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Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt

Theaterstreitschriften zwischen  1869 und 1914

0401
2009
978-3-7720-5244-6
978-3-7720-8244-3
A. Francke Verlag 
Peter W. Marx
Stefanie Watzka

Als die 1869 verabschiedete Gewerbefreiheit auch die Gründung von Theatern erleichterte, kam es zu einem regelrechten Theaterboom und Berlin begann seinen Aufstieg zur wichtigsten deutschen Theaterstadt. Nahezu gleichzeitig mit dieser Gründungswelle aber setzte eine Flut von Streitschriften ein, die diesen Prozess kritisch begleitete. Die Themen reichten von der künstlerischen Programmatik über die kulturellen Folgen bis hin zur sozialen Situation der Künstlerinnen und Künstler.Viele dieser Kleinschriften, die gerade wegen ihres besonderen Formats sehr direkt Auskunft über das Theater und die Bedingungen seiner Zeit geben, sind heute kaum noch zugänglich. Der vorliegende Band versammelt eine breite Auswahl dieser Schriften und gibt sie in einer kommentierten Form wieder, so dass sie als lebendige Zeugnisse dem Leser die Dynamik und Lebendigkeit der Theaterlandschaft bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vermitteln.

<?page no="0"?> Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914 Herausgegeben und kommentiert von Peter W. Marx und Stefanie Watzka <?page no="1"?> Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt <?page no="3"?> Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914 Herausgegeben und kommentiert von Peter W. Marx und Stefanie Watzka Unter Mitarbeit von Jasmin Fisel, Stephanie König, Annika Rink,Teresa Sofie Taubert, Dorothea Volz <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Preußische Seehandlung, Berlin © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8244-3 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort ...................................................................................................................... 7 Einleitung .................................................................................................................. 9 1. Julius und Heinrich Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) Einführung ................................................................................................................. 17 Text .............................................................................................................................. 19 Kommentar ................................................................................................................ 65 2. Conrad Alberti: Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) Einführung ................................................................................................................. 73 Text............................................................................................................................... 75 Kommentar ................................................................................................................ 133 3. Maximilian Harden: Berlin als Theaterhauptstadt (1888) Einführung ................................................................................................................. 145 Text .............................................................................................................................. 147 Kommentar ................................................................................................................ 170 4. Paul Linsemann: Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) Einführung ................................................................................................................. 177 Text .............................................................................................................................. 179 Kommentar ................................................................................................................ 235 5. Victor Laverrenz: Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) Einführung ................................................................................................................. 247 Text .............................................................................................................................. 249 Kommentar ................................................................................................................ 270 6. August Scherl: Berlin hat kein Theaterpublikum! Vorschläge zur Beseitigung der Mißstände unseres Theaterwesens (1898) Einführung ................................................................................................................. 273 Text .............................................................................................................................. 275 7. Heinrich Stümcke: Berliner Theater (1907) Einführung ................................................................................................................. 309 Text............................................................................................................................... 311 Kommentar ................................................................................................................ 325 <?page no="6"?> Inhalt 6 8. Karl Strecker: Der Niedergang Berlins als Theaterstadt (1911) Einführung ................................................................................................................. 331 Text .............................................................................................................................. 333 Kommentar ................................................................................................................ 355 9. Erich Schlaikjer: Gegenwart und Zukunft der deutschen Schaubühne (1912) Einführung ................................................................................................................. 359 Text .............................................................................................................................. 361 Kommentar ................................................................................................................ 394 Quellen ....................................................................................................................... 397 Register ...................................................................................................................... 399 <?page no="7"?> Vorwort Die Idee für die vorliegende Quellensammlung entstand während der Arbeit an verschiedenen Forschungsprojekten zur Theater- und Metropolitankultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wer sich mit diesem Thema beschäftigt wird bald der für den heutigen Leser erstaunlichen Tatsache begegnen, dass es einen breiten Strom grauer Literatur gibt, der sich intensiv und leidenschaftlich mit dem Theater auseinandersetzt. Sprechen über Theater bedeutet hier aber mehr als ein Diskurs über Geschmack und Kunst - es ist immer auch ein Ringen um eine ihrem Wesen nach soziale Kunstform. Diese Streitschriften, am Tag für den Tag geschrieben, sind durchdrungen von der Aktualität ihres Gegenstandes, weniger sind sie distanziert-reflektierende Betrachtungen als engagierte Parteinahmen, polemische Glossen und flammende Plädoyers. Aufgrund ihrer besonderen Form als eigenständig erschienene Schriften zwischen Zeitschriftenartikel und Buch fallen sie allerdings oftmals durch das Raster von Bibliotheken. Um sie dennoch der Forschungsdiskussion zugänglich zu machen, ist eine Auswahl hier versammelt und mit einem Arbeitskommentar versehen worden. Möglich wurde dieses Unterfangen nur durch die großzügige Unterstützung der Stiftung Preußische Seehandlung (Berlin), die die Drucklegung möglich machte. Zu danken ist an dieser Stelle aber auch vielen Institutionen bzw. deren Mitarbeitern, die das Auffinden der Texte ermöglicht haben. Hier seien auch stellvertretend genannt Butler Library (New York City), die Theatergeschichtliche Sammlung Schloss Wahn (Köln) und die Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh (Berlin). Die Fingerzeige, Unterstützung und Ermunterungen waren oft von entscheidender Bedeutung. Zu danken ist auch dem Theaterwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, namentlich deren Leiter Friedemann Kreuder, der das Projekt beherbergt und gefördert hat. Ohne die sorgfältige und umsichtige Mitarbeit studentischer Mitarbeiterinnen wäre an eine Drucklegung der Texte nicht zu denken gewesen. Unser Dank gilt Jasmin Fisel, Stephanie König, Annika Rink, Sofie Taubert und Dorothea Volz. Eine Auswahl aus einem großen Korpus von Texten zu treffen, bedeutet immer auch Akzente zu setzen, die subjektiv und auch in einer anderen Blickrichtung hätten erfolgen können - dieses Risiko haben wir hier bewusst in Kauf genommen, weil wir die Zugänglichkeit dieser Texte für die weitere Diskussion für unerlässlich halten. Bern/ Mainz, im Februar 2009 Peter W. Marx Stefanie Watzka <?page no="9"?> Einleitung Blickt man auf die Fülle grauer Literatur, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Theater in Berlin beschäftigt, so wird schnell deutlich, dass das Theater - vermutlich neben dem Wetter - eines der entscheidenden Gesprächsthemen gewesen sein muss. Denn die hier in Auswahl versammelten Schriften, die als kleine Broschüren erschienen, bilden nur die Spitze eines Eisbergs der öffentlichen Auseinandersetzung um das Theater - man möge sich nur den begleitenden Chorus einer umfassenden Zeitungsberichterstattung vorstellen, der diese exponierten Einzelstimmen orchestrierte. Will man dieses Interesse verstehen, so ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Entwicklung des Theaters in enger Bindung die Entwicklung Berlins zur modernen Großstadt reflektiert. So ist in der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Historiographie das wichtigste Datum der Berliner Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts weniger in einem künstlerischen Ereignis zu suchen, als vielmehr in einem Verwaltungserlass von 1869, der die Gewerbefreiheit für den Norddeutschen Bund herstellte. Da die Theater ebenfalls in den Geltungsbereich dieser Verordnung fielen, war damit de facto - wenngleich sicherlich nicht als zentrale Absicht der Gesetzgeber - die Theaterfreiheit geschaffen. Die Einrichtung und Führung eines Theaters war nicht länger abhängig von der Gewährung eines königlichen Patents, sondern von einer gewerbepolizeilichen Genehmigung. Natürlich behielt sich der Staat in Form der Theaterzensur einen nicht unwesentlichen Einfluss vor, allerdings konnte es hier nur um kleinere Einflussnahmen gehen, die dann auch regelmäßig für Aufsehen sorgten. Die Gewährung der Gewerbefreiheit führt unmittelbar zu einem sprunghaften Wachstum der Berliner Theaterlandschaft - Siegfried Jacobsohn spricht von einer „Theaterwut“ bzw. einer „Theaterepidemie“, 1 wobei schon die gewählte Metaphorik die Skepsis gegenüber dieser Entwicklung durchscheinen lässt. Der Charakter dieser Neugründungen wird schon an ihrem physischen Ort erkennbar: Die meisten der neu entstehenden Theater waren Umbauten von Tanz- oder Kneipensälen, die nun in größere oder kleinere Bühnenräume verwandelt wurden. Das zentrale Motiv hierfür war natürlich in den meisten Fällen ein ökonomisches Interesse, wie Max Martersteig naserümpfend feststellt: „Die Ausdehnung der Gewerbefreiheit auf die theatralischen Unternehmungen aller Art war kaum Gesetz geworden, als sich die Spekulation, ersichtlich schon lange gerüstet, beeilte, die dargebotenen Chancen auszunutzen.“ 2 Während die ersten der neu gegründeten Theater vornehmlich Unterhaltungsstücke boten, die zumeist aus Wien oder Paris importiert und angepasst wurden, änderte sich die Situation grundlegend, als 1883 der erfolgreiche Dramatiker Adolph L’Arronge das in seinem Besitz befindliche Friedrich-Wilhelmstädtische Theater gemeinsam mit den Schauspielern Ludwig Barnay, Friedrich Haase, 1 Vgl. Jacobsohn 2005, 26f. 2 Martersteig 1904, 631. <?page no="10"?> Einleitung 10 Siegwart Friedmann und Ernst von Possart als Künstlersozietät Deutsches Theater umwandelte. Zwar scheitert die Idee eines von Künstlern mehr oder weniger gemeinsam geleiteten Theaters innerhalb kürzester Zeit - die ersten Sozietäre steigen schon Ende des Jahres aus - damit aber gibt es in Berlin ein Theater, das sich explizit als künstlerisches Theater versteht und das u.a. von den Impulsen, die von den Meininger Gastspielen ausgingen, 3 geprägt ist. Damit erhielten die theaterreformatorischen Ansätze, die sich vereinzelt immer wieder im deutschsprachigen Raum fanden und die auf eine ästhetische Innovation der Bühne, etwa durch eine Verbesserung des Ensemblespiels und die Aufwertung der Bühnenausstattung, zielten, einen festen Ort. Die Gründung des Deutschen Theaters kam einem Erdbeben innerhalb der Berliner Theaterszene gleich, als dessen Folge vor allem das Königliche Schauspielhaus seine frühere Vormachtstellung fast völlig einbüßte. Schon 1888 stellte Maximilian Harden süffisant fest: „Ein Repertoir wie das des [Königlichen] Schauspielhauses bedeutet einfach den künstlerischen Bankerott, den völligen Verzicht auf jede führende Stellung im deutschen Theaterleben.“ 4 Diese Verschiebung ist aber nicht allein dem geänderten Geschmack des Publikums zuzuschreiben - vielmehr artikuliert sich in der Hinwendung zu dieser Bühne der Wille zur kulturellen Teilhabe, die den Mangel an tatsächlicher politischer Teilhabe kompensieren soll. Je bornierter sich die aristokratischen Eliten gebärdeten und je mehr sie versuchten, Machtpositionen in Militär, Verwaltung und Politik gegen die „Emporkömmlinge“ zu verteidigen, desto stärker wurde die Kultur zu einem Feld der aktiven Teilhabe und des Engagements. Das Theater als Kunstform, bei der sich Künstler und Publikum unmittelbar begegnen, entwickelte sich zu einer Form urbaner Öffentlichkeit, die bewusst jenseits der Offizialkultur stand. Dass dies bislang sowohl von der Theaterals auch von der allgemeinen Geschichtsschreibung ignoriert wurde, lässt sich besonders auf zwei Faktoren zurückführen: Zum einen gründet dieses Desiderat - und davon geben die hier versammelten Streitschriften ein beredtes Bild - in einem ästhetischen Vorurteil, das dem kommerziellen Theater schon von den Zeitgenossen entgegengebracht wurde. Viele Kritiker bewerteten die Aufführungen sowie die Verfasstheit der Theaterlandschaft im Allgemeinen aus dem Blickwinkel eines idealistischen Theaterolymps, der weder historisch noch für die Autoren biographisch belegbar ist. Vor allem seit der Reichsgründung 1871 steigerte sich die Sehnsucht nach einem Nationaltheater, das der gefühlten Größe des historischen Augenblicks künstlerischen Ausdruck verleihen sollte, so sehr, dass die stattfindende kulturelle Praxis an diesem Anspruch fast zwangsläufig scheitern musste. Wenn die Brüder Hart 3 Es ist geradezu symptomatisch für die Entwicklung des deutschen Theaters im 19. Jahrhundert, dass der Ursprung der Bühnenreformen nicht in den großen urbanen Zentren zu finden ist, sondern sich - basierend auf dem Protektorat eines regierenden Fürsten - in der „Provinz“, in Meiningen seinen Beginn nahm. Ihre ab 1874 durchgeführten Gastspiele waren in vielen europäischen Ländern ein Initialfunke für künstlerische Reformen. 4 Harden 266-69. <?page no="11"?> Einleitung 11 von dem Theater als einem „Sedan des Geistes“ 5 sprechen, dann kann man schon an der Formulierung die Unmöglichkeit der Aufgabe erkennen. Vor dem Horizont eines grand récit, der die Kunst des 20. Jahrhunderts in der Denkfigur der Avantgarde auch als Überwindung des mediokren Vorgängersäkulums feiern will, passten sich solche Zweifel und Ablehnungen gut in das Bild ein, so dass die Perspektive auf die Theatergeschichte als eine „Leistungsgeschichte“ keinen Anlass sah, die Quellen kritisch zu würdigen bzw. ihr Urteil zu korrigieren. Das zweite Momentum, das zur gegenwärtig vorherrschenden historischen Diagnose führt, reicht weiter: Es wurzelt in der im 18. Jahrhundert begründeten Vorstellung von der Kunst als einer reinen Sphäre ihrer selbst, die nur dem Wahren, Schönen, Guten geweiht sein soll und durch die Berührung mit „irdischen“ Kräften, wie der Ökonomie oder dem Geld, unmittelbar kontaminiert wird. Mit der Prägung des Begriffs der „Kulturindustrie“ haben Horkheimer und Adorno eine begriffliche Bestimmung vorgenommen, welche die Verbindung von Kunst und Kommerz nur noch als eine Verfallsform denken lässt. Ganz in diesem Sinne hat Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) die Entwicklung des Theaters gezeichnet: Figuriert es bei ihm im 18. Jahrhundert als eine der prägenden Institutionen bei der Herausbildung bürgerlicher Öffentlichkeit, verfällt es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu reinem Amüsement. Seine Beschreibung des „Freizeitverhaltens“ liest sich durchaus wie ein spätes Echo auf die Invektiven gegen die Theaterkultur um 1900: Das sogenannte Freizeitverhalten ist apolitisch schon deshalb, weil es, in den Kreislauf von Produktion und Konsum einbezogen, eine vom unmittelbar Lebensnotwendigen emanzipierte Welt nicht zu konstituieren vermag. […] Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Rezeption. 6 Nun ist Habermas’ Studie in den vergangenen Jahren so häufig kritisiert und vor allem aus kulturhistorischer Perspektive korrigiert worden, dass eine abermalige Replik fast überflüssig erscheinen muss. Tatsächlich aber eröffnet die Bezugnahme auf Habermas eine Perspektive, die vor allem das konstitutive Moment der Öffentlichkeit ins Zentrum der Betrachtung rückt. Entkleidet man nämlich sein Argument der moralischen Bewertung und versucht, die kulturelle Position von Theater im Gefüge der ständig wachsenden Städte des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Blick zu gewinnen, so wird deutlich, dass sich durch die Gewährung der Gewerbefreiheit eine neue Form der Öffentlichkeit herausbildete, für die ihre Fundamente in einem kommerziellen Kulturbetrieb kein Hindernis waren, sondern vielmehr gerade ihre Dynamik, Vitalität und Reichweite begründeten. 5 Hart/ Hart 19. 6 Habermas 1990, 249. <?page no="12"?> Einleitung 12 In diesem Blickwinkel lässt sich auch eine erstaunliche „Komplizenschaft“ zwischen Theater und der sich entwickelnden Zeitungslandschaft erkennen: Es ist sicherlich kein Zufall, dass parallel zu den vielfältigen Theatergründungen eine Reihe von kleineren Kulturzeitschriften entstanden, wie etwa „Die Zukunft“ (1892-1922) von Maximilian Harden, „Pan“ (1910-1915) von Paul Cassirer, „Die Fackel“ (1899-1936) von Karl Kraus und „Die Schaubühne“ (1905-1918) bzw. „Die Weltbühne“ (1918-1933) von Siegfried Jacobsohn. Hinzu kommt noch eine breite Szene von Theaterkritikern bei den Tageszeitungen, die einen vielstimmigen Chor der Theaterpublizistik bildeten. Diese umfassende Berichterstattung befriedigte nicht allein die kulturell-lukullischen Genusssucht der wachsenden Großstadt - sie konstituierte vielmehr überhaupt erst einen öffentlichen Raum, in dessen Rahmen sich eine kulturelle Identität der Großstadt bilden konnte. Peter Fritzsche hat in seiner grundlegenden Studie „Reading Berlin 1900“ (1996) darauf aufmerksam, dass das Lebensgefühl Berlins weniger durch die tatsächliche physische Erfahrung geprägt wurde, als vielmehr durch eine vielfältige Vermittlung, die Fritzsche vor allem den Zeitungen zuschreibt: However, the constitution of this public space was as much the work of fiction as the function of commerce. The cosmopolitan did not simply set out to see the diversity of the city. The metropolitan encounters were always guided by the layout of the word city as well as the design of the built city. 7 Fritzsches Diagnose ist der Sache nach nur zuzustimmen, allerdings bedarf sie einer Ergänzung, da mit ebensolcher Wirkung die „word city“ durch die „stage city“ ergänzt und befeuert wurde. Theater - in allen Spielarten - spiegelte nicht allein die kulturellen Veränderungen und die sich neu bildenden Strukturen der Metropole, es war in ebensolchem Maße Katalysator und Rhythmusgeber dieser Entwicklung. Dies gilt sowohl für Themen und brennende Fragen, die durch die Bühne in das öffentliche Leben getragen wurden, als auch für ganz alltägliche Elemente der urbanen Lebenswelt: Verloren die Kirchen angesichts der kulturellen Vielfalt der Städte jene zentrale Bedeutung, die sie als Versammlungsort gemeinschaftlichen Lebens im 18. Jahrhundert noch gehabt haben mochten, boten die Theater in einem sehr unmittelbaren Sinne den Raum für das Erleben urbaner Gesellschaft. Wirft man etwa einen Blick auf die Architektur der Theater, so wird schnell deutlich, dass die unterschiedlichen Sozialräume, wie Restaurant, Foyer, Vestibül, Wandelgänge, in Dekor und Umfang einen ebenso große Bedeutung haben, wie die Bühne der Schauspieler. Die Theater waren - und diese Bedeutung darf man nicht unterschätzen - in entscheidendem Maße auch eine soziale Bühne für ihr Publikum. Darüber hinaus gab es noch eine enge Allianz zwischen der neu entstehenden Konsumkultur und der Bühne, die tief in die Lebenswelt des Publikums hineinragte: So ist es kein Zufall, dass es Kaufhäuser und Theater waren, in denen breite 7 Fritzsche 1998, 128. <?page no="13"?> Einleitung 13 Bevölkerungsschichten zum ersten Mal technische Innovationen wie das elektrische Licht erleben konnte. Modernisierung wurde hier nicht als radikaler Bruch mit der Lebenswelt in einem futuristischen Sinne dargeboten, sondern als Luxus in Gestalt bekannter Formen zum sinnlichen Genuss inszeniert. Darüber hinaus waren Theater und Warenhaus durch einen unmittelbaren Kreislauf von Gütern des gehobenen Lebenswandels miteinander verbunden, wie man beispielhaft am großen Einfluss der Schauspielerinnen auf die Mode erkennen kann: „Einst waren Kaiserinnen, heute sind einzelne Schauspielerinnen die Trägerinnen der Mode. Sie geben in den meisten modernen Stücken die Parole aus für neue Moden.“ 8 Heinrich Stümcke führt hierzu aus: Die Theaterbesucherinnen in Parkett und Logen, die bei der ersten Schneiderin der Stadt arbeiten lassen oder ihre Garderobe wohl gar zum Teil aus Berlin und Paris beziehen, wollen namentlich an der ersten Liebhaberin und der Salondame eine Art von lebendigem Modejournal haben, nach dem sie sich bei ihren Bestellungen richten können. 9 So war der Theaterbesuch in einem sehr konkreten Sinne in der Lebenswelt und Alltagsgestaltung der Metropole um 1900 verankert. Auch wenn sich dies in den vorliegenden Quellen nur als Klage über die mangelnde Kultur vermittelt, so stellen wir doch fest, dass der Theaterbesuch mit einer Regelmäßigkeit erfolgte, der die Bedeutung dieser Kunstform überhaupt erst ermöglichte. Liest man die wiederkehrenden Klagen über den mangelnden Geschmack des überhasteten Großstädters genau, so wird vor allem die innere Mobilität der Stadt erkennbar: Der Tag macht müde und schwächt gen Abend die Empfänglichkeit für schwere Kunst. Sich von 8-11 noch in die nachdenklichen Probleme eines Hebbel oder Ibsen zu vertiefen, ist der abgearbeitete Gegenwartsmensch oft rein physisch außerstande. Bei Possen oder leichter Musik, nun ja, da kann man ausruhen und - schließlich auch noch mal ein wenig ans Geschäft denken… ‚Wollen wir heut abend ausgehen? ’ so telephoniert der Geschäftsmann vom Bureau aus seiner Gattin, ‚wohin: Restaurant, Eispalast, Wintergarten, Zirkus, Lichtspiele oder Theater? ’ Ihm ist’s farcimentum, wenn nur die Nerven dabei beruhigt werden. So sehen die Kunstideale der zahlungskräftigen Großstadtschichten aus. 10 Hinter der Karikatur des abwechslungsbedürftigen Parvenüs, der nur seine Entspannung sucht, wird sowohl die Vielgestaltigkeit der vorhandenen Unterhaltungsformen erkennbar als auch die Durchlässigkeit der unterschiedlichen Gen- 8 Grünwald-Zerkowitz 1898/ 1899, 510. 9 Stümcke 1905, 70. Die Arbeitsverhältnisse weiblicher Bühnenangehöriger gehörten zu den großen sozialen Fragen des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Da die Standardverträge es den Schauspielerinnen selbst auferlegten für ihre Kostüme zu sorgen, wurden viele von ihnen in eine (kaum) verdeckte Form der Prostitution getrieben, da es ohne die „Unterstützung“ eines vermögenden Liebhabers kaum möglich war, diese Verpflichtung zu erfüllen. Viele der Schriften, die sich für eine substanzielle Verbesserung dieser Situation einsetzen, gehen hier auch von einer Komplizenschaft zwischen Theaterdirektion und männlichem Publikum aus. 10 Strecker 188-196. <?page no="14"?> Einleitung 14 res und Theaterstätten. Die lange, implizit oder explizit getroffene Annahme, es habe eine stabile Stratifikation innerhalb der Berliner Theaterszene gegeben, der zufolge bestimmte Bevölkerungsgruppen nur bestimmte Theater besucht hätten, lässt sich in diesem Sinne nicht halten. Hiergegen spricht schon die Vielzahl der Theater, die sich allein aus ökonomischen Gründen eine solche Beschränkung nicht hätten leisten können. Gegen eine solche Annahme sprechen auch die Überlagerungen und wechselseitigen Bezugnahmen, die sich zwischen verschiedenen Genres finden. 11 Will man sich ein Bild von der metropolitanen Kultur um 1900 machen, so wird man sie sich am besten als eine dynamische Kultur vorstellen müssen, die - von einer oft beklagten Ruhelosigkeit geprägt - Innovation und Sensation belohnte und beförderte und gerne in ihre Lebenswelt integrierte. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Peter Gay in seiner Studie „Weimar Culture. The Outsider as Insider“ (1968) darauf verweist, dass die liberale Kultur der Weimarer Republik im Kern bereits im Kaiserreich angelegt war: „In a less ominous sense, the modern movement was ripe as well. […] There can be no doubt: the Weimar style was born before the Weimar Republic.” 12 Unter diesen Vorzeichen begleiten die ausgewählten Streitschriften den Aufstieg Berlins als Theaterstadt, räsonieren über den Fortgang dieser Entwicklung und flüchten sich nicht selten in das Theaterlamento, das sie (fast) zu einer eigenen Kunstform erheben. Für eine kulturgeschichtliche Lektüre, muss der Leser des 21. Jahrhunderts einen doppelten Blick auf diese Texte zu entwickeln suchen: einen Blick, welcher der Intention und Aussage des Autors folgt, welcher aber ergänzt wird durch eine zweite Perspektive, die auf das Ausgeblendete oder Weggelassene zielt und den Text wie ein Negativ liest, in dessen Konturen sich erst das komplette Bild einer außerordentlich lebendigen Theaterlandschaft abzeichnet. In der oftmals verzerrten Maske der Karikatur offenbart sich eine kulturelle Landschaft und eine urbane Lebenswelt, die in besonderer Weise radikale gesellschaftliche, technische und kulturelle Veränderungen reflektierte und bewältigte. So lassen sich die Streitschriften auch als Stationen der Herausbildung einer metropolitanen Lebenswelt lesen: Die Reise beginnt mit der frühen Schrift der Brüder Hart, die noch sehr stark von einem bürgerlichen Nationaltheater-Ideal geprägt ist, reflektiert in den Schriften von Harden, Linsemann und Strecker, welche die Auswirkungen auf die Theaterlandschaft in den Blick nehmen. August Scherls Schrift sticht aus der Auswahl heraus, weil er mit seinen sehr konkreten Plänen für ein Theater mit perfekter Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr, auf die auch heute noch mancher Stadtplaner stolz wäre, Urbanität und Theaterkultur in geradezu futuristischer Vision eng zu führen sucht. 11 Beispielhaft sei hier nur auf die sehr erhellenden Ausführungen von Marline Otte zur Zirkuskultur des Kaiserreichs hingewiesen. Otte kann aufzeigen, dass die Begeisterung für diese Unterhaltungsform bis in die höchsten gesellschaftlichen Kreise reichte und auch das Kaiserhaus regelmäßig an Vorstellungen teilnahm. Vgl. Otte 1999 und 2006. 12 Gay 2001, 5. <?page no="15"?> Einleitung 15 Die hier getroffene Auswahl von Schriften endet mit dem Jahr 1912, in dem Erich Schlaikjer seine Schrift „Gegenwart und Zukunft der deutschen Schaubühne“ vorlegte. Sie ist in besonderer Weise geprägt von den Vorahnungen einer neuen Kultur der Sensation, die das Theater in Beziehung zum Film, aber auch zu anderen kulturellen Institutionen setzt. Hier kündigt sich eine kulturelle Verschiebung an, die dann in den 1920er Jahren vollends Raum greift. Die vorliegenden Schriften sind nur eine kleine Auswahl aus einem breiten Korpus „grauer Literatur“, die sich mit dem Theater beschäftigt. Der Fokus dieser Sammlung liegt auf der Versammlung charakteristischer Stimmen zur Berliner Entwicklung; allgemeinere Fragestellungen, wie etwa die breite Literatur zur Verbesserung der sozialen Situation der am Theater Beschäftigten, insbesondere der Frauen, konnten in diesem Rahmen keine Berücksichtigung finden. Der Kommentar sowie die einleitenden Texte, welche die einzelnen Schriften begleiten, wollen als Lesehilfen verstanden wissen. So werden in der Regel nur die Passagen kommentiert, die für ein Verständnis des Textes unerlässlich sind. Da die Schriften vom Tag für den Tag geschrieben wurden, lagert sich in ihnen eine Fülle von Geschichte(n) an, die aus der rückblickenden Perspektive oft kaum noch zu rekonstruieren ist. So sind notwendigerweise einige Lücken geblieben, da entsprechende Informationen, besonders zu biographischen Details oder tagesaktuellen Referenzen, oft nicht mehr zu rekonstruieren waren. Die Sammlung reflektiert auch in ihrer äußeren Gestalt jene Besonderheit der Kunstform Theater, dass sie nicht einen einzelnen Urheber kennt - vergleichbar dem Autor oder dem Komponisten -, sondern dass ihr spezifischer Reiz in der Vielstimmigkeit und Vielfalt der Perspektiven liegt. So entfaltet sich in der Zusammenschau nicht eine Erzählung über das Theater, sondern eine Polyphonie widersprüchlicher, teilweise konkurrierender Stimmen, in deren Zusammenklang etwas von der Vitalität und Dynamik metropolitaner Kultur um 1900 erkennbar werden kann. Ist man bereit, die Quellen auch gegen den Strich zu lesen, dann können sie helfen, jene Selbstevidenz des historiographischen grand récit aufzubrechen, dessen evolutionäre Logik das 19. Jahrhundert nur als zu überwindendes Vorläuferstadium betrachtet und dafür die Chancen, Dynamiken und historischen Alternativen ausblendet. Peter W. Marx <?page no="17"?