweg, um seine allen universalistischen Bestrebungen zuwiderlaufenden Bedürfnisse zu artikulieren. Die Gewalt der Unterdrückung tritt dabei in der Kraft des Aufbegehrens wieder zu Tage. Delle Grazies Erzählung warnt vor der Missachtung unerwünschter gesellschaftlicher Positionen, die zwar temporär verdrängt, jedoch nicht ausgelöscht werden können. 6 Ziviler Raum Delle Grazie erzählt zum Großteil aus der Perspektive der jungen Zigeunerin, die als Nomadin überall gleichermaßen fremd ist, und zeigt damit die Erfahrung interkultureller Begegnung, die im Ausnahmeraum des Eichenwäldchens auf einer scheinbar gleichberechtigten Basis ermöglicht wird. Damit stellt das Wäldchen jenen Dritten Raum dar, der nach Homi K. Bhabha symbolisch der Begegnung mit dem Anderen entspringt 62 und durch die Verhandlung von Differenzen und eine grundsätzliche Offenheit dem Anderen gegenüber gekennzeichnet ist. In der Auffassung von Raum als sozial konstruierte Kategorie 63 , die zugleich selbst durch Raum erzeugt wird, 64 erfährt das Phänomen der Migration, der Wanderung von Individuen durch/ in fremde »Räume«, eine Symbolisierung. Die für ein Staatengebilde angenommene Deckungsgleichheit von Staatsterritorium und Gesetzesraum wird in delle Grazies Darstellung durch die soziale Praxis in einen gesetzesfreien bzw. einen durch willkürliche Auslegungen der (Gesetzes-)Ordnung beherrschten Raum aufgelöst. Die Judikative bzw. Exekutive 62 Cf. BHABHA 1994; SIMMEL, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, p. 694: Die Sphäre einer Persönlichkeit findet zwar irgendwo ein Ende, bedeutet jedoch nicht, dass jenseits dieses Endes sofort der andere einsetze. 63 Cf. SIMMEL 1908; DURKHEIM 1984. 64 Cf. LEFÈBVRE, Henri: The Production of Space. Malden MA: Blackwell 1991. <?page no="218"?> 218 Alexandra Millner (Richter, Panduren) wird durchwegs ambivalent gezeichnet und einerseits in ihrer Entscheidungsgewalt gezeigt, andererseits wird an der Richterfigur aber auch die Korruptheit des Systems festgemacht. Kein zentraler Machthaber als Verkörperung des Reiches und seiner Gesetze scheint auf, sondern dessen schwache lokalen Vertreter, die sich in Opposition gegen den gemeinsamen Feind über alle sozialen Differenzen hinweg vereinen. Dieser Feind kommt nur scheinbar von außen: Es sind die aufgrund ihres Nomadismus als Fremde geltenden Zigeuner- Innen und die Batyáren, fahrende gesetzlose Völker, die sich - so das gängige Vorurteil - allen Assimilierungs- und Zivilisierungsversuchen verweigern. Der Eichenwald, der den ZigeunerInnen auf Lászlós Geheiß Schutz bieten soll, symbolisiert als Monokultur einerseits die gebändigte Natur, den zivilisierten Wilden. In ihm werden die als »Wilde« empfundenen ZigeunerInnen zumindest für die Dauer ihres Aufenthalts scheinbar gezähmt, da sie von ihrer nomadischen Lebensweise abgebracht werden; zumal sie sich hier im territorialen und Gesetzesbereich der Monarchie befinden, scheinen sie kontrollierbar. Denn die Schrankenlosigkeit ihrer Lebensweise - scheinbar ohne Herkunft und ohne Ziel -, die sich räumlich in der endlos wirkenden Puszta abbildet, ist den ansässigen UngarInnen suspekt. Das Fremde, das mit den ZigeunerInnen in der Gemeinschaft Einzug hält, bedroht deren Ordnung. Im Eichenwald leben sie zwar wie in einer Enklave nach ihren eigenen Gesetzen, haben sich aber nach außen hin insofern arrangiert, als der Richter, um seinen heiratswilligen Sohn bei Laune zu halten, die Panduren für ihre Nachsicht bezahlt; so bleiben die ZigeunerInnen trotz nächtlicher Diebstähle unbescholten. Andererseits bietet der Eichenwald aber auch dem Zigeunerfest einen Rahmen, der von Abgeschiedenheit und durch seine Durchlässigkeit zum Sternenhimmel hin zugleich von transzendentaler Entgrenzung gekennzeichnet ist. Delle Grazie mag hier wohl auf die Gleichheit der Menschen vor Gott hinweisen. Das Wäldchen repräsentiert den imaginären Raum, in dem die unkonventionelle Verbindung zwischen Dora und László möglich erscheint. Die Öffnung des zuvor abgegrenzten Raumes verweist auf das latente Möglichkeitspotenzial der sozialen Ordnung, das - wenn auch nur temporär - in der Verwirklichung der unmöglichen Liebe manifest wird. Hier tritt das Karnevaleske des Raumes zutage, jene immer vorhandene Seite des anderen Alltags, die sich normalerweise der bewussten Wahrnehmung entzieht. 65 László und Dora werden in der Festszene als Gegensatzpaar konstruiert: László hat sich bereits vor dem Fest von einer solidarisch-inkludierenden zur exkludierenden Figur gewandelt. Ist er zu Beginn der Erzählung noch von Wahrhaftigkeit geprägt und lebt in Einklang mit seinen emotionalen Bedürfnissen ein 65 Cf. SOJA, Edward: Reassertions. Towards a Spatialized Ontology. In: DERS.: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London, New York: Verso 1989, pp. 120 f.; BACH- TIN, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main: Fischer 1990; IRIGARAY, Luce: Die »Mechanik« des Flüssigen. In: DIES.: Das Geschlecht, das nicht eins ist (1977). Berlin: Merve 1979, S. 110-124. <?page no="219"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 219 unentfremdetes Leben, so wird diese innere Einheit in einer Unterredung mit seinem Vater gesprengt: In einer Art Initiationsgespräch legt ihm der Vater die Vernunftehe mit Etelka nahe, ohne dabei die Liebe zu Dora aufgeben zu müssen. Sein eigener Lebenswandel solle dem Sohn als Beispiel dienen, ist der Richter doch als physischer Repräsentant sowohl der offiziellen Ordnung (des Gesetzes) als auch der gesellschaftlich sanktionierten »privaten« Doppelmoral als Autorität zu betrachten. Nur allzu leicht lässt sich László vom Vorschlag des Vaters überzeugen und untermauert seinen Entschluss zur rücksichtslos-egoistischen Lebensführung mit misogynen Äußerungen. 66 An Lászlós Veränderung blitzt zwar einerseits ein Hoffnungsschimmer auf, da der Mensch als von Natur aus gut gezeichnet wird, andererseits bedeutet der Eintritt dieses Individuums in die gesellschaftliche Ordnung aber den Verlust der moralischen Integrität. Hierin liegt das zivilisationskritische Moment des Textes. Als Gegenbeispiel wird das Zigeunerstereotyp der Naturnähe, Freiheit, Grenzenlosigkeit im Sinne einer Offenheit, aber auch der Zivilisationsresistenz konstruiert. Dora, die László seit dem ersten Zusammentreffen vor vier Jahren und trotz des Verrates an ihr die Treue hält und ihrer gegenseitigen Liebe lebt, hält sich bis zum Mord an László moralisch integer. Als sie auf ihrer Liebe zu László besteht und ihn zu seinen Vaterpflichten rufen will, behauptet sie eine - emotionale und physische - Wahrheit, welche durch diese Grenzüberschreitung die Ordnung der Dorfgemeinschaft bedroht. Als Personifikation des Anderen, der Gott- und Gesetzlosigkeit wird Dora schließlich noch radikaler ausgegrenzt, als Wahnsinnige in die Abnormität verbannt und aus der Öffentlichkeit weggesperrt. Lászlós Verwandlung symbolisiert das Potenzial des Dritten Raumes, dessen konkreter Kontext mit symbolischen Einschreibungen untrennbar verbunden bleibt. In der von gesellschaftlichen Normen befreiten ZigeunerInnen-Enklave des Eichenwaldes ist die grenzüberschreitende Liebesverbindung- im Gegensatz zum kirchlich-institutionellen Kontext - möglich. Das Dorf repräsentiert jenen sozialen Raum, der nach Lefèbvres Konzept 67 zugleich aktuell und potenziell ist, da er die bereits realisierten Vorbedingungen für ein neues Leben zwar beinhaltet, zugleich aber die Ermöglichung dieser Vorbedingungen verhindert. Die Homogenität dieses abstrakten (politischen, institutionellen) Raumes ist der trügerische Schein eines universalistischen Systems, dessen Gewalt alle Differenzen ausblendet. Lászlós offene Haltung am Beginn der Erzählung lässt seine Zivilität 68 und sein Potenzial für ein politisches Menschsein für kurze Zeit aufblitzen, da er Raum im Sinne des soziologisch orientierten Raumkonzepts von Kant bis Simmel als das »Zusammen- und Miteinander-Sein des Verschiedenen« 69 be- 66 Cf. DELLE GRAZIE 1885, pp. 62 f. 67 Cf. LEFÈBVRE 1991, pp. 189 f. 68 Cf. BAUMAN 2003. 69 SCHROER 2006, p. 164. <?page no="220"?> 220 Alexandra Millner greifen kann und als homo politicus handelt. Es ist dieser Zwischenraum, der nach Hannah Arendt erst das Politische konstituiert: Der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen […] Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen. Politisch organisieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos der Differenzen. 70 Das wahrhaftige, authentische Menschsein wird in Doras Tanzszene dargestellt, in der sie von der Autorin als ›Edle Wilde‹ konstruiert wird: Ihr Einklang mit der Musik und den Sternen soll ihre Naturnähe symbolisieren und die makellose Unschuld und Echtheit ihrer Gefühle, die sich jeglichen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen entziehen. Ihrer Tugendhaftigkeit ist Lászlós Konventionsbeziehungsweise Gesetzeskonformität entgegengesetzt, hinter der er sich trotz seines unmoralischen Verhaltens schadlos halten kann. Delle Grazie bedient sich hier des Zigeunerstereotyps der Edlen Wilden, das in der zeitgenössischen Literatur oft dazu instrumentalisiert wird, den durch die gesetzliche Verankerung in seiner Ursprünglichkeit verloren gegangenen christlich-universalistischen Tugendkatalog als naturgegebene Qualität zu re-installieren - sich zugleich aber auch von der niedereren Zivilisationsstufe zu distanzieren. 71 Im Eichenwäldchen lässt delle Grazie eine gesellschaftliche Utopie anklingen, deren Hoffnungsträger eine junge Generation ist, die sich ihrer Individualität, ihrer Wahrhaftigkeit und moralischen Integrität bewusst ist. Sowohl Dora als auch László unterscheiden sich nicht nur durch eine von Humanismus geprägten Grundhaltung vom Rest der Figuren, sondern auch durch ihre Jugend. Dieser spezifische soziale Raum kann nur innerhalb des Wäldchens bestehen. Denn die außerhalb herrschende gesellschaftliche Ordnung ist stärker als die individuellen Bedürfnisse, muss es auch sein, um bestehen zu können. Was delle Grazie in ihrer Erzählung anprangert, ist nicht die Ordnung an sich, sondern deren Starre, die schließlich zur Katastrophe führt: Denn Lászlós Freimütigkeit und Liebesverhältnis bringen die Ordnung in Gefahr. Diese muss durch das Einwirken des Vaters wiederhergestellt werden, erst über die Beeinflussung des Sohnes, dann durch einen Gewaltakt, der die in Dora personifizierte unerwünschte Leidenschaft, die unerwünschte Vereinigung mit dem ethnisch Anderen und die Öffnung der Gesellschaft verhindern soll. Was delle Grazie im privaten bis intimen Bereich ansiedelt, erhält durch die gesellschaftliche Sanktionierung universellen Charakter: Die Unterdrückung sozial-revolutionärer Energien, von Forderungen, die der universalistischen Ordnung zuwiderlaufen, führt nur zu zeitlich verzögerten, doch um so heftigeren Ausbrüchen einer aufgestauten Gewalt, die sich aus dem Gefühl verzweifelter Ohnmacht nährt. 70 ARENDT: Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. v. Ursula Ludz. München 1993, p. 9; pp. 11 f. 71 Cf. KAUFMANN/ HASLINGER 2002, pp. 13-29; KUGLER 2004, p. 69. <?page no="221"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 221 Dora wird damit zu einer modernen Medea-Gestalt, die sich in das Fremdbild einer ausgegrenzten Wilden ergibt und blindwütig Blutrache nimmt. Wie Medea kann sie nur für die Utopie eines transnationalen Humanismus, wie er ihre Liebe bedeutet hätte, leben oder aber mit allem untergehen. Es steht nicht in ihrer Macht, eine Verbesserung herbeizuführen. Sie ist die Machtlosigkeit in Person. 7 Grenzziehungen Alterität wird in delle Grazies Erzählung durch Ab- oder Ausgrenzung hergestellt: Während gesellschaftsinterne Andere marginalisiert (der alte Jude) oder als Kriminelle (Batyáren) gefürchtet werden und bei allen Unterdrückungsstrategien doch irgendwie als Teil des Eigenen akzeptiert werden, werden die ZigeunerInnen als Wilde, die gegen Zivilisationsversuche resistent sind, völlig ausgegrenzt und als Fremde betrachtet. Von den Panduren werden sie zu Unrecht beschuldigt und verfolgt, vom Richter wird Dora eingesperrt, vom Priester wird sie der Kirche verwiesen. Die im Text beschriebenen Transgressionen über gesellschaftliche Grenzen hinweg gehen allein aus der Kraft der Liebe zwischen Dora und László hervor. Vom Richter, dem Repräsentanten der allein schon durch ihre ethnische Zugehörigkeit sozial höher stehenden UngarInnen, wird hingegen dezidierte Abgrenzung »nach unten« betrieben: Das zeigt sich im Privaten, wenn er seinem Sohn den Umgang mit Dora untersagt, ebenso wie im Beruflichen, wenn er den ZigeunerInnen, den Jüdinnen und Juden und den Frauen zu seinem eigenen persönlichen Vorteil Rechte verweigert. Für die ZigeunerInnen stellt Lászlós Abwendung von Dora die zu erwartende Sanktionierung der als »Unrecht« empfundenen Grenzüberschreitung dar. Gruppenextern gerät Dora durch ihre Liebe zu László zwischen alle Zugehörigkeiten, ein Phänomen, das den älteren, in den gesellschaftlichen Konventionen erfahrenen und gefangenen Figuren vertraut ist. Sowohl Lászlós Vater als auch der alte Peti versuchen an den gesellschaftlich vorgegebenen Grenzen festzuhalten. Der Richter appelliert an den Standesdünkel und an die ethnischen Vorurteile seines Sohnes, um ihn von seiner Liebe zu Dora abzubringen: »Sei doch klug und entwürdige dich nicht, sie ist und bleibt eine Zigeunerin! « 72 Peti entspricht in allen Zügen der stereotypen Figur des schwarzen, verrückten, mit seherischen Kräften ausgestatteten Geigers. Als Sensor der Zigeunergruppe warnt er Dora und sagt ihr das böse Ende ihrer liaison dangereuse voraus. Um sich mit dieser Möglichkeit nicht konfrontieren zu müssen, erklärt Dora ihn für verrückt - ein Verdrängungsmuster, das ihr am Ende selbst zum Verhängnis wird. 72 DELLE GRAZIE 1885, pp. 34 f. <?page no="222"?> 222 Alexandra Millner Die Gesten folgen - sowohl als Transgression als auch als Limitation - dem Gesetz der Gegenseitigkeit: Nachdem László für Dora und ihre Leute das Areal des privaten Grundbesitzes geöffnet hat, gibt Dora den sozialen Raum des Stammes frei. Im Sinne der letzten Grenzinstanz des Körpers 73 erwidert Dora die Einladung auf körperlicher Ebene. Doch gilt die mächtige Stimme des Richters, des Repräsentanten des Gesetzes (des Vaters), der Zurückweisung aller Abweichungen von der symbolischen Ordnung und der Wiederherstellung der alten Grenzen. Dies scheint am Ende auch erreicht zu sein: Auch wenn sich Lászlós und Doras Blut auf der Schneide der Mordwaffe noch ein letztes Mal vereinen, werden sie nicht am selben Ort bestattet. Vielmehr werden die Außenseiter Peti und Dora in einem Grab »[m]itten auf der sonnigen Haide, am schilfumrauschten Ufer der friedlichen Theiß« 74 vereint. Die alte gesellschaftliche Ordnung ist nicht nur wiederhergestellt, sondern nach der Vernichtung der Störenfriede durch die Auslöschung der bedrohlichen Kräfte noch fester zementiert. Der geschilderte Umgang mit der Andersartigkeit der »Störenfriede« aber entspricht den historisch verbürgten Strategien, die Claude Lévi-Strauss als anthropoemisch (durch räumliche Segregation) und anthropophag (durch Vernichtung) bezeichnet. 75 Am Ende der Erzählung verwandeln sich die auf Lynchjustiz abzielenden DorfbewohnerInnen denn auch in eine »entmenschte Rotte« 76 . 8 Textinterne Solidarität Dora erfährt weder durch Angehörige ihrer Bande noch durch Geschlechtsgenossinnen Gesten der Solidarität. Als mehrfach Ausgegrenzte findet sie nur am äußersten Rande der gesellschaftlichen Ordnung Unterstützung: durch den Ältesten der Sippe (den Geiger Peti) und einen alten Juden aus dem Dorf. 77 Die Phänomene des Antiziganismus und des Antisemitismus sind in der Forschungsliteratur schon mehrmals miteinander verglichen und aufeinander bezogen worden, wobei der prinzipielle Unterschied der zugrunde liegenden Alteritätskonstruktionen darin besteht, dass ZigeunerInnen als vagabundierende exotische Wilde in jeder Hinsicht außerhalb der Gesellschaftsordnung und der Zivilisation »verortet« werden, Jüdinnen und Juden hingegen die negativen Auswüchse der Zivilisation verkörpern und als das Andere im Eigenen betrachtet werden. Auch delle Grazie konstruiert die beiden ausgegrenzten Gruppen analog zu einander, indem sie zeigt, wie diese zu Sündenböcken stilisiert und als Rechtlose betrachtet werden. Die Macht der gesellschaftlich konstruierten universa- 73 Cf. SCHROER 2006, p. 293. 74 DELLE GRAZIE 1885, p. 125. 75 Cf. LÉVI-STRAUSS, Claude: Traurige Tropen. A. d. Frz. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. 76 DELLE GRAZIE 1885, p. 122. 77 Im Text wird eine Unglücksgemeinschaft gestiftet: »ein Unglücklicher […werde …] vom anderen angezogen«; DELLE GRAZIE 1885, p. 38. <?page no="223"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 223 listischen Wahrheit - verkörpert durch den korrupten Richter - wird im Text mit der Ohnmacht der individuellen Wahrheit in Gestalt eines mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn ausgestatteten alten Juden konfrontiert: Als dieser versucht, die Zigeunerinnen vor dem Diebstahlsverdacht zu retten und dem Richter den tatsächlichen Dieb nennt, wird der Jude nicht nur ungehört weggeschickt, sondern auch noch mit Prügeln bestraft und zum Sündenbock gemacht. Seine Zeugenschaft ist durch seinen Alteritätsstatus für die gesellschaftliche Ordnung ebenso wenig relevant wie die zuvor erwähnte Verteidigungsrede des Zigeuners Bándi. Gesten der Solidarität zwischen den Unterdrückten werden von den Inhabern der Macht im Keime erstickt. Ein zweites Mal tritt der alte Jude als Überbringer einer unliebsamen Wahrheit auf, als er Dora von der bevorstehenden Hochzeit von László und Etelka berichtet. Während der Alte voller Mitgefühl für das Mädchen ist, wird dieses von einem jungen ›Stammeskollegen‹ verhöhnt, der ihr und allen Zigeunerinnen grundsätzliche Leichtherzigkeit unterstellt: »Du wirst dich schon zu trösten wissen! « 78 Die Grenzziehung erfolgt in dieser Szene innerhalb der ethnischen Gruppierung und zwischen den Geschlechtern, der alte Jude aber steht als externe Autorität durch seine gesellschaftliche Randposition der gruppenextern wie -intern ausgegrenzten Dora nahe. Dora, die völlig isoliert ist und sich selbst von den Ihrigen distanziert, öffnet sich nur Peti gegenüber, mit dem sie die Ausgegrenztheit, Einsamkeit und das Liebesleid - aber auch die fatale Umgangsweise damit - teilt. 79 Peti ist der einzige, der sie in ihrer Entscheidungsfreiheit gewähren lässt, auch als er ihre Mordabsicht erkennt. Von allen anderen wird sie als Last empfunden (Zigeunergruppe) oder als willen- und gefühlloses Objekt behandelt (Richter, László, Bándi) beziehungsweise - wie Peti - für verrückt erklärt (Richter, László), um sich mit ihrem individualistischen Standpunkt nicht auseinandersetzen zu müssen, sondern ihn mit Ignoranz strafen zu können. Vor Verzweiflung tatsächlich dem Wahnsinn nahe, erhebt Dora sich zur ultimativen Selbstermächtigungsgeste, indem sie sich die Entscheidung über Tod und Leben anmaßt. 9 Textexterne Solidarisierung Wie gezeigt wurde, geht delle Grazie in der Erzählung Die Zigeunerin vom populären Genre der Zigeunerlegende und deren Zigeunerstereotypen aus, um das Rezeptionsverhalten durch gezielte Veränderungen in Bezug auf die Erzählperspektive und Erzählinstanz aufzubrechen. Ihr naturalistisches Konzept lässt sich daran ablesen, dass sie ihre Phantasie intellektuell kontrolliert, da die von ihr 78 Ibid., p. 90. 79 Cf. ibid., p. 39: »Als aber die Panduren den alten, wehrlosen Peti so roh und schonungslos angriffen, da färbte die Röte der Entrüstung ihre Wangen, da fühlte sie die ganze Schmach dieser Behandlungsweise, welche ihre charakterlosen Genossen so leicht hinnahmen.« <?page no="224"?> 224 Alexandra Millner kreierten komplexen fiktiven Räume die Basis dafür bilden, mit Hilfe ihrer Intellektualität die Wirklichkeit der Wirklichkeit zu hinterfragen. 80 Phantasie wird dabei im eigentlichen Sinne des griechischen Wortes φαντασία dazu verwendet, um Mythos und Realität zu unterscheiden. 81 Im Gegensatz zu der mittel- und osteuropäischen Konvention der Zigeunerdarstellung, die in der Tradition des damaligen Standardwerkes über Zigeuner- Innen von Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann 82 steht und ZigeunerInnen als »arme Fremde« bzw. schöne Wilde=Primitive, in jedem Fall jedoch als minderwertig kodiert, verleiht delle Grazie in Anlehnung an die romanische Tradition (der Zigeunerdarstellungen) ihrer zentralen Figur eine individuelle Geschichte und Problematik, eine unverkennbare individuelle Identität und enthebt sie so für kurze Zeit der stereotypen Festschreibung, nur um sie am Ende wieder in ihr - laut Tradierung - von alters her vorbestimmt scheinendes trauriges Schicksal zurückzuführen. Die dadurch erreichte größere Fallhöhe trägt zur Steigerung der Dramatik bei und stellt damit einen der Kunstgriffe dar, die delle Grazie anwendet, um das Dilemma der Marginalisierten, der Unterdrückten, der sozial Schwachen drastisch vor Augen zu führen. Ein anderes Instrument zur Fokussierung des Elends und zur Steigerung seiner Wahrnehmung ist die Kombination der Darstellung der Frau als Opfer hegemonialer Verhältnisse und ihrer Zugehörigkeit zu einem Zigeunerstamm als Stigma sozialer Exklusion. Mit Dora sind alle unterprivilegierten Frauen mit gemeint, an ihr, der immer schon Fremden, der »archaisch Anderen« 83 , lässt sich jener Furor glaubhaft festmachen, der aus der gesellschaftlichen Unterdrückung herrührt und sich in letzter Not einen gewaltsamen Weg bahnt. Damit nützt delle Grazie das Zigeunerinnenstereotyp der unberechenbaren, leidenschaftlichen, geheimnisvollen, rachsüchtigen etc. Wilden, unterminiert das Fremdbild jedoch zugleich, indem sie ihre Entwicklung bis hin zum fatalen Ausbruch durchgehend psychologisch motiviert. Delle Grazie versucht durch die konstruierte Innensicht sozial Marginalisierter, in soziale Räume vorzudringen, die für die Literatur des 19. Jahrhunderts noch neu waren, und bringt die Polyphonie des multiethnischen Randgebietes der Doppelmonarchie zu Gehör. Die kritische Distanz zu herrschenden Diskursen ist damit automatisch hergestellt. Die tragische Geschichte der jungen Zigeunerin wird am Ende der Erzählung als authentischer Vorfall dargestellt, vermittelt durch die Erinnerung einer alten Frau, die sie der damals sechsjährigen Tochter ihres Dienstnehmers weitergab, und festgehalten durch dasselbe Mädchen vierzehn Jahre nach der Erzählung der Alten und dreizehn Jahre nach dem Tod ihres Vaters und der daraus resul- 80 Cf. BRAUN, Christina von: Der imaginäre Raum und das unsichtbare Bild. Ein Gespräch mit Christina von Braun. In: Forum für feministische Theorie und Philosophie 17 (Mai 1998), pp. 75-83, hier p. 77. 81 Cf. ibid., p. 83. 82 Cf. GRELLMANN 1787. 83 BREGER, Claudia: Ethnographie und Ethnotravestie. Überlegungen zur Funktionsweise der »Zigeunerin« in zwei Texten des 19. Jahrhunderts. In: Frauen in der Literaturwissenschaft 49 (Dezember 1996), pp. 7-14, hier p. 7. <?page no="225"?> Zur literarischen Gestaltung von Raum, Ethnos und Gender 225 tierenden Emigration aus ihrer Banater Heimat. Die Erzählerin ist auffällig nahe an der Biografie der zur Entstehungszeit ebenfalls etwa zwanzigjährigen delle Grazie konstruiert und soll wohl einerseits der Authentizität noch größeren Nachdruck verleihen. Andererseits kommt über die Parallele zur Erzählerinnenfigur aber auch die große Empathiefähigkeit der Autorin zum Ausdruck, die ja als »Dichterin des Mitleids« 84 galt: Denn das Movens der Erzählerin (erster Ordnung) zur Niederschrift der Geschichte war die Gleichgültigkeit der Alten, der mündlichen Erzählerin (zweiter Ordnung), dem Schicksal der ZigeunerInnen gegenüber (»Es sind ja nur Zigeuner! « 85 ) und deren Ärger über die tiefe Trauer des jungen Mädchens. Oft hatte das Mädchen im Andenken an die beiden vergessenen Toten den Grabhügel bekränzt, die Erzählung aber solle »der letzte Kranz« 86 sein. Damit kritisiert sie die verächtliche Haltung der Erzählerin zweiter Ordnung, die sich im Laufe der Erzählung immer wieder vorurteilsbehaftet über die ZigeunerInnen äußert. Durch die Erzählung wird der dysfunktionale Gedächtnisort des namenlosen Grabes, eines mit einem wilden Rosenstrauch geschmückten Hügels inmitten der Heide, wieder seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt, indem er mit der Erinnerung, die er lebendig halten soll, re-informiert wird. Die scheinbare Leblosigkeit des Ortes wird durch die Erzählung in den Raum jener vergangenen sozialen Praktiken rückverwandelt, durch die der Ort erst als erinnerungswürdig markiert werden konnte. Diese Michel de Certeau folgende Auslegung der Funktionen von Erzählungen in Bezug auf Räume und Orte markiert den Akt der Tötung als Kipppunkt zwischen auf tote Objekte ausgerichteten Orten und durch die Handlung von historischen Subjekten abgesteckten Räumen: »Zwischen diesen beiden Bestimmungen gibt es Übergänge, wie zum Beispiel die Tötung (oder Verbannung) von Helden, die Grenzen überschreiten und die, da sie schuldig sind, gegen das Gesetz des Ortes verstoßen zu haben, durch ihr Grab zur Wiederherstellung des Gesetzes beitragen […].« 87 Mit der neuerlichen Erzählung jener Geschichte, die zur Entstehung von Doras und Petis anonymem Grab beitrug, wird diese Wiederherstellung der Ordnung jedoch wieder rückgängig gemacht. Die beiden Figuren werden in das (fiktive) kollektive Gedächtnis zurückgeholt und durch die psychologisierende Darstellung individualisiert, um der Dämonisierung und Stereotypisierung der ZigeunerInnen entgegenwirken zu können. Wie am Beispiel von Marie Eugenie delle Grazies Erzählung Die Zigeunerin gezeigt werden konnte, wird die Gedächtnisfunktion von Literatur im Zusammenspiel mit literarischen Raumdarstellungen umso bedeutender, als sie die in ihrer jeweiligen Erinnerungskonstruktion erstarrten Orte in einen lebendigen Erfahrungsraum der Vergangenheit zurückzuverwandeln vermag. Durch diese 84 BENEDIKT 1914, p. 8. 85 DELLE GRAZIE 1895, p. 126. 86 Ibid., p. 127. 87 CERTEAU 1988, p. 219. <?page no="226"?> 226 Alexandra Millner Rückverwandlung aber treten jene individuell bzw. gesellschaftspolitisch motivierten Mechanismen von Gedächtniskonstruktionen deutlich zutage, die erst Gegenstand kulturwissenschaftlicher Analyse werden können. <?page no="227"?> B IRGITTA B ADER -Z AAR (W IEN ) Anmerkungen zu Räumen und Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive* Der derzeitige Forschungsstand erlaubt noch keine umfassenden Antworten auf die Frage nach der Bedeutung räumlicher Ordnung in der österreichisch-ungarischen Monarchie aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Als Anregung zu weiteren Untersuchungen soll hier ein kleiner Überblick zu bisherigen Studien, die das Thema berühren, gegeben werden, wobei nur deutsch- und englischsprachige Publikationen Berücksichtigung finden können. Vier Aspekte von Raum- und Grenzkonzepten werden herausgegriffen: 1. der in der Frauen- und Geschlechtergeschichte am ausführlichsten diskutierte Raumbegriff, der sich auf die sozial-symbolische Konstruktion von geschlechtlich getrennten Lebensbereichen - von Öffentlichem und dem Privatem - bezieht; 2. der geografisch-territoriale Raumbegriff hinsichtlich seiner Bedeutung für die nationale beziehungsweise ethnische Identität von Frauen; 3. die Bedeutung von Grenzen für die Erfahrung von Mobilität; 4. der Erste Weltkrieg als Einbruch in Raumkonzepte und Konstruktionen von Geschlecht. 1 Öffentliche und private Räume Konstruktionen sozialer und symbolischer Räume haben in der Frauen- und Geschlechtergeschichte international früh eine bedeutende Rolle gespielt. Beeinflusst wurden sie ursprünglich von einem Konzept von Öffentlichkeit, in dem sich, nach Habermas, der öffentlichen Gewalt - dem Staat - eine bürgerliche Öffentlichkeit hinzugesellte, die sich ab dem 18. Jahrhundert in Form der politischen beziehungsweise literarischen Öffentlichkeit der Salons, Kaffeehäuser und Tischgesellschaften entwickelt hatte. Dieser Öffentlichkeit wurde der Privatbereich der bürgerlichen Gesellschaft, welcher Warenverkehr und gesellschaftliche Arbeit einschloss und in dem die Familie mit ihrer Intimsphäre eingebettet war, gegenübergestellt. 1 Für das 19. Jahrhundert haben Historikerinnen und Historiker aufgezeigt, wie Konstruktionen der Geschlechterdifferenz in bür- * Für ihre wertvollen Hinweise zu einer Erstfassung dieses Kommentars danke ich Frau Univ. Prof. Dr. Edith Saurer. 1 HABERMAS, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand 17 1987 (1964) (=Sammlung Luchterhand 25), pp. 42-46, 48 f., 93 f. <?page no="228"?> 228 Birgitta Bader-Zaar gerlichen Idealvorstellungen zu geschlechtlich getrennten Lebensbereichen in Beziehung gesetzt wurden. Während die so genannte »öffentliche« Sphäre den Männern vorbehalten war, die sich im politischen Leben frei bewegen konnten, ordneten diese bürgerlich-städtischen Diskurse Frauen ausschließlich dem Heim und der Familie als Ort der biologischen und sozialen Reproduktion, später der Konsumtion zu. Inwieweit Frauen die Zuschreibung des »Privaten« aufgezwungen wurde oder diese die soziale Trennung durchaus als »Freiraum«, als Ort der Subkultur nutzten, ist vor allem in den 1970er und 1980er Jahren debattiert worden. 2 Dem folgte eine Kritik der Dichotomisierung der Begriffe »öffentlich« und »privat« mit der Forderung, den Blick auf die historischen Praktiken, etwa politische Aktivitäten von Frauen, ihre Teilnahme an der Geschäfts- und Berufswelt und die Klassenfrage, zu richten und »die verschiedenen Transgressionen der vermeintlichen Grenze zwischen Öffentlichkeit(en) und Privatheit, die enge Verflochtenheit der beiden Bereiche und die Konstruiertheit ihrer Differenz« 3 aufzuzeigen. In Forschungen zur Geschichte der österreichischen und ungarischen Monarchie sind diese Konzepte einerseits in Studien der bürgerlichen Frauenkultur, andererseits in Untersuchungen zur Geschichte der Frauenbewegungen und ihrer politischen Arbeit sowie zur Frage der staatsbürgerlichen Integration von Frauen angewandt worden. 4 Was allerdings für die Periode 1867-1918 noch fehlt, ist 2 Cf. u. a. HAUSEN, Karin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: CONZE, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart: Klett 1976, pp. 363-393; KELLY, Joan: The Doubled Vision of Feminist Theory. In: Feminist Studies 5 (1979), pp. 216-218; KERBER, Linda: Separate Spheres, Female Worlds, Woman’s Place: The Rhetoric of Women’s History. In: Journal of American History 75 (1988), pp. 9-39. 3 BADER-ZAAR, Birgitta/ GEHMACHER, Johanna: Öffentlichkeit und Differenz. Aspekte einer Geschlechtergeschichte des Politischen. In: GEHMACHER, Johanna/ MESNER, Maria (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/ Perspektiven. Innsbruck, Wien: Studien Verlag 2003 (= Querschnitte 14), pp. 165-181, hier p. 166; cf. u. a. PATEMAN, Carole: Feminist Critiques of the Public/ Private Dichotomy. In: PHILLIPS, Anne (Hg.): Feminism and Equality. Readings in Social and Political Theory. New York: New York University Press 1987, pp. 103-126; BOCK, Gisela: Challenging Dichotomies. Perspectives on Women’s History. In: OFFEN, Karen/ PIERSON, Ruth Roach/ RENDALL, Jane (Hg.): Writing Women’s History. International Perspectives. Houndmills, London: Macmillan 1991, pp. 1-23, hier pp. 4 f.; HELLY, Dorothy O./ REVERBY, Susan M. (Hg.): Gendered Domains. Rethinking Public and Private in Women’s History. Ithaca, London: Cornell University Press 1992; DAVIDOFF, Leonore: »Alte Hüte«. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung. In: L’Homme Z. f. G. 4 (1993), H. 2, pp. 7-36; LANDES, Joan B. (Hg.): Feminism, the Public and the Private. Oxford, New York: Oxford University Press 1998; RENDALL, Jane: Women and the Public Sphere. In: Gender & History 11 (1999), pp. 475-488. 4 Cf. unter den deutsch- und englischsprachigen Studien u. a. MAZOHL-WALLNIG, Brigitte (Hg.): Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert. Wien, Köln: Böhlau 1995 (= L’Homme Schriften 2); DIES.: Männliche Öffentlichkeit und weibliche Privatsphäre? Zur fragwürdigen Polarisierung bürgerlicher Lebenswelten. In: FRIEDRICH Margret/ URBANITSCH, Peter (Hg.): Von Bürgern und ihren Frauen. Wien, Köln: Böhlau 1996 (= Bürgertum in der Habsburgermonarchie 5), pp. 125-148; ANDERSON, Harriet: Utopian Feminism. Women’s Movements in fin-de-siècle Vienna. New Haven, London: Yale University Press 1992; JUDSON, Pieter M.: The Gendered Politics of German Nationalism in Austria, 1880-1900. In: GOOD, David/ GRANDNER, Margarete/ MAYNES, Mary Jo (Hg.): Austrian Women in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Cross-disciplinary Perspectives. Providence, Oxford: Berghahn 1996, pp. 1-18 (dt.: Deutschnationale Politik und Geschlecht in Österreich, 1880-1900. In: GOOD, David/ GRANDNER, Margarete/ MAYNES, Mary Jo (Hg.): Frauen in Österreich. Beiträge zu ihrer Situati- <?page no="229"?> Anmerkungen aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive 229 eine Erweiterung des Öffentlichkeitsbegriffes. Das schon länger im Blickfeld von Historikern und Historikerinnen liegende Konzept der Straße als öffentlicher Raum, der in Bezug auf Gender, aber auch anderen sozialen Kategorien mit spezifischen Konnotationen verbunden war, wäre aus diesem Blickwinkel für Österreich-Ungarn zu untersuchen. 5 Welche Normen galten für das Verhalten von Frauen auf der Straße? Inwiefern waren diese sozial differenziert? Wie wurden sie in der Praxis umgesetzt? Einen spannenden Ansatz könnten hier etwa Straßendemonstrationen bieten, auch unter dem Aspekt, dass Frauenproteste auf öffentlichen Plätzen von politischen Gegnern in die Nähe der Prostitution und des potenziellen Aufruhrs (in Anlehnung an die Barrikadenkämpferinnen der Revolution von 1848) gerückt wurden. 6 Diese Assoziationen waren ein Grund für die Zurückhaltung der »bürgerlich«-liberalen Frauenwahlrechtsbewegung gegenüber solchen Strategien. Im Gegensatz zu ihren englischen Mitstreiterinnen konnte sie sich z. B. 1913 in Wien nur zu einer bei der Polizei als »Touristenfahrt« angemeldeten Rundfahrt durchringen, an der schließlich über 120 Automobile und Kutschen teilnahmen, die mit gelben Fahnen und dem Losungswort »Frauenstimmrecht« geschmückt waren. 7 Damit distanzierte sich die »bürgerlich«-liberale Frauenwahlrechtsbewegung auch von den Wahlrechtsdemonstrationen der Sozialdemokratinnen, die diese anlässlich der internationalen Frauentage als Massenumzüge zu Fuß organisierten. Die Thematisierung von Öffentlichkeit vor dem Hintergrund neuer Ansätze der Urbanisierungsforschung wäre ein weiteres Desiderat. Untersuchungen zu Konstruktionen des städtischen Raumes aus frauengeschichtlicher Perspektive gibt es nur für Wien in der frühen Neuzeit. 8 Neue Aspekte wie jene der Archion im 20. Jahrhundert. Wien, Köln: Böhlau 1994, pp. 32-47); HAUCH, Gabriella: Frauen-Räume in der Männerrevolution. Geschlechterverhältnisse in den europäischen Revolutionen 1848/ 49. In: DOWE, Dieter/ HAUPT, Heinz-Gerhard/ LANGEWIESCHE, Dieter (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform. Bonn: Dietz 1998 (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte 48), pp. 841-900; ZIMMERMANN, Susan: Die bessere Hälfte? Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Budapest: Napvilág Kiadó/ Wien: Promedia 1999. 5 Cf. u. a. RYAN, Mary P.: Women in Public. Between Banners and Ballots, 1825-1880. Baltimore: John Hopkins University Press 1990; OWNBY, Ted: The Town: Main Street. In: DERS.: Subduing Satan. Religion, Recreation, and Manhood in the Rural South, 1865-1920. Chapel Hill, London: The University of North Carolina Press 1990, pp. 38-55. 6 Cf. TARTAKOWSKY, Danielle: Le pouvoir est dans la rue. Crises politiques et manifestations en France. Paris: Aubier 1998; LIPP, Carola (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/ 49. Baden-Baden: Nomos 1998; HAUCH, Gabriella: Frau Biedermeier auf den Barrikaden. Frauenleben in der Wiener Revolution 1848. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1990 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 49); WARNEKEN, Bernd Jürgen: Als die Deutschen demonstrieren lernten. Das Kulturmuster »friedliche Straßendemonstration« im preußischen Wahlrechtskampf 1908-1910. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 1986, p. 122; BADER-ZAAR, Birgitta: »With Banners Flying«: A Comparative View of Women’s Suffrage Demonstrations 1906-1914. In: REISS, Matthias (Hg.): The Street as Stage. Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century. Oxford, New York: Oxford University Press 2007, pp. 105-124. 7 Cf. Zeitschrift für Frauenstimmrecht, Nr. 7 (Juli 1913), pp. 2-4; Neues Wiener Tagblatt, 12.6.1913, pp. 11 f., 13.6.1913, pp. 11 f. 8 Cf. PILS, Susanne Claudine: Reiche Frauen - Arme Frauen. Überlegungen zu »Frauen-Räumen« im frühneuzeitlichen Wien. In: HÖDL, Klaus/ MAYRHOFER, Fritz/ OPLL, Ferdinand: Frauen in der Stadt. Linz: Österreichischer Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung 2003 (= Beiträge zur Geschichte der <?page no="230"?> 230 Birgitta Bader-Zaar tektur oder der Stadtplanung sollten auch für den österreichischen und ungarischen Raum im 19. Jahrhundert einbezogen werden. 9 Umgekehrt hat bedauerlicherweise der ländliche Raum in der Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. Jahrhunderts bisher kaum systematisch Berücksichtigung gefunden. 2 Die österreichisch-ungarische Monarchie als territorialer Raum Die gerade für die Geschichte der Habsburger Monarchie wesentliche Verquickung von Raum und Vielfalt der Nationalitäten ist hingegen von der Frauen- und Geschlechtergeschichte seit kurzem stärker aufgegriffen worden. Es gibt inzwischen einige Studien zu Frauen der nationalen Minderheiten und in nationalen Bewegungen, welche die Wahrnehmung der Multinationalität der Monarchie auch in allgemeineren Studien zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der Doppelmonarchie schärfen helfen. 10 Bisher konzentrierten sich diese meist auf eine nationale/ ethnische Gruppierung und haben erst neuestens die Bedeutung ethnischer Differenz an sich, vorerst für Frauenbewegungen, thematisiert. 11 Lange war allerdings in der Forschung - nicht nur aus praktischen Gründen wie etwa fehlenden Sprachkenntnissen und dem leichteren Quellenzugang - eine deutliche Hervorhebung der deutschsprachigen Frauenbewegung zu beob- Städte Mitteleuropas 18), pp. 115-135; DIES.: Raumschichten. Frauen und Öffentlichkeit in der frühneuzeitlichen Stadt. In: RAU, Susanne/ SCHWERHOFF, Gerd (Hg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln, Wien: Böhlau 2004 (= Norm und Struktur 21), pp. 207-227. 9 Cf. SPAIN, Daphne: Gendered Spaces. Chapel Hill, N. C.: The University of North Carolina Press 1992; FRANK, Susanne: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Opladen: Leske und Budrich 2003 (= Stadt, Raum und Gesellschaft 20); ALTENSTRASSER, Christina/ HAUCH, Gabriella/ KEPPLINGER, Hermann (Hg.): Gender Housing. Geschlechtergerechtes Bauen, Wohnen, Leben. Innsbruck, Wien: Studien-Verlag 2007 (= Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 5). 10 Aus der deutsch- und englischsprachigen Literatur wären u. a. zu nennen DAVID, Katherine: Czech Feminists and Nationalism in the Late Habsburg Monarchy: »The First in Austria«. In: Journal of Women’s History 3, H. 2 (1991), pp. 26-45; HORSKÁ, Pavla: Die Frauenbewegung der deutschen bürgerlichen Minderheit in Prag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: L’Homme Z. f. G. 3, H. 2 (1992), pp. 73-80; JAWORSKI, Rudolf/ PIETROW-ENNKER, Bianka (Hg.): Women in Polish Society. New York: Columbia University Press 1992 (= East European Monographs 344); MALEČKOVÁ, Jitka: Nationalizing Women and Engendering the Nation. The Czech National Movement. In: BLOM, Ida/ HAGEMANN, Karen/ HALL, Catherine (Hg.): Gendered Nations. Nationalisms and Gender Order in the Long 19th Century. Oxford: Berg 2000, pp. 293-310; NOLTE, Claire A.: Every Czech a Sokol! Feminism and Nationalism in the Czech Sokol Movement. In: Austrian History Yearbook 24 (1993), pp. 79-100; ZIMMERMANN 1999; STEGMANN, Natali: Die Töchter der geschlagenen Helden. »Frauenfrage«, Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919. Wiesbaden: Harrassowitz 2000; HEINDL, Waltraud/ KIRÁLY, Edit/ MILLNER, Alexandra (Hg.): Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1918. Tübingen u. a.: Francke-Narr 2006 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 8). 11 ZIMMERMANN, Susan: The Challenge of Multinational Empire for the International Women’s Movement. The Habsburg Monarchy and the Development of Feminist Inter/ National Politics. In: Journal of Women’s History 17, H. 2 (2005), pp. 87-117; DIES.: Reich, Nation und Internationalismus. Kooperationen und Konflikte der Frauenbewegungen der Habsburger Monarchie im Spannungsfeld internationaler Organisation und Politik. In: HEINDL/ KIRÁLY/ MILLNER 2006, pp. 119-167; VITTORELLI, Natascha: Frauenbewegung um 1900. Über Triest nach Zagreb. Wien: Löcker 2007. <?page no="231"?> Anmerkungen aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive 231 achten, noch dazu kombiniert mit einer Betonung des Zentrums Wien und einer Vernachlässigung anderer Kronländer wie auch der Differenzierung von städtischem und ländlichem Raum. Der Fokus auf die deutschsprachige Frauenbewegung und Wien reflektierte einerseits einen zeitgeschichtlich geprägten Österreichbegriff im Ausmaß der Republik, andererseits aber auch die Quellenlage und das Selbstbild der cisleithanischen deutschsprachigen Frauenbewegung. 12 Wie stark Konstruktionen von Nation und nationale Konflikte die Frauenbewegungen bestimmten, zeigt die fehlende Realisierung eines multinationalen gesamtösterreichischen Dachverbandes der Frauenorganisationen. 13 Dies hatte wiederum Folgen für die angestrebte Aufnahme in die internationale Frauenbewegung: Die Frage der Definition (territorial-)staatlichen Raums führte zu ganz unterschiedlichen Reaktionen in der internationalen Frauenbewegung, je nach Einflussmöglichkeiten der lokalen österreichischen und ungarischen Organisationen. Wie Susan Zimmermann aufgezeigt hat, betrieb der International Council of Women eine vorsichtige Politik und machte den Territorialstaat zur Basis der Vertretung, berücksichtigte somit zwar den Dualismus und nahm Ungarn als Mitglied auf, für die österreichische Reichshälfte jedoch nur den überwiegend deutschsprachigen Bund Österreichischer Frauenvereine. Die International Woman Suffrage Alliance akzeptierte hingegen existierende nationale Ansprüche und nahm die Mitgliedschaften der ungarischen Reichshälfte 1906 sowie provisorisch der deutsch- und tschechischsprachigen Stimmrechtsausschüsse 1909 und der polnischsprachigen 1913 an. Somit bot die Integration in internationale Organisationen einerseits die Möglichkeit, im Sinne des Ideals des Internationalismus Nation und Differenz im Kontext der internationalen Frauenbewegung aufzuheben, in manchen Fällen andererseits aber auch Nationsbildung von Minderheiten durch deren Anerkennung, wenn auch nicht im territorialen Sinn, so in staatsbürgerlicher Hinsicht, zu fördern. 14 Damit kündigt sich bereits an, dass für die österreichisch-ungarische Monarchie nicht nur der moderne Flächenstaat konstitutiv war, de facto also territorialer Raum oder territoriale Grenze nicht vorrangig den Referenzpunkt für den Nationalstaat bildete. Für den in dieser Zeit entscheidenden Versuch der Nationsbildung scheint vielmehr die Konstruktion des Staatsbürgers (weniger der Staatsbürgerin) durch die Fiktion gleicher Rechte maßgebend gewesen zu sein. Allerdings befand sich die Habsburger Monarchie in dieser Hinsicht bezüglich politischer Rechte und gleicher Repräsentation der Nationalitäten bis 1918 in 12 Zur Problematik des Verhältnisses von zeitgenössischer Historisierung der Frauenbewegungen und wissenschaftlichen historiografischen Studien cf. GEHMACHER, Johanna/ VITTORELLI, Natascha (Hg.): Wie Frauenbewegung geschrieben wird. Wien: Löcker 2009. 13 Cf. ZIMMERMANN 2006. Für ein Beispiel einer gescheiterten Kooperation von ukrainischen und polnischen Frauenorganisationen in Galizien Ende des 19. Jahrhunderts cf. BOCHACHEVSKY-CHOMIAK, Martha: How Real Were Nationalism and Feminism in 19th Century Galicia? In: KEMLEIN, Sophia (Hg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918. Osnabrück: Fibre 2000 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 4), pp. 143-152. - Es mangelte in Cisleithanien auch an einer Kooperation mit sozialdemokratischen Frauenorganisationen. 14 Cf. ZIMMERMANN 2005. <?page no="232"?> 232 Birgitta Bader-Zaar einem Dilemma, das der Dualismus ebenso wenig zu lösen vermochte wie Zugeständnisse an einzelne Kronländer. Staatsbürgerschaft und Grundrechte konstituieren hier somit einen auf territorialer und abstammungsmäßiger Basis fußenden sozialen Raum, 15 in dem Inklusion und Exklusion - auch hinsichtlich der Geschlechter - eine wesentliche Rolle spielten. Staatsangehörigkeit bewahrte Frauen nicht davor, um die Anerkennung gleicher Rechte in diesem Raum als Frauen, als Teil einer ethnischen Minderheit oder einer benachteiligten sozialen Schicht kämpfen zu müssen. 3 Grenzen und Mobilität Hinsichtlich des Konzeptes der Grenze ist festzuhalten, dass diese als historisches Phänomen erst seit wenigen Jahren zum Fokus historischer Forschungen in der österreichischen Geschichte geworden ist, so in Edith Saurers Untersuchungen zum Schmuggel, den Beiträgen des von Waltraud Heindl und Edith Saurer herausgegebenen Bandes Grenze und Staat und in Andrea Komlosys Studien zur regionalen wirtschaftlichen Entwicklung. 16 Diese Untersuchungen wenden sich den mit Grenzen verbundenen Normen sowie der Bedeutung von Grenzen für die Praxis von Mobilität vor allem für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, wobei bekanntlich für die Habsburger Monarchie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts vielfältige Grenzen - nicht nur der Kronländer, sondern auch der Grundherrschaften beziehungsweise Kreise - von Bedeutung waren. Das Reisen über jede dieser Binnengrenzen hinweg setzte Pässe voraus und brachte Kontrolle mit sich. Geschlecht ist in diesen Studien thematisiert worden. So hat Andrea Geselle für das Reiseverhalten von Frauen in Lombardo-Venetien festgehalten, dass sie »nicht nur weniger weit [reisten], sie reisten überhaupt weniger« 17 als Männer. Häufig benötigten sie die Zustimmung des Ehemanns, 15 Zum Staatsbürgerschaftsrecht cf. BURGER, Hannelore: Paßwesen und Staatsbürgerschaft. In: HEINDL, Waltraud/ SAURER, Edith (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1867. Wien: Böhlau 2000, pp. 1-172; DIES.: Zum Begriff der österreichischen Staatsbürgerschaft. Vom Josephinischen Gesetzbuch zum Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. In: ANGERER, Thomas/ BADER-ZAAR, Birgitta/ GRANDNER, Margarete (Hg.): Geschichte und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag. Wien: Böhlau 1999, pp. 207-223; DIES.: Zur Geschichte der Staatsbürgerschaft der Frauen in Österreich. Ausgewählte Fallstudien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: L’Homme Z. f. G. 10, H. 1 (1999), pp. 38-44. 16 Cf. SAURER, Edith: Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 90); HEINDL/ SAURER 2000; KOMLOSY, Andrea: Ein Land - viele Grenzen. Waren- und Reiseverkehr zwischen den österreichischen und den böhmischen Ländern (1740-1918). In: DIES./ BŮŽEK, Václav/ SVÁTEK, František (Hg.): Kulturen an der Grenze. Waldviertel, Weinviertel, Südböhmen, Südmähren. Wien: Promedia 1995, pp. 59-72; DIES.: Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie. Wien: Promedia 2003. 17 GESELLE, Andrea: Bewegung und ihre Kontrolle in Lombardo-Venetien. In: HEINDL/ SAURER 2000, pp. 410-414, hier p. 411; zu Frauen und Pässen cf. BURGER 2000, pp. 71-76. <?page no="233"?> Anmerkungen aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive 233 um überhaupt einen Pass erhalten zu können, wenn auch Anträge in eigener Sache zumindest für diese Periode überliefert sind. Für die Periode der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht die Lage ganz anders aus: Die Eisenbahn begann die Möglichkeiten der Mobilität zu revolutionieren und Grenzen aufzubrechen. 18 1857 wurde die Freizügigkeit im Binnenraum der Monarchie verwirklicht, das heißt Binnengrenzkontrollen fielen weg, der freie wirtschaftliche Austausch zwischen den Ländern wurde möglich. 1867 wurde das Recht auf Aufenthalt auf dem gesamten Gebiet der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (RGBl. 1867/ 142) verankert. Sogar Außengrenzen begannen als Folge des Liberalismus im westlichen Europa durchlässig zu werden, und ab 1865 gab es an diesen keine Passkontrollen mehr. Dass all dies nicht bedeuten kann, dass polizeiliche Kontrolle gerade unerwünschter Mobilität - vor allem von VagantInnen, BettlerInnen und der besonders ausgegrenzten ethnischen Minderheit der »ZigeunerInnen« - überhaupt keine Rolle mehr spielte, ist klar. So ist die Frage nach der Interpretationsbreite von Freizügigkeit von Ilse Reiter hinsichtlich des Schubwesens beziehungsweise Ausweisungsrechts erforscht worden. 19 Mobilität - Reisen und Migration - innerhalb der Monarchie und über die Grenzen der Monarchie hinweg gehört für die Periode der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls zu den noch wenig erforschten Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Sylvia Hahn hat 2000 für eine Berücksichtigung von Frauen in der Migrationsgeschichte plädiert und kritisiert, dass Frauen in Untersuchungen nicht häufig vorkommen, höchstens als »›Abhängige‹ der Männer, als Mit- oder Nachwandernde«, nicht »als eigenständige oder allein Wandernde« 20 . Zum Teil mag das, etwa hinsichtlich der Verwaltungsakten, an der Quellenlage liegen. Eigene Forschungen in den Akten des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs zur Migration aus der Habsburger Monarchie in den Süden der USA haben gezeigt, dass Frauen fast nie als Migrantinnen und aktiv Arbeitende genannt werden. Sie sind die Ehefrauen von Auswanderern, die Petitionen an den Staat um Hilfe bei der Einforderung ausstehender Gehälter oder finanzieller Kompensationen für ihre im Ausland verunglückten Männer richten oder den Staat auffordern, ihre ausgewanderten Männer zu repatriieren, da sie 18 Cf. GESELLE, Andrea: Domenica Saba Takes to the Road: Origins and Development of a Modern Passport System in Lombardy-Veneto. In: CAPLAN, Jane/ TORPEY, John (Hg.): Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World. Princeton, N. J.: Princeton University Press 2001, pp. 199-217, hier p. 216. 19 Cf. REITER, Ilse: Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Lang 2000 (= Wiener Studien zu Geschichte, Recht und Gesellschaft 2); für die Zeit vor 1867 cf. auch WENDELIN, Harald: Schub und Heimatrecht. In: HEINDL/ SAURER 2000, pp. 173-343. 20 HAHN, Sylvia: Wie Frauen in der Migrationsgeschichte verloren gingen. In: HUSA, Karl/ PARNREITER, Christof/ STACHER, Irene (Hg.): Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts? Frankfurt am Main, Wien: Brandes Aspel/ Südwind 2000 (= Historische Sozialkunde 17), pp. 77-96, hier p. 76. <?page no="234"?> 234 Birgitta Bader-Zaar sich und ihre Kinder nicht länger allein erhalten konnten. 21 Dennoch ist es möglich, vor allem aus quantitativen Quellen unter dem Indikator des Heimatrechts Schlüsse zu ziehen, wenn auch Volkszählungen erst ab 1869 brauchbares geschlechterspezifisches Material bieten. 22 In dem hier zu betrachtenden Zeitraum war vor allem die Binnenmigration, in Form der saisonalen Wanderung in agrarische oder industrielle Zentren der Monarchie von Bedeutung. 23 So kamen 1910 etwa 50 % aller Migranten und Migrantinnen in die österreichische Reichshälfte aus Ungarn, ein Drittel aller Migranten und Migrantinnen zog es nach Wien. Für eine frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektive ist in dieser Hinsicht neben einschlägigen Arbeiten Sylvia Hahns 24 auf die Arbeiten Annemarie Steidls hinzuweisen, die sich auch erstmals der transatlantischen Migration unter dem Aspekt der Erfassung von Auswanderinnen in die Vereinigten Staaten gewidmet hat. 25 Im Gegensatz zur weiblichen Migration sind reisende Frauen schon länger ein Fokus der Forschung, wobei es allerdings - mit Ausnahme der berühmten Forschungsreisenden Ida Pfeiffer - nur wenige Publikationen zu österreichischen und ungarischen weiblichen Reisenden gibt. 26 Ebenso sind erst wenige Beschreibungen von Frauen über Reisen im Raum der Habsburger Monarchie veröffentlicht worden. 27 Während der Fokus der Frauenreiseforschung im Allgemeinen bisher vor allem auf dem Diskurs des Geschlechterdualismus im Sinne eines 21 Cf. BADER-ZAAR, Birgitta: Austro-Hungarian Emigrants in the South 1900-14, as Perceived by Austro-Hungarian Diplomats. In: ZACHARASIEWICZ, Waldemar (Hg.): The Transatlantic Exchange. The American South in Europe - Europe in the American South. Wien: WUV 2006, pp. 21-31. 22 Cf. HAHN 2000, p. 81. 23 Cf. FASSMANN, Heinz: Einwanderung, Auswanderung und Binnenwanderung in Österreich-Ungarn. Eine Analyse der Volkszählung 1910. In: Österreichische Osthefte 33 (1991), pp. 51-66; DERS./ MÜNZ, Rainer: Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen. Wien: Jugend&Volk 1995. 24 Cf. HAHN, Sylvia: Fremde Frauen. Migration und Erwerbstätigkeit von Frauen am Beispiel von Wiener Neustadt. In: Zeitgeschichte 20 (1993), pp. 139-157; DIES.: Nowhere at Home? Female Migrants in the Nineteenth-Century Habsburg Empire. In: SHARPE, Pamela (Hg.): Women, Gender, and Labour Migration. Historical and Global Perspectives. London: Routledge 2001 (Routledge Research in Gender and History 5), pp. 108-126; DIES.: Migration - Arbeit - Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Göttingen: V&R unipress 2008. 25 Cf. STEIDL, Annemarie: Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt Wien. Wien, München: Verlag für Geschichte und Politik/ Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2003 (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 30); DIES.: Jung, ledig, räumlich mobil und weiblich. Von den Ländern der Habsburgermonarchie in die Vereinigten Staaten der USA. In: L’Homme Z. f. G. 15, H. 2 (2004), pp. 249-269. 26 Cf. HABINGER, Gabriele: Ida Pfeiffer. Eine Forschungsreisende des Biedermeier. Wien: Milena-Verlag 2004; ZACK, Bettina: »An Reiselust fehlt es mir noch immer nicht…« Die Reisen der Maria von Vogelsang, 1828-1919. Wien: Diplomarbeit 2005. - Lohnend wäre auch ein Blick auf Marie Andeßner (1833-1906), Tochter eines Lederfabrikanten und Immobilienmaklerin, die um 1900 durch die Welt reiste und ihre Reiseberichte als Briefe in der Salzburger Zeitung publizierte. Cf. MAZOHL-WALLNIG, Brigitte (Hg.): Die andere Geschichte, Bd. 1. Salzburg: Pustet 1991 (= Lesebücher zur Geschichte Salzburgs 5), pp. 92 f. 27 Cf. dazu etwa HÜCHTKER, Dietlind: Frauen und Männer reisen. Geschlechtsspezifische Perspektiven von Reformpolitik in Berichten über Galizien um 1900. In: BAUERKÄMPER, Arnd/ BÖDEKER, Hans Erich/ STRUCK, Bernhard (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute. Frankfurt am Main: Campus 2004, pp. 375-390. <?page no="235"?> Anmerkungen aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive 235 Interesses an geschlechterspezifischen Erfahrungen in der Realisierung von Reiseprojekten mit exotischen Reisezielen lag, 28 wäre eine weitere wichtige Frage, inwiefern das Reisen und die Fremde eigene Perzeptionen der Konstruktion der Geschlechterdifferenz veränderte. Für das Beispiel der Ida Pfeiffer (1797-1858) lässt sich etwa feststellen, dass sie sich mit ihren publizierten Reiseberichten bewusst in das Genre der Reiseliteratur einordnete, dabei allerdings auch einen besonderen Blick für Geschlechterordnungen entwickelte und sich in ihren Beobachtungen des Alltagslebens besonders für das Leben von Frauen interessierte. 29 Von Zeitgenossen, unter anderen dem Kulturhistoriker Gustav Friedrich Klemm (1802-1867), wurde das durchaus positiv wahrgenommen, wie Gabriele Habinger ermittelt hat. Allerdings vermittelte Pfeiffer sowohl in ihren Selbstbeschreibungen als Reisende als auch in ihren Beurteilungen weiblichen Verhaltens in ihr fremden Ländern, wie sehr sie bemüht war, sich dem europäischen Standard des schicklichen Benehmens entsprechend an die anerkannte Geschlechterordnung zu halten. Die in den Studien zu Migration vorwiegend ausgewerteten statistischen Materialien sind bei der Beantwortung der Frage nach Geschlechterkonstruktionen räumlicher Ordnung nicht sehr aufschlussreich. Was bedeutete die »Erfahrung« einer Vielfalt von Räumen, von Mobilität und Migration und damit auch von Zentrum und Peripherie für das Selbstbild der Geschlechter? Welche Bedeutung hatte etwa der Umstand, dass die Feministin Irma von Troll-Borostyáni (1849-1912) in Salzburg aufwuchs, einige Jahre in Budapest verbrachte und einige Zeit später nach Salzburg zurückkehrte, wo sie ihre wichtigsten Werke schrieb, mit denen sie die Wiener Frauenbewegung entscheidend beeinflusste? Der Impuls zur Berücksichtigung von Mobilität, von Raum- und Grenzerfahrungen kommt deutlich von Seiten der Literaturwissenschaft, so auch im vorliegenden Band von Alexandra Millner zur Frage nach Veränderungen von Genderkonstruktionen im Wechselspiel mit Migration und Fremderfahrung. Hiermit rückt Dichtung in den Rang einer historischen Quelle, übrigens ein Ansatz, den auch Dietlind Hüchtker für das Beispiel der Zionistin Rosa Pomeranz (1880? -1934) aus Galizien angewandt hat, um »der Bedeutung von Erfahrung für eine Essentialisierung und Politisierung von Nationalität und Geschlecht« 30 nachzugehen. Der Erfahrungsbegriff ist für die Themenbereiche Raum und Grenze, Zentrum und Peripherie sowie deren Wirkungen auf Geschlechterkonstruktionen ein 28 Cf. auch die Kritik von SIEBERT, Ulla: Frauenreiseforschung als Kulturkritik. In: JEDAMSKI, Doris/ JEHLE, Hiltgund/ SIEBERT, Ulla (Hg.): »Und tät das Reisen wählen! « Frauenreisen - Reisefrauen. Dokumentation des interdisziplinären Symposiums zur Frauenreiseforschung, Bremen 21.-24. Juni 1993. Zürich: eFeF 1994, pp. 148-173, hier p. 157. 29 Cf. HABINGER 2004, pp. 115-121; DIES.: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Wien: Promedia 2006. 30 HÜCHTKER, Dietlind: »Erfahrung« als politische Kategorie. Geschlecht und Nationalität in der Publizistik der Zionistin Rosa Pomeranz aus Galizien. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1, H. 2 (2002), pp. 57-72, hier p. 58. <?page no="236"?> 236 Birgitta Bader-Zaar zentraler. Er erfordert die Lenkung des Blicks auf das Individuum. Hüchtker hat darauf hingewiesen, wie sehr die wachsende Relevanz von Erfahrung »die Individuen ins Zentrum der Betrachtung« rückten und damit Identitäten als »authentisch« begründeten. 31 Erfahrung ist infolge der Infragestellung des handelnden Subjekts durch den linguistic turn gerade in der Frauen- und Geschlechtergeschichte ein aktuell diskutiertes Thema und wird nun differenzierter als zuvor gesehen. Die Bandbreite reicht von einem Fokus auf Erfahrung ausschließlich als Produkt eines Diskurses, der wiederum Identitäten bestimmt (Joan Scott), bis hin zur Hervorhebung des handelnden Individuums, das Erfahrungen in einem spezifischen historischen Kontext macht und diese in einer narrativen Struktur vermittelt (Kathleen Canning, Ute Daniel). 32 Festzuhalten ist, dass die historische Kontextualisierung von Erfahrung eng mit Identität(en) verwoben ist. Somit wären zur Frage der Folgen von Grenzziehungen und -überschreitungen in Bezug auf konkreten wie symbolischen Raum Mechanismen der Identitätsbildung zu diskutieren - wie sie etwa von Chantal Mouffe, Seyla Benhabib oder Joan Scott präsentiert worden sind: Regen Diskurse zu soziospatialen Konzepten das Subjekt an - zwingen sie es unter Umständen auch - die eigene Identität beziehungsweise eigenen Beziehungen zu diesen Konzepten im Sinne einer Einordnung, einer Unterordnung oder eben auch einer Verweigerung, zu überdenken? Wie werden - nach Benhabibs Theorie der Kohärenz des Subjekts - die unter anderem aus der Mobilität folgenden multiplen Identitäten miteinander verwoben? 33 Vor diesem Hintergrund wäre es für die historische Forschung sicher lohnend, anhand weiterer Quellensorten, insbesondere in Selbstzeugnissen wie Briefen, Tagebüchern oder Lebenserzählungen, der Bedeutung von Erfahrungen von Raum und Grenze und damit auch des Fremden für Genderkonstruktionen nachzugehen. Eine Möglichkeit, die Suche zu beginnen, wäre die am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien angesiedelte Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in deren Rahmen autobiografische Manuskripte von bisher rund 3.000 AutorInnen, etwa ein Drittel davon Frauen, aus den Kronländern der österreichischen Reichshälfte gesammelt wurden. 34 Hier finden sich einige Lebenserzählungen von Frauen, die Reisen - in 31 HÜCHTKER 2002, p. 57. 32 Cf. SCOTT, Joan: The Evidence of Experience. In: Critical Inquiry 178 (1991), pp. 773-797; CANNING, Kathleen: Feminist History after the Linguistic Turn: Historicizing Discourse and Experience. In: Signs 19 (1994), pp. 368-404; DIES.: Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität. In: Historische Anthropologie 3 (2002), pp. 163-182; BOS, Marguérite/ VINCENZ, Bettina/ WIRZ, Tanja (Hg.): Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung. Zürich: Chronos 2004. 33 Cf. MOUFFE, Chantal: Feminism, Citizenship and Radical Democratic Politics. In: BUTLER, Judith/ SCOTT, Joan W. (Hg.): Feminists Theorize the Political. New York: Routledge1992, pp. 371-372; BENHABIB, Seyla: Sexual Difference and Collective Identities: The New Global Constellation. In: Signs 24 (1999), pp. 335-361; SCOTT, Joan: »Experience«. In: BUTLER/ SCOTT 1992, pp. 22-40, hier p. 33. 34 Cf. HÄMMERLE, Christa: Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive. In: WINKELBAUER, Thomas (Hg.): Vom Lebenslauf zur Bio- <?page no="237"?> Anmerkungen aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive 237 Badeorte, in die Sommerfrische, aber auch ins Ausland - unternahmen, oder von Offiziersgattinnen, die ihren Ehemännern in verschiedene Teile der Monarchie folgten. 35 Spezifisch für Selbstzeugnisse von Frauen besteht am Institut für Geschichte der Universität Wien die Sammlung Frauennachlässe. 36 Hier gibt es einige, wenn auch wenige Bestände von Frauen, deren Familien Binnenmigrationen durchmachten und deren Nachlässe erst daraufhin gesichtet werden müssten, inwieweit dieser Ortswechsel Spuren in Diskursen hinterlassen hat. 37 Die vorhandenen Bestände an Reisetagebüchern von Frauen werden derzeit zum Teil ausgewertet. 38 Allerdings ist bei den vorhandenen Beständen zu bedenken, dass sie großteils von Frauen aus dem Bildungsbürgertum stammen. Das Gros von Migrantinnen bestand jedoch aus Arbeiterinnen. Ein sozial differenzierter Blick auf Mobilitätserfahrungen und daraus resultierende Veränderungen von Genderkonstruktionen ist somit schwierig zu fassen und müsste ein weiteres Feld von Quellensorten, etwa auch Verwaltungsakte, einbeziehen. 4 Der Erste Weltkrieg als Einbruch Der Erste Weltkrieg sollte zu einem entscheidenden Einbruch von Raumkonzepten führen. Territoriale Grenzen wie soziale Räume verschoben sich oder lösten sich auf. Als neue Räume beherrschten Front und Hinterland - auch als »Heimatfront« bezeichnet - das tägliche Leben. Je nach Perspektive nahmen Front und »Heimatfront« den Ort des Zentrums und der Peripherie ein, und sie waren mit spezifischen Geschlechterkonstruktionen verbunden. Zur Front gehören die Männlichkeitsideale Diszipliniertheit und Tapferkeit. Wie Ernst Hanischs Arbeiten zu Männlichkeitskonzepten im Krieg zeigen, 39 waren diese allerdings auch mit der Antithese Nervosität und Feigheit verbunden - ebenfalls keineswegs neue Vorstellungen. Bereits vor dem Krieg wurden sie im dichotomischen graphie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik. Horn, Waidhofen a. d. Thaya: Waldviertler Heimatbund 2000 (= Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 40), pp. 135-167. 35 So sind z. B. zu nennen: die Offiziersgattin Adolfine von Doblhoff (geb. 1831), Eleonora Fanta (1873-1957), Hertha Günste (1885? -1958), die Rotkreuzschwester im Ersten Weltkrieg Marianne Jarka (geb. 1889), die Köchin Marie Konheisner (1875-1958), Lotte Pirker (1877-1963) und die Stiftsdame Helene Rechbach (1888-1970). Ich danke Herrn Mag. Günter Müller sehr herzlich für diese Hinweise. 36 Cf. HÄMMERLE, Christa: »Und etwas von mir wird bleiben …« Von Frauennachlässen und ihrer historischen (Nicht)Überlieferung. In: Montfort 55, H. 2 (2003), pp. 154-174. 37 Etwa NL 21I Emilie Schöffer verheiratete Wehle (aus Budapest nach Wien), NL 72 Anna Wilhelmine Lauer verh. Albach, die ins Banat übersiedelte. Für das 20. Jahrhundert sind wesentlich mehr Nachlässe vorhanden. 38 Cf. NL 3 Therese Lindenberg, die Abschriften der Griechenland- und Ägyptenreisen Marianne Mayerhofers 1909-1911 anfertigte. Cf. HÄMMERLE, Christa/ GERHALTER, Li (Hg.): Die Tagebücher der Therese Lindenberg (1938 bis 1946). Köln, Wien: Böhlau 2008. Cf. auch NL 32 Therese Siess über Reisen ins europäische Ausland 1888-1891. Ich danke Frau Mag.a Li Gerhalter für diese Hinweise. 39 Cf. HANISCH, Ernst: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien: Böhlau 2005. <?page no="238"?> 238 Birgitta Bader-Zaar Denken mit Verweiblichung gleichgesetzt. Die Folgen - Angst und Desertion als Flucht aus dem Raum der Kampfhandlungen - waren Fakten, mit denen die Armee umgehen musste und zu denen sie hinsichtlich des Bestrafungsausmaßes sehr unterschiedliche Diskurse entwickelte. Während sich Frauen nur in den Funktionen der Krankenschwester und Prostituierten (Feldbordelle) an der Front aufhielten und hier somit einem stark sexualisierten Geschlechterbild ausgesetzt waren, repräsentierten sie im Hinterland Keuschheit und Ordnung. Letztere wurde wesentlich durch den Einsatz von Frauen in der Kriegswohlfahrt und anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung aufrechterhalten. Überzeugt, ihre patriotische staatsbürgerliche Pflichterfüllung unter Beweis stellen und sich in die nationale Aufgabe integrieren zu müssen, schlossen sich die meisten Frauenorganisationen zu Kriegsbeginn, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, parteiübergreifend zur so genannten Frauen-Hilfsaktion im Kriege zusammen. Wie Christa Hämmerle festgehalten hat, knüpften ihre Aktivitäten, vom Liebesgabenwesen und dem Charpiezupfen über den Labedienst und die Kranken- oder Verwundetenpflege bis hin zur Armen-, Mütter-, Kinder- und Säuglingsfürsorge und den Maßnahmen für die vielen kriegsbedingt zunächst arbeitslos gewordenen Frauen, zwar durchaus an schon zuvor eingeübte Formen traditioneller privater Frauenwohltätigkeit an; sie überschritten diese aber zugleich in mehrerer Hinsicht - etwa, indem sich ihre Abgrenzung zur kommunalen beziehungsweise staatlichen Fürsorge aufhob und die organisierten Frauen damit verstärkt den öffentlichen Raum betraten und hier ihre Kompetenz einbrachten. 40 In Diskursen der Kriegs- und Nachkriegszeit ist die freiwillige und unbezahlte Kriegshilfe der Frauen gerne als »Selbstaufgabe« und »Opferbereitschaft« beschrieben worden. Im Kontext des Wunsches, hierdurch staatsbürgerliche Reife zu zeigen, sollte aber auch berücksichtigt werden, dass die Kriegsarbeit den mobilisierten Frauen vor allem auch Selbstbewusstsein gab. 41 Schließlich spielt im Krieg Mobilität hinsichtlich der Flucht der Zivilbevölkerung eine wesentliche Rolle. Hier ist bisher nur die Flucht der ostjüdischen 40 Cf. HÄMMERLE, Christa, zit. in: DIES./ BADER-ZAAR, Birgitta: Times of Trouble. Transformationen von Geschlechterordnungen in Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts - Erster Weltkrieg: Fallbeispiel Österreich. Arbeitspapier für die gleichnamige Tagung an der Universität Hannover, Dezember 2005, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. <http: / / www.univie.ac.at/ Geschichte/ Neuverortung-Geschlechtergeschichte/ salon21/ wp-content/ bader-zaar_haemmerle_timestrouble.pdf>. Zur staatsbürgerlichen Bedeutung der Kriegshilfe cf. HEALY, Maureen: Becoming Austrian: Women, the State, and Citizenship in World War I. In: Central European History 35 (2002), pp. 1-35; zur jüdischen Kriegshilfe von Frauen cf. MALLEIER, Elisabeth: Jüdische Feministinnen in der Wiener Frauenbewegung vor 1938. In: GRANDNER, Margarete/ SAURER, Edith (Hg.): Geschlecht, Religion und Engagement. Die jüdischen Frauenbewegungen im deutschsprachigen Raum, 19. und frühes 20. Jahrhundert. Wien: Böhlau 2005 (L’Homme Schriften 9), pp. 79-101; DIES.: Jüdische Frauen in Wien 1816-1938. Wohlfahrt - Mädchenbildung - Frauenarbeit. Wien: Mandelbaum 2003. 41 Cf. auch HÄMMERLE, Christa: »Wir strickten und nähten Wäsche für Soldaten…« Von der Militarisierung des Handarbeitens im Ersten Weltkrieg. In: L’Homme. Z. f. G. 3, H. 1 (1992), pp. 88-128; DIES.: »Zur Liebesarbeit sind wir hier, Soldatenstrümpfe stricken wir…« Zu Formen weiblicher Kriegsfürsorge im Ersten Weltkrieg. Wien: Univ. Diss. 1996, pp. 257-265. <?page no="239"?> Anmerkungen aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive 239 Minderheit aus Galizien näher untersucht worden. Frauen- und geschlechtergeschichtliche Aspekte sind bislang nicht berücksichtigt worden. 5 Fazit Resümierend lässt sich festhalten, dass der spatial turn erst beginnt, die Frauen- und Geschlechtergeschichte des österreichischen und ungarischen Raums intensiver zu erfassen. Somit hat auch noch keine grundlegende Diskussion der Bedeutung spezifisch österreichisch-ungarisch geprägter Raum- und Grenzkonzepte, etwa in nationaler/ ethnischer, sozialer, religiöser und kultureller Hinsicht, für Genderkonstruktionen stattgefunden. Während die Beziehung sozial-symbolischer Räume zu Geschlechterkonstruktionen in den Bereichen Öffentlichkeit und Privatheit längst Anerkennung in der Frauen- und Geschlechterforschung gefunden hat, ist dieser Ansatz, wie angeregt, auch deutlich ausbaufähig. Daneben ist festzuhalten, dass versucht werden sollte, Migrations- und Reiseerfahrungen von Frauen anhand einer Vielfalt von Quellensorten - vor allem Selbstzeugnissen - unter dem Aspekt der differenziert erfassten Raum- und Grenzkonzepte neu zu beleuchten. Die Einbeziehung von Krisenzeiten, etwa Erfahrungen der Flucht, sollten hier berücksichtigt werden. Somit hätte die Frage einer Auseinandersetzung mit Raum und Grenze in der Frauen- und Geschlechtergeschichte eine Reihe von Ansatzpunkten für den österreichisch-ungarischen Raum, selbstverständlich immer unter Berücksichtigung von Differenz - in sozialer, religiöser, nationaler/ ethnischer etc. Hinsicht. <?page no="241"?> ETHNOGRAFISCHES WISSEN IN DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE - REPRÄSENTATIONEN, DISKURSE <?page no="243"?> V IKTORIYA H RYABAN (Č ERNIVCI ) Ambivalente Wissensproduktion Die Volkskunde der Bukovina zwischen Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus Die Bukovina, seit 1775 ein Teil Österreich-Ungarns und seit 1848 das östlichste Kronland der Habsburger Monarchie, war nicht nur geografisch, sondern auch ökonomisch an der Peripherie des Kaiserreiches angesiedelt. Dennoch - oder vielleicht auch gerade deshalb, wie noch zu zeigen sein wird - zog die Bukovina beträchtliches Interesse von Ethnografinnen und Ethnografen auf sich. Beiträge über bukowinische »Volkskultur« finden sich in landeskundlichen Zeitschriften aus der Region selbst, aber auch in Schriftwerken einer der Metropolen, Wien, wieder. In diesem Beitrag wird versucht, in Teil I anhand der in Wien erschienenen Zeitschrift für österreichische Volkskunde und des Czernowitzer Jahrbuchs des Bukowiner Landes-Museums sowie in Teil II anhand des Bukovina-Bandes aus dem 24-bändigen Werk Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 1 den volkskundlichen Diskurs über die Bukovina zu rekapitulieren und in deren Analyse die Machtverhältnisse aufzuzeigen, die sowohl innerhalb der gesellschaftspolitischen und ökonomischen Strukturen der Monarchie als auch innerhalb einer k. u. k.-Ethnografie wirksam waren. 2 Zur Diskussion gestellt wird hierbei die Frage, welche Personen sich als Autoren ethnografischer Texte etablieren konnten und welche volkskundlichen und politischen Anschauungsweisen sich in deren Texten manifestierten. Insbesondere die Ambivalenz zwischen ethnonationaler Identitätspolitik und einem gesamtstaatlichen österreichischungarischen Identitätsprojekt bildet einen zentralen Fokus der Argumentation. Aber auch rhetorische Strategien, das Fremde anzueignen und zu ›entladen‹ und einem Normalitätsdiskurs zu unterwerfen, in dem das ›Zentrum‹ unmarkiert und ›das Periphere‹ markiert ist, bilden ein Hauptaugenmerk. Schließlich werden auch die Produktionsprozesse bei der Herstellung des ethnografischen Wissens in den genannten Publikationen beleuchtet. Zwischen Teil I und II soll in einem Exkurs zum Ausstellungswesen der damaligen Zeit jenen Spuren nachgegangen werden, die Hinweise auf das kulturelle Verhältnis von Zentrum und Peripherie innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie geben. Gegenstand dieser Untersuchung ist dabei vorrangig die Wiener Weltausstellung des Jahres 1873, 1 Cf. den Beitrag von Regina Bendix im vorliegenden Sammelband. 2 Cf. den Beitrag von Christoph Marchetti im vorliegenden Sammelband. <?page no="244"?> 244 Viktoriya Hryaban auf der, wie zu dieser Zeit auf Ausstellungen dieser Art üblich, insbesondere ethnografisches Wissen in Szene gesetzt wurde. 3 1 Die Österreichische Volkskunde und die Bukovina Die Volkskunde in ihrer Entstehungsphase wird zumeist als städtisch-bürgerliche Kulturbewegung beschrieben, als eine zumal mit großem Fleiß und Ernst betriebene Freizeitbeschäftigung einer (bildungs-)bürgerlichen und adeligen Schicht, deren Blick auf den, meist auf die bäuerliche Landbevölkerung eingeengten, Gegenstand zutiefst romantisch geprägt und verklärend war. 4 Im Anschluss an die Brüder Grimm und andere romantische Sammler war man an volkskulturellen Äußerungen des ›geistigen‹ Bereichs, wie Volkslied und Sage, interessiert und entdeckte darin gar eine »nationale Kollektivgeistigkeit« 5 . Erst in der jüngeren Fachgeschichtsschreibung wurde auch auf eine andere, ältere Tradition der Volkskunde hingewiesen, die ihren Ausgang in der Kameralistik der Aufklärung nahm. Hierbei war man auch am Volksschaffen in einem weiteren Sinn interessiert, an Produktion und Lebensbedingungen des einfachen Volkes; ein Interesse, das sich auch aus dem Wunsch nach Steigerung der Produktivität der Bevölkerung ergab. Das »Nationale« stand hier nicht im Vordergrund, denn diese frühe Form von »Volkskunde« wurde eher als dem Staate dienende Hilfswissenschaft verstanden. 6 Wenn in einer verkürzten Form der Darstellung (deutscher) Volkskunde behauptet wird, diese habe sich als nationale letzten Endes zur nationalistischen Wissenschaft entwickelt, die auch Material für den Chauvinismus und Rassenwahn des Nationalsozialismus herangeschafft habe, so wird ein Strang deutscher bzw. deutschsprachiger Volkskunde unterschlagen, der sich auf eine differenziertere Weise mit dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie beschäftigte: Im k. u. k Österreich war eine Volkskunde entstanden, die zwar zu einem großen Teil ebenfalls »deutsch-bewegt« und inhaltlich mit der Volkskunde in den deutschen Landen bzw. im Deutschen Reich verwandt war, die sich aber im Ganzen doch als ein staatstragendes Projekt im Sinne der Donaumonarchie verstand. Für übersteigerten Nationalismus erschien da zunächst wenig Platz, denn gemäß der pluriethnischen Struktur des Staates wurde nicht nur der deutschen Bevöl- 3 Für Anregungen und wertvolle Unterstützung danke ich Tobias Schweiger, Roman Widholm und Maria Widholm. 4 Cf. zur Geschichte der Volkskunde BAUSINGER Hermann: Volkskunde. Von der Altertumskunde zur Kulturanalyse. Erweiterte Auflage. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 1999; zur Geschichte der österreichischen Volkskunde: KÖSTLIN, Konrad: Volkskunde: Pathologie der Randlage. In: ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften Bd. 4. Wien: Passagen Verlag 2002, pp. 369-414. 5 FIELHAUER, Helmut Paul: Volkskunde als demokratische Kulturgeschichtsschreibung. In: EHALT, Hubert Christian (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags. Wien: Böhlau 1984 (Kulturstudien 1), pp. 59-79, hier p. 64. 6 Cf. ibid., pp. 60 ff. <?page no="245"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 245 kerung bzw. dem »deutschen Volk« volkskundliches Interesse entgegengebracht, sondern ebenso nicht-deutschen Völkerschaften, die in der k. k. Monarchie beheimatet waren. Neben dem Nachweis der jeweiligen »Besonderheiten« musste es dementsprechend ebenso Aufgabe dieser österreichischen Volkskunde sein, die Zusammengehörigkeit dieser verschiedenen »Volksgruppen« in einem Staatenverband zu »beweisen«. Von diesem Verständnis von Volkskunde, die allen Völkern der Monarchie gerecht werden wollte, zeugen einige groß angelegte Buchprojekte: Das weiter unten eingehend beschriebene 24-bändige Monumentalwerk Die Österreichischungarische Monarchie in Wort und Bild war hierunter nicht das erste, ihm vorangegangen war bereits Carl Freiherr von Czoernigs »Ethnographie der Österreichischen Monarchie«, die im Jahre 1857 in drei Bänden erschienen war. 7 1.1 Verein und Zeitschrift für österreichische Volkskunde Der politische Grundgedanke derartiger Werke deckte sich weitgehend mit den Prinzipien jenes Vereins, der ab Ende des 19. Jahrhunderts so etwas wie die zentrale Einrichtung einer österreichischen Volkskunde sein sollte: des Vereins für österreichische Volkskunde, gegründet Ende des Jahres 1894 mit Sitz in Wien. In § 2 der Vereinsstatuten wurde der Zweck des Vereins auf »die Erforschung aller Äußerungen des Volkslebens in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern und in Verbindung damit die Weckung des Verständnisses für altüberlieferte Sitten und Gebräuche beim Volke selbst« 8 festgelegt. Mit dem Bestreben, »in unserem Vaterlande« »eine centrale Pflegestelle für Erforschung und Darstellung unseres volksthümlichen Culturbesitzes« zu schaffen, folgte man Vorbildern in Ländern wie »Deutschland und Frankreich, […] Russland, Schweden und Norwegen«. 9 Von der »centralen Pflegestelle« aus sollte allerdings »ein Beobachtungs- und Sammelnetz über alle Länder Österreichs« ausgebreitet werden; 10 dass es bereits vielerorts »Landes- und Ortsmuseen« gab, deren Aufgabe mit den bewahrenden Intentionen des Vereins für österreichische Volkskunde kongruent waren, wurde anerkannt, doch genügten sie noch nicht dem Ansinnen, »die Völker Österreichs in umfassender und systematischer Weise zum Gegenstande liebevollen Studiums« zu machen. 11 7 CZOERNIG, Karl v.: Ethnographie der Österreichischen Monarchie. 3 Bde. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1855-1857. 8 Statuten des Vereins für österreichische Volkskunde. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1 (1895), pp. 22-24, hier p. 23. 9 Aufruf zum Eintritt in den Verein für österreichische Volkskunde. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1 (1895), pp. 24-28, hier p. 24. 10 Ibid., p. 25. 11 Ibid., p. 24. <?page no="246"?> 246 Viktoriya Hryaban Vielen ›Gründungstexten‹ des Vereins für österreichische Volkskunde lässt sich entnehmen, dass sich dieser als »patriotisches Unternehmen« verstand. 12 Der Staatsgedanke der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde insofern unterstützt und verfolgt, als die Völker der Monarchie als gleichberechtigt nebeneinander imaginiert wurden. Indem man im Rahmen volkskundlicher Bestrebungen der Darstellung der einzelnen »Völker« gleich viel Raum zugestand, sollten diese alle gedanklich in das eine große Reich integriert werden. Die in diesem Sinne auch politische Bedeutung, die ein zentraler österreichischer Verein für Volkskunde übernehmen könnte, wurde besonders in einem Beitrag »Zur Pflege der Volkskunde in Österreich« von Prof. Franz p. Piger aus Iglau/ Jihlava betont, der im zweiten Jahrgang der Zeitschrift für österreichische Volkskunde veröffentlicht wurde: 13 Die Volkskunde kann alle Völker und Volkssplitter mit gleicher Liebe und Sorgfalt berücksichtigen, die Freude am eigenen Dasein wecken und zugleich mit Bewusstsein, ohne Aufgeben der Wissenschaftlichkeit und ohne aufdringliche Hervorkehrung der Absicht, den Gedanken der Zusammengehörigkeit wachrufen und diese immer mehr und mehr zum Bewusstsein bringen. Kleinere Völker haben meist das Gefühl, man lasse sie nicht als ebenbürtig gelten, man missachte sie wegen der geringen Zahl ihrer Volksgenossen. Wenn jedoch ein Organ der Volkskunde für Österreich bestände, so würden sie froh gewahr werden, dass sie im Reichthum volksthümlicher Überlieferungen den deutschen oder italienischen Staatsgenossen zum wenigsten gleichkommen. Es würde dann, wenn die österreichische Volkskunde bei allen Völkern Österreichs Eingang gewänne, diese einander, wenn auch nicht lieben, so doch achten lernen und schon dies wäre für den Staatsgedanken ein unschätzbarer Gewinn. Es hat also die Volkskunde für Österreich, abgesehen von der allgemein wissenschaftlichen Bedeutung, noch eine politische und die möchte ich der erstern nicht nachgestellt wissen. Schon die friedliche Vereinigung einzelner Männer verschiedener Nationalität, um mit Liebe den Regungen der Volksseele nachzuspüren, hat eine gewisse einigende Kraft, die um so größer wird, je mehr gleichgesinnte Patrioten die Bestrebungen dieser fördern helfen und je mehr ihre Arbeiten dem Volke zur Kenntnis gelangen. 14 Dieses »Organ der Volkskunde für Österreich«, von dem Piger spricht - eine Zeitschrift, die »mit einheitlichen Gesichtspunkten und ordnender Umsicht die ein- 12 Z. B. Jahres-Bericht für 1898, erstattet in der Jahreshauptversammlung am 24. Februar 1899 vom Präsidenten Freiherrn v. Helfert. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 5 (1899), pp. 39-42, hier p. 41. 13 PIGER, Franz P.: Zur Pflege der Volkskunde in Österreich. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2 (1896), p. 85-88. Wie man einer redaktionellen Vorbemerkung zu dem Beitrag entnehmen kann, bezieht sich Piger nicht auf den gerade erst gegründeten Verein für österreichische Volkskunde. Bei dem Beitrag handelt es sich um ein »von Prof. Piger 1892 verfasste[s], jedoch unveröffentlicht gebliebene[s] Promemoria an die Unterrichtsbehörden, dessen Grundideen in überraschender Weise mit den bei Gründung des ›Vereins für österreichische Volkskunde‹ maßgebend gewesenen Erwägungen übereinstimmen. Der Verfasser übersandte das Schriftstück vor wenigen Wochen der Redaction, welche es für ihre Pflicht hält, diese die Richtigkeit unseres Vorgehens gewährleistende Übereinstimmung völlig unabhängig von einander entstandener Ansichten zur öffentlichen Kenntnis zu bringen.« Ibid., p. 85. 14 Ibid., p. 87. <?page no="247"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 247 zelnen Jahr für Jahr vorwärts schreitenden Forschungen aller österreichischen Völker sammelt und sie als Gesammtergebnis heimatlicher Volkskunde hinstellt« -, müsse ein staatlich-zentrales sein; bereits weiter fortgeschrittene parallele nationale volkskundliche Bestrebungen nimmt er nämlich durchaus zur Kenntnis, er stellt fest, dass »nationaler denkende Völker z. B. Tschechen und Polen […] eigene Zeitschriften gegründet« haben, 15 und dass, wenn »die Volkskunde in Österreich nicht nach gesammtstaatlichen Gesichtspunkten verwertet [wird] […], manchmal« - sofern dies nicht sogar »schon geschehen« sei - sogar außerhalb der österreichischen Grenzen für die einzelnen Volksstämme wissenschaftliche Centren [entstehen], die, um allgemeine Ziele zu verfolgen, zu schwach, nur zu leicht einseitigem Nationalismus verfallen und so ein neues Hemmnis für die endliche Verständigung der Völker bilden. War es ja auch die frühzeitige Vertiefung in das Volksthümliche, die bei den Slawen Hebel wurde zur Weckung des nationalen Bewusstseins. Ich halte es daher für patriotisch, einseitigen Bestrebungen des nationalen Bewusstseins ein Gegengewicht dadurch zu bieten, dass man ein Organ schafft, das alle Völker des Staates in gleicher Weise berücksichtigt. Das größere Gewicht und die größere Bedeutung, die einem Organe der vereinten Völker Österreichs innewohnt, ist Bürgschaft dafür, dass auch wirklich alle Völker es als solches anerkennen und ihm neidlos ihre Sympathien leihen werden. 16 Die Zeitschrift für österreichische Volkskunde, die ab 1895 in mehreren Heften pro Jahr erschien, war dann durchaus dazu konzipiert, dieses Organ zu sein. Freilich war es ein Organ, das unter deutscher Hegemonie stand: Der Verein, der als Herausgeber der Zeitschrift fungierte, bestand nicht nur vorwiegend aus »Deutschen« aus dem österreichischen Zentralraum und dazu einigen Deutschen aus Kronländern wie Böhmen, Galizien oder der Bukovina; dazu kam, dass offenbar von keiner Seite in Frage gestellt wurde, dass sämtliche Beiträge in der Zeitschrift auf Deutsch zu verfassen seien. In der Tat findet sich kein einziger Artikel, der in einer anderen in der Monarchie gebräuchlichen Sprache abgefasst ist als auf Deutsch. Dass sich die Zeitschrift für österreichische Volkskunde gleichermaßen allen Regionen der österreichischen Reichshälfte der Monarchie zuwenden wollte, zeigt die in Etappen veröffentlichte »Bibliographie der österreichischen Volkskunde«. Ziel dieser Bibliografie war es, »regelmäßig für jedes Jahr« eine »Übersicht der volkskundlichen Erscheinungen aus Österreich - nach Einzelnwerken [sic! ] und dem Inhalt der Zeitschriften geordnet und für jedes Land zusammengestellt« 17 zu liefern. Der Anspruch war jener auf Vollständigkeit, die unter anderem dadurch erreicht werden sollte, dass als Mitarbeiter zahlreiche »bewährte Forscher und bibliographische Kräfte« 18 gewonnen wurden, die sich für einen bestimmten Bereich zuständig erklärten. 15 Ibid., p. 86. 16 Ibid., p. 87. 17 Bibliographie der österreichischen Volkskunde 1894. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1 (1895), pp. 310-320, hier p. 310. 18 Ibid. <?page no="248"?> 248 Viktoriya Hryaban Diese einzelnen Bereiche waren jedoch nicht entlang verschiedener Themen organisiert, auch waren - wie beim Kronprinzenwerk - die einzelnen Kronländer nicht die Grundlage der bibliografischen Einteilung. Die »Anordnung des Stoffes« erfolgte vielmehr entlang so genannter »ethnographischer Einheiten« 19 , womit die verschiedenen ethnisch gedachten Völkergruppen gemeint waren, die sich entsprechend ausdifferenzieren ließen. Diese »ethnographischen Einheiten« waren folgende: »1. Die Deutschen in den Alpenländern. 2. Die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien. 3. Die Nordslawen (Čechoslawen, Polen, Rutenen). 4. Die Südslawen (Slowenen, Serbokroaten). 5. Die Romanen (Italiener, Rumänen).« 20 Innerhalb dieser »ethnographischen Gruppen« gab es freilich auch eine »sachliche Eintheilung«: Der »Stoff« sollte vier großen Gruppen zugeordnet werden, nämlich »1. Ethnographisches überhaupt. Dialect, Personen- und Ortsnamen. 2. Volkssitte und Volksglaube. 3. Volkslied und Volksschauspiel. 4. Volkssagen und Volksmärchen.« 21 An den Bibliografien, die fortan in Etappen erscheinen sollten, lässt sich ablesen, in welch intensivem Ausmaß die einzelnen Völkerschaften zum Gegenstand volkskundlichen Interesses geworden waren, auch wenn das Vorhaben, innerhalb eines Jahrgangs die Teilbibliografien zu sämtlichen Völkergruppen erscheinen zu lassen, nie zustande kam. Ein Hinweis auf die, entgegen aller Ansprüche, allgemeine Deutschlastigkeit der Zeitschrift ist die Tatsache, dass hierbei den Deutschen die meiste Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Es lassen sich jedoch zusätzlich Unterschiede hinsichtlich des Grades der ethnografischen Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen nicht-deutschen Völkern feststellen: Bibliografische Einträge etwa zu den Slovenen sind äußerst rar, jene zu Ruthenen vergleichsweise häufig. Diese Unterschiede, die Rückschlüsse auf das zugrunde liegende ethnografische Interesse an den verschiedenen peripheren Orten und Völkern erlauben, haben jedoch auch mit den Bevölkerungszahlen der jeweiligen Gruppen zu tun. 1.2 Die Bukovina in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde Zieht man etwa die im ersten Jahrgang der Zeitschrift erschienene »Bibliographie der österreichischen Volkskunde« über das Jahr 1894 heran und verfolgt die ethnografisch-literarische Präsenz der Bukovina, so bemerkt man, dass sich diese beispielsweise gegen Galizien bescheiden ausnimmt. Beide, Galizien und Bukovina, bilden Untereinheiten eines Abschnittes über »Polen und Rutenen«. Während die Bukovina in der »vom k. k. Custos Jac. [sic! ] Polek, Czernowitz« vorgenommenen Zusammenstellung nur durch 15 Beiträge repräsentiert ist, 22 fin- 19 Ibid., p. 311. 20 Ibid. 21 Ibid. 22 Darunter finden sich mehrere Artikel von Raimund Friedrich Kaindl, Demeter Dan, Gregor Kupczanko und Florian Marian. <?page no="249"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 249 den sich unter »Galizien« 160 Einträge, die, im Gegensatz zu der bukowinischen Literatur, in die genannten Rubriken »Ethnographisches überhaupt, Dialekt etc.«, »Sitten, Gebräuche, Meinungen, Aberglaube«, »Volkslied und Volksschauspiel« und »Volkssagen und Volksmärchen« unterteilt ist - eine Einteilung, die sich bei den wenigen Einträgen zur Bukovina zu erübrigen scheint. Ein solches Ungleichgewicht sollte nicht überbewertet werden. Vieles hängt hier von Zufällen oder von der Rührigkeit und dem Eifer der jeweiligen Bibliografen ab. Als rührig ist, wenngleich sich die Jahresbibliografien zur Bukovina nicht allzu umfangreich ausnehmen, deren Bibliograf Johann Polek sicher zu bezeichnen. Immerhin gehörte Polek zu jenen Korrespondenten der Zeitschrift für österreichische Volkskunde, die einigermaßen verlässlich ihre bibliografischen Übersichten ablieferten, weshalb wir ein gutes Bild von der Situation der Bukoviner Volkskunde, soweit sie sich in den einschlägigen Publikationen spiegelt, haben. Für einen Überblick über die Volkskunde der Bukovina des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Habsburger Monarchie bietet die Zeitschrift für österreichische Volkskunde einen guten Ausgangspunkt. Wenngleich die Bukovina in diesem Zeitraum nur selten erwähnt wird, so zeigt ein genauerer Blick in die frühen Jahrgänge doch, dass dieses kleine Kronland ein immer wiederkehrender Schauplatz volkskundlicher Erkundungen ist. Spuren dieses Interesses finden sich zum Beispiel in den Erwerbslisten des Vereins für Volkskunde sowie von dessen Museum und Bibliothek, die regelmäßig in der Zeitschrift veröffentlicht wurden. Und nicht nur die Bibliothek wurde von Anfang an mit Büchern und Fotografien aus der Bukovina bestückt, auch die Objektsammlung erfuhr regelmäßig Zuwachs aus der Bukovina. Direktor Michael Haberlandt 23 vermerkte 1898, dass »gerade die entferntesten Länder Österreichs, die bisher in unserem Museum erst schwach repräsentirt waren, verhältnismässig befriedigend vertreten sind« 24 . Genau darüber gibt dann im sechsten Jahrgang der Zeitschrift eine Auflistung der Herkunftsländer der Objekte und deren jeweilige Anzahl Auskunft: An der Spitze stehen hier Tirol und Vorarlberg mit (gemeinsam) 2.393 Objekten, gefolgt von den Ländern Niederösterreich und Oberösterreich, Steiermark, Mähren und Böhmen mit Objektanzahlen zwischen 700 und 1.000. Während Bosnien und Herzegovina mit 181, Galizien mit 106 und Kroatien mit gar nur 11 Objekten die Schlusslichter bilden, liegt die Bukovina mit 442 gut im Mittelfeld. 25 Wenn oben davon die Rede war, dass man aufgrund der bibliografischen Angaben Galizien für volkskundlich weit interessanter als die 23 Michael Haberlandt (1860-1940), österreichischer Volkskundler und Indologe, nach Beendigung seines Studiums 1882 wurde er Kustos an der anthropologisch-ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien. 1892 habilitierte er sich als erster für das neu geschaffene Fach Völkerkunde an der Wiener Universität und erhielt 1910 den Titel a. o. Prof. verliehen. Zusammen mit Wilhelm Hein gründete er 1894 den Verein für Volkskunde, 1895 die Zeitschrift für österreichische Volkskunde sowie das heutige Österreichische Museum für Volkskunde. 24 Bibliographie der österreichischen Volkskunde 1895, p. 311. 25 Mittheilungen aus dem Verein und dem Museum für österreichische Volkskunde. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 6 (1900), pp. 93-96, hier p. 94. <?page no="250"?> 250 Viktoriya Hryaban Bukovina halten müsste, so wird dieser Eindruck hier völlig revidiert. Die kleine Bukovina war im Museum viel besser repräsentiert als ihr um ein Vielfaches größeres Nachbarkronland Galizien. Nicht nur in Bibliografien und Erwerbslisten taucht die Bukovina in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde auf, sondern auch in einer ansehnlichen Reihe von Artikeln. Je einen Artikel über die Bukovina verfassten für die Zeitschrift für österreichische Volkskunde in den Jahren 1895 bis 1914 Carl. A. Romstorfer 26 und Nico Cotlarciuc 27 ; als AutorInnen von jeweils mehreren Beiträgen über die Bukovina treten fünf weitere Personen in Erscheinung, nämlich Johann Polek, der nicht nur die Bibliografien für die Bukovina erstellte, sondern bereits im zweiten Jahrgang mit einem umfassenden Artikel über »Die Lippowaner in der Bukovina« vertreten war und in einem späteren Jahrgang »Aus dem Volksleben der Zipser in der Bukowina« 28 berichtete; des weiteren Demeter Dan, der nicht nur mit zwei kleinen Mitteilungen im Jahrgang 1900 vertreten ist, sondern ein Jahr später auch einen mehrteiligen Aufsatz über »Die Juden in der Bukowina« 29 veröffentlichte; 30 Elias Weslowski 31 , der mehrfach über Motive 26 ROMSTORFER, C. A.: Holzarbeiten der Bukowiner Zigeuner. In: ibid., pp. 49-53. Carl Romstorfer (1854-1916), Architekt, k. k. Professor, Inspektor der gewerblichen Fach- und Fortbildungsschulen in der Bukovina, k. k. Konservator, korrespondierendes Mitglied der k. k. Landwirthschaftgesellschaft in Wien und der Bukowiner Handels- und Gewerbekammer, Mitglied der Académie nationale Paris; Gemeinderat, Direktor des Bukowiner Gewerbemuseums und Schriftführer des Landesmuseums, landesgerichtlich beeideter Sachverständiger für das Kunstfach, Ausschussrat des Vereins für österreichische Volkskunde in Wien. Wichtigste Werke: Das Bauernhaus in der Bukowina (1890), Typen der landwirtschaftlichen Bauten im Herzogthume Bukowina (1892), Die Kirchenbauten in der Bukowina (1896). 27 COTLARCIUC, Nico: Beiträge zum lebenden Ehe- und Familienrecht der Rumänen, insbesondere jener im Süden der Bukovina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 19 (1913), pp. 16-32; 93-104. Nico Cotlarciuc (1875-1935), Studium der Theologie an der Universität Czernowitz, 1914 Inauguration, 1924 Metropolit der Bukovina, Kustos der Univ. Bibliothek, Professor an der theologischen Fakultät der Universität Czernowitz. 1920-21 Dekan. 28 POLEK, Johann: Die Lippowaner in der Bukowina. Ihre Einrichtungen, Sitten und Gebräuche. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2 (1896), pp. 53-66. DERS.: Aus dem Volksleben der Zipser in der Bukovina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 8 (1902), pp. 25-34. Johann Polek (1843-1920), gehörte zu den Pionieren der Bukoviner Landesforschung (historische Landeskunde), Studium der klassischen Philologie 1865-1869 an der Universität Wien, 1871 Dr. phil., 1882 Kustos an der Universitätsbibliothek Czernowitz. 1900 Direktor. 1913 Hofrat und i. K. Konservator des Zentralkomitees für Denkmalpflege, Mitglied des Kuratoriums des Bukowiner Landesmuseums. Wichtigste Werke: Die Erwerbung der Bukowina durch Österreich (1889), ausgewählte Kapitel aus dem Gedenkbuch der römisch-katholischen Pfarre zu Czernowitz (1990). 29 DAN, Demeter: Warum trinkt die Eule Regenwasser? Romänische Volkslegende aus der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 6 (1900), pp. 36-37; DERS.: Der Maulwurf im romänischen Volksglauben der Bukowina. In: ibid., pp. 37-38. DERS: Die Juden in der Bukovina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 7 (1901), pp. 69-78; 117-125; 169-179. 30 Bereits 1896 war in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde ein kleiner Beitrag von Dan über »Volksglaube und Gebräuche der Juden in der Bukowina« erschienen. Mit dem »Volksglauben der Rumänen in der Bukowina« hatte er sich ebenfalls beschäftigt, was in einer gleichnamigen, in verschiedenen Zeitschriftenausgaben der Jahre 1896 und 1897 veröffentlichten Serie seinen Ausdruck fand. DAN, Demeter: Volksglaube und Gebräuche der Juden in der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2 (1896), pp. 81-83; DERS.: Volksglauben der Rumänen in der Bukowina. In: ibid., pp. 250-252; 284-286; Zeitschrift für österreichische Volkskunde 3 (1897), pp. 20-22; 116-120; 180-186; 370-373. 31 Elias Weslowski, Volkskundler, Direktor der Forstschule in Kimpulung, Rumänien. <?page no="251"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 251 des »romänischen Volksglaubens« und in zwei weiteren Beiträgen über »Das rumänische Bauernhaus in der Bukowina« beziehungsweise über dessen Möbel berichtete; 32 Raimund Friedrich Kaindl, der in zwei Artikelserien »Deutsche Lieder aus der Bukowina« wiedergab bzw. »Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes« lieferte; 33 sowie Auguste Kochanowska (bzw. Kochanowski), die im Abstand von jeweils mehreren Jahren ebenfalls über das »rumänische Bauernhaus in der Bukowina« 34 , über »Bukowinaer Jahrmärkte« 35 sowie über das »Leben der Schafhirten in der Bukowina« 36 schrieb. Romstorfer, Kaindl und Polek, alle drei in Czernowitz tätig, wurden vom Verein für österreichische Volkskunde als Mitglieder geführt; 37 Kaindl und Romstorfer hatten bereits den mit Mitte Dezember 1894 datierten »Aufruf zum Eintritt in den Verein für österreichische Volkskunde«, der gleichsam das Gründungsdokument des Vereins darstellt, mitunterschrieben, 38 wobei Romstorfer zum Ausschussrat des Vereins für die Bukovina berufen wurde. 39 Kochanowska, ebenfalls wohnhaft in Czernowitz, war selbst kein Mitglied, hatte aber über ihren Onkel, R. Kochanowski v. Stawczan, Czernowitzer Bürgermeister von 1866 bis 1874 und von 1887 bis 1905, 40 Kontakt zum Verein. Wie von Kochanowska ist von den anderen genannten Autoren keine Mitgliedschaft im Verein bekannt, wenngleich zumindest der aus der Südbukovina stammende und vorwiegend ebendort agierende Dan dem Verein für österreichische Volkskunde sehr verbunden gewesen sein dürfte. 41 Gerade 32 WESLOWSKI, Elias: Die Melksteine im romänischen Volksglauben. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 14 (1908), pp. 136-137; DERS.: Mama pâdurei [Die Mutter des Waldes] im romänischen Volksglauben. In: ibid., pp. 137-139; DERS.: Die Vampirsage im rumänischen Volksglauben. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 15 (1910), pp. 209-216. DERS.: Das rumänische Bauernhaus in der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 18 (1912), pp. 81-118. DERS.: Die Möbel des rumänischen Bauernhauses in der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 11 (1906), pp. 55-69. 33 KAINDL, Raimund Friedrich: Deutsche Lieder aus der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 13 (1907), pp. 147-159; Zeitschrift für österreichische Volkskunde 14 (1908), pp. 125-131. DERS.: Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 6 (1900), pp. 226-248; Zeitschrift für österreichische Volkskunde 8 (1902), pp. 118-131; 237-247. 34 KOCHANOWSKA, Auguste: Vom rumänischen Bauernhaus in der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 4 (1898), pp. 203-206. 35 KOCHANOWSKA, Auguste: Bukowinaer Jahrmärkte. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 14 (1908), pp. 199-207. 36 KOCHANOWSKI, Auguste: Aus dem Leben der Schafhirten in der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 20 (1914), pp. 106-114, sowie davor bereits: KOCHANOWSKA, A. v.: Der Schafhirt der Bukowinaer Karpathen. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 8 (1902), pp. 252-253. 37 Cf. Verzeichniss der Mitglieder. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 7 (1901), pp. 46-56. 38 Aufruf zum Eintritt in den Verein für österreichische Volkskunde. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1 (1895), pp. 24-28. 39 20 Ausschussräte waren bei der Konstituierung des Vereins am 20. Dezember 1894 gewählt worden, davon zehn in Wien ansässige und zehn »in den Königreichen und Ländern«; cf. Die Constituirung des Vereins. In: ibid., pp. 28-29. 