> 1. Julius und Heinrich Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) Einführung Im Jahr 1882, rund zehn Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches, veröffentlichten Julius Hart (1859-1930) und Heinrich Hart (1855-1906) die Theaterstreitschrift „Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge“. Ein Jahr zuvor in die Reichshauptstadt gezogen, machten sich die beiden Brüder, die schon vor ihrer Berliner Zeit journalistische und editorische Erfahrungen sammeln konnten, in der Berliner Kulturszene recht bald einen Namen als Literaturkenner, Schriftsteller, Herausgeber und vor allem Kritiker. An den zeitgenössischen kulturellen und vor allem literarischen Entwicklungen, insbesondere an denen in der Hauptstadt, interessiert, wurde im selben Jahr, in dem der nachfolgende Text entstand, die Literaturzeitschrift Kritische Waffengänge ins Leben gerufen, auf deren Herausgeberschaft in ihrer Streitschrift explizit hingewiesen wird (Hart/ Hart 1995). Die Zeitschrift, die bei den Zeitgenossen berühmt-berüchtigt war für den provokativ-polemischen Ton der beiden Editoren, erschien zwar nur zwischen 1882 und 1884 in sechs Heften, gilt jedoch bis heute dem Gros der Forschung als Katalysator der literarischen Moderne in Deutschland. Die kritische, aber konstruktive Auseinandersetzung mit dem kulturellen Geschehen seit 1869 bzw. 1871 lässt sich auch in „Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge“ erkennen. Zwar kann man die Streitschrift der beiden Brüder einerseits in eine Reihe mit anderen Theaterstreitschriften einordnen, in denen sich Autoren mit den Missständen und negativen Entwicklungen des Theaters im neu gegründeten Deutschen Reich auseinandersetzen. So weisen auch Julius und Heinrich Hart - stets unter Verwendung eines für das ausgehende 19. Jahrhundert typischen, von Nationalismus geprägten bürgerlichen Sprachgestus - das Fehlen eines Nationaltheaters, einer nationalen Dramatik sowie eines einheitlichdeutschen Schauspielstils nach und stellen die Problematik der finanzelitären Strukturen des Publikums und der ökonomischen Abhängigkeiten der Bühnen dar. Andererseits - und damit im Unterschied zum Großteil ihrer eher pessimistisch eingestellten Kritikerkollegen - setzen Julius und Heinrich Hart dieser Situation eine optimistische Perspektive entgegen: Im Mittelpunkt ihrer kritischen Betrachtungen steht ein Theater, welches ihnen als Hoffnungsträger für die Verbesserung der deutschen Theatersituation erscheint: das Titel gebende Deutsche Theater. Diese Bühne, die sich in der Berliner Schumannstraße zuvor unter dem Namen Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater etabliert hatte, kaufte der Dramatiker und zukünftige Theaterdirektor Adolph L’Arronge (1838-1908) und wandelte sie in eine privatwirtschaftlich geführte Theatersozietät nach dem Vorbild des Théâtre français um: die „Aktiengesellschaft Deutsches Theater“. Neben L’Arronge waren weitere vier Bühnendarsteller - Ludwig Barnay, Friedrich Haase, Siegwart Friedmann und Ernst von Possart - Miteigentümer und damit am Gewinn des <?page no="18"?> 1. Hart/ Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 18 Unternehmens beteiligt. Die Fassade des mit Vorschusslorbeeren versehenen, theaterreformatorischen Projekts einer Schauspielersozietät begann allerdings schon recht bald zu bröckeln: Ernst Possart stieg bereits nach kürzester Zeit wieder aus und wurde durch den ehemaligen Direktor des Leipziger Stadttheaters, August Förster, ersetzt. Nur zwei Monate nach der Eröffnung verließ Friedrich Haase das Theater und auch Ludwig Barnay löste seinen Kontrakt nach gerade einmal einer Spielzeit - beide sahen ihre finanziellen Vorteile statt in den Gewinnanteilen des Deutschen Theaters eher in denen aus nationalen und internationalen Gastspielreisen. Nachdem im Jahr 1888 August Förster und 1890 auch Siegwart Friedmann das Unternehmen verlassen hatten, übernahm L’Arronge alleine die Direktion. Nach diesem letzten Schritt der Auflösung unterschied sich das anfangs so ambitionierte Projekt der einstigen Partnerschaftsgesellschaft nicht mehr von anderen konventionell geführten Privattheatern der Zeit. In der Retrospektive muss die grundlegende Ideologie einer Schauspielersozietät Deutsches Theater trotz des vorübergehenden finanziellen Erfolgs wohl als gescheitert akzeptiert werden. Ungeachtet dieser Entwicklung galt das Deutsche Theater - dies wird auch am vorliegenden Text deutlich - ob seiner anfangs unkonventionellen Strukturen und der viel beachteten künstlerischen Führung durch Adolf L’Arronge lange als Hoffnungsträger für eine von ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen unabhängige Theaterkunst. Viele sahen in ihm sogar die Chance auf ein so sehr herbeigesehntes Nationaltheaters. Das Deutschen Theater zeichnete sich durch ein recht breites Repertoire aus, hatte aber trotzdem den Ruf anspruchsvoll zu sein. Vor allem die Klassikeraufführungen waren bei Publikum und Kritik oftmals enorm erfolgreich. Auch wenn nicht jedermann das Konzept und die Ästhetik des Deutschen Theaters guthieß - als Beispiel für eine solche kritische Meinung soll an dieser Stelle auf Conrad Albertis extrem polemische Streitschrift „Herr L’Arronge und das Deutsche Theater“ aus dem Jahr 1884 hingewiesen werden - wurde es doch bald zum führenden Theater der Reichshauptstadt. Sein Ansehen blieb trotz der strukturellen Veränderungen und der ansteigenden Konkurrenz durch andere erfolgreiche Berliner Privattheater bestehen, bis L’Arronge 1894 die Leitung der Bühne an Otto Brahm abgab, womit eine neue Ära eingeläutet wurde. Auch wenn das Deutsche Theater sich nicht in dem Maße zu einem Nationaltheater entwickeln sollte, wie es die Brüder Hart in der vorliegenden Schrift formulieren, so war es doch unter L’Arronge und seinen Nachfolgern Brahm und Reinhardt eine der wichtigsten Schauspielbühnen in Berlin. Stefanie Watzka <?page no="19"?> Julius und Heinrich Hart Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) Daß das deutsche Theater der Gegenwart an Haupt und Gliedern krankt, ist eine Behauptung, in dem letzten Jahrzehnt so oft ausgesprochen und in Büchern und Broschüren bewiesen, andererseits so wenig abgeleugnet, daß es überflüssig er- 5 scheint, sie von neuem zu erhärten. Die Dichtung sollte nach dem Tode Schillers ein neues wahrhaft großes Drama, die Schauspielkunst seit den Tagen der Befreiungskriege die erhabensten Höhenpunkte nicht mehr erklommen haben, diese und andere Vorwürfe, so viele man gegen das Epigonenthum des deutschen Theaters nach und nach in unserem Jahrhundert erhoben hat, kamen wie ein allge- 10 meiner schwerer Niederschlag in unseren Tagen zu Boden. Die Anklagen waren gegenseitig: der triviale, flache Geschmack des Publikums mußte die Theaterleitungen entschuldigen, der Dichter warf den Direktoren vor, daß seine Dramen ungelesen in den Papierkorb wanderten, und erklärte, die Kritik habe allen Sinn für das Große verloren, und der Recensent behauptete zum Dank dafür, in dem 15 gegenwärtigen Wirrwarr einen Dichter überhaupt nicht entdecken zu können. Man fühlte längst die Sehnsucht nach würdigeren Zuständen, allgemein aber wurde dieses Gefühl, wie naturgemäß, während des nationalen Aufschwunges der Jahre 1870/ 71. Dem Sedan der stählernen Waffen sollte das Sedan des Geistes auf den Fuß folgen und vor allem das Theater, der Mittelpunkt aller frommen 20 Segenswünsche, einer neuen ungeahnten Blüthe entgegengehen! Spiegelt doch diese volksthümlichste Anstalt das Culturleben eines Volkes am klarsten wieder, bildet sie doch die schönste Frucht einer nationalen Entwicklung. Den Grund ihres Niedergangs wollte man in der „nationalen Zersplitterung“ finden. „Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da 25 wir Deutsche noch keine Nation sind! “ Nun aber waren wir’s über Nacht geworden, eine einzige gefürchtete Nation, und am 18. Januar 1871 konnte man daher mit Fug und Recht den Beginn einer dritten Blüthenperiode vom 19. Januar 1871 an befehlen? ! Der gute Lessing! Läse man nur einen Satz weiter, so würde man vielleicht finden, daß er an eine solche Märchengewalt kriegerischer Großthaten 30 doch nicht glaubte. „Ich rede“, fährt er fort, „nicht von der politischen Verfassung, sondern blos von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die unterthänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen, alles was uns von jenseit dem Rhein kommt, 35 ist schön, reizend, allerliebst, göttlich“ u.s.w. u.s.w. Man weiß ja, wie Demosthenes - Lessing den Herren drüben den Pelz gewaschen hat. Nun, die politische Verfassung haben wir, aber hat der 2. September auch unsern „sittlichen Charakter“ so ganz und gar umgestaltet? Ein Blick in Lindau’s „Dramaturgische Blätter“, ein zweiter Blick auf die Repertoires unserer Theater beweist es doch 40 hinlänglich: „noch immer die unterthänigen Bewunderer der nie genug bewun- <?page no="20"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 20 derten Franzosen“. Eine politische Verfassung kann man über Nacht gewinnen, eine nationale Wiedergeburt an Geist und Seele hingegen, darüber gehen Jahre dahin. So wurde die Zeit der überspannten unberechtigten Hoffnungsfreudigkeit zu einer Zeit der herben Enttäuschungen. Man wollte ja nicht einsehen, daß die 45 Saat auch der Keim- und Wachszeit bedurfte, man forderte, daß die Dramatiker, die vor einem Lustrum noch unmögliche Hohenstaufentragödien mit obligatem Chauvinismus und turnväterlicher Deutschthümelei ins Leben gerufen, urplötzlich das „neue“ Drama gelassen aus dem Aermel schütteln sollten. Alles, was das verflossene Jahrzehnt hervorbringen konnte, hat es hervorge- 50 bracht: Worte und Wünsche! Angeschwemmt wurden diese in jener Hochfluth von Theaterreformschriften, Broschüren, Büchern und unzähligen Zeitungsartikeln, welche zuletzt nur noch ein ironisches Kopfschütteln hervorriefen. Die tiefsinnigsten und wiederum die thörichtsten Ansichten gelangten da über die Neugestaltung der Bühne zum Ausdruck. Gewiß waren manche in den modrigen 55 Dunst der Studierstube eingehüllt und ließen das Verständniß für die lebendige Bühne vermissen. Manches professorale Hirngespinnst mochte das Lächeln der Bühnenpraktiker erregen, die Ungeduld, mit der man einen völligen Umschwung erwartete und welche natürlich durchaus nicht befriedigt werden konnte, spannte die Nerven des Bildungsphilisters ab, ...und als man ein paar Jahr auf die Reform 60 vergebens gewartet, als vielmehr alles den früheren Schlendrian gemächlich fortsetzte, da ließ man muthlos den Kopf sinken und ging über alle sogenannten idealistischen Vorschläge achselzuckend zur Tagesordnung über. Die „Reformschriften“ haben sich dem Fluche der Lächerlichkeit nicht ganz entziehen können - die Gründe dafür sind angedeutet - und doch ging von ihnen manche werth- 65 volle Anregung aus, und doch wurde die große Bedeutung der Bühne auch für weitere Kreise wirksam hervorgehoben, und was nicht zu unterschätzen, sie weckten ernste Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen, - ernste Sehnsucht nach besseren! Das Wort Immermann’s gilt auch heutzutage: „Die Wiedergeburt der deut- 70 schen Bühne, wenn sie noch einmal erfolgen soll, ist keineswegs von einer neu zu entdeckenden Weisheit, sondern von Entschließungen moralischer Art abhängig. Die Mittel sind ganz einfach und Intendanten und Schauspieler führen sie beständig im Munde. Aber die Ausführung ist schwer, denn sie widerspricht dem Leichtsinn, der Eitelkeit, dem Egoismus, der natürlichen Trägheit der Menschen, und 75 darum unterbleibt sie.“ Einen solchen moralischen Boden zu schaffen oder vielmehr zu festigen, müßte die schönste Aufgabe der Kritik sein. Jene mürrische, greisenhafte Ansicht gilt es zu bekämpfen, als seien wir rettungslos dem literarischen Epigonenthum verfallen, als sei nach dem Tode Schillers ein wirklich originelles und neues Le- 80 ben für unsere Dramatik unmöglich. Gerade die armseligen Talentchen, die an der Heerstraße die Steine klopfen, erheben sich am schnellsten zu diesem demüthigen Credo, um desto zorniger dem Andersgläubigen Größenwahn, Einbildung und Selbstüberschätzung vorzuwerfen! Wie bequem, wie überzeugend man die eigene Kleinheit mit der „Kleinheit der Zeit“ entschuldigt, wie angenehm, 85 sich als ein Opfer der Ungunst der Zeit präsentiren zu dürfen. Kommen dazu die <?page no="21"?> Julius und Heinrich Hart 21 verknöcherten Systematiker, die Alexandriner unserer klassischen Literatur, die Herren vom conservativen Schlage, so ist die chinesische Mauer im Nu aufgebaut: es giebt nur ein Reich der Mitte, nur einen Gott, nur eine Poesie und wehe dem Nachgeborenen, der da ketzerisch glaubt, daß es in unseres Vaters Hause 90 noch viele Wohnungen giebt, und dazu noch recht geräumige Wohnungen. Man kann mehr! Den Geschmack des Publikums klären und bessern, ihm immer von neuem die Ziele weisen, wohin das Theater zu streben hat, ihm jene Zeichen erklären, welche dessen wahre Bedeutung ausmachen. Der Nation beweisen, daß die Bühne ihrer politischen Größe nicht entspricht, daß die Triviali- 95 täten, welche da über die Bretter gehen, von den geistigen Kämpfen der Gegenwart nicht einmal gestreift sind. Aber man wirft ein: Vermag die Kritik einen Dichter zu schaffen, welcher das Fühlen und Denken seines Volkes, sein Thun und Treiben in glänzenden Farben malt, welcher es beim Heerde [sic! ] und in der Studierstube, im Salon und in den Fabriken, beim Pfluge und beim Tanze be- 100 lauscht, welcher durch große dichterische Schilderung dieses ganzen buntbewegten Lebens die Bühnendichtung reformirt? Gewiß nicht! Aber sie kann das Idealbild dieses Dichters entwerfen, die Poeten selbst entzünden und begeistern, sie kann auf die hinweisen, welche wenigstens zum Theil diesem Bilde entsprechen, und die Bahnen ebnen, wenn ein solcher Dichter uns bescheert werden 105 sollte... Politisch groß stehen wir da, suchen wir nun auch die innere Größe zu erlangen! Oder die Siegesjahre waren ein unnützes Blutbad, ein wüstes Schlachten und die Todten von 1870/ 71 für Nichts dahingemordet! Ohne die innere Größe bleiben wir immer die Sklaven fremder Nationen oder abgeschmackte Chauvinisten, 110 nur mit ihr werden wir ein freies, großes und fruchtbares Volk... Möge vor allem das Theater diese Freiheit und Größe wiederspiegeln und die sittliche Kraft unseres Geschlechtes befruchten und pflegen! Wir stehen am Eingange eines neuen Decenniums! Das vergangene brachte Worte, - wird das beginnende Thaten erzeugen? Stehen wir am Ende einer Peri- 115 ode, welche die flachste und nüchternste Trivialität auf der Bühne großzog, die geschwätzige, breite und seichte Feuilletontheatralik Lindau’s und das unlogische, zusammenhangslose und wirre Marionettendrama Hugo Bürger’s so schmackhaft fand, - stehen wir am Anfange eines Zeitraumes, wo Kraft und Tiefe, Leidenschaft und Größe auf der Bühne wieder zur Geltung kommen? Wer- 120 den wir auch in Zukunft die kleinen Gefühle kleiner Seelen hören, - oder die Sprache einer Nation, welche auf den Schlachtfeldern so furchtbar zu reden wußte? Mancherlei Zeichen deuten auf eine Besserung der Dinge! Wiederholt sich nicht auch in der Literatur das Gesetz von Revolution und Reaktion? Dem hellen 125 scharfen Sonnenlichte unseres Classicismus folgte der trübe Mondglanz der Romantik, dem klaren Tag mit seinem festen zielbewußten Können und Wollen die flötendurchklungene Zaubernacht und das ganz unbestimmte, verdämmernde Gefühl der Sehnsucht und gegenstandslosen Schwärmerei; - vom Wachen müd geworden, versank man in wollüstigen traumhaften Halbschlummer! Und wer 130 löste die Romantik ab! Das junge Deutschland! Hart, eckig, nüchtern stand es da, <?page no="22"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 22 mit einem so trotzigen Zuge um den Mund, grauen klaren Augen und straffem Haar; an Stelle der Novalis und Tieck traten Gutzkow und der sporenklirrende Laube trotzig in die Schranken. Leben nun auch wir im Beginn einer solchen Revolution? Wir hätten dann nur eine Feindin zu bekämpfen, die nüchterne Trivia- 135 lität, aber eine mächtige Feindin, die viele Bundesgenossen hat und einen starken Rückhalt an der geistigen Trägheit eines großen Publikums. Wir müßten den unheilvollen Wahn zerstreuen, als sei die Bühne nichts weiter denn eine Vergnügungsanstalt und ihre Kunst gerade gut genug, wie eine römische Sklavin ihrem weintrunkenen Gebieter, so dem satten Publikum zur besseren Verdauung einige 140 Clownstücke und lächerliche Gaukeleien vorzuführen. Wir müßten das Drama wieder zu einem Spiegelbilde der Zeit machen, und all ihre Kämpfe und Freuden, ihre Leidenschaft und Sehnsucht, ihre Thränen und ihren Jubel wiederklingen lassen in der Sprache einer echten Poesie, wir müßten die Besseren im Volke aufrütteln, daß sie im Theater wiederum suchen, was dieses bieten kann und soll: 145 Wahrheit und Schönheit! Und sollten wirklich jene Kriegsjahre, die den alten Traum verwirklicht und die politische Einheit gebracht, spurlos an unserem „sittlichen Charakter“ vorübergegangen sein? Wären wirklich in dem bakchantischen Taumel des Genusses, der kurz nach dem Frieden das Volk ergriff, wären in den tollen Wirbeln des 150 Gründungschwindels die geistigen Schätze unserer Nation schmachvoll umgekommen? Nein! Der nothwendige Rückschlag mußte erfolgen! Und wer aufmerksamen Auges die Zeichen der Zeit verfolgt, wer unter all den Ausschreitungen, Irrthümern und Fehlern noch die innerlich wirkende geheime Kraft wahrzunehmen 155 vermag, der erkennt auch, daß unser Volk nun nach Jahren endlich die Errungenschaften von 1870/ 71 mit Herz und Seele zu erfassen sucht. Die Nation strafft sich zusammen und das, was man „Nationalgeist“ nennt, soll kein leeres Wort mehr sein! Wir fühlen uns als Deutsche, als Vertreter des Germanenthums gegenüber dem oberherrlichen Romanismus, dem andrängenden Slavismus. Ener- 160 gischer fließt das Blut in unseren Adern und nach den matten Verdauungsstunden des verflossenen Decenniums, nach dem bloßen Rausch des Genusses, den man wie in allen Lebensverhältnissen, so auch in der Kunst suchte, fühlen wir wieder das Bedürfniß nach großen Idealen, welche uns erheben und über das gewöhnliche Treiben emporführen können... 165 Jahre lang war das ernste Drama das Stiefkind unserer Theaterdirektionen und achselzuckend schob man ein Manuscript ungelesen bei Seite, sobald nur auf dem Titelblatt das ominöse „Trauerspiel in fünf Akten“ zu lesen; ja noch mehr, man machte es zum billigen Gespötte des Publikums, und die Kritik, welche den Hanswurstiaden eines Julius Rosen mit liebenswürdigster Nachsicht entgegen- 170 kam, konnte ein „Trauerspiel“ nicht boshaft genug seciren. Eine jener ästhetischen Weisheiten, durch welche sich diese Periode besonders auszeichnete , lautete in ihrer ganzen grotesken Ungeheuerlichkeit: „die Tragödie ist für unsere Zeit und für die Zukunft zu einem Unding geworden; das Conversati- Vgl. den Artikel „Paul Lindau als Kritiker“. Kritische Waffengänge. Heft II. <?page no="23"?> Julius und Heinrich Hart 23 onsschauspiel allein wird noch ein herrlich blühendes Leben entfalten.“ Wahr- 175 scheinlich hatten diese Aesthetiker gerade ein Conversationsschauspiel unter der Feder, oder bereits einige Erzeugnisse dieser Gattung auf die Bühne gesetzt! Es waren Empfehlungsschreiben für die eigenen lieben Kinderchen! Unsere Tage aber sahen es, wie Dramen in schwungvollen Versen geschrieben, Dramen, die sich weder um die Herzensangelegenheiten unserer Commer- 180 zienräthe, noch um die zarten Bedürfnisse der Backfischwelt bekümmern, welche nichts sein wollen als Poesie und wieder Poesie, trotz mancher bedenklichen Schwächen vom Publikum überall mit Begeisterung aufgenommen werden, jener stürmischen, jugendfrischen, leidenschaftlichen Begeisterung, deren sich die mattherzigen, skandalsüchtigen Sprößlinge unserer Feuilletonmuse niemals rüh- 185 men konnten. Und zwar an denselben Theatern, von denen sie vor Kurzem mit obligatem Dank und ironischem Achselzucken zurückgesandt wurden, da unsere Zeit dem „ernsten“ Drama ganz und gar keine Sympathieen [sic! ] entgegenbringe! Man mag sagen, was man will, aber das ist ein Lichtblick in der trüben Luft unserer Bühnenmisère, ankündigend vielleicht den vollen Durchbruch des 190 Sonnenlichtes… Und noch ein anderes Zeichen weckt frohe Hoffnungen für die Zukunft! Unter der Führerschaft eines Mannes, der aus Schauspielerkreisen hervorgegangen und als Direktor die darstellende Kunst praktisch auf den Brettern selbst studirt hat, der aber auch als Schriftsteller durch seine Werke glänzende Erfolge 195 errungen, thut sich eine Schaar unserer besten Schauspieler zusammen, um ein vielgewünschtes und langersehntes Ideal zu verwirklichen: die Gründung eines deutschen Landestheaters nach dem Muster des Théâtre français. Aus den Zeitungen kennt man hinreichend die Hauptprincipien der geschäftlichen Einrichtung. Eine Künstlerrepublik! Wie die Mitglieder der Comédie française, so sind auch die dar- 200 stellenden Kräfte unseres Deutschen Landestheaters gewissermaßen Aktieninhaber; ohne eine feste Gage zu beziehen, nehmen die Ersten der Bühne Theil am Reingewinn. „Durch straffe Bestimmungen ist der Bestand des Unternehmens gegen die Launenhaftigkeit und Willkür des Einzelnen sicher gestellt.“ Stützpunkt des Ganzen bildet eine Weltstadt wie Berlin, der Centralpunkt des neuen Reiches, 205 welcher mehr und mehr alle geistigen Kräfte Deutschlands an sich heranzieht. An einen solchen, unser ganzes Volk im Kleinen umfassenden Ort gesetzt, kann diese Bühne dem ernsten großen Drama eine Heimstätte werden, die es in Berlin augenblicklich leider nicht besitzt. Sie kann großartig befruchtend auf unser ganzes theatralisches, und weiterhin auf unser literarisches und kulturelles Leben ein- 210 wirken, - daher die Spannung, welche man allgemein diesem Unternehmen entgegenbringt. Nichts Geringeres nimmt es zum Vorbild, als jenes erste deutsche Nationaltheater (1767-1769), das unter den Augen Lessings wuchs und eigentlich zum ersten Male unserem Volke eine Ahnung beibrachte von dem Wesen und der Bedeutung seiner Schaubühne. Wird die L’Arronge’sche Bühne die Hoffnun- 215 gen der Besten erfüllen? Von zwei Mächten hängt das ab! Zuerst von dem Geiste, der ihre Führer und Mitglieder beseelt und lenkt,… dann aber von dem Geiste, welcher draußen vor den Thüren des Theaters schafft und athmet. Nun, der Geist, der drinnen wirkt, scheint ein trefflicher zu sein! „Wir wollen nur Gutes, <?page no="24"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 24 jeder selbstsüchtige Gedanke liegt uns fern. Sie wollen nur bedenken, daß Jeder der 220 Betheiligten sein Vermögen an die Sache setzt, daß selbst der günstigste Erfolg des Unternehmens keinem der Societäre auf seinen Antheil einen so hohen Gewinnst bieten könnte, wie der Einzelne bei einigem Glück durch seine Gastspiele u.s.w. jetzt verdient...“ Worte, entnommen einem Briefe L’Arronge’s an den einen der Herausgeber dieser Blätter. Wir übergeben sie der Oeffentlichkeit, als eine 225 Verpflichtung, die der Leiter der Bühne ihr gegenüber auf sich nimmt! L’Arronge hat auch in seinen dramatischen Werken einen idealen Geist niemals verleugnet, er hat also von vornherein Anspruch auf unseren rückhaltslosen Glauben, auf das feste Vertrauen des Publikums! Aber auch auf seine Unterstützung! Das neue Theater will nur „Gutes“; d.h. es will auf der Höhe stehen, welche die Bühne ein- 230 zunehmen berechtigt ist und einnehmen muß. Wann jedoch steht sie auf dieser Höhe? Suchen wir vor allem diese Frage auf den nachfolgenden Blättern zu beantworten! Den Grundstock einer solchen Untersuchung bildet naturgemäß die Frage nach 235 dem Wesen und dem Zweck des Theaters. Wie oft ist sie nicht beantwortet, und auf tausenderlei Weise! Völlig entgegengesetzte Ansichten haben sich diesen bedeutsamen Boden streitig gemacht. Jenem eine moralische Besserungsanstalt, dem andern ein Vergnügungshaus, mußte sich das Theater die widersprechendsten Urtheile gefallen lassen. Von dem begeisterten Dithyrambus des jun- 240 gen Schillers bis zu dem zornigen Anathema des Hallenser Theologen Professor Tholuck läßt sich kaum eine Brücke schlagen. Selbst bis in die Berufskritik setzt sich dieser Streit der Meinungen fort, auch hier fehlt jedes einheitliche Princip und nicht selten huldigt derselbe Geist heute dieser, morgen jener Ansicht. Der Eine bricht irgend einem tollen französischen Schwanke gegenüber in leiden- 245 schaftliche Exclamationen über dessen moralische Verkommenheit aus, ein anderer kann nicht genug den Besuch dieser zwerchfellerschütternden Dramatik empfehlen, denn „sie erregt Lachconvulsionen und wir haben uns kostbar amüsirt“. In der öffentlichen Sitzung der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft zu Mannheim am 26. Juni 1784 las das Mitglied dieser Gesellschaft, der Herzoglich 250 Weimarische Rath Friedrich Schiller, eine Abhandlung vor, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt“ betrachtet, trotz ihrer Ueberschwänglichkeiten ein Ausdruck dessen, was die aufgeklärtesten Köpfe Deutschlands damals von der Wirkung ihres Theaters erwarteten. Es war ein geharnischter Protest gegen die zelotischen Angriffe, welche seit den Tagen Spener’s und Anton Reiser’s immer wieder 255 von der Kanzel den frommen Gläubigen ins Ohr klangen und ihre Besiegelung in Abendmahls- und Begräbnißverweigerungen fanden: das Theater sollte die Moral des Volkes untergraben, die fleischlichen Begierden und Leidenschaften anregen, seine Darstellungen waren „Werke der Finsterniß“, schon „von den alten Kirchenlehrern und etlichen heidnischen Scribenten verdammt“. Nein! antwortete 260 Schiller in allem Feuer der Jugend: „Welche Verstärkung für Religion und Gesetze, wenn sie mit der Schaubühne in Bund treten, wo Anschauung und lebendige Gegenwart ist, wo Laster und Tugend, Glückseligkeit und Elend, Thorheit und Weisheit in tausend Gemälden faßlich und wahr an dem Menschen vorüberge- <?page no="25"?> Julius und Heinrich Hart 25 hen, wo die Vorsehung ihre Räthsel auflöst, ihren Knoten vor seinen Augen ent- 265 wickelt, wo das menschliche Herz auf den Foltern der Leidenschaft seine leisesten Regungen beichtet, alle Larven fallen, alle Schminke verfliegt, und die Wahrheit unbestechlich wie Rhadamanthus Gericht hält.“ Das Theater ist für Schiller noch mehr, „mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staates eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer 270 Schlüssel zu geheimsten Zugängen der menschlichen Seele… Sie lehrt uns gerechter gegen den Unglücklichen sein und nachsichtsvoller über ihn richten; …kein geringeres Verdienst gebührt ihr um die ganze Aufklärung des Verstandes.“ Es braucht jetzt, nach hundert Jahren, nachdem unsere Bühne um eine so bedeutende Anzahl sittlich schöner Dichtungen reicher geworden, wohl keiner 275 besonderen Betonung, daß das Theater all diese Wirkungen in den einzelnen Fällen gewiß erzielen, daß sie ebenso wohl moralisch bessern als intellektuell bilden und erziehen kann. Ein ganz einseitiger und verwerflicher Standpunkt aber wäre es, wollte man nun etwa aufstellen: die Schaubühne ist eine Moralanstalt, ist ein Bildungsinstitut, d.h. ihr Zweck gipfelt in der Sittenpredigt, in der 280 Lehre praktischer Weltweisheit. Oft genug taucht diese Ansicht auf und gilt als eine beliebte Waffe gegen die Demi-mondedramatik der Franzosen. Hätte man wirklich keine bessere? Das Theater bildet einen Vereinigungsort verschiedener Künste, unter denen die Poesie und die Schauspielkunst den vornehmsten Rang einnehmen. Letztere 285 ohne die erstere ist wie ein todter Körper, fast undenkbar, erst die Dichtung flößt ihr den beherrschenden Geist ein. Strahlt die Dichtung von sittlicher Reinheit wieder, so kann die darstellende Kunst unmöglich verderbliche unmoralische Eindrücke hinterlassen, und umgekehrt: sie wird alle Sinnlichkeit erregen und den Trotz gegen die Sittengesetze aufstacheln, sobald der Dramatiker seine Hand 290 wider die Moral erhoben hat. Der Satz also „das Theater hat einen moralischen Zweck“ könnte ebenso gut lauten: „Die Dichtung hat einen moralischen Zweck“. Aber ich glaube, diese dürre Aesthetik wäre doch längst besiegt worden! Das nächtliche Stelldichein in „Tristan und Isolde“, gestört durch den von der Jagd bei Fackelschein zurückkehrenden Gatten, die unter dem Mantel Tristans auf der 295 Rasenbank liegende Isolde, oder der Schluß des ersten Aktes der Walküre: Siegmund: Braut und Schwester Bist du dem Bruder - So blühe denn Wälsungen Blut. 300 (Er zieht sie [Sieglinde] mit wüthender Gluth an sich, sie sinkt mit einem Schrei an seine Brust; der Vorhang fällt schnell.) - [G]ewiß, derartige Szenen wirken nicht wie das keusche Gewimmer einer Redwitz’schen Muse, gewiß, daß sie das Blut der Zuschauer sinnlich entzünden. Fort mit diesen empörenden Nuditäten, fort mit den französischen Dramen, ruft einer 305 dieser Leute, welche die Bühne für eine Moralanstalt ansehen, der Musikschriftsteller Heinrich Dorn, aus! Arme Kunst, arme Künstler, denen man verbieten will, das darzustellen und zu sagen, was uns das Leben Tag um Tag zeigt. Armer Pra- <?page no="26"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 26 xiteles, armer Tizian, armer Mozart, unglücklicher Shakespeare! Will man dem Theater untersagen, daß es Gefühle, Charaktere, Handlungen so zeigt, wie sie das 310 Leben uns vorführt,… warum plaidirt man nicht für ein Gefängnißleben, warum sucht man nicht das Heil des Staates in einer Art von Einzel- und Zellenhaft, welche den glücklichen Bürger vor allen Bedrohungen seiner Moral und Sittlichkeit sorgsam bewahrt. Legt das Leben uns ringsumher tausend Fallstricke,… die, welche uns die Darstellung dieses Lebens auf der Bühne legt, dürften keine neuen 315 Gefahren mehr in sich bergen. Jeder große Künstler ist ein Kind seiner Zeit, jedes Volk und jede Periode sieht im Theater den Spiegel seiner und ihrer Sitten. Befindet sich eine Kunst im Wirbelstrom der Sinnlichkeit, und behandelt sie immer und immer wieder nichts als die wüste, furchtbare Macht sexueller Leidenschaft, so kann ich das als eine Einseitigkeit beklagen, ich kann auch aus diesem Um- 320 stande die Erkenntniß gewinnen, daß die Zeit einen weichlichen, schlaffen und üppigen Charakter an sich trägt. Aber die künstlerisch vollendete Darstellung dieses Lebens auf der Bühne hat dieselbe Berechtigung, wie die aller anderen Verhältnisse. Denn die Kunst verlockt nicht, sie lernt nur erkennen! „Ist doch der Dichter der allgemeine Mensch: Alles, was irgend eines Menschen Herz bewegt 325 hat und was die menschliche Natur, in irgend einer Lage aus sich hervortreibt, was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt und brütet, - ist sein Thema und sein Stoff; wie daneben auch die ganze übrige Natur. Daher kann der Dichter so gut die Wollust, wie die Mystik besingen, Anakreon, oder Angelus Silesius sein, Tragödieen oder Komödieen schreiben, die erhabene, oder die gemeine Gesin- 330 nung darstellen, - nach Laune und Beruf. Demnach darf Niemand dem Dichter vorschreiben, daß er edel und erhaben, moralisch, fromm, christlich, oder Dies oder Das sein soll, noch weniger ihm vorwerfen, daß er Dies und nicht Jenes sei. Er ist der Spiegel der Menschheit, und bringt ihr, was sie fühlt und treibt, zum Bewußtsein.“ (Schopenhauer: „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Band I. Seite 294. 4. Auflage.) 335 Entschlägt sich so die Poesie und mit ihr das Theater jeden moralischen Zweckes - moralische Wirkung ist etwas ganz anderes - um wie viel mehr müssen sie sich dagegen verwahren, nichts anderes als ein Bildungsinstitut vorzustellen, „eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, einen unfehlbaren Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen 340 Seele“. - „Die Schaubühne verräth uns das Geheimniß, die Anschläge der Thoren und Lasterhaften ausfindig zu machen, läßt uns einen Blick durch das Menschengeschlecht werfen, Völker mit Völkern vergleichen, Jahrhunderte mit Jahrhunderten und finden, wie sklavisch die größere Masse des Volkes an Ketten des Vorurtheils und der Meinung gefangen liegt, die seiner Glückseligkeit ewig ent- 345 gegenarbeiten. Mit ebenso glücklichem Erfolge könnte das Theater Irrthümer der Erziehung bekämpfen, die unglücklichen Schlachtopfer einer solchen Vernachlässigung in rührenden, erschütternden Gemälden an uns vorüberführen; hier könnten unsere Väter eigensinnigen Maximen entsagen, unsere Mütter vernünftiger lieben lernen“...Ja, was kann die Schaubühne nicht alles! Aber soll sie es 350 auch, soll sie es immer, immer und nur dieses? ! So würden die Schulkomödieen eines Christian Felix Weiße die Dramen Shakespeare’s um ein Vieles an Werth übertreffen! Was entnehmen wir denn an positivem Bildungsstoff der Othello- <?page no="27"?