40 Cf. МАСАН, Олександр/ ЧЕХОВСКИЙ, Ігор: Чернівці: 1408-1998. Чернівці: Місто, 1998., 213с. С. 126-128 (MASAN, Aleksander/ CHEHOVSKI, Igor: Czernowitz: 1408-1998. Czernowitz: Misto 1998, pp. 126-128). 41 Laut Franz Grieshofer verdankt ihm das Österreichische Museum für Volkskunde »eine umfangreiche Sammlung an Zeugnissen der Alltagskultur«. GRIESHOFER, Franz: Die Volkskunde in der Bukowina. In: Spurensuche - Czernowitz und die Bukowina einst und jetzt. Ausstellung Schallaburg, 3. Juni bis <?page no="252"?> 252 Viktoriya Hryaban er stand als volkskundlich aktive Persönlichkeit hinter Polek, Romstorfer oder Kochanowska nicht weit zurück. Unter anderem scheint er als Autor im Bukovina-Band des Kronprinzenwerks auf, für das er gleich drei Textbeiträge lieferte, nämlich über die Lippowaner, über die Armenier und über die ›Zigeuner‹. Als UrheberInnen von Artikeln über die Bukovina finden sich in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde also durchwegs AutorInnen, die in der Bukovina ansässig waren. Die ExpertInnen waren also vor Ort. Vom Zentrum Wien aus mögen vielleicht ›Expeditionen‹ in entlegene Gegenden wie die Bukovina unternommen worden sein, als AutorInnen von Texten zur Volkskunde der Bukovina kamen aber offenbar nur Menschen aus der Region in Frage. Diese waren freilich fast immer im regionalen Zentrum beheimatet, nämlich Czernowitz. Handlungsorte der Texte waren hingegen erst recht die von Czernowitz aus gesehen abgelegenen Landstriche; in ihnen offenbart sich also ein Blick des Zentrums der Peripherie auf die Peripherie der Peripherie. 1.3 Der volkskundliche Blick auf die Bukovina Was zeichnet nun die volkskundlichen Texte der genannten AutorInnen aus? Welchen Vorstellungen sind sie verpflichtet? Welchen Schemata folgen sie? In beinahe jedem der angeführten Texten finden wir das »ethnographische Präsens«. Beobachtetes und Beschriebenes werden damit als statisch und lange anhaltend dargestellt, wodurch Brauchtum etc. als unveränderlich und ahistorisch erscheint. 42 Diese Darstellungsform ist nicht nur den Texten über die Bukovina eigentümlich, es handelt sich dabei um die übliche Form in der volkskundlichen Literatur dieser Zeit. Auffällig ist, dass sich verhältnismäßig viele Texte zur Bukovina nicht der ganzen Region und seinen BewohnerInnen als solchen nähern, sondern einzelne Volksgruppen zum Gegenstand haben und diese damit als geschlossene Einheiten erscheinen lassen. Die einschlägigen Titel dieser Beiträge lauten u. a.: »Aus dem Volksleben der Zipser in der Bukowina« oder »Beiträge zum lebenden Ehe- und Familienrecht der Rumänen«. 43 Insofern ein Untertitel, wie im Fall des Beitrags »Die Lippowaner in der Bukowina«, zusätzlich den Untertitel »Ihre Einrichtungen, Sitten und Gebräuche« trägt, 44 verstärkt sich die Idee der Abgeschlossenheit dieser Gruppe umso mehr. Signalisiert der letztgenannte Titel zudem einen gewissermaßen »ganzheitlichen« Blick auf das im Interesse stehende »Volk«, wird in anderen Artikeln explizit ein ausgewählter Aspekt zum Gegenstand erhoben, dieser jedoch erst recht wieder nur in Bezug auf eine einzelne 29. Oktober 2000. St. Pölten: Niederösterreichisches Landesmuseum 2000, pp. 76-78, hier p. 77. 42 Cf. KÖSTLIN, Konrad: Der Alltag und das ethnografische Präsens. In: Ethnologia Europaea 21 (1991), pp. 71-85. 43 POLEK 1902. COTLARCIUC 1913. 44 POLEK 1896. <?page no="253"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 253 ethnische Gruppe. Vom »romänischen Volksglauben« ist dann die Rede, von den »Holzarbeiten der Bukowiner Zigeuner« oder vom »rumänischen Bauernhaus in der Bukowina«. 45 Nur wenige Beiträge bleiben in ethnischer Hinsicht unspezifisch. Dazu gehören Auguste Kochanowskas Texte »Bukowinaer Jahrmärkte« und »Aus dem Leben der Schafhirten in der Bukowina« sowie Raimund Friedrich Kaindls »Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes«. 46 Der letztgenannte, in drei Teilen erschienene Artikel gliedert sich in 30 kurze, eigentlich voneinander unabhängige Textabschnitte, die jeweils eigene Titel tragen. Schon über diese Titel wird deutlich, dass man sich von dem Übertitel nicht täuschen lassen darf und nicht erwarten kann, hier wäre »das Ethnische als Forschungskonzept« 47 durch das Paradigma der Region ersetzt. »Eine rumänische Hochzeit in St. Onufrie«, »Die Weihnachten der Rutenen in Neu-Mamajestie« oder »Huzulische Sage über den Bergsturz in Storonetz« lauten einige der Zwischentitel, und wo aus der Betitelung der Textabschnitte noch nicht deutlich wird, von welcher ethnischen Gruppe der jeweilige Abschnitt handeln wird, wird das zumeist in einer der ersten Zeilen - wie z. B. »Chliwestie liegt in der nördlichen Bukowina zwischen Pruth und Dnjestr, in völlig ruthenischer Gegend« 48 - festgestellt oder in einer Fußnote mit den Worten »Rutenische Gegend« 49 oder »Rutenisches Dorf am Pruth in der nördlichen Bukowina« 50 definiert. Kochanowska lässt in dieser Hinsicht viel mehr offen. Zwar wird in ihrem Bericht über »Bukowinaer Jahrmärkte« schnell deutlich, dass es ihr vor allem um die Beschreibung huzulischer Bauern und der Argumentation einer angeblichen »Übervorteilung durch Juden« 51 geht. In ihrem Text »Aus dem Leben der Schafhirten in der Bukowina« hingegen wird dieses »Hirtenvolk« keineswegs ethnisch definiert. Was gerade an Kochanowskas Texten auffällt, ist die darin vorgenommene Romantisierung der beschriebenen Menschen. Sie schlägt dabei pathetischere Töne an als andere Textautoren, wie überhaupt ihre Texte, verglichen mit jenen anderer in der Zeitschrift publizierender »Volksforscher«, ziemlich schwärmerisch-schwülstig ausfallen. »Malerisch« ist eines der von ihr gerne verwendeten Attribute. Als derart pittoresk bezeichnet Kochanowska die Bekleidung junger Burschen auf einem Jahrmarkt bzw. die Jahrmärkte als Ganzes, in einem anderen Artikel die Tracht der Bauern. Der Hirte gebe »ein seltsames 45 DAN 1900; ROMSTORFER 1900; KOCHANOWSKA 1898. 46 KOCHANOWSKA 1908 und DIES. 1914; KAINDL, Raimund Friedrich: Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 6 (1900), pp. 226-248. 47 JOHLER, Reinhard: Das Ethnische als Forschungskonzept: Die österreichische Volkskunde im europäischen Vergleich. In: BEITL, Klaus/ BOCKHORN, Olaf (Hg.): Ethnologia Europaea. 5. Internationaler Kongreß der Societé International d´Ethnologie et de Folklore (SIEF), Wien, 12.-16.9.1994. Plenarvorträge. Wien: Institut für Volkskunde der Universität Wien 1995 (=Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde der Universität Wien 16/ II), pp. 69-101. 48 KAINDL 1900, p. 239. 49 Ibid., p. 226. 50 Ibid., p. 229. 51 KOCHANOWSKA 1908, p. 201. <?page no="254"?> 254 Viktoriya Hryaban und hübsches Bild« ab, »das Lagern der Bauern am breiten Czeremoszflusse, das bunte Treiben, das Tränken der Viehstücke am glänzenden Wasser bei untergehender Sonne« seien ebenfalls »ein hübsches Bild«, und ganz allgemein freut sich Kochanowska über die »wunderhübschen Szenen«, die sich ihr auf einem Schaf- und Ziegenmarkt darbieten. 52 So sehr sich Kochanowska am Beobachteten erfreut, so sehr grenzt sie sich auch davon ab. Gerade am Text über die Bukoviner Jahrmärkte zeichnet sie eine Dichotomie »Europa« versus »das Andere«: »Seltsam und für einen Europäer gar nicht einladend sehen diese Eßsachen aus«, die sie ausführlich beschreibt. 53 Und zwischen den mitunter auch »[h]ässliche[n], verkommene[n] Gestalten« der Käufer auf dem Markt finden sich »auch stattliche, wohlgenährte Gestalten […] in gewöhnlicher europäischer Kleidung, mit hohen Stiefeln, dicken Uhrketten und glänzendroten Gesichtern« 54 . Mithilfe des Attributs »europäisch« werden auch soziale Unterschiede benannt. Die Dichotomie wird weitergeführt, wenn es über die »von weit und breit« zusammenkommenden gewöhnlichen Pferde- und Schweinehändler heißt, »ihnen allen« hafte »starker Zwiebelgeruch« an. Hingegen »gibt [es] aber auch vornehme Käufer, die Gutsbesitzer der nahen Gutshöfe, die in ihren eleganten Equipagen daherkommen, um den Jahrmarkt zu besichtigen, eventuell um Pferdekäufe abzuschließen« 55 . Die Haltung Kochanowskas, d. h. ihr romantisierender Blick auf die einfache Bevölkerung der Bukovina, ihre Suche nach »schönen Bildern« und ihre Unterscheidung der beschriebenen Welt von einer »europäischen«, drückt sich noch einmal exemplarisch in folgender Passage aus: Dort weiter auf einer Anhöhe […] steht ein Weib mit langem herabhängenden türkischbunten Kopftuch, wie es auch bei den Huzulen üblich ist, ihre Herde hütend, welche, die Köpfe gegeneinander geneigt, regungslos dasteht. Auf ihren großen Leinenregenschirm […] gestützt, sieht das Weib in dem kurzen, engen, dem Körper angepaßten ziegelroten Wollrock, unter dem das Hemd heraussieht, reizend aus. […] Geschickt und anmutig ist jede ihrer Bewegungen. Im Hintergrunde das blaue Tal - ein Bild, das jeden Maler des Westens zur Wiedergabe reizen würde. 56 Beachtenswert an Kochanowkas Texten ist des Weiteren, dass hier das ethnografische Präsens gelegentlich aufgebrochen wird. Immer wieder lässt sie einfließen, dass es sich um konkrete Situationen handelt, in denen sie ihre Beobachtungen gemacht hat. Einzelne Personen, denen sie begegnet ist, werden aus der Masse herausgehoben, stehen zwar nach wie vor als einer unter vielen, die es zu beschreiben gilt, bekommen jedoch immerhin ein individuelles Gesicht. Zum Beispiel ist von jenen Hirten die Rede, die auch den Winter über im hohen Gebirge verbringen. 52 KOCHANOWSKA 1898, p. 205; DIES. 1902, p. 252; DIES. 1908, pp. 202 f, ibid., p. 201. 53 Ibid., p. 200. 54 Ibid., p. 201. 55 Ibid. 56 Ibid., p. 202. <?page no="255"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 255 Diese sehen verwildeter aus. Wir trafen einen solchen, der siebzig Jahre zählte und seit seinem achtzehnten Lebensjahre Schafhirte an den Steilen des Bareugebirges war. Er hatte ein kleines verhutzeltes Gesicht, das aber von frischer Farbe war und sein Haar war kaum grau, die kleinen Augen glänzten lebhaft. Dieser Hirte wird im Folgenden zum Gewährsmann: »Er wußte viel Bärengeschichten zu erzählen, wenn er durch einige Gläschen Schnaps in Stimmung gebracht wurde«, und einige dieser Geschichten gibt die Autorin wieder. 57 Das Konkrete der Situation wird permanent deutlich gemacht, dennoch wird das Beobachtete und Erlebte in der Beschreibung zum sozusagen allgemein Gültigen gemacht. In der offenen kleinen Hirtenwohnung wurde in der Mitte ein mächtiges Fichtenholzfeuer angezündet, auf dessen Kohlen wir ein rohes mitgebrachtes Fleisch auf langem Holzspieß landesüblich brieten und gemeinsam aßen. Der alte Hirte [der noch immer als der Präsentator der traditionellen Hirtenkultur fungiert, Anm. VH] trug uns zum Dessert frischgekochte Schafmilch an, die außerordentlich fett und auch schmackhaft, vielen aber durch ihren besonderen Beigeschmack unangenehm ist. Sie bildet mit Käse und Kukuruzkuchen (Mamaliga) die hauptsächlichste Nahrung der Hirten. 58 Wenn Kochanowska dann in der Folge Überlegungen zu Gerätschaften und zur Unterkunft der Hirten anstellt, so bildet wiederum die Hütte des alten Hirten den Ausgangspunkt - »[i]n diesem kleinen Raum sehen wir die wichtigsten Behelfe ihrer Milchwirtschaft und ihres primitiven Lebens« -, und im Text wird, verpackt in einen Satz erzählerischen Charakters, klar markiert, wo das Setting wechselt: »Als wir die kleine Hütte mit dem alten Hirten verließen, schliefen die Schafe in ihrer weiten Umfriedung eng aneinandergedrängt. Weit hinaus geleiteten uns die bellenden Hunde.« 59 Kochanowska bringt sich selbst als Forscherpersönlichkeit in ihren Text ein; von Autoreflexion ist sie natürlich weit entfernt, vor allem erfährt man - obwohl gerade das »wir« neugierig macht - nichts über die Umstände ihrer Forschungen. Am Beispiel Kochanowska lässt sich zeigen, wie EthnografInnen in und mit ihren Beschreibungen Kultur »fixierten« und mittels ihrer Autorität subjektive Behauptungen zu vermeintlich allgemeingültigen Aussagen über »Kultur« gerinnen ließen. Einige der in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde veröffentlichten Artikel über die Bukovina wenden sich verhältnismäßig eng begrenzten Themen zu, so etwa dem »rumänischen Bauernhaus«, »Holzarbeiten der Bukowiner Zigeuner«, Aspekten des »Volksglaubens« oder gar bestimmten Volkslegenden. Andere Artikel wiederum, die sich einem vermeintlich abgesteckten Feld widmen, lassen thematisch mehr Spielraum zu. So spricht Kochanowska in ihren Texten 57 KOCHANOWSKI 1914, p. 107. 58 Ibid., pp. 108 f. 59 Ibid., p. 109. <?page no="256"?> 256 Viktoriya Hryaban über das Leben der Schafhirten eine Vielzahl von Aspekten an, angefangen von Volkserzählungen über Nahrung, Geräte und Arbeit bis hin zu Musikinstrumenten. Neben diesen Texten gibt es noch jene Variante, bei der der Anspruch erhoben wird, eine Gruppe (oder gar ein »Volk«) gleichsam ganzheitlich darzustellen. Wenn Johann Polek »Aus dem Volksleben der Zipser in der Bukowina« 60 berichtet, so schränkt er diesen Anspruch zwar im Titel ein, verwendet jedoch an anderer Stelle auch weiterhin Titel wie »Die Lippowaner in der Bukowina. Ihre Einrichtungen, Sitten und Gebräuche«. Einleitend werden im diesem Beitrag historische Fakten über die Lippowaner ausgebreitet, danach einiges an »statistisch-lexikalischem« Wissen, u. a. zum Bevölkerungswachstum der Lippowaner im Laufe der Zeit. Daraufhin vermerkt Polek Grundsätzliches über die Besonderheiten des lippowanischen Glaubens, um dann zu einer Einschätzung der Situation der Bildung überzugehen. Ab dann wird es »volkskundlich« im engeren Sinne: Nach einigen Bemerkungen zur Physis der Lippowaner werden deren Kleidung, deren Beschäftigungen, Sitten und Gebräuche beschrieben, zum Beispiel Verlobung und Hochzeit. Diese Struktur ergibt einen abgerundeten Überblick, der die LeserInnen wohl dazu bringen soll, nach Abschluss der Lektüre von sich behaupten zu können, nunmehr über die Lippowaner Bescheid zu wissen. Polek referiert vermeintlich gesichertes Wissen: An historischen Fakten ist nicht zu rütteln und jene ethnografischen Beschreibungen im Modus des ethnografischen Präsens lassen ebenso wenig Zweifel an ihrer »Richtigkeit« zu. In eine ähnliche Kerbe wie Poleks Artikel über die Lippowaner schlägt Demeter Dan mit seinem Text über »Die Juden in der Bukowina«. 61 Auch dieser beginnt mit Historischem und Statistischem, bevor mit »Physiognomik und Tracht« zu »Volkskundlichem« wie »Jüdischen[n] Sitten und Gebräuchen bei der Geburt« übergeleitet wird. Interessant ist übrigens die »Vorrede« des Aufsatzes: Dass die Juden in dem Werk Österreich-Ungarn in Wort und Bild »statistisch zu den Deutschen gezählt« worden seien, sei für Dan ausschlaggebend gewesen, diese »kurze Monographie der Juden in der Bukowina« zu verfassen. Mit dem Beitrag geht es Dan um die Beweisführung, dass die Juden, welche sich von anderen Völkern durch die Verschiedenheit ihres Glaubens und Cultus, der Tracht, Sitten, Gebräuche und Volksglauben unterscheiden, nicht gut zu den Deutschen gezählt werden dürfen, wenn sie auch das reinste Deutsch und nicht den deutsch-jüdischen Jargon reden sollten, und dass sie eine Völkerfraction bilden, welche als solche beachtet werden muss, wie man dies mit anderen an Seelenzahl geringeren Völkerfractionen als die Juden gethan hat. 62 In diesem Satz wird deutlich, worum es der Ethnografie über weite Strecken ging: um die Konstruktion von klar voneinander abgrenzbaren »Völkern«. Rein- 60 POLEK 1902. 61 DAN 1901, p. 69 f. 62 Ibid. <?page no="257"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 257 hard Johler spricht in diesem Zusammenhang vom »Ethnischen als Forschungskonzept« 63 , Konrad Köstlin vom »ethnographischen Paradigma« 64 . 1.4 Die Ethnografen und ›ihre eigenen‹ Völker Bei diesem ›Herbeischreiben‹ von ›Völkern‹ oder ›Ethnien‹ sind unterschiedliche Haltungen der jeweiligen Autoren gegenüber ihrem ›Objekt‹ auszumachen: Oftmals sind es Angehörige der zu beschreibenden Gruppe, die sich der Aufgabe, diese zu ethnografieren, unterziehen. So schreiben Autoren wie Demeter Dan und Elias Weslowski bevorzugt über »die Rumänen«, auch Nico Cotlarciuc widmet sich in seinem einzigen Artikel in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde seinem Herkunfts-»Volk«. Dies lässt sich als eine Art Identitätspolitik begreifen: Indem man die eigene Gruppe thematisiert, macht man sie bedeutend. Wenn auch die Zeitschrift für österreichische Volkskunde nur wenige rumänische LeserInnen gehabt haben mag, so handelt es sich bei den darin enthaltenen Beiträgen von Dan und Weslowski doch um Material, dem für die Rumänen identitätsproduktives Potenzial innewohnt, d. h. Material, das für eine Selbstdeutung der Rumänen wichtig werden konnte. Erstaunlicherweise finden sich in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde unter den Artikeln über die Bukovina viel mehr Beispiele dafür, dass Volkskundler über die »nicht-eigene« Gruppe schreiben. Dan berichtet, wie bereits beschrieben, nicht nur über Rumänen, sondern sehr engagiert auch über die (deutschsprachigen) Juden, Raimund Friedrich Kaindl nicht nur über Deutsche, sondern auch über Rumänen und vor allem Ruthenen. Johann Polek beschäftigt sich mit den Lippowanern und den Zipsern, Carl A. Romstorfer mit den Bukowiner ›Zigeunern‹. Auch von Kochanowska haben wir gesehen, dass sie sich den »Fremden« zuwendet, auch wenn jene in ihren Texten weniger eindeutig ethnisch identifiziert werden. An dieser Tatsache lässt sich erkennen, dass die Volkskunde der österreichisch-ungarischen Monarchie weniger als (national beschränkte) ›Volkskunde‹, sondern eher als (europäische) ›Völkerkunde‹ betrieben wurde. 65 Und so, wie Völkerkundler von jeher ihre Forschungsobjekte auch dadurch vereinnahmten, dass sie sie als ›ihre‹ Trobriander, ›ihre‹ Azande etc. benannten, taucht auch in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde ein possessives Moment auf: Von »unserem rumänischen Bauernhaus« schreibt Auguste Kochanowska, und in ihrem Text über das »Leben der Schafhirten in der Bukowina« berichtet sie über die »Sitte unseres Bauernvolkes« 66 . »Kein Fest der christlichen Kirche wird von 63 JOHLER 1995. 64 KÖSTLIN, Konrad: Das ethnographische Paradigma und die Jahrhundertwenden. In: Ethnologia Europaea 24 (1994), pp. 5-20. 65 Cf. JOHLER, Reinhard: Auf der Suche nach dem »anderen« Europa: Eugenie Goldstern und die Wiener »Völkerkunde Europas«. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 108 (2005), pp. 151-164. 66 KOCHANOWSKA 1898, p. 206; KOCHANOWSKI 1914, p. 112 (Hervorhebungen V. H.). <?page no="258"?> 258 Viktoriya Hryaban unserer Landbevölkerung so sehnsüchtig erwartet und so feierlich begangen, als das Osterfest«, weiß Raimund Friedrich Kaindl zu berichten. 67 »Bauernvolk« und »Landbevölkerung« sind hier freilich nicht Kochanowskas bzw. Kaindls »Volk«, verstanden als der »Stamm« des einzelnen Forschers. Das in diesen Vereinnahmungen enthaltene »wir« bezieht sich, so scheint es, zunächst eher auf den Kreis der volkskundlich an der Bevölkerung Interessierten, die in weiterer Folge stellvertretend für das staatliche Kollektiv stehen. »Unsere Landbevölkerung« ist jene in der Bukovina, damit aber auch Landbevölkerung des Kaiserreichs. Dass sich das »wir« nicht zuletzt auf den Staat bezieht, wird vielleicht am ehesten an einer Textstelle bei Kaindl deutlich, wo dieser von einem, »wie es scheint, mit Absicht in Umlauf gebrachte[n] Gerücht« berichtet: Man erzählte unter den Bauersleuten der nördlichen Bukovina, dass Canada der Kronprinzessin Stefanie gehöre: sie sei so gütig und rufe die armen Leute dahin. Wer es weiss, dass allerlei Agenten seit mehreren Jahren die mannigfaltigsten Anstrengungen machen, um unsere Bauern zur Auswanderung nach Amerika zu verlocken, wird leicht zugeben, dass jenes Gerücht verbreitet wurde, um die Leute irrezuführen. 68 1.5 Aus der Bukovina selbst: Das Jahrbuch des Bukoviner Landes-Museums Kurze Zeit nach der ersten Ausgabe der Zeitschrift für österreichische Volkskunde wurde das Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums ins Leben gerufen. Stellte die Zeitschrift für österreichische Volkskunde gewissermaßen das »Zentralorgan« der österreichischen Volkskunde von Wien aus gedacht dar, so lässt sich das Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums als ein zentrales Periodikum der bukowinischen Volkskunde innerhalb der Bukovina begreifen. Der erste Band dieses vom Landesmuseums-Verein in Czernowitz herausgegebenen Jahrbuchs erschien 1893 in Czernowitz. Ein »Vorbericht« 69 in dieser ersten Ausgabe gibt Auskunft über die Aufgabe des eben erst, im Februar 1892, gegründeten Vereins, die in der »Hebung und Erweiterung der Landeskunde in archäologischer, allgemein geschichtlicher, kunsthistorischer, ethnographischer und naturhistorischer Beziehung« 70 bestand. Der Verein verfolgte damit ein ähnliches »ganzheitliches« Konzept wie zahlreiche andere Vereine, die sich der jeweiligen »heimatlichen« Region in wissenschaftlicher und pädagogischer Hin- 67 KAINDL, Raimund Friedrich: Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 6 (1900), pp. 226-248, hier pp. 234 f. Raimund Friedrich Kaindl (1866- 1930), Studium der Geschichte an der Universität Czernowitz, Professor für Österreichische Geschichte. 68 KAINDL, Raimund Friedrich: Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 8 (1902), pp. 237-247, hier p. 240. 69 Vorbericht. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 1 (1893), p. 1. 70 Ibid. <?page no="259"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 259 sicht zuwandten. Auf diese pädagogische Dimension, d. h. das Wissen über die Region bzw. die »Heimat« zu vermitteln, wird im »Vorbericht« auch verwiesen, wenn nämlich als Mittel zur Erreichung der Vereinsziele nicht nur auf das im Mai 1893 eröffnete Landesmuseum verwiesen wird, sondern auch auf das vorliegende Jahrbuch, mit dem sich »der Verein in noch directere Beziehungen zur Bevölkerung« setzen wollte. 71 Das Wort »Volkskunde« wird in diesem Vorbericht jedoch nicht als inhaltlicher Schwerpunkt genannt, stattdessen ist die Rede von »Aufsätze[n] aus der Alterthumskunde sowie aus der allgemeinen, Cultur-, Kunst- und Naturgeschichte der Bukovina« 72 . Der erste in dem Jahrbuch abgedruckte Aufsatz hingegen führt die Volkskunde gleich im Titel: Es handelt sich um einen »Rückblick auf die Forschungen zur Landes- und Volkskunde der Bukovina seit 1773« 73 , verfasst von einer der zentralen und bereits genannten Gestalten der bukowinischen Ethnografie und Landesgeschichtsforschung, Dr. Johann Polek, seines Zeichens k. k. Universitätsbibliothekar in Czernowitz und zugleich Leiter des Landesmuseums. Johann Polek und Raimund Friedrich Kaindl verfassten den Großteil der als volkskundlich zu betrachtenden Artikel der landeskundlichen Zeitschrift. Dem Jahrbuch ist anzumerken, dass Landeskunde vor allem als Historiografie der Region betrieben wurde. 74 Die volkskundlichen Beiträge von Kaindl und Polek sind dementsprechend weniger typische ethnografische Bestandsaufnahmen, da sie nicht, wie in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde üblich gewesen, im ethnografischen Präsens verfasst wurden, sondern in Form von historischen Darstellungen gehalten waren. So beschäftigt sich etwa Polek in seinem Beitrag über »Die Zigeuner in der Bukowina« im Band 15 des Jahrbuchs kaum mit dem klassischen volkskundlichen Komplex »Sitten und Gebräuche«, sondern vordergründig mit der rechtlichen Stellung der »Zigeuner« und deren Wandel im Laufe der Zeit. 75 Einem klassisch-volkskundlichen Ideal verpflichtet zeigen sich die Beiträge von Leonidas Bodnarescul, einem Pfarrer aus Bojany in der Bukovina, der in Band 13/ 14 des Jahrbuchs über »Einige Weihnachts- und Neujahrs-Bräuche der Rumänen« berichtete und ein Jahr später ergänzend über »Einige Osterbräuche« 76 schrieb. Als wissenschaftliche Abhandlungen will Bodnarescul seine Bei- 71 Ibid. 72 Ibid. 73 POLEK, Johann: Rückblick auf die Forschungen zur Landes- und Volkskunde der Bukovina seit 1773. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 1 (1893), pp. 3-20. 74 Cf. KAINDL, Raimund Friedrich: Kaiser Josef II. in seinem Verhältnisse zur Bukowina. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 4 (1896), pp. 3-22; POLEK, Johann: Die Vereinigung der Bukowina mit Galizien im Jahre 1786. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 8 (1900), pp. 49-114. 75 Cf. POLEK, Johann: Die Zigeuner in der Bukovina. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 15 (1907), pp. 45-63. In Bezug auf »Sitten und Gebräuche der Bukowiner Zigeuner« verweist Polek »auf die diesbezügliche Arbeit Demeter Dan’s in dem Werke Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (Bd. XX, pp. 330 ff.)«; ibid., p. 63. 76 Leonidas Bodnarescul (1872-1945), Lehrer, Pfarrer, Studium 1888-92 an der Universität Czernowitz, Lehrer in den Gymnasien Czernowitz, Radautz, Kimpulung, Storozhinez (Bukovina), erforschte rumänische Kalendertradition. Wichtigste Werke: Einige Weihnachts- und Neujahrs-Bräuche der Ru- <?page no="260"?> 260 Viktoriya Hryaban träge nicht verstanden wissen, insofern betont wird, dass es sich hierbei nur um »einfache, wahrheitsgetreue Schilderungen der rumänischen Weihnachts- und Neujahrsbräuche« handelt. »Vom Folkloristen«, so der Autor in dem anderen seiner beiden Artikel, »verlangt man ja nicht immer rein wissenschaftliche Abhandlungen; es ist genug, wenn er beobachtet und das Gesehene und Gehörte möglichst getreu wiedergibt.« 77 Was Bodnarescul mit jenen volkskundlichen Autoren verbindet, die im Gegensatz zu ihm das Sammeln und Aufzeichnen durchaus als Wissenschaft verstanden, ist die kulturpessimistische Haltung, wonach die traditionelle Kultur allmählich untergehe und deshalb noch zu dokumentieren sei: Althergebrachte Sitten und Gebräuche schwinden mit der Zeit. Der Bauer schickt heute seine Kinder schon vielfach freiwillig in die Schule; der Aberglaube verliert folglich immer mehr an Bedeutung und Verbreitung und das rumänische Volk (besonders aber die Bauern, die in der Nähe der Städte wohnen) nimmt oft städtische Kleidung und Sitte an. 78 Abermals kommt in diesem Zitat zur Geltung, dass die volkskundliche Betrachtungsweise im Althergebrachten, selbst wenn es sich dabei mitunter um Aberglauben handle, positive Werte sah, die von der Zivilisation bedroht seien. Das Zentrum - also sozusagen der Ausgangspunkt der Zivilisation - scheint hier die Peripherie in ihrer (in diesem Kontext positiv gedeuteten) Abgeschiedenheit zu gefährden. Vom Konzept her mag das Jahrbuch mehr Ähnlichkeiten mit der Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild haben als mit der Zeitschrift für österreichische Volkskunde, war doch Letztere ihrem Titel gemäß ziemlich strikt auf »Volkskundliches« beschränkt und an Historischem, wie es sich im Jahrbuch und im Kronprinzenwerk findet, weniger interessiert. Man könnte mutmaßen, das Jahrbuch sei besonders »historisch«, weil es unter anderem dazu dienen sollte, der Peripherie Geschichte zu verleihen, während die Volkskunde-Zeitschrift eher an einer geschichtslosen, »authentischen« Kultur interessiert war - also jener Kultur der einfachen Bevölkerung, die, wie durch das ethnografische Präsens angezeigt, als ewig gleich bleibend, nur in rezenter Zeit dort und da durch den »Fortschritt« gefährdet imaginiert wurde. 1.6 Zentren und Peripherien in der österreichischen Volkskunde Über die österreichische Volkskunde des ausgehenden 19. Jahrhunderts lässt sich in einer ersten Annäherung Folgendes feststellen: Es existierte ein beeinmänen« (1903), Einige Osterbräuche der Romänen (1907). BODNARESCUL, Leonidas: Einige Weihnachts- und Neujahrs-Bräuche der Rumänen. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 13/ 14 (1905/ 1906), pp. 33-57; DERS.: Einige Osterbräuche der Romänen. In: Jahrbuch des Bukowiner Landes-Museums 15 (1907), pp. 3-28. 77 BODNARESCUL 1905/ 1906, p. 33; DERS. 1907, p. 3. 78 Ibid. <?page no="261"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 261 druckendes Netzwerk aus SammlerInnen, das sich über das Gebiet der gesamten cisleithanischen Reichshälfte ausbreitete. Die Fäden liefen freilich in einem Zentrum zusammen: Wien. Wenn sich aber auch hier alles traf, Wien der Ort der Herausgabe zentraler Organe wie der Zeitschrift für österreichische Volkskunde war, so ist doch dagegen zu halten, dass die hauptsächlichen Schauplätze ethnografischer Bemühungen, die hauptsächlichen Interessengebiete (im geografischen Sinne) weit ab von diesem Zentrum Wien lagen. Die um die Hauptstadt liegenden, teilweise höher industrialisierten Länder wurden mit geringerem volkskundlichen Interesse bedacht als periphere Länder wie die Alpenländer auf der einen, die Balkangebiete, Galizien und die Bukovina auf der anderen Seite. 79 Dies liegt an einem binnenexotischen othering, das mit einer Ideologie der Authentizität einhergeht: Als volkskundlich interessant galten jene Gegenden, die vergleichsweise ›unberührt‹ und ›ursprünglich‹ erschienen, in denen sich vieles vom ›alten Leben‹ erhalten habe. Die Alpenbewohner galten als urtümlich und ›authentisch‹, in ihnen erkannte man einen unverdorbenen Menschenschlag und glaubte, in ihm die eigene Vergangenheit zu sehen. Ähnliches lässt sich über die Bewohner anderer weit abgelegener Gegenden sagen, wenngleich hier zumeist der Gedanke fehlte, die Umgebung der Berge habe die Lebensweise der Menschen besonders stark konserviert und ›ursprünglich‹ gehalten. Es ist nahe liegend, dass gerade die Huzulen unter diesem Aspekt als besonders interessant gelten mussten. Im Verhältnis der Peripherien zum Zentrum sind nicht zuletzt die Zentren der jeweiligen Peripherien und ihre Beziehungen zum Umland von Interesse: Innsbruck war ein Kulminationspunkt intellektuellen Lebens für Westösterreich, für die östlichen cisleithanischen Provinzen waren dies Städte wie Krakau/ Kraków, Lemberg/ L’viv/ Lvyv und Czernowitz/ Chernivci/ Chernovzy/ Tschernowitz/ Cernău ţ i/ Czerniowce. Für unser Interessensgebiet, die Bukovina, sind also vor allem zwei Orte relevant, Wien und Czernowitz: Wien als Zentrum gegenüber der Peripherie Bukovina, Czernowitz als Zentrum gegenüber dem bukowinischen Hinterland. Ähnlich der Stadt Innsbruck war Czernowitz Sammelpunkt der regionalen Intelligenz, wobei zu den »eingeboren-bukowinischen« Intellektuellen auch hauptsächlich aus verschiedenen Regionen Österreich-Ungarns zugezogene »Ausländer« kamen. Die Gründung der Czernowitzer Universität trug dazu bei, dass sich die Stadt zu einem veritablen intellektuellen Zentrum entwickelte, das auch Leute von außerhalb anzog. Von Czernowitz aus wurden in Folge auch die maßgeblichen Bukoviner Volkskundler Raimund Friedrich Kaindl und Johann Polek tätig. Deren Blick richtete sich, der volkskundlichen Logik gehorchend, natürlich in erster Linie auf die ländlichen Gegenden der Bukovina. 79 Dass die oben erwähnte Objektliste des Museums für österreichische Volkskunde ungleich mehr Objekte aus Ländern wie Böhmen und Niederösterreich anführt als aus den östlichen peripheren Gebieten, mag vor allem mit der leichteren Erreichbarkeit dieser Regionen zusammenhängen. <?page no="262"?> 262 Viktoriya Hryaban Letztendlich waren die meisten der Bukoviner Volkskundler zu dem »größeren Zentrum« Wien hin orientiert, da Wien für die meisten Forscher den Ausbildungsort und Kulminationspunkt ihrer beruflichen und wissenschaftlichen Interessen bildete. Hier fanden sie die meisten und bedeutenderen Publikationsmöglichkeiten, die die Verbreitung von Wissen über die Bukovina auch in andere Richtungen ermöglichten. Doch wie bereits Franz P. Piger in seinen Überlegungen »Zur Pflege der Volkskunde in Österreich« anmerkte, 80 gab es auch wissenschaftliche »Gegenzentren« zu Wien, die mitunter außerhalb des Gebietes der Habsburger Monarchie lagen. Eine Reihe von Autoren, die unter anderem ethnografisch tätig waren bzw. mit Ethnografie politisch argumentierten, war in Richtung Ausland hin orientiert, etwa nach Russland. 1.7 Zwei Gegenpole: Gregor Kupczanko und Raimund Friedrich Kaindl Prominentes Beispiel hierfür ist Grigorij (oder Gregor) Kupczanko, ein vielseitig engagierter und rühriger Publizist aus der Bukovina, der sich nicht nur als politischer Akteur, sondern auch als Ethnograf profilierte. 81 Kupczanko betonte in seinen Veröffentlichungen bezüglich seiner Einstellung zum Verhältnis von Wien und der Bukovina stets die Prägung durch seine Herkunft, weswegen sie im Folgenden kurz skizziert sei: Er wurde 1849 im Dorf Beregmonet am Prut im Bezirk Kizman als Sohn einer ruthenischen Bauernfamilie geboren und erhielt trotz der ärmlichen Verhältnisse, denen er entstammte, eine gute Ausbildung. Nach der Volksschule in Beregmonet und Czernowitz war es ihm vergönnt, acht Jahre lang das deutsche Gymnasium in Czernowitz zu besuchen, nach dessen Abschluss er nach Wien ging, um an der dortigen Universität das Studium an der philosophischen und juristischen Fakultät zu beginnen. Die zu jener Zeit prominenten Vorlesungen von Franz Miklosich 82 über die »slawische Einheit« dürften wesentlich zur politischen Profilierung Kupczankos beigetragen haben, da Kupczanko sich in der Folge für die ruthenische Bevölkerung in der Habsburger Monarchie und deren soziale und politische Aufwertung einzusetzen begann. Hierbei bewegte er sich in den Reihen der Altruthenen, die im Gegensatz zu den Jungruthenen nicht für eine ukrainische Nation im Rahmen der Möglichkeiten 80 Cf. PIGER 1896, p. 87. 81 Im Folgenden cf. HRYABAN, Viktoriya: Grigorij Kupczanko (1849-1902). Volkskunde und Journalismus zwischen Wien und der Bukowina. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 107 (2004), pp. 1-30. 82 Franz Ritter von Miklosich (1813-1891). slovenischer Sprachwissenschaftler und liberaler Politiker, Begründer der modernen Slavistik, bedeutender Erforscher und Lexikograf des Rumänischen, Albanischen und Romanès, Studium der Philologie und Philosophie sowie Rechtswissenschaften an der Universität Graz, 1838 Dr. phil., 1841 Dr. jur., 1850 ordentlicher Professor der Slavischen Philologie und Literatur an der Universität Wien und damit der erste Universitätsprofessor dieser Fachrichtung überhaupt. Wichtigste Werke: Lexicon linguae slovenicae veteris dialecti (1850), Formenlehre der altslovenischen Sprache (1850), Vergleichende Grammatik der Slavischen Sprachen (1852-1874). <?page no="263"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 263 der österreichisch-ungarischen Monarchie eintraten, sondern viel mehr eine Annäherung an Russland propagierten. Beiden Lagern war das Anliegen gemein, die schlechten Lebensbedingungen der ruthenischen Bauern zu verbessern, den Ruthenen durch ruthenischsprachige Institutionen mehr Bildung zukommen zu lassen und sie so zu größerer Selbstbestimmung zu führen. Dieses Engagement führte zu einer regen Publikationstätigkeit Kupczankos. Journalistisch wirkte er im Laufe der Zeit als Redakteur und Herausgeber dreier russischsprachiger Zeitungen und Journale, nämlich Zvezda (›Stern‹, Erscheinungsort London, 1882), Russka Pravda (›Russische Wahrheit/ Recht‹, Erscheinungsort Wien, 1888-1902) und Prosveščenije (›Aufklärung/ Bildung‹, ebenfalls Wien, 1893-1902). Darin agitierte er für die ruthenische Sache, die er selbst als »russische Sache« beschrieb, da Kupczanko die Ruthenen für Russen hielt. Aus dieser Zeit stammen auch zahlreiche Broschüren, die Kupczanko zumeist im Eigenverlag herausgab. Die Themen dieser Broschüren sind unterschiedlich und reichen von Alkoholismus oder Cholera bis hin zu Themen wie dem Nihilismus oder zum »Schicksal der Ruthenen« 83 . Teils waren dies Schriften hochpolitischen Inhalts, teils Büchlein mit aufklärerischen Intentionen, die konkrete Hilfestellungen und Anweisungen für das alltägliche Leben der Menschen geben sollten - wie etwa die erwähnte Broschüre unter dem Titel »Schnaps. Oder wie man sich von der Trunksucht heilt«. Hierbei ging es Kupczanko darum, durch Aufklärung die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Ein besonderes Anliegen war es ihm jedoch, der Bevölkerung an der Peripherie der Monarchie ein Bewusstsein von Identität zu vermitteln, das in Politik umgemünzt werden konnte. In diesem Zusammenhang steht auch Kupczankos Engagement als Ethnograf, dessen Profil keine klare Entscheidung darüber zulässt, ob er über die Ethnografie zur Politik oder über die Politik zur Ethnografie gelangt war. Bereits vor 1870 hatte Kupczanko damit begonnen, Materialien zur ukrainischen Folklore zu sammeln und deren Beschreibung und Systematisierung in Beträgen für die Presse zu veröffentlichen. Zeitschriften wie Bukowinischer Zorja (»Bukowinischer Stern«), Lastowka (»Schwalbe«) und Utschitel (»Lehrer«) brachten Artikel von ihm zu Themen wie bukowinische »Volkslieder, Märchen, Erzählungen, Sprichwörter, Aberglauben u. a.« 84 . Aber es wurden auch Texte 83 КУПЧАНКО, Григорій: Горьлка або якъ вылечитися отъ пьянства [KUPCZANKO, Gregor: Schnaps. Oder wie man sich von der Trunksucht heilt]. Wien: Jasper 1889; DERS.: Холера. Що то есть холера, якъ можно охоронити себе отъ холеры и якъ можно вылечити хорого отъ холеры [Cholera. Wie man sich schützen und den Kranken von der Cholera heilen kann]. Wien: Jasper 1892. DERS.: Der russische Nihilismus. Leipzig: Friedrich 1884; DERS.: Das Schicksal der Ruthenen. Leipzig: Friedrich 1887. 84 КУПЧАНКО, Григорій: Изъ сборника буковинских простонародных песен, сказок, повестей, пословиц, суеверий и пр. [KUPCZANKO, Gregor: Aus einer Sammlung bukowinischer Volkslieder, Märchen, Erzählungen, Sprichwörter, Aberglauben u. a.]. In: Буковинськая зоря [Bukowinischer Stern. Czernowitz] (1870), H. 2-3.; DERS.: Загадки [Rätsel]. In: Ластовка. Письмо для рускиx детей. [Schwalbe. Ein Brief an russische Kinder]. L´vov: Типография Ставропигийского института [Lemberg: Druckerei des Stawropygjskyj Instituts] (1870), Ausg. 2, H. 14-17, pp. 112, 128, 136; DERS.: Рекрутська пісенька на Буковине. Изъ уст народа [Das Lied der Rekruten in der Bukovina. Aus dem Volksmunde]. In: Учитель [ Lehrer]. Письмо посвящене справам школ народных, господарству, <?page no="264"?> 264 Viktoriya Hryaban von ihm in Deutsch zugänglich gemacht, so in der Illustrirten Leipziger Zeitung, der Bukowiner Rundschau und in Am Ur-Quell. Einer seiner Beiträge für Am Ur-Quell 85 führt den für sein ethnografisches Werk exemplarischen Titel »Volksmedizin. Krankheitsbeschwörungen bei russischen Bauern in der Bukowina«. Von Stil und Art der Darstellung her betrachtet unterscheidet sich dieser Text kaum von den Veröffentlichungen anderer volkskundlicher Autoren: Nach der Beschreibung einiger Krankheitsbeschwörungen folgt die wortwörtliche Wiedergabe zahlreicher Beschwörungsformeln, wobei diese im Original wie in der Übersetzung abgedruckt sind. Bemerkenswert ist erst der Schluss des Artikels, wo der Autor eine Begründung für seine Verwendung der Bezeichnung »russisch« anstatt »ruthenisch« liefert: Ich habe die deutsche Bezeichnung Russe und russisch anstatt ›Ruthene‹ und ›ruthenisch‹, ›Kleinrusse‹ und ›kleinrussisch‹ oder ›Russine‹ und ›russinisch‹ aus dem Grunde beibehalten, weil das über vier Millionen zählende sogenannte ruthenische Volk in Galizien, Nordost-Ungarn und der Bukovina sich nie ein ›ruthenisches‹, ›kleinrussisches‹ oder ›russinisches‹ Volk - ›rutenskij‹, ›malorusskij‹, ›russinskij‹ narod - sondern stets ein russisches Volk - russkij narod - und seine Sprache eine russische Sprache - russkij jasyk oder russka mowa - nennt. […] Die Bezeichnung Ruthene und ruthenisch hat eine historisch-politische Bedeutung, indem man auf diese Weise die Russen in Oesterreich-Ungarn von ihren Stammesgenossen in Russland unterscheiden wollte. 86 Kupczanko erweist sich hier als Autor, dem die politische Bedeutung solcher Benennungen bewusst ist und der seinen eigenen politischen Überzeugungen entsprechend zur gängigen Benennungspraxis in Opposition geht. Von Kupczanko erschien 1875 überdies ein Buch unter dem Titel Einige historische und ethnographische Angaben über die Bukowina 87 , das als erste grundlegende ethnografische Beschreibung der Bukovina in russischer Sprache gelten kann. Initiiert und gefördert wurde dieses Buch durch die für den Südwesten zuständige Abteilung der Russischen Geographischen Gesellschaft. An diesem Punkt zeigt sich wiederum der Zugriff eines »ausländischen« Zentrums auf die Peripherie der Habsburger Monarchie. промыслу, торговле [Einführender Brief in die Probleme der Volksschule, Wirtschaft, Gewerbe und Handel]. L´vov: Типография Ставропигийского института, (1871), H 8, p. 4. 85 KUPCZANKO, Gregor: Die ruthenischen Bauern in der Bukovina. In: Illustrirte Leipziger Zeitung, 1594 vom 17. Januar 1874, pp. 47, 49-50; DERS.: Russische Schöpfungssagen - Aus dem Volksmunde aufgezeichnet im Dorfe Beregomet am Prut. In: Am Ur-Quell. Monatsschrift für Volkskunde 3 (1892), pp. 17-18; DERS.: Sitten und Gebräuche der Bukowiner Ruthenen. In: Bukowiner Rundschau 5 (1875); DERS.: Volksmedizin. Krankheitsbeschwörungen bei den russischen Bauern in der Bukowina. In: Am Urquell. Monatsschrift für Volkskunde 2 (1891) H. 1, pp. 12-14; H. 2, pp. 43-36; H. 3, pp. 61-63; H. 4, pp. 75-77. 86 Ibid., pp. 76 f. 87 КУПЧАНКО, Григорій: Некоторыя историко-географическыя сведенія о Буковине [Einige historische und ethnographische Angaben über die Bukovina]. Типография М. П. Фрица [Druckerei M. P. Fritz] 1875. <?page no="265"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 265 Einige Jahre später, 1889, bemühte sich Kupczanko in einem Werk unter dem Titel Das Russische Volk, die ethno-historische Genese des russischen Volkes nachzuvollziehen 88 . Unter Verwendung von illustrierten Materialien versucht diese Arbeit, die traditionelle Kultur »der Russen« in den russischsprachigen Teilen Österreich-Ungarns und Russlands zu beschreiben. Die Betonung der Bedeutung der Geschichte zieht sich als roter Faden durch das gesamte Werk und findet sich programmatisch verdichtet im Vorwort seines nächsten ethnografisch-historischen Werks mit dem Titel Die Bukowina und ihre russischen Einwohner (1895). Hier schreibt er, dass die Geschichte der beste Lehrer und Aufklärer [ist], weil sie uns, und es ist wahr, bedeutsames Wissen über das Leben vermittelt, uns zu erkennen und einzusehen lehrt, uns bewusst macht, wer wir sind und wie wir leben und handeln müssen, damit die anderen, fremden, nicht-russischen Menschen, Völker und Religionen uns nicht demütigen und kränken, sondern achten und lieben […]. ›Erkenne dich und du wirst belohnt‹, sagt unser russisches volkstümliches Sprichwort und offenbart damit eine heilige Wahrheit und große Weisheit. Wenn wir russische Bukowiner einsehen, wer wir sind und was wir bedeuten, dann werden wir mehr Interesse für uns selbst aufbringen, mehr auf unsere Ehre achten, besser unsere volkstümlichen Rechte und Interessen schützen und mehr für uns sorgen, so wie früher unsere Väter und Großväter für sich gesorgt haben. 89 An diesem Zitat lässt sich ablesen, wie sehr hier Ethnografie als ethnisch-nationale Identitätspolitik betrieben wurde. Dass Kupczanko es schwer hatte, Beiträge in besonders österreichpatriotischen Zeitschriften wie der Zeitschrift für österreichische Volkskunde unterzubringen, liegt auf der Hand. 90 Vielfach wurde die Veröffentlichung seiner Arbeiten sogar von der österreichischen Zensur bewusst erschwert. Diese Praxis betraf jedoch nicht so sehr seine ethnografischen, sondern in erster Linie die »politischeren« Texte und die von ihm herausgegebenen Zeitungen. Umgekehrt gibt es Hinweise, dass Kupczanko von russischzaristischer Seite unterstützt wurde. Zumindest ist bekannt, dass Russland seine publizistische und wissenschaftliche Tätigkeit aufmerksam und wohlwollend verfolgte und zu Zeiten danach trachtete, ihn für anti-österreichisch-ungarische Ziele zu benutzen. Immer wieder und wieder beweist die Erforschung der neuesten Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern, daß hier nach 1866 der Rückgang begann; die Deutschen Schritt für Schritt zurückweichen mußten. So kam mir die verderbliche Wirkung der 1866 erfolgten Zerreißung des deutschen Volkes zum Bewußtsein; erst da begriff ich, warum in ganz Österreich von Jahr zu Jahr die Erschütterung fortschritt. Vom Mutterlande losgerissen, einer undeutschen Mehrheit unbarmherzig geopfert, mußten diese Deutschen und mit ihnen das von ihnen errichtete Reich verkümmern. Die vernichtenden Folgen zeigten sich selbstverständlich zuerst im 88 КУПЧАНКО, Григорій: Русскій народ [KUPCZANKO, Gregor: Das russische Volk]. Wien: книгопеч. Фридриха Яспера 1889. 89 КУПЧАНКО, Григорій: Буковина и еи русски жители [KUPCZANKO, Gregor: Die Bukovina und ihre russischen Einwohner]. Wien: Jasper 1895, pp. 1 f. 90 Auch im KPW scheint er nicht als Autor auf, obwohl er am 16. Juli 1884 in einem Schreiben an Kronprinz Rudolf seine Mitarbeit anbot; cf. WStLA, KPW, 295, A1/ 7. <?page no="266"?> 266 Viktoriya Hryaban Osten mit voller Klarheit, weil das Deutschtum hier noch jung war und das Mißverhältnis zu den anderen Völkern noch größer war als im Westen … 91 Repräsentiert Kupczanko einen russischen Nationalismus, der die russische bzw. ruthenische Minderheit in der Habsburger Monarchie unterdrückt sah und sie als zur russischen Mutternation zugehörig betrachtete, so nimmt der Autor dieser Zeilen hierzu eine exemplarische Gegenposition ein. Die zitierte Textstelle stammt von dem Bukoviner Historiker und Volkskundler Raimund Friedrich Kaindl, der insbesondere seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine betont deutschnationale Haltung einnahm und diese inner- und außerhalb der Wissenschaft verfocht - wobei er auch und gerade mittels der Wissenschaft seine Ziele verfolgte. Kaindl, der seit 1915 eine Professur für österreichische Geschichte an der Universität Graz innehatte, war Vertreter einer großdeutschen Geschichtsauffassung. Die »Deutschen« in Österreich wie in Deutschland hätte er gerne in einem Staat vereinigt gewusst. Dementsprechend galt seine Zuwendung auch jenen Deutschen, die in den nicht-österreichischen Reststaaten der k. u. k. Monarchie verblieben waren. Dieser Zuwendung verdanken sich zahlreiche wissenschaftlichen Werke über das »Deutschtum« in den »Ostgebieten«, also in Polen, Ungarn und insbesondere Großrumänien, das mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs in den Besitz der Bukovina gelangte. Für diese deutschsprachigen Gruppen prägte er den Begriff »Karpathendeutsche«, deren Geschichte er in einer ansehnlichen Reihe von Werken behandelte und dadurch »die Bedeutung der deutschen Siedlung im Osten« 92 zu unterstreichen suchte. Die wissenschaftlichen und zugleich politischen Arbeiten über die »Karpathendeutschen« sind in Zusammenhang mit der Tätigkeit so genannter »deutscher Schutzvereine« zu sehen, in denen Kaindl aktiv engagiert war und die sich um die Aufwertung bzw. den »Schutz« der »deutschen« Bevölkerungsgruppen im »Ausland« bzw. in den peripheren Gebieten der Monarchie bemühten. Wenn Kaindl in seinen späten Jahren sich als genau dieser »Kämpfer für das Deutschtum« präsentierte, so hatten seine Einstellungen einen großen Wandel durchlaufen. In seinen autobiografischen Aufsätzen, die in den 1920er Jahren verstreut veröffentlicht wurden, 93 erscheint mitunter sein volkstumspolitisches Engagement als sein einziger Lebensinhalt. Was die Autobiografien weitgehend unterschlagen, ist, dass sich Kaindl, der 1866 in Czernowitz geboren worden war und hier die ersten knapp fünfzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, auch in- 91 KIPPER, Heinrich: Raimund Friedrich Kaindl. In: Die Volkshochschulgemeinde. Blätter der Volkshochschule in Dornfeld (1926), Jg. 3, H. 4 (=Sonderheft zu R. F. Kaindl´s 60. Geburtstag), 1926, pp. 62-70, hier p. 65. 92 KAINDL, Raimund Friedrich: Die Deutschen in Galizien und in der Bukowina. Frankfurt am Main 1916, p. V. 93 KAINDL, Raimund Friedrich [Autobiographie]. In: STEINBERG, Sigfrid (Hg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 1. Leipzig: Felix Meiner 1925, pp. 171-205; KAINDL, Raimund Friedrich: Mein Werden und Wirken. In: Die Volkshochschulgemeinde. Blätter der Volkshochschule in Dornfeld, Jg. 3, H. 4 (= Sonderheft zu R. F. Kaindl´s 60. Geburtstag), 1926, pp. 57-59. <?page no="267"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 267 tensiv mit den ›Volkskulturen‹ ›nicht-deutscher‹ Volksgruppen seines Herkunftskronlandes, der Bukovina, befasst hatte. Kaindl war um einige Jahre jünger als Kupczanko und hatte in den Jahren 1885 bis 1891 in Czernowitz Germanistik, Geschichte und Geografie studiert. Nach einem kurzen Intermezzo als Mittelschullehrer begann er seine Karriere an der Universität zunächst als Privatdozent und wurde schließlich ordentlicher Professor für Österreichische Geschichte an der Czernowitzer Universität. Hierbei war er nicht nur mit österreichischer und bukowinischer Landesgeschichte befasst, sondern begann sich auch für landes- und volkskundliche Forschungen zu interessieren, wodurch er bereits früh mit der Sammlung von Liedern und Volkserzählungen begann. Seine volkskundliche Arbeit konzentrierte sich zunächst hauptsächlich auf die Ruthenen und Huzulen. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden bereits ab dem Ende der 1880er Jahre in verschiedenen Zeitschriften publiziert, u. a. in den Mittheilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft, den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft, in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, der Zeitschrift für österreichische Volkskunde, in den Zeitschriften Am Ur-Quell, Globus und vielen weiteren, nicht nur ausschließlich wissenschaftlichen Zeitschriften. 