> Julius und Heinrich Hart 27 Tragödie? Daß man sich ein Taschentuch nicht heimlich stehlen lassen soll? Oder hat der Dichter vielleicht eine praktische Anweisung zur näheren Erkenntniß der 355 Eifersucht schreiben wollen, gipfelte seine Tendenz in der weisen Ermahnung, sich dieser teuflischen Leidenschaft nicht allzu rasch hinzugeben! ? Das Drama wäre dann so etwas wie eine didaktische Dichtung mit praktischer Nutzanwendung: „Haec fabula docet? ! “ Aber ich glaube, niemand setzt sich leichter über die Schulweisheit hinweg, als das poetische Genie, und wollte ich meine Kenntnisse 360 über den dreißigjährigen Krieg bereichern, so würde ich ganz gewiß aus Webers Weltgeschichte, selbst aus dem zweibändigen Auszug, weit mehr entnehmen, als aus der Schiller’schen Wallensteintrilogie. Die Thatsache, daß das Judenthum viele große und sittlich hochstehende Charaktere aufweist, beweist man mir besser durch eine recht trockene statistische Uebersicht, als durch Lindau’s „Grä- 365 fin Lea“ oder Lessing’s „Nathan“... Wäre die Bühne wirklich nur ein Bildungsinstitut, so suchte sie ein Ziel zu erreichen, das auf dem Wege der Schule und Kirche viel rascher und bequemer zu erlangen ist, und als geringsten Vorwurf könnte man ihr den der Ueberflüssigkeit machen... Aber das Theater ist vielleicht ein Vergnügungshaus, seine Absicht die Zer- 370 streuung, Erholung von den langwierigen Geschäften und drückenden Sorgen des Tages. „Ein Vergnügungs-Institut, für welches künstlerische und andere Mittel sich vereinigen, wird das Theater bleiben müssen, wenn es nicht seine Popularität einbüßen und damit zugleich seinen bedeutenden Einfluß für bildende und Kulturzwecke verlieren will.“ (Rudolf Genée.) Warum nicht? ! Will man die 375 Wirkung einer Makbethaufführung [sic! ] oder auch der Darstellung irgend eines graziösen Lustspiels mit dem mehr als oberflächlichen Worte „Vergnügen“ bezeichnen, so läßt sich ja nichts dagegen einwenden. Aber es hieße, seine bessere Einsicht feige dem Geschmack des großen Haufens unterwerfen, wollte man behaupten, daß die Schaubühne nur dazu da sei, das Publikum über ein paar mü- 380 ßige Stunden hinwegzutäuschen, daß sie ihren Zweck erfüllt, sobald die Menge ihren Lachreiz oder die Forderungen der Thränendrüse befriedigte. Ein Theil des Volkes geht gewiß ins Theater, wie er zur Kegelbahn geht… aber die Bühne hat noch lange nicht ihre Aufgabe gethan, wenn sie diesen Theil mit allen Mitteln ergötzte. Der menschliche Geist ist noch nicht so entwickelt, daß er nur Voll- 385 kommenes hervorbringen oder auch nur das Vollkommene stets in sich aufnehmen kann; Goethe schrieb nicht jeben Tag einen „Faust“ und neben der „Iphigenia“ stehen die Plattitüden eines „Bürgergeneral“: so würde auch der idealste, feinstgebildete Mensch erlahmen, wenn er Abend für Abend die überwältigenden und furchtbaren Eindrücke einer „Hamlet-“, „Othello-“, „Wallenstein-“, „Faust-“ 390 u.s.w. u.s.w. Darstellung geistig verarbeiten müßte. Wäre unser Geist aber so entwickelt, so würde unsere Menschheit gewiß eine andere, eine bessere, eine höhere sein, und sie dieser Vervollkommnung entgegenzuführen, so weit wie möglich, hat das Theater die Aufgabe und die Pflicht. Dasselbe allein den Zwecken der Vergnügung dienstbar machen, - das ist nichts anderes, als Stillstand, 395 Verrottung, Verrohung; das hieße, den Geist dem Fleische unterjochen, die Einsicht dem Unverstande, das Hohe dem Niederen. Das Princip öffnete Gustav von <?page no="28"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 28 Moser sperrangelweit die Pforten und verschlösse sie den Genien eines Calderon, eines Shakespeare und Goethe. Tausend Einseitigkeiten verwirren so die Begriffe, dem Einen ist die Muse der 400 Schaubühne eine Göttin, dem Andern eine öffentliche Spaßmacherin. Wie allmächtig, wie groß muß sie sein, daß sie diese tausend Wünsche befriedigen kann und doch keinen zu befriedigen braucht. Man kann sich deshalb ihr Wesen nicht hoch genug denken, ihren Zweck nicht weit genug! Das Theater ist eine Kunstanstalt und bildet, wie schon oben gesagt, einen 405 Vereinigungsort der verschiedensten Künste. Unter diesen nehmen die Poesie und die Schauspielkunst den ersten Rang ein, die anderen, wie z.B. Malerei, in einzelnen Fällen begleitende Musik treten auf der Bühne nur als dienende Kräfte auf, um die geistige Wirkung jener durch sinnliche Mittel zu heben. Niemand bestreitet diese Sätze, und nur über das Verhältniß der dramatischen Dichtung 410 zur darstellenden Kunst des Schauspielers gehen die Ansichten noch hier und da auseinander. Der Geschichtsschreiber der deutschen Schauspielkunst, Eduard Devrient, stellt das dramatische Gedicht dem Carton, die Darstellung dem ausgeführten farbigen Bilde an die Seite, ersteres nennt er die männliche befruchtende Kraft, 415 letztere die austragende und gestaltende weibliche. Ein Drama auf dem Papiere ist ihm nur ein halbfertiges Kunstwerk und mit besonderem Vergnügen citirt er einen Ausspruch des alten Goethe, dasselbe sei in jenem Zustande sogar ein Nichts. Die Meinung, als könne die Schauspielkunst nur reproduciren und sei eine Dienerin der Poesie, führe zu den thörichten Buchdramen, zu der Forderung, 420 sie habe alle Dramen aufzuführen, auch wenn diese, wie die Grabbe’schen Ungeheuerlichkeiten, allen Regeln und Bedingungen des Theaters widersprächen. Das gelehrte und ideale Drama wurde nach ihm von der Dichtkunst geschaffen, das natürliche, volksthümliche habe hingegen die Schauspielkunst erzeugt. Der historische Nachweis für die letztere sonderbare Behauptung ist bequem: 425 Hans Sachs gilt ihm mehr als Schauspieler, denn als Dichter; er trat in seinen Schwänken und theatralischen Erzeugnissen darstellend auf, nicht um diese dem Volke vorzuführen, sondern er schrieb sie aus gerade entgegengesetztem Grunde: er fühlte sich als bedeutenden Mimen und wollte Rollen besitzen, sich in dieser seiner Eigenschaft dem staunenden Publikum zu zeigen. 430 Die Behauptung: „ein Drama auf dem Papiere ist nur ein halbfertiges Kunstwerk“ kann auch nicht auf einen Schimmer von Wahrheit Anspruch erheben. Nein, die Dichtung ist an und für sich in allen Theilen vollendet, hat Zeichnung und Farbe. Die bloße Lektüre macht uns völlig klar über das Wollen und Können des Dichters. Wir wissen ganz genau nach dem einfachen Lesen, was Goethe mit 435 seinem Egmont beabsichtigte. Bei der schauspielerischen Darstellung tritt der Charakter des Helden nicht klarer hervor, als wie ihn ein einigermaßen phantasie- und geistbegabter Mensch nach der Lektüre auffaßt. Das Gewirr der Volksmenge, die Liebesszenen, das düstere Kerkerbild, alles steht in den brennendsten Farben vor unseren Augen. Es wäre ja sonst jedes kritische Urtheil der schau- 440 spielerischen Aufführung unmöglich; besteht dasselbe doch hauptsächlich in dem Vergleich des von dem Kritiker erfaßten geistigen Bildes mit dem vom <?page no="29"?> Julius und Heinrich Hart 29 Schauspieler gesehenen. Mit demselben Rechte könnte man erklären, das lyrische Gedicht ohne musikalische Composition ist ein halbfertiges Kunstwerk, der Roman und das Epos sind halbfertige Kunstwerke, wenn sie nicht, wie in alten Zei- 445 ten, von bestellten Recitatoren dem versammelten Volke vorgelesen werden. Nein, die theatralische Darstellung dient wirklich zu nichts anderem, als zu einer erhöhten sinnlicheren Wirkung. Will man einmal einen Vergleich heranziehen, so ließe sich am besten der Dichter dem Componisten, der Schauspieler dem musikalischen Virtuosen zur 450 Seite stellen. Aber Beethoven’s Schöpfungen sind große, ganz und gar vollendete Kunstwerke, auch ohne das meisterhafte Spiel Hans von Bülow’s. Letzterer kann uns dieselben in denkbar vollkommener Weise vorführen, doch der individuellen Größe des Meisters nichts hinzusetzen. Letzterer ist in Wahrheit derselbe unter den Händen Bülow’s, wie unter denen der gebildeten Tochter gebildeter Eltern, 455 die neun Jahre lang mit Fleiß und Bemühen dem pflichtgemäßen Clavierstudium oblag. Nur die Wirkung tritt bei dem Ersteren intensiver und nachhaltiger hervor, denn oft genug drang der Geist des Virtuosen viel tiefer in das Wesen des Meisters ein, als wir mit Phantasie und Verständniß geringer begabten Menschenkinder, und wo uns der große Componist Dunkelheiten bot, da löst sie das Spiel des 460 Kenners plötzlich mit einem Blitzschlage auf. Auch der Virtuose ist in gewissem Sinne nur ein reproducirender Künstler, wie der Schauspieler! Aber der Dichter, der Maler, der Componist ist es auch! Der Schauspieler nimmt zunächst seine Stoffe aus der unendlichen Welt der Poesie, der Poet aus der um nichts größeren Welt der Wirklichkeit. Beider 465 Schöpfungskaft wächst an gegebenen Stoffen empor. Der Dichter ist undenkbar ohne die materielle Welt, der Schauspieler ohne die Poesie. Oder wo giebt es denn eine darstellende Kunst, wo ein Drama fehlt? Die Pantomime! Freilich! Aber sie ist nur ein Theil der Schauspielkunst und wenn sie ein reicheres Leben entfaltet und Handlungen darstellt, so spricht aus ihr bereits eine 470 dichterische Gestaltungskraft, die allerdings noch nicht die Sprache gefunden hat. Denn ein Stück Dichter ist jeder Mensch, wie jeder Mensch ein Stück Schauspieler, Maler oder Musiker. Eine höhere darstellende Kunst, welche auch die geistigen Bedürfnisse befriedigt, ist nur im Dienste der dramatischen Dichtung denkbar. Man verdammt sie 475 zum geistigen Tode, will man sie von der Poesie emancipiren. Nichts ist oberflächlicher, schielender und darum auch falscher ausgedrückt, als wenn Eduard Devrient in seinen Auslassungen über den Magister Velthen und seine Kunstepoche triumphirend ausruft: „Deutschland hat früher Schauspieler als Schauspieldichter gehabt“. Die kühne Einführung der Improvisation sei ein offenbar ernst gemeinter 480 Versuch gewesen: „die Schauspielkunst gänzlich aus der Abhängigkeit vom Dichter zu emancipiren“. „Die genialsten Köpfe der Velthen’schen Genossenschaft rafften aus allen möglichen vorhandenen Dramen die wirkungsreichsten szenischen Erfindungen zusammen, beuteten die Moderomane, die Historienbücher, selbst die Staatsbegebenheiten der Neuzeit aus und combinirten weitläufige Sze- 485 narien, in denen alle Bühneneffekte zusammengebaut, alles Dagewesene überboten werden sollte. Politische Vorgänge, erstaunliche Großthaten berühmter <?page no="30"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 30 oder fabelhafter Helden und Könige, die blutigsten Greuel neben der geziertesten Schönrednerei der Prinzeß und Prinzessinnen und den impertinentesten Schwänken der Possenreißer, Zauberstückchen und Verwandlungen, Träume 490 und Erscheinungen, Himmel und Hölle, Alles das in der abenteuerlichsten Verknüpfung mit feierlich allegorisch-didaktischen Gestalten, Zwischenspielen, Balletten, Chören, Arien, Illuminationen und Feuerwerken, das waren ungefähr die Ingredienzien dieser Velthen’schen Hauptaktion.“ Und das nennt man eine Emancipation vom Dichter? ! Aber nein! Das war nur 495 eine Emancipation vom Berufsdichter, nur ein schauspielerischer Protest gegen jene Herren Dramatiker, welche damals, wie noch heute, Buch- und Lesedramen schrieben und die lebendige Bühne aus dem Auge ließen. Von dem Poeten, sagen wir besser von der Poesie konnte sich auch Magister Velthen, der erste deutsche Theaterdirektor, nicht lossagen, und so wurde er selbst Poet, wie seine talentir- 500 testen Schauspieler es wurden, so schrieb er selbst Dramen, wenn auch schlechte Dramen, zusammengelesene Plagiate. „Deutschland hat früher Schauspieler als Schauspieldichter gehabt? ! “ Nein, ihr Manen [sic! ] Eduards Devrients! Das ist ganz unrichtig ausgedrückt! Die Wahrheit kann gar nicht anders lauten als: „Deutschlands erste Schauspieler sind auch Schauspieldichter gewesen, wären sie 505 das letztere nicht gewesen, so hätten sie auch das erstere nicht sein können.“ Das lehrt uns Magister Velthen mit seinen Hauptaktionen und extemporirten Schauspielen! Und ob das Theater durch diese gerade gewonnen hat, ist noch immer die Frage! Der Zweck des Theaters besteht zunächst in nichts anderem als in der möglichst le- 510 bendigen Darstellung dramatischer Kunstschöpfungen. So nüchtern das auch klingen mag, so giebt es doch keine herrlichere, schönere Aufgabe, als sie in diesen Worten liegt. Denn das Drama bildet den Gipfel aller Kunst, und seine Wirkungen fallen daher mit dem der Schaubühne zusammen; ein und dasselbe wollen und sollen Drama und Theater für die Menschheit sein. Die Schaubühne eröffnet uns 515 also die reine Welt der Ideen, frei von allen Zufälligkeiten und frei vom Endlichen; sie zeigt uns den Menschen in seiner Wesenheit, in der ganzen Reihe seiner Thaten und Handlungen, „sie ist der Spiegel der Menschheit und bringt ihr, was sie fühlt und treibt zum Bewußtsein“. Ein jeder findet daher auch bei ihr seine Befriedigung; das Kind der Welt und das Kind Gottes, der Moralist und der 520 schönheitstrunkene Aesthetiker, der vergnügungssüchtige Krämer und der phantastische, begeisterungsdurstige Jüngling. Durch die Schauspielkunst tritt das Drama körperlich-lebendig in die Erscheinung ein. Die aus dieser Gemeinschaft erzeugte Wirkung wird noch erhöht durch tausend szenische Mittel, so daß die Illusion schließlich den denkbar höchsten 525 Grad der Vollkommenheit erreicht. Ist dies der Fall und das dargestellte Drama ein in allen Theilen vollendetes dichterisches Kunstwerk, so hat die theatralische Vorstellung den Gipfel ihres Könnens beschritten. Doch nur äußerst selten wird dieser schönste und herrlichste Kunstgenuß der Menschheit bereitet und viel ist es, diesem Ziele nur nahe zu kommen. Aber es ist immer das Ziel allen theatrali- 530 schen Lebens, und eine Musterbühne, ein Nationaltheater, welches das Gute will, <?page no="31"?> Julius und Heinrich Hart 31 wird es daher fest im Auge behalten müssen und die Wege bedenken, auf denen sie es erreichen kann. Und diese Wege sind? Wie wir sahen, besteht der erste Zweck des Theaters in der Darstellung dichte- 535 risch-dramatischer Kunstwerke, und deshalb ist das dichterische Wort auch auf der Bühne die gebietende Macht. Tritt der Dramatiker dieses sein Recht an den Schauspieler ab oder gar an den Dekorateur und Maschinisten, ordnet er die reingeistige Poesie dem Virtuosenthum oder der blos sinnlich wirkenden Coulissenmalerei, Beleuchtungskünsten und ähnlichen schönen Dingen unter, um so 540 tiefer sinkt das Theater an Bedeutung, an culturellem Werth. Die erhabenen Wirkungen, die es im Dienste einer edlen Poesie auf den Nationalgeist ausüben kann, jener mächtige Einfluß, den Schiller in so feurigen Worten darthut, werden mehr und mehr zurücktreten, und es kommt zuletzt die Grenze, wo sie ganz und gar aufhören und zugleich in ihr Gegentheil sich verkehren: Entnervung, Trägheit, 545 Sinnlichkeit heißen dann die Folgen. Eine Bühne, wo der Poet, Schriftsteller oder Skribent, wie man ihn nennen will! - seinen zweifelhaften Geist nur zu einigen passenden oder unpassenden Worten für die Kunst des Maschinisten hergiebt, wird zur bloßen Ausstattungsbühne, und es ist wohl keine Frage, daß die Ausstattungsbühne auf der niedersten Rangstufe steht und sich von dem Circus mit 550 seinen glänzenden Schaustellungen wesentlich nicht unterscheidet. Das Berliner Viktoriatheater ragte seiner Zeit an geistiger Bedeutung um nichts über den Circus Renz empor. Aber auch die ausgezeichnetste schauspielerische Darstellung ermangelt der tieferen Wirkung, sobald sie um ihrer selbst willen da ist und den Dramatiker in 555 ihren Dienst nimmt. Sie kann interessiren, reizen, fesseln, aber nicht hinreißen, entzünden und begeistern. In seinen Briefen an Karl Immermann erzählt Michael Beer aus der Zeit seines Pariser Aufenthalts: „Eine unglückliche Wuth im buchstäblichsten Sinne des Wortes hat sich der hiesigen Dramatik bemächtigt - ich meine die Hundswuth, die man seit vierzehn Tagen rasend genug ist auf unsere 560 Theater gebracht zu haben. In zwei sehr besuchten Stücken „Isaure“ im Théâtre des nouveautés und „Paul Morin“ im Ambigu comique sind die Heldin und der Held von tollen Thieren gebissen worden und die verschiedenen Stadien der Wasserscheu bilden die Verwickelung und Katastrophe der Dramen. Ich habe bis jetzt nur eine dieser theatralischen Monstruositäten, „Isaure“ nämlich, gesehen 565 und zwar deswegen, weil ganz Paris hineinläuft, um die Meisterschaft der ersten Schauspielerin, Madame Albert, zu bewundern, die das wasserscheue Mädchen mit einer so vollendeten Wahrheit spielt, daß es mir kaum möglich gewesen ist, fortwährend die Augen auf dieses Bild des Entsetzens zu heften.“ Die Schauspielkunst tritt hier in Widerstreit zur Dramatik; jene ist kühn, groß, bedeutend, 570 diese erbärmlich, flach und trivial. Dennoch vernichtet die Wirkung des schriftstellerischen Lumpenerzeugnisses völlig den reinen ästhetischen Erfolg der genialen Darstellung und der geistige Gewinn, den man von solchen Aufführungen mit nach Hause nimmt, ist gleich Null. Niemals ist ein Theater ein wahrhaft großes gewesen, wenn ihm die großen 575 Dichter fehlten, - auch die Schauspielkunst nicht. Beide reiften in Deutschland <?page no="32"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 32 erst an Shakespeare und Lessing heran, Leben flößten ihr die großen Dramatiker ein und jede Bühne trägt daher den Stempel ihrer Dichter an sich. Das Repertoire giebt daher den ersten und wichtigsten Faktor bei der Beurtheilung des Werthes der Schaubühne ab. Und will das zukünftige Deutsche Landes- 580 theater in Berlin die von ihm angeregten Hoffnungen erfüllen, so wird es darauf seine vornehmste und erste Aufmerksamkeit richten müssen. Wir sehen eine glänzende Kunstgenossenschaft, die trefflichsten darstellenden Kräfte, vereinigt in dem Mittelpunkt des deutschen Reiches, wo sich das geistige Leben großartig entfalten kann; soll sich nun diese zusammengehäufte Summe von Kraft an 585 kleinlichen Aufgaben zersplittern oder soll sie nicht das Theater würdig machen, eine Stellung zu behaupten, - an der Spitze der geistigen Institutionen unsres Volkes? ! Die theoretische Auseinandersetzung dessen, was die Bühne darstellen soll, ist nicht schwer! Lessing faßte seine Wünsche in die einzige inhaltsschwere Frage 590 zusammen, warum sich noch kein deutscher theatralischer Schriftsteller der Empfindung der Nation bemeistert habe? Die Empfindung der Nation also soll ihren Widerhall, - der Nationalgeist seinen mächtigsten Ausdruck finden... Unter Nationalgeist aber versteht Schiller „die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung der Meinungen und Neigungen eines Volkes bei Gegenständen, worüber ein anderes 595 anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Uebereinstimmung zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft und in alle Winkel des Herzens hinunter leuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt und den gebahntesten Weg zum Verstande und zum Herzen hat. Wenn in allen un- 600 sern Stücken e i n Hauptzug herrschte, wenn unsre Dichter unter sich einig werden und einen festen Bund zu diesem Endzweck errichten wollten, wenn strenge Auswahl ihre Arbeiten leitete, ihre Pinsel nur Volksgegenständen sich weihten, mit einem Worte, wenn wir es erlebten, eine wirkliche Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation. - Was kettete Griechenland so fest an einander? 605 Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? Nichts andres als der vaterländische Inhalt der Stücke, der griechische Geist, das große überwältigende Interesse des Staates, der bessern Menschheit, das in denselben athmete.“ So glänzende Kunstepochen erlebten nur noch das spanische und englische Theater, jenes zur Zeit Calderon’s, dieses in den Tagen Shakespeare’s. Eine Reihe 610 ausgezeichneter Talente und unter ihnen zwei weltumspannende Genien, hatten das ganze Leben und Treiben ihres Volkes in sich aufgesogen und was diese Menschen bewegte, an Freud und Leid, an erhabenen und schönen Gedanken, an Leidenschaften und Lastern, fand einen Ausdruck in tiefinnerlich wahren und großen Gemälden. Calderon’s farbenfunkelnde Poesie leuchtete einem unterge- 615 henden Volke als funkensprühende Fackel ins Grab hinein. Noch einmal zog der Reigentanz vorüber. Die Degen klirrten, die Guitarren rauschten heimliche Liebeslieder, auf stillen Wegen schlich der Dichter den Liebenden nach in die dämmernde Kammer. Die feinsten Netze der Intrigue werden gesponnen, der anmuthigste, echtspanische Witz sprüht in den Versen und bis zu den kleinsten 620 alltäglichen Verhältnissen entfaltet sich das Leben und Treiben der Nation. Aber <?page no="33"?> Julius und Heinrich Hart 33 diese Dichter lassen uns auch in die Gedanken und Ideen, in die tiefsten philosophischen Spekulationen durchdringende Blicke thun; noch einmal lassen sie uns die mystischen Bücher lesen, welche damals auf den Bücherbrettern der Weisen standen und zeigen uns die Denker des Volkes im ernsten Kampfe mit Gott und 625 der Sünde. Und über alles strömt der brennende Glanz der spanischen Sonne, der süße Duft der Mandelbaumblüthen, Rosen und Veilchen, durch die ernsten, stolzen Trochäen weht das Rauschen der Cypressen- und Myrthenwälder, und tiefblaue Luft leuchtet wieder von den Blättern der Dichtung. Das Volk, welches sich damals in den Madrider und Londoner Theatern drängte, saß da mit staunendem 630 Herzen, im tiefsten Innern gepackt von der Fülle und Wahrheit der Bilder; denn ieder fand sich wieder; der Bauer und der Bürger, der Weise und der König, Ritter und Dame, jede Leidenschaft, jeder Gedanke und jedes Empfinden, jeder Beruf und jede Arbeit erkannten ihr Selbst und in leuchtenden Buchstaben schwebten ungesehen über der Bühne die Worte: „Volk, das bist du! “ Der Dichter war 635 sein Diener und sein Herrscher; befangen in ihrem Aberglauben, ihren Fehlern und Thorheiten, erhob er sich doch wieder über die Menge empor zu den Gipfeln der reinen Menschheit. Und darin besteht auch die Bedeutung des modernen französischen Theaters. Freilich entbehrt es aller Größe und die tiefere Gedankenwelt ist seinen Dichtern 640 verschlossen. Der alles erforschende, erhabene, philosophische Geist der Poesie blieb ihnen versagt. Aber die Leute da drüben sind zum Theil glänzende Schriftsteller und sie kennen die Grenzen ihrer Macht. Sie klammern sich mit zähen Armen an ihre Gesellschaft fest und haben ein scharfes Auge für die Triebe und Gefühle, welche die Welt der Salons bewegen. Nur einen Theil ihrer Nation ken- 645 nen sie und vielleicht ist dieser nicht einmal der interessanteste. Doch dieser Bruchtheil füllt schon die Theater und sucht seine Doppelgänger; und er erkennt sie, bald freudig erregt, bald peinlich berührt, bald ein Lächeln auf den Lippen, bald die Röthe der Scham oder die Blässe des Zorns auf den Wangen. So wird das Theater nicht blos zu einem Vergnügen, das man je nach Laune 650 und Gelegenheit aufsucht, sondern zu einem Bedürfniß. Es fesselt das persönliche Interesse und wird dadurch lebensfähig, - nicht nur lebensfähig, sondern auch lebenswürdig, da es die Wahrheit ausspricht. Und um so vollkommener ist das Repertoire einer Bühne, welche sich nicht einseitigen Specialitäten widmen, sondern dem ganzen Volke angehören will, je 655 umfassender und reicher die Bilder sind, in denen das nationale Leben voll und rein zum Ausdrucke kommt. Dem ganzen Deutschland den wahrheitstreuen Spiegel der Poesie vorhalten, bald die ernsten Gedankenkämpfe darstellen, bald die Conflikte des socialen Lebens, bald die heiteren, bald die düsteren Szenen in der Familie künstlerisch abgerundet vorführen, - alles das sind würdige Aufga- 660 ben des Theaters, und L’Arronge’s neue Bühne wird diese Aufgaben erfüllen müssen, soweit es eben die dichterischen Schöpfungen unserer Nation erlauben. Universalität und Abwechslung gehören zu den vornehmsten Tugenden eines Repertoires und an Einseitigkeit leidet es gleichermaßen, ob es nun blos in hohen Tragödieen, ernsten erschütternden Dramen seine Stärke sucht, oder allein in 665 kecken Lustspielen, Farcen und Schwänken. Keines giebt den ganzen Gehalt ei- <?page no="34"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 34 nes Volksgeistes wieder, keines kann den Anspruch auf ein Nationaltheater erheben, und wenn sich eine solche Bühne nicht auf eine Groß- und Weltstadt stützt, wo auch die „Arbeitstheilung“ ihre Früchte zeitigt, so wird sie nur zu leicht das Publikum ermüden und an dem bald nachlassenden Besuche die Fehler ihres 670 Systems bemerken. Aus was für Quellen schöpft nun die Bühne die einzelnen dichterischen, darzustellenden Werke? Zuerst aus der Vergangenheit! Ein Alter von ungefähr vier Jahrhunderten hat das moderne deutsche Drama in allmähliger Entwickelung erreicht und in die- 675 sem Zeitraum Tausende von Schöpfungen hervorgebracht. Schier unermeßlich breitet sich der Reichthum aus, und unmöglich ist es, ihn ganz zu heben. Nicht einmal zählen kann man ihn. Der Literarhistoriker, der Kenner mag sich an jedem einzelnen Funde erfreuen, mit Freuden und Staunen verfolgt er, wie sich aus unscheinbaren Quellen der breite, mächtige Strom entwickelt und selbst die un- 680 scheinbarsten Zuflüsse, die geringfügigsten Bächlein dürfen seine Aufmerksamkeit erregen. Wie ganz anders steht die lebendige Bühne dieser Fülle und diesem Reichthum gegenüber! Nur das Allerwenigste kann sie ihnen entnehmen. Ihr Publikum ist aus dem ganzen Volke zusammengesetzt, ihre Wirkungen sind momentan, wie der Blitz. Der Zuschauer will nichts als rein empfangen, 685 auch der Gelehrteste steht völlig naiv den theatralischen Vorgängen gegenüber. Das ist gerade das Merkwürdige, daß sie uns alle Schulgelehrsamkeit, alle voreingenommenen Theorieen vergessen und den Menschen bloß Mensch sein lassen. Aufgeregt und entzündet wird sein Herz deshalb nur in jenen Momenten, wo der Dichter den Eindruck für des Zuschauers ureigenste Gefühle gefunden 690 hat, wo er darstellt, was dessen Herz und Seele tief und groß bewegt. Der Hörer will sich wieder erkennen und das Bühnendrama, welches ihn packen soll, muß daher im schönsten Sinne des Wortes ein „modernes Drama“ sein. Seine Gedanken und Gefühle sollen Jedem verständlich sein, Jeder soll sie mitdenken und mitfühlen können. 695 Wie viele Dichtungen der Vergangenheit aber dürfen das noch heute von sich sagen. Ich habe oben die wahrhaft großen Dramatiker die Diener ihrer Zeit genannt und ihren Herrscher! Jenes giebt ihnen die Gewalt über die Gegenwart, dieses über die Zukunft. Wer aber nur der Diener seiner Zeit ist, dessen geistige Kraft verrauscht mit dem leiblichen Tode! Und die Meisten sind eben nur die 700 Diener! Getrieben von der Tagesströmung, huldigen sie den zufälligen Launen des Geschmacks, stellen sie bloß die rasch vorüberschwindenden Erscheinungen ihrer Gegenwart dar. Es sind die Helden der Mode! Gefeiert von ihren Zeitgenossen und beschenkt mit Lorbeeren und Reichthümern, stehen sie für einige Jahre glänzend da, jeder spricht von ihnen, jeder drängt sich nach der Darstellung ihrer 705 Dichtungen, aber die nachfolgende Generation weiß von ihnen nichts mehr. Wir alle sahen die rasselnden „Kulturkampfsdramen“ über unsere Bühne gehen und mit frenetischem Jubel überschüttet werden,… und schon sind sie verschollen, obschon selbst der Kulturkampf in den Reichstagsdebatten noch fortbraust. So ist es mit fast allen den tausenden Werken, welche das deutsche Drama erschuf. Wie 710 ein Leichentuch hat es sich über die einst auf dem ganzen Erdball bejubelten <?page no="35"?> Julius und Heinrich Hart 35 Werke Kotzebue’s gelegt, und die Seufzer seiner Helden und Heldinnen werden von uns belächelt, ihre Scherze klingen frostig. Die moderne Bühne hat von ihnen nichts. Nur die Werke der Vergangenheit gehören dem lebenden Theater an, deren 715 Menschen auch als unsere Spiegelbilder gelten können, deren Ideen einen allgemeingültigen Gehalt haben, deren Dichter auch über ihre Zeit hinweg in die Zukunft sahen, die gewissermaßen den unter der Oberfläche verborgenen, tiefstruhenden, keiner Wandlung unterworfenen, sich stets gleichen Geist der Nation in sich aufgenommen haben. Diese freilich müssen den Kern eines jeden Repertoires bil- 720 den. Dem Volk sind sie liebe Freunde geworden, es sieht sie immer wieder voller Ehrfurcht und Vergnügen, immer neue Vorzüge entdeckt es an ihnen. Sterne sind es, zu denen man emporschaut. Der Schauspielkunst bieten sie die großartigsten Aufgaben, in das Herz der aufstrebenden Dichterschaft flößen sie Begeisterung, Ehrgeiz, Muth und Kraft. Sie bilden eine Schule des Geschmacks und weisen 725 nach oben hin: was das Theater sein soll, und wo die Ziele liegen, nach denen die Menschheit zu streben hat. Es sind die bahnbrechenden Führer! Ueber die literarischen Kämpfe des Tages erhaben, verleihen sie dem Repertoire Ansehen, Größe und Würde. Sie geben gleichsam die Festgerichte einer Bühne ab und demgemäß sollten sie auch zur Darstellung kommen; die Direktionen müßten sie mit all dem 730 Anstand in Szene setzen, die ihre Größe verlangen darf, die Schauspieler sollten in einer gewissen gehobenen Stimmung an sie herantreten und beweisen, daß sie werth sind, als die Dolmetscher so großer Genien aufzutreten. Nur nach sorgsamster und glänzendster Vorbereitung darf ein Theater, welches auf seinen Ruf hält, sie über die Bretter gehen lassen. Viel Werke sind es ja nicht, die diese Ehren 735 beanspruchen dürfen. Wenige glänzende Namen! - wenige Werke haben eine so scharfe köstliche Prägung erhalten, daß sie uns noch heute wie eben aus der Münze gekommen, anmuthen, daß sie noch heute unser Gedanken- und Empfindungsleben mächtig aufrühren. Nur die Schöpfungen Lessing’s, Goethe’s, Schiller’s und Kleist’s, und von Neueren die Gutzkow’s, Laube’s, dessen dramatische 740 Dichterthätigkeit ja bereits in der Vergangenheit liegt, Otto Ludwig’s und Friedrich Hebbel’s können das klassische Repertoire unserer Theater bilden. Vielleicht möchten auch einige Werke Immermann’s („Friedrich II.“) einer Neuerweckung würdig sein. Unsere dramatische Literatur, soweit sie heute noch lebensfähig, ist wirklich von peinlicher Armuth und nach fünfzig, hundert Jahren vielleicht muß 745 auch von den Werken der letztgenannten Männer, die uns noch heute so frisch und lebenskräftig anmuthen, manches gestrichen werden. Wie alsdann auch Benedix ganz vergessen sein wird, dessen allerbeste Schöpfungen ja noch heute als Darstellungen des bürgerlichen Alltagslebens nicht mit Unrecht für bescheidene Theile des Publikums zur Aufführung kommen. Ganz haben sie ja noch nicht ihre 750 Farben verloren und ganz sind wir noch nicht Benedix’schen Zeiten entrückt! Bis dahin also mögen sie ein Recht auf die Bühne besitzen. Aehnlich steht es mit den großen Werken anderer Nationen! Die eben erwähnte Armuth unseres Volkes an lebendigen dramatischen Erzeugnissen, unser universaler, gern in die Ferne schweifender Sinn hat das deutsche Theater, wie 755 kein anderes, fremdländischen Genien eröffnet und Engländer, Franzosen und <?page no="36"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 36 Spanier haben bei uns eine neue Heimath, selbst die antike griechische und indische Literatur ein gelegentliches Absteigequartier gefunden. Doch sollte hier die Auswahl eine noch viel peinlichere und sorgsamere sein! Denn noch schwerer vermag sich unser naives Theaterpublikum in das Geistesleben dieser fremdlän- 760 dischen Klassiker zu versetzen! Zu der zeitlichen Beschränktheit kommen die nationalen Befangenheiten. In einzelnen Werken aber erhebt sich der Genius über beide, und solche Großthaten gehören nicht einem einzelnen Volke, sondern der ganzen Welt an. Sie lassen uns den Sinn in die Weite richten, das Universelle verstehen und bewahren uns vor einseitiger nationaler Verkümmerung. Dem Strom 765 der volksthümlichen Poesie führen sie neue Quellen zu, - neue Anschauungen, neue Stoffe breiten unsern geistigen Horizont aus. Shakespeare, der größte germanische Dramatiker, ist längst ein deutscher Klassiker geworden, aber auch der glänzendste Vertreter des Romanismus, Calderon, besitzt Anbauten auf unserer Bühne. Freilich, Verständniß findet er nur bei einigen Auserwählten, ein Freund 770 ist er uns noch nicht geworden. Und doch verdiente er es! Schade, daß der größte Theil unserer Theaterkritik in den Händen banausischer Geister liegt, welche, statt das Verständniß zu wecken, mit oberflächlichen Redensarten jeden Versuch, Calderon uns nahe zu bringen, abthun. Der dichterische Genius des Spaniers ist, das behauptet Jeder, der ihn tiefer studiert, beinahe dem des Britten ebenbürtig! 775 Freilich wandelt er nicht so sicher auf der Erde, wie dieser, in der festen Zeichnung von Menschen ist er ihm nicht gewachsen… aber an Größe der Ideen übertrifft er ihn bei Weitem. Seine Flügel tragen ihn zu geistigen Höhen empor, die Shakespeare nicht erreichte. Ein Volk, welches einen „Faust“ als seine erhabenste Dichtung mit Stolz bezeichnet, wird gerade bei Calderon herrliche Schätze fin- 780 den. Nur sollte man nicht ängstlich sein! Letzterer ist ein echtes Kind seiner Zeit und die Anschauungen dieser Zeit muthen uns heute oft genug märchenhaft, ja geradezu grotesk an. Doch bedenke man nur, wie Shakespeare’s Werke erst allmählich dem deutschen Volke schmackhaft gemacht wurden, wie man da geändert, ausgemerzt und zugesetzt hat, bis er schließlich in seiner eigentlichen 785 Gestalt gegeben werden konnte. So sollte die Theaterpraxis auch ruhig mit Calderon verfahren. Vor dem Richterstuhle der Poesie wird sich das rechtfertigen lassen, denn warum sollen wir uns die herrlichsten Edelsteine entgehen lassen, weil die Fassung unsern Beifall nicht finden kann. Uebernimmt die Arbeit der Neufassung ein echter Dichter, kein fingerfertiger Bühnenfabrikant, so kann die 790 deutsche Bühne nur gewinnen, Calderon’s Größe wird von unserem Volke verstanden werden, wo jetzt nur eine kleine Gemeinde ihn recht fühlt und begreift! Und ist dieses Ziel nicht schön genug, um solche Mittel vergessen zu machen? ! Die fremdländische Dramatik bietet eine Fülle von Schätzen und es würde hier zu weit führen, auf all die Adern hinzuweisen, in denen sich Gold verbirgt! 795 Doch hat die glänzende Medaille auch eine Kehrseite und jede Bühnendirektion hat sich vor der Ueberschätzung des Fremden, wie des Klassischen zu hüten! Eine Ueberwucherung des Repertoires durch die Blüthen griechischer, englischer, französischer und spanischer Poesie - um nur diese Völker zu nennen - schädigt die nationale Entfaltung unserer eigenen Dramatik, - und weiterhin unseres 800 Volkslebens! Wir brauchen nur einige Blicke in die Geschichte unserer Literatur <?page no="37"?> Julius und Heinrich Hart 37 zu thun, um die üblen Fehler unserer Bewunderung alles Nichtdeutschen wahrzunehmen. Nicht zum geringsten verdanken wir ihr die Armuth unseres Repertoire’s. Wer hat denn das deutsche Volk dargestellt, wer hat gerade unserem Empfinden und Denken den Ausdruck geliehen! ? Warum mußten wir die Bahnen 805 verlassen, die Lessing in seiner „Minna von Barnhelm“ und „Emilia Galotti“, die der junge Schiller, der junge Goethe betraten? Da war Fleisch von unserem Fleisch, Blut von unserem Blut, da fand auch das Volk vertraute Gesichter, bekannte Gestalten, und fühlte den Schlag seines eigenen Herzens! Der Wahn von der Alleinherrlichkeit der griechischen Literatur und Kultur hat die besten Geis- 810 ter von diesen Wegen abgelenkt, Goethe und Schiller wurden ihrer Nation untreu und schrieben Dramen für den kleinen Kreis akademisch Gebildeter; und wenn auch der deutsche Geist groß genug schlug, um selbst aus der hellenischen Form vernommen zu werden, so wurde doch das naive Publikum von dem fremden Zierrat abgestoßen, wir bekamen eine Gelehrtenliteratur, keine, die aus dem Her- 815 zen des Volkes hervorwuchs und auf das Volk wiederum befruchtend wirkte. Werke, wie die „Braut von Messina“, wie „Torquato Tasso“, „Iphigenia“ werden nie im schönsten Sinne des Wortes populär werden. Das Schaffen Immermanns, welches auf den richtigen Weg geleitet, für unser Theater so schöne Früchte hätte zeitigen können, zerbröckelte in dem unseligen Schwanken zwischen griechischer 820 Klassicität, spanischer Romantik und Shakespeare’scher Natürlichkeit, und an unseligen Theorien scheiterte die Kunst gerade der Größten, der wahren Poeten. Das Volk aber sah sich in Folge dessen auf die Speise der dii minorum gentium angewiesen, das Theater fiel den dramatischen Handlangern in die Hände; Kartoffel und Sauerkraut florirte, die nüchterne Alltäglichkeit wucherte empor, da 825 die Größe und die Kraft gaukelnden Irrlichtern in die Sümpfe nachfolgte. Wir haben zu L’Arronge das Zutrauen, daß er sich in der Leitung seiner Bühne nicht von einem dumpfen Stubenidealismus beeinflussen läßt, sondern dieselbe zu einem Markte des deutschen Volkes machen wird. Ein großer Bühnendirektor soll auch den Muth haben, selbstbestimmend auf die Entwickelung der 830 Dramatik einzuwirken, er soll den Muth einer Ansicht äußern. Die Trennung der deutschen Literatur von den Einflüssen fremden Geistes, mag dieser nun der griechische, spanische oder französische sein, sollte das Ziel einer neuen Literaturbewegung sein. Und hier kann das L’Arronge’sche Theater viel Gutes thun. Besonders die antike griechische Dramatik, welche immer nur das Anfangssta- 835 dium theatralischer Kunst bildet und von der modernen um ein Unendliches an Reichthum, Mannigfaltigkeit und Fülle überholt ist, wird man auf den Brettern wenig schwer vermissen. Haben wir das Bessere, was soll uns dann das Gute noch lehren. Nein, - nur das gehört von fremden Literaturen auf die deutsche Bühne der Gegenwart, was fähig und würdig ist, unser Nationaleigenthum zu werden, dessen 840 Ideenwelt uns vertraut, dessen Gefühle wir mitempfinden können; nur das sollte von fremdländischer Literatur ins Repertoire aufgenommen werden, was wirklich neu und originell ist und unsere Gedankenkreise erweitern kann, was von deutschen Dichtern noch nicht ausgesprochen und verkörpert worden. Das Theater soll in lebendiger Wechselwirkung zu dem Volke stehen. Einsei- 845 tige Bildungszwecke kommen ihm nicht zu und es vertritt keine Literaturge- <?page no="38"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 38 schichte. Alle Ueberschätzung des Klassischen wird hier gefährlich und führt zu akademisch gelehrten Versuchen, die doch keinen festen Boden fassen können. Gerade die Gegenwart sucht etwas in diesen literarischen Spielereien. Wir sehen Shakespeare’s „Königsdramen“ als Cyklus über die Bühne gehen, den zweiten 850 Theil des „Faust“ zugestutzt und eingerenkt die laute Bewunderung wachrufen. Und doch hat weder Poesie noch Theater etwas von diesen gelehrten Ausgrabungen. Die Königsdramen zeigen den brittischen Genius nur im Bann seiner Zeit befangen! Hier und da lodert das Feuer des weltbesiegenden Geistes auf, hier und da packt uns eine rein menschliche Figur! Aber dieses Gold liegt unter Ber- 855 gen von Schutt begraben. Die Welt, welche Shakespeare und sein Publikum noch begeisterte, dieses politische Treiben und Wirken ist für uns todt, - was sind uns diese Schlachten und Kämpfe! Schlachten, - aber keine Geistesschlachten. Dramatisirte Geschichtschroniken gehören nicht ins Theater und wenn es selbst ein Shakespeare ist, der an der Aufgabe scheiterte. Nichts schadet einer gesunden 860 Entwickelung so sehr, wie sklavischer Byzantinismus, auf politischem oder literarischem Gebiete, und byzantinisch ist es zu glauben, von dem Dichter des „Hamlet“, des „König Lear“ sei jedes Werk ein herrlichster Schatz, jedes Wort der Unsterblichkeit würdig. Fehler haben, - ist nichts, - man muß nur auch Vorzüge besitzen! Auch der gute Homer schläft zuweilen, ebenso der große Goethe. Die 865 Wirkungen, welche der zweite Theil des „Faust“ auf der Bühne ausübt, sind zum größten Theil ganz opernhafter Natur, - dramatisch und echt tragisch ist nur der Schluß! Gerade ein Theaterpublikum dürfte am wenigsten geeignet sein, die tausend Räthsel und Geheimnisse aufzulösen, mit denen sich unsere Commentatoren Jahr um Jahr abplagen. Die symbolischen Gestalten, die verhüllten Reden,… 870 alles das gleitet und rauscht in wenigen Stunden vorüber, und will man eben einen Gedanken zu ergründen suchen, so reißt schon ein anderer die Sinne mit sich. Glaube man doch nicht, daß in solchen Darstellungen die Größe eines Theaters besteht, daß viele Klassikeraufführungen auf eine außerordentliche Höhe 875 desselben hindeuten. Ein Direktor, welcher Shakespeare für einen ersten Dramatiker erklärt, stellt seinem Geiste damit noch kein überraschend glänzendes Zeugniß aus, und ein Repertoire, auf dem nur die Dichter der Vergangenheit prangen, welches in fausttrilogischen Aufgaben seinen Ruhm sucht, beweist, daß der, welcher es zusammensetzte, entweder für die Bedürfnisse der Gegenwart 880 kein Verständniß hat oder daß diese Gegenwart unter einem fühlbaren Mangel an Dramatikern leidet. Man schweift nur dann in die Ferne, wenn das Gute nicht in der Nähe liegt! Eine tüchtige Bühnenleitung muß vor allem ihre Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Dichtung zuwenden, hier sind die wahren Wurzeln ihrer Kraft, hier 885 kann sie die Feinheit ihres Geschmackes, die Fülle ihrer Ideen beweisen, hier kann sie den mächtigsten Einfluß ausüben auf die Entwickelung der Poesie und die des nationalen Geistes überhaupt. Das freundlichste Entgegenkommen, die sorgfältigste Prüfung von Seiten der Theaterdirektoren ist eine berechtigte Forderung der Lebenden, denn es hieße die Pflanze mitten im Wachsthum abbrechen, 890 wollte man das Neue in ungebührlicher Weise dem Alten nachsetzen. Die Oef- <?page no="39"?> Julius und Heinrich Hart 39 fentlichkeit ist die Sonne, unter deren erquickenden Strahlen allein die Kunst gedeihlich erblühen kann. Schon der Trieb der Selbsterhaltung weist die Schaubühne auf diese Pflicht hin, denn die Menge liebt das Neue und bei dem großen Haufen verliert auch die größte Dichtung, allzu oft seit den frühesten Tagen der 895 Kindheit bewundert, schließlich die Anziehungskraft. Und das Volk sucht sich selbst im Theater! Die großen Genien der Vergangenheit befriedigen wohl theilweise sein Verlangen, regen die mächtigen Ideen an, welche allzeit in seinem Innern schlummerten, aber der Geist schafft rastlos weiter, neue Ideen tauchen auf, neue Formen, das Gefühlsleben verändert sich von Dezennium zu Dezen- 900 nium, anders wird die Welt mit jeder Stunde. Und dieses Heute darzustellen, vermag eben nur der Dichter von heute! Das Recht der Gegenwart vertritt er. Auch der Kleinste, welcher ein ganz bescheidenes monotones Instrumentchen spielt, wird die eine oder andere Saite in der Seele seiner Zuschauer sympathisch berühren und Wiederhall finden. Will die Bühne im schönsten Sinne des Wortes 905 eine Volksbühne sein, d.h. in lebendiger Beziehung zur gesammten Nation stehen und alle Kreise der Gesellschaft in ihren Räumen vereinigen, so steht sie der Dramatik der Gegenwart mit denselben Anforderungen gegenüber, wie der der Vergangenheit: die Dichtung soll modern sein, darstellen die Gedanken und Empfindungen der Zuschauer. Haben wir aber oben gesehen, daß aus der Vergan- 910 genheit nur die erhabensten Werke noch für uns modernen Gehalt tragen, so sind für die Augenblicksbedürfnisse der Gegenwart, auf eine geringe Zukunft hin, auch kleinere Geister modern, auch geringere Schriftsteller wissen eine oder die andere Seite des zeitgenössischen Lebens darzustellen. Die Nachwelt wird sie vergessen, für uns aber haben sie einen Zweck! Reißt uns der Adler des Genius 915 auf seinen Schwingen über die Alltagswelt in reinere Höhen empor, so mahnt uns das Zirpen des Heimchens an die kleinen Freuden und Leiden der Familie, an die harmlos-gutmüthige Gesellschaft, die sich um den Küchenherd versammelt und beim brodelnden Feuer Händedruck und Küsse tauscht. Oft rafft sich die Kritik einem modernen Drama gegenüber zu einer energi- 920 schen Verurtheilung auf und bricht mit Emphase in die harten Worte aus, diese oder jene Dichtung hätte überhaupt nicht auf die Bretter sollen zugelassen werden. Wo sind nun die Grenzen des Zulässigen, wann darf man mit Recht einer Theaterleitung ihre Wahl zum Vorwurf machen? Es giebt eine professorale Dramaturgie, welche von der Bühne am liebsten al- 925 les ausschließen möchte, was nicht klassisch heißt, und das Recht der Darstellung nur den großen Geistern vom Schlage der Shakespeare, Molière, Schiller und Kleist zuerkennen will. Die Verwirklichung eines solchen Utopia scheitert an dem einzigen Umstande, vielleicht nicht unwesentlichen Umstande, daß solche Genien eben nicht in jeder Zeit als strahlende Führer des Volkes erstehen und so lange 930 wird man diese radikalen Wünsche eben als Wünsche ansehen müssen, nicht aber als Thatsachen, die man ernstlich in Betracht zieht. Man soll die absolute Vollkommenheit erstreben, aber man kann sie nicht immer verlangen! Auch die Iffland und Kotzebue haben ihr Gutes und manche Posse, mancher Schwank, die für den feiner entwickelten Geschmack nichts bieten, wirken auf den ungebilde- 935 ten noch immer fördernd ein; es sind Stufen, auf denen das Volk allmählich zu <?page no="40"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 40 höheren emporsteigt. Eine Theaterleitung, die nur das literarisch Vollkommene annimmt, würde recht bald nichts mehr annehmen können und die Pforten wegen mangelnden Repertoire’s schließen. Auch das Kleine hat seine Berechtigung, wenn es nur gut ist. Man bestreitet gern den Clownsprüngen der Rosen, Jacobson 940 und Wilken das Recht der Existenz, aber man vergißt, daß das Theater nicht nur für die kleine Gemeinde der wahrhaft Gebildeten, sondern für das ganze Volk erbaut ist und daß für einen Theil desselben auch diese geringe Kunst noch eine Kunst ist, daß dieser Theil noch gar nicht die Fähigkeit besitzt, das wahrhaft Bedeutende zu würdigen. Einem Schiller, einem Immermann wird man zugeben 945 müssen, daß sie das Höchste von der Schaubühne wollten und daß sie dem keuschesten Idealismus huldigten; aber auch die strenge Aesthetik des Ersteren bestreitet den Farcen nicht prinzipiell das Recht der Aufführung und der Andere schreibt, „daß unsere moderne Bühne zum Theil mit aus den Puppenspielen hervorgegangen, und so ist es gut, wenn sie Kanäle behält, die den Marionettenstoff, 950 der ihr nie ganz aus dem Leibe verschwinden wird, nach unten zu abführen [sic! ]“. Die zeitgenössische Bühne liegt nicht deshalb so darnieder, weil sie auch Leute vom Schlage der Schönthan, Moser, Rosen u.s.w. ernährt, sondern weil diese die ungeheure Ueberzahl ausmachen, die Herrscher spielen und an dem Bedeutenden sogar kein Gegengewicht haben. Diese Herrschaft thut denen weh, 955 welche es ernst mit dem Theater und der Literatur meinen! Hier sollte gerade die Kritik als Hüterin des Geschmacks eintreten. Ihre Pflicht ist es, solchem Possenkleinkram den gebührenden Platz anzuweisen, und sie thut es nur dann, wenn sie denselben ebenso gut von dem strengen literarischen Standpunkt aus beurtheilt, wie jede höhere Tragödie und nicht wie ein bekannter Berliner Kriti- 960 ker, der offen in die Welt seine „zwei Standpunkte“ hinausposaunt; den des Amüsements und den der Poesie. Ueber diese Kautschukästhetik, die nicht so und nicht so sagen mag! Kann man den kleineren Privatbühnen aus der Darstellung des literarisch Minderwerthigen keinen prinzipiellen Vorwurf machen, so gilt dasselbe jedoch 965 nicht von einem sogenannten Mustertheater. Man hat auch das Hamburger Thaliatheater ein Mustertheater genannt. Aber nur theilweise mit Recht! Für die Schauspielkunst, - ja! doch nicht im Geringsten für die Literatur. Wir hoffen von L’Arronge, daß er diese Einseitigkeit vermeiden und seine Bühne nicht blos zu einem Turnplatz genialer Darsteller machen wird. Vergesse er nicht, daß der be- 970 lebende Hauch von der Dichtkunst ausgeht. Möge auch das Repertoire ein „Muster“-Repertoire werden, dann ist der Traum eines norddeutschen Burgtheaters kein Traum mehr! Ein solches darf allerdings nicht vom Geschmack der misera plebs contribuens, die in der Literatur ja bis zu den höchsten Schichten herauf verbreitet, abhängen, und sein Leiter muß es verstehen, sich zum ästhetischen 975 Führer des Volkes zu machen. Oft genug widerstrebt die Menge dem Werthvollen und Gediegenen, um sich von seichten Trivialitäten einschläfern zu lassen. Habe L’Arronge die moralische Kraft, eine bessere Einsicht dem Publikum auch mit Gewalt aufzudringen. Laube ist hier ein gutes Vorbild oder die imponirende Größe Schroeders, der, wie man weiß, während seiner Direktion der Acker- 980 mann’schen Gesellschaft und als die Darstellung „Heinrichs IV.“ am ersten <?page no="41"?> Julius und Heinrich Hart 41 Abende nicht den erhofften Beifall fand, die übliche Ankündigung der nächsten Theatervorstellung unter den Worten brachte: „In der Hoffnung, daß dieses Meisterwerk Shakespeare’s, welches Sitten schildert, die von den unsrigen abweichen, immer besser wird verstanden werden, wird es morgen wiederholt.“ Ein 985 Stolz, anerkennenswerth, auch wenn er Unrecht haben sollte! Das triviale, flache und gewöhnliche Alltagsgeträtsch, welches nur die Unterhaltungs- und Vergnügungssucht der Menge zu beschäftigen sucht und ihr alle Wahrheit der Handlung und Charakteristik opfert, welches jede literarische Anforderung negirt, gehört nicht auf die Bretter eines vornehmen Theaters. Wie 990 dieses nur die besten und besseren schauspielerischen Talente vorschiebt, so soll es auch nur die besten und besseren dichterischen Kräfte benutzen. Leider bietet unsere zeitgenössische Dramatik keinen durchaus erfreulichen Eindruck, und das hat seine mannigfachen Gründe. Der durchgehendste Mangel scheint mir der an Originalität und Lebensfülle zu sein. Das zeigt sich in den Cha- 995 rakteren, welche zu conventionellen Masken zu erstarren drohen. Wir haben keine Individuen, sondern Schablonen. Was früheren Jahrhunderten der Harlekin, der Pantalon, der Grazioso, die Colombine war, das haben wir heutzutage an unseren Backfischen, Bonvivants, Soubretten u.s.w. Dasselbe Menschenkind, in verschiedene Lagen gebracht, der eine sieht’s dem Anderen ab. Man schöpft seine 1000 Gestalten nicht aus dem Leben und dem eigenen Innern heraus, sondern aus Büchern und dem auf der Bühne Gesehenen. Ueberall Reproduktion, - Zeichnung und Farben, alles Abklatsch und Nachdruck. Das Beste hat immer die darstellende Kraft zu thun. Der Schriftsteller wirft die Umrisse in gröbsten flüchtigsten Strichen hin, aber nicht, weil er allzu viel geschaut hat, wie ein israeliti- 1005 scher Prophet oder wie Shakespeare, der in der Fülle seiner Gesichter oft auch nur aphoristisch verfährt, und dadurch gerade um so kolossaler wirkt, - sondern aus dem leidigsten und traurigsten Mangel an Phantasie. Der Mangel an Originalität, an eigener Erfindung bewirkt es auch, daß wir nur so selten den Herzschlag des modernen Lebens aus unseren Schöpfungen vernehmen. Unsere Dra- 1010 matiker sitzen in der Stube und kramen in den alten Schätzen der Theaterrumpelkammer, aber wenn sie auf die Straße hinaustreten, verschließen sie ihre Augen vor dem hellen Sonnenlicht. Man spricht so viel von den Franzosen… hätten wir doch nur den Muth und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie keck die Fragen der Gegenwart, das was uns das Blut erregt, das was unser Gehirn rascher 1015 arbeiten läßt, auf die Bühne bringen. Unser Lustspiel… unser Gesellschaftsdrama… so viele Köpfe haben sich ihm gewidmet und was haben sie hervorgebracht: Nichts! Einige Situationen von zweifelhafter Komik, harmlose Verwechselungen, wie sie seit hundert Jahren gang und gäbe sind. Diese Leute unterscheiden sich durch Nichts von ihren Großeltern. Ebenso ideenlos, wie 1020 zeitlos wandeln sie dahin. Von jenen Geistern, welche die einzige Zukunft des deutschen Theaters im Heile des Conversationsschauspieles erblicken, ist Lindau der Einzige, der sich hier und da zu einem satirischen Dolchstoße aufschwang, hier und da den festen Griff ins Leben wagte. Aber sein dichterischer Charakter ist leider völlig Gallerte und ihm fehlt Alles, was den geborenen Dramatiker 1025 ausmacht, die Kraft und Leidenschaft; nichts als Feuilletonist, läßt er seine Ideen <?page no="42"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 42 in Plaudereien verzetteln, setzt sie aber nicht in contrastreiche Handlungen um. Andererseits fehlen auch die großen Dichter, welche sich über die Zeit emporschwingen und allgemein gültige Ideen, Fragen, die das Herz unserer Nation stets berühren werden, in erhabeneren Formen zum Ausdruck bringen. Die hohe 1030 Tragödie, das hohe Drama schien unserer Generation für Jahre lang entschwunden zu sein, und die Vergangenheit mußte uns mit ihren Schätzen aushelfen. Schwindsüchtige Gestalten schlichen über die Bühne, rückgratslose Poeten, die weder über Schwung noch Leidenschaft, weder über Ideen noch über Kunst der Charakteristik geboten. Und wieder zeigte sich der Zwiespalt zwischen Theater 1035 und Literatur in grellem Licht. Echte Dichternaturen, wie die Hans Herrigs u.a., wandten sich allzu stolz von der Bühne ab, im Schutt und Geröll des Buchdramas erlosch manche echt dramatische Flamme. Ohne Frage! Das was die deutsche dramatische Literatur im siebenten Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen, wird die Bewunderung der Zukunft ebensowenig wachrufen, wie es 1040 die Seele der Zeitgenossen fesselte, und man braucht keine andere Erklärung: nichts als die Ohnmacht unserer Dichter hat die übergewaltige Herrschaft der fremdländischen Literaten verschuldet, die Schundwaaren, die der deutsche Markt erzeugte, haben ihn völlig in die Hände der Franzosen und Nordgermanen geliefert. Sie erregte das Mißtrauen der Theaterdirektoren gegen die einheimi- 1045 sche, das allzufeste Vertrauen auf die ausländische Produktion und das stets lenkbare Publikum ließ sich willenlos in den Strudel hineinziehen! So brauchte man schließlich nur in Paris oder in Christiania geboren zu sein, um ein gefeierter deutscher Dichter zu werden. Unter denen, die in den letzten zwölf Jahren auf unserer Bühne festen Fuß ge- 1050 faßt, sind vielleicht nur drei Gestalten, welche einen wirklich erfreulichen Eindruck hinterlassen. Die originellste, ursprünglichste, vom Erdhauch der Wirklichkeit umwitterte, ist die Anzengrubers; ein geborener Dramatiker, voller Kraft, voller Leidenschaft. Er packe so recht unbekümmert ins Leben der Gegenwart hinein und zeichnete Menschen in kühnem al fresco, deren Kämpfe lebhaften 1055 Wiederhall in unserer Seele wachriefen. Ein echtes Kind seiner Zeit und doch über sie hinausgreifend! Nur verhinderte das engbegrenzte Stoffgebiet, sowie der Dialekt eine allgemeine Wirkung auf die ganze deutsche Nation, und Anzengruber blieb daher, allerdings im vornehmsten Sinne des Wortes, doch immer nur ein Lokalpoet. Wilbrandt wächst in dieser Hinsicht weit über ihn empor, - der 1060 vornehmste unserer Bühnendichter, eine volle rechte Poetennatur. Auch er hat oft einen scharfen Blick für das Seelenleben der Gegenwart bewiesen, so in seiner „Arria und Messalina“, die tief in dem unruhigen Gähren, der nervösen Sinnlichkeit des verflossenen Jahrzehnts wurzelte. Es war die symptomatische Erscheinung einer kranken Zeit. Das Beste schuf er jedenfalls als graziöser Lustspiel- 1065 dichter, wie denn seine „Maler“ direkt unter den Freytag’schen „Journalisten“ stehen. Freilich blieb ihm die volle, saftigblühende, dramatische Kraft Anzengruber’s versagt, und seine Hauptstärke ruht mehr in der Novelle, als im Drama. Auch das letztere hat bei ihm den Zuschnitt der ersteren. Ihm mangelt die theatralische Objektivität und vielzusehr in sich hineingrübelnd, schafft er jene an- 1070 gekränkelten, psychiatrischen, peinlichen und unfrischen Erzeugnisse, wie „Na- <?page no="43"?> Julius und Heinrich Hart 43 talie“ oder „die Tochter des Herrn Fabricius“. Der Dramatiker soll vor allem Blut haben, Wilbrandt aber besitzt allzu wenig Blut und viel zu viel Nerven. Das Volk in seinen weitesten Schichten kann sich zu freudiger Begeisterung an ihm nicht entzünden, da ihn zu viel beklemmende Krankenstuben- und Salonluft umweht, 1075 und nicht der frische Wald- und Gebirgsduft Anzengruber’scher Poesie. Die populärste Verbreitung fand L’Arronge, und zu diesen Erfolgen kann nur der matte Stubenidealismus scheel sehen. L’Arronge ist der anmuthigste Genremaler und die Poesie der deutschen Familie findet bei ihm einen gemüth- und humorvollen Schilderer, von reinstem Optimismus beseelt. Man mag vom streng literarischen 1080 Standpunkt ihm eine gewisse Einseitigkeit in Stoff und Charakteristik vorwerfen, aber im Ganzen ist seine Erscheinung eine sehr erfreuliche. Besonders, da überall eine ernste Hingabe an die Kunst hervorleuchtet, eine sorgsame, gewissenhafte Arbeit, welche die einzelnen Rollen bis in feinste Einzelheiten hinein ausführt. Sehr zu ihrem Vortheil hebt sich diese zierliche Malerei von der Schleuderarbeit 1085 der Moser, Schönthan und Rosen ab, in welcher alle Kunst zu Grunde geht und nur die rohe Spekulation auf das Lachbedürfniß des Publikums übrig bleibt. L’Arronge berührt eine dem deutschen Volkscharakter stets sympathische Seite. Leicht zu Thränen gerührt, von weicher Sentimentalität, und doch voll derben Witzes, in ein behagliches breites Lachen oft ausbrechend schildert er Ge- 1090 müthsmenschen, die unberührt von den großen Wogen des öffentlichen Lebens, in ihrer Klause eingeschlossen, den stillen Freuden und Leiden der Häuslichkeit leben. Seine Gemeinde ist groß, da seine Gestalten dem Volke vertraute Bekannte sind und die Humanität seiner Gesinnung, sein warmes, volles und offenes Herz lautere moralische Wirkungen erzeugt. 1095 Ich könnte noch Wildenbruch hinzufügen. Aber obwohl an Jahren schon gereift, läßt sich dieser Benjamin der deutschen Dramatik doch nicht mehr zur Generation der siebziger Jahre zählen. Seine junge Wirksamkeit gehört noch nicht der Geschichte an und so läßt sich auch über sein Können wie über seine Individualität noch kein bestimmtes Urtheil fällen. 1100 Immerhin aber kann er es sich zum Verdienste anrechnen, daß er von der aufstrebenden jüngeren Literatur als der Erste die ganze Weisheit der Aesthetik Lindau’s und Consorten praktisch ad absurdum geführt hat. Das war ein tolles Phrasengewirr, welches in den Kritiken und dramaturgischen Studium so selbstgefällig zum Ausdruck kam. Die Zeit der Tragödie und des höheren Dramas sollte auf 1105 immer geschwunden sein, nur das Conversationsschauspiel, Lustspiel, Schwank und Posse eine Zukunft haben. Das Publikum hatte alles Interesse für jene erstere Kunst verloren, alles was diese schuf, war unmöglich für die Bühne und mußte ein kärgliches Leben als Buchdrama fristen. Uns Deutschen war es unmöglich, ein technisch tüchtiges Theaterspiel zu liefern, denn uns fehlte jegliche Kunst des 1110 Aufbaues und der Composition und wir konnten nicht spannen, noch auch interessiren; einzig die Franzosen waren das Mustervoll, von denen wir das alles lernen konnten, einzig in der Nachahmung der Heroen des Pariser Straßenpflasters lag das Heil des deutschen Zukunftsdramas. Heute weiß es Jeder, der nur offene Augen hat und klar sehen will, daß uns der Sinn für die gewaltigen Wir- 1115 kungen der Tragödie nicht erstorben, daß er nur eingeschlafen wegen der trauri- <?page no="44"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 44 gen Unfruchtbarkeit, welche auf diesem Gebiete in den letzten Jahren herrschte. Nur die Ohnmacht der Lindau und Bürger ließ mit klingendem Spiele die französische Sittenkomödie einziehen, und wie im Nu würde sie von der Oberfläche verschwinden, wollten einheimische Dichter das sociale Leben unseres Volkes in 1120 interessanten Bildern zur Darstellung bringen. Die Aufführungen von Fitger’s „Hexe“ und der Wildenbruch’schen Werke beweisen, daß in großen Schichten des Publikums die Sehnsucht nach Besserem lebt und wie kläglich nimmt sich nicht da der Groll des wackeren Don Quixote Paul Lindau aus, wenn er alle seine kritischen Kartenhäuser zusammenbrechen sieht und in den Feuilletons der Köl- 1125 nischen Zeitung hämisch bemerkt, die Wildenbruch’schen „Karolinger“ hätten größere literarische, als pekuniäre Erfolge erzielt, das ideale Princip habe den Direktor Ernst nicht vor dem Krache geschützt. Hätte doch Lindau diese Zeilen nicht zu einer Zeit geschrieben, als die drei Aufführungen des „Jungbrunnen“ die pekuniären Erfolge seiner Dramatik in noch viel - viel trüberem Lichte erscheinen 1130 ließen! Wenn es mich nur nicht zu weit führte, so wollte ich schon dem Schleppenträger der Franzosen die Erklärung geben, warum das Viktoriatheater die Saison nicht aushielt. Eine Bühne, ganz neu in Berlin, welche sich ein Stammpublikum erst heranzuziehen hatte, der unselige Gedanke, die Saison mit Gastspielen zu eröffnen und der ungenügende Erfolg derselben, die Schauspieler, sich über 1135 das Durchschnittsmaß nicht erhebend, alles das hat nicht zum wenigsten dem pekuniären Gewinn der „Karolinger“ geschadet. Und warte man nur ewige Zeit! Lasse man unsere Nation sich erst völlig ermannen, vertreibe man den kritischen Spuk der Lindau und Genossen, die Nachwirkungen des Verdauungsschlafes, lasse man erst unsere Kritik von neuem ernsteren Geiste beseelt werden, und wir 1140 haben wiederum in allen Schichten der Bevölkerung ein großes Publikum, welches mit Andacht und Freude auch den Offenbarungen einer erhabeneren größeren Kunst lauscht. Dann wird die Scheu der Theaterdirektoren vor der fünfaktigen Tragödie von selbst verschwinden, und hoffentlich geht L’Arronge mit gutem Beispiele voran, indem er ihr nicht Mißtrauen, sondern Wohlwollen ent- 1145 gegenbringt, überallhin ermuntert und die aufkeimenden Kräfte befördert, soweit es seine großen Mittel erlauben. Die Hoffnungen, welche man an das erste deutsche Nationaltheater anknüpfte, und die einen Lessing bewogen, für dasselbe mit allen Kräften seines Geistes in die Schranken zu treten, scheiterten nicht zum Geringsten an dem 1150 Mangel eines Nationaldramas. Heute, um mehr als ein Jahrhundert später, richten die Besten und Edelsten des Volkes wiederum ihre Blicke auf eine begeisterte Gesellschaft hochbegabter Künstler, die im Innersten des Herzens und wenn sie auch ihr stilles Begehren vielleicht nicht mit lauten Worten sagen, doch gewiß die Sehnsucht und den thatbereiten Willen hegen, den alten Wunsch endlich zu er- 1155 füllen, weiterzubauen in dem Sinne des Hamburger Dramaturgen und seiner Mitkämpfer. Das Théâtre français unserer westlichen Nachbarn nur in seinen äußeren Einrichtungen, seinem Geschäftsgang, in der Art seiner Einnahme- und Ausgabebücher nachahmen, - das wäre Nichts, das verlohnte nicht, eine Feder darum zu verschreiben, darum brauchte man kein lautes Geschrei zu erheben; 1160 nein, der Geist muß es sein, - die Seele, welche in den Hallen jenes Institutes <?page no="45"?> Julius und Heinrich Hart 45 weht, muß auch die Schöpfer des deutschen Landestheaters beleben und wie jenes mit dem französischen Volke verwachsen, so muß auch dieses, womöglich noch tiefer, hineinwurzeln in unsere Nation, und aus ihr wiederum heraus köstliche Blüthen und Früchte zeugen. Das kann es aber nur dann, wenn L’Arronge die 1165 innige Verbindung mit den Dichtern sucht, wie jenes. Viel kann er wirken, seine That ein Wendepunkt in der Entwickelung unserer Schaubühne werden, wenn er mit seinen bedeutenden Mitteln dafür eintritt, die Kluft zwischen Theater und Drama zu überbrücken. Unseren Schauspielern gilt der Poet als ein fremder Eindringling in ihr Reich, sie wollen ihm kein Verständniß für die Welt hinter den 1170 Coulissen einräumen, der Dichter hat die Macht über sein Werk verloren, sobald es in die Hände der Darsteller übergegangen. Jeder modelt dann an ihm herum, der Regisseur führt mit Eifer den zeilen- und gedankenmordenden Rothstift, und niemand fragt dabei nach dem Schöpfer, welcher zuletzt auf der Generalprobe, wenn nichts mehr zu ändern, mit Entsetzen sein Werk verstümmelt wiederfindet. 