1889/ 90 bzw. 1893 erschienen zwei Monografien über Die Ruthenen in der Bukovina und Die Huzulen. Ihr Leben und ihre Volksüberlieferungen. Am Bukovina-Band des Kronprinzenwerks beteiligte er sich als Autor und verfasste die Beiträge über die Huzulen und die Polen. Abschließend lässt sich somit feststellen, dass Kaindl in diesen Jahren einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit der Beschreibung von »nicht-deutschen« Volkskulturen widmete. Die Beschäftigung mit »deutschen« Kulturobjektivationen nahm bei Kaindl keineswegs einen herausragenden Platz ein, wenngleich er zahlreiche Artikel auch zu »deutschen Liedern in der Bukovina« etc. publizierte. In diesem Sinn gehörte er zur Riege staatstreuer österreichischer Ethnografen, die sich verpflichtet fühlten, allen in der Monarchie versammelten Völkern gleiches Interesse und gleiche Sympathie entgegenzubringen. Wenn Kupczanko hier als Beispiel für jene Ethnografen, die ihre volkskundlichen Tätigkeiten ganz in den Dienst der Politik stellten, präsentiert wurde, so stellt sich am ethnografischen Werk Kaindls ebenso die Frage nach dessen politischen Implikationen. Im Dienste der Politik stand schließlich auch die vorwiegend deutschsprachige »Mainstream«-Volkskunde innerhalb der Monarchie, der Kaindl zuzurechnen ist, wenn auch im Dienste einer staatstreuen österreichisch-ungarischen Politik. Wie oben gezeigt verstand sich der Verein für österreichische Volkskunde, dem Kaindl als Gründungsmitglied angehörte, als patriotisches Unternehmen, ebenso wie Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild und ähnliche Werke, die der Integration aller unter k. u. k. Herrschaft stehenden Regionen und Völker dienen und somit den Staatsgedanken stützen sollten. Die Entwicklung und Veränderung der Position Kaindls zeigt jedoch, wie gerade auch die Vertreter eines »Deutschtums« in den peripheren Gebieten <?page no="268"?> 268 Viktoriya Hryaban der Monarchie, die in Österreich-Ungarn zu den Eliten zählten und aus dieser Position heraus leicht eine wohlwollend-humanistische Haltung gegenüber den häufig benachteiligten nicht-deutschen Völkergruppen einnehmen konnten, nach dem Zusammenbruch der Monarchie bzw. nach der Umkehrung der ethnischen Hierarchien und Machtverhältnisse, zu einem rabiaten deutschen Nationalismus neigten. Jedenfalls überraschen die Unterschiede zwischen dem intensiven Interesse, das er lange Jahre den huzulischen und ruthenischen, aber auch polnischen und rumänischen Bevölkerungsteilen entgegengebracht hatte, und jenem strammen Nationalismus, der uns in seinen späteren Werken in den Arbeiten über die Deutschen in den »Ostgebieten« entgegentritt. Die Deutschen werden hier als allen anderen überlegene Kulturträger porträtiert, die sich jedoch der ständigen Bedrohung von Seiten einer nicht-deutschen Übermacht ausgesetzt sehen. Diese Geschichtsschreibung über die Deutschen versteht sich dabei klar als politische Wissenschaft. Kaindl, so er selbst in seinem autobiografischen Aufsatz von 1926, habe erkannt, daß die ruhmreiche Geschichte der deutschen Arbeit uns stärken, unser gutes Recht als vollgütiger Bürger dieser Länder stützen sollte. Die geschichtliche Forschung mußte uns das Mittel an die Hand geben, unsere Stellung zu verteidigen. Meine Forschungen wurden ein Teil der Schutzarbeit und gewannen dadurch an Bedeutung. Denn auch der Mann der Wissenschaft hat die Pflicht in bedrängter Zeit vor allem seinem Volk zu dienen. 94 Dieser letzte Satz verweist auf eine Erklärung, warum eine russische bzw. ruthenische Ethnografie in der Bukovina, vertreten durch Grigorij Kupczanko, so viel früher offen politische Formen annahm als die Ethnografie und Historiografie der Deutschen, wie sie der späte Kaindl betrieb. Die multiethnischen Peripherien der Monarchie waren durchaus nicht immer nur jene Orte des friedvollen Zusammenlebens verschiedener Völkergruppen, als die sie die großen patriotischen ethnografischen Unternehmungen wie das Kronprinzenwerk darzustellen versuchten, sondern ebenso Schauplätze politischer Interessenkämpfe zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, die nicht zuletzt auch auf ethnografischwissenschaftlichem Gebiet geführt wurden. 1.8 Exkurs: Ausstellungen Die Gewerbe- und Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts waren Veranstaltungen von großer Bedeutung für die partizipierenden Länder und deren wirtschaftspolitische Interessen. Diese mitunter gigantische Ausmaße annehmenden Schauen dienten vor allem dazu, ein nationales wie internationales Publikum mit neuen Produkten und Produktionsverfahren vertraut zu machen. Thema der meisten Exponate waren der industrielle Fortschritt sowie die nationalen 94 KAINDL 1926, p. 58. <?page no="269"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 269 Eigenarten in der Entwicklung und Anwendung von neuem Wissen. Die gefällig aufbereiteten und inszenierten Exponate richteten sich in erster Linie an ein Massenpublikum, das alle gesellschaftlichen Schichten umfasste. Die Landes- und Weltausstellungen können als ein Medium bezeichnet werden, vermittels dessen sich ethnografisches Wissen verbreiten konnte. Die ethnografischen Dörfer und Abteilungen der diversen Ausstellungen gaben ebenso den Anstoß zur Gründung (volkskundlicher) Freilichtmuseen 95 wie zur Einrichtung zentraler Volkskundemuseen, etwa jenen in Wien und Lemberg. 96 Denn auf der Suche nach einer intakten »guten alten Zeit« befand sich auch eine Wissenschaft, die sich gerade in der Zeit der großen Ausstellungen herausbildete, nämlich die Volkskunde. Die österreichisch-ungarische Monarchie war an unterschiedlichen Standorten regelmäßig Schauplatz solcher Gewerbeausstellungen. Auch periphere Orte wie Lemberg (1877 sowie 1894) oder Krakau (1887) wurden Ausrichter einschlägiger Schauen. Den Höhepunkt im Ausstellungsgeschehen dieser Jahrzehnte stellte die Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 dar, die, u. a. was die Fläche des Ausstellungsareals betrifft, alle vorangegangenen Weltausstellungen in den Metropolen Paris (1855 und 1867) und London (1851 und 1862) bei weitem übertraf. 97 Hinweise auf das Verhältnis von Zentrum und Peripherie innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie finden sich bei der Wiener Weltausstellung insbesondere in der Verteilung und Beschaffenheit der Ausstellungsobjekte. Dem publizierten Katalog, der die in verschiedene Gruppen eingeteilten Produkte auflistet, lässt sich entnehmen, dass nur eine vernachlässigbar kleine Anzahl an Objekten aus der Bukovina stammte. Im Rahmen der nach Themen und Industrieformen orientierten Ausstellung waren nur vereinzelt Objekte bukovinischer Herkunft: innerhalb der Gruppe 1 (»Bergbau und Hüttenwesen«), die aus 255 Nennungen bestand, finden sich etwa bloß zwei, die auf die Bukovina verweisen; noch bescheidener nimmt sich die Bukovina beispielsweise innerhalb der Gruppen 2 (»Land- und Forstwirtschaft«) oder 4 (»Nahrungs- und Genussmittel als Erzeugnisse der Industrie«) aus, wo von 443 bzw. 697 Objekten jeweils nur eines aus der Bukovina kam. Einzelne Gruppen, wie zum Beispiel Gruppe 3 (»Chemische Industrie«), ließen bukowinische Produkte gänzlich vermissen. Diese schwache Repräsentation der Bukovina ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das peripher gelegene Kronland in der Tat wirtschaftlich schwach 95 Cf. STOKLUND, Bjarne: The Role of the International Exhibitions in the Construction of National Cultures in the 19th Century. In: Ethnologia Europaea 24 (1994), pp. 35-44, hier p. 42. 96 Cf. GRIESHOFER, Franz: Die Bedeutung des Ausstellungswesens für die Entwicklung der Ethnographie in Galizien und Wien. In: Galizien. Ethnographische Erkundungen bei den Bojken und Huzulen in den Karpaten. Begleitbuch zur Ausstellung ’98 im Ethnographischen Museum Schloß Kittsee vom 6. Juni bis 2. November 1998; im Österreichischen Museum für Volkskunde vom 18. Mai bis 29. August 1999. Wien: Selbstverlag des Österreichischen Museums für Volkskunde 1998 (=Kittseer Schriften zur Volkskunde 9), pp. 19-42, hier p. 39. 97 Cf. FELBER, Ulrike/ KRASNY, Elke/ RAPP, Christian: Smart Exports. Österreich auf den Weltausstellungen 1851-2000. Wien: Brandstätter 2000, p. 55. <?page no="270"?> 270 Viktoriya Hryaban und insofern nicht der Ort war, auf dem weltausstellungstaugliche Innovationen oder technische Leistungen gesucht und gefunden werden konnten. 98 Die Bukovina war somit kein Teil des Eigenen, der im Namen des Fortschritts auf einer Weltausstellung für das große und gemeinsame Österreich-Ungarn stehen konnte. Die Monarchie, die zu jener Zeit in Wirtschaftskraft und technischer Entwicklung gegenüber England oder Frankreich im Hintertreffen und in diesem Sinne semiperipher war, konnte es sich nicht leisten, seine Regionen an der Peripherie in jenen »friedlichen internationalen Schlachten der zivilisierten [sic! ] Nationen« 99 , wie Kaiser Franz Joseph die Wiener Weltausstellung in seiner damaligen Eröffnungsrede nannte, noch sichtbarer werden zu lassen. Auch wenn der »technische Fortschritt« im Ausstellungswesen des 19. Jahrhunderts zunächst allein im Mittelpunkt stand und insbesondere im Rahmen der Gewerbeausstellungen zur Darstellung gelangte, lockerte sich dieser Zusammenhang mit den Weltausstellungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weltausstellungen wurden zunehmend zu einem Ort, an dem in umfassenderer Weise Bilder der kulturellen Verfasstheit und Unterschiedlichkeit der sich präsentierenden Länder gezeigt wurden. In diesem Sinne waren Weltausstellungen auch der Ort einer nationalen Profilbildung und dadurch entwickelten sie sich zu einer Bühne, auf der Methoden und Inhalte einer »ethnographischen Formierung« erprobt wurden. Die kulturellen Eigenheiten sollten sich nicht zuletzt in der jeweiligen Ausstellungsarchitektur zeigen. Den einzelnen Ländern wurde auf den Weltausstellungen unter anderem die Möglichkeit geboten, sich über Bauwerke zu inszenieren. Dabei wurde einerseits auf »hohe« Architektur zurückgegriffen - bedeutende historische Baudenkmäler wurden als Vorbilder für Weltausstellungsbauten genommen -, oder die Ausstellungsbauten orientierten sich allgemeiner an »nationaltypischen« Baustilen. Andererseits - denn auch diese Baustile galten als landestypisch und sollten zur Darstellung gelangen - wurden auf den Weltausstellungen Beispiele für profane Architektur präsentiert. »Ethnographische Dörfer«, also Ansammlungen von landes- und regionaltypischen Häusern ländlicher Provenienz, hatten innerhalb des Ausstellungswesens im 19. Jahrhunderts einen hohen Stellenwert. In einem Dokument von den Vorbereitungen zur Pariser Weltausstellung von 1867 kommt die zugrunde liegende Idee treffend zum Ausdruck: 98 Die Bukovina galt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weniger als »industriell-gewerbliches Hoffnungsgebiet«, sondern war vielmehr als militärisch-strategisches Grenzgebiet von Interesse. Auch noch kurz vor dem Ende der Habsburger Monarchie lag die Bukovina hinsichtlich des Pro- Kopf-Einkommens unter den Kronländern an vorletzter Stelle. Cf. KOMLOSY, Andrea: Zentrum und Peripherie. Zur Wahrnehmung regionaler Entwicklungsunterschiede im Vormärz. In: Technisches Museum Wien (Hg.): Massenware Luxusgut. Technik und Design zwischen Biedermeier und Wiener Weltausstellung 1804-1873. Eine Ausstellung des Technischen Museums Wien ab 22. April 2004. Wien: Technisches Museum Wien 2004, pp. 146-160, hier pp. 149 u. 147. 99 STOKLUND 1994, p. 37. <?page no="271"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 271 Jede Nation […] soll durch irgendein Gebäude […] vertreten sein, und zwar durch ein solches, welches in möglichst deutlicher und zugleich interessanter Weise die Eigenthümlichkeiten des betreffenden Volkes in Bezug auf seine Sitten und Gebräuche wie auf seine ganze Lebensweise veranschaulicht. 100 Dieser Ansatz ist kongruent mit jenem egalitär-humanistischen Ansatz, der in Teilen der Ethnografie des 19. Jahrhunderts, insbesondere in jener der österreichisch-ungarischen Monarchie, verfolgt wurde. Dementsprechend ist es kein Zufall, dass gerade auf der Wiener Weltausstellung dem ethnografischen Dorf eine besondere Bedeutung zugemessen wurde, indem eine eigene Ausstellungsgruppe einrichtet wurde, die das » Bauernhaus mit seiner Einrichtung und seinem Geräthe« zum Inhalt hatte (Gruppe XX). Die Größe dieses ethnografischen Dorfes blieb dennoch eine bescheidene: Ausgestellt wurden nur neun Häuser, deren sieben aus der österreichisch-ungarischen Monarchie stammten. Die erhoffte und von offizieller Seite angestrebte Repräsentanz wurde damit nicht erreicht. 101 Der »Officielle Ausstellungs-Bericht«, dessen Teil über die »Gruppe XX« von Karl Julius Schröer, 102 Professor an der Technischen Hochschule in Wien, verfasst wurde, gibt Einblick in die ausgestellte Szenerie. Interessant an diesem Bericht sind freilich die Gewichtungen in der Darstellung: Quantitativ wird den deutschen Bauernhäusern am meisten Aufmerksamkeit geschenkt; das galizische und das kroatische Haus werden (ebenso wie das russische) in nur wenigen Zeilen abgehandelt, auch über das rumänische Haus wird vergleichsweise wenig berichtet. Dieses Ungleichgewicht mag einem gewissen Ethnozentrismus des Autors geschuldet sein, der sich an einigen Stellen des Textes als purer Chauvinismus offenbart. So wird beim Geidler Bauernhaus zunächst dessen Armseligkeit bedauert: »Wenn man das Haus innen and aussen betrachtet, so kann es einem unbegreiflich scheinen, wie Deutsche in unserem Jahrhunderte und doch nicht so gar weit von Deutschland, über 60 Meilen näher als die Siebenbürger Sachsen, in so primitiven Häusern wohnen können«, 103 worauf eine - die Deutschen ›entschuldigende‹ - Klage über die bedauernswerte Lage der Geidler folgt, de- 100 Bericht von der Central-Commission an den Kaiser vom November 1865, zit. n. WÖRNER, Martin: Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte der Weltausstellungen. Berlin: Reimer 2000, p. 53. 101 Das bemerkt auch Karl Julius Schröer in seinem »Officiellen Ausstellungsbericht« über die Gruppe XX: »Der Stoff, den uns die neuen Häuser der Ausstellung boten, war nicht hinreichend, um daraus allgemeine Typen volksmäßiger Bauart abzuleiten.« SCHRÖER, Karl Julius: Das Bauernhaus mit seiner Einrichtung und seinem Geräthe (Gruppe XX). In: General-Direction der Wiener Weltausstellung 1873 (Hg.): Officieller Ausstellungsbericht. Wien 1873-1877, H. 51, p. 40. 102 Karl Julius Schröer (1825-1900), österreichischer Sprach- und Literaturwissenschaftler, studierte 1843-1846 in Leipzig, Halle und Berlin, 1849 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Pest, 1861-1866 Direktor der Vereinigten evangelischen Schulen am Karlsplatz, 1866 Professor für Literaturgeschichte an der Technischen Hochschule Wien. Er sammelte Handschriften, stellte textkritische Vergleiche an und veröffentlichte 1857/ 58 das Buch Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn. 103 SCHRÖER 1873, p. 17. <?page no="272"?> 272 Viktoriya Hryaban nen, wie auch den anderen Deutschen in Ungarn, die angemessene (deutsche) Bildung vorenthalten sei 104 : [Es] wird die nationale Stellung des Deutschen [in Ungarn] im Allgemeinen so lange immer als ein Helotenthum zu bezeichnen sein, so lange er keine deutschen Schulen bekommt, in denen er die Bildung erlangen kann, die er als Deutscher haben muss, um zum Wohle des Staates und zu seinem eigenen Besten zu gedeihen. [… Dennoch sei der Deutsche] immer den übrigen Völkerschaften [überlegen]. Es wird […] handgreiflich ersichtlich bei jenen armen Haudörflern, Hinterwäldlern in unfruchtbaren Gegenden, zu denen die Geidler gehören, die auch der Mittel beraubt sind, durch die der Deutsche anderwärts auch in solchen Gegenden sich zu helfen weiss, der Mittel der Bildung. 105 Dass also der Geidler Deutsche trotz dieses »beklagenswerthe[n] Mangels an Bildung« etwas Besonderes sei, werde auch durch das Geidler Haus sichtbar: Das Haus erschien wohl sehr einfach, so hineingestellt wie es dasteht, mitten in die Ausstellung der hervorragendsten Leistungen des Gewerbefleisses und der Kunst, zu der die gesammte Menschheit wetteifernd beigesteuert. Dennoch stellte es etwas dar, was ganz einzig in seiner Art ist. Es zeigt uns den Deutschen, dessen Kühnheit, Arbeitskraft und geistige Begabung auch an deutschen Hinterwäldlern Amerikas bewundert wird, etwa auf der Stufe der Durchschnittsbildung des XIV. Jahrhundertes stehen geblieben, als Hinterwäldler Ungarns. Auf felsigem, zerklüftetem Boden, im Urwalde, wo kein anderes Volk aufzukommen wagte, haben sie ihre Hütten gebaut und ihr Leben eingerichtet, so dass sie, ganz auf sich angewiesen, Alles mit eigenen Händen bereiten. 106 Es zeigt sich eine seltsame Ambivalenz zwischen Bedauern der Armut und Bewunderung der Einfachheit, denn Schröer setzt die Deutschen in dieser ihrer Armut und Einfachheit in Kontrast zu den sie »in fruchtbareren Landstrichen umwohnend[en]« Slovaken, die, was »Ordnung und Disciplin«, Tüchtigkeit und wohl auch Zuverlässigkeit betrifft, mit den Deutschen nicht mithalten könnten. 107 Während die Geidler Deutschen letztendlich trotz allen Übels und trotz aller Primitivität, in der sie leben müssen, als bewundernswert dargestellt werden, kann Schröer dem rumänischen Haus kaum noch etwas explizit Positives abgewinnen. 108 Die hier konstatierte »Primitivität« paart sich mit dem Wort »öde«, »das rumänische, ganz schmucklos[e]« Haus erscheint ihm auch gegenüber dem 104 Zur nationalistischen Rhetorik über das »Deutschtum in Ungarn« cf. den Beitrag von Edit Király im vorliegenden Band. 105 SCHRÖER 1873, p. 17. 106 Ibid., p. 20. 107 Ibid., p. 21. 108 Dem rumänischen Haus sind in Schröers Bericht dennoch immerhin drei Seiten sowie eine Abbildung gewidmet. Das galizische Bauernhaus als Beispiel aus der östlichsten Peripherie hingegen wird in einem einzigen Absatz abgehandelt, lapidar heißt es hier, es sei »dem rumänischen ziemlich ähnlich«. An ihm wird vor allem kritisiert, dass man nicht einmal erfahren habe, »[o]b es das Haus eines Ruthenen oder Polen oder Slovaken« gewesen sei. Man könnte sich hier fragen, ob das Haus für Schröer »mitteilenswerter« gewesen wäre, wenn die Frage nach der ethnischen Zuordnung beantwortbar gewesen wäre. Ibid., pp. 39 f. <?page no="273"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 273 Geidler Haus als mehr als armselig. Schröers deutscher Chauvinismus tritt auch hier hervor, wenn er abermals einen Vergleich zieht: »Dabei ist zu erwägen, dass der Geidler in einer der ärmsten Gegenden des Landes, der Rumäne im fruchtbaren Banat wohnt.« 109 Ein weiteres Beispiel für die Behandlung der ausgestellten Häuser durch Schröer stellt das »Vorarlberger Bauernhaus« dar. »Unter allen ausgestellten Bauernhäusern den freundlichsten Eindruck machte das Vorarlberger Bauernhaus« 110 , und doch hat Schröer einiges an ihm zu kritisieren: Was nun die Einrichtung und die Bewohner des Hauses anlangt, so stand das Vorarlberger Haus hinter dem siebenbürgisch-sächsischen und selbst dem Geidler darin zurück, dass weder Vollständigkeit der inneren Einrichtung eines Bauernhauses angestrebt war, noch in Bezug auf die Bewohner das Bild des Familienlebens gegeben wurde. 111 Die von den Häusern des ethnografischen Dorfes abverlangte »Authentizität«, die unter anderem dadurch gewährt werden sollte, dass fast alle Häuser während der gesamten Dauer der Weltausstellung auch - von den jeweils »richtigen« Leuten, versteht sich - bewohnt waren, sah Schröer hier nicht vollständig gegeben. Die Mädchen »in ihrer eigenthümlichen Tracht, mit ihrem anmuthigen alemannischen Wesen«, die in dem Haus Stickarbeiten vorführten, machten zwar »den besten Eindruck«, doch »uns den vollen Begriff des ländlichen Familienlebens zu geben« waren sie »nicht im Stande«. 112 Bei dieser ethnografischen Abteilung der Wiener Weltausstellung fällt auf, dass eigentlich alle ausgestellten Häuser aus peripheren Regionen stammten, dabei vorrangig aus Regionen, die nicht nur geografisch weit von den Zentren abgelegen waren, sondern auch wenig industrialisiert und zu einem guten Teil agrarisch geprägt waren. Dies trifft - wenngleich hier Differenzierungen vorzunehmen wären - auf Vorarlberg ebenso zu wie auf Oberungarn, das Banat oder Galizien. Die Häuser standen, immerhin auch über den Titel der Ausstellungsgruppe definiert, für die »bäuerliche Welt«. In die Weltausstellung, einer internationalen Schau der neuesten technischen Innovationen, hatte damit paradoxerweise auch die vorindustrielle Welt Einzug gehalten und bot gewissermaßen ein Gegenbild zu jenem technischen Fortschritt, der vorgeführt werden sollte. Diese Gegenüberstellung von »peripheren« Bauten und den Errungenschaften des Fortschritts mag wohl, so die Interpretation Martin Wörners, »den Besuchern die Vorzüge der modernen Zivilisation besonders deutlich« gemacht haben: »Gleichzeitig konnten hier aber auch romantisierend-verklärte Sehnsüchte nach einer scheinbar noch intakten ›guten alten Zeit‹ ausgelebt werden.« 113 109 Ibid., p. 31. 110 Ibid., p. 33. 111 Ibid., p. 35. 112 Ibid. 113 WÖRNER, Martin: Bauernhaus und Nationalitätenpavillon. Die architektonische Selbstdarstellung Österreich-Ungarns auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 97 (1994), pp. 395-424, hier p. 415. <?page no="274"?> 274 Viktoriya Hryaban 2 Der Bukovina-Band der Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild Zwischen 1885 und 1902 erschienen unter dem Titel Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild 114 24 Bände mit Artikeln und Illustrationen zu Bevölkerung, Kultur und Geschichte der einzelnen Länder und Regionen Österreich-Ungarns und ist auch unter dem Namen »Kronprinzenwerk« 115 (KPW) bekannt. Die redaktionelle Vorarbeit zum 20. Band dieser Gesamtdarstellung der Monarchie über die Bukovina 116 begann im Jahr 1893 und nahm sechs Jahre in Anspruch, sodass das Werk schließlich 1899 gedruckt wurde und in den Handel gelangte. Im Rahmen kulturwissenschaftlicher Forschung wurde das KPW bereits mehrmals von WissenschafterInnen aus Bereichen wie der Volkskunde und Geschichtswissenschaft untersucht, deren Arbeiten in erster Linie die Entstehung und Umsetzung des Werkes sowie die Bedeutung des KPW für die Verbreitung und Institutionalisierung der beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen behandeln. Einen Schwerpunkt dieser Untersuchung bildet hierbei der 1898 erschienene Band über Galizien, welcher von Seiten der Europäischen Ethnologie insbesondere hinsichtlich der Entwicklung und Anwendung von Methoden der ethnografischen Forschung bearbeitet wurde. Die Erkenntnisse dieser wissenschaftlichen Arbeiten über die allgemeinen und grundlegenden Zusammenhänge und Hintergründe des so genannten »Kronprinzenwerks« lassen sich ebenso auf den Bukovina-Band übertragen. Insofern im Rahmen dieser Arbeit das Verhältnis von Zentren und Peripherien im Mittelpunkt steht, ist die Untersuchung des Bukovina-Bandes noch in einer weiteren Hinsicht von Interesse. Denn die Bukovina wurde als östliche Grenze der Monarchie stets als exemplarischer Ort an der Peripherie beschrieben, dessen Charakter durch die Vermengung von Eigenem und Fremdem zustande kam. Aus Korrespondenzen zwischen Johann Lupul, dem Landeshauptmann der Bukovina, und der Redaktion des KPW in Wien zeigt sich, dass der Bukovina als Ort einer populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit regionalen Eigentümlichkeiten und deren Verhältnis zur k. u. k. Monarchie schon im Vorfeld der Publikation eine besondere Bedeutung zugesprochen wurde: Hier an der Ostmark des Reiches spiegeln sich in verkleinertem Maßstabe die Bevölkerungsverhältnisse des großen Kaiserstaates mit ihren Eigenthümlichkeiten ab. Nahezu alle Volksstämme, alle Nationalitäten und alle Confessionen, die in Österreich-Ungarn vorhanden sind, finden sich in der Bukovina und zwar nicht in einzelnen Individuen, sondern in bald stärkeren, bald schwächeren, aber immer 114 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - im Folgenden mit KPW (»Kronprinzenwerk«) abgekürzt. 115 Diese Bezeichnung verweist auf die federführende Rolle des Kronprinzen Rudolf bei der Erstellung des Werkes. Vgl. dazu den Aufsatz von Regina Bendix im vorliegenden Band. 116 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bukowina. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1899 - hier mit »Bukovina-Band« abgekürzt. <?page no="275"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 275 kompakten Gruppen und jede dieser Nationalitäten hat sich bis auf den heutigen Tag zumeist rein und unvermischt zu erhalten, hat ihre Eigenart in Sprache, Tracht, Brauch und Sitte zu bewahren gewusst. 117 Dieser Darstellung nach zu urteilen, bietet sich die Bukovina als ausgezeichnetes Objekt an, um die Tatsache bzw. die Voraussetzungen einer kaisertreuen und großösterreichisch-patriotischen Einheit am Ort der volkstümlichen, fernen und fremden Vielfalt zu beschreiben. Dies betont Landeshauptmann Lupul im Weiteren mit den Worten: »Diese Eigenart richtig aufgefasst und in den Schilderungen und Darstellungen voll zum Ausdruck gebracht, dürfte dem die Bukovina behandelnden Teil des Werkes ›Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild‹ einen ganz besonderen Wert und eigenthümlichen Reiz verleihen.« 118 Nicht zuletzt konzentriert sich die Beschreibung der Bukovina auf den Beweis einer übergeordneten Zusammengehörigkeit, deren Überzeugungskraft durch die Darstellung der allgemeinen Bedürftigkeit und Abhängigkeit der Bevölkerungsteile untereinander und gegenüber »dem Kaiser« legitimiert wird. Der Eindruck der Sinnhaftigkeit dieser Darstellung verdankt sich hierbei dem Anspruch der Autoren und der Herausgeber in Wien, das Objekt der Darstellung, die Kultur der Bevölkerung der Bukovina, als Gesamtes, Ganzes und »in sich Abgeschlossenes« darzustellen. Im Rahmen dieser Darstellung wird die Bukovina nicht nur als geografischer und bewohnter Raum, sondern implizit als zivilisatorischer Zustand beschrieben, welchen man nach dieser Beschreibung sowohl kulturell und politisch als auch ökonomisch zwischen dem vorgeschichtlichen Naturzustand und jenem Stadium ansiedeln kann, in dem die eigentliche Geschichte der Völker beginnt. Von diesem Eindruck finden sich nur jene Veränderungen explizit positiv abgehoben, die als zivilisatorischer Beitrag Österreich-Ungarns verstanden und demnach als Zeichen der Verbesserung und Annäherung an ein Entwicklungsideal dargestellt werden. 2.1 Konzept und Zielsetzung von Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild Die Verehrung und Huldigung, die dem Projekt des KPW von Seiten der Redakteure, Autoren und Illustratoren in Einleitungstexten, Rezensionen und Briefen entgegengebracht wurde, lässt sich auf drei Ursachen zurückführen. Zum einen wurde das KPW als ethnografisch-wissenschaftliches Werk sowohl nach Umfang als auch nach der Qualität der Beiträge als einzigartige publizistische Leistung gewertet. Andererseits entsprach die von den Initiatoren ausgegebene großösterreichisch-patriotische Losung tatsächlich der ideologischen Haltung der Mitarbeiter, die größtenteils kaiserlich-königliche Bildungseinrichtungen 117 Brief von Johann Lupul an Dr. von Zeissberg. Februar 1893, WStLA, KPW, 295, A1/ 6. 118 Ibid. <?page no="276"?> 276 Viktoriya Hryaban durchlaufen hatten und ebenso in diesen beschäftigt waren. Nicht zuletzt war es insbesondere die allgegenwärtige Betonung der unmittelbaren Nähe von Idee und Umsetzung des KPW zum österreichischen Kaiserhaus, die zu ihrer außergewöhnlichen Stellung maßgeblich beitrug. Vor diesem günstigen Hintergrund überrascht es nicht, dass keineswegs versucht wurde, die politische Zielsetzung des KPW zu verbergen, sondern vielmehr ihr Initiator, Kronprinz Rudolf, 119 selbstsicher und offen in der Einleitung zum Übersichtsband über seine politischen Motive Auskunft gibt: Das Studium der innerhalb der Grenzen dieser Monarchie lebenden Völker ist nicht nur für den Gelehrten ein hochwichtiges Feld der Thätigkeit, sondern auch von praktischem Werthe für die Hebung der allgemeinen Vaterlandsliebe. Durch den wachsenden Einblick in die Vorzüge und Eigenthümlichkeiten der einzelnen ethnografischen Gruppen und ihre gegenseitige und materielle Abhängigkeit voneinander muß das Gefühl der Solidarität, welches alle Völker unseres Vaterlandes verbinden soll, wesentlich gekräftigt werden. Jene Volksgruppen, welche durch Sprache, Sitte und teilweise abweichende geschichtliche Entwicklung sich von den übrigen Volksbestandteilen abgesondert fühlen, werden durch die Thatsache, dass ihre Individualität in der wissenschaftlichen Literatur der Monarchie ihr gebührendes Verständnis und somit ihre Anerkennung findet, wohlthätig berührt werden; dieselben werden dadurch aufgefordert, ihren geistigen Schwerpunkt in Österreich-Ungarn zu suchen. 120 Die nachhaltige Anwendung dieses Programms findet sich in vielen Texten des KPW, wobei sich über die Zeit ein Unterschied in der Ausdrucksweise bemerkbar macht. So steigerte sich die Beschwörung des Programms des KPW in den ersten Jahren zu dem Anspruch: Dem In- und Auslande soll dieses Werk aber zeigen, welch reiche Summe an geistiger Kraft diese Monarchie in allen ihren Ländern und Völkern besitzt und wie sie da vereinigt schaffen an einer schönen Leistung, die dem Selbst- und Machtgefühl des großen gemeinsamen Vaterlandes Aller dienen muß. 121 Im »Schlusswort zu dem Werke« und lange nach dem Tod Kronprinz Rudolfs findet sich dieser Imperativ zu einer nüchternen Fürbitte transformiert: Mögen die Völker dieser Länder, indem sie sich aus diesem Werke kennen lernen, einander lieben, achten, stützen; mögen sie trachten, dem Throne und Vaterlande treu zu dienen; mögen sie in glücklichen Gedeihen und geistigen Fortschritt miteinander wetteifern […]. 122 119 Kronprinz Rudolf adaptierte mit seiner Verwirklichung der KPW ein Konzept, welches zuvor von Erzherzog Salvator verfolgt worden war. 120 KPW, Übersichtsband. Erstes Heft. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1886, 32s., WStLA, KPW, 295, A1/ 9, pp. 5-6. 121 KPW, Oberösterreich und Salzburg. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1889. 122 Schlusswort zu dem Werke Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, WStLA, KPW, 295, A1/ 9. <?page no="277"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 277 Diesem - an sich konfliktträchtigen - Gedanken der Konkurrenz, diesem ›Wetteifern‹ um Ressourcen, Ansehen und Macht innerhalb der Monarchie, suchte man wiederum durch den Hinweis auf die »gegenseitige und materielle Abhängigkeit« die Spitze zu nehmen. 2.2 Die Mitarbeiter und ihre Themen Die einzelnen Autoren und Illustratoren des KPW hatten sich in Ausrichtung und Struktur ihrer Beiträge nach den formalen Vorgaben der Redaktion in Wien zu richten, deren Einhaltung überwacht und gegebenenfalls höflich, doch bestimmt, durchgesetzt wurde. Dadurch entstand in Form des KPW eine Werkgruppe, deren zugrunde liegendes Konzept und dessen Funktionen und Aufgabenstellungen in jedem einzelnen Band erkennbar sind. Die Homogenität der Beschreibungen strukturiert auch das Verhältnis der einzelnen Beiträge des Bukovina-Bandes untereinander. Diese geschlossene Architektur der Texte des Bukovina-Bandes und ihre formale Konkordanz zu den übrigen Bänden erlauben es, anhand der sich wiederholenden Wertungen, Betonungen und Regelmäßigkeiten jene Strategien und Narrative hervorzuheben, die im vorgeblich naiven Glauben an Toleranz und Philanthropie die kulturelle Hegemonie eines zentralistischen Machtdiskurses in das Selbst- und Fremdverständnis der Bukovina einschreibt. Diese Verortung der Bukovina darf jedoch nicht als Fremdzugriff einer kolonialistischen Zentralmacht missverstanden werden, denn die Bukovina stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des KPW bereits seit über hundert Jahren im Besitz der österreichisch-ungarischen Monarchie. Es war auch ein von Kronprinz Rudolf von vornherein festgelegtes Prinzip, für die Beiträge und Illustrationen der KPW in erster Linie jeweils »einheimische« Autoren und Illustratoren zu beschäftigen. Diese »Intention des erlauchte(n) Gründers des unsterblichen Werkes« 123 , »immer neue Mitarbeiter und neue Künstler, ihren heimatlichen Ländern entstammend«, 124 heranzuziehen, wurde zumal von den an der Peripherie beheimateten Autoren argumentativ gegen die Redaktion in Wien ins Feld geführt, um lokale und regionale Künstler für die Illustration ihrer Beiträge durchzusetzen. Eine solche Beweisführung durch den Autor Johann Sbiera 125 zugunsten des Czernowitzer Künstlers Eugen Maximowicz 126 unterstreicht, 123 Brief von Johann Sbiera an die Redaction der KPW. 26.01.1894, WStLA, KPW, 295, A1/ 6. 124 KPW Übersichtsband, WStLA, KPW, 295, A 1/ 9, p. 17. 125 Johann Sbiera (1836-1916), Volkskundler, Folklorist, Studium an der Universität Wien, ab 1865 Mitglied der Rumänischen Akademie der Wissenschaft, 1866 Vorsitzender des Lehrstuhles für Rumänische Sprache und Literatur an der Universität Czernowitz, 1871-1875 Kustos der ukrainischen Landesbibliothek, 1886 Dr. phil., 1881-1909 Tätigkeit an der Universität Czernowitz. Wichtigste Werke: Cantece poporale [Volkslieder] 1866-67, Poveşti poporale romănesci [Rumänische Volksmärchen] 1886, Colinde, cantece de stea si urari la nunti [Weihnachtslieder und Glückswünsche] 1888. 126 Eugen Maximowicz, Akademischer Maler, Professor der Oberrealschule in Czernowitz. Fach: Freihandzeichnen, Ikonenmalerei in der orthodoxen St. Paraskeviakirche in Czernowitz (1843-63), Wandgemälde im Café Habsburg, Czernowitz. <?page no="278"?> 278 Viktoriya Hryaban welcher Gegenstand am Ort des Kronlandes Bukovina zur Darstellung gelangen sollte und welche spezifische Eignung dafür vorausgesetzt wird: Da nun unsere in Vorschlag gebrachten Abbildungen zum grossen Teile das Seelenleben der Rumänen in der Bukovina, wie es in die Äusserlichkeit tritt, darzustellen haben, so lag es für uns sehr nahe und als in der Natur der Sache begründet zu meinen, dass dieselben am getreuesten und verständnisvollsten nur von einem solchen Künstler der engeren Heimat hergestellt werden könnten, welcher diese Scenen selbst miterlebt und somit dieselben aus eigener Anschauung kennt. 127 Diese Treue und das Verständnis wurden sowohl von den Illustratoren als auch den Autoren der Beiträge erwartet. Als Teil der Haltung, mit welcher die Bukovina beschrieben werden sollte, können Treue und Verständnis in zwei Hinsichten verstanden werden: zum einen im Sinne einer wissenschaftlichen Nähe zum Gegenstand der Abbildung, zum anderen als ein wohlwollendes »Verständnis«, das die Benachteiligung des Eigenen innerhalb der vom Zentrum vorgegebenen Hierarchie kultureller Entwicklung entschuldigt und jene in der ethnografisch-wissenschaftlichen Form der Darstellung zum Vorschein kommenden Defizite legitimiert. Einen weiteren Hinweis auf dieses Verständnis und seine Funktion findet sich in einem Text aus dem KPW-Band über das Kronland Galizien. Michael Bobrzynski 128 schreibt hier, dass das KPW »einen Beweis geliefert [hat], dass die Berücksichtigung nationaler Eigenthümlichkeiten und die Schonung der historischen Tradition das Band zwischen dem Staate und dem Lande nur noch fester geknüpft hat« 129 . Die Betonung einer »Schonung der historischen Tradition« kann hierbei als widersprüchlicher Versuch verstanden werden, jene historischen und volkstümlichen Narrative zu entschärfen, die im Zeichen des Nationalismus unter Berufung auf eben dieselben »nationalen Eigenthümlichkeiten« ebenso verbreitet sind. Diesen - insbesondere in der ruthenischen und rumänischen Bevölkerung der Bukovina damals verbreiteten - sezessionistischen Tendenzen wird die Festigung eines Bandes entgegengesetzt, dessen Charakter zunächst unbestimmt bleibt. Genauer beschrieben findet sich dieses Thema der Verbindung der Völker und Länder der Monarchie in der von Kronprinz Rudolf verfassten Einleitung des Übersichtsbandes des KPW mit den Worten: »Immer fester schmiegen sich die Stämme, mit Macht vereint sie die Interessensgemeinschaft und ihre innige Verbindung ist ein Naturgesetz.« 130 Hier zeigt sich ein Dilemma, das allen Vordenkern des Kronprinzenwerks gemeinsam ist. Die vordergründige Argumentation unterstellt den einzelnen 127 Brief von Johann Sbiera an die Redaction der KPW. 26.01.1894, WStLA, KPW, 295, A1/ 6 (Hervorhebungen V. H.). 128 Michael Bobrzynski (1849-1935), polnischer Historiker, Studium an der Krakauer Akademie, 1877 Jus-Professor an der Jagiellonen Universität (Galizien), 1885-91 Mitglied des Reichsrates, Gubernator von Galizien 1908-13. Wichtigste Publikation: Geschichte Polens (1879). 129 BOBRZYNSKI, Michael: Seit der Vereinigung. In: KPW. Galizien, Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdr. 1898, pp. 180-238, hier p. 238. 130 KPW, Übersichtsband, WStLA, KPW, 295, A1/ 9, p. 16 <?page no="279"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 279 Völkern, dass ihre Verbindung mit dem Zentrum im je eigenen Interesse liege. Da jedoch die Gefahr besteht, dass manche nationalistischen Bevölkerungsteile dieses Interesse nicht teilen, wird im selben Satz auf ein Naturgesetz verwiesen, das die Interessen leitet, ohne auf historische Konflikte Bezug zu nehmen. Dementsprechend beschäftigen sich die ethnografischen Beiträge zu den einzelnen Volksgruppen jeweils betont mit der gegenwärtigen Verfassung der betreffenden Kultur zur damaligen Zeit und beschreiben diese in einer Zeitlosigkeit, Ursprünglichkeit und Natürlichkeit vermittelnden Diktion. Diese vermeidet weitgehend die explizite Wertung der spezifischen Kulturformen und gibt sich den Anschein einer wertfreien Wiedergabe objektiver Beobachtungen. Das Fundament dieser Beobachtungen bilden die Artikel zur »Vorgeschichte« 131 und über die »Physische Beschaffenheit der Bevölkerung« 132 , die dem ethnografischen Teil 133 vorangestellt wurden. In diesen historisch-archäologischen und statistischen Texten werden jene impliziten Wertungen und Hierarchisierungen getroffen, die in der Folge von den ethnografischen Beiträgen erklärt und fundiert werden. 2.3 Rationalisierung der Rückständigkeit Exemplarisch beginnt Josef Szombathy 134 seine »Vorgeschichte« der Bukovina mit den Worten: Zur Entwicklungsstätte einer selbstständigen Cultur hat sich die Bukovina bei ihrer geringen Größe und bei ihrer durch die geografische Lage bedingten Abhängigkeit von den Nachbarländern niemals emporschwingen können, in vorgeschichtlicher Zeit ebenso wenig, wie in geschichtlicher. 135 Die durch Begriffe wie »gering«, »selbstständige Cultur« und »niemals« vorgegebene Richtung wird in der Folge zur Frage nach dem Grund für diese Benachteiligung weiterentwickelt. Als deren Ursache identifiziert Szombathy die der »Entwicklung durchaus nicht förderliche Eigenschaft eines vorgeschobenen, von einem jeweiligen Cultur- und Machtcentrum weit abgelegenen Postens, der alle von dort ausstrahlenden Vortheile nur in einer gewissen Verdünnung erhalten konnte« 136 . Dieser Topos des »Grenzpostens« wird im weiteren Text über die »Vorgeschichte« der Bukovina historisch dargestellt und gewinnt darin das Gewicht eines Arguments, das jene im ethnografischen Teil geschilderten kulturellen 131 Bukovina-Band, pp. 49-56. 132 Ibid., pp. 175-190. 133 Ibid., pp. 191-375. 134 Josef Szombathy (1853-1943), Archäologe. 1882 gründete er die prähistorische Abteilung im Naturhistorischen Museum in Wien. Leiter der anthropologisch-prähistorischen Sammlung, sammelte Artefakte aus Galizien, Bukovina, Wojwodina etc. Fund der Venus von Willendorf 1908. Gestorben im Konzentrationslager. 135 Bukovina-Band, p. 49. 136 Ibid. <?page no="280"?> 280 Viktoriya Hryaban Eigenheiten und Kuriositäten als Folge eben dieser »geografischen« Benachteiligung verständlich erscheinen lässt. Implizit ergibt sich aus dieser kausalen Verschränkung von kulturellen und geografischen Bedingungen ein Zirkel, der die Rahmenbedingungen einer Beschreibung der Bukovina von vornherein festlegt: Die Bukovina konnte keine eigenständige Kultur entwickeln, da sie an der Peripherie liegt; die Bukovina liegt an der Peripherie, weil sie keine eigenständige Kultur entwickeln konnte. Der Begriff »Kultur« wird hierbei als Kultursubstanz gedacht, die die Peripherie nur verdünnt, also verunreinigt, erreichen kann. Diese Verdünnung, im Sinne eines Zuwenig, verweist gleichzeitig auf jenen zentralen Ort, von dem die Kultur ausgeht und an dem sie dementsprechend in reiner, konzentrierter und unverdünnter Form wirkt. Dieser Ort bleibt im Text ungenannt und entzieht sich somit einem kritischen Vergleich. Diese Unterschlagung eines Referenzortes, sei es Wien, »Großösterreich« oder die deutsche Kultur, ist mithin kein Zufall, sondern eine Strategie, die - wie gezeigt werden wird - auch in allen folgenden Texten zur Anwendung kommt. Die in der »Vorgeschichte« initiierte Beweisführung eines Defizits der Bukovina findet ihre Fortsetzung im ersten Artikel des volkskundlichen Teils, dem Text von Basil Kluczenko über die »Physische Beschaffenheit der Bevölkerung« 137 . Mithilfe statistischer Daten aus Volkszählungen, Geburten- und Sterberegistern, Untersuchungen der Stellungskommission und anthropologischen Vermessungen entwirft Kluczenko zwei Vergleichsebenen - regional und national -, auf denen in der Folge Themen wie Heiratsverhalten, Bildungsgrad, Mortalität und Körperwuchs verhandelt werden. Die Argumentation anhand statistischer Daten verfolgt hierbei denselben Zweck wie jener vorangehende Artikel über die Vorgeschichte. Noch bevor die Volksgruppen der Bukovina ihre ethnografische Beschreibung erfahren, finden sie hier sowohl als »Ganzes«, d. h. als »die Bevölkerung der Bukovina«, als auch in der Differenzierung untereinander, als Rumänen, Ruthenen, Deutsche, u. a., ihren zugewiesenen Platz. In diesen Vergleichen von Zahlenmaterial werden in der Folge stets Asymmetrien konstruiert. Ein Zentrum ist auch hier namentlich nicht auszumachen. Wien bleibt ungenannt, und in Statistiken zu Krankheiten, Analphabetismus und Mortalität dient der Verweis auf die »im Reichsrathe vertretenen Länder Österreichs« 138 als Vergleichsobjekt. Auf regionaler Ebene werden sowohl die einzelnen Volksgruppen als auch die politischen Bezirke der Bukovina anhand statistischer Daten miteinander in Beziehung gesetzt. In der Diktion der Physiologie des 19. Jahrhunderts dominiert 137 KLUCZENKO, Basil: Physische Beschaffenheit der Bevölkerung. In: KPW. Bukowina. Wien: Kaiserlichkönigliche Hof- und Staatsdruckerei 1899, pp. 175-190. Basil Kluczenko (geb. 1844), Mediziner, Regierungsrat für das Herzogtum Bukovina in Czernowitz, publizierte in seiner Funktion als Landessanitätsreferent den Sanitätsbericht der Bukovina und engagierte sich für die Verbesserung des Gesundheitswesens, speziell hinsichtlich der Bekämpfung der Cholera. 138 Cf. etwa ibid., p. 177: »Es ergibt sich sonach, dass in der Bukovina, sowohl beim männlichen, als auch beim weiblichen Geschlechte die Heiratslust, das ist das Bedürfnis nach Gründung eines eigenen Familienstandes, größer ist, als in den im Reichsrathe vertretenen Ländern Österreichs überhaupt.« (Hervorhebung V. H.) <?page no="281"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 281 hier die sublime Verbindung von somatologischen Daten und ästhetischer Wertung. So fällt bei der Schilderung »über die Farbe der Augen, der Haare und der Haut« 139 auf, dass abseits der neutralen Wiedergabe der Verteilung, insbesondere das Vorkommen einer »indigoblauen Farbe« der Augen und des »lichtäugigen« Typus durch die Betonung der »besonders schönen Färbung« 140 hervorgehoben wird. Inmitten der monotonen Wiedergabe des neutralen Zahlenmaterials sind es jedoch eben solche Wertungen, die Aussagen über statistische Verhältnisse mit impliziten Werturteilen verbinden. Ein Kommentar wie »[d]ie relative Anzahl der Personen mit dunklen Augen und brauner Haut, sonach der zum braunen Typus gehörenden, ist in der Bukovina größer als in den Ländern Österreichs überhaupt« 141 erhält in diesem Licht ein Mehr an Bedeutung, insofern darin die Asymmetrie zwischen Eigenem und Fremdem hervorgehoben wird. Auch zwischen den Volksgruppen werden statistische Daten mithilfe ästhetischer Begriffe wertend ausgerichtet. So wird der Pulsschlag in »lebhaft« und »minder lebhaft« 142 unterschieden und die einzelnen Volksgruppen untereinander nach dem Kriterium des Vorkommens des »lichten Typus« 143 differenziert. Insofern dieser Artikel drei Vergleichsebenen - die »Bevölkerung der Bukovina«, die einzelnen Volksgruppen und die politischen Bezirke - miteinander vermengt, ergibt sich ein unübersichtliches Bild, dessen Einheit nur im latenten Vorkommen verschiedener Benachteiligungen und Defizite besteht. In der Lektüre dieses Artikels stellt sich somit implizit die Frage nach dem Träger der Verantwortung für diese Zustände. Ebenso implizit wird diese Frage durch die Hervorhebung des Fremden am Ort der Bukovina beantwortet. Kritisiert wird hierbei nicht das »Fremde« als solches, da dessen Wertschätzung als Repräsentation von Vielfalt nicht zuletzt jene Idee einer Einheit der Monarchie darstellen sollte, zu deren Verbreitung das KPW ins Leben gerufen wurde. Einen Hinweis auf die Ursache der statistisch dargelegten Missstände findet sich explizit in der Erläuterung zum »schwerwiegenden Umstand […] der großen Sterblichkeit unter der autochthonen Landbevölkerung« 144 . Hier verweist Kluczenko neben der »große[n] Geburtenfrequenz« 145 insbesondere auf die Eigenschaft der Bevölkerung, »ärztliche Hilfe nur in den seltensten Fällen herbei[zu]rufen und insbesondere beim Ausbruch infectiöser Erkrankungen die ärztlichen Anordnungen nicht [zu] beachten« 146 . Im Zentrum dieser Kritik steht somit die Ignoranz der Bevölkerung gegenüber dem zivilisatorischen Segen einer der Aufklärung verpflichteten Wissenschaft. Hier sieht sich das Fremde durch die wissenschaftliche Wahrheit in seine Schranken gewiesen. Dabei entsteht eine Spannung zwischen 139 Bukovina-Band, p. 186. 140 Ibid. 141 Ibid. 142 Bukovina-Band, p. 188. 143 Bukovina-Band, pp. 186 ff. 144 Bukovina-Band, p. 182. 145 Ibid. 146 Bukovina-Band, pp. 182-183. <?page no="282"?> 282 Viktoriya Hryaban der affirmativen Wahrnehmung des Fremden, z. B. in der idyllisch-folkloristischen Darstellung huzulischer Kultur, und den Voraussetzungen des wissenschaftlichen Diskurses selbst, in dem diese Beschreibung stattfindet. 2.4 Die ethnografisch-folkloristischen Einzeldarstellungen Mit einem Gesamtumfang von 200 Seiten bilden die Beiträge zur Volkskunde der Bukovina das Hauptstück des Werkes. Die Artikel über »Die Rumänen« (37 Seiten) und »Die Ruthenen« (43 Seiten) nehmen hierbei den größten Raum ein. Die Beschreibungen der Huzulen, Lippowaner, Deutschen, Polen, Ungarn, Slovaken, Armenier und »Zigeuner« beanspruchen jeweils zwischen sechs und fünfzehn Seiten für sich. Jede dieser volkskundlichen Darstellungen widmet sich detailliert der schematisierten und vorgeblich wertfreien Wiedergabe von Eigenheiten und Gebräuchen der jeweiligen Volksgruppe. Die Darstellung der Kultur orientiert sich in allen Artikeln am narrativen Modell des ›Lebenskreislaufs‹ und schildert teils minutiös Ablauf und Bedeutung von Brauchtum, symbolischen Handlungen und Volksglauben. Die einheitliche Struktur anhand des kulturspezifisch idealtypischen ›Lebenskreislaufs‹, d. h. die Beschreibung der Kultur entlang des Verlaufs eines Menschenlebens, vermittelt hierbei den Eindruck von Ganzheit, Lückenlosigkeit und Abgeschlossenheit der Darstellung. Explizit nennt jedoch nur Alexander Manastyrski 147 in seinem Artikel über die Ruthenen die Ordnung »nach dem Lebenslauf« 148 als zugrunde liegende Form der Darstellung. Dass diese Form auch in allen anderen Beiträgen, zum Teil leicht variiert, zur Anwendung kommt, zeigt ein Vergleich der Abfolge der Themen in den übrigen Artikeln. Die typische Ordnung beginnt mit einer Einleitung zu Geschichte und Charakter der Volksgruppe und setzt entweder mit dem Lebenskreislauf fort oder stellt diesem noch Exkurse über Physiognomie, Kleidung, Arbeit, Handel und Produktion voran. Die Schilderung des Lebenslaufs beginnt mit der Schwangerschaft einer Frau und setzt fort mit der Beschreibung der Geburt des Kindes. Entlang dessen Erziehung und Jugend wird das Bildungssystem skizziert und werden die jeweiligen Spiele und Tänze erläutert. Auf die Darstellung der Rituale der Partnersuche folgen Partnerwahl, Hochzeitsvorbereitungen und schließlich die Hochzeit samt detaillierter Schilderung der mehrtägigen Feiern. Auf die Geburt des ersten Kindes folgt die Beschreibung von Hausbau, Arbeit und Festkalender. Daraufhin schließt die Beschreibung des Lebenslaufs mit der Darstellung von Krankheit, Tod und Bestattung. Auf verhältnismäßig großem Raum - durchschnittlich einem Viertel des gesamten Beitrags - werden ab- 147 Alexander Manastyrski (1857-1920), Theologe und Vikar am bukowinischen Konsistorium, Studium an der Universität Czernowitz 1876-1881, Mitbegründer des Verbandes russischer orthodoxer Priester in der Bukovina. 148 Bukovina-Band, p. 229. <?page no="283"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 283 schließend Volks- und Aberglaube, Medizin und Heilmagie sowie religiöse Vorstellungen beschrieben. 2.5 Aberglaube: Wie das Fremde zum Verschwinden gebracht wurde Beschreibungen von Mythen, Orakel, Beschwörungsformeln und Ritualen finden sich in den Beiträgen zur Volkskunde nicht nur in den Blöcken am Ende der Artikel, sondern werden durchwegs zur Konstruktion von größeren Sinnzusammenhängen verwendet. Die Schilderungen dieser volkstümlichen Erklärungsmodelle und Handlungsanweisungen versuchen sich in der Regel einer Wertung zu entziehen. Einzig in dem Artikel über »die Deutschen« findet sich ein Hinweis auf die zugrunde liegende Haltung einer der Aufklärung verpflichteten Wissenschaft gegenüber dem Aberglauben der regionalen Bevölkerung. Als Vorbemerkung zur Darstellung des Aberglaubens der deutschen Volksgruppe findet sich hier der Satz: »Trotz ihrer höheren Intelligenz sind die Deutschen in der Bukovina ebenso wenig wie die anderen Stämme von Aberglauben frei.« 149 Johann Polek verweist mit dieser Bemerkung darauf, dass diese ›vernunftwidrigen‹ Erklärungsmodelle in der vorgeblich wertfreien Wiedergabe ethnografischer Beobachtung letztendlich als veraltete und sittenwidrige Relikte beschrieben werden. Insofern bei dieser Diskreditierung jene Inhalte betroffen sind, die zuvor als binnenkultureller Sinnzusammenhang vorgestellt wurden, ist von dieser Charakterisierung auch der Träger dieser Kultur, die Bevölkerung der Bukovina, betroffen. Als Anhänger eines »bäuerlichen Fehlglaubens« 150 und Gläubige einer »religion für den ganz niederen hausbedarf (Jacob Grimm)« 151 steht die abergläubische Bevölkerung in starkem Kontrast zur Vernunft der aufgeklärten Wissenschaft, der sie ihre Beschreibung und Vermittlung verdankt. Da diese ›Irrationalität‹ in der Weltanschauung der Bevölkerung der Bukovina dem modernen und aufgeklärten Bewusstsein das Gefühl einer potenziellen Bedrohung bereiten könnte, wird das Befremdende der beschriebenen Kultur zur Argumentation des Gegenteils genutzt. Durch die aufgewiesene Leerstelle am Ort einer reifen Weltanschauung kann sich die Monarchie im Sinne einer kulturellen und realpolitischen Schutzmacht als sinnstiftender Überbau empfehlen und ihre Insignien an der Spitze der in den ethnografischen Texten beschriebenen Kategorien der Definition des Eigenen etablieren. Dieser direkte Verweis auf Insignien und Symbole einer Zugehörigkeit zur Monarchie ist in den Texten des KPW sehr selten und wird, wie in dem Abschnitt zu den »Selbstbeschreibungen« am Beitrag über die Rumänen gezeigt werden wird, stets über die Chiffre »der Kaiser« geführt. 149 Bukovina-Band, p. 305. 150 KÜSTER, Jürgen: Wörterbuch des Aberglaubens. Freiburg/ Br. u. a.: Herder 1989, p. 231. 151 Ibid. <?page no="284"?> 284 Viktoriya Hryaban Sowohl die Gegenstände der ethnografischen Wahrnehmung als auch Sprache und Ordnung ihrer Vermittlung sind sich in den Texten des volkskundlichen Teils sehr ähnlich. Diese gemeinsame Form der Beschreibung erweckt darin den Anschein, die Wirklichkeit und Identität eines abgegrenzten Kulturraums erschöpfend und umfassend wahrnehmen und darstellen zu können. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich die Aufmerksamkeit der Autoren auf die Darstellung idealtypischer Sozialisationsprozesse sowie deren Rahmenbedingungen konzentriert. Die Schilderung der kulturspezifischen Lebensläufe, Bräuche, Rituale und Weltanschauungen kommt darin dem Versuch gleich, die kulturellen Reproduktionsverhältnisse einer Gesellschaft zu fixieren und einheitlich im Sinne eines charakteristischen Wesens zu vermitteln. Dem Versuch dieser wissenschaftlichen Fixierung mithilfe der ethnografischen Beschreibung jener Praktiken und Kontexte, die »Regelmäßigkeit zu reproduzieren trachten«, wäre in Abwandlung eines Zitats aus Pierre Bourdieus »Kritik der theoretischen Vernunft« 152 Folgendes entgegenzusetzen: Nichts ist trügerischer als jene Illusion, die die Spuren eines kulturspezifischen Lebens insgesamt als Realisierung eines vorgegebenen Wesens erscheinen lässt. Der politischen Intention des KPW kann dieser trügerische Eindruck jedoch durchaus Recht sein. Dass sich die Artikel des Volkskunde-Teils in der akribischen Darstellung habitueller Erzeugungsschemata erschöpfen, ist mithin kein Zufall, sondern integraler Bestandteil ihrer Funktion. Diese Funktion besteht darin, den Anschein zu erwecken, das kollektive Gedächtnis einer Kultur abzubilden und dadurch die Definitionsmacht über jene Ordnungen auszuüben, »welche in den Nachfolgern reproduziert, was die Vorläufer erworben haben« 153 . Die hierbei hergestellte und unterstellte Einheit des Sinns fremder Kultur und ihrer Praktiken gewährleistet nicht nur die Kontrolle von Kategorien der Eigendefinition an peripheren Orten, sondern vermittelt ebenso den Eindruck einer Verminderung des Bedrohungsvermögens, das von eben diesen jeweils »anderen« Volksgruppen ausgehen könnte. Als Reaktion auf die potenzielle Bedrohung durch anders Denkende und anders Lebende innerhalb der Grenzen der Monarchie widmet sich die wissenschaftliche Verarbeitung dieser kulturellen Fremdheit mit besonderer Aufmerksamkeit der Beschreibung von Strukturen, denen in der Hierarchie historischer Entwicklung eher dem Status von Relikten zuzuordnen sind. Die detailgetreue Beschreibung lässt äußerlich kaum erkennen, welches Urteil mit der Evidenz des Beschriebenen notwendigerweise verbunden wird. Dies hängt damit zusammen, dass eine explizite Abwertung und Verniedlichung weder den Vorgaben von Kronprinz Rudolf nach Darstellung der »Vorzüge und Eigenthümlichkeiten der 152 »Nichts ist trügerischer als die rückblickende Illusion, die die Spuren eines Lebens insgesamt, wie das Werk eines Künstlers oder die Ereignisse einer Biographie, als Realisierung eines vorgegebenen Wesens erscheinen lässt.« BOURDIEU, Pierre: Sozialer Sinn - Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, p. 103. 153 BOURDIEU 1987, p. 101, Fußnote. <?page no="285"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 285 einzelnen ethnographischen Gruppen« noch der tatsächlichen Auffassung der Autoren entsprach - zumal diese jene Volksgruppe zu beschreiben hatten, der sie selbst zugehörten. Vielmehr lag es im Interesse der Initiatoren in Wien, gemeinsam mit der akademisch-großösterreichischen Elite in der Bukovina eine geschlossene und in sich sinnvolle Gesellschaft anschaulich zu machen. Das Fremde und jene in einer Region wie der Bukovina allgegenwärtigen Übergänge und Brüche zwischen Fremdem und Eigenem wurden deshalb konsequent zugunsten der Darstellung eines sinnvollen Bildes zum Verschwinden gebracht. Exemplarisch zeigt sich dies in der Diskussion über die Schreibweise von Wörtern und Eigennamen aus anderen Sprachen als der deutschen Sprache, insbesondere des Rumänischen. Die Redaktion des KPW selbst musste in dieser Hinsicht keinen Druck auf ihre Autoren ausüben, da der Wunsch, das Ansehen des eigenen Volkes zu befördern, die Autoren eine spezifische Form von Selbstzensur betreiben ließ. Das Fremde sollte also in einer Sprache und Darstellungsform beschrieben werden, die der deutschsprachigen Leserschaft vertraut und verwandt erscheinen sollte und somit selbst nichts Fremdes in sich tragen durfte. Dementsprechend spricht sich Johann Sbiera, Mitautor des volkskundlichen Artikels über die Rumänen, in einer Korrekturnotiz an die Redaktion des KPW dafür aus, entgegen der »an und für sich vollkommen consequente(n) und entsprechende(n) Orthographie« der rumänischen Sprache in ihrer gebräuchlichen Form, eine abgeänderte Orthografie zu verwenden, die »unter Wahrung des Lautwertes der rumän. Wörter dem deutschen Leser möglichst geringe Schwierigkeiten und möglichst wenig fremde Buchstabentypen bietet« 154 . Dass der Adressat dieses Zugeständnisses nur der »deutsche Leser« als maßgebliche Instanz ist, zeigt die Sorge von Sbiera, dass eine andere an der Peripherie der Monarchie beheimatete Nationalität von seinem Zugeständnis profitieren könnte. In diesem Sinne insistiert er darauf, »dass die rumänischen Buchstaben, bei gleichen Lautwerte, nicht mit polnischen ersetzt werden« 155 . Diese Bedenken verweisen auf die allgegenwärtige Konkurrenz zwischen den Volksgruppen, wie sie in der Bukovina exemplarisch ausgeprägt war, insofern durch die heterogene Besiedlung des Landes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine der Volksgruppen auf mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung kam. 2.6 ›Selbst‹-Beschreibungen Durch einen Abgleich der Zugehörigkeit der Autoren mit den Themen der Beiträge ergeben sich zwei Gruppen von Beiträgen. Zum einen die Artikel, in denen 154 Korrekturnotiz von Johann Sbiera an die Redaktion der KPW. 22.06.1898, WStLA, KPW, 295, A1/ 7. 155 Brief von Johann Sbiera an die Redaktion der KPW. 24.06.1898, WStLA, KPW, 295, A1/ 7. <?page no="286"?> 286 Viktoriya Hryaban Rumänen über »Die Rumänen« 156 , ein Ruthene über »Die Ruthenen« 157 und ein Deutscher 158 über »Die Deutschen« 159 schreibt. Zum anderen jene Artikel über die übrigen Volksgruppen, deren Beschreibung von Johann Polek 160 und Raimund Friedrich Kaindl 161 und dem Rumänen Demeter Dan 162 geleistet wurde. Diese Differenz in der Beziehung der Autoren zum Objekt ihrer Beschreibung äußert sich in einem Unbehagen, das die Autoren nur am Ort ihrer Selbstbeschreibung zu befallen scheint und sie dazu verführt, die eigene Volkskultur gleichermaßen zu entschuldigen und für ihre Verfassung um Nachsicht zu bitten. Die Rechtfertigungen lassen vermuten, dass sich die Autoren der Ausrichtung und Botschaft ihrer Beiträge durchaus bewusst gewesen sein dürften. Das besondere Verhältnis der Autoren zu ihrem Text im Fall der Selbstbeschreibung zeigt sich in einem Brief von Johann Sbiera an die Redaktion des KPW, in dem er für die geringfügige Überschreitung der vorgegebenen Textlänge um Entschuldigung ersucht und den Verzicht auf seine Remuneration anbietet, um die Deckung der Mehrdruckauslagen zu gewährleisten. 163 Dass diese Texte den Autoren selbst ein großes Anliegen waren, zeigt sich eben in diesem Beitrag über »Die Rumänen«. Johann Sbiera und Simeon Marian 164 betonen zu Beginn ihres Artikels, dass die Rumänen »zur Zeit der Einverleibung der Bukovina in die österreichischen Staaten […] fast ausschließlich das einheimische Volkselement im Lande [bildeten]« 165 . In den darauf folgenden Exkursen zu Geschichte, Charakter und Sitten der Rumänen folgen dementsprechend die Versuche, die Niederlage zu erklären. In diesem Sinne wird die 156 SBIERA, Johann/ MARIAN, Simeon Floria: Die Rumänen. In: Bukovina-Band, pp. 191-227. 157 MANASTYRSKI, Alexander: Die Ruthenen. In: Bukovina-Band, pp. 228-270. 158 Der Autor, Johann Polek, wurde in Bauts (Mähren) geboren und kann als Anhänger eines »deutschgeprägten Großösterreichs« verstanden werden. Insofern sich Polek in erster Linie mit der deutschen Volksgruppe in der Bukovina identifiziert, erlaube ich mir, seinen Beitrag über »die Deutschen« als »Selbstbeschreibung« zu behandeln. 159 POLEK, Johann: Die Deutschen. In: Bukovina-Band, pp. 295-305. 160 POLEK, Johann: Die Ungarn und Slowaken. In: Bukovina-Band, pp. 314-319. 161 KAINDL, Raimund Friedrich: Die Huzulen. In: Bukovina-Band, pp. 271-281; DERS.: Die Polen. In: Bukovina-Band, pp. 306-313. Zur Person Kaindl siehe weiter unten. 162 DAN, Demeter: Die Lippowaner. In: Bukovina-Band, pp. 282-294; DERS.: Die Armenier. In: Bukovina- Band, pp. 320-329; DERS.: Die Zigeuner. In: Bukovina-Band, pp. 330-337. Demeter Dan (1856-1927), Schriftsteller und Heimatforscher, Studium an der Universität Czernowitz. 1870 als Pfarrer inauguriert, ab 1923 Berater des Czernowitzer Konsistoriums, verantwortlich für Kultursektion, 1895 Mitglied des Vereins für Österreichische Volkskunde, 1904 Mitglied der rumänischen Akademie der Wissenschaften, Verfasser zahlreicher Arbeiten zu topografischen, volkskundlichen Themen in rumänischer, deutscher und ruthenischer Sprache. Wichtigste Werke: Die Völkerschaften der Bukovina (1890), Armenii din Bucovina (Armenier der Bukovina 1890), Țiganii din Bucovina (Zigeuner der Bukovina, 1892). 163 Brief von Johann Sbiera an die Redaktion der KPW. 22.01.1896, WStLA, KPW, 295, A1/ 7. 164 Simeon Marian (1847-1907) Pfarrer, Volkskundler, Historiker, Studium der Theologie an der Universität Czernowitz, 1876 Inauguration als Pfarrer, ab 1873 Religionslehrer im Suczavas Gymnasium, 1881 Mitglied des historischen Sektion der rumänischen Akademie der Wissenschaften, seine ethnografische Hinterlassenschaft ist die größte im rumänischsprachigen Raum. Wichtigste Werke: Sarbatorile la romani (Feste bei der Rumänen) 1898-1901, Nastere la romani: Studiu etnografic (Geburtbräuche bei den Rumänen) 1892. 165 Bukovina-Band, p. 191. <?page no="287"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 287 Geschichte der Rumänen in der Bukovina über das Motiv der Verdrängung und Besetzung des Eigenen, das Erleiden großer Einschränkung und das Bild des zuströmenden Fremden 166 erzählt. Gemeint ist hierbei jene durch Joseph II. initiierte und durch zahlreiche rechtliche und wirtschaftliche Vergünstigungen beförderte Besiedlung der Bukovina in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für die rumänischen Autoren stellt sich somit die Frage nach der Verantwortung für diese traumatische Wehrlosigkeit gegen die Landnahme durch die österreichisch-ungarische Monarchie. Die vorherrschende Argumentationslinie verläuft hierbei über den Verweis auf die »ungünstige Veranlagung der Sitten«: »Der Rumäne ist überaus gastfreundlich und von zuvorkommendem Benehmen gegen Jedermann. Er betrachtet jeden, auch den Fremdling oder den Andersgläubigen, als seinen Nächsten und hilft ihm jederzeit […].« 167 Der aggressiv-imperialistischen und kolonialisierenden Macht wird der »Gemüthsmensch« gegenübergestellt, der »alle für ebenso aufrichtig und wohlwollend [hält,] wie er selbst ist, was ihm viele, bittere Enttäuschungen gebracht hat« 168 . Es ist hierbei kein Zufall, dass der Charakter dieses »Gemüthsmenschen«, ebenso wie die nachfolgende Darstellung seiner Kaisertreue und patriotischen Ergebenheit, an der Grenze zur Unselbstständigkeit und Bedürftigkeit beschrieben wird. Indem Werte, wie »[d]em Kaiser treu zu sein, seinem Rufe überallhin zu folgen, für ihn zu kämpfen und zu sterben« 169 , als kollektive Charaktereigenschaften fixiert werden, wird der Leserschaft des KPW letztendlich das klassische Bild des »Edlen Wilden« vermittelt, der in seiner idyllisch-sinnvollen Lebenswelt keinen denkbaren Grund finden könnte, sich gegen das »große gemeinsame Vaterland Aller« zu stellen. Innerhalb jener Bilder von Kultur, wie sie in den ethnografischen Beiträgen gezeichnet werden, wäre die Motivation zu zentrifugalen, nationalistischen und separatistischen Tendenzen tatsächlich unwahrscheinlich und undenkbar, insofern die eigene kulturelle Verfassung nur regionale Bedeutung zugewiesen bekommt und somit idealerweise einer Schutzmacht bedarf. Vor dem Hintergrund der zu jener Zeit grassierenden »sozialen Frage«, der geografischen Nähe der Bukovina zur »barbarischen« Kultur des Osmanischen Reichs und der beunruhigend engen sprachlichen und ethnischen Verwandtschaft großer Bevölkerungsteile in der Bukovina mit der Bevölkerung des zaristischen Russland, mussten die Autoren in der Charakterisierung der bukowinischen Bevölkerung insbesondere darauf achten, in der wohlwollenden Darstellung kultureller Eigentümlichkeiten keine Brüche erkennbar werden zu lassen, die auf einen allfälligen »Bösen Wilden« hinter der zivilisierten Maske schließen lassen könnten. Denn ohne die kollektive Zuschreibung der Charaktereigenschaft der Duldsamkeit und Gutmütigkeit kämen sowohl Autoren als auch die Leserschaft nicht 166 Ibid. 167 Ibid., p. 192. 168 Ibid. 169 Ibid., p. 193. <?page no="288"?> 288 Viktoriya Hryaban umhin, in den die Bukovina bewohnenden Völkern letztendlich Unterlegene zu sehen, die, wenn auch im Sinne der Beweisführung zu ihrem Besten, als Folge einer Niederlage der Fremdherrschaft ausgesetzt sind. Da diese Perspektive notwendigerweise die Möglichkeit unterstellt, dass diese Völker einmal die Gründe und Ursachen ihrer Niederlage in Frage stellen und aufbegehren könnten, sind insbesondere die Autoren der Selbstdarstellungen bemüht, an der Loyalität ihrer Volksgruppe keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Hierzu wird die Chiffre »der Kaiser« in einer Art und Weise verwendet, die jeden Bezug zu einem geografischen Ort oder einer spezifischen Zugehörigkeit vermeidet. Indem diese Chiffre in den Texten weder mit Wien noch mit Österreich verbunden wird, erscheint der darin verkörperte hegemoniale Anspruch wie von einer anderen Welt, die sich einem kritischen Vergleich entzieht. 2.7 Die Illustrationen: ein einträgliches Geschäft mit der ›Identität‹ Begleitet werden alle Artikel des KPW von Abbildungen, die entweder Porträts von exemplarischen VertreterInnen der jeweiligen Volksgruppe und Gruppenszenen aus dem Volksleben zeigen oder bedeutende Kulturgüter, Kunstwerke und Bauwerke abbilden. Beschreibungen der Porträts von Personen folgen hierbei stets dem Muster: Volksgruppenzugehörigkeit (z. B.: Armenier) - Herkunft (z. B.: aus Suczawa) - Typisierung der Kleidung (z. B.: in orientalischer Tracht). 170 Beschreibungen von Gruppenbildern und Szenen folgen dem Schema: Herkunft der Person (z. B.: »Zigeunerin«) - Tätigkeit/ Vorgang (z. B.: aus der Hand wahrsagend). 171 Die Zusammenarbeit zwischen den Autoren der Text-Beiträge und den Illustratoren gestaltete sich unterschiedlich. In manchen Fällen bestand, wie zum Beispiel zwischen Sbiera und Charlemont oder Zuber und Dan, enger Kontakt und kontinuierliche Zusammenarbeit, insofern Autor und Illustrator gemeinsam die zu beschreibenden Gebiete bereisten und in Korrespondenz mit der Redaktion in Wien gemeinsam jene dem Text beigestellten Abbildungen auswählten. Andere Autoren, wie zum Beispiel Raimund Friedrich Kaindl, urgierten erst gegen Ende ihres Beitrags die Zusendung der betreffenden Illustrationen, um deren ethnografische Korrektheit zu kontrollieren. Diese Abbildungen dienen nicht nur der einfachen Ergänzung und Veranschaulichung der Beschreibung in den Texten, sondern erfüllen in der ihnen eigenen Stilisierung und Idealisierung im Ästhetischen jene Aufgaben, denen auch die wissenschaftlichen Artikel verpflichtet sind. Abseits der standardisierten Auswahl des Sujets war es die einheitliche Verwendung von Misch-Techniken 170 Cf. Abbildung »Armenier aus Suczawa in orientalischer Tracht« von J. Zuber. In: ibid., p. 327. 171 Cf. Abbildung »Zigeunerin, aus der Hand wahrsagend« von J. Zuber. In: ibid., p. 335. <?page no="289"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 289 durch die Illustratoren, die den Abbildungen ihr spezifisches Erscheinungsbild verlieh. Ein Auszug aus einer Würdigung des Illustrators Karl Ritter von Siegel, der im Rahmen seiner Mitarbeit am KPW zwischen 1885 und 1896 ganze 270 Zeichnungen anfertigte, gibt Aufschluss sowohl über die Herstellungsmethoden und Technik der Illustrationen als auch einen Hinweis auf die Einstellung gegenüber dem Fremden, d. h. Abzubildenden: Er [K. R. v. Siegel, V. H.] sass vor jedem Original, um den vollen Charakter der fremden Leistung zu studiren. Trat er an ein altes, schon recht schlimm aussehendes Werk, wie zum Beispiel Wandmalereien heran, so photographirte er bei gehörigem Licht das Original. Dann wurden direct nach diesem Original Zeichnungen und Farbenskizzen gemacht, um die Wirkung von Schwarz und Weiss, wie sie der Holzschnitt erfordert, genau kennen zu lernen. Dann wurden die eventuell vorhandenen kunsthistorischen Berichte über das Werk nachgelesen und der Stoff endlich, wenn thunlich, auf einer sogenannten Salzphotographie verarbeitet. 172 Die Illustrationen des KPW sind demnach keine einfachen Abbildungen, sondern thematische Bilder, deren Motiv und Ästhetik unter Verwendung von verschiedenen Medien und Techniken wie z. B. Fotografie, Zeichnung, Farbskizze, Holzschnitte und Salzfotografie zustande kamen. Die Beschreibung dieses sowohl künstlerisch als auch technisch anspruchsvollen Vorgangs erinnert hierbei eher an eine Restauration als an eine Reproduktion. Mit diesem restaurativen und künstlerischen Charakter der Bilder gewinnt die Person des Illustrators selbst an Bedeutung, insofern dessen Vorstellung des Abzubildenden den Charakter der Verfremdung und dadurch die Wirkung des Bildes nachhaltig prägt. Hinweise zur Einstellung der Illustratoren zu ihrer Tätigkeit und deren Zielsetzung finden sich in der Korrespondenz zwischen der Redaktion des KPW und den Illustratoren. Seine Eignung, als Illustrator am KPW mitzuarbeiten, argumentiert Eugen Maximowicz folgendermaßen: »Unser Volk, welches durch seine Entfernung von der großen Welt, von Künstlern noch wenig bildlich dargestellt wurde, habe ich intensiv studirt und ist diese Behandlung meine Spezialität, wenn ich auch nicht auf der Höhe eines Sittenmalers der großen Culturvölker stehe.« 173 Diese explizite Herabsetzung des eigenen Vermögens als auch dessen Verankerung in der eigenen Kultur gegenüber dem Korrektiv der »Höhe der großen Culturvölker« geschieht hier nicht überraschend. Denn die Kompetenz, auf die Maximowicz sich im Folgenden beruft, ist eine andere, die eben darin besteht, dass ihr Wert durch keine technisch-künstlerische Errungenschaft westeuropäischer Herkunft aufgewogen werden kann: »Es gibt genug Künstler, welche bes- 172 Nachruf und Würdigung aus: Mittheilungen der Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst. Wien. Beilage zu: Graphische Künste. 1902, Nr. 2. Aus: WStLA, KPW, 295, A1/ 5. (Hervorhebung V. H.) 173 Brief von Eugen Maximowicz an die Redaction des KPW, 28.05.1895, WStLA, KPW, 295, A1/ 7. <?page no="290"?> 290 Viktoriya Hryaban sere Zeichnungen in technischer Hinsicht liefern, zur Charakteristik eines Volkes gehört aber die Kenntnis des Wesens.« 174 Die Idealisierung und Stilisierung dieses »Wesens« entsprach hierbei nicht nur den Erwartungen der Redaktion in Wien, sondern verdankt sich ebenso dem finanziellen Eigeninteresse der Illustratoren selbst. Das Format der Abbildungen, entweder Vollbild oder Teilbild, wurde je danach entschieden, wie eindrucksvoll ein Bild gelungen war. Insofern die Bezahlung für ein Vollbild (etwa 50 bis 100 Gulden) bedeutend besser als jene für Teilbilder war, lag es naturgemäß im Interesse der Illustratoren, ihre Bilder als Vollbild unterzubringen. Julius Zuber 175 empfiehlt in einem Brief an die Redaktion in Wien eines seiner Bilder dementsprechend als »das originellste und poetischeste des ganzen Cyclus« 176 . Dass es nicht die Abbildung und Vermittlung der vor Ort wahrgenommenen Wirklichkeit, sondern Originalität und Poetik sind, die die Illustratoren zu leisten hatten, zeigt sich ebenso in einer Schilderung der Arbeitsweise durch Julius Zuber: Ich korrespondiere mit den Herren Verfassern und instruire mich über charakteristische Details, die ich etwa nicht kennen sollte; erlaube mir blos vom künstlerischen Standpunkte die Freiheit Typen und Gebräuche als Bilder zu behandeln, um die Oede der fotografischen Zeichnungen lebhafter und, wie es mir scheint, interessanter zu gestalten. 177 »Lebhafter« und »interessanter« bedeutet für ein Bild hierbei den Ausdruck einer klaren Unterschiedenheit von allen anderen Bildern. Wie in den wissenschaftlichen Texten, die sich akribisch der Differenzierung und dem Aufweis von Unterschieden widmen, verfolgen auch die Illustrationen das Ziel, möglichst viele Differenzierungen innerhalb der jeweiligen Volksgruppe zu treffen. 2.8 Resümee: Ein Spiegelbild der Gegenwart - »Viribus unitis« Insofern die ethnografischen Beiträge der Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild für sich in Anspruch nehmen, »als Spiegelbild der Gegenwart niedergeschrieben« 178 worden zu sein, ist es notwendig, diesen Anspruch kritisch zu hinterfragen. Dabei zeigt sich, dass sowohl Programm als auch Ausführung des KPW als ambitioniertes und avanciertes Unterfangen gewertet werden können, das sowohl in wissenschaftlicher als auch in publizistischer Hinsicht Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Maßstäbe 174 Ibid. 175 Julius Zuber (1861-1910), Fotograf, Illustrator, studierte an der Wiener Akademie, lebte und arbeitete in München und Wien, Mitglied des Künstlerbundes Hagen Wien. 176 Brief von Julius Zuber an die Redaction der KPW, 11.03.1896, WStLA, KPW, 295, A1/ 7. 177 Brief von Julius Zuber an die Redaction der KPW, 26.09.1895, WSTLA, KPW, 295, A1/ 7. 178 Schlusswort zu dem Werke Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. WStLA, KPW, 295, A1/ 9. <?page no="291"?> Ethnonationalismus und Habsburgpatriotismus 291 setzte. Der wissenschaftliche Anspruch des Werkes kann jedoch nicht von seiner politischen Zielsetzung getrennt werden. Das Programm dieser politischen Ausrichtung findet sich, wie dargestellt wurde, nicht nur explizit in den Texten von Kronprinz Rudolf, sondern hat auch die Haltung der wissenschaftlichen Darstellungen und die Ästhetik der künstlerischen Illustrationen nachhaltig geprägt. Die Rückschlüsse, die man aus der Darstellung jener zur damaligen Zeit gegenwärtigen Verhältnisse ziehen kann, erschöpfen sich deshalb nicht in Erkenntnissen und Aussagen über die heterogene Menge an kulturellen Praktiken und Glaubensinhalten der Bevölkerung der Bukovina, sondern ermöglichen auch einen Blick auf das Zentrum, von dem diese Darstellung ausgeht. Die Grundhaltung der Initiatoren, Redakteure und Autoren des KPW entspricht hierbei dem Motto des österreichisch-ungarischen Patriotismus »viribus unitis«. Die Realisierung des Projekts einer Beschreibung der Peripherie und der Kultur ihrer Bevölkerung, die derart »mit vereinten Kräften« unternommen wurde, kann in dieser Hinsicht selbst als »Spiegelbild der Gegenwart« genutzt werden. Entgegen der Fragwürdigkeit eines abgeschlossenen und entpolitisierten Bildes volkstümlicher Kultur an der Peripherie scheint der Bukovina-Band des KPW über das Verhältnis des Zentrums zur Peripherie vollständiger Aufschluss zu geben. Die Techniken der Wahrnehmung und Darstellung, die hierbei zur Anwendung kamen, wurden auch abseits des KPW angewandt - etwa bei der Repräsentation der Bukovina im Rahmen der zahlreichen Ausstellungen (Gewerbeausstellungen, Landesausstellungen, Weltausstellung), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich-Ungarn abgehalten wurden. 3 Schlussbetrachtung Wie ich zu zeigen versucht habe, spiegeln sich die Machtverhältnisse - und somit auch die vielfältigen Zentrum-Peripherie-Beziehungen zwischen dem Zentrum Wien gegenüber Czernowitz und der Bukovina bzw. dem Zentrum Czernowitz gegenüber dem bukowinischen Hinterland - in den ethnografischen Texten im KPW wie auch in regionalen und überregionalen volkskundlichen Zeitschriften vielfältig wider. Der Großteil der k. u. k. Ethnografie stand unter deutschem hegemonialem Anspruch, und die Praxis der Ethnografie bedeutete in diesem Sinne eine sublime Form der Herrschaftsausübung, bei der vorwiegend Angehörige der deutschen Eliten nicht nur die eigene Kultur, sondern auch die Kultur(en) der »Anderen« beschreibend fixierten - mit dem Anspruch, diese Kultur(en) zu verstehen und dieses Verständnis vermitteln zu können. Das »Fremde« sollte durch die ethnografische Beschreibung »angeeignet« werden. Wie an unseren Beispielen aus der und über die Bukovina gezeigt werden konnte, ist dieses kulturwissenschaftliche Feld von grundlegenden Ambivalenzen durchzogen: Wenn einzelne Gruppen etwa als »primitiv« beschrieben wurden, so unterstrich dies einerseits implizit die eigene Überlegenheit im Verhältnis zu einem »allgemeinen <?page no="292"?> 292 Viktoriya Hryaban Fortschritt«, von dem diese Gruppen eben (noch) nicht erfasst worden seien. Genau diese Formen und Bilder jener »Rückständigkeit« übten andererseits große Faszination aus und wurden mitunter zu positiven Werten umgedeutet. Nicht selten findet sich daher dieser bezeichnend bewundernde Tonfall, wenn von den einfachen handwerklichen Fertigkeiten der Bukoviner »Zigeuner« oder vom »primitiven« Leben der Bukoviner Schafhirten berichtet wird. Dieselbe Ambivalenz durchzieht die ethnografischen Schauen auf den großen Ausstellungen des auslaufenden 19. Jahrhunderts wie etwa die Wiener Weltausstellung 1873 mit ihrem ethnografischen Dorf. Am Beispiel des Autors Kupczanko wurde deutlich, dass die hegemoniale Art der herrschaftsstützenden Ethnografie - etwa in der Art des Kronprinzenwerks, das eine Bindung der Völker zum Zentrum schaffen und festigen wollte - auch unterlaufen werden konnte: Ethnografie diente hier als Methode und Medium einer möglichen Bewusstwerdung von Eigenheit und Eigenwert ›unterdrückter‹ Gruppen und leistete damit einem Nationalismus Vorschub. Der politische Charakter, der den Methoden und Gegenständen der Ethnografie innewohnt, tritt hier anschaulich zu Tage; gerade dies kann und soll uns jedoch daran erinnern, die politischen Dimensionen auch der »Mainstream«-Volkskunde aufmerksam zu lesen - dies gilt für die historische Volkskunde wie auch für die gegenwärtige Ethnografie. <?page no="293"?> R EGINA B ENDIX (G ÖTTINGEN ) Kaiserlich-königliche Ethnografie Motivationen und Praxen von Wissensorganisatoren und -produzenten zwischen Zentrum und Peripherie 1 Seit etlichen Jahren beschäftige ich mich mit 24 großformatigen, rot gebundenen Bänden, die zwischen 1886 und 1902 in Wien und Budapest unter dem Titel Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild publiziert wurden. Bis vor kurzem schlummerte dieses Werk in der Geschichte der europäischen Ethnologie in fachlich wohlverdienter Nichtbeachtung. Seit einigen Jahren - und sind es vielleicht die Jahre seit der Auflösung der kommunistischen Blockstaaten und der damit verbundenen Nostalgie für ein vorkommunistisches, vornationalistisches Vielvölkerstaatengebilde? - stößt es plötzlich auf Interesse seitens Geschichts- und KulturforscherInnen und, nicht zu vergessen, SammlerInnen und ReproduziererInnen. 2 Ich begegnete diesem Nachschlagewerk zuerst als einem Stück materieller Kultur im Verlauf meiner Feldforschung zu Kultur und Tourismus in Österreich. Im Salzkammergut und Kärnten, schließlich auch in Wien trifft man hin und wieder auf das ganze Set oder einzelne Bände des so genannten Kronprinzenwerkes (KPW) als Ausstellungsgegenstand - ein Beispiel von Büchern, die zum traditionellen Interieur von der Volksstube bis zum Kaiserhaus gezählt werden dürfen. In der 1995 neu gestalteten permanenten Ausstellung des österreichischen Museums für Volkskunde finden sich ebenfalls einige Exemplare, wobei die Bedeutung sich hier verdichtet. Einerseits sollen die Bände hier gemeinsam mit unzähligen anderen Einzelstücken den Eindruck des zur Zeit der Museumsgründung modischen Kuriositätenkabinetts erwecken. Andererseits signalisiert die Präsenz des KPWs in diesem Museum aber auch ein Legat: Das Museum und die von denselben Männern gegründete Österreichische Gesellschaft für Volks- 1 Elemente dieses Vortrags wurden im November 1998 beim Symposium Folk Culture between State and Nation Ethnographies at the Turn of the Century in Central Europe and Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild anlässlich einer von Reinhard Johler und Juri Fikfak organisierten Tagung in Slovenien erstmals vorgetragen, welche demnächst ebenfalls zur Drucklegung schreiten soll. Eine ausführlichere Darstellung der Wissensformate, die das KPW beeinflussten, wurde vorgelegt in BEN- DIX, Regina: Ethnology, Cultural Reification, and the Dynamics of Difference in the Kronprinzenwerk. In: WINGFIELD, Nancy M. (Hg.): Creating the Other: Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe. New York: Berghahn 2003, pp. 149-166. Diskutiert habe ich Aspekte vor allem zur Wissenspraxis im Rahmen von Vorträgen in San Francisco, Berlin und Münster. 2 Ein Beispiel hiervon ist BASCH-RITTER, Renate: Österreich-Ungarn in Wort und Bild. Menschen und Länder. Graz: Styria Reprint 1995; ein weiteres, mit kluger Einleitung versehenes ist ZINTZEN, Christiane (Hg.): Aus dem Kronprinzenwerk des Erzherzog Rudolf. Wien: Böhlau 1999. <?page no="294"?> 294 Regina Bendix kunde 3 orientierten ihre ursprünglichen Forschungsziele an der sachlichen und geografischen Breite, die das KPW vorzeichnete. 4 Die folgenden Skizzen sind als Einladung gedacht, Zugänge zu einem Stück ethnologischer Wissensgeschichte zu durchdenken und somit die kompakte, antiquarische Dinglichkeit des KPW in ihre verschiedenen Kontexte aufzulösen. Das ethnologische Wissen zwischen den golden bedruckten Einbanddeckeln darf und sollte sogar besser weiterschlummern (obwohl gerade das Inhaltliche heute am meisten unkritisches Interesse auf sich zu ziehen scheint). Die Umstände rund um die Genese des KPWs hingegen geben Einblick in Wissenskultur, -produktion und -popularisierung der letzten Jahrhundertwende. Die Österreichische Monarchie in Wort und Bild wurde von Kronprinz Rudolf von Habsburg 1884 initiiert und bis zu seinem Selbstmord 1889 von ihm selbst geleitet und emsig vorangetrieben. Dass der bürgerlich-demokratischer Tendenzen verdächtigte Thronfolger von Regierungsgeschäften ausgeschlossen wurde und dass er sich deshalb bemühte, durch andere Medien seinen Geltungsanspruch und seine politischen Visionen zu realisieren, sei ebenfalls als bekannt vorausgeschickt. 5 Die hier zu beleuchtende, reich illustrierte, kulturhistorisch-ethnografische Enzyklopädie der Doppelmonarchie war vielleicht das ambitionierteste seiner Repräsentationsunternehmen. Für Rudolf und die noch von ihm ausgewählten Leitungskommission des KPW war es Ziel, ein in ethnischem Aufbegehren bröckelndes Vielvölkerreich durch die bildliche und ethnografische Darstellung für ein Vielvölkervaterland zu begeistern. 6 Im Sinne von Benedict Andersons Argumenten für die Macht von Wort und Bild im Formen einer kollektiven nationalen Imagination vom Zentrum bis zum geografisch entlegensten Winkel agierte Rudolf hier durchaus im Geiste seiner Zeit. 7 In dieser, nach Eric Hobsbawm, Ära des Nationalismus versuchte Kronprinz Rudolf durch dieses Werk, dem Verlangen nach ethnischer Selbstbestimmung eine historisch gewachsene Logik der gegenseitigen Wertschätzung und Toleranz im politischen Verbund entgegenzustellen. 8 Rudolfs Einschätzung der Ethnografie und ihrer Hilfswissenschaften für dieses Ziel zeugt dagegen von der, damals noch, verständlichen Unwissenheit in Bezug auf die möglichen Zwecke der Ethnografie. Rudolf betrachtete diese junge Wissenschaft als »fern von allen unreifen Theorien, [und] allen Parteilei- 3 Cf. den Beitrag von Viktoriya Hryaban im vorliegenden Band. 4 JOHLER, Reinhard: »…Die Lesewelt auffordern zu einer Wanderung durch weite weite Lande.« In: Galizien. Ethnographische Erkundungen bei den Bojken und Huzulen. Wien/ Kittsee: Österreichisches Museum für Volkskunde 1998, pp. 43-55 5 Cf. HAMANN, Brigitte: Rudolf. Kronprinz und Rebell. München: Piper 1998 (1978), pp. 175-208. 6 Das Werk enthielt auch historische, kunsthistorische und naturhistorische Beiträge, der Kronprinz betonte jedoch die Ethnografie als die dominante Herangehensweise, an welche sich die anderen Wissenschaften gliedern würden - obwohl gerade der ethnografische Ansatz zu jener Zeit noch kaum universitär verankert bzw. als eigene Disziplin etabliert war. 7 ANDERSON, Benedict: Imagined Communities. London: Verso 1983. 8 HOBSBAWM, Eric: Nations and Nationalism since 1780. Cambridge: Cambridge University Press 1990. <?page no="295"?> Kaiserlich-königliche Ethnografie 295 denschaften« und nahm an, dass sie »das Material sammeln (würde), aus dem allein eine objective Vergleichung und Abschätzung der verschiedenen Völker hervorgeht« 9 . Auf welch wackeligen Füßen diese Einschätzung des Faches stand, konnte man damals noch nicht wissen, vergingen doch immerhin fast hundert Jahre bis zur Kritik volksbzw. völkerkundlicher Ideologie 10 sowie zur Einsicht, dass Ethnografie eine Form des auktorialen Schreibens und demgemäß subjektiv und durchaus parteiisch ist. 11 Mein Fokus liegt hier nicht auf dem Inhalt des KPW, sondern der Art und Weise, wie durch die Vermittlung Wissen und damit Inhalte des Werkes in die Wege geleitet und koordiniert wurden. Wissensgeschichte und Wissenssoziologie - so erkennt ein wachsendes Forschungsinteresse an verschiedenen Einrichtungen - geben notwendige Einblicke in die Konstruktion öffentlicher Weltsicht. Sie untersuchen die scheinbar selbstverständlichen Prozesse der Wissensbildung und -legitimierung und deren Transfer in die Öffentlichkeit. Gesellschaft und Wissenschaft entwickeln sich in tandem (und nicht erst seit Nowotny, Scott und Gibbons dies für ein »Zeitalter der Ungewissheit« aufgedeckt haben 12 ). Das Raum- und Zeitverständnis, ebenso wie das kulturelle und bürgerliche Selbstverständnis, das sich im Komplex Österreich-Ungarn im vorletzten und vorläufig noch berühmteren Fin-de-Siècle manifestierte, lässt sich in der Organisation ethnografischer Wissensproduktion anhand des KPWs fassen. Die KPW-Planung präsentierte sich gegenüber dem um Erlaubnis zu ersuchenden Kaiser Franz Josef, in der Presse und vor allem in den ersten internen Gesprächen, die in Sitzungsprotokollen festgehalten wurden, als wissenschaftlich und künstlerisch innovatives Instrument. Mit dem Kronprinzenwerk sollte die für Gegenwart und Zukunft überzeugende Berechtigung eines Vielvölkerstaates unter Beweis gestellt werden. Doch - und dies wäre das Argument der nun folgenden Ausführungen - die idealistischen, an eine UNO im Kleinen anmutenden Ideen hätten auch der innovativen Wissens- und Organisationsstrukturen, ja selbst revolutionierter Kommunikationsformen bedurft, um das hegemoniale Gefälle zwischen Zentren und Peripherien überwinden zu können. Zentren deshalb im Plural, weil das KPW sowohl in Wien als auch in Budapest produziert wurde. Bezug nehmen kann ich allerdings mehrheitlich nur auf Wien, da ich die Unterlagen aus Budapest, insofern es sie denn noch gibt, bisher noch kaum eingesehen habe. 13 Wissenschaftliche Praxen sind geprägt vom bürokra- 9 Zit. n. BASCH-RITTER 1995, p. 6. 10 BAUSINGER, Hermann: Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde. In: Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965), pp. 177-204; EMMERICH, Wolfgang: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1987 (1968). 11 Cf. hierzu die sog. »writing culture«-Debatte in der angloamerikanischen Kulturanthropologie, rezipiert und referiert in BACHMANN-MEDICK, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. 2. aktual. Aufl. Tübingen: Francke 2004. 12 NOWOTNY, Helga/ SCOTT, Peter/ GIBBONS, Michael: Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty. Oxford: Blackwell 2001, pp. 30-49. 13 Tamás Hofer (Budapest) hat dieses Material, das zum Teil im Literaturmuseum in Budapest liegt, gesichtet und hierzu an der in Fn. 2 erwähnten Tagung in Slovenien vorgetragen. Bei meinem eigenen <?page no="296"?> 296 Regina Bendix tischen Habitus ihres politischen Kontextes und können, je nach der Dynamik ihres Umfeldes, anhalten selbst wenn sich das Umfeld verändert. Der Langlebigkeit des Haushaltens mit Datenbeständen begegnete ich auch in der Recherche zum Kronprinzenwerk und da sich hierin bisweilen Verhaltensmuster zu erhalten schienen, die an die Zeit der KPW-Produktion gemahnten, beginne ich mit einem ethnografischen Einstieg in die Archivarbeit in Wien 1998. Im Anschluss daran skizziere ich Kommunikations- und Produktionsstil zwischen dem Zentrum und Mitarbeitern in den Kronländern zur Zeit der Werkerstellung. 1 Zum Einstieg: Feldforschung auf dem Weg zur Geschichte der k. u. k. Ethnografie »Diese Manuskripte kamen nicht zum Abdruck«: Dies schrieb Josef Böck in schwungvollen Zügen auf ein Stück Packpapier, datiert den 29.6.1931, in welches er drei erhaltene und tatsächlich nie veröffentlichte Manuskripte legte, die für Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild bestimmt waren. 14 Jetzt ist es Juni 1998, um die 60 Jahre sind vergangen, seit die Materialien des Ministerialbeamten Josef Böck-Gnadenau (16.2.1859-3.7.1940) ihren Weg ins Wiener Stadt- und Landesarchiv gefunden haben. 15 Ich sitze an einem der wenigen nummerierten Plätze im korridorartigen Lesesaal dieser Institution und blättere sinkenden Mutes durch die Bogen festen Papiers. Die enge, gleichförmige Schrift zu entziffern wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Immerhin, das Material liegt vor mir, Karton 1-4. Vor drei Wochen fand ich zum ersten Mal meinen Weg zu Stiege 6, 1. Stock des Wiener Rathauses, am Wärterhäuschen vorbei, die steinernen Treppen hinauf via Hochparterre, Halbstock und schließlich in diesen Raum. Inzwischen habe ich den Paternoster entdeckt, der die Reise etwas verkürzt. Man grüßt den Mann am ersten Schreibtisch, der einem dann an den Tischen vorbei zu einem weiteren Menschen hinter einer Glaswand führt. Die Glaswand reicht nicht bis zur Decke, sodass sämtliche Gespräche und Telefonate öffentlich werden, vom trockenen Informationsaustausch bis zu peinlichen Anschuldigung durch den Wiener Bürger, der sich beklagt, dass ihm Dokumente vorenthalten werden. Der erste Mann wartet, bis mein Anliegen geklärt ist, und wird vom Herrn hinter der Glaswand zurück zu seinem Schreibtisch geschickt, wo er, wenn Besuch in Budapest im Sommer 1999 hat Tamás Hofer mich kompetent zu den wenigen offenen Stellen geführt, und zumindest im Bereich Illustrationen konnte Material gefunden werden. Koordiniert wurde das KPW in Budapest durch den Schriftsteller und Politiker Mór Jokai. 14 Es handelte sich hierbei um Texte zur Verfassungsgeschichte Österreichs und Ungarns, wobei vor allem zu Letzterer innerhalb der Redaktion Probleme vorausgesehen worden waren. 15 Die Ausführungen beziehen sich auf die Zeit vor dem Umzug des Wiener Stadt- und Landesarchivs in die Gasometer. Das ethnografische Präsens liegt dezidiert im Jahr 1998. Die Mechanismen und Praxen dürften dennoch den Habitus archivalischer Recherche reflektieren. Die letzten datierten Stücke in der Sammlung »Kronprinzenwerk« stammen aus der Mitte der 1930er Jahre. Im Nachlass Böck-Gnadenau finden sich einige jüngere Dokumente. <?page no="297"?> Kaiserlich-königliche Ethnografie 297 er nicht zum Bücherschleppen gebraucht wird, Stapel von illustrierten Zeitschriften liest. Seine Rolle ist die eines Dieners, wenn auch seine Körpersprache ungezwungener ist. Die Raumgliederung dieses unübersichtlichen Gebäudekolosses und selbst die Möblierung fördern Rollenverständnis, Betitelung und Kommunikationsstil, die bürokratische Strukturen mit all ihren Statusstufen der Monarchie zu erhalten scheinen. Jeder übt sich in den Grenzen der eigenen Kompetenz, um nach oben oder unten zu verweisen, aber jeder scheint auch gewisse Geheimnisse, die nur auf seiner Ebene zu entdecken sind, sorglich zu verbergen. Dies fällt mir besonders in Bereichen der Habsburger Privatbibliothek auf, die dem Bildarchiv angegliedert ist. Wer außer den zum Teil betagten oder doch zumindest betagt aussehenden Bibliotheksdienern weiß denn wirklich, wo sich die wahren Schätze verbergen, in den Reihen über Reihen von fast einheitlich gebundenen Büchern, in welchen einst Maria Theresia, Franz Josef oder Rudolf bzw. deren Privatlehrer blätterten? Wie leicht ist es diesen Menschen, etwas »nicht zu finden«, das irgend ein ausländischer oder auch einheimischer Forscher bestellt hat. »The Arts of Resistence« 16 , die diese Hierarchien ausbrüten, sind spürbar, wobei hier auch eine behütende Zärtlichkeit, getragen von tieferem Wissen und eigenen Neugierden, mitschwingt. - Wie anders fühlte sich da ein Besuch im Folgejahr in der Manuskriptsammlung der Ungarischen Nationalgalerie in Budapest an: Die einander gleichwertig behandelnden Damen verfügten hier über eine Wärmeplatte, und ein Teller voller Früchte und Naschwerk stand für Angestellte und Besucher gleichermaßen bereit, mit einem Tellerchen daneben für kleine Geldspenden. Hier kümmerte sich keiner, ob ich mit Kugelschreiber oder Bleistift Notizen machte. Im Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek dagegen, wohin einige der Materialien während meines Aufenthaltes in Wien 1998 gewandert sind, darf man überhaupt nichts kopieren - dieselben Dokumente, die ich einen Monat zuvor im Rathaus problemlos und unbeobachtet durchblättern konnte, werden hier vorsichtshalber mit weißen Handschuhen durchgesehen, und wie ich dabei ertappt werde, statt des vorgeschriebenen Bleistifts einen Kugelschreiber zu benutzen, laufe ich vor Verlegenheit rot an. Dass am selben Tag eine alte Dame mit mittelgroßem Hund das Bildarchiv besucht, den Hund an einem Tischbein festbindet und ihren Recherchen nachgeht, ist offensichtlich kein Verbrechen. Zurück zum Stadt- und Landesarchiv: der Verantwortliche hinter der Glasscheibe notiert sich meine Personalien sowie mein Anliegen, die Archivbestände zum KPW anzusehen. Es wird in Ringheften nach Signaturen gesucht. Die Antworten sind einsilbig und so weit wie möglich abweisend: Was ich will, sei ausgelagert, und Neubestellungen würden erst nächste Woche wieder geliefert. Außerdem habe schon jemand anderes diese Materialien eingesehen. »Na und? «, denke ich, weil ich mir als Kulturanthropologin der Besitz- und Erstberührungs- 16 Cf. SCOTT, James: Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts. New Haven: Yale University Press 1990. <?page no="298"?> 298 Regina Bendix rechte der Historiker noch nicht bewusst bin. Ich bitte trotzdem um Bestellung, und man teilt mir mit prüfendem Blick über den Brillenrand hinweg mit, dass ich sicher nicht alles auf einmal einsehen dürfe. Dafür reiche der Platz hier nicht aus. Vielleicht hätte ich mich als Professorin statt als US-Staatsbürgerin identifizieren sollen, denn Titelnennungen haben hier durchaus die Veränderung des Verhaltens zur Folge, aber ich finde die Disziplinierung meiner Forschungsinteressen instruktiv. 17 In der folgenden Woche sind die Protokollbücher tatsächlich da, und sobald ich dem Referenten - so ist der Mensch hinter der Glaswand zu klassifizieren - meinen Reisepass übergeben habe, wird der Mann am Eingang dazu beordert, mir einen Tisch zu zeigen und die Materialien für mich hinzulegen. Man gewöhnt sich an die Umständlichkeit, sie ist gleichsam ein gegenwärtiges, penetrantes Überbleibsel der Vergangenheit, in die ich einen Einstieg suche. Im Laufe der Tage und Wochen freunde ich mich mit dem Prozedere an, das sich von einem Wiener Archiv zum anderen unterscheidet. Will ich etwas kopieren, so brauche ich hier die Zustimmung des täglich wechselnden Referenten hinter der Glaswand. Am liebsten ist mir die Frau, die festsetzt, dass nur Dinge mit Siegeln nicht kopiert werden dürfen; während ihrer Aufsicht kopiere ich am meisten. Der Mann am Schreibtisch geleitet mich dann die zehn Schritte über den Korridor zum Kopierraum, wo ein anderer Mann die Maschine bedient. Er hat eine leichte Gehbehinderung und ist, wie ich später erfahre, aus der Türkei, wohin er aus politischen Gründen nicht mehr zurück kann. Er mag nicht mehr als zwanzig Seiten pro Kunde kopieren, und bald wird er Urlaub haben; dann wird man nicht mehr kopieren können, außer man bekommt Erlaubnis, das Benötigte zum allgemeinen Kopierraum des Rathauses, Stiege 4, Parterre, hinunterzutragen, in Begleitung des Mannes vom Schreibtisch, natürlich. Nach einiger Zeit wird mir deutlich, dass einer der Referenten, Herr B., mehr zum Kronprinzenwerk-Material weiß, als bei unsern kurzen Wortwechseln beim Bestellen und Abholen der Materialien ersichtlich war. Gemäß der Direktorin des Bildarchivs der Nationalbibliothek sei ein gemeinsamer Antrag für eine potenzielle Ausstellung mit dem Wiener Stadt- und Landarchiv angedacht. Dies war auch der Grund, warum ein Konvolut von Akten ins Bildarchiv gewandert war. Am meisten Information zum Kronprinzenwerk hatte mit Sicherheit Josef Böck, nur ist er leider schon seit 1940 tot. Deshalb entschließe ich mich, meine Bitte um Information über Josef Böck-Gnadenau schriftlich und auf Universitätsbriefkopf an das Archiv zu senden. Der Habitus der Archivangestellten würde, so meine Annahme, auf die formale Anfrage mit formalen Schritten antworten müssen, während das Erfragen von Angesicht zu Angesicht stets die 17 Im November 1998 traf ich die deutsche Historikerin, die dasselbe Material einige Monate vor mir eingesehen hatte und die der k. u. k. Lethargie oder Resistenz anders zu begegnen wusste: »Denen hab ich gesagt, dass die mich mit zur Auslagerungsstelle nehmen müssen, ich hatte ja nicht viel Zeit. Hab mir dann das meiste kopieren lassen, ich les es ja lieber zu Hause.« <?page no="299"?> Kaiserlich-königliche Ethnografie 299 Möglichkeit eines Verweises auf eine andere verantwortliche Stelle, einen anderen Tag, eine zur Zeit gerade nicht zugängliche Quelle offen ließe. Soweit der Feldforschungsbericht aus dem Archiv. Am 5. Oktober 1998 erhielt ich tatsächlich eine Antwort, sogar via e-Mail, ausgesandt aus dem Account von einer Frau B. in Wien. Ich kenne Frau B. nicht, aber über ihren Account wurde mir ein Attachment von Prof. Dr. O., Direktor des Wiener Stadt- und Landesarchivs, übermittelt. Prof. O. s Brief wiederum enthielt Informationen, die Dr. B., einer der wissenschaftlichen Referenten hinter besagter Glaswand, zusammengetragen hatte. Kurzum, die archivarischen Praxen wienerischer Gegenwart erlaubten einen durch die Jahrzehnte verzerrten, dennoch aufschlussreichen Blick in die Vergangenheit, auf die Umstände und Befindlichkeiten, aus welchen die Materialien rund um das KPW, die Josef Böck hier hinterlegte, entstanden. 2 Wer war Josef Böck? Neben seiner Funktion als Ministerialbeamter wird Josef Böck als Publizist, Musikwissenschaftler und Sekretär des Zweigvereins der Schiller-Stiftung Wien angeführt. 18 Arbeitsmäßiger Lebensmittelpunkt war jedoch sicherlich die Berufung als Sekretär des KPWs, wo er 1884 als 25-jähriger gleich von der ersten Komiteesitzung an Protokoll führte. Er überlebte zwei Hauptredakteure - Rudolf von Weilen und Heinrich Zeissberg -, und nach dem Tod des Letzteren wurde Böck selbst mit der Fertigstellung der redaktionellen Arbeit betraut (1899-1902). Achtzehn Jahre im Dienste dieser Monumentalpublikation hinterlassen Spuren, selbst in einem Menschen, dessen professioneller Habitus darauf ausgerichtet ist, möglichst unauffällig die Geschäfte wichtiger Männer zu erledigen. Sein eigenes Leben lässt sich nur durch zufällig erhaltene Materialien erahnen. Zeitungsnotizen mit Böck’schen Marginalien haben sich gegen Lebensende in die ordentlichen Stöße datierter und alphabetisierter KPW-Korrespondenz eingeschlichen. Insbesondere der Buchstabe S aus dem, was man als Böcks »Privatarchiv« erahnen kann, streut sich durch manche Kartons der KPW-Archivalien - so etwa S für Shakespeare (Theaterrezensionen), Schiller (Vereinsaktivitäten) und auch S für Stubenfliege. Denn in den 1930er Jahren hob Josef Böck Zeitungsausschnitte zur Stubenfliegenplage in Leipzig und Tokio auf, ein Interesse oder eine Sorge, die ihn in diesem hohen Alter (er war in den 70ern) auch dazu bewog, eine eigene Statistik der in seiner Stube erlegten Fliegen zu führen. 19 Doch das Kronprinzenwerk und die Kronprinzler, wie Böck die engeren Mitarbeiter des KPWs nannte, blieben Teil seines Lebensstoffes. Krankheits- und Todesanzeigen von Redaktionskomitee-Mitgliedern liegen vor, bisweilen versehen mit 18 E-Mail an die Autorin von Univ.-Prof. Dr. O., e. h., und Sachbearbeiter Dr. H. B., vom 5. Oktober 1998. 19 Materialien zur Böck’schen Obsession in Bezug auf die Stubenfliege liegen in Schachtel 8, KPW, SLW. <?page no="300"?> 300 Regina Bendix freundlichen oder weniger freundlichen Marginalien, wie zum Beispiel folgende handschriftliche Notiz zur Zeitungsmeldung, dass Oberbaurat Streit sein Amt als Präsident der Genossenschaft der bildenden Künste niedergelegt habe: »Kein Wunder, dass man diesen […] ungehobelten Kronprinzler sang- und klanglos verabschiedet; Andreas Streit scheint unter Größenwahn zu leiden. Beim Kronprinzenwerk hatte ich ihn richtig kennen gelernt.« 20 Warum das Kronprinzenwerk-Material beim Wiener Stadt- und Landesarchiv landete, ist nicht zu eruieren. Das KPW-Material ermangelt eines Akzessionsdatums und -vermerks. 