1175 Der Dichter gehört nicht zu uns, - das ist der schlimme Gedanke, der sich wie ein rother Faden durch die fünfbändige „Geschichte der deutschen Schauspielkunst“ des Schauspielers Eduard Devrient zieht. Oftbeklagter Gedanke, dem auch Lindau in seinen „Dramaturgischen Blättern“ mehrmals treffende Worte verliehen! Seht mit offenen Augen umher, und ihr erblickt die herrliche Folge desselben: 1180 den Verfall der Bühne! Hier muß eine Wandlung eintreten und gerade sie hängt allein von jener Immermann’schen „moralischen Entschließung“ ab. Möge L’Arronge jenen intimen, belebenden und geistig anregenden Verkehr zwischen den Societäten seiner Bühne und den Schriftstellern anbahnen, wie er am Théâtre français gang und gäbe, mögen auch am deutschen Landestheater die geschmack- 1185 vollsten und gebildetsten Köpfe der Genossenschaft, vielleicht durch einsichtige Kritiker und ausübende Schriftsteller verstärkt, das dramaturgische Comité bilden, welches über die Annahme eines schriftstellerischen Werkes die letzte entgültige Entscheidung trifft, nachdem dasselbe ihnen von dem Autor selbst oder einem Vertreter in offener Sitzung vorgelesen. Möge dem Dichter auf den Proben 1190 die berathende Stellung eingeräumt werden, die ihm gebührt. Wenn auch nicht von einem Tag zum anderen, nach und nach werden doch die jetzt noch so weit verbreiteten Vorurtheile des Darstellers gegen den Dramatiker schwinden, und auch dieser sich mehr und mehr klar machen, daß er nur von der Bühne herab wahrhaft lebendig auf alle Kreise des Volkes einwirken kann, und darum auch 1195 diese mit ihren Forderungen und Gesetzen stets vor Augen halten muß. Oft genug ist die Klage über den Schlendrian unserer Bühnenleitungen laut geworden, und mancher jugendliche Schriftsteller betrat mit Zagen den harten Weg, der ihn über Dornen und Disteln zu den weltbedeutenden Brettern führen sollte. Es gilt von den Theaterdirektoren dasselbe, was von Verlegern und Buch- 1200 händlern: dem werdenden Ruhm gehen sie scheu aus dem Wege, aber sie drängen sich um den gewordenen. Manuskripte, welche auf ihrer ersten Seite nicht den Namen eines bekannteren Autoren tragen, wandern wie häufig! ungelesen in die Hände der Verfasser zurück, begleitet von irgend einigen nichtssagenden Redensarten, oder gar einem lithographirten Schreiben. Es ist ja allerdings keine 1205 mühelose, auch keine angenehme Arbeit sich alljährlich durch vielleicht vierhun- <?page no="46"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 46 dert von Dramen hindurchzuwinden, wie sie die deutsche Kleindichterkrankheit in manchen Theaterbureaus ablagert. Aber ein wie großer Bruchtheil von diesen Werken stellt sich nach den ersten flüchtigsten Blicken als die Ausgeburt völliger dichterischer und theatralischer Impotenz heraus und macht jede weitere Lektüre 1210 unnöthig! Andererseits aber bedarf eine Einlieferung oft nur gelinder Umarbeiten und leichter Retouchen, um ein tüchtiges Bühnenwerk abzugeben. Wer unterzieht sich hier der Mühe des Rathgebens? Viele Knospen sind ohne Frage durch die Lässigkeit unserer Direktoren und ihrer Dramaturgen gebrochen, und auch die Besten unserer Dramatiker haben die schmerzlichen Streiche derselben erfah- 1215 ren! Brauche ich doch nur an Freytag’s „Journalisten“ zu erinnern, - eben jene „Journalisten“, die wir neben der „Minna von Barnhelm“ als unser bestes Lustspiel zu feiern pflegen, - brauche ich nur daran zu erinnern, daß sie von der Leitung des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin mit einem lithographirten Schreiben remittirt wurden. Und daß es heutzutage nicht besser geworden, daß noch 1220 immer unsere Bühnenleiter der werdenden Literatur den Rücken zukehren, wird uns ein jüngerer Dramatiker, Wildenbruch, bezeugen, in Erinnerung an den Kreuzweg und seine zahlreichen Leidensstationen, den er vor der Berliner Aufführung der „Karolinger“ gehen mußte. Gewiß ist es ein Trost, - aber ein Trost, der der Lässigkeit zum Schilde dient, - daß das echte Talent sich schließlich doch 1225 Bahn bricht. Schließlich! Aber vorher gehen die langen Stunden der Verbitterung, des Zweifels und herumtastender Versuche, und vielleicht um Jahre wird die Entwickelung aufgehalten. Denn wahrhaft wachsen, sich intensiv und expansiv ausbreiten, kann der Dramatiker nur unter den Augen der Welt, nur auf den Brettern, und erst das auf der Bühne lebendig erschaute Bild seines Werkes macht 1230 ihn völlig klar über sein technisches Können, nicht zum wenigsten der Erfolg lehrt ihn die geistigen Schwingen weiter entfalten und die Schranken der Conventionalität verachten. So lange der junge Dramatiker, dessen Ehrgeiz auf die theatralische Darstellung gerichtet, eine solche noch nicht erlebte, wird er sich im Innern unfrei fühlen und sich mißtrauen, dem Geschmacke der großen Menge 1235 nachgeben und huldigen, die erfolgreiche Aufführung hingegen kann ihm den bewußten Stolz und den Muth des Versuches geben, dem gewöhnlichen Geschmack seinen besseren entgegenzustellen, das Publikum zu bilden und zu erziehen. Man hat in den letzten Jahren in geradezu krankhafter Weise Preisausschrei- 1240 bungen veranstaltet, um auf diese Weise verborgene Talente ans Licht zu locken! Nichts thörichter als das! Ist es schon eine mühevolle Arbeit, einige hundert Dramen gewissenhaft zu lesen und zu beurtheilen, wenn sie im Laufe eines Jahres nach und nach in das Bureau eines Theaters einlaufen, wie soll es da möglich sein, ebenso viele Dramen, die in wenigen Monaten, oft wenigen Tagen zusam- 1245 men kommen, in noch wenigeren Tagen zu sondern und zu kritisiren. Diese Arbeit ist einfach unmöglich und jedes Preisausschreiben hat die Klage von neuem wachgerufen. Und auch nach anderer Richtung hin tauchen die Bedenken auf! Durch die Vertheilung eines Preises und die damit verbundene Reklame erhält die glücklich gekrönte Schöpfung eines bis dahin vielleicht völlig unbekannten 1250 Autors eine Bedeutung, ein Ansehen, welche dem literarischen Werthe des Dra- <?page no="47"?> Julius und Heinrich Hart 47 mas in den meisten Fällen gar nicht zukommen. So werden auf der einen Seite die Selbstüberschätzung und der Eigendünkel nebst all ihren Folgen groß gezogen, auf der anderen Seite die Enttäuschung, der Hohn und der Pessimismus geweckt. Die Geschichte der Preisausschreiben seit mehr als hundert Jahren verzeichnet 1255 denn auch einen Mißerfolg nach dem andern; vor allem bedeutsam ist es, daß sehr oft in derselben Zeit, wo irgend ein todtgebornes Aftermusenkind gekrönt wurde, Werke an die Oeffentlichkeit traten, die der Unsterblichkeit gehören, aber die Schranken eines Preisgerichtes bewußt oder unbewußt gemieden hatten. Eine sorgsame, geduldige, wenn auch langsame Prüfung aller bei den einzel- 1260 nen Theatern einlaufenden Dramen, wofern sie sich nicht auf den ersten Blick als völlig unreife Arbeiten herausstellen, wird unendlich mehr Werth haben, als alle Preisausschreiben der Welt. Denn offenbar sind diese nichts als glänzende prunkhafte Gewänder, in die sich der erbärmlichste Schlendrian gesteckt. Und gerade der Schlendrian ist der schlimmste Feind aller bühnenreformatorischen 1265 Bestrebungen. Denn er arbeitet im Versteckten, und man kann ihn fast unmöglich aus seinem Dunkel hervorziehen und durch klare Beweise, Zahlen und Ziffern darlegen. Nur die innere Tüchtigkeit, die „moralische Entschließung“ des Einzelnen wird hier Wandlung bringen, nur das Bewußtsein von der Nothwendigkeit treuer Pflichterfüllung. Hoffen wir daher, daß an der L’Arronge’schen Bühne das Amt 1270 des Dramaturgen, dem die Auswahl und Beurtheilung der einlaufenden Dramen obliegt, in der Hand eines nicht nur geschmackvollen, kundigen, geistig hochstrebenden, sondern auch des gewissenhaftesten Mannes liegt, der auch der werdenden Literatur Interesse und Sympathie entgegenbringt. Jedenfalls müßte dies zum Prinzip erhoben werden: kein Manuskript geht an seinen Autor zurück, 1275 ohne daß eine fachliche, alle Hauptbedenken kurz hervorhebende Begründung denselben über die Gründe der Ablehnung klar macht. Ohne Frage wird ein solches Verfahren die besten Folgen haben, - und diese liegen allzuklar vor Jedermanns Augen, als daß man sie noch besonders hervorzuheben brauchte. Aber das Theater ist es auch der Literatur schuldig. Beide, Bühne und Drama, können nur 1280 dann eine glänzendere Zukunft noch erleben, wenn sie unentwegt nebeneinander gehen, Hand in Hand gepreßt, - und daß auch L’Arronge dieses schöne Ziel fest ins Auge faßt und es zu erreichen sucht mit all seinen Mitteln, das ist eine der erhebendsten Hoffnungen, die wir an die Gründung des Deutschen Landestheaters knüpfen. 1285 Vielleicht ist dann die Zeit gekommen, wo sich auch das deutsche Volk eines echten und rechten Nationaltheaters rühmen kann, welches sich tief in seinem Geistesleben einwurzelt, und wie wir es seit Jahrhunderten an unseren westlichen Nachbarn bewundern und beneiden. Mögen L’Arronge und seine Societäre der jungen Literatur die Hand reichen, 1290 wie diese es gewiß ihnen thun wird, möge das Deutsche Landestheater nicht mit vollen Segeln in die Wasser des Franzosenthums hinaussteuern, noch in den dürren Felsengebieten klassisch-literarischer Spielereien und gelehrter Experimente sich verirren, möge es aber auch sich nicht überschwemmen lassen von den trivialen flachen Machwerken der literarischen Handlanger, Tagelöhner und finger- 1295 fertigen Fabrikanten, die nichts als das Amüsement der großen Menge erstreben <?page no="48"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 48 und im Theater nur eine Vergnügungshalle sehen, gerade gut genug, die Langeweile einiger Stunden zu vertreiben. Ein Spiegel des deutschen Volkes! Und wenn auch die Dramatik des verflossenen Dezenniums so wenig auf dieses Ideal hingewirkt, so kläglich arm und 1300 nackt dasteht, und so wenige gesunde und erfreuliche Schossen getrieben hat, so dürfen wir doch mit fröhlicheren Hoffnungen in die Zukunft schauen. Ich habe schon auf den vorhergehenden Blättern darauf hingewiesen. Ein ernsterer Geist hat das Volk erfaßt und auf die trunkene, evoëjauchzende Ausgelassenheit, die bakchantische Lust der siebziger Jahre ist eine männlichere gefaßtere Besonnen- 1305 heit gefolgt. Das nationale Bewußtsein wächst mehr und mehr in uns hinein und wird zu einer Macht, mit der man rechnen muß. Empor richten sich die Herzen und wir erkennen, daß das deutsche Volk auch geistige Ideale zu erkämpfen und zu vertheidigen hat, daß nur in der inneren Kräftigung des Volkscharakters eine Bürgschaft für eine gute Zukunft liegt. Die Generation, welche unter den Ein- 1310 drücken der Siegesjahre von 1870 und 71 groß gewachsen, tritt bestimmend in das staatliche und gesellschaftliche Leben ein und diese Generation hat es gelernt, stolz auf ihr Vaterland zu sein. Die Schatten fallen voraus. In Kunst und Literatur machen sich die Zeichen einer veränderten Gesinnung geltend. Und das Theater wird sich ihr nicht entziehen können! Auch durch seine Hallen wird ein ernsterer 1315 Hauch wehen, vollathmig, herb, kühl und frisch und die erbärmlichen Geister vertreiben, die sich in den letzteren Lustren dort unter cynischem Gelächter umhertollten, die in der Kunst nichts sahen als die milchgebende Kuh. National und modern, - das müssen zwei Stichworte für die aufstrebende Literatur werden. Nicht, als ob man seine Stoffe nur aus der Geschichte des deut- 1320 schen Volkes nehmen oder gar nach dem naiven akademischen Rezept Gottschall’s in ihrer Wahl nicht über die Zeit des dreißigjährigen Krieges hinausgehen dürfte, - vor solch plattem Formalismus bewahre uns gütig der Himmel. Nein, Gestalten und Schicksale, die das tiefste Empfinden unseres Volkes berühren, universal über Zeit und Raum sich hinspannen, hat es in allen Tagen gegeben, 1325 aber auch nur diese allgemein gültigen Stoffe soll man der Vergangenheit entnehmen und nicht in jedem historischen Todtschlag gleich eine erschütternde Tragödie sehen. Nur das Eine versteh ich unter jenen Worten „national“ und „modern“: Ideen und Gedanken, Gefühle und Empfindungen müssen unserem Volke vertraut sein, für die Ideen muß es auch noch heute sich begeistern, kämp- 1330 fen und leiden können, die Empfindungen muß es noch heute hegen, sich von ihnen erheben, zu Thränen rühren oder zu befreiender Heiterkeit bewegen lassen. Dann haben wir das Nationaldrama, welches Lessing ersehnte und das allein würdig ist, über die Bretter des neuen Deutschen Landestheaters zu gehen, allein seine tiefste und weiteste geistige Bedeutung ausmachen wird. Jene Bedingungen 1335 kann jeder echte und rechte Dichter erfüllen, wenn er nur will, - ist uns das Geschick aber hold, so verleiht es uns vielleicht auch Poeten, die nicht nur national und modern, sondern auch groß sind, d.h. über einen Reichthum neuer erhabener, alles umfassender Ideen und packender Stoffe, reiche Gestaltungskraft und tiefinnerliche Poesie verfügen. 1340 <?page no="49"?> Julius und Heinrich Hart 49 Ein Repertoire, nach solchen Prinzipien zusammengesetzt, wird auch auf die Schauspielkunst heilsam und fördernd einwirken. Letztere hat ihr redlich Theil mitbekommen von den Anschuldigungen, welche man gegen das Theater im Allgemeinen erhoben hat, und seit dem Anfange dieses Jahrhunderts haben die 1345 Ankläger nicht still geschwiegen, mit ihren Beschwerden über die Gegenwart, den Lobpreisungen der Vergangenheit. Nun ist es für den Nachgeborenen gewiß schwierig, vielleicht unmöglich, die Richtigkeit dieser Urtheile festzustellen, denn das schauspielerische Gebilde verrauscht mit der Stunde und ist dazu wie keine andere Kunstgestaltung bei dem übermächtigen Vorwalten der äußeren Persön- 1350 lichkeit rein subjektiver Kritik unterworfen. Lassen wir daher an dieser Stelle die langwierige Untersuchung, inwieweit die Kunst der Urgroßväter die unsrige überflügelt und was wir als Gewinn ihr entgegenzustellen haben. Die Geschichte mag viel können, aber beweisen, überzeugen sollte sie niemals dürfen. Hat unsere moderne Schauspielkunst ihre Fehler und Schwächen, so bleiben diese eben 1355 Fehler und Schwächen, auch wenn sie mehr als ein Jahrhundert alt sind, und selbst die Autorität eines Goethe könnte sie nicht entschuldigen. Als schwerwiegendsten Mangel hat man unsrer Schauspielkunst den Mangel eines einheitlichen Stiles vorgeworfen. Man weiß, daß sich die Altmeister unsrer Schauspielkunst des Werthes eines solchen wohl bewußt waren und erinnert sich 1360 vor allem Schroeders, der mit so vielem Eifer eine einheitliche Spielweise am Hamburger Theater durchführte. Bedenkt man, daß Lessing und Shakespeare ihre Pathen, daß sie gleichsam an den Werken dieser Dichter emporwuchs, so ist man sich über die Grundformen ziemlich klar: Wahrheit der Darstellung lautete ihr Hauptgesetz, Natürlichkeit in Sprache und Bewegung, eine dem Leben möglichst 1365 nahe kommende Zeichnung der Charaktere und kräftige Ausführung aller besonderen Merkmale des jeweiligen Menschentypus. Gewiß haben schlechte Künstler, die ja gewöhnlich durch krasse Aeußerlichkeiten allen Mangel an Innerlichkeit zu verdecken suchen und hohlen Formelkram anstatt tiefen Gehaltes geben, dieses Prinzip zuweilen zu discreditiren verstanden. Besonders die über- 1370 schäumende Gewalt Shakespeare’s machte sie zu haarbuschigen Coulissenreißern oder man ward zu mühseligen Nüancensuchern und Mätzchenmachern, zu geistlosen sklavischen Copisten von tausend Aeußerlichkeiten. Es fehlte nur das geistige Band! Dennoch ist das Prinzip einzig richtig und gerade die Theater, welche dasselbe acceptirt, sind als die Schauspielerschulen par excellence aner- 1375 kannt: das Burgtheater, wohin es von Schroeder selbst verpflanzt und wo es in Laube den unermüdlichsten, verständigsten und rücksichtslosesten Pfleger fand, sowie das Hamburger Thaliatheater leuchten durch den Ruhm eines einheitlichen, einfachen, wahren und natürlichen Spieles in den zeitgenössischen Bühnenverhältnissen glänzend hervor. 1380 Leider wurde die von den Hamburgern ausgestreute Saat beim ersten Emporkeimen mächtig geschädigt und die Nachtfröste kamen über sie! Im ruhigen und sicheren Beharren auf der Schroeder’schen Bahn hätte unsere darstellende Kunst es zu einem allgemein gültigen und allgemein anerkannten Stile sicher gebracht, feststehende dramaturgische Gesetze wären bis in jede Winkelbühne gedrungen, 1385 und Regisseure und Schauspieler würden sich über die Darstellungsweise einig <?page no="50"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 50 sein. Goethe und Schiller aber brachten den Zwiespalt mit sich, und die Entwickelung der Kunst zu einer einheitlichen Spielweise brach jäh ab! Auf den Brettern wiederholte sich das betrübende Schauspiel, wie es die Poesie erlebte. Zwei geniale Naturen rissen mit unwiderstehlicher Kraft das Gespann der deut- 1390 schen Kunst aus den Bahnen nationalen Lebens heraus. Es schwebte ihnen das griechische Theater als Muster vor und so stellte man vor allem an die Stelle der Wahrheit die antike Schönheit. Die Anfänge schauspielerischen und dichterischdramatischen Wesens, wie es die Hellenen nur kannten, galten als Muster für unsere moderne weit höher und ganz anders geartete Kunst! Das neuere Drama 1395 setzt alles in Handlung, That und Bewegung um, das griechische hingegen trägt einen rein lyrischen Charakter an sich und ist einförmiger, ruhiger und plastischer Natur. Letzteres führte daher naturgemäß zum reinen Deklamationsstil, und die Zugabe musikalischer Begleitung erklärt sich dabei von selbst. Der griechische Künstler war mehr Recitator als Schauspieler! Daher auch abgemessene, 1400 feierliche, rein begleitende Bewegungen, wie sie das ne nimis, das Maß in allen Dingen bestimmt, daher auch die Gleichgültigkeit gegen jedes Mienenspiel, welches ja durch die Maske unmöglich gemacht wurde. Daß dieser Stil bei den Griechen die denkbarste Vollkommenheit erreichte, scheint ohne Zweifel zu sein, wenigstens deutet darauf die uns völlig abhanden gekommene Feinfühligkeit des 1405 athenischen Volkes hin, welches jeden falschen Accent mit einem Sturme der Entrüstung strafte. Wie hätten auch die Besten von unseren Mimen vor einem solchen Publikum bestehen können? ! Wie sollte aber auch ein so ausgeprägt nationaler Stil mit all seinen Zufälligkeiten und Befangenheiten von unserem Volke als der einzig wahre anerkannt werden. Der deutschen Schauspielkunst wurden 1410 Principien aufgedrängt, die unbedingt zu kaltem Formalismus führen mußten. Das Spiel trat ganz hinter die Deklamation zurück, und die Deklamation suchte man durch einen gewissen singenden Ton noch mehr von aller Realität zu entfernen; die Bewegungen sollten vor allem schön sein; kein Wunder, daß sie geziert wurden, daß man mehr dem Auge zu schmeicheln, als den Verstand zu überzeu- 1415 gen suchte; man stellte mehr lebende Bilder, als daß man auch durch den Gestus einen Charakter naturwahr gestaltete. Die Dichtung kam dieser Manier entgegen; selbst Schiller schrieb in seinen Dramen zuweilen einen ganz unleidlichen opernhaften Stil, der den Darsteller zu einem Pathos, einer überschwänglichen Deklamation verleitete, welche zu dem Wesen der Person in völligem Gegensatze 1420 stand. Man mußte unwillkürlich an das Hervortreten eines Opernsängers erinnert werden, der zum Gesang einer Arie an die Lampen heranschreitet. Mit Recht hielt sich Schroeder dieser idealistischen Richtung Zeit seines Lebens feindlich gegenüber und der theoretisch so scharfsichtige Ludwig Tieck konnte die Gefahren dieser Weimarer Schule nicht genug beklagen: „Die Schilderung und das lyrische 1425 Element, was sich nicht mit dem Drama verbindet, und dadurch bei unserem Publikum nur um so mehr Glück macht, hat nach und nach durch die falsche Manier der Schauspieler und durch andere Lieblingsdichter, die noch verwegener damit Luxus getrieben haben, das wahre Trauerspiel und die richtige Deklamation zerstört, hat die Zuschauer immer mehr verwöhnt, nicht mehr vom Ganzen, 1430 von artikulirter Rede und dem Zusammenspiel hingerissen zu werden, sondern <?page no="51"?> Julius und Heinrich Hart 51 nur von Einzelnen, sich Vordrängenden, wo Natur und Zusammenhang nicht mehr in Rechnung stehen“. Der Kampf zwischen den Vertretern der Hamburger und Weimarer Richtung hat der Entwickelung der Schauspielkunst ungemein geschadet und seine schäd- 1435 lichen Folgen können wir noch heute täglich auf unseren Bühnen sehen. Noch kam dazu der kosmopolitische Wirrwarr unserer Bühnenliteratur. Während der französische Schauspieler nur die streng nationalen Gestalten eines streng nationalen Repertoires spielt, hat der unsrige heute die Chlamys eines Sophokleischen Helden anzuziehen, um am anderen Tag in den seidnen Gewändern eines Calde- 1440 ron’schen Grande in irgend einem Degen- und Mantelstücke einherzuspazieren; bald soll er es verstehen, die ganze Lebendigkeit, Verve und Geschliffenheit der transrhenanischen Kunst darzustellen, bald die ernsteren, gediegeneren, zurückhaltenden Gestalten der nordgermanischen Dichter. Er schweift in die Ferne und dringt nicht in die Tiefe; Gebiete sucht er zu erobern, auf denen er zuletzt doch 1445 nichts als Nachahmer sein kann, kosmopolitisch wird er auf Kosten der Individualität. Gerade die Stileinheit aber macht wie ein gutgeschultes Ensemble auch die mittelmäßigen Kräfte fruchtbar, und erst, wenn sie überall zur Herrschaft durchgedrungen, werden wir auch an kleineren Bühnen harmonisch abgerundete, 1450 wohlgefügte, ganz und gar erfreuliche Leistungen sehen. Daß an jedem Theater solch ein festes künstlerisches Princip für die Darstellung unbedingt gesucht und streng eingehalten werden muß, dieser Ueberzeugung hat sich noch kein Einsichtiger verschließen können. Und doch giebts im ganzen lieben Deutschland kaum ein halbes Dutzend Bühnen, an denen man 1455 diese Wahrheit in praktische Thaten umsetzt! Im Uebrigen herrscht allmächtig der Schlendrian und es wird kunterbunt darauf los gespielt; der Eine spricht Verse wie ein Schullehrer, der die Regeln der Metrik an ihnen docirt, sein Partner reißt sie auseinander und zerhackt sie in wüste Prosa; jener sucht durch interessante Posen und schöngerundete Armbewegungen die Aufmerksamkeit auf sich 1460 zu lenken und zugleich sehen wir einen Anderen auf derselben Bühne sich mit ausgesprochenem Bemühen dem nackten Verismus, raffinirt ausgeklügelter Sucht nach dem Häßlichen hingeben, die ja so oft mit dem Wahren verwechselt wird. Ich zweifle durchaus nicht, daß L’Arronge und die geistvollen hochbedeuten- 1465 den Künstler des Deutschen Landestheaters dieser so eminent wichtigen Frage näher getreten sind und näher treten werden. Und wenn sie auch nur die gute Saat des Beispiels ausstreuen, so sind doch von ihrer Thätigkeit die schönsten Erfolge für die Schauspielkunst zu erwarten. Sollen die Aufführungen des neuen Theaters die innere harmonische Vollen- 1470 dung in sich tragen und wirklich ausgereift an die Oeffentlichkeit treten, so müssen alle ihre Darsteller demselben Kunstprinzipe huldigen. Es muß jener Fehler vermieden werden, der bei den letzten Münchener Monstre- und Mustervorstellungen so grell ans Tageslicht trat. Auch damals kamen die glänzendsten Geister der zeitgenössischen Schauspielkunst zusammen, um Hand in Hand die großen 1475 Gebilde unserer Dichter zu verkörpern! Schöne, durch und durch vollendete Ein- <?page no="52"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 52 zelleistungen erregten die begeisterte Anerkennung der Zuhörerschaft, - aber es waren nur Einzelleistungen, bunt schillernde Mosaiksteine, zusammengesetzt und aneinandergeschoben, ohne daß eine ordnende Hand das Passende passend aneinandergefügt. Viel Colorit, viele Gestalten, ...aber keine Farbe, keine Gruppi- 1480 rung, - kein Bild! Und doch soll eine schauspielerische Aufführung von ebenso einheitlichem Geiste beseelt werden, wie jedes andere Kunstwerk, jede Dichtung und jede Composition. Nur ist es bei den theatralischen Kunstleistungen schwieriger, diesen Geist festzubannen! Denn mit seltenen Ausnahmen werden die Werke der Poesie, Malerei u.s.w. von einem und demselben Schöpfer in allen, 1485 auch den kleinsten Theilen erdacht und ausgeführt, und jeder Künstler trägt gewöhnlich auch nur ein Gesetz in der Brust, von dessen Wahrheit er überzeugt und dem er daher auch huldigt in Gedanken und Stil. Eine Bühnendarstellung hingegen wird nur durch das Zusammenwirken verschiedener Kräfte ermöglicht; diese Kräfte sind sich im Allgemeinen an Bedeutung gleich, jede ist eine ausge- 1490 sprochene Individualität mit all dem Trotze und der Starre des Selbstbewußtseins, jede will sich vor allem geltend machen und um so mehr, je tiefer sie von der Richtigkeit ihrer Kunstanschauungen überzeugt ist. Ein Drama, von Emile Zola in Gemeinschaft mit dem Dichter der „Braut von Messina“ geschrieben, müßte ein seltsames Ungeheuer werden, eine keusche herrliche Jungfrau mit 1495 schuppigem Fischschwanz, und ähnlich nimmt sich eine Theateraufführung aus, wenn es nicht gelingt, alle ihre Künstler auf einer und derselben Bahn zu halten. Niemand muß sich daher im gegebenen Falle so viel Selbstenthaltung auflegen, so sehr die vorwärtsstürmende rücksichtslose Individualität straff im Zaume halten können, wie der Schauspieler; seine Natur verleugnen, sich selbst zum 1500 Opfer bringen, ist eine der schwersten und doch nothwendigsten Pflichten, die seine Kunst von ihm fordert. „Respekt vor dem Ganzen! “ so heißt das goldene Wort, welches man über die Thür eines jeden Theaters schreiben sollte und unter diesem Gesichtspunkte wird man es verstehen, wenn Schroeder einen so tüchtigen Schauspieler wie Iffland’s Freund, Werdy, trotz abgeschlossenen Contrakts 1505 und obwohl er ihm die ausbedungene Gage voll ausbezahlte, doch nicht eher beschäftigte, als bis er sich sechs Wochen lang die Vorstellung seiner Bühne angesehen hatte und sich mit der Spielweise derselben vertraut gemacht. Wie daher ein gewissenhafter, ernststrebender Direktor bei der Zusammenstellung seines Personals Acht haben sollte, daß er nur zusammengehörige Indi- 1510 vidualitäten engagirt, so wird auch unsere Genossenschaft sich vor jenen Künstlern hüten müssen, die ihrem innersten Wesen nach dem allgemeinen Geiste widerstreben und sich ihrer ganzen Anlage nach in den Rahmen der gemeinschaftlich festgesetzten Spielweise nicht fügen können. Ein solcher müßte sich auf ihrer Bühne ausnehmen, wie etwa der Naturalist Iran Alridge [= Ira Aldridge] auf den 1515 Brettern des Weimarer Hoftheaters zur Zeit Goethe’s und Pius Alexander Wolff’s, wenn er schon damals die Welt mit seinem Gebrüll erfüllt, - und eine ähnliche Ueberzeugung mochte auch Schroeder trotz Schiller’s beharrlicher Bitten abhalten, den „Wallenstein“ für Weimar zu creiren. Alles aber deutet darauf hin, daß die Mitglieder der L’Arronge’schen Bühne jener Gefahren sich wohl bewußt sind. 1520 „Der Eitelkeit, nur große und dankbare Rollen zu spielen, muß Jeder entsagen, <?page no="53"?> Julius und Heinrich Hart 53 denn die vornehmlichste Verpflichtung unserer Vereinbarung ist die, daß Jeder bereit sein muß, sich dem Ganzen unterzuordnen und sein künstlerisches Vermögen auch für die kleinste Aufgabe einzusetzen. Unsere einzige Richtschnur ist die, durch das einträchtige Zusammenwirken künstlerischer Kräfte von Geltung und 1525 Bedeutung ein Ensemble zu schaffen, welches die zu veranstaltenden Aufführungen zu wirklichen Kunstleistungen der Schaubühne macht.“ „Durch straffe Bestimmungen ist das Ganze gegen die Laune und die Willkür des Einzelnen gesichert“ . So ist der feste Wille vorhanden, und man darf daher mit großer Zuversicht der Zukunft entgegensehen. Auch über den einheitlichen Stil dürfte man 1530 sich klar sein! Ich bezweifle nicht, daß nur in der Befolgung der Hamburger Richtung, in der realistischen, wahrheitsgetreuen Darstellung dichterischer Gestalten, unsere Schauspielkunst ihr Heil findet. Mehr und mehr hat sich der formale Idealismus der Weimarer Schule zersetzt, der Realismus ist die beherrschende Kraft in der Kunst der Gegenwart. Diesem modernen Geiste kann sich 1535 auch das Theater nicht entziehen, und wirft man einen kurzen übersichtlichen Blick über ihre besten Vertreter, so wird man finden, daß diese sich denselben schon bewußt oder unbewußt angeeignet. Wie ist es auch anders möglich, da gerade die Schauspielkunst mit dem allerstofflichsten der Materiale arbeitet, mit dem menschlichen Körper selbst, dem sinnlichen Klang der Stimme! Beim Dar- 1540 steller kommt es daher auch am allerauffälligsten zur Erscheinung, sobald er gegen die Wahrheit des Lebens verstößt und durch irgend eine Bewegung aus der Rolle fällt; denn seine Gestalten regen nicht blos die Phantasie an, sondern sie sind mit den Händen greifbar, mit den leiblichen Augen sichtbar, sie wollen nicht blos das Leben symbolisiren, sondern sie sind selbst Leben. Eine konsequente 1545 Durchführung des realistischen Stils wird uns aber auch bald belehren, daß derselbe sich nur im Boden des Nationalen festwurzeln und aus ihm heraus gesunde Blüthen treiben kann. Oder wie sollte ein spanischer Grazioso in der Darstellung eines deutschen Künstlers - die eine oder die andere Ausnahme mag vorkommen - wirklich in seinem ganzen ureigenen Sein, in der ausgeprägten Fülle seiner 1550 Individualität zur Erscheinung kommen. Ein spanischer Mantel und Stoßdegen, das wird der ganze Realismus sein, aber unter der Castillaner-Maske blitzen doch die treuen deutschen Augen hervor und in den Adern wallt das Blut der Söhne Teut’s, nicht das raschere der Nachkommen Pelayo’s. Unsere Schauspielkunst wird sich daher an eine nationale Dramatik anlehnen müssen, welche Menschen 1555 schafft, wie sie in unserer Mitte erstanden sind und unter uns noch wandeln, welche die Gefühle und Gedanken ausspricht, die gerade das besondere Erbtheil unseres Volkes sind und seinen bestimmten Charakter ausmachen. Ich bezweifle aber nicht, daß uns der Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts diese Dramatik bescheeren wird. 1560 Direkt aus jenem Kampf der Hamburger realistischen und Weimarer idealistischen Schule ist auch der Streit hervorgegangen, welches Element bei der schauspielerischen Darstellung überwiegen soll, das recitirende oder das mimische. Immermann tritt für die Herrschaft des Ersteren ein: „denn die Poesie ist eine Aus dem Seite 9 und 10 angeführten Briefe. <?page no="54"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 54 Kunst der Rede; das Vehikel also, wodurch die dramatische zur vollen Erschei- 1565 nung gelangt, muß primo die Rede und erst secundo das Spiel der Gesichtsmuskeln, der Hände und Füße sein.