21 Die letzten Belege datieren von 1937, 35 Jahre nach Abschluss der KPW-Produktion. (Ob und) warum sie erst so spät ein Archiv erreichten, was Böck bewogen haben mag, dieses Archiv anstelle eines nationalen zu bevorzugen, steht nirgends geschrieben. 3 Wissensproduktion und öffentliche Wahrnehmung Ohne die gewohnheitsmäßige Ordentlichkeit des Herrn Böck wäre es nahezu unmöglich, sich in den Arbeitsprozess hineinzudenken, der das KPW hervorbrachte. Nebst den eingangs erwähnten, als zu gefährlich betrachteten Manuskripten beschriftete und nummerierte Böck auch die Sitzungsprotokolle der insgesamt vier Gruppierungen, die das KPW generierten: Redaktion-, Künstler-, Finanzcomité sowie Direktionsrath. Er führte Buch über die Ablieferung von Manuskripten sowie die Auftragstellung und Ablieferung von Bildern; Bleistiftanmerkungen in Adressbüchern bezeugen seine Sorge, den häufig ihren Wohnsitz wechselnden Mitarbeitern auf der Spur zu bleiben. Druckereiaufträge und Finanzbelege zeigen die schwankenden, meist sinkenden Auflagen und deren Kosten. Vieles andere, nie publizierte Material rund um die Produktion des KPW hob Böck ebenfalls auf. Insbesondere die Stöße von periodisierten und alphabetisierten Briefen, markiert mit dem blauen Stift redaktioneller Tätigkeit, bilden eine Spur in die Art und Weise, wie in Wien Ethnografie für den Vielvölkerstaat betrieben wurde. Gearbeitet wurde in Räumlichkeiten oberhalb der kaiserlichen Reitställe - die Beengung war für das Projekt offenbar ebenso kennzeichnend wie die relativ verborgene Publicity. Auch dies unterscheidet die Wiener Unternehmung von der Budapester Parallelaktion. Während der Wiener Publizist und Rudolf-Freund Moritz Szeps selbst die Ankündigungen und Zwischenberichte des »Werkes« nur zensuriert in seiner Zeitung veröffentlichen durfte, scheint Böcks Pendant in Budapest, der Journa- 20 Zeitungsausschnitt vom 1.3.1911 aus dem Neuen Wiener Journal in Schachtel 8, KPW, SLW. 21 Aus der e-Mail an die Autorin von Univ.-Prof. Dr. Ferdinand Opll, e. h., und Sachbearbeiter Dr. Heinrich Berg vom 5. Oktober, 1998. Ebenfalls nicht erklärt sind die Lücken, insbesondere die fehlende Korrespondenz aus den Jahren 1884-89, die offensichtlich entfernt worden ist. Cf. Schachtel 8. Es ist anzunehmen, dass alles Material, an welchem der Kronprinz selbst teil hatte, auch im Rahmen der KPW-Arbeit wie in allen anderen seiner Tätigkeitsbereiche nach seinem Selbstmord entfernt und versiegelt oder vernichtet wurde (cf. HAMANN 1998). <?page no="301"?> Kaiserlich-königliche Ethnografie 301 list Miklos Nagy, weniger Hemmschwellen begegnet zu sein: Szeps Freund Miksa Falk, Herausgeber der Zeitung Pester Lloyd, publizierte Briefe des Kronprinzen zum Werk und Pressemeldungen zu den Budapester Planungstreffen - die publicity war dort also breit und wurde von bekannten Persönlichkeiten mitgetragen. Die zumindest anfänglich beinahe etwas verschwörerisch anmutende Planung in Wien scheint demnach in Budapest ihr Gegenteil zu finden, wo der Literat und geehrte 1848er-Politiker Mór Jókai die Redaktion koordinierte. Obwohl die ungarische Ausgabe kein Verkaufsschlager wurde, die deutschsprachige dagegen von sich behauptete, einen Gewinn erzielt zu haben, 22 genoss das Kronprinzenwerk in Budapest - wo man politisch auch sehr stark auf den von einem zukünftigen Kaiser Rudolf zu erhoffenden Richtungswechsel zählte - ein sehr gutes und öffentlichkeitswirksames Renommee. »Ethnographie«, so schrieb Dorothy Noyes in verwandtem Zusammenhang, »war ein Werkzeug bürgerlicher Revolution, ein Mittel um lokale Energien und Ressourcen in Institutionen zu leiten, die diese eingrenzen, konservieren und angemessen entwickeln würden« 23 . Das Revolutionäre bestand und besteht im Potenzial der Selbstbesinnung auf der Basis von (Selbst-)Beschreibung, sowie die dadurch zu generierende Möglichkeit des Nachweises von Historizität und damit auch der Berechtigung zu Formen der politischen Selbstbestimmung. Dass gerade diese Dimension ethnografischen Arbeitens der Utopie eines multikulturellen Vielvölkervaterlands kaum würde zuträglich sein können, dies vorherzusehen gelang den emsigen Planern, aber auch einem Gutteil der zur Mitarbeit gewonnenen Provinzschriftsteller, nicht. 24 Fundierte Ethnografie hätte, in Anlehnung an den indischen Historiker Dipesh Chakrabarty, in eine Provinzialisierung des Zentrums Wien (und zu geringerem Grade auch Budapests) münden müssen, da die verschiedensten Ethnien in ihrer Ausprägung und historischen Verortung aus dem scheinbar zeitlosen Raum innerhalb des k. u. k. kontinentalen Kolonialraums herausgelöst und in das Zeitgefüge der Moderne hätten eingeschrieben werden können. 25 Dass dies zumindest in den im Zentrum unterbundenen Versuchen, die Kronländerbände auch in den eigenen Sprachen zu veröffentlichen, angestrebt wurde, und, wie Jasna Čapo Žmegač für Dalmatien nachwies, auch durchgeführt wurde, weist auf die Pulverfasskapazität der Ethnografie hin. 26 22 ZINTZEN 1999, p. 12. 23 Aus Dorothy Noyes nicht publiziertem Vortrag »The Uncontainable Periphery: Mérimée’s Ethnographic ›Fantastic‹«, American Folklore Society Congress, Anchorage, Alaska, Oktober 2001. 24 Die wissenschaftlichen Mitarbeiter wurden im Rahmen der KPW-Arbeit eher Schriftsteller und nicht Wissenschaftler genannt; die Illustratoren firmierten als »Künstler« - auch diese Benennungen deuten auf ein Selbstverständnis hin, das sich noch von den eher fachwissenschaftlichen und handwerklichen Prägungen unterscheidet, die bereits ein, zwei Jahrzehnte später deutlicher präferiert wurden. 25 CHAKRABARTY, Dipesh: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton University Press 2000. 26 In ihrem Vortrag an der in Fn. 1 erwähnten Tagung in Slovenien 1998 zeigte Jasna Čapo-Žmegač (Zagreb), dass genau solche Korrekturen und Revisionen in der umkämpften, heimlichen Rückübersetzung ins Dalmatische auch vorgenommen wurden. <?page no="302"?> 302 Regina Bendix Verhindert hat dies einerseits aber auch der Status der Ethnografie im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie die Organisationsstruktur des KPW andererseits. Da die Ethnografie 1884 noch kaum über ein methodisches Selbstbewusstsein verfügte - die die frühe Feldforschung begleitenden britisch-kolonialen »Notes and Queries« waren zu dieser Zeit erst im Entstehen 27 - finden sich in den KPW- Protokollen auch keine Anleitungen dazu, wie Autoren für das Werk vorzugehen haben. Ethnografie war eine Form der umfassenden Beschreibung, ein Tatsächlich-in-Worte-Fassen und Vertiefen dessen, was in höfischen Inszenierungen seit dem 18. Jahrhundert oder in den Völkerschauen der jungen Landes- und Weltausstellungen, insbesondere aber in den Genres der Malerei längst in der öffentlichen Wahrnehmung vorhanden war. 28 Nicht nur gab es zeitnah bereits in Buchbände gefasste, serialisierte Versuche, die Völker der Doppelmonarchie zu erfassen 29 (Prochaska 1883) - es gab vor allem auch Bilderserien von Ausschnitten kultureller Differenz im Vergleich: Trachtenbilder, Darstellungen von Verkaufsberufen und insbesondere die beliebten Spielarten von »Szenen aus dem Volk« - zu welchen auch der ungarische Redaktor Mór Jókai beigetragen hatte. 30 Malenderweise Reiseeindrücke von Land und Leuten nach Hause zu bringen bzw. einen künstlerisch begabten Begleiter dabei zu haben, der dies anstelle des später gebräuchlichen Fotoapparates für Adel und gehobenes Bürgertum tat, gehörte zum Grundinstrumentarium der sich verfestigenden Beziehung von Kultur und Tourismus seit dem 18. Jahrhundert. In den Köpfen der Planer und Künstler bestanden deshalb - ob sie sich dessen völlig bewusst waren oder nicht - bereits ganze Ketten von Blaupausen, wie das Kronprinzenwerk zu illustrieren sei. Nur wenige der beigezogenen Künstler wichen in Stil und Sujet von diesen Erwartungen ab - in der Tat finden sich in der Korrespondenz Belege dafür, dass manche Künstler sich genau um diese Kontinuität bzw. die Erfüllung der Erwartung bemühten. Kronprinz Rudolf hatte selbst ein Gegenmittel ersonnen, um dem möglichen Diktat des Zentrums in der Darstellung der Kronländerperipherien entgegenzuwirken. Wissenschaftler bzw. Autoren sollten so weit wie möglich aus den betreffenden Gebieten rekrutiert werden und so Gelegenheit erhalten, gleichsam aus der Innenperspektive der Peripherie zu berichten. Diese Intention wurde doppelt untergraben: Wissenschaftliche Legitimierungsmechanismen einerseits 27 George Stocking hat diese Institution britischer Sozialanthropologie in der Huxley Lecture 1993 aufgegriffen (»Reading the Palimpsest of Enquiry: ›Notes and Queries‹ and the History of Social Anthropology«), abgedruckt in STOCKING, George: Delimiting Anthropology. Occasional Inquiries and Reflections. Madison: University of Wisconsin Press 2001. Es handelte sich bei Notes and Queries um ein von Ausgabe zu Ausgabe weiter wachsendes Inventar von spezifischen Fragen sowie Themen, die in der Feldforschung im kolonialen Terrain nach Möglichkeit zu beantworten waren, um dadurch unter anderem einen Fundus an vergleichbaren Daten über unterschiedliche Kulturen aufzubauen. 28 Cf. BENDIX 2003. 29 PROCHASKA, Karl (Hg.): Die Völker Oesterreich-Ungarns: ethnographische und culturhistorische Schilderungen. 12 Bände, Wien: Prochaska 1881-1883. 30 Cf. FÁBRI, Anna: Jókai-Magyarország. Budapest: Skíz 1991. Hier gilt mein Dank für Hinweise und Übersetzungen zum ungarischen KPW Herrn Prof. em. Tamás Hofer. <?page no="303"?> Kaiserlich-königliche Ethnografie 303 und lokale Ehrerbietung gegenüber der zentralen Organisation und insbesondere dem Kronprinzen und seinen Nachfolgern andrerseits machten ein unbefangenes, quasi »indigen geprägtes« Forschen und Verfassen zu einem Ding der Unmöglichkeit. Um dies zu belegen, bedarf es einer Vorstellung dessen, wie und von wem was gearbeitet wurde. Das Redaktionskommittee bestand unter anderem aus ehemaligen Tutoren des Kronprinzen, so etwa dem Wirtschaftswissenschaftler Carl Menger, der auch in der Initiation verschiedener lokaler, untergeordneter ad-hoc-Redaktionscomités in den Kronländern mitverantwortlich zeichnete. Gleichzeitig hatten aber nicht nur Menger, der Historiker und Staatsarchivar Alfred Ritter von Arneth und andere Mitglieder des hehren Kreises durchaus Vorstellungen davon, was eine Befähigung und Legitimierung wissenschaftlicher Recherche und Schreibens auszeichne, sondern vor allem auch die Kontaktpersonen in den Kronländern selbst. In den Diskussionen und dem schriftlichen Austausch dazu, wer für welches Gebiet angefragt werden könnte, spielten Studium, Anstellung oder Zugang zu Wissensinstitutionen wie Museen, Archive oder Bibliotheken eine deutliche Rolle. Dass die Angeschriebenen oft selbst im Zentrum studiert hatten und deshalb überhaupt erst bekannt waren, muss bereits als ein Nagel im Sarg der breit intendierten wissenschaftlichen Konturen des KPW betrachtet werden. Wer stolz auf seine in der Hauptstadt erworbenen Qualifikationen ist, wird sie auch als Messlatte in der Evaluierung potenzieller weiterer Mitarbeiter einsetzen. Die prägende Wirkung eines wissenschaftlichen Stils in den 1880er Jahren wurde, was wissensgeschichtlich auch völlig verständlich ist, als Qualitätskriterium und nicht, wie dies eine post-Foucault’sche Archäologie des Wissens tun muss, als hegemoniales Instrument eingeschätzt. Diese Auslesemuster trugen natürlich dazu bei, dass die Vorstellung davon, was ein angemessener Beitrag für das KPW sein könnte, ebenfalls auf einer zentrumsspezifischen wissenschaftlichen Blaupause aufbaute. In Anbetracht solcher habituellen Entscheidungsmuster ist es schlussendlich fast erstaunlich, dass Spuren unterschiedlicher Wissenskonzeption auch nach den Übersetzungen sowohl sprachlicher wie auch konzeptioneller Art im gedruckten KPW bisweilen noch auszumachen sind, insbesondere in der inhaltlichen Strukturierung mancher Beiträge. Die für das Werk Verantwortlichen beharrten durchgängig auf dem Druck von nur zwei Ausgaben, auf Deutsch und Ungarisch. Aus der vorhandenen Korrespondenz (die nur die empfangenen, nicht aber die versandten Briefe enthält) sowie einigen Protokolleinträgen geht hervor, dass die Redaktion Ersuchen, in Sprachen außer Deutsch und Ungarisch zu übersetzen, konsequent ablehnte, obwohl diverse diesbezügliche Anfragen eingingen. Der Wiederabdruck von Illustrationen etwa in Kalendern dagegen wurde toleriert. Die Ehrerbietung und Unterwürfigkeit schließlich, die viele Mitarbeiter in ihrer Korrespondenz an die Redaktion ausdrückten, weist auch darauf hin, wie sehr man darauf erpicht war, die Ehre, ausgewählt worden zu sein, mit einem <?page no="304"?> 304 Regina Bendix Beitrag, der des Zentrums würdig war, zu vergelten. Das Werk war pluralisch gedacht, es sollte das Spannungsverhältnis zwischen Wien und Budapest ebenso wie zwischen diesen beiden Zentren und deren politischen und kulturellen Peripherien umgehen. Angesichts der Praxen, aus welchen es sich aufbaute und die sich in Organisationsstrukturen, selbstverständlichen Legitimationsgebärden sowie den hier jetzt nicht weiter ausformulierten Ansprüchen einer modernen Buchproduktion zeigten, 31 war es nicht möglich, aus dem Kronprinzenwerk ein völkerharmonisierendes, die politische Zukunft glättendes Werk zu zaubern. Ethnografische, literarische, artistische Texte und Bildbände können sehr wohl die Imagination anregen. Aber »Texte scheitern daran«, wie dies Dorothy Noyes treffend bemerkte, gelebte »kulturelle Praxen zu stabilisieren«. 32 Ausgebreitet über 24 Bände und, viel spannender noch, in Bündeln disparater Archivalien seiner Produktion, liefert das Kronprinzenwerk einen Einstieg dazu, wie Muster der Wissensproduktion auch als strukturierende Elemente der geopolitischen Beziehungen zwischen Zentren und Peripherien verstanden werden können. Kronprinz Rudolf sah insbesondere die noch junge Ethnografie als eine geeignete, weil kulturelle Vielfalt dokumentierende Wissenschaft an. Doch ist das dokumentierende Auge geschult sowohl anhand eines, wenn auch noch jungen, wissenschaftlichen Kanons wie auch anhand der Sozialisation von Wissenschaftlern und die diese begleitenden Künstler in einem politischen Gefüge. 33 Die utopische Zielsetzung des Kronprinzen für dieses Werk »in Wort und Bild« ließ sich innerhalb der Wissenschaftspraxis der Doppelmonarchie nicht realisieren, denn weder er noch Redaktion und Mitarbeiterstab verfügten über die Reflexion ihres Arbeitskontextes, den die Rückschau auf Werk und Archivalien nach mehr als hundert Jahren gewähren. Das Kronprinzenwerk blieb eine durch den Kaiser legitimierte kaiserlich-königliche Publikation für die breitere Öffentlichkeit, deren Stab von Mitarbeitern monarchisch kontrollierte und kontrollierende Bilder des ethnischen Nebeneinanders im Vielvölkerstaat hervorbrachten. 31 Cf. hierzu BENDIX 2003. 32 Cf. ZINTZEN 1999, p. 12. 33 Cf. PRATT, Marie Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London: Routledge, 1992. <?page no="305"?> BLICKREGIME: BOSNIEN-HERZEGOVINA UND MONTENEGRO ALS PERIPHERIEN DER MONARCHIE <?page no="307"?> U RSULA R EBER (W IEN ) Raumkonstruktionen von Kultur, Krieg und Phantasma: Montenegro | Österreich-Ungarn An interest in the Balkans that lasts only as long as war - or the rumor of war - persists might well help create the impression that the Balkan peoples, like metaphorical Rip Van Winkle of Europe, sleepwalk their way through brief interludes of peace only to come to life in a series of bloody ethnic struggles. 1 Vesna Goldsworthy spricht vom jüngsten Krieg im Balkan der 1990er Jahre und der überdimensionalen, voyeuristisch anmutenden Aufmerksamkeit, die der Westen auf »›Balkan‹ butchery« verwandte, doch ist das Phänomen bereits aus dem 19. und 20. Jahrhundert bekannt. Die Aufmerksamkeit, die Montenegro in den Jahren zwischen 1875 und 1918 erlangte, beruhte auf seinen durchschlagenden Erfolgen in Befreiungskämpfen gegen die osmanischen Besatzer und dem politischen Gewicht, das das kleine Land dadurch erlangte. Der Zeitraum war geprägt von Montenegros Kampf gegen die osmanische Fremdmacht, unter deren Hoheit es stand. 1878 wurde auf dem Berliner Kongress seine Unabhängigkeit anerkannt. Fürst Nikola, der das Land gemeinsam mit einem Parlament (seit 1905) regierte, ließ sich 1910 zum König ausrufen. 1912 begann Montenegro den Ersten Balkankrieg, in den Serbien und Bulgarien in der Folge eintraten; 1914 trat Montenegro an Serbiens Seite in den Ersten Weltkrieg ein; 1916 bis 1918 stand Montenegro unter österreichisch-ungarischer Besatzung; 1919 wurde es schließlich dem neu formierten Königreich der Serben, Kroaten und Slovenen eingegliedert. Dieser wandelhaften Geschichte Montenegros entsprechend werden in der folgenden Untersuchung verschiedener Textgattungen und Themenkomplexe Krieg, Grenzen und damit einhergehende Raumkonstruktionen im Vordergrund stehen. Dabei wird es weniger um die historischen Balkankriege in ihrem Verlauf gehen, sondern vielmehr um die psychologische und diskursive Bedeutung von Krieg, Befreiung und Partisanentum, wie sie in den Texten sichtbar werden. Auch die Grenzen, die zur Debatte stehen werden, spielen vor allem in ihren vermittelten Formen eine Rolle. Zu fragen ist, welche Bedeutung eine »Delimitierungskommission«, die im Gefolge des Berliner Kongresses eingesetzt wurde, für 1 GOLDSWORTHY, Vesna: Invention and In(ter)vention: The Rhetoric of Balkanization. In: BJELIĆ, Dusan I./ SAVIĆ, Obrad (Hg.): Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation. Cambridge/ Mass., London: MIT Press 2002, pp. 25-38, hier p. 28. <?page no="308"?> 308 Ursula Reber die symbolische Formation von Grenzziehungen hat und wie wissenschaftliche, geografische, linguistische und symbolische Grenzen ineinander greifen. Nicht nur an ihrer reinen Existenz, auch an der (folgerichtigen) Unabschließbarkeit der Aufgabe, neue Grenzen auszuhandeln, kann die Konstruiertheit jeder Grenze ebenso aufgezeigt werden wie der Mechanismus, dass eine Grenzziehung weitere nach sich zieht. Auf den Spuren historischer Reisender geht es um das Wiederaufsuchen und Wiederaufspüren der Verschränkungen der damals vorherrschenden Phantasien und Phantasmen 2 , denen nur mit weiteren Bildern und Phantasien begegnet werden kann. Ich stelle die Bilder, die über Montenegro in Umlauf waren, nicht in Frage. Was ich versuche, ist, ihnen neue Verwandtschaften zuzuschreiben ihre Grenzen gewissermaßen zu erweitern, um die exklusiven sozialen und rhetorischen Räume, die sie konstituieren, besser zur Geltung zu bringen. Dazu werden die Abgrenzungen in den Beschreibungstechniken in deutschsprachigen Texten zu Montenegro - Reisebücher, militärstrategische Studien sowie Beiträge aus der Militärzeitschrift Cetinjer Zeitung - aufgesucht und nachgezeichnet. An ihnen sollen die Konstruktionen der Andersheit und Phantasmen des Partisanen und des Nomadischen aufgezeigt werden. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Textsorten die Verflechtung von geografischen und kulturellen Raumvorstellungen, welche Abgrenzungen von städtisch und rural, zivilisiert und primitiv, modern und archaisch, Ordnung und Unberechenbarkeit etc. ziehen. Einerseits stehen die Abgrenzungen im Rahmen einer Orientalismus- und Kolonialismustradition, die sich mit Goldsworthy folgendermaßen darstellt: Die Herausbildung einer wahrnehmbaren Balkanidentität in den westlichen Debatten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war gleichermaßen ein Prozess der Aneignung wie auch der Zurückweisung von Selbstheit. Sie fiel mit der Gründung der unabhängigen Nationalstaaten auf dem Balkan zusammen, die intern als ein - nur scheinbar paradoxer - Versuch gesehen wurde, sich Europa (wieder) anzuschließen. Die westliche imaginative Kolonisierung der Region geht Hand in Hand mit deren östlicher Dekolonisierung durch den allmählichen osmanischen Rückzug aus dem europäischen Südosten - ein Prozess, der die Aufmerksamkeit auf die Halbinsel lenkte und einen neuen Bedarf an fertigen Balkanbildern schuf. Solche Bilder wurden in journalistischen und historischen Berichten ebenso ordnungsgemäß erzeugt wie in Reiseerzählungen und literarischen Werken, deren Beliebtheit mit dem allmählichen Zerfall des Osmanischen Reichs und dem Ringen um Einfluss auf dem Balkan einherging. Die metaphorische Kolonisierung des Balkans beruht auf derselben imperialistischen Ideologie westlicher Überlegenheit, die bei der Schaf- 2 Phantasma ist hier durchaus in Žižek’schem Sinne verstanden, also einerseits als der Platzhalter des Begehrens (nach dem Ich und dem Anderen), das zu konkreten Bildern und (Selbst-)Verständnissen hinleitet, und andererseits auch als ganze ideologische Narrative, die eine Verleugnungsfunktion der Kehrseite erfüllen. Diese Dimension des Phantasmatischen funktioniert m. E. auch für die Absetzbewegung, für die Konstitution des Anderen, nicht nur für jene der eigenen Ideologie. Cf. ŽIŽEK, Slavoj: Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin: Merve 1991; DERS.: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den Medien. Wien: Passagen 1997. <?page no="309"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 309 fung stereotyper Bilder der eigentlichen Kolonien in Afrika, Asien und anderswo am Werk ist. Die imperialistische Imagination äußert sich hier, in Abwesenheit eines tatsächlichen Kolonialismus, in der Schaffung kultureller Balkanstereotype, durch die eine Vorstellung von der Welt die Welt selbst ersetzt. Sie macht »die Welt des Balkans« zum Gegenstand des westlichen Blicks und definiert sie als unlenksame und instabile Differenz. […] Der Balkan wird meist als Oxymoron konstruiert: Er ist zugleich zu weit weg und zu nahe; zu ähnlich, um allein gelassen zu werden, und zu verschieden, als dass er einen wirklich beträfe. Somit ist es die Marginalität der Halbinsel selbst, die im Zentrum der »Balkanität« steht. 3 Das Halbeuropäische und Halborientalische des Balkans, das Goldsworthy im Gefolge von Maria Todorova vornehmlich interessiert, bleibt hier auf Grund der ausführlichen Forschungslage unberücksichtigt; stattdessen sollen Vernetzungen von Nationswerdung, Dekolonisierung, Identitätsbildung, Kulturmodellen und Techniken der Grenzziehung im Fokus des Interesses stehen. Meine Quellen sind fast ausschließlich deutschsprachige Autoren unterschiedlichen Hintergrunds - die Reisejournale und Berichte stammen von Journalisten, aber auch (Militär)Historikern, Ethnografen und k. u. k. Offizieren - österreichischer oder deutscher Herkunft. Journalistische Quellen und Reisejournale dienen gemeinsam mit politischen Schriften dem Skizzieren der Verflechtung von Nation, Identität und Territorium; Reisejournale und Reportagen der Nachzeichnung kultureller Geografien im Spannungsfeld von Satire und phantasmatischem, nach außen verlagertem Selbstbild der Schreiber. Vorwiegend kriegshistorische und strategische Schriften, Akten des Berliner Kongresses, eine historische Dissertation über ebendiesen aus dem Jahr 1925 sowie Beiträge aus der Militärzeitschrift Cetinjer Zeitung, die unter der österreichisch-ungarischen Besatzung in Cetinje von 1916 bis 1918 herausgegeben wurde. Sie erschien jeweils donnerstags und sonntags und enthielt regelmäßige Nachrichten von der Front sowie regional relevante Erlässe und Aufrufe, propagandistische Skizzen über den Fortschritt der geleisteten Kulturarbeit neben einer Rubrik über die aktuellen Verurteilungen ebenso wie Nacherzählungen und teils Übersetzungen einheimischer Novellen und Erzählungen; wissenschaftlich, anthropologisch und historisch ausgerichteten Abhandlungen über balkanische Kultur geben die Quellen dafür ab, die Umformungen und Verformungen der Kriegslandschaft Montenegro festzuhalten. Die weitreichenden Grenzziehungen, die im Gefolge des Berliner Kongresse das Territorialstreben Montenegros mit jenem der imperialistischen Mächte, vor allem des Osmanischen Reichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie, über eine Delimitierungskommission regeln sollten, dabei jedoch weitgehend scheiterten, werden durch Überlegungen der Repräsentativität und Signifikation 3 GOLDSWORTHY, Vesna: Der Imperialismus der Imagination: Konstruktionen Europas und des Balkans. Übers. v. Dagmar Gramshammer-Hohl. In: KASER, Karl/ GRAMSHAMMER-HOHL, Dagmar/ PICH- LER, Robert (Hg): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt: Wieser 2003(Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens), pp. 253-274. <?page no="310"?> 310 Ursula Reber von Markierungen reflektiert. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Grenzziehungen, die Geografie, Ethnizität, Religionszugehörigkeit, Einflusssphäre und Handelswege berücksichtigen sollten, wird die Vorstellung der »natürlichen Grenze« im Vergleich mit rhetorischen Strategien der Vernatürlichung in Reisejournalen hinterfragt. Im Rückgriff auf die Konstruktion von Kriegslandschaften und Natur-Kultur-Vermischungen wird das strategische Wissen über Montenegro auf sein spezifisches Phantasma von Natur hin befragt. Um sich dem in einer neuen, nicht nur postkolonialen Perspektive zu nähern, verflechte ich die historischen Diskurse mit jenem über Nomadologie und Partisanentum von Deleuze und Guattari. Zum Schluss stehen erneut narrative und diskursive Verfahren in ästhetisch durchgeformten Reiseberichten zur Debatte, die gerade nicht stabile Stereotypien, sondern instabile und dynamische Heterotopien der eigenen Kultur, gespiegelt in der fremden Kultur Montenegros, evozieren. 1 Nationale Territorien Die Jahre von 1914 bis 1920 markieren einen globalen »Bruch« in Bezug auf Staatsverfassungen, Grenzziehungen und das Selbstverständnis von Nationen und Staaten. 4 Die ethnische Identifizierung von Nationalität war auf dem Vormarsch. Dass es sich dabei keineswegs um einen Bewegung aus der Bevölkerung handelte, sondern von einer neuen nationalideologischen Elite gesteuert wurde, die die Tendenz der Moderne und insbesondere den Rückhalt aus Woodrow Wilsons Programm des Rechts auf nationale Selbstbestimmung suchten, verdeutlicht Holm Sundhaussen: Der vom sterbenden Gavrilo Princip schmerzlich vermißte »Aufstand der Nationen« verlief unheimlich lautlos, wie auch die Oktoberrevolution in Rußland erschreckend lautlos verlaufen war. Die Stille beider Zusammenbrüche stand im ungekehrten [sic] Verhältnis zur Schwere ihrer Konsequenzen sowie zur Zahl der Opfer, die früher oder später für die Realisierung der gesetzten Ziele erbracht wurden. Und ähnlich wie die Oktoberrevolution in Rußland wurde auch der »Aufstand der Nationen« in Österreich-Ungarn weniger von den breiten Bevölkerungsschichten, die der Monarchie erstaunlich loyal blieben, sondern von einem Teil der politischen Eliten inszeniert. 5 Das Verlangen nach Autonomie in Nationalstaaten, die sich aus einem Mehrvölkerverbund lösen, wird zu einem Merkmal der neuen Weltordnung, das auf internationale Anerkennung stößt. Auch das auf Differenz bauende Selbstverständnis 4 Cf. zu den südosteuropäischen Nationen PAVLOWITCH, Stevan K.: The Balkans 1804-1945. London, New York: Longman 1999, pp. 208-229. 5 SUNDHAUSSEN, Holm: Von der Multiethnizität zum Nationalstaat. Der Zerfall »Kakaniens« und die staatliche Neuordnung im Donauraum am Ende des Ersten Weltkrieges. In: DERS./ TORKE, Hans-Joachim (Hg.): 1917-1918 als Epochengrenze? Wiesbaden: Harrassowitz 2000 (Multidisziplinäre Veröff. Osteuropa-Inst. der FU Berlin 8), pp. 79-100, hier pp. 96 f. <?page no="311"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 311 so genannter »kleiner Völker«, wie beispielsweise jenes der Montenegriner, stößt in diesem Kontext auf Respekt von Seiten der imperialistischen Mächte. Zur Nationalisierung gehört die Territorialisierung, da jeder spezifische Nationalstaat per definitionem an ein (angestammtes) Territorium gebunden ist. 6 Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden für den Balkan ebendiese Territorialisierungen und Nationalisierungen im Kontext von Diplomatie, Autonomie und Recht immer akuter. Ethnografie, Nationalbewusstsein, Ökonomie und imperiale Strategien der Großmächte, die schließlich auch beim Berliner Kongress tagten und ihre ökonomischen und politischen Interessen an und in den Balkanländern verteidigten, waren auf das Engste verbunden und dienten je als Begründung für die jeweiligen Grenzziehungen. 7 Montenegros eigenes Territorialinteresse hatte sich bereits vor dem Berliner Kongress auf die Herzegovina und um heute kroatische Küstengebiete rund um Dubrovnik bezogen. Die Herzegovina galt als Stammland einiger Montenegrinerstämme, das Küstengebiet als verlorenes montenegrinisches Territorium (1797 war Kotor aus venezianischer in habsburgische Hoheit übergegangen), das mit seinem Zugang zum Meer und fruchtbaren Landstrichen um 1870, als das kleine Land lediglich unfruchtbares Karst- und Berggebiet umfasste, eine dringend notwendige ökonomische Erleichterung bedeutet hätte. Diese Gebiete lagen daher im Zentrum des montenegrinischen Territorialinteresses. Dabei spielte wohl für Montenegro die vergangene Bedeutsamkeit als verlorenes Stammesgebiet (Herzegovina) eine weitaus geringere Rolle als unmittelbare ökonomische und politische Interessen. 8 Die Abhängigkeit von Österreich-Ungarn, dessen vor allem mit Russland wetteifernde Balkanpolitik Maßstäbe setzte, gestaltete sich für Montenegro um die Zeit des Berliner Kongresses weder vorteilhaft noch friktionsfrei. Im österreichisch-ungarischen Lager schwankte die Politik zwischen der Angst vor den montenegrinischen militärischen Erfolgen und dem Bestreben, dessen Einfluss auf dem Balkan einzudämmen beziehungsweise den eigenen auszuweiten. 9 Andererseits gewann die »sozialrevolutionäre« Absicht, die Balkanvölker von der osmanischen Herrschaft zu befreien, mehr und mehr an nationalen Zügen - auch für Montenegro, dessen Selbstständigkeit auf dem Berliner Kongress dann auch anerkannt werden sollte. In diesem Zusammenhang spielt die Berufung auf eine Vergangenheit, in der Montenegros Territorium Gebiete wie die Herzegovina oder die dalmatinische Küste umfassten, nicht nur eine ökonomische Rolle, 6 Cf. ibid., pp. 93 ff. zur Verbindung von nationalem Selbstbestimmungsrecht, Ethnizität und Staatsterritorium. 7 Cf. speziell für Montenegro HEER, Caspar: Territorialentwicklung und Grenzfragen von Montenegro in der Zeit seiner Staatswerdung (1830-1887). Frankfurt/ Main: Peter Lang 1981 (Geist und Werk der Zeiten 61). 8 TREADWAY 1998, p. 7 f., und ROBERTS 2007, p. 253 ff., zielen auf die politischen Interessen des Machtgewinns ab, denen das historische Territorialrecht dienstbar gemacht wird. HEER 1960 weist wiederholt auf den ökonomischen Druck hin, da Montenegro demografisch immer wieder von Hunger bedroht war. 9 Cf. zu diesem gesamten Komplex HEER 1960. <?page no="312"?> 312 Ursula Reber sondern zeugten auch von Prestige und symbolischer Wirkung. Die territorialen Grenzen der Vergangenheit sollten die gegenwärtige Bedeutung des Landes zum Ausdruck bringen und wiederhergestellt werden. Die nationale Identität wird also nach außen, in verlorene Gebiete und ferne Zeiten, verlagert. Dieser Prozess gefährdet jedoch nicht nur die Integrität der fremden, hier österreichisch-ungarischen, sondern auch der eigenen Grenzziehungen, - kann doch zum Zeitpunkt der ›serbischen‹ Vormacht über Teile Dalmatiens nicht von einer montenegrinischen Nation ausgegangen werden. Die Grenzen sollen sich idealiter in ihrem territorialen Bereich mit jenen in ihrer symbolischen Reichweite decken. 10 Der performative und legislative Akt der Grenzziehung erfüllt so zwei grundlegend unterschiedliche Aufgaben: Er überbrückt die Zeiten zwischen tiefer Vergangenheit und der Gegenwart und erfüllt zugleich eine Exklusionsaufgabe gegenüber fremden Hoheitsgebieten und symbolischen Räumen. 11 Die Staats- und Nationswerdung Montenegros, schwankend zwischen serbischem und montenegrinischem Selbstverständnis, wurde nach dem Ersten Weltkrieg nicht ›abgeschlossen‹. Das Montenegro, das der französische Außenminister Stephen Pichon (1857-1933) in seinem Brief an König Nikola vom 4. November 1918 als »Your Kingdom« anspricht, 12 existiert nicht mehr; seit 1916 steht das Land, wie auch Serbien, unter österreichisch-ungarischer Besatzung, und im Dezember wird es dem neu proklamierten Königreich der Serben, Kroaten und Slovenen eingegliedert. Die Erhebung Montenegros von einem Fürstentum zu einem Königreich war im Vergleich zu den Standards des Westens ohnehin ›verspätet‹ gekommen. König Nikola und das Königreich Montenegro hatten im direkten symbolischen Wettbewerb mit dem Königreich Serbien repräsentative Zwecke zu erfüllen; der Akt sollte König Nikola gegenüber den Verhandlungspartnern, dem russischen Zaren und dem österreichischen Kaiser, auf ›gleichere‹ Ebene stellen und im selben Atemzug die symbolische Macht des osmanischen Paschas einschränken. Zugleich stand dieser Akt jedoch, der elitären Logik der Nationsbildung folgend, im Dienste der nationalen Bedeutungsgewinnung, die 10 Cf. dazu ANDERSON, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Übers. v. Benedikt Burkhard u. Christoph Münz. Berlin: Ullstein 1998, besonders das Kapitel über Zensus, Landkarte und Museum. Eine knappe Übersicht über Nationalismustheorien bietet außerdem HÁRS, Endre: Herder und die Erfindung des Nationalen. In: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ EHars3.pdf [Nov. 2008], insbes. p. 2. 11 SARKOTIĆ, Stephan Frh. v.: Jugoslawia. Wien: Fromme 1919: Dieser ehemalige Landesherr von Bosnien-Herzegovina und Leiter des Angriffs auf Montenegro im Jahr 1916 bringt weder Verständnis für die nationalen Ablösungsbewegungen noch für das neue multinationale Königreich der Jugoslawen auf, sofern es sich nicht unter habsburgischer Krone zusammenfindet. Er weist auf die besondere Ironie und den »Irrtum« der südslawischen Völker hin, den allgemeinen Weg zum Nationalstaat nicht bis zum Ende zu gehen. Unter Abstrich der deutlich imperialistischen Ansprüche Sarkotićs, was die Leitungsfunktion Österreichs (ohne Ungarn) angeht, birgt das Königreich der Jugoslawen im Falle von Montenegros langjährigem »Unabhängigkeitskampf« tatsächlich eine gewisse Ironie. 12 Cf. ›http: / / www.montenegro.org/ quotes.html‹. Nikola ging nach Montenegros Kapitulation im Januar 1916 zuerst nach Frankreich, später nach Italien ins Exil. Noch in Frankreich formierte er eine montenegrinische Regierung, um deren Anerkennung er sich bemühte. Von Seiten Frankreichs war ihm zunächst Unterstützung zugesagt worden, die dann jedoch ausblieb. Der Brief steht im Zusammenhang mit der Anerkennung der Exilregierung. <?page no="313"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 313 seinem Haus vor allem gegenüber dem konkurrierenden serbischen Königshaus die Vorrangstellung sichern sollte. Dennoch folgte im Falle der politischen Kräfte und Akteure Montenegros der Aspekt des demos der nationalen Idee; das Komitee für die nationale Vereinigung, die das montenegrinische Königtum als überaltert ansah und an einer größeren serbischen Tradition festhielt, setzte sich durch: 13 Der König ist im Jahr 1918 ein König ohne Volk und ohne Macht; er befindet sich im Exil, während sein Volk sich fast geschlossen zu Serbien bekennt und an der Etablierung eines gemeinsamen Staates arbeitet. 2 Grenz/ Räume - Instabilität und Territorialisierung von Identität Identitätsbildung und ihre Territorialisierungen verliefen im Fall Montenegros im Spannungsfeld einer gesamtserbischen Nationalität, einer montenegrinischen Identität und einer von Russland geförderten panslawischen Bewegung. Als jenes Kollektiv, das den größten Erfolg im Widerstand gegen die osmanische Fremdherrschaft verbuchen konnte, erweckte Montenegro vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts internationales Interesse, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Diese Öffentlichkeit nahm vor dem aktuellen politischen Hintergrund die Unterscheidung zwischen montenegrinischer und serbischer Identität auf. 14 Obwohl die Eigenständigkeit Montenegros auch international anerkannt wurde, es zur Staatsbildung kam und sich spezifische Traditionen entwickelt hatten, erfolgte dennoch keine vollständige Nationsbildung. Die Nationalsprache - jene Sprache, die im Zuge der Nationsbildung so ungeheuer wichtig wird, um für den natürlichen Zusammenhang einer Gemeinschaft und ihrer geteilten Identität einzustehen - 15 verbindet auf einer imaginären und praktischen Ebene als eine geteilte Sprache Serben und Montenegriner. Nach der am weitesten verbreiteten Version sind MontenegrinerInnen SerbInnen; sie betrachten sich als primi inter pares, als die Besten der SerbInnen, nämlich als jene, die sich dem »osmanischen Joch« nicht beugen wollten und in die unzugänglichen Berge flüchteten, wo sie dauerhaft und mit Erfolg Widerstand leisteten. Dieser Mythos wird so häufig erzählt und bildet einen festen Bestandteil der Selbstrepräsentation, 16 dass dies auch interne Kritik erweckte. Dafür bietet der Text Montenegro und sein Herrscherhaus. Zur Geschichte der Montenegrinischen 13 Cf. dazu ROBERTS, Elizabeth: Realm of the Black Mountain. A History of Montenegro. Ithaca, NY: Cornell UP 2007, pp. 312ff; TREADWAY, John D.: The Falcon and the Eagle. Montenegro and Austria-Hungary, 1908-1914. West Lafayette: Purdue 1998, p. 211. Treadway hält fest, dass die junge Generation insgesamt keine besondere Bindung an das Königshaus besaß: »Ironically, the more it [Montenegro, UR] expanded, the less ›Montenegrin‹ it became, absorbing thousands of new subjects not wedded to Montenegrin tradition. If most of Nicholas’s ›old‹ subjects considered themselves Montenegrins first and Serbs second, many of his new ones were Serbs first and last.« 14 Cf. KONSTANTINOVIĆ, Zoran: Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro. München: Oldenbourg 1960 (Südosteuropäische Arbeiten 56). 15 Cf. ANDERSON 1998, pp. 38 ff. 16 Cf. ›www.montenet.org‹, › www.njegos.org‹, › www.njegos.net‹. <?page no="314"?> 314 Ursula Reber Fürstendynastie (1906) 17 in seiner gänzlichen Vernichtung des primus-inter-pares-Anspruchs ein treffliches Beispiel. Der Übersetzer und Herausgeber datiert die Schrift auf das Jahr 1898 und stuft sie als Pamphlet ein: Der Ton, in dem das Buch im Original gehalten ist, ist der eines zügellosen, rücksichtslosen Pamphlets. Die Ausdrucksweise, in der manche Partien des Buches behandelt sind, entzieht sich ob ihrer krassen Grobheit der Wiedergabe. Ein arger Zorn, eine schwere Verbitterung hat die Feder des Verfassers geführt. 18 Der Originaltitel, den der Herausgeber nicht schuldig bleibt, lässt daran deutlich weniger Zweifel und lautet in direkter Übersetzung: »Einige blutige Bilder aus dem Album der Dynastie Petrovic-Njegos« 19 . Die Autorschaft des »apokryphen Komités« zweifelt der Herausgeber an und vermutet vielmehr, dass es sich bei dem Verfasser um Sava Ivanović handelt, den Fürst Nikola ab 1890 gemeinsam mit dessen Brüdern Marko und Mitar in Tötungsabsicht bis ins Ausland verfolgen ließ. Die Schrift bettet diesen zentralen Vorfall, der fünf Todesopfer, einen Verwundeten (Danilo), eine verstoßene Ehefrau, einen Exilanten und ein Opfer des Wahnsinns im Gefängnis fordert, in eine uranfängliche Geschichte von Verrat, Lüge und Egoismus ein. Die niederen Charaktereigenschaften werden nicht nur als Nikolas Eigentümlichkeit dargestellt, sondern genealogisch in die gesamte Linie der Njegoši-Petrovići eingeschrieben, die sich von Beginn an durch Lügen, Missachtung der religiösen Grundsätze und die geschickte Ausnutzung des Aberglaubens des gewöhnlichen Volkes die Herrschaft erschlichen hätten. Die in Cetinje, dem Ort des Abfalls vom gemeinsamen Serbentum, territorialisierte und Nikola und seine Familie betreffende genealogische Identität wird dabei als genuin »montenegrinisch« betrachtet, verwandelt sich durch die Subversion in den eigenen Reihen - ob es sich nun um das Komitee aus der Verfasserangabe oder um den vom Herausgeber und Kommentator vermuteten Sava Ivanović handelt - zum Gegenteil des herrschenden Diskurses: Die primi inter pares werden zu den pessimi inter pares. 3 Kulturelle Geografien Gewissermaßen ist es »Schicksal« von Individuen und von Völkern/ Nationen, in einer bestimmten Geografie zu leben beziehungsweise »beheimatet« zu sein. Geografie ist jedoch niemals nur Geografie, sondern begegnet immer schon als humane Geografie, die mit ihren imaginären und phantasierten Dimensionen einhergeht. Dass diese vertrackte Einheit für die - realiter und in der Phanta- 17 GENERALKOMITÉ DER MONTENEGRINISCHEN EMIGRANTEN: Montenegro und sein Herrscherhaus. Zur Geschichte der Montenegrinischen Fürstendynastie. Aus dem Serb. übers. v. Pajo Grbić- Šumadinović. Berlin: Cronbach 1906. 18 Ibid., p. IV. 19 Ibid., p. III. <?page no="315"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 315 sie - in den Balkan Reisenden zwischen 1878 und 1917 eine unterschwellige und indirekt geäußerte zentrale Bedeutung hat, zeigt sich nicht nur in den Realien des Genres »Reisebeschreibung«, die immer Geografie mit Kultur bestückt und reversiv Kultur von Geografie abhängig macht, sondern es zeigt sich auch darin, dass selbst die politisch orientierten Schriften nicht ohne die Geografie Kulturraum auskommen. Die Internationalisierung und Imperialisierung von Geografien und den eigenen Identitäten, ihre Konstituierung als Einflussgebiete, ziehen die entsprechende Gegenbewegung der Territorialisierung und Lokalisierung der »anderen« Identitäten und Kulturen mit sich. Dieses Wechselspiel von Ein- und Ausschließung beziehungsweise Vereinnahmung ist von vornherein von einer Verkennung der bestehenden kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken geprägt. Die Tendenz, die Anderen als marginale und lokale Besonderheit, die es zu integrieren gilt, zu zeichnen, führte dazu, dass die MontenegrinerInnen als typisches Naturvolk 20 oder als »auf einer niedrigen Culturstufe« 21 befindlich betrachtet wurden. Dieser Blick auf die kulturelle Geografie widerspricht in vielen Teilen sowohl den inneren als auch den äußeren Bestrebungen: Territorialer Zuwachs an Ödnis und ›dumpfen, arbeitsscheuen EinwohnerInnen‹ scheint wenig Sinn zu machen, wodurch imperialistischen Ansätzen auf dem Balkan seitens Österreich-Ungarn die Grundlage entzogen wird; 22 andererseits untergräbt dieser Blick aber auch die internen Versuche der nationalen Differenzierung, der Modernisierung und der Herausbildung von Nationen, wenn er von Primitivismus und der Wahrnehmung irgendeines ›slavischen Einerleis‹ gelenkt wird. »Kultur« umfasst einen breiten Bedeutungsspielraum. Einerseits steht dieser in Verbindung mit Zivilisation und meint technische und wissenschaftliche Errungenschaften, ein effizientes kapitalistisches System von Produktion und Handel; andererseits besitzt Kultur auch eine moralisch-ästethische Wertung, unter der Effizienz ebenso wie Bildung, Weltläufigkeit und ein künstlerisches Norm- 20 SCHWARZ, Bernhard: Montenegro. Schilderung einer Reise durch das Innere nebst Entwurf einer Geographie des Landes. Mit Ill. nach eigenen Aufnahmen und einer Karte. 2. Aufl. Leipzig: Eduard Baldamus 1888. 21 Cf. BREPOHL, F. W.: Von der Theokratie zum Königtum. Ein ÜBERBLICK über die geschichtliche Entwickelung MONTENEGROS nebst einer Randglosse zur SKUTARI-FRAGE. Naunhof, Leipzig: Verl. der Dt. Briefzeitungsges. m. b. H. (Hugo Rösch) 1913. 22 Imperialismus wird zuvorderst durch territoriale Expansion bestimmt. Die Gründe für die Expansion können von der Ausbreitung der Einflusssphäre über die Erschließung neuer Absatzmärkte bis zu Kulturations- und Besiedelungsprojekten reichen. Für Letzteres kann Österreich-Ungarns Politik in Bosnien und der Herzegovina stehen. Im Falle Montenegros beschränkt sich die imperialistische Politik auf ein Zurückdrängen montenegrinischer (und damit auch serbischer und vor allem russischer) territorialer und Einfluss-Expansion. An eine Okkupation des montenegrinischen »Kernlands« wurde ähnlich wie im Fall Bosnien-Herzegovina wohl zu keinem Zeitpunkt gedacht. - Zum Imperialismus (hier in engem Konnex mit Kolonialismus) cf. SCHÖLLGEN, Gregor: Das Zeitalter des Imperialismus. 4. Aufl. Wien: Oldenbourg 2000, insbes. die Kap. I. 1 u. II. 4. Ferner wäre mit Vesna Goldsworthys Begriff des »Imperialismus der Imagination« zu arbeiten, der jedoch im Fall deutschsprachiger Reiseliteratur kleinerer Korrekturen bedarf. Cf. GOLDSWORTHY 2003. <?page no="316"?> 316 Ursula Reber system zu fassen sind. 23 Schließlich schwingt vor allem in ersterem Gebrauch durchaus auch die etymologische Bedeutung von cultur/ cultus, der Ackerbau, die Landwirtschaft und die Gestaltung der Landschaft mittels Bebauung und Bepflanzung, mit. Die Balkanländer sind für österreichische Reisende und Journalisten Nachbarn; sie gehören zu Europa, sie sind bekannt, man handelt und verhandelt mit ihnen; als Objekte wirtschaftlichen und politischen Interesses der bestehenden Imperien besitzen ihre Repräsentanten einen gewissen Grad an Einfluss. Obwohl sich Kultur in dieser dreifachen Hinsicht den Balkanvölkern also nicht absprechen lässt, bildet sich unter den Schreibern ein gemischter und ambivalenter Kulturbegriff des Balkans heraus, der vorzugsweise auf den »landwirtschaftlichen« und den moralischen Kulturbegriff fokussiert. Land und Leute werden einander somit gewissermaßen wieder angeglichen; der moralische und soziale Charakter der BewohnerInnen wird in Analogie zum Kulturationsstand des Landes, seines Bodens, gebracht. Ob die analoge Rauheit und Kargheit von Land/ schaft, Volkscharakter und sozialen Institutionen nun im Kontext kulturloser Völker oder im Zusammenhang eines Primitivismus der Stärke gedeutet wird, beruht auf denselben diskursiven Grundlagen. Somit sind sich die SchreiberInnen um 1900 darüber einig, dass in Montenegro Kultur vorhanden sei, - auch wenn sie verstärkt und unterstützt werden müsse. Dass eine gewisse berechtigte Hoffnung bestehe, dies - wenn auch durchaus nicht aus Gründen der selbstlosen Liebe zu Kultur und Demokratie, sondern aus handfesten ökonomischen Interessen heraus - zu bewerkstelligen, hebt in einem expliziten Vergleich mit »kulturlosen Völkern« Ludwig Bondi in Krieg … hervor: Man könnte zwar sagen, diese Völker am Balkan sind Räuberhorden, die Raubzüge führen müssen wie Negerstaaten. Allein der Handel geht über diese Länder, die Kultur wird beeinflusst und außerdem gibt es doch unter den Räubern auch friedliche Elemente, die schwer geschädigt werden, wenn sie nicht schon umgekommen sind. Darum muss die Kultur eingreifen und ein Machtwort reden. 24 Die »kulturelle Mission«, die Bondi für Österreich-Ungarn aus dem Kriegszustand am Balkan ableitet, dient der eigenen Sicherheit. Solange der Warenfluss ohne den Balkan auskommen könnte beziehungsweise die »friedlichen Elemente« sich von selbst entfalten und durchsetzen könnten, wäre das Interesse an diesen Völkern und deren Kulturstand so gering wie an den genannten »Negerstaaten«. 23 Angesichts der Fülle an Literatur zu Cultural und Human Geography sei stellvetretend verwiesen auf: SHIELDS, Rob: Places on the Margin. Alternative Geographies of Modernity. London, New York: Routledge 1991, insbes. die Einleitung zu margin und periphery sowie das Kap. über Kanadas wahren Norden; HETHERINGTON, Kevin: The Badlands of Modernity. Heterotopia and Social Ordering. London, New York: Routledge 1997; BELL, Morage/ BUTLIN, Robin/ HEFFEMANN, Michael: Geography and Imperialism 1820-1940. Manchester: Manchester UP 1995; SLUYTER, Andrew: Colonialism and Landscape. Postcolonial Theory and Applications. Lanham, Boulder, New York, Oxford: Rowman & Littlefield 2002. 24 BONDI, Ludwig: Krieg … In: Den Modernen. Hg. v. Ludwig Bondi. Verantw. Red. Friedrich Dorfmeister. Wien: s. a. [1913], pp. 1 ff., hier p. 2. <?page no="317"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 317 Dabei steht im Hintergrund eine Auffassung, welche ›Kulturlosigkeit‹ absolut setzt. ›Kulturlose‹ Völker seien demnach nicht in der Lage, von sich aus Kultur zu entwickeln. Sie seien allenfalls imstande, Kultur nachzuahmen. 25 Die »Kultur«, die hier mit Vehemenz einzugreifen habe, bezieht sich in ihren Land erschließenden und Wirtschaft steuernden Formationen auf ein Bedeutungsfeld von Zivilisation, Modernisierung, technischen Errungenschaften; und ihre Protagonisten sind Militärs, Ingenieure, Politiker und Beamte. Eine so genannte Hebung der Kultur der ›indigenen Völker ‹ ist nicht gedacht; stattdessen sollen von außen, in diesem Fall aus Österreich-Ungarn kommende, Standards des effektiven Handels eingeführt werden, die gleichermaßen einen Ausbau der Straßen und Handelswege wie das diplomatische oder militärische Eingreifen bei kriegerischen Streitigkeiten unter den Völkern und die Beteiligung notwendiger Repräsentanten am Gewinn des Handels umfassen. 26 Auch das Negativ-Bild von Montenegro als »Land der ›Hammeldiebe‹« 27 erfreut sich in Wien einiger Beliebtheit und findet immer wieder Eingang in die Tagespresse. In ›verfeinerter‹ Form begegnet es uns als satirische Anspielungen auf Montenegro in Léhars Operette Die lustige Witwe (1905) wieder, die sich mit Namensgebungen wie »Letinje«, »Pontevedro« sowie gar »Danilo« und »Njegus« vollkommen im Offenen verbergen, was, wie Andrew Lamb anschaulich beschreibt, bei verschiedentlichen Aufführungen Proteste zur Folge hatte. 28 Weitere Belege finden sich unter anderem in dem Heft Den Modernen von Ludwig Bondi, in dem Josef Weinmann zwei satirische Gedichte, Was ist Kultur? und Nikita, veröffentlicht. Erweckt das Erstere noch den Eindruck, dass im Anti-Kriegs-Gedicht der Verfasser für die kleinen, wirtschaftlich unterlegenen Balkanstaaten Partei ergriffen wird, so rückt das Nikita-Gedicht diesen Eindruck wieder zurecht: 25 Von ihren Prämissen her scheint die besonders von Friedrich Wilhelm Hegel ausformulierte Evolutionstheorie der Kultur, welche keine rein kulturlosen Völker annehmen kann, sondern Entwicklungsstufen und -fähigkeit postuliert, ›wertneutraler‹ zu sein. Als Instrument von Imperialismus und Kolonialismus trifft dies jedoch nur auf die reine Prämisse zu. 26 Zu kulturimperialistischen Strategien und zum Zusammenwirkung von Kapitalisierung, Kulturimperialismus und Gewalt cf. SAID, Edward: Culture and Imperialism. London: Vintage 1991; HAMM, Bernd/ SMANDYCH, Russell (Hg.): Cultural Imperialism. Essays on the Political Economy of Cultural Domination. Peterborough et al.: Broadview 2005; GALTUNG, Johan: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus. In: SENGHAAS, Dieter (Hg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1971, pp. 29-104. 27 Cf. BREPOHL 1913, pp. 7 f.: »In der Regel stellt man sich unter Montenegro eine baumlose Steinwüste vor, […] bewohnt von einem verkommenen und verwilderten Hirtenvolk. Man ist der Meinung, daß jeder Montenegriner sich in einen Briganten und Wegelagerer verwandelt, sobald er Gelegenheit und Veranlassung findet; und man ist überzeugt, daß man auf Schritt und Tritt in jenem Lande seines Lebens nicht sicher sei. Diese Vorstellung ist durchaus irrtümlich […] Dasselbe gilt von der Fabel von dem Lande der ›Hammeldiebe‹. […] In Türkenkämpfen haben die Montenegriner früher zwar oft Grausamkeiten verübt […]. Die heutigen Montenegriner deshalb als ›Räuberhorden‹ zu bezeichnen, wie verschiedene deutsche Schriftsteller es tun, ist durchaus ungerecht.« 28 Cf. LAMB, Andrew: Lehár’s Die Lustige Witwe - Theatrical Fantasy or Political Reality? In: http: / / www. josef-weinberger.co.uk/ mw/ politics.html (2004). <?page no="318"?> 318 Ursula Reber Kennst du der schwarzen Berge Gipfel Und ihrer Aecker schwache Triebe? Es ist ein winzig Erdenzipfel: Das Heimatland der Hammeldiebe. Dort herrscht in einem kleinen Häuschen Voll kecken Muts ein Nikoläuschen. Klein ist das Land und klein die Zahl Der Räuberhelden, die da streiten. Doch ist die Raublust kolossal Und nur ein Räuber kann sie leiten. Es hat das Volk den Meister ja Im Räuberhauptmann Nikita. […] 29 Weinmann bearbeitet in der Verniedlichung und Verharmlosung des »Nikoläuschen« den Stoff der nachbarschaftlichen Territorial- und Einflusskämpfe possenhaft-abwertend. 30 Obwohl auf Grund der spärlichen Quellenlage generell keine deutliche Unterscheidung zwischen österreichischen und deutschen Reisebüchern zwischen 1870 und 1914 getroffen werden kann und es durchaus Sinn macht, wie Konstantinovic von einer deutschsprachigen Reiseliteratur zu sprechen, ist dennoch auffällig, dass sich vor allem deutsche Gelehrte und Reisende gern als Anwälte der Modernität Montenegros sehen. Im Gegensatz zu ihren österreichischen Nachbarn, die wohl auf Grund ihrer eigenen wirtschaftlichen Territorialinteressen gerade die technologische Zurückgebliebenheit der südslavischen Länder und Regionen hervorkehren, betonen sie gerne die kulturellen ›Errungenschaften‹ des Landes. So verurteilt der deutsche Journalist und spätere Sozialforscher Friedrich Wilhelm Brepohl 1913 die Vorurteile gegen Montenegro, die er als Abneigung gegen die slavischen Völker verbucht, und ruft, nicht ohne das bereits langatmig gewordene Loblied montenegrinischer Kriegstüchtigkeit zu singen, in Erinnerung, »daß dieses Land noch gar nicht lange erst die Segnungen des Friedens und damit einer ungestörten Entwicklung genießt« 31 . Von den Volksbibliotheken über die erste Presse kyrillischen Alphabets bis zur allgemeinen Schulpflicht führt er sodann all die Errungenschaften einer allgemeinen und human(istisch)en Kultur in Montenegro an. Brepohl reiht sich unter die Zahl jener, die in Montenegro eine Form der ungetrübten, ursprünglichen Volkskultur zu finden meinen. Als Spezifikum gilt zu vermelden, dass diese Volkskultur sich für Brepohl nicht aus einer entlegenen Vergangenheit herleitet, sondern 29 BONDI 1913. Die Datierung resultiert aus der Anspielung der internationalen Flottendemonstration gegen Montenegro. 30 Diese Tendenz des Satirisch-Possenhaften fand bereits früher reichlich Nahrung in Spiridon Gopčevics persiflierender Behandlung der montenegrinischen Geschichte und der türkisch-montenegrinischen Kriege in seiner 1877 verlegten Monografie Montenegro und die Montenegriner. Gopčevic hatte seine Dienste dem Königshaus in Montenegro angetragen; die ihm zugeteilte Aufgabe konnte er jedoch nicht lösen. Außerdem war er selbst als Journalist für einige Wiener Blätter tätig, später für das Berliner Tagblatt. Cf. dazu KONSTANTINOVIĆ 1960, pp. 120-123. 31 BREPOHL 1913, p. III. <?page no="319"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 319 sich - manchmal trotz der eigenen blutigen Geschichte - erst in der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart entwickelt hat. Das »innerliche Erstarken« sei dabei jedoch wichtiger als die Modernisierung durch »technische Errungenschaften«. 32 Andere, wie der ebenfalls deutsche Reiseschriftsteller, Publizist und Geograf Hugo Grothe (1869-1956), der im Kriegsjahr 1912 zu ethnologischen Zwecken Reisen durch Montenegro und Albanien unternahm, stellen sich offen in den Dienst wirtschaftlicher und damit ›kultureller‹ Interessen an diesen Ländern. Grothe hält im Vorwort zu seinen Reiseeindrücken und Reportagen, die zunächst in der Kölnischen Zeitung erschienen, 33 mit soziologischem Blick fest, dass auch Deutschland wirtschaftliche Interessen in Montenegro verfolge. Er plädiert für eine gemeinsam mit Österreich durchzuführende Erschließung Montenegros und Albaniens. Grothe hat allerdings im Gegensatz zu Brepohl weniger kulturelle Institutionen im engeren Sinn, wie Bildungseinrichtungen, vor Augen als vielmehr die Erschließung einer forstwirtschaftlichen Nutzfläche und die Ausweitung und Verbesserung des Handels- und Schienennetzes: 34 An dieser Eröffnung der vorhandenen Hilfsquellen, bei der vor allem auch Bahnbauten eine Rolle spielen werden, an der Seite Österreich-Ungarns mitzuarbeiten, sollte Deutschland nicht zögern. Hat es doch bereits in Makedonien eine wichtige Bahnspur, die von Saloniki nach Monastir, gebaut, deren Fortführung durch Albanien nach der Adria […] entschieden erstrebt werden müßte. Im mittleren Albanien könnten Österreich-Ungarn und Italien unbedenklich Deutschland zum Danke für die als Dreibundmacht geleistete moralische Hilfe eine reichere wirtschaftliche Betätigung überlassen. 35 Grothe beschließt diese patriotischen Betrachtungen im Vorwort damit, dass »der Krieg auf der Balkanhalbinsel unstreitig zivilisatorische Fortschritte im Gefolge [hat] und sich dort vielversprechende Pforten für die verdienstlichen 32 Ibid., p. IV. 33 Cf. dazu KONSTANTINOVIĆ 1960, p. 136. Zur pro-albanischen Tendenz von Grothes Reportagen, die im Kontext einer vorherrschenden anti-slavischen Haltung unter den Deutschen stehen, hält Konstantinovic ibid. fest: »So sehen wir bei Grothe weder Ironie noch Spott auf Kosten der Montenegriner, er spricht sogar von einer ausgeprägten physischen Schönheit dieses Volkes, aber er vertritt vollständig die albanischen Interessen, denn die Albaner sind für ihn der natürliche Damm gegen das weitere Vordringen der Slawen, und dieses Vordringen muß auch auf einer solchen peripheren Stelle, wie dies Montenegro ist, verhindert werden.« 34 Grothe hatte sich in der Orientgesellschaft und der Vorderasienkommission stets für den Bau der Badgad-Bahn eingesetzt. 35 GROTHE, Hugo: Durch Albanien und Montenegro. Zeitgemäße Betrachtungen zur Völkerkunde, Politik und Wirtschaftswelt der westlichen Balkanhalbinsel. Mit 71 photographischen Original-Aufnahmen, 2 Skizzen und 2 Karten im Text. München: Martin Mörikes Verlag 1913, pp. 7 f. Zur Tätigkeit und Biografie des Geografen und Orientforschers Hugo Grothe (1900-1912 Generalsekretär der Münchner Orientalischen Ges., ab 1908 Leiter des Dt. Vorderasienkommittees) cf. KAISER, Hilmar: Imperialism, Racism, and Development Theories. The Construction of a Dominant Paradigm on Ottoman Armenians. Ann Arbor: Gomidas Inst. 1997, pp. 15 f.; GENCER, Mustafa: Bildungspolitik, Modernisierung und kulturelle Interaktion. Deutsch-türkische Beziehungen (1908-1918). Berlin et al.: LIT 2002, pp. 192 ff. <?page no="320"?> 320 Ursula Reber Leistungen des Kapitals, der Technik und des Einzelpioniers, der das Volks- und Wirtschaftsleben jener Gebiete zu erkunden hat« 36 erschließen. Der Erste Balkankrieg (1912/ 13) war in Allianz von Serbien, Montenegro und Bulgarien gegen das Osmanische Reich gerichtet. Montenegro erhoffte sich wesentliche urbane Gebietserweiterungen, namentlich Prizren und Scutari/ Shkoder; doch konnten die kleinen balkanischen nationalen Akteure nicht ohne ihre Allianzen zu Russland, Österreich-Ungarn, Italien, Frankreich und Großbritannien handeln. Allein finanziell, aber auch was Waffen und Munition anbelangte, standen sie in signifikanter Abhängigkeit von den europäischen Mächten. Dementsprechend schätzt Grothe die möglicherweise vorteilhaften Ansatzpunkte des pro-osmanischen Deutschlands bei der Steuerung des Krieges und vor allem bei seiner Befriedung und den wirtschaftlich und expansionistischen Aktivitäten beim Wiederaufbau ein. Der Krieg könnte, bei einer gesteuerten Niederlage der Balkanstaaten, in der Tat dazu dienen, nicht nur den imperialen Status quo zu erhalten, sondern ihn zu Gunsten eines vergrößerten Einflusses und ökonomischen Gewinns Deutschlands auch zu verändern. Grothe stellt zwar im Folgenden die Möglichkeiten für Kapital und Technik nicht in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, sondern hält seinen Bericht tagebuchartig intim und persönlich, doch spricht aus den Schriften auch das Bewusstsein der eigenen »Pioniertat«, persönlich in unmittelbarer Nachbarschaft der geschichtsträchtigen Geschehnisse zu sein. Zivilisation und Kultur werden im Aufbruch der Moderne als eine fortschreitende Revolution angesehen. Ihre Errungenschaften gehen auf Grund dieser ›natürlichen‹ Verbindung mit Umsturz und Umwälzung mit Krieg einher. Krieg ist damit eine Zivilisierungstechnik. 37 Es ist in diesem Zusammenhang nachvollziehbar, dass Grothe, auch wenn dies begrifflich gesehen jeder Grundlage entbehrt, 38 Bosnien, das Durchgangsland zu Montenegro, als »Österreich-Ungarns europäisches Kolonialland« bezeichnet. 39 Im und nach dem Krieg wird ›Kulturarbeit‹ geleistet, ohne welche das kolonialisierte Land kaum bestandsfähig wäre. Ganz in diesem Sinne lenkt Grothe seinen erinnerten und erzählten Blick auf »hervorragende technische Leistungen« wie »Bosniens 1907 eröffnete Ostbahn«, deren Planung und Bau strategisch begründet war und deren Bedeutung erst im Krieg zum Tragen kam. 40 Der Krieg, auf den Grothe hier Bezug nimmt, meint die 36 Ibid., p. 8. 37 Cf. beispielsweise Cetinjer Zeitung 2/ 48 v. 28.1.1917, p. 1: »Der Krieg zerstört nicht nur, er baut auch auf, und ist oft ein bedeutsamer Kulturträger.« 38 Cf. RUTHNER, Clemens: K. u. K. ›Kolonialismus‹ als Befund, Befindlichkeit und Metapher: Versuch einer weiteren Klärung. In: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner3.pdf v. 29.1.2003. 39 GROTHE 1913, p. 14. 40 Ibid. Cf. zur kriegstechnischen Bedeutung der Eisenbahn, der die ökonomische nachfolgt auch KOLM, Evelyn: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus. Frankfurt/ Main: Peter Lang 200 (Europäische Hochschulschriften 3/ 900); PLASCHKA, Richard G. (Hg.): Eisenbahnbau und Kapitalinteressen in den Beziehungen der österreichischen und der südslavischen Länder. Wien: ÖAW 1993. Aus früheren Projektarbeiten cf. REBER, Ursula: Peripheral Concerns/ Concerns of the Periphery. Tempting Territories of the Balkans. In: www.spacesofidentity.net, Vol. 2, Iss. 4 <?page no="321"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 321 Annexion Bosniens und der Herzegovina durch Österreich-Ungarn. Die Annexion ähnelte tatsächlich einem Krieg, da der Widerstand bei weitem umfassender, heftiger und länger anhaltend war, als erwartet. 41 Den allmählichen Zusammenbruch einer lang gepflegten phantasmatischen kulturellen Geografie bildet lebhaft und deutlich die in den Jahren 1916 bis 1918 vom K. u. k. Militär-Gouvernement in Cetinje herausgegebene Cetinjer Zeitung ab. Die Phantasien sowohl über die uneinnehmbare Felsenburg Montenegro als auch über die kolonialistisch-kriegerische Friedensmission Österreich- Ungarns treten in der ersten Ausgabe der Zeitung gleichermaßen zutage: Der Lovčen, das für unüberwindlich gehaltene Bollwerk der schwarzen Berge, war von unseren Landsturmtruppen erstürmt worden. Dem Einmarsch in die Hauptstadt Montenegros, das sich in vollkommener Verkennung der Verhältnisse, den zahlreichen Feinden unserer Monarchie im Sommer 1914 angeschlossen hatte, stand nichts mehr im Wege, und am 14. Jänner 1916 besetzten unsere Soldaten Cetinje. […] Auf den Tag genau sind es demnach heute sieben Monate, seitdem Oesterreich- Ungarn, obzwar noch immer kämpfend in Nord und Süd, ein Friedenskulturwerk begonnen hat, um dem schwergeprüften, unter der Last eines vierjährigen Krieges niedergebrochenen Volke wieder die Segnungen des Friedens, der Ordnung und der Ruhe zu bringen. 42 (2002) sowie DINHOBL, Günter: »… die Cultur wird gehoben und verbreitet«. Eisenbahnbau und Geopolitik in »Kakanien«. In: HÁRS, Endre/ MÜLLER-FUNK, Wolfgang/ REBER, Ursula/ RUTHNER, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen, Basel: Francke 2006 (Herrschaft - Kultur - Differenz 9), pp. 79-96. 41 Cf. dazu am Beispiel der rigiden Herrschaftspraktiken des bereits früher angeführten Frh. Stjepan v. Sarkotić in Bosnien-Herzegovina: PLASCHKA, Richard Georg: Zwei Südslawen an der Schwelle von 1918. In: DERS./ HASELSTEINER, Horst (Hg.): Nationalismus, Staatsgewalt, Widerstand. Aspekte nationaler und sozialer Entwicklung in Ostmittel- und Südosteuropa. Wien: Verlag für Geschichte u. Politik 1985, pp. 324-333. Zum Besetzungskrieg cf. zudem MALCOLM, Noel: Bosnia. A Short History. New York: Pan Macmillan 2002 [EA 1994]. 42 Die Ziele unserer Verwaltung in Montenegro. In: Cetinjer Zeitung 1/ 1 (1916), p. 3. Für absolut uneinnehmbar galt Cetinje beispielsweise für: RÜFFER, Eduard: Eine strategische Studie über Dalmatien, Montenegro, Bosnien und die Hercegovina. Mit einer Karte des Insurrections-Schauplatzes. Prag: H. Carl J. Satow 1870; SCHÖN, Josef: Montenegrinische Kriegführung und Taktik. Nachdr. eines im Organ der militär-wissenschaftlichen Vereine, I. Band (1898), erschienen Aufsatzes von Hauptmann Josef Schön des Generalstabskorps (jetzt Kommandant des Infanterieregiments Erzherzog Carl Nr. 3). Mit 1 Skizzentafel. Wien: Seidel & Sohn, k. u. k. Hofbuchhändler 1909 (Sonderabdr. aus Streffleurs Militärischer Zeitschrift, zugleich Organ der militärwiss. Vereine. (1909), I. Bd. 2. H. - Red. V. Major Viktor Grzesicki), p. 28; sowie in: Serbiens und Montenegros Untergang. Ein Beitrag zur Geschichte des Weltkrieges von Oberst Immanuel. Mit einer Übersichtskarte und 8 Zeichnungen im Text. 2. Aufl. Berlin: Ernst Siegfied Mittler und Sohn Königliche Hofbuchhandlung 1916, p. 68 u. p. 72: »Die Hauptentscheidung aber fiel am Lovčen, der am 11. Januar [1916] gestürmt wurde. […] Die Forts von Cattaro und die in der Bucht liegenden österreichisch-ungarischen Kriegsschiffe hatten bei der Beschießung mitgewirkt und die Durchführung eines Angriffs ermöglicht, der bisher für unmöglich gegolten hatte und der Leistungsfähigkeit unserer Verbündeten unter den allerschwierigsten Verhältnissen das glänzendste Zeugnis ausstellt. […] Bisher hatte das kleine Bergland wegen seiner Unzugänglichkeit als unangreifbar gegolten. Die tapferen und zähen österreichisch-ungarischen Truppen haben mitten im Winter binnen weniger Wochen einen glänzenden Gegenbeweis geführt. Von drei Seiten umfaßt und von der See abgeschnitten, mußten sich die Montenegriner dem siegreichen österreichisch-ungarischen Heere Mitte Januar 1916 bedingungslos unterwerfen.« Cf. zum Komplex der Militärphantasien REBER, Ursula: Habsburgische Begegnungen mit nomadischen Kriegerstämmen. Montenegro als strategischer Schauplatz. In: RUTHNER, Clemens/ REYNOLDS, Diana/ REBER, Ursula/ DETREZ, Raymond (Hg.): Wechselwirkungen. The Political, Social and Cultural Impact of the <?page no="322"?> 322 Ursula Reber Mit Vehemenz wird hier das österreichisch-ungarische Friedens- und Kulturwerk in Montenegro samt seiner Vorgeschichte beschworen, vor dessen Hintergrund die montenegrinische Bevölkerung neu kartografiert und charakterisiert wird. Die Cetinjer Zeitung zeichnet das Bild eines in engerem Sinne kulturell reichen Landes, das nicht nur mit Bodenschätzen, sondern auch mit architektonischen und folkloristischen Besonderheiten und Sehenswürdigkeiten aufwarten kann. Andererseits wird die Härte der zu leistenden Kulturarbeit mit dem in Montenegro mangelnden Sinn für Disziplin kontrastiert. Die Qualitäten eines modernen Staates, die geregelte Bürokratie und Verwaltungsmaßnahmen, die Arbeitsmoral, der Sinn für Bürgerpflichten, die nicht im Dienste von Familien und ›Stämmen‹ stehen, 43 der Dienst an einer größeren Allgemeinheit werden von der neuen Verwaltungsmachtschmerzlich vermisst. So lautet ein Auszug aus einer auch hier abgedruckten öffentlichen Verlautbarung der Militärverwaltung: 44 Die einzige Arbeit, die der Montenegriner für die Allgemeinheit bis jetzt leistete, war die mit dem Gewehr. Schritt für Schritt muß ihm die Erkenntnis beigebracht werden, daß er auch für sich arbeitet, wenn er seine Arme außerhalb seines Hauses in Bewegung setzt. Der Soldat Habsburgs wird da vor allem zum Erzieher. 45 Aufrufe an die montenegrinische Bevölkerung, die diese dazu mahnen, ihre Steuern zu zahlen, ihrer Arbeit nachzugehen, den Frieden zu wahren etc., wechseln sich mit Stadtansichten ab, die durchwegs Bilder des Vorher und Nachher gegenüberstellen, in denen nicht nur implizit, sondern auch explizit die Kulturarbeit der Militärverwaltung hervorgehoben wird, so im Bereich der Verkehrswege 46 , der Hygiene und der Krankenversorgung und im Bereich der Grundversorgung mit Lebensmitteln sowie der Förderung des Ackerbaus. 47 Angesichts der Leserschaft, die vor allem aus österreichisch-ungarischen und anderen Militärs bestanden haben dürfte, ist nicht unbedingt klar, inwieweit die strenge Einhaltung klassischer imperialistischer und kolonialistischer Themen der kulturellen und zivilisatorischen Erziehung unbedingt notwendig war. Jedenfalls entspricht diese Form der Selbstdarstellung als Erzieher und Wohltäter der Okkupierten bereits der Vorgehensweise im Falle der Vermarktung und Rechtfertigung der Austro-Hungarian Occupation of Bosnia-Herzegovina (1878-1918). New York e. a.: Peter Lang 2009 [in Vorb.]; sowie in: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ UReber4.pdf v. 19.9.2006. 43 Cf. Cetinjer Zeitung 2/ 118 v. 30.9.1917 konstatiert das Schwinden der Familiengemeinschaft bzw. Hausgemeinschaft. Auch dies ist ein Schritt in Richtung Modernität von Kulturstaaten. 44 In der Ausgabe 1/ 12 v. 24.9.1916 wird wortreich die Faulheit der Montenegriner beklagt; es ist gar von »Arbeitsflucht« die Rede. Weiters heißt es: »Wieder ist es Oesterreich-Ungarn vorbehalten geblieben, ein Balkanland der Industrie, dem Handel, dem Weidmann und dem Touristen zu erschließen.« - Cf. zu den Leistungen der Militärverwaltung den ehemaligen k. u. k. Offizier KERCHNAWE, Hugo: Die Militärverwaltung in Montenegro und Albanien. - Die Militärverwaltung in den von österreichisch-ungarischen Truppen besetzten Gebieten (Generalschriftl. James T[homson] Shotwell. Wien: Hölder 1928. 45 Cetinjer Zeitung 1/ 16 v. 8.10.1916, p. 1 unter der Rubrik Das Podgorica von heute. 46 Cetinjer Zeitung 1/ 3 v. 24.8.1916. 47 Cetinjer Zeitung 1/ 3 v. 24.8.1916 u. 1/ 16 v. 8.10.1916 über entsprechende Maßnahmen wie die Einrichtung eines Krankenhauses, Wasserprüfungen, Impfungen und die Ausrottung von Seuchen und Epidemien in Podgorica. <?page no="323"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 323 Fremdverwaltung und Annexion von Bosnien-Herzegovina. Im Gegensatz jedenfalls zu Letzterer scheint die Verwaltungszeit in Montenegro deutlich ›friedlicher‹ verlaufen zu sein, auch wenn dies von der Besetzung eines Landes im Anschluss an einen Weltkrieg in keinem Fall gesagt werden kann. 48 Dass die soldatische k. u. k. Erziehungs- und Kulturarbeit in Montenegro nicht weniger heroisch, als die Bezwingung des Lovčen ist, wird anhand des folgenden Manifests, das den MontenegrinerInnen schon zu einem so frühen Zeitpunkt der Besatzung, im Oktober 1916, die Kulturfähigkeit abspricht, deutlich: Es kann also nur der arbeitende Mensch eine Kultur haben, arbeiten aber im weitesten Sinne und seinem ureigenstem Wesen nach heißt die nötige und zweckentsprechende Umformung der für die Erhaltung und Entwicklung des Menschen gegebenen natürlichen Mittel. Daraus geht aber hervor, daß eine tieferstehende Kultur nicht ihren Grund in der Armut eines Volkes hat, sondern nur im Mangel dessen, was das Wesen der Kultur bildet, d. i. im Mangel einer zweckbewußten Tätigkeit im Interesse der eigenen Erhaltung und Fortentwicklung. […] Es ist wohl richtig: Wäre der Montenegriner im gegebenen Moment an den Tiber gekommen, so hätte er Rom begründet; aber auch das Umgekehrte ist richtig: Käme heute ein Volk, ausgestatten mit dem heutigen menschlichen Gemeingut an geistigen Mitteln, nach Montenegro, es würde sich ganz andere Lebensmöglichkeiten schaffen, würde sich in ganz anderen wirtschaftlichen Formen bewegen als der heutige Montenegriner. […] Auch die beste Verwaltung eines Landes kann selbst mit Zwangsmaßregeln nichts Bleibendes und Dauerndes ausrichten […], sie kann Vieles, aber ein Volk gegen seinen Willen zum Fortschritt zwingen kann sie nicht. […] Vor allem also richtet sich unser Appell an die geistigen Führer des montenegrinischen Volkes: Fasset Vertrauen und verbreitet das Lob der Arbeit! Saget den Montenegrinern, daß Arbeit nicht entehrt. 49 Deutlich erkennbar hadert die Verlautbarung mit dem montenegrinischen Selbstbewusstsein, was zu der Aussage führt, dass die MontenegrinerInnen Rom hätten gründen können. Worauf es bei dieser Parallelisierung von Rom und Cetinje jedoch ankommt, ist die Wendung »zum gegebenen Zeitpunkt«. Bemerkenswert 48 ROBERTS 2007, p. 318, verweist auf ĐILAS, Milovan: Land without Justice (1958), zugänglich unter www.archive.org/ details/ milovandjilaslan012052mbp. Đilas beschreibt in seinem spezifischen Kontext, der eine Fortschreibung des Mythos der Berghelden und eines urtümlichen Patriarchalismus ist, die Flucht der »aufrechten Männer« und die Mithilfe der »servilen« Charaktere bei der Militärverwaltung. Brutalitäten und Demütigungen gegenüber Montenegrinern konstatiert er allein als Reaktion auf die niedergeschlagene Rebellion von Vešović, auf die ich an anderer Stelle eingehe: »It was this, in fact, that brought on the really severe occupation arrests, internment, and hangings.« (p. 61) »On the contrary, with this the peoples’ resistance to the Austrians really began, this and the Austrians’ acts of violence and brutality. First they hanged three Montenegrins on a bare hill overlooking Kolašin. One of them had been educated, and was charged with inciting resistance. The second was Radomir Vešović’s brother. The third was an aroused and unsubmissive peasant. The black shadows of the corpses on the high gallows lay across every soul throughout Montenegro. […] After that nobody could trust the Austrians. Everyone could expect to be interned or mistreated, if not strung up first. Soon all came to know the names of those Austrians who committed the worst acts of brutality. But the names of the guerrillas who comforted themselves and the people were also known. In our district two such Austrians were known by their ill repute Krapez and Bilinegije; and two rebels by their good repute Nedeljko Bosnjak and Todor Dulović« (p. 63). 49 Cetinjer Zeitung 1/ 19 v. 19.10.1916. <?page no="324"?> 324 Ursula Reber ist die ungebrochene Verleugnungsstrategie ebenjener ›gegebenen Umstände‹, welche aus einem durch Kriegsverluste dezimierten Volk, dessen Regierung sich ins Exil geflüchtet hat und das unter Fremdherrschaft steht, während im restlichen Europa der Erste Weltkrieg um den Erhalt von Imperien beziehungsweise um nationale Selbstbestimmung und um weitreichende Territorien geführt wird, ein anachronistisches, zivilisationsunfähiges Überbleibsel macht: Ein Volk wie die MontenegrinerInnen passen an die Anfänge der Zivilisation in eine Zeit vor Christus, als Soldatenvölker noch ihre Berechtigung hatten, jedoch nicht in die gegenwärtige Zeit der disziplinierten Arbeit und Zivilisation. In der gegenwärtigen Zeit und unter den gegebenen Bedingungen haben sie, so bescheinigt der Erlass, versagt. Einen impliziten Gegensatz zu den kulturunfähigen MontenegrinerInnen bildet ganz offensichtlich die Stadtansicht Schkodra, in der unter Umkehrung aller gängigen Topoi Dankbarkeit, Fleiß, Einsichtsfähigkeit und Unterordnung unter die österreichisch-ungarische Militärverwaltung seitens der AlbanerInnen betont werden. Shkodër/ Scutari war der Ort, an dem die habsburgische Besatzungs- und Verwaltungsmacht gemeinsam mit den albanischen EinwohnerInnen die Spuren montenegrinischer Zerstörungswut beseitigte: Unter den öffentlichen Bauten hat besonders die Kathedrale des heil. Antonius gelitten, da die Montenegriner vom Tarabosch auf sie unzählige Granaten abgefeuert hatten. Sie waren benachrichtigt worden, daß sich in der Kathedrale große Mengen von Munition befänden, während dagegen in der Kirche hunderte von Weibern und Kindern Schutz für sich und ihre Habe suchten. 50 Ebenso wie in der Schilderung der albanischen Tatkraft beim Wiederaufbau und des »unverholene[n; sic] Stolz[es]« über den Aufschwung Shkodërs bleibt auch in der Schilderung dieser Kriegsgräuel ein direkter Vergleich unausgesprochen. Vor dem Hintergrund der vorherigen imaginären kulturellen Geografie, die Albanien gegenüber dem Nachbarn Montenegro bereits tief in den Orient und eine barbarische Urzeit verschoben hatte, und im Kontext der gesamten Zeitschrift tritt das tertium comparationis der Kulturfähigkeit ohnehin offen zutage. Dass hier ›dem Albaner‹ eine weitaus höhere Kulturfähigkeit zugeschrieben wird, liegt vor allem darauf begründet, dass ›der Albaner‹ »selbst ein[sieht], daß alles, was geschah, nur seiner Wohlfahrt dient«, woraus sein Eifer in der Mitarbeit erwachse. Es entspricht jedoch auch der traditionellen Sichtweise von Albanien als einer besonderen Schutz- und Interessenzone Österreich-Ungarns, während Montenegro als Feind begriffen wird. 51 50 Cetinjer Zeitung 1/ 13 v. 28.9.1916, p. 1. 51 Albanien wurde von österreichisch-ungarischen Politikern als Schutzzone und Bollwerk gegen die slavischen Völker, namentlich gegen die Serben angesehen. Davon zeugt auch das Protokoll des zu Wien am 7. Jänner 1916 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten, unter dem Vorsitze des Ministers des K. u. k. Hauses und des Äußeren, Baron Burián, zugänglich unter: ›http: / / www.forost.ungarisches-institut.de/ pdf/ 19160107-1.pdf‹. <?page no="325"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 325 Die ganz pragmatischen Schwierigkeiten der »Ordnungsmacht«, die allenthalben hinter den wieder aufgenommenen Stereotypien des montenegrinischen Primitivismus, der Faulheit, 52 des mangelnden Innovationswillens und der orientalischen Gesellschaftsstruktur aufschimmern, erlauben einen Blick auf die zunehmende Zerrüttung der gewohnten kulturellen Geografie, wie sie in den vorangegangenen Jahren durch ReiseschriftstellerInnen und Journalisten etabliert worden war. Der vorgefundenen Armut und kulturellen Diversität, der Gesellschaft im Ausnahmezustand in der Okkupation wird jedoch auch mit neuen Territorialisierungen begegnet. Das Romantische, Unbekannte des »Wilden Ostens« - das nach dem sächsischen Afrikaforscher Bernhard Schwarz (1844-1901), »ja das menschliche und vorzugsweise das germanische Naturell [reizt], zumal wenn es […] mit dem Glorienschein heroischer Grösse umgeben sich darstellt« 53 - zerfällt in schwer durchschaubare Familien- und Allianzstrukturen, in irrationalen Widerstand gegen Zivilisation und Arbeit und die alltäglichen Mühseligkeiten, sich sprachlich, kulturell und symbolisch verständlich zu machen. In den journalistischen und essayistischen Abteilungen der Zeitung, vor allem innerhalb der so genannten Momentbilder wird das kulturell Andere vorwiegend mit Ironie behandelt. Es finden sich sowohl Distanzierung als auch Annäherungs- und Verständniswille, der allerdings auch in pure Romantisierung ausarten kann. Die Cetinjer Momentbilder. Die Kaffeehäuser 54 , von einem gewissen Dr. Hage unterzeichnet, verfolgen eine Form der distanzierten Ironie, die manches Mal an Herablassung grenzt. Der Verfasser leitet seine Momentaufnahme mit einem unverhältnismäßigen Vergleich ein, indem er Cetinje mit Budapest gleichsetzt - was die Anzahl seiner Kaffeehäuser anbelangt. Die Absurdität des Städtevergleichs zeigt sich, wenn die Cetinjer Cafés mit privaten Stuben auf primitivster Stufe gleichgesetzt werden. Der private Raum wird wie ein öffentlicher behandelt, in dem Männer ein und ausgehen, sich zum Spielen, Rauchen, Reden und Kaffeetrinken versammeln. Lediglich dem Brauch, dass Frauen hier nicht zugelassen sind, »ein rein orientalischer Zug des montenegrinischen Gesellschaftslebens, an dem sie übrigens nur weiter festhalten mögen«, gewinnt der Verfasser etwas Verständliches und Erstrebenswertes ab: »In dieser Beziehung sollen sie von Westeuropa nichts lernen und nichts hinübernehmen.« Die Art und Weise, Schach zu spielen, die nicht auf das Gewinnen, sondern auf Geselligkeit abzielt, gibt er hingegen, wenn auch verhalten, dem Spott preis. Weniger verhalten charakterisiert er das ihm Unverständliche, das Festhalten am Betreiben eines sol- 52 Cf. Der Herbstanbau. Eine Mahnung an die Bevölkerung. In: Cetinjer Zeitung 1/ 17 v. 12.10.1916, - »Die Zeit des Nichtstuns ist ein für allemal vorbei. Wer sich nicht selbst hilft, dem wird auch kein anderer helfen. […] Reichtum und Wohlstand kann nur durch Arbeit und niemals durch Politik erworben werden. Nicht die Größe des Landes, sondern der Fleiß des Volkes in der Bearbeitung des Bodens, im Handel und Gewerbe« - bleibt nicht singulär. Ähnliche Mahnungen, beim Straßenbau zu helfen, den Handel nicht zu unterminieren, etc. reihen sich aneinander. 53 SCHWARZ 1888, p. 2. 54 Die folgenden Zitate aus: Cetinjer Zeitung 1/ 17 v. 12.10.1916, p. 1. <?page no="326"?> 326 Ursula Reber chen Kaffeehauses, auch wenn keine Gäste kommen und kein Gewinn abspringt, als »unverkennbar fatalistisch« und damit echt orientalisch: »Der Montenegriner aber hat unzweifelhaft von allen Slaven den stärksten und unverkennbarsten orientalischen Einschlag.« Auffällig ist an dieser kleinen Reportage, dass dem Verfasser sozusagen reiner Müßiggang mit ausschließlich geselligem Aspekt, das Teilhaben an einer nichtkompetitiven Öffentlichkeit ins Auge springt. Darunter fällt sowohl das nichtkompetitive Schachspiel als auch der nicht gewinnorientierte Kaffeehausbetrieb. Diese Form der Öffentlichkeit, die abgeschlossene Privatheit nicht zulässt und eine Gemeinschaft ohne Effizienz verkörpert, widerspricht den Grundlagen der kapitalorientierten eigenen Kultur. Im Versuch, dies einzuordnen, qualifiziert der Schreiber diese Momente als »orientalisch«, was Kulturferne und Fremdheit mit impliziert. Dem weit reichenden Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben und darüber hinaus ihrer Unterdrückung durch den männlichen Bevölkerungsteil kann der Verfasser der Cetinjer Momentbilder. Der Markt 55 hingegen wenig Attraktives abgewinnen. Das mit den Jahren gleichfalls bereits emblematisch gewordene Bild der frühzeitig gealterten, unattraktiven Montenegrinerin, die die wenigen Habseligkeiten schleppt, während auf dem von ihr mitgeführten »elenden Schindmähre«, auf der »in seinem goldgestickten Festgewande ihr Herr und Gebieter [reitet], gemächlich seine Zigarette [raucht] und vor dem unerträglichen Sonnenbrand Schutz hinter dem aufgespannten Regenschirm [sucht]«, wird als Zeichen einer unmodernen und ›groben‹ Kultur weiter gepflegt. Mit großem Ernst hingegen gehen Artikel repräsentativerer Natur, vor allem in den illustrierten Ausgaben, die als Wochenendausgaben weniger Informations-, sondern viel eher Aufklärungsarbeit und Unterhaltung leisten, an kulturelle Diversität heran. Als Beispiel sei der Beitrag Irrige Vorstellungen über das moslemische Frauenleben genannt, dessen Korrekturen jener Irrtümer programmatisch folgende Worte vorangestellt sind: Die durch so viele Waffentaten im Felde unverbrüchlich gefestigte Annäherung zwischen Oesterreich-Ungarn und seinen Verbündeten macht es uns zur Pflicht, auch das kulturelle Leben der mit uns streitenden Völker und Rassen näher kennen zu lernen, wobei manche durch Ueberlieferung bisher bewahrte irrige Meinung korrigiert werden kann und muß. 56 Die offiziellen Teile der Zeitung stellen sich also jederzeit und ohne Ausnahme - auch bei so heiklen Themen wie dem Islam und Genderfragen - in den Dienst der »Aufklärung«, die in diesem Falle einer Pflichtenethik auf der Grundlage von Loyalitäts- und Bündnisverhältnissen beruht. Die folgenden Ausführungen widerstreiten dem emanzipatorisch ausgerichteten Vorwurf der Unterdrückung von Frauen im Islam durch die religiös verankerte Hintanstellung, die Verpflichtung zur Verschleierung und die Institution des Harems. In bestem aufklärerischem 55 Dieses und folgende Zitate aus: Cetinjer Zeitung 1/ 28 v. 19.11.1916. 56 Illustrierte Cetinjer Zeitung. Sonntagsbeilage der Cetinjer Zeitung 1/ 3 v. 17.12.1916. <?page no="327"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 327 Wohlmeinen, das den türkischen Gelehrten Halid Bey zitiert, werden alle diese Punkte in »Schutzmaßnahmen« umgedeutet: Die Hintanstellung wird ökonomisch gedeutet; der Frau wird eine doppelte finanzielle Sicherheit verbürgt; der Schleier ist eine Schutzmaßnahme vor sexuellen Übergriffen; die »Vielweiberei« garantiert, dass in der muslimischen Gesellschaft keine illegitimen Kinder aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden müssen. Am Rande sei bemerkt, dass, obwohl beim letzten Punkt ganz offen im Namen des muslimischen Vaters argumentiert wird, dem die »Unannehmlichkeit« »erspart« werden soll, ein uneheliches Kind als »sein eigen Fleisch und Blut anerkennen zu müssen«, die zirkuläre Logik sexistisch-männlich zentrierten Denkens nicht auch nur annäherungsweise erkannt würde. Dass das Fremde und Ungewohnte, das den im eigenen Kulturkreis Befangenen häufig als widersinnig und unzivilisiert erscheint, durch Analogien oder die Einkleidung in nachvollziehbare Argumentationsstrukturen gezwängt werden, stellt nichts Außergewöhnliches dar. Bei der Lektüre der Cetinjer Zeitung ist jedoch ein Bruch zwischen den offiziösen und den scheinbar privat gehaltenen Betrachtungen zu vermerken. Allein die Betitelung Letzterer mit Momentaufnahmen stellt diese nicht nur in Korrespondenz mit den zu jener Zeit kursierenden fotografischen Aufnahmen, die häufig den Moment, das Vergängliche, die Bewegung festzuhalten suchen, 57 sondern zeigt auch die Flüchtigkeit ihres Gehalts und ihrer Gültigkeit. Erstere hingegen stehen im Horizont einer Erziehungsphilosophie des Kolonialismus, die eroberte Völker mit der Ernsthaftigkeit strenger Vormünder behandelt. Die vorherrschende Haltung der Mahnung und Belehrung geht auf die Darstellung der anderen Kultur über und wendet sich dann auch an die eigenen Leute. Die oft betonte imperialistische Haltung, die besser in ökonomischer Hinsicht festgemacht wird und die zunächst von der eigenen Selbstgewissheit spricht, ist dabei allerorts von Irritation durchzogen. Gerade im Falle der »innereuropäischen Kolonisierung/ Kolonialisation«, die nicht in eine totale Fremde und Unbekannte vorstößt, sondern in Nachbargebiete, die man zu kennen glaubte und die bereits eine lange Tradition an Eigen- und Fremddarstellung erfahren haben, erfolgt eine tief greifende Umstrukturierung dieser eingewurzelten imaginären Räume. Was über Berichte, Literatur, politische und diplomatische Begegnungen, über Bilder, Gegenstände der Alltagskultur und Ähnliches für bekannt gehalten wurde, verwandelt sich in der Arbeit der Verwaltung und des Mit-Lebens in Prozesshaftigkeit und Performativität zurück. Die vermeintlichen Konstanten werden zu Diskontinuitäten, die laufend neu kategorisiert und räumlich festgemacht werden müssen, um sie wieder fassbar zu gestalten. Dieser Prozess beschränkt sich nicht nur auf die widersprüchlichen Eindrücke in den Stadtbildern oder auf statistische Erfassungen wie etwa die erste Volks- 57 Cf. dazu REBER, Ursula: Ansichten, Aussichten und Vor-Fahren. Blickweisen auf Montenegro um 1900/ / 2000. In: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ emerg/ UReber1.pdf v. 24.02.2006 und weiter unten in diesem Beitrag. <?page no="328"?> 328 Ursula Reber zählung, die in Montenegro und Albanien durchgeführt wurde. Er äußert sich auch in konkreten »Kulturationskartografien«: Kolašin wird als der Ort des inneren Widerstands ausgemacht, 58 der fortan wie eine rote Brandspur die Berichte über Widerstand, Aufstand, Renitenz und die Steckbriefe gesuchter Verbrecher durchzieht. Zunächst heißt es noch in einer frühen Ausgabe der Cetinjer Zeitung unter dem Titel Eine ernste Mahnung ganz allgemein: Das Bestreben einer Verwaltung kann sich nur darauf richten, diesen Kampf [den Kampf ums Dasein, U.R.] nicht ausarten zu lassen […] und mit allem Nachdrucke der Staatsgewalt dem guten Rechte des Einzelnen Geltung zu verschaffen, wenn es bestritten oder gefährdet wird. So wird der Einzelne in seinem Rechte besser beschützt als er das selbst mit eigenen Mitteln erreichen könnte, dafür muß er aber jeder Selbsthilfe entsagen[.] Die Selbsthilfe ist ein barbarischer Ueberrest aus unzivilisierten Zeiten, der in einem geordneten Gemeinwesen keinen Platz hat. 59 Bald schon wird aber besagter Ort Kolašin als Herd von Widerstand und Unruhen festgemacht. Steckbriefe gesuchter Verbrecher, die Angriffe auf Angehörige des k. u. k. Militärs verübt haben, die sich weigerten, ihre Waffen abzugeben, werden in der Zeitung veröffentlicht. Zugleich finden sie sich in den Allgemeinen Grundzügen für die k. u. k. Militärverwaltung: Während der größte Teil der Bevölkerung Montenegros sich unseren in ihrem ureigensten Interesse ergangenen Anordnungen in Ruhe und Gehorsam fügt, kommen im Kreise Kolašin noch immer neue Gewalttätigkeiten vor. Weder die eindringlichsten Ermahnungen, Warnungen und Befehle, noch die im Frühjahr erlassene Amnestie, womit den Mitgliedern der Banden für den Fall ihrer freiwilligen Rückkehr volle Straflosigkeit in sichere Aussicht gestellt wurde, vermochten einen Teil der Mitglieder dieser Banden zur Einsicht und Unterwerfung zu bringen, sie setzten ohne jede Rücksicht auf ihr Land das schändliche Treiben fort und töten und berauben ihre eigenen Leute. […] Ich befehle, daß die bestangesehendsten Angehörigen der wohlbekannten und sich im Kreise Kolašin in den Bergen herumtreibenden Banden sofort als Geiseln ausgehoben, unter strengster Bewachung auf einen sicheren Ort überführt und dort im Gewahrsam gehalten werden; gleichzeitig ordne ich an, daß für jeden neuen feindlichen Akt gegen uns, jeden Raubanfall, Plünderung oder jede sonstige Gewalttätigkeit gegen Gendarmen oder andere Personen, sowie gegen alle Friedlichen Bewohner deren sich die Mitglieder dieser Banden in Hinkunft schuldig machen sollten, eine oder auch mehrere dieser Geiseln im Sinne des Kriegsnotwehrrechtes sofort niedergemacht werden. Kolašin, 28. Juli 1917 Szavits Oberst k. u. k. Kreiskommandant Als zuständiger Kommandant. 60 58 Dies ist im Übrigen nichts Neues. Von Kolašin gingen von Seiten pro-serbischer und pro-Anschlussgestimmter Montenegriner mehrmals Drohungen gegen die Regierung Nikolas aus. Cf. dazu TREAD- WAY 1998, pp. 18 f., pp. 52-55. 59 Cetinjer Zeitung 1/ 16 v. 8.10.1916. 60 Überführt und verurteilt werden VerbrecherInnen aus Kolašin wegen Waffenbesitzes, Raubes, Mords, <?page no="329"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 329 Wiederum in Kolašin versucht der ehemalige Kriegsminister Radomir Vešović (1871-1938), der nach der montenegrinischen Kapitulation (vollkommen erfolglose) Verhandlungen über die Bedingungen der Besatzung geführt hatte, den Widerstand gegen die österreichischen Besatzer zu organisieren. Den zu ihm gesandten Offizier, der die Aufgabe hatte, ihn des Landes zu verweisen, stach er nieder und flüchtete. 61 Die daraufhin verlautbarten Vorgangsweisen im Rahmen des Kriegsrechts stehen den häufig inkriminierten Kriegsgräueln (Nasen-, Ohren-, Kopfabschneiden; Tötung der Gefangenen 62 ) der Montenegriner kaum nach: Wenn sich General Vešović und seine beiden Brüder nicht binnen fünf Tagen bei einer k. u. k. Militärbehörde freiwillig melden, dann werden sein Vater und sein dritter Bruder, die sich in unserer Gewalt befinden, gehängt. […] Ueber den ganzen Kreis Kolašin, insbesondere aber über den Stamm der Vasojevici, verhänge ich schwere Bestrafungen für den durch Leute aus ihrer Mitte verübten Frevel. 63 4 Grenzziehungen Die Instabilität der politischen Grenzen Montenegros, der Widerstreit von äußerer und innerer Grenzziehung des Territoriums, unter dessen Zeichen das mapping Montenegros (und des Balkans) der Jahre zwischen 1878 und 1913 steht, nehmen unterschiedliche Formen an. Zunächst geht es um die territoriale Aufteilung unter den Balkanstaaten, dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn, berücksichtigt man die Annexionspläne von Bosnien und der Herzegovina mit. Die Festlegung geografischer Staatsgrenzen zieht jedoch die Berücksichtigung zahlreicher weiterer Grenzen - ethnischer Grenzen, Sprachgrenzen, Religionsgrenzen - nach sich. Diese wiederum entpuppen sich nicht nur zusehends als ortlos, sondern rücken in noch weitere Ungreifbarkeit durch das symbolische Gewicht, das ihnen jeweils beigemessen wird. Prinzipiell wird der Wunsch nach territorialem Zuwachs Montenegros, der zugleich eine Manifestation seiner inhäuslicher Gewalt und vor allem wegen des Verschweigens von Informationen zum Aufenthalt von Radomir Vesović. Letztere sechs Personen werden teils zum Tod durch Erhängen, teils zu Kerkerhaft verurteilt. Cf. Cetinjer Zeitung 1/ 11 v. 21.9.1916, p. 3. 61 Cf. ĐILAS 1958, pp. 60 ff.; RASTODER, Serbo: A Short Review of the History of Montenegro. In: BIE- BER, Florian (Hg.): Montenegro in Transition. Problems of Identity and Statehood. Baden-Baden: Nomos 2003, pp. 107-138, hier p. 125 sowie in: ›http: / / www.boeckler.de/ pdf/ p_seer_montenegro. pdf‹. - Die hier wesentliche Rubrik »Aus dem Gerichtshof« in der Cetinjer Zeitung endet jedoch noch im Jahr 1916, so dass nicht zu eruieren ist, ob der gesuchte Ex-Kriegsminister und seine Brüder je von der Militärverwaltung gefasst wurden. Auch bei TREADWAY 1998 oder RASTODER 2003 findet sich darauf kein Hinweis. ĐILAS 1958 berichtet, dass er sich später selbst gestellt habe, was auch bei ROBERTS 2007, p. 318, Anm. 52, angemerkt wird. 62 Beispielsweise BREPOHL 1913, p. 16; BRAUN, Carl: Reise-Eindrücke aus dem Südosten. Ungarn, Istrien, Dalmatien, Montenegro, Griechenland, Türkei. Stuttgart: Auerbach 1878, pp. 193 f. 63 Die Verlautbarung ist am 17. Juni 1916 in Cetinje vom k. u. k. Militär-Generalgouverneur von Weber gezeichnet. <?page no="330"?> 330 Ursula Reber ternationalen Bedeutung sein würde, in seiner Berechtigung nicht angezweifelt. Feldmarschall Conrad von Hoetzendorf hält gleich zu Beginn seiner umfangreichen Erinnerungsschriften deren Naturgesetzlichkeit fest: Im Kampf ums Dasein haben sich zunächst die durch Blutsverwandtschaft und gemeinsame Verständigung (Sprache) entstandenen Horden allmählich zu Stämmen, Völkern, Nationalitäten entwickelt, in denen daher auch Blutsverwandtschaft und Sprache den Kitt bilden, der sie im Kampf ums Dasein zusammenhält. Mit dem zunehmenden Anwachsen dieser Nationalitäten durch Vermehrung hat die Beschaffung der notwendigen Existenzmittel zur Erwerbung immer größerer und ergiebigerer geographischer Räume gedrängt, was, wenn es auf Gegnerschaft Anderer stieß, zum gewaltsamen Austrag, zum Kampf mit den Waffen führte. 64 Die im Allgemeinen und historisch veranschlagte »Gegnerschaft Anderer« ist jedoch auch zum fraglichen Zeitpunkt, im Jahr 1906, bereits hoch aktuell. Die auf den Karten der herrschenden Mächte ständig korrigierten Grenzen, zwischen konfessionellen, nationalen, Stammes- und Wirtschaftsräumen lavierend, haben den vordringlichen Grund, die territorialen Bestrebungen und imperialistischen Taktiken Montenegros gegenüber seinen Nachbarn, vor allem auch zu Österreich-Ungarn mit der besetzten Herzegovina sowie zum österreichisch-ungarisch protektierten Albanien, in Schranken zu halten. 65 Hoetzendorf plädierte während der Zeit seiner Einflussnahme immer schon für die Ruhigstellung, am besten die Einverleibung Montenegros. Das Territorialstreben Montenegros und damit sein Drang nach einem vergrößerten und gewichtigeren Repräsentations- und Aktionsraum werden im Parallelogramm von Forderungen und doppelten Widerständen (seitens der EinwohnerInnen der eroberten und/ oder beanspruchten Gebiete und seitens der entscheidungsbefugten Großmächte) beschnitten. Die Erbitterung gegen die albanischen Christen im türkischen Lager wäre indeß selbstverständlich. […] Dazu [denke man] an die Tatsache, daß das Albaniervolk zuerst […] Schulter an Schulter mit den Montenegrinern gegen die Türken focht, aber diesen später die wildesten Kämpfer gegen den einstigen Bundesgenossen stellte. Dann versteht man die Erbitterung der Montenegriner. So erscheint auch die hartnäckige Belagerung Skutaris, die trotz der Drohung der Großmächte mit dem Fall der Festung endete, nur natürlich. […] Vom historischen Standpunkte aus betrach- 64 HOETZENDORF, Conrad v.: Aus meiner Dienstzeit 1906-1918. Erster Band: Die Zeit der Annexionskrise 1906-1909. In zwei Teilen, mit einem Anhang und einer ethnographischen Karte. Wien, Berlin, Leipzig, München: Rikola 1921, p. 14. 65 Cf. dazu DESTANI, Beitullah: Montenegro. Political and Ethnic Boundaries, 1840-1920. London: Archive Editions, 2001; FISCHLER, Jacob: Die Grenzdelimitierung Montenegros nach dem Berliner Kongresse vom Aug. 1878 bis Okt. 1887. Wien 1925; GLENNY, Misha: The Balkans, 1804-1999: Nationalism, War and the Great Powers. London, New York: Granta 1999; TREADWAY 1998; JENISCH, Marianne: Die Orientstellung Oesterreichs in der Zeit nach dem Berliner Vertrage bis zum Jahre 1883 nach den Akten des Staatsarchivs in Wien über die diplomatischen Beziehungen der Länder Oesterreich, Türkei, Russland, Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland. Wien: [Manus.] 1936. Jenisch übt, was für die Entstehungszeit der Arbeit erstaunlich ist, eine Art von Imperialismuskritik an Österreich-Ungarn. Sie weist etwa anhand des Eisenbahnbaus nach, dass Österreich-Ungarn die Grenzen des Berliner Vertrages zu Gunsten der eigenen wirtschaftlichen und politischen Vormacht in der Region weit strapazierte (pp. 27 f.). <?page no="331"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 331 tet mußte Skutari fallen, um einen vollkommenen und würdigen Abschluß der montenegrinischen Freiheitskämpfe zu bringen. [… L]assen wir es dahingestellt sein, ob die eisernen Forderungen der Staatskunst und der hohen Diplomatik ein albanisches Skutari erfordern und ob ein solches eine Notwendigkeit für Oesterreich ist. 66 Die Grenzkonflikte und das Auseinanderfallen der Grenzen in Verträgen, auf Karten und im Territorium werden ausführlich und detailreich von Jacob Fischler beschrieben. 67 Sie können in der Tat als ein Lehrbeispiel für die Multifunktionen und Multidysfunktionen von Territorien, Grenzen und Grenzziehung dienen. Der Berliner Kongress sollte den Frieden von San Stefano besiegeln und widmete sich der »Gebietsregelung« in den Balkanstaaten. Montenegros Unabhängigkeit wurde hier anerkannt, dazu aber gehörte, Gebietsansprüche gegenüber dem Osmanischen Reich zu regeln. Über das Ausmaß und die tatsächlich an Montenegro abzutretenden Gebiete konnte jedoch lange Zeit keine Einigung erzielt werden, und die Delimitierungskommission für Montenegro wurde von Österreich-Ungarn in Untätigkeit belassen. Außenminister Andrássy hatte eine andere Geografie im Auge: Allgemein gesehen wollte er die südslavische politische Geografie in Schranken halten. Im Speziellen war er mit der verlustreichen Annexion Bosnien-Herzegovinas beschäftigt, für deren Gelingen und vor allem für die geplante nachfolgende Inkorporierung des Sandžaks von Novi Pazar er das Wohlwollen der Osmanen benötigte. 68 Österreich-Ungarn zählte auf eine politische Geografie der Kohäsion gemeinsamer Interessen, zu deren größtem gemeinsamen Nenner sie die eigenen machen wollte. Im Vordergrund, und von keiner anderen Großmacht außer dem Osmanischen Reich anzufechten, stand die Verteidigung des Christentums im Allgemeinen und des Katholizismus im Speziellen auf dem Balkan. Wenn es jedoch sein musste, nahm diese politische Geografie auch territoriale Formen an, wie im Falle der Annexion, aber auch des habsburgischen Vorschlags an Montenegro, den Berg Lovčen an Österreich- Ungarn abzutreten (was Fürst Nikola als Zumutung empfand). 69 Andererseits jedoch hatte Montenegro speziell auf die Herzegovina jahrelang großen Einfluss ausgeübt, so dass auch weitere, von dort aus geplante Erschwernisse bei der Okkupation der annektierten Gebiete für Österreich-Ungarn hätten veranlasst werden können. So trat die Delimitierungskommission am 30. April 1879 in Cetinje zusammen, um gemeinsam mit montenegrinischer und osmanischer Beteiligung die erweiterten Grenzen Montenegros neu zu bestimmen. 66 BREPOHL 1913, p. 28. Cf. Serbiens und Montenegros Untergang. Ein Beitrag zur Geschichte des Weltkrieges von Oberst Immanuel. Mit einer Übersichtskarte und 8 Zeichnungen im Text. 2. Aufl. Berlin: Ernst Siegried Mittler & Sohn, Königl. Hofbuchhandlung 1916, pp. 65 ff. sowie pp. 72 f. Der Verfasser weist allerdings das Narrativ über den »Scheinwiderstand« der Montenegriner in den Bereich des Mythos. Der Krieg hatte, auch wenn mit Selbstlob der deutschen Truppen und noch größerem Lob für die Effizienz des verbündeten österreichisch-ungarischen Heeres alles andere als Zurückhaltung betrieben wird, blutige Opfer gefordert. 67 FISCHLER 1925. 68 Cf. ibid., pp. 14 f. 69 Cf. HOETZENDORF 1921, p. 132; TREADWAY 1998, p. 273. <?page no="332"?