“ Sollte man aber wohl jemals einen unnützeren Streit ausgefochten haben? Die Schauspielkunst giebt volle lebendige Menschen und der lebendige Mensch, wie er uns in jedem Augenblicke entgegentritt, äußert seine Gedanken und Empfindungen sowohl durch die Sprache, wie durch den 1570 bewegten Gestus. Eins ist von dem anderen nicht trennbar. Das Wort begleitet und erklärt die Bewegung, die Bewegung das Wort. Ein Schauspieler, dessen Deklamation im Widerstreit zu der von ihm darzustellenden Person steht, ist nicht minder zu verwerfen, wie der, welcher durch sein äußeres körperliches Spiel die Wahrheit der Rede aufhebt. Es kommt gar nicht darauf an, welches 1575 Element überwiegt, das recitirende oder das mimische; sondern daß sie beide wahr sind, beide dem Charakter völlig entsprechen und angepaßt werden. Und je nach dem Wesen desselben wird bald dieses, bald jenes stärker in Aktion treten müssen, das eine oder das andere überwiegen. Bei der oft wortkargen, zurückgepreßten und verschlossenen Leidenschaft Shakespeare’s wird die Seele ihre 1580 letzte Zuflucht zu der mimischen Aeußerung nehmen, wird diese mehr sagen können, als die laute ausgesprochene Rede, umgekehrt wird die rauschende Wortfülle eines Schiller den Gestus zur bloßen Begleitung herabdrücken. Wie bei jeder anderen, so ist auch bei der Schauspielkunst der innere Prozeß der wichtigste und ausschlaggebende. Der Moment der geistigen Erfassung des 1585 jeweiligen Charakters macht den Künstler und die größere oder geringere Wahrheit dieses geistig geschauten Bildes seine wirkliche Bedeutung aus. Die Kraft des Geistes wird, wie bei Seydelmann und Lewinsky, auch die äußerlichen Mängel, ein hohles Organ, ein flaches Gesicht, oder die Ungunst des Körperbaues überwinden können, aber auch die wohllautendste Stimme, die zierlichste Bewegung 1590 täuscht nicht über den Mangel innerlich geschauter Gesichte hinweg. Sie allein können nicht gelehrt und anerzogen werden, kein Mensch kann hier mit Winken und Rathschlägen etwas helfen, während bei allem anderen, bei Deklamation, Mimik u.s.w. die Schulung unendlich viel vermag. Nur durch sie wird ein einheitlicher Stil erzielt. 1595 Und auf den Proben beruht ihre Hauptwirkung. Unsere Gegenwart hat das längst eingesehen. Wir haben die Bedeutung des Ensemblespiels endlich erkannt und damit über das reine Virtuosenthum den Stab gebrochen! Die Zeit der Dawison ist vorüber, die Zeit der Meininger Gesammtgastspiele gekommen. Harmonie und organischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Theilen, so lautet das 1600 Kunstprinzip der Jetztzeit, welches nicht die Individualität unterdrückt, sondern nur auf die richtigen Bahnen lenkt. Sie findet nicht die Genialität in der romantischen Willkür, sondern in der klassischen Objektivität. Der wahre Geist eines Theaters offenbart sich auf den Proben, und diese sind das eigentliche Fundament seines Aufbaus. Unausgesetztes Probiren, vor allem die Einführung der 1605 Leseprobe, und strenge, gewissenhafte, korrekte Durchführung der Generalprobe sind Grundbedingungen, ohne die eine Bühne wirkliche künstlerische Erfolge nicht erzielen kann! Das Beispiel des Théâtre français beweist hier alles und ist auch tausendmal unseren Direktoren mahnend vorgehalten. Jeder ist davon <?page no="55"?> Julius und Heinrich Hart 55 überzeugt, und wenn die Thaten so wenig mit dieser Ueberzeugung überein- 1610 stimmen, so ist eben die unglückselige Faulheit, die niederträchtige Nachlässigkeit, die stupide Gleichgültigkeit daran Schuld. Letztere aber blühen als naturnothwendige Früchte aus den gemein entwürdigenden Anschauungen hervor, die in unserem Volke gang und gäbe geworden und mit liebevoller Sorgfalt gerade von jenen gepflegt werden, welche die geistige Führung der Nation bean- 1615 spruchen: den Herren Parlamentariern, den Herren Schriftstellern u.s.w. u.s.w. Regierung und Abgeordnetenhaus stellten das Theater unter die Gewerbegesetzgebung und öffneten seine Pforten sperrangelweit allen Bierwirthen, bankerotten Kaufleuten und ähnlichen Kunstverständigen, Gevatter Schneider und Handschuhmacher durfte und darf heutzutage über das Wohl und Wehe der deut- 1620 schen Bühne entscheiden. Und die zeitgenössische Kritik, Dramaturgie und Schriftstellerei sekundirten wacker, indem sie das Theater mit dem Namen eines bloßen Vergnügungsinstitutes brandmarkten. Wie sollte man da auch ein Herz haben für die herben Wunden, die man der Kunst schlug! Was ist ihnen Hekuba! Das Theaterdirektorspielen wurde ein Geschäft, wie jedes andere, bei dem der 1625 abendliche Kassenausweis entschied, und auf einem Zwanzigmarkstück konnte man die ganze Dramaturgie dieser Herren eingegraben finden. Hier können wir L’Arronge und seinen Mitarbeitern nur mit freudiger Zuversicht entgegensehen; wieder liegt die Leitung in den Händen kunstverständiger und kunstbegeisterter Männer, die Gesetze der Kunst werden ihnen zur Richtschnur dienen und diese 1630 hassen nichts mehr als den Schlendrian, die Nachlässigkeit und das träge Laissezfaire… Findet der ausgereifte Schauspieler seine Schule auf den Proben, - wo muß sie aber der angehende, jugendliche Darsteller suchen, wo erhält er die beste Vorbereitung, damit er nicht als völliger Neuling auf die Bretter heraustaumelt? Jede 1635 Kunst hat ihren bestimmten Theil Handwerk und Technik, welche erlernt werden können und erlernt werden müssen; warum will man das dem Künstler erschweren, was man jedem Zukunftsschuster und -schneider so leicht macht! ? Warum soll der Schauspieler den selfmademan abgeben und sich erst mühsam nach allerhand umhertastenden Versuchen und nachdem er hundert Irrwege zurückge- 1640 legt, die einfachsten Griffe seines Handwerkes erlernen. Glaubt man, daß die Autodidaxis so sehr fördernd auf die geistige Entwickelung einwirkt? Wer diese Ansicht hegt, mache doch nur einen Spaziergang in die Provinzen, besuche die kleinen Theater und sehe sich in ihnen mit offenen Augen um. Wie manches tüchtige und reichbegabte Talent verkümmert nicht unter dem Mangel 1645 einer guten Schulung und aufmerksamen Leitung, durch welche seine Kräfte ausgebildet, gemodelt und zugestutzt, sowie in der richtigen Weise hätten verwendet werden können. Und zu welch erfreulichen Erfolgen bringt es andererseits so manche minderwerthige Natur, wenn sie an den richtigen gültigen Platz gestellt, in vorzüglichem Ensemble stets Muster vor Augen hat und von kundiger 1650 Hand aufmerksam gepflegt wird. Aber die Schule, die Bildung unterdrücken das Genie! Nur in völliger Zwanglosigkeit kann dieses sich entfalten! Es ist jene naive Ansicht, der Genée das Wort redet: „Das Genie, die ursprüngliche Begabung für die Kunst geht mehr und <?page no="56"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 56 mehr verloren; aber dafür ist das mäßige Talent offenbar viel weiter verbreitet... 1655 Ein gewisser Grad von Bildung ist jetzt allgemeiner, als es früher der Fall war; dadurch wird auch die Talenthöhe eine gleichmäßigere, aber die hervorragenden Spitzen treten mehr und mehr zurück... Wenn andererseits die Ursprünglichkeit des Genies mehr und mehr verloren geht, so ist auch die Natur in der Verleihung äußerlicher Mittel zurückhaltender geworden.“ Ich glaube, Herr Genée sucht 1660 durch solche Deduktionen seine Existenz vergebens zu entschuldigen, und ich denke auch, es möchte ihm wohl etwas schwer fallen, auf statistischem oder spekulativem Wege den Beweis zu führen, warum uns denn das Genie so unrettbar verloren gegangen ist! Wegen des gewissen Grades von Bildung! Nun, ich habe bis jetzt stets die Ansicht gehegt, daß das wahre Genie nicht nur die ganze Bil- 1665 dung seiner eigenen Zeit umfaßt, sondern ihr sogar auf Siebenmeilenschritten vorauseilt, und Genée wird wohl nichts gegen die Beweiskraft von Namen wie Dante, Lope de Vega, Calderon, Cervantes, Shakespeare, Milton, Goethe einzuwenden haben. Oder er müßte die Genialität nur jenen herrlichen Menschen zuerkennen, denen die ursprüngliche Naturkraft in die Locken gefahren ist und 1670 welche ihre Gottähnlichkeit vor allem am Biertische zu beweisen suchen. Durch eine vernünftige weise Schulung wird das Genie nur gewinnen, das Talent aber ganz allein auf seine Höhe gelangen! Freilich soll diese künstlerische Schulung nur nicht dem Geiste befehlen wollen, ihn nicht binden, sondern ihn entfesseln. Ihre Haupterfolge wird sie nur auf dem Gebiete des Technischen erringen, hinge- 1675 gen auf dem der geistigen Schöpfungsthätigkeit sich mit Winken und Rathschlägen begnügen müssen. Es ist daher auch nichts falscher und verderblicher, als wenn ein dramatischer Lehrer seine Unterrichtsstunden mit dem sogenannten Einstudiren von Rollen ausfüllt. Gerade diese Manier zieht ein nachäffendes Papageiengeschlecht heran und erstickt allmählich die eigene künstlerische 1680 Selbstthätigkeit. Eine nach vernünftigen Prinzipien geleitete Theaterakademie wird nach dieser Richtung hin wohl die besten Wirkungen ausüben. Sie legt in ruhiger methodischer Arbeit den Grundstock zu einer wahren allgemeinen schauspielerischen Bildung, wo der Einzelunterricht mit all seiner Ueberstürzung nur lose Fetzen 1685 und Stücke, fragmentarische Anregungen giebt. Natürlich ist es eine naive Ueberschätzung ihres Werthes, wenn man glaubt, es könnte unter den gegenwärtigen Umständen alles Heil für das deutsche Theater von ihr allein ausgehen, oder ein Schauspieler habe schon genug gethan, wenn er mit Fleiß und Erfolg die Schule durchlaufen hat. Wie jede andere Schule ist die Theaterakademie nur eine Vorbe- 1690 reitung zur eigentlichen Thätigkeit und die Lernzeit kann erst mit dem Tode des Künstlers abschließen. Wünschenswerth wäre es nur, wenn solch eine Schule stets in reger Beziehung zu der Bühne steht, d.h. wenn ihren Schülern schon früh die Gelegenheit geboten wird, sich auf den heißen gefährlichen Brettern selbst zu bewegen. So ist in diesen 1695 Tagen das Burgtheater mit der Schauspielschule des Wiener Conservatoriums der Musikfreunde in Verbindung getreten und hat ihr den Beitrag geschenkt für sechs Stiftsfreiplätze für besonders talentirte Zöglinge. „Die Nutznießer dieser Plätze übernehmen die Verpflichtung, unmittelbar nach Absolvirung ihrer Stu- <?page no="57"?> Julius und Heinrich Hart 57 dien sich dem Burgtheater für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Gehalt 1700 zur Verfügung zu stellen. Talentirten jungen Leuten ist damit die Aussicht nicht nur auf unentgeltlichen Unterricht durch Lehrer, welche größtentheils am Burgtheater selbst wirken, sondern auch zugleich auf den Eintritt in den Verband des ersten deutschen Theaters erschlossen.“ „Das ist“, schreibt ein Wiener Kritiker, „eine der ersten deutschen Bühne würdige That, sich der strebenden neuen 1705 Schauspiel-Generation fördernd und lehrend, lenkend und leitend anzunehmen.“ Und gewiß würde man es nur gut heißen können, wenn sich auch das Deutsche Landestheater in Zukunft der Besten der emporwachsenden Jugend freundlich annähme und ihr in Berlin Gelegenheit böte, sich in einem musterhaften Ensemble die ersten Sporen zu verdienen. In ähnlicher Weise kann man das von 1710 Laube und Maurice mit so großem Erfolg betriebene Aufspüren von Talenten befürworten, die an kleineren Bühnen vergraben des Spielraums zu ihrer Entfaltung entbehren. Auf günstigeren Boden versetzt und sorgsam angeleitet, können sie zu Zierden des größeren Instituts werden, und wenn die L’Arronge’sche Bühne sich mit Ernst und Eifer beiden Aufgaben unterzieht, wird sie nicht nur 1715 der augenblicklichen Gegenwart schauspielerische Kunstgenüsse von hohem Werthe bereiten, sondern auch weisend und bildend auf die Zukunft einwirken und einen Stamm tüchtiger Kräfte heranziehen, die den Blick hoffend auf die kommenden Tage richten lassen. 1720 Noch manche Frage hat die Dramaturgie aufgeworfen, mit deren praktischer Beantwortung sich das L’Arronge’sche Theater befassen muß. So werden ihr die besseren Theile des Publikums jedenfalls nicht grollen, wenn es die Zwischenaktsmusik und den Zwischenaktsvorhang aus seinen Räumen entfernt. Durch erstere erhält ein der Schauspielkunst gewidmeter Abend gar zu sehr den Ein- 1725 druck einer musikalisch-deklamatorischen Soirée, bei der man die Menge der Genüsse mehr ins Auge faßt, als ihre innere Fülle. Auch wird sich die Stimmung des Publikums allzusehr zerstreuen und von dem Interesse an der Handlung ablenken lassen, eine Ansicht, der sich unsere besseren Bühnen denn auch längst angeschlossen haben. Aehnlich steht es mit dem Zwischenaktsvorhang. Auch er 1730 stört die Illusion und wirft den Zuschauer in die Alltagsstimmung zurück. Das moderne Drama hat sich bereits durch die That gegen ihn entschieden, indem es den raschen Shakespeare’schen Szenenwechsel durchaus zu vermeiden sucht und womöglich jeden Akt auf ein und demselben Schauplatz sich entwickeln läßt. Hier giebt die Zweckmäßigkeit den Ausschlag. Die Shakespeare’sche Bühne mit 1735 der dürftigsten aller Szenenausstattungen ermöglichte natürlich dem Dramatiker eine Beweglichkeit in der Aenderung von Ort und Gegend, wie sie unser schwerfälliges Theater mit seinen komplizirten Apparaten unmöglich gestatten kann. Und wenn sich der Dichter den Bedingungen der Gegenwart fügt, so glaube ich, daß die wahre Kunst darunter nicht leiden wird; denn der innere Gehalt macht 1740 es, nicht die Aeußerlichkeit. Lebhafter entbrannte in den letzten Jahren der Kampf um die dekorative Ausstattung, entzündet durch die Gastspiele des Meininger Hoftheaters. Doch hat sich bereits heute aus dem Widerstreite der Meinungen das allgemein gültige Prinzip <?page no="58"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 58 emporgerungen. Wir verlangen, daß die szenarische Ausstattung den Kenntnis- 1745 sen des gebildeten Theiles des Publikums nicht widerspricht, noch durch allzugroße Dürftigkeit unser Auge beleidigt. Aber sie soll auch nicht durch allzugroße Fülle und Reichthum die Aufmerksamkeit auf sich ablenken, sondern immer Dienerin sein, der Poesie aber die Herrschaft überlassen. Sie muß daher im besten Sinne des Wortes einfach und wahr sein. Dem Takt des einzelnen Regis- 1750 seurs bleibt es überlassen, den richtigen goldenen Mittelweg einzuschlagen, und ob er es gethan, entscheidet sich von Fall zu Fall. Denn alles kommt auf den Geist der Dichtung an, und dieser verlangt oft mehr, oft weniger dekorativen Glanz; die Stimmung, welche jedem poetischen Werke eigen, sei diese nun düsterer oder heiterer Natur, mehr von sinnlicher oder von geistiger Art, auch in der äußeren 1755 Ausstattung wiederspiegeln lassen, das wird immer das Hauptziel für derartige Bestrebungen sein. Ein Theater, welches in dem Dekorationswesen einen Selbstzweck sieht, nähert sich in bedenklicher Weise der Ausstattungsbühne und es kann das Drama von ihm nur geschädigt werden, auch wenn es seine besten Erzeugnisse zur Inszenirung von Costümen und Coulissen hergeben muß. 1760 Auf den vorhergehenden Blättern habe ich von dem Geiste gesprochen, der die Leiter des zukünftigen Deutschen Landestheaters beseelen muß, wenn dieses den Hoffnungen auf eine wahrhaft große und mächtige, unseres Volkes würdige Nationalbühne entsprechen will. Aber wenn von L’Arronge und seinen Mitarbeitern 1765 auch die herrlichsten Saaten ausgestreut werden, wie können sie aufgehen und Früchte tragen, falls sie ein steiniger Boden empfängt? Zu einem wirklichen Erfolge werden sie es natürlich nur bringen können, sobald ein verständiges großes Publikum ihre Bestrebungen versteht und warmen Herzens Theil an ihnen nimmt. Es ist nun wohl keine Frage, daß in dem letzten Dezennium die dem blo- 1770 ßen Amusement gewidmeten Bühnen sich in pekuniärer Beziehung weit besser standen, als die ernsteren Zielen nachstrebenden. Und es ist auch schon darauf hingewiesen, daß sich das Stammpublikum unserer Theater vor allem aus der Börsenaristokratie zusammensetzt und jenem philiströsen Theil des Volkes, welcher von den Aufführungen nur Zerstreuung nach des Tages Last und Mühen 1775 verlangt, nicht aber Sammlung und freudige Erhebung des Geistes. Diese Massen aber, die geistigen Proletarier, sind allem Großen und Ernsten im Innersten der Seele abgeneigt, und es muß daher die geistige Aristokratie wieder zurückgewonnen werden, das zurückgewonnen, was man unter einem kunstverständigen Parterre versteht. Die Worte Lewes’ über das englische Theater gelten auch von 1780 unseren einheimischen Zuständen: „eine Veränderung des Zustandes der Bühne steht bevor und Anzeichen einer Wiederbelebung der einst so hochstehenden Schauspielkunst sind vorhanden; um diese Wiederbelebung aber zu bewirken, bedarf es nicht nur ausgezeichneter Künstler und eines vom lebhaften Interesse erfüllten, sondern eines höher gebildeten, eines erleuchteteren Publikums.“ Eine solche 1785 Stammzuhörerschaft heranzuziehen, wird eine wichtige Aufgabe bilden, und sie wird nur gelöst, wenn das Deutsche Landestheater unentwegt echter und großer Kunst nachstrebt, dann aber auch für die mittleren Plätze keine allzuhohen, auf die Börsen von Finanzmännern berechneten Preise festsetzt; nicht immer können <?page no="59"?> Julius und Heinrich Hart 59 diese von denen erschwungen werden, welche die geistige Bedeutung unseres 1790 Volkes ausmachen. Gerade in diesen Kreisen bildet die Höhe der Theaterpreise den Gegenstand einer in den meisten Fällen berechtigten Klage. Im Uebrigen scheint, wie schon oben hervorgehoben, ein neuer ernsterer Geist durch die ganze Masse unseres Volkes zu gehen, so daß die neue Bühne auf allgemeinere Sympathie und Zustimmung rechnen darf. Und diesen Geist zu pflegen, dürfen dieje- 1795 nigen nicht unterlassen, welche als die geistigen und künstlerischen Berather unseres Volkes dastehen. Ein Löwenantheil der Aufgabe fällt hier den Berufskritikern zu, derjenigen Macht, welche durch Führung des Publikums einen so entscheidenden Einfluß auf die Ausgestaltung des Theaters ausübt. Nun ist allerdings die Klage über ihren Verfall eine der lautesten, die man in 1800 der Gegenwart erschallen hört. Man behauptet, daß sie mehr Schaden als Nutzen stiftet und daß nur eine gründliche Reform an Haupt und Gliedern hier einigermaßen helfen kann. Einer der wesentlichsten Schäden scheint mir der sie beherrschende journalistische Geist zu sein. Denn das Wesen der Presse trägt die Gefahr bereits in sich! Ihre Vorzüge bedingen ihre Mängel! Unsere Zeitungsliteratur 1805 zieht alles, was da lebt und sich bewegt, was kreucht und fleucht, in ihre Wirbel hinein, und das Publikum verlangt, daß sie alles umfaßt, was den Einzelnen interessirt, Politik und Literatur, Kunst und Wissenschaft, Theologie und Handel, Stadtklatsch und Hofnachrichten. So allumfassend sie dadurch wirken kann, so reich sie an fruchtbaren Anregungen sein mag, so muß sie doch auf der anderen 1810 Seite an Tiefe und Gehalt verlieren, und die Oberflächlichkeit als letzte Gewalt erzeugen. Auch von dem kleinsten Provinzial- und Stadtblättchen verlangt der Leser einen kritischen Bericht über die am Tage vorher geschaute Theatervorstellung. Redaktion und Verleger beugen sich diesem allmächtigen Verlangen und 1815 [p]räsentiren dem hochverehrten Publikum zum Morgenkaffee einige mehr oder weniger lobende oder tadelnde Zeilen, deren größter Werth darin besteht, daß sie einen Raum ausfüllen. In zahlreichen, vielleicht in den meisten Fällen bringt der Redakteur eines Provinzialblattes der Bühne überhaupt gar kein persönliches Interesse entgegen! Sein Sinn ist vielleicht auf die hohe Politik, auf die National- 1820 ökonomie oder sonst einen anderen Gegenstand gerichtet, und doch beugt er sich dem Zwange und schreibt über Dinge, von denen er nicht das geringste oder doch nur das oberflächlichste Verständniß hat. Wie Wenige aber nehmen an diesem Leichtsinne einen Anstoß! Ein thörichtes, flüchtig hingesudeltes Machwerk, aus Phrasen, stereotypen Redensarten, halbwahren und schiefen Urtheilen zu- 1825 sammengesetzt, für jeden Erfahrenen den Stempel der Unkenntniß an sich tragend, ist seine Folge! Das Theater aber, Dichter und Schauspieler werden mit gebundenen Händen einem Kunstbarbaren ausgeliefert, den sie vielleicht aus Furcht vor der Macht der Zeitung nicht einmal in seiner ganzen Blöße enthüllen können. Nur in seltenen Fällen findet man in der Provinzialpresse jene warme 1830 begeisterte Theilnahme für die Kunst, die auch in bescheidenen Verhältnissen mit Ernst und Eifer für ihre wahren Interessen eintritt, sich ihrer schwierigen Aufgabe bewußt ist und liebevoll über alle Fragen und Forderungen der Bühne Rechenschaft giebt. Was bedeutet aber solch eine Einzelerscheinung in dem Wust der <?page no="60"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 60 großen Menge; fingerfertige Reporter, halbgebildete Leitartikelschreiber, Stuben- 1835 gelehrte, welche die Bühne nur von dem Studirzimmer und aus den Büchern kennen gelernt haben, Gymnasiasten sogar schwingen das Szepter der Kritik; wie kann sie in solchen Händen Gedeihliches leisten, wie kann sie auf Werthschätzung Anspruch erheben, wenn man in seiner Gleichgültigkeit gegen das Theater sie den Unfähigsten anvertraut. Man hütet sich, seine Stiefeln [sic! ] dem Schnei- 1840 der zur Versohlung zu übergeben, aber den Schutz unseres Geschmacks, die Bildung unseres Geistes und Herzens trägt man nicht Scheu, den Ungeeignetsten anzuvertrauen. Ja, man muß sich schon freuen, wenn all diese Herren Recensenten noch so viel inneren Stolz und Charakterfestigkeit besitzen, daß sie ihr Urtheil wenigstens nicht von der Bezahlung, so oder so, abhängig machen. 1845 Leider findet man Spuren von dieser Proletarierjournalistik selbst in gewissen Theilen der hauptstädtischen Presse, in großen angesehenen Blättern, die an der Spitze von Tausenden von Abonnenten marschiren. Auch hier entdeckt man oft genug sonderbare Blüthen ästhetischer und literarischer Kenntnisse, Ansichten, ebenso originell als komisch; schon früher habe ich Gelegenheit gefunden, aus 1850 den Schriften Paul Lindau’s einige derartige Perlen herauszufischen und ich kann es mir auch heute nicht versagen, im Vorübergehen der Weisheit eines anderen bekannten Zunftgenossen auf den Zahn zu fühlen. Oskar Blumenthal war’s, der in den geschätzten Spalten des Berliner Tageblattes bei der Gelegenheit der Wiener Aufführung von Zola’s „L’Assommoir“ die vollständige Werthlosigkeit dieses 1855 Opus zu charakterisiren suchte durch die Thatsache, daß während derselben eine Dame in einer der Logen in Herzkrämpfe verfiel! Er hatte u.a. auch den Geschmack, die Sanitätspolizei gegen diese dramatische Kunst aufzurufen, da er überhaupt gern die Polizei anruft und schriftstellerische Kollegen, - ich erinnere an Gensichen, Amyntor, - wenn auch verblümt, dem Staatsanwalt zu denunziren 1860 liebt. Ein trauriges Handwerk, welches ihn mit dem Ankläger der Spielhagen’schen „Angela“ auf eine Stufe setzt! Wohin würde es mit unserer Kunst kommen, wenn solche Engherzigkeit, solche trostlose Nüchternheit überall Platz griffe? Also ein Drama ist schlecht, weil es furchtbare Erschütterungen hervorbringt, weil es eine schwachnervige Dame in Krämpfe und Ohnmachten wirft! 1865 Möge man mir verzeihen, aber ich habe stets geglaubt, daß Shakespeare’s „Othello“ und Schiller’s „Räuber“ ganz anerkennenswerthe Dichtungen sind und wenn ich mich in der Theatergeschichte recht erinnere, so wurden bei der ersten Hamburger Aufführung des „Othello“, unter Schroeder’s Direktion, nicht eine, sondern viele viele Damen ohnmächtig hinausgeführt, und die hundert Jahre, die 1870 seitdem verflossen, haben uns noch immer nicht die furchtbaren Wirkungen der ersten Darstellungen von Schiller’s „Räubern“ vergessen lassen. Ich gebe Herrn Blumenthal den Rath, sich bei der kritischen Begründung seiner Urtheile nächstens doch genauer vorzusehen. Und wahrlich, jeder, der dem Theater näher steht, wird solch ein Beispiel durch hunderte zu ergänzen wissen und erkannt haben, 1875 daß selbst manche unserer tonangebenden Recensenten die seltsamsten Ansichten von der Bühne haben, daß oft von ihr Meinungen verfochten werden, die weder ein inneres Verständniß, noch ein Studium der Aesthetik und Dramaturgie verrathen. <?page no="61"?> Julius und Heinrich Hart 61 Es ist hier nicht der Ort, all die einzelnen Schäden unserer Tageskritik offen zu 1880 legen und durch einzelne Beispiele zu erhärten. Sie sind ja auch oft genug hervorgehoben. So die subjektive Willkür, welche alles im Urtheil sucht, nichts in der Begründung, die Selbstherrlichkeit der Recensenten, die sich vor allem in glänzendes Licht zu stellen sucht und das Kunstwerk nur als die Gliederpuppe ansieht, um welche es den schillernden Mantel ihres Geistes und Witzes hängt. Ja, 1885 wenn selbst ein Kritiker alles für seinen Beruf mitbringt, Liebe und Begeisterung für das Theater, umfassende Kenntniß aller dahin gehörigen Disziplinen, angeborne Urtheilskraft, so wird er doch immer nur im Dienste der Tagesjournalistik einzelne fruchtbare Anregungen und in seinen Recensionen nur fragmentarische Stücke geben müssen. Es ist eben unmöglich, in drei, vier oder fünf Feuilleton- 1890 spalten den ungemein reichen Stoff zu erschöpfen, den die Darstellung einer neuen Dichtung darbietet, nicht nur diese in allen ihren Einzelheiten zu zergliedern, sondern auch die schauspielerischen Leistungen gebührend zu würdigen. Denn mit einem beweislosen Tadel kann man nichts als verstimmen und ernüchtern, mit einem beweislosen Lob nur die Selbstüberschätzung großziehen; 1895 lehren, ermahnen und bessern vermag man auf diese Weise nicht. Unsere Künstler haben in den meisten Fällen Nichts von den zwei, drei Zeilen, die man ihnen auch in unseren ersten Blättern nach der Darstellung einer neuen Rolle widmet, und man sollte sich daher nicht wundern über die Geringschätzung, die sie im Allgemeinen jeder Kritik entgegenbringen! Man behandelt sie nur mit Zu- 1900 ckerbrod oder Peitsche, hält es aber für überflüssig, ihnen auf ihre Gedankenwege nachzufolgen, sie zu verstehen und zu erkennen und die so gewonnene Meinung unparteiisch mit der eigenen zu vergleichen. Eine Kritik unserer Kritik ist leider zur Nothwendigkeit geworden. Die Unfähigkeit und Dummheit, den Unverstand und den Leichtsinn sollte man verfolgen 1905 bis in alle Kreise hinein, unbarmherzig an die Oeffentlichkeit ziehen und dem Gelächter oder der Verachtung preisgeben. Es gilt aber auch ein Organ zu schaffen, welches sich nicht an der meist aphoristischen Dramaturgie der vornehmen Tagespresse genügen läßt, sondern in tief eindringender Weise, ausführlich alle bei einer Bühnendarstellung in Betracht kommenden Momente berücksichtigt. 1910 Wir müssen ein Blatt haben, das die dramatische Dichtung der Gegenwart so liebevoll und eingehend recensirt, wie Lessing die Poesie seiner Zeit in der „Hamburgischen Dramaturgie“ besprach; doch auch die Schauspielkunst bedarf nicht minder der sorgsamsten Studien, und erst dann werden wir wiederum eine Kritik besitzen, welche durch ihre innere Tiefe unendlich viel vermag, und die 1915 schädlichen Einflüsse der Ueberproduktion, wie sie auf diesem Gebiete zur Zeit herrscht, einigermaßen mildert. Daß uns eine solche Zeitschrift mangelt, ist keine Frage; literarische Blätter, wie Mag. f. d. Liter. d. Inu. Auslandes, Bl. f. liter. Unterh. u.a. stehen dem Theater völlig fremd gegenüber, das Organ der „Bühnengenossenschaft“, sowie die Agenturblätter sind literarisch fast ganz belanglose trockene 1920 Geschäftsblätter, und auch die von dem Verein dramatischer Autoren und Componisten herausgegebene Neue Zeit sucht ihre Stärke in statistischen Zusammenstellungen und sieht von der Kritik fast gänzlich ab. Freilich haben die in den letzten Jahren hier und da aufgetauchten dramaturgischen Blätter weder einen <?page no="62"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 62 inneren geistigen, weitwirkenden, noch den äußeren Gelderfolg gehabt. Es scheint 1925 dies aber vor allem an ihnen selbst gelegen zu haben. Ihr Haupttheil bestand in Theatercorrespondenzen aus zahlreichen Hauptorten Deutschlands und Oesterreichs, kritischen Besprechungen der jeweiligen Aufführung; der sehr beschränkte Raum brachte es daher mit sich, daß diese Kritiken noch viel unvollständiger waren, als in den Tagesblättern, daß die meisten Dramen in 7-50 Zeilen abgemacht wurden; 1930 eine nur einigermaßen erschöpfende Besprechung eines so außerordentlich komplizirten Dinges, wie es eine Bühnenvorstellung repräsentirt, war daher selbstverständlich von vornherein ausgeschlossen. Ein vielleicht noch bedenklicherer Umstand kam hinzu. In einem wirklich lebendigen Zusammenhang mit dem Theater standen sie nicht. Die Recensionen gingen zum größten Theile von einem 1935 kleinen Kreise geistreicher Kritiker und Schriftsteller aus, die jedoch in der Maschinerie unserer Bühne selber nicht thätig waren, so daß in Folge dessen die Theaterdirektionen selber ihnen kaum Aufmerksamkeit zuwendeten. Es waren mehr literarische als theatralische Blätter. Bei den Uebelständen läßt sich jedoch abhelfen! Eine theatralische Zeitung, welche unter den jetzigen Umständen sowohl 1940 geistige, wie materielle Früchte tragen will, muß sich anlehnen an eine Weltstadt (Berlin oder Wien), welche durch ein reiches Bühnenleben ausgezeichnet ist, und wo sie sich an die direkten Bedürfnisse einer sehr zahlreichen Bevölkerung wenden kann. Sie muß also gewissermaßen ein lokales Interesse zum Fundament ihrer Existenz haben, und einer ihrer wichtigsten Bestandtheile bildet daher die einge- 1945 hendste und ausführlichste Kritik der theatralischen Darstellungen in dieser Stadt. Da sich in jeder dieser beiden Centren das theatralische Leben einer jeden Saison vollkommen wiederspiegelt, alle bemerkenswertheren Novitäten zur Aufführung kommen und zahlreiche Gastspiele auch die Bekanntschaft mit den auswärtigen ersten Vertretern der Schauspielkunst vermitteln, so ergiebt sich aus 1950 diesen Berichten ein Gesammtbild alles dessen, was unser Theater im Laufe eines bestimmten Zeitraums leisten konnte. Das Fragmentarische der übrigen Recensionen wird vermieden, da das Blatt zur ausführlichen, eingehenden Kritik, als deren Muster die Lessing’sche Dramaturgie gelten muß, ausreichenden Stoff bietet, und die dichterischen wie schauspielerischen Kunstleistungen in gleich 1955 eindringlicher Weise besprochen werden können. Eine Kritik der dramatischen, dramaturgischen und theatralischen Literatur wird sich an jene Rubrik anschließen und zwar werden alle Dramen, welche im Druck oder auch im Manuskript einlaufen, von berufenen Kritikern, Dramaturgen u.s.w., die in direkter Verbindung mit der Bühne stehen, geprüft. Sie werden vor allem auf ihren Werth für 1960 das Theater, auf ihre Bühnenaufführbarkeit hin untersucht, und praktische Rathschläge werden ertheilt, wo Aenderungen vorzunehmen sind; die Direktoren erhalten durch eine ausführliche Analyse Kenntniß von dem, was sich eventuell für eine Darstellung an ihrer Bühne eignet. So bildet dieser Theil gewissermaßen ein aus den besten Dramaturgen zusammengesetztes Lesecomité für alle deut- 1965 schen Theater, welches durch die öffentliche Begründung seiner Vota eine besondere Bedeutung hat. Die Direktionen, wie die ausübenden Schriftsteller, besonders die aufstrebenden Talente erhalten auf diese Weise Unterstützung und Förderung auf ihren beiderseitigen schwierigen Wegen, und dem Uebelstande, <?page no="63"?> Julius und Heinrich Hart 63 daß so viele eingesandte Dramen wegen Ueberbürdung der einzelnen Theaterbu- 1970 reaux ungelesen zurückwandern, wird einigermaßen ein Paroli gebogen... Dramaturgische und theaterhistorische Essays, eingehende Biographieen und Charakteristiken hervorragender Intendanten, Direktoren, darstellender Künstler und Künstlerinnen, Dramatiker, Dramaturgen u.s.w. schließen sich dem kritischen Theile an, sowie eine umfassende, sorgsam redigirte Chronik, welche kürzere 1975 Correspondenzen, wichtige Nachrichten über Neuaufführungen u.s.w. u.s.w., kleine Plaudereien und Notizen aus dem Leben hinter den Coulissen enthält, einen Antikritiker, der die so zahlreichen Thorheiten und Gebrechen der Kritik geißelt und ihren schlechten Vertretern auf die Finger sieht, einen Offenen Sprechsaal sowie einen Briefkasten, der alle eingehenden dramaturgischen und 1980 theatralischen Fragen u.s.w. u.s.w. beantwortet. Ob nun eine derartige Zeitschrift mit dem Theater L’Arronge’s in nähere Verbindung zu bringen wäre oder nicht, jedenfalls müßte sie demselben vollkommen unabhängig gegenüberstehen. Dann könnte das Ideal sich verwirklichen, daß der Geist, die Bestrebungen, die Gesinnungen der Geber (Theater, repräsentirt durch 1985 Direktor, Dichter und Schauspieler), die Empfänger (Zeitschrift, repräsentirt durch Redaktion, Mitarbeiter und Leser) aufs lebendigste beeinflußen, zu sich heranzögen, sie bildeten und ebenso von den letzteren gebildet, angespornt und belebt würden. Ein Wettkampf edelster Art mit gleichem Ziel. 1990 Als erfreuliches Zeichen für die Zukunft des Deutschen Landestheaters muß es gelten, daß es nicht eine Schöpfung der Willkür, der Spekulation bildet, sondern die Verwirklichung langgehegter Wünsche, langgehegter Sehnsucht. Ein Zeugniß hierfür mag nicht verschwiegen werden! Schon 1879 wurden in den von den Verfassern der Waffengänge begründeten Deutschen Monatsblättern folgende drei Fra- 1995 gen aufgeworfen und den Mitarbeitern zur Beantwortung vorgelegt: „Ist bei den gegenwärtigen Theaterverhältnissen die Möglichkeit und die Berechtigung der Existenz einer deutschen Nationalbühne (etwa nach dem Muster des Théâtre français zu Paris) vorhanden? “ - Wenn dies der Fall: „Von welcher Seite muß die Initiative zur Gründung dieser National-Bühne ausgehen? “ - „Welche literari- 2000 schen und künstlerischen Prinzipien sind bei dieser Gründung in Betracht zu ziehen, nach welchen Prinzipien muß die zu schaffende Bühne geleitet werden? “ Rascher, als man zu jener Zeit hoffen konnte, haben wir auf die zwei ersten dieser Fragen eine Antwort bekommen; nicht von gütigen Mäcenaten, nicht aus den bureaukratischen Kreisen der Hoftheater, in denen die reine Kunst von den 2005 Launen und Liebhabereien eines einzelnen Fürsten abhängt und wo sie den Mund so manchem verschließen muß, was in ihrem Herzen am lautesten redet, sondern aus den Händen edler begeisterter Künstler selbst mußte diese große Schöpfung uns bescheert werden. So allein können wir die feste Zuversicht hegen, daß in den Räumen der neuen Kunstanstalt keine anderen Rücksichten gel- 2010 ten, als die der reinen Kunst und daß ihre Gesetze den Mitgliedern als einziges Licht voranleuchten. Wie diese aber lauten, - die Beantwortung der dritten Frage haben wir auf den vorliegenden Blättern zu geben versucht! Wir begrüßen das deutsche Landestheater als die edelste Kunstanstalt, welche das deutsche Volk in <?page no="64"?> Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 64 nächster Zukunft haben wird, in der es den höchsten und schönsten Ausdruck 2015 seines Kulturlebens finden soll, - wir hoffen aber auch, daß unsere Nation sich dieser Kunstanstalt würdig machen, und sie für alle Zeit erhalten wird. Geht sie an der Ungunst der Zeiten und der Erbärmlichkeit des Publikums zu Grunde, wird man einst ähnliche bittere Worte niederschreiben müssen, wie sie Lessing der ersten Nationalbühne nachrief, - nun, dann können wir nur mit trübem Blick 2020 in die Zukunft unseres Vaterlandes hinausschauen, denn auf dem Geiste beruht die Macht der modernen Welt, nicht auf der rohen Kraft der Waffen. Das Bessere jedoch erhoffen, nach ihm ringen wollen und dürfen wir! Selbst ein so nüchterner Theaterpraktiker wie Dingelstedt hat es ja ausgesprochen, daß wir uns mitten in einer Krisis befinden, welche den Marasmus der Gegenwart 2025 entweder zur Vernichtung steigern oder ihn besiegen werde. Diese Krisis kann, so meint er, bei glücklichem Auslauf, „wenn die neue Zeit neue Talente erweckt, und wenn man an die Einigungs- und Reinigungs-Bestrebungen im politischen Leben das Bühnenleben anzuknüpfen versteht, in den Neubau des Deutschen Reiches den Neubau eines Deutschen Nationaltheaters, vom Hofe emancipirt und unter den 2030 Schutz des Staates gestellt, hineinkonstruiren“. Wärest Du einmal ein Prophet gewesen! <?page no="65"?> 1. Julius und Heinrich Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) Kommentar 39 Paul Lindau (1839-1919), Theaterleiter, Schriftsteller, Journalist; 1895-1899 Leitung des Meininger Hoftheaters; 1900-1903 Leitung des Berliner Theaters; 1904/ 05 Leitung des Deutschen Theaters (Berlin); bekannteste Werke: „Ein Erfolg“ (UA 1874) sowie die Romane „Der Zug nach Westen“ (1886), „Die blaue Laterne“ (1908); Übersetzertätigkeit von französischen Stücke u.a. von Augier, Dumas fils oder Sardou. 70 Karl Leberecht Immermann (1796-1840), Schriftsteller, Dramatiker, Theaterleiter; 1835-1838 Leitung einer Musterbühne in Düsseldorf; dort Versuch der Einführung des Prinzips des Ensemblespiels sowie der Umsetzung des Ideals eines literarischen Theaters nach Weimarer Vorbild; Werke: „Kaiser Friedrich II“ (1828), „Merlin“ (1831). 131 Junges Deutschland, durch den Schriftsteller Christian Ludolf Wienbarg (1802-1872) geprägter Begriff für eine literarische Bewegung von jungen Dichtern ab ca. 1830; ihre Literatur war besonders gekennzeichnet durch die liberale, sich gegen die reaktionäre Politik Metternichs (1773-1859) richtende Einstellung der Autoren; 1835 Verbot der Schriften durch Beschluss des Deutschen Bundestags; Vertreter: u.a. Heinrich Heine (1797-1856), Karl Gutzkow (1811-1878), Heinrich Laube (1806-1884). 133 Karl Gutzkow (1811-1878), Schriftsteller, Dramatiker, Journalist; Vertreter des Jungen Deutschland; journalistische Tätigkeit bei unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften; 1847-1850 Dramaturg am Hoftheater Dresden; Werke: „Zopf und Schwert“ (1844), „Uriel Acosta“ (1846). 134 Heinrich Laube (1806-1884), Kritiker, Theaterleiter, Dramatiker, Journalist; Vertreter des Jungen Deutschland; 1848 Mitglied des Frankfurter Parlaments; 1850-1867 Leitung des Burgtheaters Wien; 1871-1873 und 1876-1879 Leiter des von ihm gegründeten Wiener Stadttheaters; Werke: „Die Bernsteinhexe“ (1846), „Böse Zungen“ (1868). 170 Julius Rosen (1833-1892), Dramaturg, Schriftsteller, Dramatiker; 1874-1875 Dramaturg am Carltheater in Wien; 1880-1889 Tätigkeit am Theater an der Wien; Verfasser hauptsächlich von Lustspielen und Schwänken. 193 eines Mannes (= Adolph L’Arronge) (eigentlich Adolf Aaronsohn) (1838- 1908); Dramatiker; Theaterleiter; begann seine Karriere als Kapellmeister u.a. an der Krolloper Berlin; 1874-1878 Leitung des Lobe-Theaters in Breslau; kaufte 1881 das das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater in Berlin, das 1883 zum Deutschen Theater wurde; 1883-1894 Leitung desselben; dort vor allem Erfolge mit Klassikerinszenierungen, bspw. Schillers „Kabale und Liebe“; verpachtete das Deutsche Theater von 1894 bis 1904 an Otto Brahm; 1905 Verkauf der Bühne an Max Reinhardt; ; Verfasser erfolgreicher Lustspiele, bspw. „Mein Leopold“ (1873), „Doktor Klaus“ (1878). 198 Théâtre Français (Paris), 1680 Gründung durch Ludwig XIV (1638-1715) in Paris; französische Nationalbühne; ältestes Staatstheater überhaupt; ab 1812 <?page no="66"?> 1. Hart/ Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 66 Organisation als Schauspielersozietät mit 30 Schauspielern als ständigen, sowie zusätzlichen provisorischen Teilhabern; das Repertoire umfasste vor allem klassische französische Tragödien und Komödien. 200 Comédie Française (Paris), vgl. 198 Théâtre Français. 212/ 13 erstes deutsches Nationaltheater (= Hamburgisches Nationaltheater), auch bekannt geworden als Hamburger Nationaltheater oder Hamburgische Entreprise; 1767 Versuch eines Konsortiums von zwölf Kaufmännern in Hamburg ein bürgerliches Nationaltheater zu errichten; Leitung durch Johann Friedrich Löwen (1727-1771); Beschäftigung von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) als Dramaturg; das Ensemble bestand aus Schauspielern der Ackermann’schen Gesellschaft; sollte Modellcharakter für nachkommende Nationaltheater-Unternehmungen haben; 1769 Scheitern des Unternehmens u.a. aufgrund von ökonomischen Schwierigkeiten. 242 Friedrich August Gottreu Tholuck (1799-1877), Professor für Theologe an der Universität Halle; wurde bekannt durch seine elaborierte Rhetorik. 255 Philipp Jacob Spener (1635-1705), lutherischer Theologe; gilt als einer der bekanntesten Vertreter des Pietismus; äußerte immer wieder seine Theaterfeindlichkeit, u.a. 1703 durch eine von ihm verfasste Bittschrift an das Berliner Rathaus, durch die er das Verbot eines Gastspiels der Truppe um den Theaterprinzipal Sebastian de Scio (um 1700) in Berlin erwirken wollte. 255 Anton Reiser (1628-1686), lutherischer Theologe; 1681 Veröffentlichung der theaterfeindlichen Schrift „Theatromania oder Die Wercke der Finsterniß in denen öffentlichen Schauspielen von den alten Kirchen-Vätern verdammet“. 303/ 04 Oskar von Redwitz (1823-1891), Schriftsteller, Dramatiker; verfasste einige, heute unbekannte (historische) Trauerspiele. 307 Heinrich Dorn (1804-1892), Komponist, Dirigent; unterschiedliche Tätigkeiten als Kapellmeister, u.a. in Königsberg, Leipzig, Hamburg; 1849-1869 Kapellmeister an der Hofoper in Berlin; Gegner Richard Wagners (1823-1883). 352 Christian Felix Weiße (1726-1804), Philosoph, Schriftsteller, Dramatiker; Vertretern der Aufklärung; Begründer der deutschen Kinder- und Jugendliteratur; Werke: „Die Befreyung von Theben“ (1764), „Die Freundschaft auf der Probe“ (1768). 359 „Haec fabula docet? ! “, übersetzt: „Das lehrt die Fabel“; sprichwörtlich für „Das ist die Moral von der Geschichte“. 360/ 61 Webers Weltgeschichte, gemeint ist die „Allgemeine Weltgeschichte“ des Historikers Georg Weber (1808-1888); erschienen in Leipzig 1857-80. 365/ 66 „Gräfin Lea“ (1880), Schauspiel von Paul Lindau (1839-1919). 375 Rudolf Genée (1824-1914), Journalist, Schriftsteller, Dramatiker, Theaterhistoriker; Werke: „Das deutsche Theater und die Reformfrage“ (1878), „Hundert Jahre des Königlichen Schauspiels in Berlin“ (1886). 397/ 98 Gustav von Moser (1825-1903), Offizier, Dramatiker; einer der erfolgreichsten Lustspielautoren seiner Zeit; Begründer der seinerzeit sehr beliebten Gattung des Militärschwanks; verfasste rund 70 Komödien, oftmals in Kooperation mit anderen Autoren, u.a. mit David Kalisch (1820-1872), Adolph L’Arronge oder Franz von Schönthan (1838-1908); Werke: „Das Stiftungsfest“ (1872), „Krieg im Frieden“ (1881). <?page no="67"?> Kommentar 67 413 Eduard Devrient (1801-1877), Schauspieler, Schriftsteller, Theaterleiter, Theaterhistoriker; 1852-1870 Leitung der Hofbühne in Karlsruhe; hier verfolgte er ein Reformprogramm, das die Neuerungen der Meininger teilweise vorwegnahm; Werke: „Geschichte der deutschen Schauspielkunst“ (1846-1874), „Das Nationaltheater des neuen Deutschland“ (1849). 414 Carton, wahrscheinlich gemeint Cartoon (nach dem frz. Carton = Pappe), komische und satirische Graphiken in einem Bild, die zuerst in der englischen Satirezeitschrift Punch (Gründung 1841) abgedruckt und durch diese etabliert wurden. 452 Hans von Bülow (1830-1894), Dirigent, Kapellmeister, Klaviervirtuose. 478 Johann(es) Velt(h)en (1640-1692), Schauspieler, Theaterprinzipal; 1679 Erhalt des kursächsischen Privilegs und Gründung der Truppe Kursächsische Komoedianten; einer der bekanntesten Schauspieler seiner Zeit. 552 Viktoriatheater (Berlin), 1859 Gründung; 1860-1871 Leitung durch Carl Rudolf Cerf (1811-1871); 1871-1881 Leitung durch Emil Hahn (1832-1897); zu dieser Zeit Spezialisierung auf Feerien und aufwändige Ausstattungsstücke; 1876 erste Gesamtaufführung von Goethes „Faust“; 1881 erste zyklische Aufführung von Wagners „Ring des Nibelungen“ in Berlin; 1882-1889 Leitung durch Gustav Scherenberg (1832-1906); danach Leitung durch Emil Litaschy (genannt 1892); 1891 Abriss des Theaters. 552/ 53 Zirkus Renz (Berlin), 1842 Gründung durch Ernst Jakob Renz (1815-1892) in Berlin als Circus Olympic; neben dem Berliner Stammhaus feste Bauten in Hamburg, Bremen, Breslau und Wien; 1897 Aufgabe des Unternehmens durch Franz Renz (1850-1901); 1899 Übernahme des Standorts durch Albert Schumann (1858-1939); 1899-1918 Weiterführung als Zirkus Schumann; ab 1918 Umbau unter Max Reinhardt (1873-1943) in das Große Schauspielhaus. 557/ 58 Michael Beer (1800-1833), Schriftsteller, Dramatiker; stand in regem Briefkontakt mit Karl Leberecht Immermann (1776-1840); Bruder des Komponisten Giacomo Meyerbeer (1791-1864); Werke: „Die Paria“ (1826), „Struensee“ (1829) (Musik von Giacomo Meyerbeer). 561 „Clemenee Isaure“ (UA 1837), dramatisches Gedicht von Anton Pannasch (1789-1855). 561/ 62 Théâtre des nouveautés (Paris), 1827 Gründung des Theaters in Paris; Repertoire bestand vor allem aus satirisch-politischen Stücken; 1832 Schließung der Bühne. 563 „Paul Morin“ (1829), Schauspiel von Marie Aycard und Etienne Arago (1802-1892). Théâtre de l’Ambigu omique (Paris), 1769 Eröffnung des Theaters in Berlin; 1827 Brand des Theaters; 1832 Wiederaufbau an anderer Stelle; auf dem Programm standen vor allem Melodramen und Vaudevilles. 707 Kulturkampfdramen, Dramen, die den „Kulturkampf“, die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. (1792-1878) und dem Deutschen Reich unter Reichskanzler Otto von Bismarck (1815- 1898) zwischen 1871 und 1878/ 1887, thematisierten. Beispiel: „Der Graf von Hammerstein“ (1872) von Adolf von Wilbrandt (1837-1911). 741 Otto Ludwig (1813-1865), Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Der Erbförster“ (1853), „Die Makkabäer“ (1854). <?page no="68"?> 1. Hart/ Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 68 743 „Kaiser Friedrich II“ (UA 1828), Schauspiel von Karl Leberecht Immermann (1776-1840). 747/ 48 Roderich Benedix (1811-1873), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; erfolgreicher Dramatiker im 19. Jahrhundert; Verfasser vor allem von Lustspielen; Werke: „Der Liebesbrief“ (1851), „Die zärtlichen Verwandten“. 823 dii minorum gentium, Götter der zweiten Ordnung in der römischen Mythologie. 940 Eduard Jacobson (1833-1897), Schriftsteller; erfolgreicher Dramatiker im 19. Jahrhundert; Verfasser v.a. von Possen und Schwänken; Werke: „Der jüngste Leutnant“ (1883), „Der Mann im Monde“ (1892). 941 Heinrich Wilken (1835-1886), Schriftsteller, Dramatiker, Theaterdirektor; 1882-1883 Leitung des Central-Theaters in Berlin; verfasste vor allem Possen, oftmals auch in Kooperation mit anderen Autoren; Werke: „Auf eigenen Füßen“ (1869), „Die Kläffer“ (mit Adolph L’Arronge). 953 Franz von Schönthan (1838-1908), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Dessau, Wesel; ab 1878 Engagement am Residenztheater Berlin, ab 1879 Schauspieler und Bühnenautor am Wallnertheater in Berlin; häufige Zusammenarbeit mit Gustav Kadelburg (1851-1925) und Gustav von Moser (1825-1903); ab 1884 freier Schriftsteller; Werke: „Der Zugvogel“ (1880, gemeinsam mit G.v. Moser); „Der Raub der Sabinerinnen“ (1884); „Der Herr Senator“ (gemeinsam mit G. Kadelburg). 966/ 67 Thalia Theater (Hamburg), 1843 Eröffnung unter der Leitung von Charles Maurice Schwartzenberger; 1894 Kauf des Theaters durch Bernhard Pollini (1838-1897); 1905-1915 Leitung durch Leopold Jeßner (1878-1945). 972 Burgtheater (Wien), 1748 Eröffnung des Theaters; 1814-1832 Leitung durch Joseph Schreyvogel; 1849-1867 Leitung durch Heinrich Laube; 1870-1881 Leitung durch Franz von Dingelstedt; 1881-1887 Leitung durch Adolf von Wilbrandt; 1887-1888 Leitung durch Adolf von Sonnenthal; 1888 Neubau nach Plänen von Gottfried Semper (1803-1879) und Karl von Hasenauer (1833-1894); 1888-1889 Leitung durch August Förster; 1889-1890 erneute Leitung durch Adolf von Sonnenthal; 1890-1898 Leitung durch Max Burckhard; 1898-1910 Leitung durch Paul Schlenther; 1910-1912 Leitung durch Alfred von Berger; 1912-1917 Leitung durch Hugo Thimig; österreichisches Nationaltheater. 973/ 74 Misera contribuens plebs, übersetzt: das arme steuerzahlende Volk; Zitat aus dem „Decretum tripartitum“ des ungarischen Juristen Verböczi (1514). 980 Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816), Schauspieler, Theaterleiter; 1764- 1768 Mitglied der Kurz’schen Truppe in Frankfurt / M.; 1771 Übernahme der Ackermann’schen Truppe in Hamburg gemeinsam mit seiner Mutter Sophie Charlotte Schröder (1781-1868); 1871-1785 Tätigkeit am Wiener Burgtheater; 1786-1798 erneute Theaterleitung in Hamburg; Etablierung der von Christoph Martin Wieland (1733-1813) übersetzten Tragödien Shakespeares auf der deutschen Bühne; berühmt geworden durch seine Shakespeare-Interpretationen, u.a. Falstaff, Lear, Hamlet. 980/ 81 Ackermann’sche Gesellschaft, 1751 Gründung durch Konrad Ernst Ackermann (1712-1771); 1771 Übernahme der Truppe durch Friedrich Schröder <?page no="69"?> Kommentar 69 (1744-1816) und Sophie Schröder (1781-1868); 1767 stellten die Gesellschaft der Hamburgischen Entreprise; gilt als eine der besten Theatertruppen des 18. Jahrhunderts. 1036 Hans Herrig (1845-1892), Journalist, Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Alexander der Große“ (1879), „Martin Luther“ (1883). 1048/ 49 Christiania, 1624-1876 Name für Oslo; ab 1876 Kristiania; ab 1925 Oslo. 1053 Ludwig Anzengruber (1839-1889), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; erfolgreicher Dramatiker im 19. Jahrhundert; verfasste vor allem in Dialekt geschriebene Volksstücke; Werke: „Der Pfarrer von Kirchfeld“ (1870), „Der Meineidbauer“ (1871), „Das vierte Gebot“ (1874). 1060 Adolf von Wilbrandt (1837-1911), Journalist, Dramatiker, Theaterleiter; 1881-1888 Leitung des Wiener Burgtheaters; erfolgreicher Dramatiker im 19. Jahrhundert; Werke: „Der Graf von Hammerstein“ (1870), „Die Maler“ (1872), „Arria und Messalina“ (1874), „Der Meister von Palmyra“ (1889). 1063 „Arria und Messalina“ (1874), Schauspiel von Adolf von Wilbrandt. 1066 „Die Maler“ (1872), Schauspiel von Adolf von Wilbrandt. 1072/ 73 „Natalie“ (1878), Schauspiel von Adolf von Wilbrandt. 1073 „Die Tochter des Fabricius“ (1883), Schauspiel von Adolf von Wilbrandt. 1096 Ernst von Wildenbruch (1845-1909), Schriftsteller, Dramatiker; verfasste vor allem Dramen mit starkem nationalen Pathos; Werke: „Sedan“ (1875), „Die Karolinger“ (1881), „Die Quitzow´s“ (1888). 1121 Arthur Fitger (1840-1909), Maler, Schriftsteller, Dramatiker; durch Adolf von Wilbrandt (1837-1911) gefördert; Werke: „Die Hexe“ (1875); „Die Rosen von Tyburn“ (1888). 1122 „Die Hexe“ (UA 1878), Schauspiel von Arthur Fitger. 1124 „Die Karolinger“ (UA 1881), Schauspiel von Ernst von Wildenbruch. 1128 Adolph Ernst (1846-1927), Schauspieler; Theaterleiter; ab 1879 Leitung des Luisenstädtischen Theater in Berlin; 1888 Kauf des Hauses und Umbenennung in Adolf-Ernst-Theater; Leitung der Bühne bis 1896. 1129 „Jungbrunnen“ (1882), Lustspiel von Paul Lindau. 1321/ 22 Rudolf Gottschall (1823-1909), Kritiker, Schriftsteller, Dramaturg; 1847 Dramaturg in Königsberg; Kritiker des Leipziger Tageblattes; Werke: „Lambertine von Méricourt“ (1850), „Pitt und Fox“ (1854). 1439 Chlamys, kurzer Reit- und Reisemantel, der in der griechischen Antike getragen wurde. 1473/ 74 Münchener Monstre- und Mustervorstellungen, 1880 durchgeführte Fortsetzung des von Franz von Dingelstedt (1814-1881) im Jahr 1854 am Münchner Hoftheater organisierten und künstlerisch geleiteten Gesamtgastspiels bedeutender Schauspielerinnen und Schauspieler unterschiedlicher deutscher Bühnen, die in den Aufführungen trotz ihres Virtuosenstatus das Prinzip des Ensemblespiels pflegen sollten; Darbietung ausschließlich von klassischen Dramen; 1880 Leitung durch Ernst Possart (1841-1821); nach den gleichen Prinzipien organisiert; teilnehmende Schauspieler und Schauspielerinnen waren u.a Ludwig Barnay (1842-1924), Charlotte Wolter (1834-1897), Josef Lewinsky (1835-1907), Friedrich Haase (1825-1911); Dramen: u.a. Shakespeares „Macbeth“, Schillers „Kabale und Liebe“, Lessings „Nathan der Weise“; im Gegensatz zur ersten Münchner Mustervorstel- <?page no="70"?> 1. Hart/ Hart: Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge (1882) 70 lung, die wegen der Ensembleleistungen großen Anklang bei Publikum und Kritik fand, wurde die zweite negativ bewertet, da man aufgrund fehlender Proben keine Ensembleleistung, sondern nur das erneute Hervortreten der Virtuosen feststellen konnte. 1505 August Wilhelm Iffland (1759-1814), Schauspieler, Dramatiker; galt als einer der besten Schauspieler seiner Zeit; bekannt für seinen deklamatorischen Stil, der besonders von Goethe und Schiller aufgegriffen wurde; ab 1811 Leitung des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 1505 Friedrich August Werdy (1770-1847), Schauspieler; 1790 Engagement am Hamburger Nationaltheater in Hamburg bei Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816); weitere Engagements sowie Gastspiele in Berlin, Wien, Frankfurt, Stuttgart; ab 1818 Engagement in Dresden; Freundschaft mit Friedrich Schröder und August Wilhelm Iffland (1759-1814). 1515 Ira Aldridge (1807-1867), afroamerikanischer Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Provinzbühnen Großbritanniens; rege Gastspieltätigkeit auch auf dem Festland, u.a. in Amsterdam, Berlin, Wien; 1857 kurzes Engagement am Covent Garden; erneute rege Gastspieltätigkeit; war bekannt für seine Shakespeare-Interpretationen, v.a. Othello, und für seinen beim deutschen Publikum nicht immer beliebten realistischen Schauspielstil. 1516/ 17 Pius Alexander Wolff (1782-1828), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; 1803 Engagement beim Hoftheater in Weimar unter der Leitung Goethes; rege Gastspieltätigkeit; 1816-1828 nach Unstimmigkeiten mit Goethe Engagement am Königlichen Schauspielhaus in Berlin; gilt als Idealvertreter des „Weimarischen Stils“ und als einer bedeutendsten Schauspieler des 19. Jahrhunderts. 1588 Carl Seydelmann (1793-1843), Schauspieler; Engagement an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Breslau, Prag, Kassel; 1838-1843 Engagement am Königlichen Schauspielhaus in Berlin. 1588 Josef Lewinsky (1835-1907), Schauspieler; ab 1858 Engagement am Wiener Burgtheater; 1865 Ernennung zum Hofschauspieler; rege Gastspieltätigkeit in unterschiedlichen europäischen Städten, u.a. Berlin, Sankt Petersburg, Moskau. 1598/ 99 Bogumil Dawison (1818-1872), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Warschau, Lemberg, Wilna; 1847-1849 Mitglied des Hamburger Thalia Theaters; ab 1849 Engagement am Wiener Burgtheater; 1854-1864 Engagement am Dresdner Hoftheater, ab 1865 ausschließlich internationale Gastspieltätigkeit, u.a. in Europa und den USA; gilt als Inbegriff des Charakterdarstellers sowie des Virtuosen. 1599 Meininger Hoftheater, Hoftheater des Fürstentum Sachsen-Meiningen; unter der Leitung Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826-1914) Etablierung eines modernen Regietheaterstils, der sich durch historische Genauigkeit in Bühne und Kostüm sowie vor allem ein geschlossenes Ensemblestil auszeichnete. Meininger Gesammtgastspiele, Gastspiele des Ensembles des Meininger Hoftheaters unter Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, bei denen vor allem Wert auf das geschlossene Ensemblestil gelegt wurde; 1874-1890 rege, auch internationale Gastspieltätigkeit des Ensembles der Meininger. <?page no="71"?> Kommentar 71 1711 Charles Maurice Schwartzenberger (genannt Chéri Maurice) (1805-1896), Theaterleiter; ab 1829 Leitung des Sommertheaters des Tivoligartens in Hamburg; ab 1843 Gründung des Thalia Theaters in Hamburg; ab 1847 zusätzliche Leitung des Stadttheaters Hamburg; einer der bedeutendsten Bühnenleiter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1780 Lewes, hier vermutlich gemeint: George Henry Lewes (1817-1878), englischer Philosoph, Literatur- und Theaterkritiker. 1853 Oscar Blumenthal (1852-1917), Theaterleiter, Schriftsteller, Theaterkritiker; journalistische Tätigkeit u.a. beim Berliner Tageblatt (Spitzname als Theaterkritiker: „blutiger Oscar“); 1888-1897 Gründung und Leitung des Lessing- Theaters Berlin; ab 1893 zusätzlich Leitung des Berliner Theaters; gemeinsam mit Gustav Kadelburg (1851-1925) eines der erfolgreichsten Autorenduos der Zeit; Werke: „Der Probepfeil“ (UA 1883), „Großstadtluft“ (UA 1891, mit G. Kadelburg), „Im weißen Rössl“ (UA 1898, mit G. Kadelburg). 1855 „L’Assommoir“, eigentlich ein Roman von Émile Zola (1840-1902). 1860 Otto Franz Gensichen (1847-1933), Schriftsteller, Dramatiker, Theaterleiter; 1874-1878 Leitung des Wallnertheaters in Berlin. Gerhard(t) von Amyntor (eigentlich Dagobert von Gerhardt) (1831-1910), Schriftsteller. 1861/ 62 Friedrich Spielhagen (1829-1911), Schriftsteller; wegen seines Romans „Angela“ (1881) kam es zu einem Gerichtsprozess wegen Sittenlosigkeit. 1862 „Angela“, 1881 erschienener Roman von Friedrich Spielhagen (1829-1911). 1918 „Mag. f. d. Liter. d. Inu. Auslandes“ (=„Magazin für (die) Literatur (des In- und Auslandes)“), vgl. Alberti. „Bl. f. liter. Unterh.“ (= „Blätter für literarische Unterhaltung“), von Heinrich Brockhaus (1804-1874) herausgegebene Kulturzeitschrift. 1922 „Die neue Zeit“, Organ der Deutschen Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten. 1996 „Kritische Waffengänge“, 1882-1884 in sechs Heften erschienene kultur- und literaturkritische Zeitschrift der Gebrüder Hart. „Deutsche Monatsblätter“, 1878-1879 erschienene kultur- und literaturkritische Zeitschrift der Gebrüder Hart. 2024 Franz von Dingelstedt (1814-1881), Schriftsteller, Theaterleiter; 1851-1857 Leitung des Münchner Hoftheaters; dort 1854 Mustervorstellung unter seiner Leitung; 1857-1867 Leitung des Hoftheaters in Weimar; 1870-1881 Leitung des Wiener Burgtheaters; bekannt für seine Aufführung der Shakespeare’schen Königsdramen (1864) und den Shakespeare-Zyklus in Wien (1875); Dingelstedts Regiestil gilt als Vorbereitung für die Meininger. 2027 Marasmus, hier im zeitgenössischen Sinne als Auszehrung, Altersschwäche zu verstehen. <?page no="73"?> 2. Conrad Alberti: Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) Einführung „Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater“, die Streitschrift des Schauspielers, Journalisten und Schriftstellers Conrad Alberti (1862-1918) aus dem Jahr 1887, kann wohl mit Fug und Recht als eine solche bezeichnet werden. Wenngleich Albertis Hauptanliegen, die Analyse der „Theatermisere“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sich auch in zahlreichen anderen Streitschriften finden lässt, so ist seine Diagnose doch radikaler und schonungsloser als die der meisten anderen Streitschriften: Im Gegensatz zum Grundtenor der fortschrittlichen Theaterkritik will er im zeitgenössischen deutschen Theater prinzipiell keine Innovation erkennen. Selbst die Versuche deutscher Bühnen, durch den Import von naturalistischen Dramen von Henrik Ibsen, Bjørnstjerne Bjørnson und Emile Zolá an der europäischen Strömung des Naturalismus teilzuhaben, wertet er kategorisch ab, da ihm die Umsetzung zu seicht und mutlos erscheint. Seine konsequente Ablehnung enthüllt einen aggressiven Kampfgeist des Autors, der sich aus persönlicher Enttäuschung und Frustration zu speisen scheint. So scheut sich Alberti bspw. nicht, den Schauspieler Josef Kainz und seine Bühnenkunst bloßzustellen, indem er ihm eine stereotypenhafte Ausarbeitung seiner Rollen sowie fehlende Wandlungsfähigkeit (vgl. Alberti 1595ff.) vorwirft - wohingegen Kainz dem zeitgenössischen Theaterdiskurs als Inbegriff einer neuen Schauspielkunst galt. Das gleiche Phänomen lässt sich auch in einer früheren Streitschrift Albertis beobachten, welche er im Jahr 1884 veröffentlichte und auf die er in „Ohne Schminke“ einige Male verweist: „Herr L’Arronge und das Deutsche Theater“ zeichnet sich viel mehr durch die bissige Polemik des Autors als durch eine kohärente Argmentation aus - auch wenn Alberti den Vorwurf polemischer Meinungsmache gleich zu Anfang von sich weist. Das Deutsche Theater, das in der 1882 erschienenen Veröffentlichung „Das Deutsche Theater des Herrn L’Arronge“ von Heinrich und Julius Hart als Rettungsanker der ruinösen deutschen Theatersituation angesehen wurde, gerät bei Alberti u.a. wegen angeblich mangeldem künstlerischen Interesse und fehlenden Fähigkeiten der Leitung unter Beschuss. Diese nahezu keine Grenzen kennende Kritik zeigt sich auch in „Ohne Schminke“. Alberti setzt sich hier intensiv mit den Missständen der deutschen Theaterlandschaft auseinander, speziell mit denen in Berlin: Er prangert die vorherrschenden schlechten Schauspielerleistungen an, vor allem die der Schauspielvirtuosen. Er rechnet mit dem an leichte Kost ge- und damit durch seichte Unterhaltung verwöhnten Publikum ab - insbesondere am weiblichen Teil desselben lässt Alberti kein gutes Haar. Er klagt über die profitorientierten und künstlerisch trägen Theaterdirektoren, die nicht den Mut aufbrächten, der herrschenden Theaterzensur zu trotzen, und Innovation mit - wie Alberti es nennt - <?page no="74"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 74 „Novitätenabhetzung“ (Alberti 1377) gleichsetzten, und beschwert sich über die fehlenden Ideen der deutschen Dramatiker, die sich aus Bequemlichkeit lieber an der französischen Salonkomödie als an den naturalistischen Stücken der skandinavischen Autoren orientieren würden, obgleich letztere Albertis Meinung nach doch so viel mehr ihren Sitz im modernen Leben hätten. Auch die Institution der Theaterzensur möchte er nicht hinnehmen, unterstellt ihr Willkür und plädiert kämpferisch für ihre Abschaffung. Neben den Angriffen auf einzelne Schauspieler, wie etwa auf Josef Kainz, erfolgen auch Apostrophen an namentlich genannte Autoren. So spricht er an mehreren Stellen der Streitschrift die beim zeitgenössischen Publikum überaus beliebten und ebenso erfolgreichen Dramatiker Paul Lindau, Gustav von Moser und Oscar Blumenthal direkt an, wirft ihnen dramatisches Unvermögen vor und bemängelt ihre sich nicht durch kritische Inhalte, sondern durch Oberflächlichkeiten profilierenden Dramen (vgl. Alberti 1808ff.). Bei all dieser bitteren Kritik wirkt es fast wie ein Hohn, dass Alberti nicht müde wird zu betonen, die Intention seiner Streitschrift sei eben nicht das „Schimpfen und Heruntherreißen“ (Alberti 2557f.), sondern ein Beitrag zur Verbesserung der deutschen Theaterverhältnisse, welche er durch seine im Text - objektiv betrachtet allerdings vergleichsweise spärlich gesäten - konstruktiven Vorschläge vorantreiben wolle. Dem Ruf des stets Unzufriedenen, den Alberti bereits zu Lebzeiten innehatte, wurde er immer wieder durch öffentliche Äußerungen gerecht: So mokiert der überzeugte Naturalist im Jahr 1888 im Vorwort zu seinem zwar zur Veröffentlichung angenommenen, jedoch nicht zur Aufführung gebrachten, am skandinavischen und französischen Naturalismus orientierten Theaterstück „Brot! “ erneut den fehlenden Mut der Theaterdirektoren zur Innovation. Da Alberti sein Drama als inbegriff dieser verschmähten Innovation sieht, darf man dem Vorwort durchaus eine gewisse Hybris attestieren. Sein konsequentes und kompromissloses Engagement für die Durchsetzung von Naturalismus und Realismus, in denen er die Rettung aus den eingefahrenen literarischen Bahnen des Kaiserreichs sah, lässt sich an zwei Ereignissen in Albertis Biographie aus dem Jahr 1890 verdeutlichen: So wurde er für die Publikation realistischer Romane zusammen mit den Schriftstellern Wilhelm Walloth, Wilhelm Friedrich und Hermann Conradi im so genannten „Leipziger Realistenprozess“ wegen der Veröffentlichung „unzüchtiger Schriften“ angeklagt. Im selben Jahr gründete Alberti gemeinsam mit Michael Georg Conrad und Karl Bleibtreu den Theaterverein Die Deutsche Bühne als Gegenbewegung zur heute weitaus bekannteren Freien Bühne - eine ambitionierte Unternehmung, die sich in der Berliner Theaterlandschaft allerdings nur ein Jahr behaupten konnte. Beide Ereignisse ergänzen sehr gut den Eindruck, den der heutige Leser der Alberti’schen Schriften von diesem nahezu in Vergessenheit geratenen Autor bekommt: den einer aufmüpfigen, unangepassten und überambitionierten, von der Idee der Erneuerung des deutschen Theaters auf der Basis des Naturalismus geradezu besessenen Persönlichkeit. Stefanie Watzka <?page no="75"?