> 332 Ursula Reber Es traten neue Probleme auf, die zunächst die Kartografierung betrafen. Der Kommission lag eine habsburgische Karte der in Frage stehenden montenegrinisch-türkischen Grenzgebiete zugrunde, die jedoch nicht mit dem Text des Vertrags vom Berliner Kongress übereinstimmte. Die Diskussion um die Exegese und die wechselseitige Übersetzbarkeit der beiden prinzipiell zusammengehörigen Teile - Vertrag und Karte - wurde lange Zeit ergebnislos geführt. Die Übersetzbarkeit in Bezug auf das Terrain spielte dabei die geringste Rolle, denn beispielsweise wurde einer der zahlreichen Territorialstreite nicht um die tatsächliche Insel im See von Shkodër, sondern um ihren Namen geführt. Karte und Vertrag bezeichneten die fragliche, an Montenegro abzutretende Insel als Gorica-Topal. Die InselbewohnerInnen und in ihrer Fürsprache die TürkInnen, welche sie abzutreten hätten, benannten sie mit Tophalva. 70 Da die Namen nicht übereinstimmten, konnte es sich in der exegetischen Ausdeutung nicht um dieselbe Insel handeln: Entweder hatten sich die Kartenzeichner geirrt und eine anderswo gelegene Insel namens Topal gemeint oder der Vertrag stand auf der Stufe einer Fiktion, da ihr Namen zugrunde lagen, die nichts bezeichneten. Einer rein erdachten Grenzlinie ein Territorium zu verschaffen, das von ihr zerteilt würde, sahen sich die türkischen Kommissare außerstande. Diese und ähnliche Schwierigkeiten bei der Verortung von Grenzen mutet zwar einerseits komödiantisch an und bringt Fischler zu dem Urteil, dass die Osmanen in Kenntnis der Ungenauigkeit der Karte 71 diesen Umstand zu ihren Gunsten ausnutzen wollten, die Problematiken also inszeniert hätten. Meines Erachtens liegt das Problem jedoch nicht an einer ungenauen Kartografierung, sondern zielt direkt in das Herz jeglicher »Delimitierung«, also Begrenzung mit Einschränkungen. Die türkischen Kommissare haben nicht nur, weil sie der Gebiets- und Hoheitsverlust schmerzt, Recht: Grenzen sind, ob sie sich an »fixen Punkten«, also (kultur-)geografischen Gegebenheiten - Bergen, Flüssen, Ortschaften - orientieren oder an bloßen Himmelsrichtungen, prozentualen Berechnungen, am Gesichtsfeld oder an Narrativen (also Fiktionen), in jedem Fall interpretationsbedürftig und rein symbolischer Natur. Territorien sind mit Deleuze und Guattari verschiebbar, veränderlich und nichtstatisch, und vor allem sind sie - wenn auch nicht vollständig - funktional gebunden: Ein Territorium ist zunächst die kritische Distanz zwischen zwei Wesen der gleichen Art: seinen Abstand markieren. Was mir gehört, ist in erster Linie mein Abstand, ich besitze nur Abstände. Ich will nicht, daß man mich berührt, ich bin brummig, wenn man in mein Territorium eindringt, ich stelle Schilder auf. Die kritische Distanz ist ein Verhältnis, das sich aus den Ausdrucksmaterien entwickelt. 72 70 Ibid., p. 27. 71 Dass die Karten von Montenegro nicht sehr genau sind, musste auch der Reisende Bernhard Schwarz erfahren, cf. SCHWARZ 1888, p. 100: »Übrigens war es mir stets, als ob hier immer nur die Heinzelmännchen der Sage arbeiteten, da Menschen stundenlang ebenso wenig sich sehen liessen, wie die verschiedenen Dörfer, welche die östreichische Generalkarte auch für diesen Teil Montenegros ebenso verschwenderisch wie ungerechtfertigt angiebt.« 72 DELEUZE, Gilles/ GUATTARI, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Mer- <?page no="333"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 333 Die weichen und durchlässigen Grenzen eines Territoriums entstehen also mit diesem (und verändern sich, wandern mit ihm). 73 Im Falle der Delimitierungskommission, die Staatsgrenzen neu ziehen soll, ist dies jedoch auf ein zeitliches Nacheinander festgelegt, das von vornherein wie jedes Zeichensystem auf Vereinbarungen beruht. Die funktionale Bedeutung der Vergrößerung des montenegrinischen Territoriums beruht auf der Vereinbarung »Kompensation«, »Agrarland« und »Zugang zum Meer«. Dieses Zeichensystem bezieht sich auf ein anders geartetes und medial verschiedenes weiteres Zeichensystem, die Karte. Die Karte arbeitet intermedial mit heterogenen Zeichensystemen, einem grafischen, einem kodierten (Maßstab) und einem sprachlichen. Ihr Sprachzeichensystem ist gegenüber dem textuellen der Verhandlungen und des Vertrags reduziert auf die Benennungsfunktion. Insofern, als diese drei Zeichensysteme - die beiden der Karte und jene des Vertrags - in Korrespondenz stehen und sich zueinander arbiträr verhalten, bilden sie ein funktionierendes geschlossenes System, das nicht unbedingt mehr mit dem Ausgangspunkt der Funktion und erst recht nicht mit der Geografie, die es zu zerteilen gilt, übereinstimmen muss. Die Übersetzungs- und Auslegungsarbeit, die das Abstecken der Grenzen verlangt, setzt bei ihrem Beginn - der Frage nach der Funktion - wieder ein, auch wenn vordergründig das Benennungssystem der Kartografie, das die reine Abbildfunktion für sich beansprucht, das wiederum das Gleichgewicht der Zeichensysteme als eines Vorstellungs- oder imaginären Raums durchbricht, problematisiert wird. 74 Die vorherrschende Funktion eines Territoriums ist im staatsrechtlichen Diskurs schlicht unter »Besitz und Herrschaft« beziehungsweise Bündnis- und Hoheitsgebiet zu verbuchen, da von einem konsolidierten Staatsgebiet, das zu einer festen »Nation« gehört, zu dieser Zeit im Falle Montenegros nur mit großen Einschränkungen gesprochen werden kann. 75 Auch dies ist Verhandlungssache und beruht auf Praxis, die erst Grenzziehungen (auf Zeit) mit sich brächte. Die Verhandlungspartner nach 1878 versuchten, solche kulturellen und sozialen Praktiken zu formalisieren. Es galten für die Grenzziehungen verschiedene sozial- und kulturgeografische Raster: Stammesterritorien (beispielsweise der albanischen Hoti) durften nicht durchbrochen, ethnische Homogenität (slavische Bevölkerung) sollte hergestellt und religiöse Integrität musste gewährleistet ve 2002, p. 436. Weiterhin ermöglicht und reguliert das Territorium als Rhythmus oder fließender Prozess/ Werden das Zusammenleben von Artgenossen. 73 Nach DELEUZE/ GUATTARI 1995, p. 430: »Das Territorium ist nicht eher da als die qualitative Markierung, erst die Markierung bildet das Territorium. Auch die Funktionen in einem Territorium sind nicht als erste da, sie setzen eine Expressivität voraus, die Territorien schafft. In diesem Sinne sind das Territorium und die in ihm wirksamen Funktionen Produkte der Territorialisierung.« 74 So musste beispielsweise immer wieder darüber Einigkeit hergestellt werden, ob ein Gebiet »wirklich existiert«. Cf. FISCHLER 1925, p. 43; im Fall der Kuči-Kraina, die von Montenegro teilweise an das Osmanische Reich abgetreten werden sollte. 75 Cf. zum Stammesdenken in Montenegro PAVLOVIĆ, Srdja: Who are Montenegrins? Statehood, Identity, and Civic Society. In: BIEBER, Florian (Hg.): Montenegro in Transition. Problems of Identity and Statehood. Baden-Baden: Nomos 2003, sowie in: ›http: / / www.boeckler.de/ pdf/ p_seer_montenegro.pdf‹, pp. 83-106; cf. außerdem HEER 1981. <?page no="334"?> 334 Ursula Reber werden. 76 Das Raster funktionierte nicht, denn vom Standpunkt ethnischer Homogenität aus betrachtet handelte es sich bei den nun politisch zur Debatte stehenden Grenzen um Grenzgebiete, in denen Stämme und Religionen immer schon stark durchmischt gewesen waren. Auch hier ließe sich das Territorium mit Deleuze und Guattari als ein dynamisches und zusammengesetztes Gefüge betrachten, dessen vielfältige Markierungen wie Religion, Abstammung, Bündnisse sich in den ständigen Wanderbewegungen verändern. Mit ihnen unterliegen die Selbst- und Fremddefinitionen ständigen Korrekturen; die spezifische Differenz, die auf einer »kritischen Distanz« zwischen »Angehörigen einer Art« (in diesem Fall Angehörigen eines Stammes, eines Bündnisverhältnisses etc.) beruht, wird mit diesen Bewegungen wiederholt neu gesetzt. Im Denken Deleuzes und Guattaris sind Eigenschaften nichts Gegebenes, sondern Aneignungen und Übergänge mit territorialer Tendenz, jedoch stets im Übergang zu etwas anderem. 77 Die symbolische Ausschließlichkeit, mit welcher das Konstrukt der staatlichen Grenze einherging, führte in manchen Fällen zu Petitionen der ausgehandelten Grenzregionen und -gemeinschaften. 78 Albanische Gemeinschaften, die bislang in nachbarlichen und sozial vermischten Bündnisstrukturen und Handel mit montenegrinischen Stämmen gelebt hatten, wollen plötzlich auf keinen Fall unter deren Oberhoheit noch innerhalb ihrer Staatsgrenze fallen. 79 Die explizite Überlegung beziehungsweise Forderung nach einer homogenen kulturellen und sozialen Geografie 80 verstärkte und weckte unter Umständen erst das exklusive Denken vom Anderen. 81 Die Fokussierung auf das Konstrukt der staatlichen Abgrenzung auf der einen und Einverleibung auf der anderen Seite unterwirft die kollektiven place identities auf beiden Seiten der noch imaginären Grenzlinie nachhaltigen Erschütterungen. Der Boden, die Umgebung, auf der sie gewachsen ist, darf dann in keinem Fall staatsrechtlich verändert werden. Dem werden 76 Ibid., pp. 42 f. 77 Noch im Bild des Tierreiches, das aber in seiner Abhandlung beständig zum Humanbereich hin überschritten wird, heißt es bei DELEUZE/ GUATTARI 1995, p. 439, zum Territorium, das zu Individuen und Arten als Differenzierungsmaschine gehört und zugleich Individuen beziehungsweise Arten zusammenführt und auf Distanz hält: »Überall wo die Territorialität auftaucht, schafft sie eine artspezifische kritische Distanz unter den Angehörigen einer Art, und aufgrund ihres eigenen Abstandes gegenüber spezifischen Differenzen wird sie zu einem Mittel der indirekten und verdeckten Differenzierung.« Weiter auf p. 440 zum Prozesscharakter jedes Territoriums. - Ähnlich die Systemtheorie nach Luhmann, eingehend dargestellt in: EIGMÜLLER, Monika: Der duale Charakter der Grenze. Bedingungen einer aktuellen Grenztheorie. In: DIES./ VOBRUBA, Georg (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes. Wiesbaden: VS 2006, pp. 55-73, hier pp. 63-67. 78 Zum Zusammenhang von Identitätsbildung und Grenze in Systemen cf. WEICHART, Peter: Territorialität, Identität und Grenzerfahrung. In: HASLINGER, Peter (Hg.): Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang 1999 (Wiener Osteuropa Studien 11), pp. 19-30. 79 Cf. FISCHLER 1925, p. 46. 80 Zur Homogenisierungstendenz nach innen cf. BÖS, Mathias/ ZIMMER, Kerstin: Wenn Grenzen wandern: Zur Dynamik von Grenzverschiebungen im Osten Europas. In: EIGMÜLLER/ VOBRUBA 2006, pp. 157-184, insbes. p. 161 u. p. 181 über die Identitätsfunktion von politischen Grenzen. 81 Zur Verstärkung sozialer Ungleichheiten über die Konsolidierung von Staatsgrenzen und deren Zentripedalkraft cf. BACH, Maurizio: Unbounded Cleavages. Grenzenabbau und die Europäisierung sozialer Ungleichheit. In: EIGMÜLLER/ VOBRUBA 2006, pp. 145-156, insbes. pp. 148 f. <?page no="335"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 335 andere Grenzen, die hiervon kaum berührt würden, untergeordnet. Allan Buchanan und Margaret Moore halten fest: Political boundaries are essentially coercive: their rules are made and enforced within a geographical domain, whereas the boundaries constructed by ethical or religious tradition are partially voluntary or subjective in the sense that there is always the possibility of leaving the particular ethical or religious community. 82 Im Parallelogramm der Einflussmächte, welche die politischen Grenzen (mit)bestimmten, existierte jedoch nicht unbedingt ein getrennter Raum für soziale, religiöse, ethnische und politische Grenzen. Die symbolische Macht der politischen und Territorialgrenze wurde durch das Einbeziehen von solchen ethischen Grenzen verstärkt. Katholische albanische Gemeinschaften sahen sich also bei einer drohenden Einschließung auf die innere Seite der politischen Grenze Montenegros von negativer Separatbehandlung durch das orthodoxe Land bedroht, auch wenn die bisherige Praxis anders und durchlässig ausgesehen hatte. 5 Die »natürliche« Grenze Im Auftrag oder privat Reisende, die sich mit der Geografie der südslavischen Länder befassen, orientieren sich für gewöhnlich an so genannten »natürlichen Grenzen«. Als solche gelten Parameter, die auch für die Delimitierungskommission eine Rolle spielten und von landschaftlichen Fixpunkten wie Bergen und Gewässern sowie Vegetationswechsel über architektonische und Trachtenwechsel bis zu ethnischer Zusammensetzung, Religionszugehörigkeit und sozialem Gefüge reichen. Jedoch lösen sich auch die natürlichsten Grenzen, wie Wald, Gebirge, Flusslauf, Küste, bei näherer Betrachtung in die Doppelfunktion von Namen und symbolischem Platzhalter von narrativen Clustern auf. Bereits bei der Diskussion der Schwierigkeiten zur Neubestimmung von Montenegros Grenzen im Gefolge des Berliner Kongresses wurde deutlich, wie wenig »natürlich« Grenzen überhaupt und wie sehr sie an Codes und Funktionen geknüpft sind. Stattdessen konstituieren sich Grenzen und Räume über soziale und mit ihnen einhergehende symbolische Funktionen und Beziehungen, wie auch Georg Simmel in seiner Raumsoziologie festhielt: Man macht sich selten klar, wie wunderbar hier die Extensität des Raumes der Intensität der soziologischen Beziehungen entgegenkommt wie die Kontinuität des Raumes, gerade weil sie objektiv nirgends eine absolute Grenze enthält, eben deshalb überall gestattet, eine solche subjektiv zu legen. Der Natur gegenüber ist jede Grenzsetzung Willkür, selbst im Falle einer insularen Lage, da doch prinzipiell auch das Meer »in Besitz genommen« werden kann. […] Darum ist das Bewußtsein 82 BUCHANAN, Allen/ MOORE, Margaret: Introduction. In: DIES. (Hg.): States, Nations, and Boundaries. The Ethics of Making Boundaries. New York: Cambridge UP 2003, pp. 1-18, hier p. 2. <?page no="336"?> 336 Ursula Reber der Eingegrenztheit auch vielleicht nicht gegenüber den sogenannten natürlichen Grenzen (Gebirge, Flüsse, Meere, Einöden) das stärkste, sondern gerade an bloß politischen Grenzen, die nur eine geometrische Linie zwischen zwei Nachbarn legen. Und zwar gerade, weil hier Verschiebungen, Erweiterungen, Einziehungen, Verschmelzungen viel näher liegen, weil das Gebilde an seinem Ende an lebendige, seelisch wirksame Grenzen stößt, von denen nicht nur passive Widerstände, sondern sehr aktive Repulsionen ausgehen. 83 Demnach tragen die natürlichen Grenzen immer eine kulturelle Bedeutung, die nicht nur langfristigen, sondern unter den Umständen sich ändernder Bündnisse auch momentanen und raschen Veränderungen unterworfen ist. Raumstrukturierung durch Grenzen ist stets ein symbolischer Akt; ihre Veränderbarkeit ein kultureller, sozialer und politischer Prozess. In letzterem Fall spricht Simmel hinsichtlich der politischen Grenze von dem »räumliche[n] Ausdruck jenes einheitlichen Verhältnisses zwischen zwei Nachbarn, […] das wir in etwa als den Indifferenzzustand von Defensive und Offensive bezeichnen können, als einen Spannungszustand, in dem beides latent ruht« 84 . Was Monika Eigmüller für eine neue, auf die Gegenwart bezogene Theorie der Grenze fordert - dass nicht eine Identitätsbildung im Innern maßgeblich zum Grenzwerdungsprozess beiträgt, sondern dass vielmehr die ›Angriffe‹ von außen, die ›Grenzverletzungen‹ selbst die Grenzen sichtbar werden lassen und die Grenzen zugleich zu einer strukturierenden Kraft werden, indem sie über Handlungschancen von Menschen entscheiden 85 -, gilt auch für eine Grenztheorie im historischen Balkangebiet. Aus montenegrinischer Perspektive sind die Gebietsverhandlungen und Grenzkorrekturen mit den imperialistischen Westmächten mit Grenzverletzungen gleichzusetzen, da die eigenen Grenzen, die auf Traditionen, Abstammungserzählungen, politischem Begehren, derzeitiger politischer Grenze etc. beruhen, angegriffen werden. Aus der politischen Perspektive Österreich-Ungarns, das anhand einer ethnischen Gemeinschaft das teilweise katholische Albanien und als strategischen Punkt im Besonderen Shkodër/ Scutari unter seine Einflussgeografie rechnet, begeht Montenegro mit der Belagerung, Eroberung und Besetzung der Stadt im Jahr 1913 einen multiplen Grenzverstoß. 86 Shkodër ist im Kampf um die Verschiebung einer mehrfachen Grenze - strategisch, politisch, wirtschaftlich, kulturell - eine Grenzstadt, in der verschiedene Akteure, die jenseits des territorialen Besitzverhältnisses stehen, Grenzen durch pausenloses Überschreiten spürbar machen. Auch wenn in der Tat Familien- und Religionszugehörigkeit in der Regel nicht von heute auf morgen umgestoßen werden, ist auch diese Grenze im Prinzip 83 SIMMEL, Georg: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. In: EIGMÜLLER/ VOBRU- BA 2006, pp. 15-23, hier p. 21. 84 Ibid. 85 EIGMÜLLER 2006, p. 72. 86 Cf. dazu TREADWAY 1998, pp. 135-158. <?page no="337"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 337 durchlässig. Das Beispiel der MontenegrinerInnen als die Besten der SerbInnen kann dahingehend ausgelegt werden, dass eine »ethnische« Zugehörigkeit weniger auf einem genetischen Schicksal, als vielmehr auf Selbstdefinitionen beruht. Die Bezeichnungen »Montenegro« und »MontenegrinerInnen« schafft eine feine, artifizielle Grenze zwischen SerbInnen und montenegrinischen SerbInnen. Sie geht mit dem Narrativ der primi inter pares einher, ohne jedoch die ethnische Zugehörigkeit zum Serbentum im Selbstverständnis aufzuheben. 87 Komplexer und scheinbar dem »genetischen Schicksal« näher ist die weniger ethnisch bestimmte, als vielmehr in Clans oder Stämme gegliederte Struktur, 88 innerhalb derer die lineages - Abstammungsgruppen als Bestandteile von Clans und Ethnien - und Familienbande eine bedeutende Rolle spielen. Doch auch hier sind die Grenzen durchlässig; nicht nur kann ein(e) Stammesangehörige(r) seinen Status durch Missachtung der stammesinternen Regeln verlieren, die Grenzen eines Stammes oder Clans werden durch Heiratspolitik einerseits und durch Bündnispolitik andererseits ständig neu definiert. 89 Gerade in diesen Verhältnissen und ihren Grenzziehungen bleibt festzuhalten, was Georg Simmel für die Grenze konstatiert: Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt. Das idealistische Prinzip, daß der Raum unsere Vorstellung ist, genauer: daß er durch unsere synthetische Tätigkeit, durch die wir das Empfindungsmaterial formen, zustande kommt - spezialisiert sich hier so, daß die Raumgestaltung, die wir Grenze nennen, eine soziologische Funktion ist. 90 Aber auch die am »natürlichsten« scheinenden Grenzen, topografische Gegebenheiten wie Berge, Gebirge, Wälder, Gewässer, lösen sich zusehends in ihre Namen mit der Doppelfunktion von Bezeichnung und auf dieser aufbauenden Mythen oder Narrativ-Cluster auf. Weniger ersichtlich wird dies in streng geografisch ausgerichteten Schriften wie beispielsweise jener von Heinrich Daublebsky von Sterneck, bei dem sich diese Narrative hinter »nackten Fakten« verstecken. Bernhard Schwarz legt sie jedoch an Ort und Stelle offen: Wie so viele beginnt er mit einer Namensableitung des Ländernamens Crna gora beziehungsweise Montenegro. Er hält sich dabei jedoch nicht mit den schwarzen Wäldern, den klimatischen Bedingungen, die das Gebirgsland häufig in dunkle Wolken 87 Die gesamte »Landesbiographie« von ĐILAS 1958 handelt von Identifikations- und Absetzungsbewegungen zum Serbentum. 88 BRAUN 1878, p. 179, weist darauf hin, dass die Benennung der Orte mit den Stämmen mitwandert: »Njegusch ist also nicht der Name des Dorfes, sondern der Name des Stammes, welcher sich hier niedergelassen hat. Würde der Stamm fortziehen, so würde er seinen Namen mitnehmen, und dieser Bergkessel würde einen anderen Namen erhalten, nämlich den des sich neu ansiedelnden Stammes.« 89 Die Bündnisschließung über Heirat setzt Fürst Nikola laut BREPOHL 1913, p. 27, auch in der Verheiratungspolitik seiner Töchter fort. Durch die Heiraten werden quasi Familienverträge mit Italien, Deutschland und Serbien konstituiert - ein in Fürstenhäusern allgemein übliches Verfahren. 90 SIMMEL 2006, p. 23. <?page no="338"?> 338 Ursula Reber hüllen etc. auf, sondern gibt sich als Ethnologe zu erkennen, indem er eine von dort entlehnte Deutung vorführt: Unzweifelhaft aber kommen wir weiter, wenn wir überhaupt darauf verzichten, jenes Epitheton wörtlich zu nehmen und lieber eine tropische Deutung heranziehen. […] Man weiß, dass die Religion der Slaven ein dualistischer Naturdienst war. Swantewit […] repräsentierte das Licht, die Helle, das Reine, Gute. Czernebog dagegen vertrat die Finsternis und damit zugleich das Böse. […] Er repräsentierte die wilden Naturgewalten, die, so zerstörend sie auch auftreten, doch durch Sturm und Unwetter segnend wirken. Nimmt man nun noch hinzu die Sympathie für das physisch Gewaltige, das wild Erhabene, das Düstere und Geheimnisvolle, die, wie allen Naturvölkern, so auch den alten Slaven eigen war, dann wird man begreifen, dass Cernebog sogar die populäre Gottheit war. […] Da nun aber solche jener Gottheit geweihten Lokalitäten, entsprechend dem Wesen ihres Patrons, natürlich auch einen wilden, düsteren Charakter getragen haben werden, so kann man sich leicht denken, dass in der Folge überhaupt öden, unwirtlichen Landschaften das Prädikat »schwarz« beigelegt wurde. Was Montenegro anbetrifft, so wäre es selbst nicht unwahrscheinlich, dass das Ländchen von einer einzigen Opferstätte des »schwarzen« Gottes seinen Namen erhalten hätte. […] Vielleicht ist der Lovtschen, dieser noch jetzt im ganzen Lande heilig gehaltene Gipfel, der serbische Parnass, der Taufstein der Crnagora gewesen. 91 Namen, ethnologisches Wissen und ethnologische Geschichten verbinden sich hier zu einem Geflecht von aufeinander verweisenden Metaphern. Deutlich wird dabei, dass diese Metaphern und Geschichten als Namen auf die Signifikate, die in Frage stehende Geografie, zurückwirken. Obwohl der »schwarze Gott« an Naturgewalten und Unwetter, also zeitlich begrenzte Prozesse und Ereignisse, gebunden ist, verlagert sich die Eigenschaft »schwarz« auf die Stätte des Kultus, den Ort. Das Momentane und der Prozess werden verortet und zur Ödnis der Landschaft. 92 Im Falle Montenegros entwickelt Bernhard Schwarz von diesem ethnografisch-religionswissenschaftlichen Ausgangspunkt weitere Geschichten: Einerseits erklärt die Tendenz des Namens, zu substituieren und die Wahrnehmung zu rastern, sowie die zahlreichen Erzählungen über den konkordierenden finsteren und raublustigen Charakter der montenegrinischen Bevölkerung (für den weiblichen Bevölkerungsteil tendiert der kollektive Charakter eher in Richtung Stumpfsinnigkeit), andererseits entwickelt er für sie das Narrativ eines »Volks ohne Raum«: Diese Armut ihres Territoriums musste sich den Crnagorsen um so fühlbarer machen, als sie von ihren Höhen aus fast rings um sich üppigste Landschaften und 91 SCHWARZ 1888, pp. 360 f. 92 BRAUN 1878, p. 175, stellt lediglich eine allgemeine Präferenz der MontenegrinerInnen für das Prädikat »schwarz« fest, das für sie etwas Heroisches zu symbolisieren scheint. <?page no="339"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 339 zwar im Besitz entweder des Erbfeindes der Christenheit oder slavischer Brüder sahen. Beides reizte nicht wenig, die erstere Thatsache zur Vertreibung der Besitzer, was in diesem Falle noch als ein verdienstliches Werk erscheinen musste, die letztere zur Vereinigung mit ihnen, um so ein lebensfähigeres Gemeinwesen zu bilden. […] Werden wir dann nicht das Jahrhunderte lange Ringen des hungernden Völkchens besser verstehen als bisher und es aufgeben, immer nur von unruhigem und unersättlichem Raubgesindel und gemeinen Hammeldieben zu reden […]? 93 Die Begehrlichkeit nach dem umliegenden Land ist es in dieser Version, das [sic! ] die Montenegriner auf Raubzüge schickt. Dieses Begehren ist dem Verfasser gleichfalls etwas ›Natürliches‹, das weniger eine Aktivität, als vielmehr ein Erleiden ist, denn bewirkt und angestachelt wird es durch die Verführungskräfte der Landschaft, die das bedauernswerte Montenegro zu einem »Felsversteck« im »Paradies« machen. So ist es nurmehr ein kleiner Schritt, das schmerzende Begehren mit den Qualen des Tantalus, dem die Früchte am Baum ewig entweichen, zu vergleichen. 94 Im Rahmen dieses ›natürlichen Begehrens‹ und der Rechtfertigung der daraus resultierenden Raub- und Kriegszüge, auch der diplomatischen Winkelzüge bei den Kompensationsverhandlungen seitens der Montenegriner, färbt diese Natürlichkeit zu Ungunsten der Homogenität eines (Volks-)Raums wieder auf die Geografie ab. Das Begehren wird der Topografie nun gleichfalls als eine Aktivität eingeschrieben und in einem weiteren Namen aufbewahrt und symbolisiert. Hier spricht Schwarz von einer »unnatürliche[n] Abgrenzung des montenegrinischen Gebiets im allgemeinen« 95 , die durch die Unvollständigkeit der vom Fluss Zeta gebildeten Nord-Süd-Linie noch verstärkt wird: Ziemlich durch die Mitte des Ländchens floss in der Richtung von Norden nach Süden die Ceta, aber nur der Mittellauf derselben gehörte der Crnagora an; der Oberlauf, der in der schon erwähnten Alm von Nikschitsch liegt, und der Unterlauf, zu dessen Gebiet die weite Ebene von Podgoriza gehört, waren der Türkei vorbehalten. […] Durch diese beiden, von Norden und von Süden vorgeschobenen Flügel türkischen Gebiets war das kleine, montenegrinische Land so zu sagen in seinem Centrum unterbunden und nahezu in zwei getrennte Hälften zerlegt worden […]. 96 Es ist also nicht nur der Verlauf eines Flusses, der als »natürliche Grenze« nur im Gesamt funktioniert, 97 zugleich wird zentralistisch-organizistisch eine »natürliche Gebietsausdehnung« veranschlagt. Montenegro wird hier gleichsam wie 93 SCHWARZ 1888, pp. 364 f. 94 Ibid., pp. 366 f.; cf. BRAUN 1878, p. 168. 95 SCHWARZ 1888, p. 366. 96 Ibid., p. 367. 97 Die Argumentation wird für den Bojana-Fluss ebenso wiederholt - »Was nützt, so wird man mit Recht fragen, die Mündung eines Flusses, wenn die übrigen Partien dieses Wasserlaufes in den Händen einer feindlich gesinnten, ausserdem aber auch trägen und verkommenen Rasse sich befinden? « - wie für den Skutari-See: »Im Interesse Montenegros wie im Interesse des europäischen Friedens, […], müssen wir also eine nochmalige Grenzkorrektion oder richtiger einen naturgemässen Abschluss [Hervorh. U. R.] der einmal eingeleiteten Korrektion wünschen./ Derselbe würde vor allem davon auszugehen haben, dass der ganze Skutarisee und die ganze Bojana [Hervorh. i. O.], weil beide für die Existenz Montenegros unentbehrlich sind, ausserdem auch zum Flussgebiet dieses Landes von Natur [Hervorh. U. R.] gehören, demselben zuzufallen haben.« (Ibid., p. 371). <?page no="340"?> 340 Ursula Reber ein von einem türkischen Korsett eingeschnürter Körper imaginiert. 98 Diese Einschnürung hat jedoch weniger mit einer Zentrumsbildung oder -notwendigkeit oder gar mit einem tatsächlich existierenden und durch sie abgeschnittenen Zentrum zu tun als vielmehr mit kulturellen Topografien. Einerseits findet sich Montenegro so von fruchtbarem Nutzland abgeschnitten, andererseits besteht der größte Nachteil darin, »dass seine einheitliche innere Entwicklung gehemmt wurde und die Osthälfte im Vergleich mit der mehr in dem Bereiche des abendländischen Kultureinflusses gelegenen Westhälfte zurückblieb« 99 . Die Definition einer topografischen Grenze als »natürlich« genügt also nie sich selbst. Wie sehr diese stets auf unterschiedlichen Narrativen beruht, zeigen auch letztere Beispiele, die ebenso wenig von den topografischen Naturgegebenheiten diktiert werden, wie die Namen etwas Gleichbleibendes und allgemein Wahrnehmbares bezeichnen würden. Auch in Schwarz’ Grenzkorrekturen und Naturgrenzen, den Flüssen, Gebirgen und Seen, liegen Narrative verborgen, die sich das eine Mal an montenegrinischen Begehrlichkeiten und das andere Mal an den politischen Entscheidungen und Begehrlichkeiten der westlichen »Kulturländer« orientieren. Ganz offensichtlich gibt er dies an zwei Stellen zu erkennen. Zum einen, als er über das »entschiedene Unrecht« der Montenegriner spricht, die Bocche di Cattaro für sich zu gewinnen, »so lange es noch ein Östreich giebt«: »Dort liegt das östreichische Gibraltar. Ohne die Bocche keine östreichische Adriaherrschaft, ja kaum ein Einfluss, ein Handel Östreichs auf dem Mittelmeer und nach dem Orient, sogar kaum noch ein östreichisches Triest.« 100 Zum zweiten Mal schließt er sich den großen Narrativen der Schutzmächte für Montenegro an: Im Norden endlich, wo das montenegrinische Hochland ohne klare Trennung in die Gebirge Südbosniens und der Herzegowina übergeht, und in Montenegro entspringende Flüsse der Donau zueilen, ist eine durchgehende, bestimmte Naturgrenze nicht anzugeben. Doch scheint dies dort, wo ja Östreich der Grenznachbar ist, auf dessen Grossmut der kleine Staat immer angewiesen bleiben wird, auch ungleich weniger nötig, als nach türkischem Gebiete hin. 101 Was für die Tara, die Bojana und den Shkodër-See veranschlagt wurde, die Unversehrtheit von topografischen Gegebenheiten und die Notwendigkeit, sie als Ganze zur Grenze zu machen, gilt im Falle des Grenznachbarn Österreich- Ungarn nicht mehr. Die Topografie beugt sich der politischen Geografie, die im Vergleich für sich eine höhere Natürlichkeit beanspruchen darf, als jedes Gebirge, jeder Fluss und jeder See. Denn anders erstreckte sich der »natürliche Gebietsanspruch« Montenegros von der Adria bis an die Donau. Diese Revolution an Gebietszuwachs, die jene instituierte Abhängigkeit aufheben würde, würde 98 SCHWARZ gebraucht einen Organvergleich: »[E]s hatte etwa die Form einer menschlichen Lunge mit ihrem Lappenpaar.« Ibid., p. 367. 99 Ibid. 100 Ibid., p. 368. 101 Ibid., p. 373. <?page no="341"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 341 nicht nur eine neue Ordnung auf dem Balkan bedeuten, sondern in der Folge auch die territorialen wie Einfluss-Grenzen auf internationaler Ebene maßgeblich verändern. 6 Strategisches Wissen Eine Reihe von Schriften befassen sich mit dem montenegrinischen Militär, dem montenegrinischen Kampfgeist und seinen militärischen Strategien. 102 Als Kriegsprävention, die jederzeit zu einer Kriegsvorbereitung werden kann, verstehen sie die Aufgabe, die sie im Namen Österreichs erfüllen, »das südslavische Dreieck zu recognosciren, und die geringen Schwächen des so starken Landes ins gehörige Licht zu stellen« 103 . Unterteilt in die Abschnitte »Lage«, »Grenzen«, »Flächeninhalt«, »Bodengestaltung«, »Klima«, »Nationalökonomisches«, »Communicationen und Orte«, »Bewohner«, »Staat und Regent«, »Kriegsmacht« und »Kriegsschauplatz« werden die Gebiete gerastert und beschreibend erschlossen. Die Quelle für die österreichische und deutsche Beschäftigung mit dem montenegrinischen Militär liefert der Triestiner Journalist und Astronom 104 Spiridon Gopčević (1855-1928), der mit seiner Analyse Der Krieg Montenegro’s gegen die Pforte im Jahr 1876 eine Art Pamphlet vorlegt, das allzu häufig satirisch überzeichnet. Kurz gefasst führt er die Siege Montenegros trotz des phänomenalen kollektiven Versagens der Heeresführung auf glückliche Zufälle und eine noch erheblichere Unkenntnis der erfolgreichen Kriegsführung beziehungsweise ausgesprochene Feigheit auf osmanischer Seite zurück. Den Fürsten Nikola als obersten Heerführer verfolgt Gopčević durchgängig mit beißendem Spott, als einen, der letztlich nur als eine Missgeburt erscheinen kann, da »der Montenegriner geborner Soldat [ist], der Kriegführen für seinen einzigen Lebensberuf hält, keine Furcht kennt und es natürlich findet, sein Blut für das geliebte Vaterland verspritzen zu können« 105 . 102 Cf. etwa: Montenegrinische Kriegführung und Taktik. Nachdruck eines im Organ der militär-wissenschaftlichen Vereine, I. Band 1898, erschienen Aufsatzes von Hauptmann Josef Schön des Generalstabskorps (jetzt Kommandant des Infanterieregiments Erzherzog Carl Nr. 3). Mit 1 Skizzentafel. Wien: Seidel & Sohn k. u. k. Hofbuchhändler 1909. Aber auch allgemeine Beschreibungen Montenegros von öffentlichen Organen lassen selten die Kampfstrategien seiner BewohnerInnen außer Acht. - RÜFFER 1870 unternimmt eine Kritik an der Politik Österreichs gegenüber Montenegro, was dessen Streben nach einem Hafen anbelangt. Der Militärhistoriker, Journalist und Schriftsteller Eduard Rüffer (1835-1878) bietet hier ausführlich für Kriegstaktiken und für den Nachschub relevante geografische Informationen, die er in den Rahmen einer möglichen »Befreiungsinvasion« der genannten Länder/ Regionen durch Österreich-Ungarn stellt. Durch die besondere Hervorhebung des zu erwartenden Willkommens einer solchen Invasionsarmee zur Befreiung von den Osmanen in Bosnien (p. 46) darf die Schrift auch als Propaganda für die Okkupationspläne Bosniens durch Österreich-Ungarn betrachtet werden. Cf. ebenfalls H. A.: Die türkische Wehrmacht und die Armeen der Balkanstaaten. Bulgarien, Griechenland, Rumänien, Serbien und Montenegro. Wien: Verlags-Anstalt »Reichswehr« 1892. 103 SCHÖN 1909, p. VI. 104 Als Astronom ist er unter dem Namen Leo Brenner bekannt. 105 GOPČEVIĆ, Spiridon: Der Krieg Montenegro’s gegen die Pforte im Jahr 1876. Mit einer Kartenbeilage, <?page no="342"?> 342 Ursula Reber Während Gopčević das Bild des rebellischen und stets kriegsbereiten Montenegriners zitiert, gleichzeitig jedoch auf den strategisch unzivilisierten Soldaten abzielt, entsteht unter romantisierenden Tendenzen zunehmend die Vorstellung von gefährlichen Partisanen, die wie Raubkatzen, mit ihrer Landschaft tödlich sicher verschmolzen, aus dem Hinterhalt überraschend hervorbrechen, um zu töten. Damit ergibt sich, dass Montenegro zwar für ein geübtes und trainiertes Heer mit ausgebildeten Strategen - also einer überlegenen Kultur- und Imperialismustechnik - keinen ernst zu nehmenden Gegner darstellt, dass zugleich jedoch der montenegrinische Partisan in seiner fast tierhaften Verwegenheit für jeden einzelnen Soldaten eine individuelle und unberechenbare Gefahr bedeutet. Mit Eva Horn ist der Partisan eine Grenzfigur, ein Grenzgänger: »An [ihm] lässt sich die Wirkung und das Wesen von Grenzen in genau dem Moment sichtbar machen, wo diese Grenzen verletzt, verschoben oder verwirrt werden.« 106 Die Unberechenbarkeit und die beständige Grenzüberschreitung und -verletzung, die der Partisan leistet, besteht vornehmlich darin, dass er im Hinterhalt operiert, dass er keine militärische Organisation kennt oder akzeptiert und dass er nicht durch äußerliche Merkmale wie eine Uniform kenntlich ist. Damit verletzt er die Ordnung des Kriegsrechts, da Zivilist und Soldat/ Kämpfer unkenntlich gemacht werden, die Grenze zwischen ihnen aufgehoben wird: »Wo nicht zu erkennen ist, wer kämpft und wer nicht, wird die ganze Bevölkerung zur potentiellen Bedrohung für die Besatzer.« 107 Im Fall Montenegros als einem Volk unter Waffen, bei dem jeder Mann zur Landesverteidigung verpflichtet ist und bei dem wenig Unterschied zwischen Uniform und Nationaltracht gemacht wird, sowie bei einem Kampfstil, der die Feinde immer weiter ins Landesinnere lockt, im Notfall Hab und Gut verbrennt, schießt, auch wenn Flucht vorgegeben wird, letztlich bei der ›Formation‹ eines »regellose[n] Haufen[s]« 108 lässt sich im Grunde nicht von einer Armee sprechen. Stattdessen entspricht diese Beschreibung dem Bild von Partisanen. Der Partisan wird allein durch Widerstand gekennzeichnet; er ist kein Soldat, der angreift, sondern jemand, der sich gegen eine illegale, fremde Macht wehrt. Diese Merkmale korrespondieren tatsächlich mit den Widerstands- und Befreiungskämpfen Montenegros gegen die osmanische Herrschaft. Die Schreiber sehen jedoch weitere Verflechtungen von Geschichte, Kampftaktik, Partisanen-Kultur und Mentalität: Die Abgeschlossenheit und abweisende Unwirtlichkeit Montenegros bringen dieses allgemeine Partisanentum Schlachtpläne enthaltend. Wien: J. W. Seidel & Sohn 1877, p. 19. 106 HORN, Eva: Partisan, Siedler, Asylant. Zur politischen Anthropologie des Grenzgängers. In: EIGMÜL- LER & VOBRUBA 2006, pp. 239-249, hier p. 239. 107 Ibid., p. 241. 108 Cf. TERSTYÁNSZKY, August: Das strategische Verhältniß des serbisch-bosnischen und bulgarischen Kriegsschauplatzes gegenüber dem Oesterreichisch-ungarischen Staate. Nach den besten Quellen bearbeitet von August Terstyánszky, kgl. ung. Honved-Oberst. Teschen, Wien: Verl. Der Buchhandlung für Militär-Literatur Karl Prochaska 1874, pp. 66 f. <?page no="343"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 343 hervor. Sie führe zu ihrer »fisischen Kraft, Behendigkeit und Ausdauer« und gleichzeitig zur »frühzeitige[n] Bekanntschaft […] mit den Waffen, ihre[n] beständigen Schießübungen und ihre[n] ununterbrochenen Kämpfe[n]«. 109 Das Territorium wird derart zum unhintergehbaren Schicksal seiner EinwohnerInnen, die ein selten homogenes Territorium von Kampf, Zusammenhalt und Anpassung an die heimatliche landschaftliche Beschaffenheit bilden, sowie ihrer Verbündeten und ihrer Gegner, die sich auf keine Ordnung verlassen können. Montenegro steht im Spannungsfeld zwischen einer hierarchisierten und patriarchalischen Struktur, die aber nur eine Oberflächenansicht zu bieten scheint, und der Phantasie von beweglicher Dezentralität, ständiger Mobilisierbarkeit und schwer zu durchschauenden Netzwerken jederzeit auflösbarer und dennoch stabiler Bündnisse zwischen Familien, Stämmen und ›slavischen Brudervölkern‹: 110 Auch ein geographisches Operationsobjekt - wie es anderwärts etwa die Hauptstadt ist - fand sich für ein Invasionskorps nicht. Die Besetzung Cetinjes hätte den dort ansässigen Montenegrinern wehe getan, die Landesverteidigung aber wenig geschädigt. Alle Verhältnisse sind partriarchalisch einfach, die Organisation, die Regierung sind nicht von der geordneten Tätigkeit eines komplizierten, bureaukratischen Apparates abhängig wie in größeren Staaten; es war also ohne Belang, ob von Cetinje oder von einem anderen Orte aus Befehle ergingen, die Verteidigung organisiert und der Widerstand geleitet wurde. 111 Im Kontext des aus diplomatischen Berichten, Reiseliteratur und häufig fehlerhaften Karten gewonnenen Wissens über Montenegro, das ebenjenes Patriarchalisch-Simple, Stolze und Kriegerische selten einfach nur verzeichnete, sondern immer zugleich, - entweder als unzivilisiert oder als heroisch - wertete, hebt die dezentrale politische, militärische beziehungsweise partisanenhafte und soziale Struktur der MontenegrinerInnen zu einem verstellten Begehrensobjekt. In diesem Sinne fungiert die obige Beschreibung nicht nur als negative Beurteilung für eine etwaige militärische Offensive, sondern auch als Phantasma. Zu diesem Phantasma einer mobilen und leicht mobilisierbaren Gesellschaft gehört im Grunde bereits die »allgemeinste Wehrpflicht« 112 , die alle Montenegriner vom 17. bis zum 50. Lebensjahr erfasste 113 ; jedoch »im Falle einer allgemeinen Mobilmachung zieht, wie bei allen Völkern auf der ersten Stufe der Culturentwicklung, die ganze männliche Bevölkerung, die Waffen tragen kann, gegen 109 ŠESTAK, J. F./ SCHERB, J. v.: Des Paschlik’s Hercegovina und des Fürstenthums Crnagora sammt Karte v. J. F. Šestak, K. K. Hauptmann in Wien, F. von Scherb, Inhaber der Universal-Agentie in Wien. Wien: Selbstverl. 1862, p. 85. 110 Cf. zum Themenkomplex verschiedener Bündnisse auch BOEHM, Christopher: Blood Revenge: Anthropology of Feuding in Montenegro and Other Tribal Societies. Lawrence: UP of Kansas 1986. 111 SCHÖN 1909, p. 28. 112 RÜFFER 1870, p. 26. 113 SCHÖN 1909, p. 2. Laut H. A. 1892, p. 204, vom 18. bis zum 50. Lebensjahr; laut ANON.: Die serbische und montenegrinische Armee. Mit Textskizzen u. Abb. Wien: Josef Roller & Co. 1912, p. 106, von 18 bis 62 Jahren. <?page no="344"?> 344 Ursula Reber den Feind und Kind und Weib besorgt den Sanitäts- und Verpflegsdienst« 114 . Die militärischen Einheiten, die Bataillone, sind nach dem umfassenden Prinzip der Blutsverwandtschaft organisiert. Zum Erstaunen Josef Schöns stand »an der Spitze des Bataillons der Commandir ohne Stab und ohne Erhaltungsapparat […]; auch die Brigade entbehrte eines organisierten Trains« 115 . Der »Korpsgeist« und die Solidarität des montenegrinischen Kriegervolkes erhält so die Merkmale einer »Bande«, nicht unähnlich den Bündnissen und Solidaritäten in Tierrudeln: »Dieser auf natürlicher Zusammengehörigkeit beruhende Verband mußte ein besonders fester sein und erklärt die zahlreichen Beispiele rührender Aufopferung in der gegenseitigen Unterstützung, wie auch den edlen Wettstreit, es einander im Kampfe zuvorzutun.« 116 Vorstellungen von dezentralisierter, partisanenhafter Organisation, von Banden und Bündnissen, von Verschmelzungen zwischen Mensch und Landschaft werden im Rahmen der Überlegungen zu Territorialisierungen wiederum von Deleuze und Guattari herangezogen und in den Konzepten von der »Kriegsmaschine« und dem Nomadologischen ausgearbeitet. Ich möchte im Folgenden Ansätze aus diesen Überlegungen in das historische Montenegro hineintragen und Verbindungslinien zwischen den Partisanen und Vorstellungen vom Nomadischen herstellen. Von dieser Seite ergibt sich möglicherweise ein weiterer Blickwinkel auf die mobile Stammesgesellschaft mit ihren unsicheren Grenzziehungen. Die Verunsicherung greift so auch noch weiter und umgeht die weiter oben angerissenen Konzepte von Kultur durch eine postmoderne Zusammenführung von Tierreich und menschlichem Sozialen. Was dabei entstehen kann, ist eine Möglichkeit aufzuzeigen, dass Wissen in hohem Maße von Vorstellungen und Kombinatoriken gesteuert und gebildet wird. Der heuristische Wert dieses Vorgehens kann nochmals Licht auf Wunschvorstellungen und Phantasmen des Sozialen und Kulturellen werfen: Für sich genommen entziehen sich Begriffe wie Nomadismus, Partisan, Mobilität oder Territorium einer Wertung. Erst in der Besetzung mit diversen und widersprüchlichen Vorstellungen werden sie zu negativen oder positiven Begehrensobjekten umformiert, die eine eigene Kraft entfalten; und räumliche Formationen, die auf anderem Weg unsichtbar blieben, werden zumindest umrisshaft kenntlich. Die Verschmelzung der montenegrinischen Soldaten mit ihrer Umgebung, ihr Besetzen dieses Raumes, ihre Geschwindigkeit beim Überfall und beim Zusammenkommen zur Verteidigung, wie sie von Josef Schön und dem anonymen Strategen 117 geschildert werden, sowie die Operationalität ihrer Bewegungen - ob sie zum verhofften Kampfes- und Beuteerfolg führen oder nicht - sind auf ihre 114 H. A. 1892, p. 205. Cf. dazu auch ANON. 1912, p. 103, der vom »vererbten Grundsatz« spricht, »daß jeder waffenfähige Montenegriner zum Kriegsdienste, insbesondere aber zur Verteidigung des heimatlichen Bodens, verpflichtet sei[…]«. Dies wiederum bezeichnet die Grundregel des Partisanentums. 115 Ibid., p. 3. 116 Ibid., p. 104. 117 Ibid., p. 123. <?page no="345"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 345 Weise von Phantasien des Nomadischen und der Kriegsmaschine durchzogen. 118 So, wenn die Montenegriner in einer »Gegend […,] sehr übersichtlich, weit und breit kein Baum, kein Haus; nicht einmal das sonst in der Gegend häufige Karstgebüsch [, das] Blick und Bewegung [hemmt]« 119 , sich unsichtbar verteilen und die türkische Gegenmacht überraschen, »von Deckung zu Deckung schleichend und springend, […] Schwarm um Schwarm, […] dicht wie die Heuschrecken, die Montenegriner« 120 . Eine solche »Verteilung des Raumes« durch Schwärme von Kriegern kommt auch besonders anschaulich bei der Schilderung des Defensivkrieges zum Ausdruck: Während den Osmanen die unbekannte und unwegsame Landschaft als ein Raum, der nicht einzuteilen und strategisch homogen zu durchdringen ist, zum Verhängnis wird, zeichnet sich das Anti-Territoriale in den strömenden und den Flucht-Bewegungen der Montenegriner ab: Wohl hatte Suleiman Pascha auf seinem Wege alles, was die Montenegriner nicht ins Gebirge retten konnten, verwüstet und niedergebrannt. Aber die elenden Hütten sind bald wieder aufgebaut und von den paar niedergetretenen Feldern leben die Montenegriner ohnehin nicht. [… D]ie Montenegriner retten ihre bewegliche Habe, vor allem das Vieh ins Gebirge, fügen dem Feinde, ihn fortwährend umschwärmend, so viel Schaden als möglich zu und kehren nach seinem Durchzuge ebenso reich und arm wie früher an ihre Wohnstätten zurück. […] Die montenegrinische Armee war für die türkischen Korps kein verläßliches Operationsobjekt. Sie bestand heute aus über das ganze Land zerstreuten Schafhirten, morgen aus Banden, übermorgen aus 10.000 bis 15.000 Mann, die sich über Nacht gesammelt und in ihre Verbände gefunden hatten und über eine der feindlichen Kolonnen herfielen. Ebenso schnell war die Armee wieder auseinander, verschwunden. 121 Wenn aber diese mobile Gesellschaft, die sich nur in kollektiven Geschichten über Widerstand, Raubzüge und Geschwindigkeit fassen lässt, sich in all ihren Eigenschaften derart genau ihrer landschaftlichen Umgebung anpasst und dürr, karg, unberechenbar und widerständig gegen Kulturation ist, empfiehlt sich für einen modernen, bürokratischen Staatsapparat wie Österreich-Ungarn nicht, Montenegro zu einem Herrschaftsterritorium zu machen. Dafür wäre es nötig, das »Land […] dauernd und mit erdrückenden Kräften besetzt zu halten« 122 . Die Interaktion zwischen Staatsapparat (Habsburg) und Kriegsmaschine (Montene- 118 Das Wörtlich-Nehmen der Bestimmungen von Deleuze/ Guattari ist mit Recht unüblich. Der »glatte Raum« und das Nomadologische werden in der Regel auf abstrakte Einheiten und vor allem mit Gewinn im virtuellen und anderen symbolischen/ medialen Räumen angewendet. Der - von vornherein eingeschränkte - Versuch, die Autoren und ihre ethnologisch und strategisch fundierten Quellen beim Wort zu nehmen, vermindert die Qualität des Konzeptes nicht, bettet es jedoch m. E. in eine Weltanschauungsströmung und Differenzialisierungsstrategie ein, die in sich ebenso fragwürdig ist wie die Konstruktion des partisanenhaften Montenegriners. 119 SCHÖN 1909, p. 19. 120 Ibid., p. 21. 121 Ibid., pp. 27 f. 122 Ibid., p. 27. <?page no="346"?> 346 Ursula Reber gro) funktioniert nur auf der Grundlage des Bündnisses, das aber wiederum so instabil wie die Menschenschwärme ist. Das Phantasma vom nomadologischen Partisanen bringt eine ähnliche Ambivalenz, ein ähnliches Hinundherschwanken zwischen Faszination und Abstoßung zum Ausdruck, wie es Goldsworthy 123 für die britische Literatur über den Balkan feststellt. Die hegemonialen Interessen politischen Einflusses, ökonomischen Gewinns und territorialer Ausdehnung auch der österreichisch-ungarischen Politik werden in den hier vorgestellten Schriften, die sich als strategische Abhandlungen per Genre in den Dienst von Herrschaft stellen, in ein Begehren nach dem eigenen ›wilden, glatten Raum‹ überführt, das sich jedoch zugleich der vollkommenen Beherrschung entzieht. In diesem Sinne stellt sich der gesamte nomadologische Komplex jeder Herrschaftspolitik quer und führt einerseits zur Verniedlichung/ Vernachlässigung, beispielsweise zu der Forderung, dass »[d]ie Montenegriner in Hinkunft in ihren Bergen zurückgehalten und ihr Land etwa wie ein amerikanischer Naturpark behandelt werden [müssten]« 124 , und andererseits zur Hyperbole, die Montenegro zum Piemont des Balkan stilisiert. 125 7 Heterotopien der Moderne So wenig eine physische Geografie nur für sich stehen kann, so wenig kommt auch das oben dargestellte strategische Wissen ohne kulturelle Implikationen und Vorstellungen aus. So ergeben sich, sowohl das Genre als auch die Chronologie der Texte überschreitend, intertextuelle Bezüge anhand von einzelnen wiederholten und abgewandelten Plots, aber auch konkreten Bildern und narrativen Versatzstücken, wie sie bereits von Božidar Jezernik in seiner Monografie Wild Europe oder von Konstantinovic nachgewiesen wurden. 126 Der Krieg kann als Leitmetapher festgemacht werden, der die kulturellen Formationen dieser patriarchalen Gesellschaft bestimmt. Diese Gesellschaft wird weitgehend als eine durch und durch vormoderne beschrieben. Ihre Charakteristika werden einige Male in das Naive 127 gewendet. Das Naive lässt sich nach Friedrich Schiller 123 GOLDSWORTHY 2003. 124 Protokoll 1916, p. 13. 125 Ibid., p. 5. 126 JEZERNIK, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers. London: Saqi Books 2004. 127 HERTZBERG, Gustav: Montenegro und sein Freiheitskampf. Halle: Schrödel & Simon. Knapp’sche Sortimentsbuchhandlung 1853; STEFANOVIĆ V. VILOVO, Theodor Ritter: Wanderungen durch Montenegro. Separat-Abdruck aus der Politik. Mit dem Porträt der Fürstin Milena. Wien: Mechitharisten- Buchdruckerei (W. Heinrich) in Wien. Selbstverlag des Verfassers 1880; SCHWARZ 1888; ACHLEITNER, Arthur: Reisen im slavischen Süden (Dalmatien und Montenegro). Berlin: Paetel 1913; BREPOHL 1913; BUBENIČEK, Josef: Nach Montenegro. Eine Reiseskizze. Mit 6 Abbildungen im Texte und einer Ansicht von Cetinje als Beilage. In: Jahres-Bericht über das K. K. Staats-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag, Neustadt, Stephansgasse für das Schuljahr 1902/ 03. Prag: Verl. des k. k. Staatsgymnasiums - Druck von Rohlicek und Sievers 1902-1906. <?page no="347"?> Montenegro | Österreich-Ungarn 347 als Natur bestimmen, als ein geschlossenes Ganzes, das seinen eigenen, notwendigen Gesetzen folgt. Zu diesen Gesetzen gehört im menschlichen Bereich zuvörderst der Affekt, der hier immer als unverstellt gedacht wird. Abgeleitete Affekte, verstellte Begehren und dunkle Motivationen sind aus dem Konzept des Naiven ausgeschlossen. Gleichwohl schreibt Schiller das Naive der Vergangenheit zu, die nicht mehr einholbar, nur im Konzept des Sentimentalischen abgewandelt iterierbar ist. Was Griechenland und die GriechInnen, aus deren Studium das Konzept des Naiven entspringt, bedeutete, wird für eine Reihe von Reiseschriftstellern Montenegro, das literarisch zur Utopie eines aufrechten, stolzen, edlen Bergvolkes umgeschrieben wird, das in einigen Zügen dem »edlen Wilden« gleicht. 128 Das Bewusstsein der Nichtwiederholbarkeit eines naiven und heroischen Zeitalters in der Gegenwart findet jedoch auch hier hin und wieder eine entsprechende ästhetische Umsetzung, welche den zeitgenössischen Diskursen Raum gibt. Hier wird Montenegro zu einer Form der Heterotopie der Moderne, zu einem Land, in dem die Lüge unbekannt ist, Politik mit Respekt und Aufklärungswillen einher geht, in dem auf »natürlichste« Art die Jugend das Alter ehrt, in dem aber zugleich Auto gefahren, die Technik geschätzt wird, Zeitungen gelesen und Fremdsprachenkenntnisse erworben werden. 129 Auf diese Art erfüllt Montenegro heterotopische Spiegelfunktionen: Es bildet den Spiegel, der als »eine Heterotopie [fungiert] in dem Sinn,