> Conrad Alberti Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) Vorwort. Die vorliegende Schrift ist eine Zusammenfassung der Urtheile, Gedanken und 5 Anschauungen, die ich mir in einem Jahre langen Studium der deutschen Bühne und der neueren dramatischen Literatur Deutschlands, Frankreichs und Skandinaviens zu bilden bemüht war - der drei einzigen Länder, in denen wirklich noch eine dramatische Kunst besteht - und denen ich als Kritiker und Berichterstatter in einer großen Anzahl von Zeitungsartikeln Ausdruck gegeben habe. Hoffentlich 10 wird man finden, daß ich von dem gewöhnlichen Fehler der „Bühnenreformer“ - einseitigem literarischen Idealismus und Mangel an Kenntniß der Bühne und der realen Theaterverhältnisse - frei bin, daß hier ein praktisch geschulter Mann spricht. Allenthalben habe ich auch die geschäftliche Seite des Theaters in Betracht gezogen, welche bei dieser die meisten Opfer heischenden Kunst gewiß 15 vollauf berechtigt ist. Ein praktischer Idealismus ist es, den ich verlange, und wenn es mir gelingt, nachzuweisen, daß man sehr wohl gleichzeitig außerordentlich auf seine Kasse und auf die Förderung der Kunst bedacht sein kann, so habe ich meinen Zweck erreicht. Ich kenne die Bühne nicht blos von meinem Sitz im Zuschauerraum her, ich kenne sie aus engen Beziehungen meiner Thätigkeit zu 20 derselben. Und so wiege ich mich in der Hoffnung, daß die Vorschläge, die ich hiermit der öffentlichen Würdigung unterbreite, nicht nur durchführbar sind, sondern auch dereinst zur Durchführung gelangen werden. Berlin, December 1886. D. V. 25 „Eine Theaterbrochure, eine Abhandlung über die Mißstände unseres Theaters wollen Sie schreiben? “ fragte mich ein Freund mit ziemlich verwunderter Miene, als ich ihn von Plan und Absicht der vorliegenden kleinen Schrift unterrichtete. „Aber ich bitte Sie, wer soll das lesen? “ - „Wer? “ entgegnete ich, „nun, das ganze 30 gebildete Publikum, welches sich für das Theater interessirt... die Künstler selbst... Jeder, der es mit der nationalen Schaubühne Ernst nimmt...“ „Ja, wer thut das noch, lieber Freund? “ erwiderte Jener. „Wir leben doch nicht mehr in den Zeiten Lessing’s! Heutzutage haben wir Wichtigeres zu thun, als uns um ein im Grunde so gleichgiltiges Ding wie das Theater zu kümmern. Der Kampf ums Brot 35 bedrängt uns von Tag zu Tag schwerer, und können wir uns ja manchmal eine kostbare Minute abringen, so gehört sie der Politik, der Zeitung, die doch sicherlich wichtiger ist als das Theater.“ „Und doch,“ sprach ich, „war die Theaterlust nie größer als in der verflossenen Saison, doch haben mit ein paar Ausnahmen <?page no="76"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 76 alle Berliner Theaterdirectoren ihre Cassen und Säckel bestens gefüllt.“ - „Gewiß, 40 das gebe ich ja gern zu, nach des täglichen Kampfes Drang und Mühen sehnen wir uns Abends nach einer kleinen Erholung; wir wollen uns zerstreuen, alles vergessen, uns in eine ganz andere Umgebung versetzen, die uns mit keinem Zuge an unsere Tagessorgen erinnert, wir wollen andere Menschen um uns, vor uns sehen, lachen: darum gehen wir in’s Theater. So sind wir auch ein dankbares 45 Publikum, denn wir wägen wirklich nicht so scharf ab, ob Alles, was wir sehen, genau mit den ästhetischen und technischen Gesetzen der Dicht- und Schauspielkunst übereinstimmt; wenn es nur einigermaßen genießbar ist, nehmen wir, was man uns bietet, wofern es unsere Gedanken vom alltäglichen Kampfe um’s Dasein ablenkt, unsere Heiterkeit erregt. Aber über das Theater lesen... nun ja, die 50 Recensionen der Tagesblätter, die uns sagen, ob wir uns bei dieser oder jener Vorstellung amüsiren... aber wozu eine ganze, umfangreiche Schrift darüber? Wir empfinden kein Bedürfniß nach einer solchen. Wozu wollen Sie uns unser Vergnügen am Theater vergällen? Wozu uns auseinandersetzen, wie schlecht es ist? Daß dies und jenes im Einzelnen vielleicht besser sein könnte, daß der Char- 55 genspieler am Deutschen Theater nicht genügt, die Decoration im Schauspielhause eine Auffrischung verdient, diese Schauspielerin für jene Rolle schon zu alt ist - ja, das sagen wir uns selber, wozu es uns noch einmal sagen? Im Großen und Ganzen sind wir mit unsern Theatern zufrieden, wir besuchen sie, und da wir die oberste Instanz sind, so ist gegen unsere Entscheidung keine Berufung möglich. 60 Und daß die Schauspieler Ihre Schrift lesen sollten, - das glauben Sie doch sicherlich selbst nicht. Sie wissen besser als ich, wie hochmüthig diese heute auf Alles herabblicken, was nicht mit „zum Bau“ gehört, und keinem Andern ein Urtheil zutrauen. Sie wissen, daß diese Sippe nicht belehrt, sondern nur gelobt sein will, denn jeder Mime meint kraft seines angeborenen Genies Alles schon 65 besser zu wissen als die übrige Welt. Wenn er sagt: ‚Heut’ steht in der Zeitung eine schlechte Kritik,’ so meint er eine, in der er getadelt wird, sagt er ,eine gute’, so meint er eine ihn lobende. Also auf diesen Leserkreis haben Sie noch weniger zu rechnen. Ja, wenn Sie sie alle bei Namen nennen und loben würden, dann kauften sie vielleicht das Büchelchen! “ So sprach mein Freund, der mir in diesem 70 Augenblick als der Repräsentant der großen Mehrzahl des deutschen Publikums erschien, aber was er sagte, bestärkte mich gerade in meiner einmal gefaßten Absicht. Ich sagte mir, das deutsche Publikum müsse endlich einmal aufgerüttelt werden aus seinem Schlaf, der Sinn für wahre theatralische Kunst, der in ihm fast erstorben ist, müsse wieder erweckt werden, man müsse ihm die Augen öffnen 75 über das, was es alltäglich vor sich sehe. Das deutsche Publikum ist in Theaterdingen denkträg geworden, es hat die ernste Urtheilsfähigkeit verloren, welche das einer früheren Zeit besaß. Man muß ihm zeigen, daß es in Wirklichkeit im Theater schläft, sonst bildet es sich ein, es unterhalte sich köstlich. Man muß ihm sagen, daß das Lachen, welches oft die Räume der Theater durchhallt, ein ironi- 80 sches Lachen über die Albernheiten ist, die man ihm zu sehen zumuthet, sonst ist es der Ansicht, es sei ein Lachen des wirklichen, humorreichen Behagens. Und ich glaube, in dieser Hinsicht auf den Dank des Publikums rechnen zu dürfen, denn nur schwache Seelen können es nicht ertragen, daß man ihnen eine Illusion raube; <?page no="77"?> Conrad Alberti 77 wem es Ernst um eine Sache ist, wird jedes fremde Urtheil mit Vergnügen und 85 Interesse entgegennehmen, auch wenn er demselben in keiner Weise zustimmen kann. Mir ist freilich sehr wohl bewußt, daß das Theater im öffentlichen Leben nicht mehr den Platz einnimmt, der ihm früher beschieden war, daß es denselben längst an die Politik und die sociale Frage abgegeben hat. Das liegt in den Zeit- 90 verhältnissen, das ist nicht zu ändern, und ich wäre der letzte, der es bedauerte. Auch mir ist die Frage des Branntweinmonopols oder der orientalischen Wirren, die Vorlage eines neuen Altersversorgungsgesetzes wichtiger, als die Première eines Blumenthal’schen Stückes. Von den ersteren hängt das Wohl und Wehe von Tausenden ab, von dem Ausfall des letzteren höchstens das des Theaterdirectors 95 und des Verfassers. Aber so ganz aus der Welt leugnen läßt sich die Kunst doch nun einmal nicht, und keine Zeit, selbst die materiellste nicht, wird ihrer entbehren können, wenn sie auch ihre Stelle erst hinter den großen, zeitbewegenden Fragen der Politik und des öffentlichen Lebens erhalten wird. Diese Stelle aber muß sie festhalten, ganz darf sie von ihrer einstigen weltbeherrschenden Höhe 100 nicht herabsinken, zum bloßen Gegenstande der gesellschaftlichen Unterhaltung darf sie nie werden. Früher, als noch das freie Wort in Versammlungen und Zeitungen geknechtet und geknebelt war, als die Völker noch gutmüthig genug waren, bedingungslos auf die Erbweisheit ihrer angestammten Fürsten zu schwören und auf jede Antheilnahme an der Regierung und der Regelung der socialen Ver- 105 hältnisse der Staaten zu verzichten: da konnte es geschehen, daß eine Tänzerin die Geschicke eines Landes lenkte, daß das erste Auftreten einer neuen Liebhaberin den Gegenstand wochenlanger Aufregungen in einer Residenz bildete. Das Theater war ja der einzige Ort, an dem die Gesammtheit als solche ihre Stimme zur Geltung bringen konnte, es war das einzige öffentliche Interesse, bei welchem 110 es dem Volke erlaubt war, mitzuentscheiden, sein Votum abzugeben, anzunehmen oder zu verwerfen. Heute haben wir Geschworenengerichte und Parlamentswahlen. Als Caroline Bauer ihr Engagement am Königstädtischen Theater in Berlin aufgeben wollte, erschien bei ihr eine Deputation, aus den angesehensten Bürgern Berlins bestehend, an ihrer Spitze kein geringerer als Professor Graefe, 115 welche sie bat, doch nicht der Residenz den Rücken zu kehren, ihr die Sympathie aller Berliner ausdrückte und eine Vermittelung ihres Engagements am Königlichen Theater versprach. Würde heute Geh. Rath. Virchow in ähnlichem Falle zu Fräulein Jürgens gehen und für sie eintreten? Ich glaube kaum, daß ihm - außer seiner wissenschaftlichen Thätigkeit - seine Beschäftigung in der Stadtverordne- 120 tenversammlung, in den Parlamenten und ihren verschiedenen Commissionen dazu Zeit oder auch nur das nöthige Interesse übrig ließe. Dennoch nimmt das Theater noch immer eine keineswegs unbedeutende Stellung ein. Noch immer ist die Schauspielkunst diejenige, welche am meisten und tiefsten auf die Masse wirkt, welche Wirkungen erzielen kann, wie so nach- 125 haltig und tief keine andere. Auf ein einzelnes, in ästhetischer Hinsicht besonders fein organisirtes Wesen kann eine Sinfonie, ein Gemälde, eine Statue, vielleicht mächtiger wirken, als eine Shakespeare’ Tragödie, ja auf ein mit reicher Einbildungskraft begabtes Individuum kann sogar die Lectüre der letzteren gewaltige- <?page no="78"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 78 ren Eindruck ausüben als die stets mehr oder minder unvollkommene Darstel- 130 lung - darum bleibt aber doch die Schauspielkunst die volksthümlichste und wirksamste aller Künste. Und darin erblicken wir nur eine That der ausgleichenden Gerechtigkeit der Natur, denn da ihre Schöpfungen nicht dauern, wie die der bildenden Künste, sondern im Augenblick entstehen und vergehen, so mußte ihr eine um so stärkere ästhetisch-moralische Augenblickswirkung verliehen werden, 135 um sie nicht hinter den Schwesterkünsten zurückstehen zu lassen. Niemand von uns Söhnen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist mehr so naiv, zu glauben, daß das Theater eine moralische Anstalt sei, daß dasselbe unmittelbar wirkenden Einfluß auf die Sittenverbesserung der Menschen im Einzelfalle haben könne. Keiner, der einen Mordplan in seinem Herzen herumträgt, würde durch 140 eine Vorstellung von Shakespeare’s „Macbeth“ von der Ausführung zurückgehalten, sondern möglicherweise eher im Gegentheil darin bestärkt werden, kein jähzorniger und eifersüchtiger Ehegatte, den man in eine „Othello“-Vorstellung schickte, würde durch dieselbe zur Milde, zur genauen Prüfung der vermeintlichen Schuld seines Weibes bewogen werden. Ebenso bekannt ist die 145 Anekdote von jenem Geizhalz, der der Vorstellung von Molière’s Meisterdrama beiwohnte und sich königlich über den dummen Narren von Harpagon amüsirte, ohne nur zu ahnen, daß er da oben sein Spiegelbild vor sich sehe. Dennoch wird kein Vernünftiger den bildenden und erziehlichen Einfluß des Theaters im Allgemeinen wegleugnen: wie jede Kunst, so wirkt auch das Theater, wenn es sich 150 auch im Einzelfalle nicht nachweisen läßt, erhebend und bildend, oder je nach Umständen verderbend und zersetzend auf den Charakter ein. Und wäre das Theater nichts anderes, als das beliebteste, besuchteste und einflußreichste aller öffentlichen Vergnügungen, so müßte ihm schon darum die größte Beachtung seitens der Gebildeten zu Theil werden, denn Niemand wird leugnen, daß gerade 155 die Vergnügungen der Allgemeinheit auf den Stand der öffentlichen Sittlichkeit, die Entwicklung und Fortbildung aller im Volke lebenden Grundbegriffe, auf die Bestrebungen und Verhältnisse der Einzelnen, auf die Geschmacksbildung der Masse die größte Einwirkung haben, und deshalb vom Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft und der Volkswirthschaft aus das eingehendste Studium 160 verdienen. Es muß sowohl denen, welchen es mit der Kunst an sich, wie denen, welchen es mit den öffentlichen Zuständen und den angeführten Verhältnissen des Volkes Ernst ist, daran liegen, möglichst zahlreiche gute Theater im Lande zu haben, denn es ist entschieden besser, daß der gemeine Mann gute Theatervorstellungen besucht, als schlechte Häuser, Branntweinspelunken, öffentliche Bälle 165 und dergleichen, und daß auch den Gebildeten künstlerisch geläuterte Theatergenüsse geboten werden, die auf ihre Geschmacksentwickelung von Vortheil sind und sie nicht selten von anderen, theureren und minder bildenden Vergnügungen abhalten. Warum soll man sich nicht auch in gebildeten Familien sagen: „Ah bah, gehen wir heut’ lieber in’s Theater, zu einer guten Vorstellung, statt daß 170 wir auf den theuren Ball gehen, der uns an Toilette und Kleinigkeiten das Sechsfache kostet und wo wir uns nur langweilen, oder statt daß wir bei Onkel Ferdinand zusammenkommen und Hazard spielen, wobei wir uns nur ohne Nutzen aufregen und unser Geld zwecklos verlieren! Im Theater amüsiren wir uns bes- <?page no="79"?> Conrad Alberti 79 ser.“ Wenn das Theater aber in dieser Richtung segensreich und mit Erfolg wir- 175 ken soll, muß es billig und gut sein - billiger und besser als jetzt! Wie viele Theile unserer Gesellschaft haben sich vom Theater abgewendet, weil es ihren Bedürfnissen nicht mehr genügt, weil es sie langweilt, weil sie in demselben nichts von den großen Fragen finden, welche unsere Zeit bewegen, sondern nur kleinlichen Abklatsch des allergewöhnlichsten uninteressanten Alltagslebens! Sie würden es 180 - und ein großer Theil nicht nur des sogenannten gebildeten Publikums, sondern auch des „Volkes“ mit ihnen - viel eifriger und begeisterter besuchen, wenn sie daselbst angeregt würden, weiter über die großen Fragen und Probleme nachzusinnen, von welchen unsere Zeit voll ist, und die uns auf Schritt und Tritt entgegentreten, wenn sie dieselben zu künstlerisch componirten Motiven und Hand- 185 lungen gestaltet sich vor ihnen entwickeln sähen und zu neuen Lösungsversuchen geführt würden. Aber kann man von einem gebildeten Manne verlangen, daß er sich das banale Zeug mit Genuß anschauen soll, welches sich auf unseren Bühnen breit macht? daß er die unnatürliche und übertriebene Darstellungsweise, wie sie auf den meisten unserer Bühnen herrscht, als Nachah- 190 mung der schlichten und keuschen Natur annähme, welche doch die Kunst sein soll? Nimmermehr! Und so meine ich, daß eine Schrift, welche sich mit jenen Mißständen beschäftigt, sie im Einzelnen nachweist, ihre Ursachen aufdeckt und Mittel und Wege zur Beseitigung und Verbesserung derselben darzulegen versucht, daß eine solche Schrift nicht geringere Beachtung seitens aller Kreise ver- 195 dient, seitens des Socialpolitikers, des Staatsmannes, des Nationalökonomen, des Künstlers, des Gelehrten, des Kaufmannes, des Arbeiters, als Schriften über die Besteuerung des Branntweins, die Zulassung der Realschulabiturienten zum medicinischen Studium oder die Einführung des directen Wahlsystems in Preußen. Daß die Mißstände, von denen ich spreche, keine localen sind, daß die Be- 200 hauptungen von dem Bestehen eines Theaterelends in Deutschland begründet sind, lehrt ein kurzer kritischer Rundblick über die deutschen Bühnen. Er zeigt, wie traurig es in Deutschland mit dem Theater aussieht. Ueberall Mißwirthschaft, Rathlosigkeit, Thatlosigkeit, langsames Dahinholpern in den ältesten, ausgefahrensten Geleisen der Routine, materieller oder künstlerischer Bankerott, nirgends 205 eine freie, frische, gesunde Regung, nirgends ein geniales Erfassen der Bedürfnisse der Zeit, ein Streben nach dem Wahren, Guten, Neuen. Nach Novitäten hascht man, nicht aber nach den nothwendigeren Renovationen der Bühnenverhältnisse und der dichterischen Production. Schauen wir uns doch um, wie es auf den vornehmsten und renommirtesten deutschen Bühnen aussieht. 210 Wien galt lange Zeit unbestritten für die erste deutsche Theaterstadt, aber wie Recht hatte unlängst Herr Müller-Guttenbrunn mit dem elegischen Seufzer: „Wien war eine Theaterstadt.“ Die unglücklichen politischen Verhältnisse in Oesterreich, die Bemühungen der Czechen, Magyaren, Kroaten, ihre Nationalitäten und Provinzen zur Geltung zu bringen, Wien allmählich immer mehr zu 215 decapitalisiren, drängen das deutsche Element und damit auch die deutsche Kunst, das deutsche Theater von Jahr zu Jahr, auch in Wien selbst, zurück; und was diese übrig lassen, vollendet die Unfähigkeit und Gleichgültigkeit des größten Theiles der Deutsch-Oesterreicher. Sie haben es möglich gemacht, daß den <?page no="80"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 80 deutschen Theatern in Pest und Prag die städtischen Subventionen entzogen 220 wurden und die erstere dieser Bühnen zu einem Provinzialtheater zweiten Ranges herabsank. Seit Laube’s Rücktritt von der Bühne, dem Tode der genialen Gallmeyer und verschiedenen andern unglücklichen Ereignissen geht Wiens Theaterleben von Jahr zu Jahr rückwärts. Auch das vielgepriesene Burgtheater, lange die vor- 225 nehmste Stätte deutscher Bühnenkunst, ist von diesem Rückgange nicht ausgenommen. Niemand wird behaupten, daß Adolf Wilbrandt seine Aufgabe als Leiter eines solchen Kunstinstituts erfüllt habe. Er mag ein recht feinsinniger Novellist sein, aber zum Theaterdirector fehlt ihm Alles: Schneidigkeit, Energie, Gewandtheit, sicherer Blick im Erkennen junger Talente. Das Repertoir des Burg- 230 theaters bewegt sich in den ausgefahrensten Geleisen, kaum daß neben dem Herrn Director selbst noch ein anderer neuerer Autor zum Worte kommt. Das Deficit der Kassen - im Burgtheater, das früher die glänzendsten Ueberschüsse gewährte! - wird immer drohender, die Schauspieler treiben, was sie wollen. Die glänzenden Sterne des Instituts werden alt und älter, aber um so zäher hängen sie an 235 ihren Rollen und ließen sich eher tödten, als daß sie eine davon an eine jüngere Kraft abgäben; Sonnenthal spielt seine jugendlichen Bonvivants mit immer zunehmendem Schmeerbauch, und auch das Organ der Wolter hat schon gelitten, Frau Mitterwurzer nimmt bedenklich ab, und auch die geniale Frau Hartmann bleibt nicht ewig jung. Von den jüngeren Kräften schweigt man am liebsten ganz; 240 es ist unglaublich, welche Talentlosigkeiten dem Burgtheater als durch „höhere Protection“ engagirte Mitglieder angehören und auf dem geheiligten Boden desselben große Rollen zu spielen sich erkühnen. Nicht einmal die Einheit des Stils der Darstellung, die früher das Burgtheater so groß machte, wird mehr gewahrt, die jüngeren Mitglieder sprechen ganz anders, viel langsamer, schwerer, unna- 245 türlicher, als die älteren, wie ich bei meinem letzten Wiener Aufenthalt mit Erstaunen bemerkte. Das Einzige, was das Burgtheater für sich anführen kann, ist, daß es manchmal dem Fräulein Hohenfels, jetzt der ersten weiblichen künstlerischen Kraft im jugendlichen Fache an der ganzen deutschen Bühne, Gelegenheit giebt, das Publikum durch ihre fortreißende Laune, ihre herrliche Genialität zu 250 erfreuen, und daß Herr Baumeister, der natürlichste deutsche Schauspieler, dort endlich zu voller Entfaltung seiner Talente gekommen ist, - aber dies ist, wie gesagt, auch das einzige Lob, das man dem jetzigen Burgtheater geben kann, und wie schwer ist es jenen beiden geworden, sich trotz aller Cabalen so weit emporzuarbeiten! Sonst sind von bedeutenden jüngeren Kräften noch Frl. Wessely und 255 Frl. Barsescu zu nennen, begabte und schöne Liebhaberinnen. Aller übrige „Nachwuchs“ ist trostlos. In der Person eines Herrn Reimers glaubt man ganz neuerdings ein großes Talent entdeckt zu haben, ich kann es nicht beurtheilen, da ich den Herrn nie spielen gesehen. Von einem Erziehen, einem gedeihlichen Fördern junger dramatischer und schauspielerischer Talente, einem modernen, ge- 260 sunden, vernünftig zusammengestellten Repertoir ist da keine Rede. Immer die Classiker und wieder die Classiker und höchstens einmal ein Pariser Ehebruchsdrama oder ein Stück des Directors. Von dem neuen Burgtheater erwarte ich gar nichts, es ist ein prächtiger, kolossaler Steinhaufen, für die Kunst bedeutet seine <?page no="81"?> Conrad Alberti 81 Erbauung nicht den kleinsten Fortschritt. Die jetzigen Kräfte werden, wenn sie 265 dort einziehen, mit ein Paar Ausnahmen, Greise sein, von denen eine neue Blütheperiode des Theaters für Wien nicht erwartet werden darf. Mit den übrigen Theatern geht es noch schneller bergab. Die Operette wird immer schlechter in Wien, das Karltheater ist eine Ablagerungsstätte für alles Schlechte geworden, was auf den übrigen Bühnen nicht aufgeführt wird. Die erbärmlichsten Pariser 270 Schwänke werden dort zum Besten gegeben. Als ich diesem mit so großen Hoffnungen und Posaunenstößen unter der jetzigen Direction in’s Leben gerufenen Unternehmen vor zwei Jahren in meiner Schrift: „Herr L’Arronge und das Deutsche Theater“ einen kläglichen Ausgang prophezeihte, war man in Wien höchst entrüstet über meine Keckheit - heute hat mir der Ausgang Recht gegeben. So 275 schlimm steht es heute mit dem Theater in Wien, daß die besten Schauspieler Wiens sich immer ernstlicher anschicken, die „erste deutsche Theaterstadt“ zu verlassen; Felix Schweighofer gehört für diesen Winter einer Berliner Bühne an, Alexander Girardi schielt schon längst mit einem Auge nach Berlin. Die sonstigen österreichischen Bühnen können gar nicht in Betracht kommen, 280 höchstens Prag, wo Herr Angelo Neumann seit einiger Zeit mit Erfolg thätig ist. Herr Neumann ist ein guter Routinier, der es namentlich vortrefflich versteht, die Trommel der Reclame für sich in Bewegung zu setzen (woraus ihm übrigens kein vernünftiger Mann auch nur den leisesten Vorwurf machen wird), aber von Genialität zeigt sich bei ihm doch nur wenig. Er ist ein guter Geschäftsmann, er ver- 285 steht die Mache, aber man zeige mir eine wirklich bedeutende originelle künstlerische That, die er ausgeführt - eine ursprüngliche Künstlerkraft, die er eingeführt, der er zu Erfolgen verholfen, ohne sie in unkünstlerischer Weise auszubeuten und ihr Talent zu ruiniren, wie das der zu früh verstorbenen Reicher- Kindermann. Immerhin will ich gern zugeben, daß Herr Neumann noch immer 290 einer von unsern „besseren“ Bühnenleitern ist. Er führt wenigstens das Gute aus (wie z.B. die Wandervorstellungen der Nibelungen), wenn er die absolute, zweifellose Gewißheit hat, seine Casse dabei zu füllen und für seine Reclame zu sorgen, und wofern er das Gute überhaupt erkennt: aber er bemüht sich nicht, es aufzusuchen. 295 Nicht besser als in Oesterreich sieht es im deutschen Reiche aus, obgleich dieses seiner ganzen Entwickelungsgeschichte nach für eine Blüthe des Theaters weit mehr organisirt ist, als Oesterreich. Dieses hat oder hatte lange Zeit hindurch sein Wien als einzige Hauptstadt, daneben noch ein paar halb deutsche Provinzialhauptstädte, in denen sich allenfalls ein mittelmäßiges Theater halten konnte. 300 Deutschland zerfiel eine Anzahl Jahrhunderte hindurch in viele kleinere Reiche, jedes derselben hatte seine Hauptstadt, und jeder kleine Fürst, der auf dem Felde der Politik keine allzu bedeutende Rolle zu spielen vermochte, setzte seinen Stolz darein, sich, seinem Hofe und seinen Bürgern ein gutes Theater zu bieten und so wenigstens seiner Hauptstadt eine gewisse Anziehungskraft zu verleihen. So 305 entstanden die zahlreichen kleinen deutschen Hoftheater, an denen die Darstellungskunst mit Eifer und Ernst zumeist unter persönlicher Antheilnahme des Herrschers an der Leitung der Bühne gepflegt wurde - ein nicht hoch genug zu schätzender Segen für das deutsche Theater. Auch hat Deutschland nie eine ein- <?page no="82"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 82 zige anerkannte Hauptstadt gehabt, welche wie Wien oder Paris für die Ent- 310 wickelung der Kunst und des künstlerischen Geschmackes im Lande maßgebend war; jede größere Provinzialstadt schuf sich ihr eigenes Theater nach ihrem eigenen Geschmacke, ohne sich daran zu kehren, wie man in Berlin über dasselbe dächte. Dieser Umstand war eben so vortheilhaft für das Erstarken und Aufblühen der einzelnen stehenden Bühnen, für die Entfaltung eines ungemein reichen, 315 mannigfaltigen Theaterlebens, wie es kaum ein zweites europäisches Land in ähnlichem Maße besitzt, als nachtheilig für die Geschmacksbildung des deutschen Publikums, dem feste Grundsätze vollständig fehlten, das nie zu einer einheitlichen nationalen Geschmacksrichtung kommen, und daher auch nie eine wirklich nationale Bühne, ein nationales Drama besitzen konnte. Denn nationale 320 Eigenart auf allen Gebieten ist nur möglich bei hervorragender Centralisation, das Gegentheil führt - in der Kunst wenigstens - wohl zur Verbreiterung derselben, ruft eine gewisse flache allgemeine ästhetische Durchschnittsbildung hervor, wie sie centralisirt eingerichtete Länder nie so allgemein erwerben können, aber es verhindert das Erstehen einer einheitlichen, von der Hauptstadt ausgehenden 325 eigenartigen nationalen Kunstrichtung. So kam es, daß ein Drama, welches in Hamburg den rauschendsten Beifall erzielte, in Breslau ausgepfiffen wurde, so daß den Frankfurtern nichts übrig blieb, als ihm einen Achtungserfolg zu bereiten, denn die guten Leute hätten in ihrem deutsch-schildbürgerlichen Particularismus gefürchtet, für die Affen der Breslauer oder Hamburger gehalten zu wer- 330 den, wenn sie dem Urtheil derselben gefolgt wären und sich kein eigenes, abweichendes gebildet hätten. Lieber thaten sie dem Dichter ein Unrecht. Der Einfluß Berlins ist heute glücklicherweise bereits ein derartiger, daß ein theatralischer Erfolg in Berlin beinahe ausschlaggebend für das Reich ist, allein noch immer wird es in den Zeitungen als besonders denkwürdig angezeigt, wenn ein 335 Stück, das in Berlin gefallen hat, auch bei seiner ersten Vorstellung in Danzig oder Stuttgart Beifall findet. Die Berliner Theater-Verhältnisse sind aber ebenfalls recht trauriger Art. Nicht etwa hinsichtlich der Ertragsfähigkeit, - denn ungefähr fünfzehn größere und kleinere Bühnen prosperiren mit ein paar Ausnahmen ganz ausgezeichnet, wäh- 340 rend sich in Wien keine sechs halten können - sondern im Hinblick auf die künstlerische Bedeutung derselben. Von dem Schauspielhause spricht man am besten, wenn man von ihm schweigt. Niemand bezweifelt, daß der jüngst verstorbene Botho v. Hülsen, der 35 Jahre hindurch die Leitung desselben inne gehabt, ein schneidiger Cavalier vom Wirbel 345 bis zur Zehe gewesen, und auch von dem jetzigen Intendanten, dem Grafen Hochberg, gilt ein gleiches - allein von dem Leiter der 5 besten Hofbühnen Deutschlands verlangt man doch etwas mehr, als daß er in 35 Jahren ein „geregeltes Dienstverhältniß“ schafft. Wir geben gern zu, daß der Leiter einer großen Hofbühne, wie nun heute einmal die Verhältnisse liegen, eine Menge von Rück- 350 sichten zu nehmen hat, welche seine künstlerische Thätigkeit schwer beeinträchtigen, - Umstände, unter denen auch Wilbrandt sehr zu leiden hat - doch lassen ihm diese Rücksichten noch immer mehr Spielraum zur Berücksichtigung der zeitgenössischen Production, zur künstlerisch vollendeten Einübung der Stücke, <?page no="83"?> Conrad Alberti 83 als dies im Schauspielhause zu Berlin geschah und geschieht. Herr von Hülsen 355 hatte vollständig Recht, dem werthlosen französischen Schund von Labiche, Dumas und Consorten sein Theater zu verschließen, unverantwortlich aber war es, auch Augier und Sardou, Ibsen, Björnson, Lindner, Wildenbruch u.s.w. ganz oder zum Theil auszuschließen, Richard Wagner so spät als möglich anzuerkennen. In den Traditionen der classischen Zeit aufgewachsen, war Hülsen Herz und Kopf 360 für den Geist der modernen Zeit, des Realismus verschlossen und daran ging er unter. Es war nicht mehr der Geist, es war ein Gespenst, ein revenant der classischen Periode, das in seiner Person durch das moderne Kunstleben ging. In den Vorstellungen machte sich eine Schläfrigkeit und Gleichgiltigkeit seitens der Darsteller bemerkbar, die uns immer das Wort jenes Wieners über die Berliner Hof- 365 schauspieler in Erinnerung bringt: Es sind Beamte, die Komödie spielen. Greise spielen noch jetzt die Bonvivants, und Mütter erwachsener Söhne, welche selbst schon in ersten Fächern an der Bühne wirkten, die jugendlichen Liebhaberinnen. Von Lust und Liebe zur Sache ist in diesen Vorstellungen nichts zu bemerken, die Herrschaften sprechen ihre Rollen herunter, als wären sie dazu commandirt. Die 370 Decorationen scheinen aus dem vorigen Jahrhundert, die Kostüme aus einer Maskenverleihanstalt für die Bewohner des Landsberger Thorbezirks zu stammen. Von historischer Richtigkeit keine Spur. Spielte doch in der neuen Oper „Donna Diana“ Frl. Lola Beeth die Titelrolle in zwei modernen Balltoiletten. Ueber den neuen Intendanten, den Grafen Bolko von Hochberg, muß ich mich 375 natürlich noch jedes Urtheils enthalten; denn es ist klar, daß er in 6 Wochen nicht Uebelstände ausrotten kann, die seit Jahrzehnten feste Wurzel geschlagen haben. Graf Hochberg müßte eine Reform an Haupt und Gliedern einführen, mit wenigen Ausnahmen das ganze alte Personal durch ein neues ersetzen, und zwar nicht nur das künstlerische, sondern auch das technische, damit gewisse Hül- 380 sen’sche Creaturen endlich verdrängt würden, die bisher zu lange zum Schaden der Kunst ihre einflußreichen Stellungen inne gehabt. Auch die Anstellung eines neuen frischen Dramaturgen für das Schauspielhaus thut Noth. Dies Alles aber, besonders Personalreformen, erfordert vor Allem Zeit - wer im Besitze ist, läßt sich schwer aus demselben drängen, und die neuen Genies laufen auch nicht so 385 auf der Gasse herum. Darum ist’s billig, daß man dem Grafen Hochberg ein, zwei Jahre Zeit läßt, seine Reformpläne wenigstens in der Anlage kund zu thun, bevor man ein Urtheil über dieselben wagt. Doch dies mag immerhin ausgesprochen werden, daß er dem Anschein nach den allervortrefflichsten Willen mitbringt. Die Anrede, die er kürzlich an das Personal des Schauspielhauses gehalten, beweist, 390 daß er einen der vielen wunden Punkte des letzteren mit Scharfblick erkannt hat - die schauderhafte Vermengung aller möglichen Dialecte, die sich hier ganz ungescheut breit machen. Wie oft haben wir selbst nicht dagegen geschrieben. Dieser Ansprache können wir nur von Herzen „Bravo! “ zurufen. Auch für die Verbesserung von Decorationen und Requisiten hat Graf H. schon in den wenigen 395 Wochen Manches gethan. Also denn Glück auf zum Reformwerk! Weniger will mir der Befehl an die Musiker des Opernhauses gefallen, allabendlich im Frack und weißer Binde zu erscheinen. Macht gute Musik, ihr Herren, und es soll uns <?page no="84"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 84 gleichgiltig sein, ob ihr in Courhosen oder Wadenstücken, im Galafrack oder in Lodenjoppen in’s Orchester kommt. 400 Das vielgerühmte Deutsche Theater hat in nichts die Erwartungen erfüllt, die man an dasselbe knüpfte. Der Autor, der hier zur Aufführung gelangen will, muß entweder todt oder Hausfreund des Herrn L’Arronge oder Theaterkritiker einer Berliner Zeitung sein, er muß Shakespeare oder Schiller, Lindau, Lubliner, Blumenthal oder Rheinisch heißen, sonst hat er keine Aussichten, sein Stück am 405 Deutschen Theater aufgeführt zu sehen. Nun, die genannten Herren, namentlich die ersten beiden, haben ja sehr viel Schönes geschrieben, aber man hat doch das Bedürfniß, auch einmal die Werke Anderer von der Bühne herab zu hören, wirklich lebenswahre Darstellungen der modernen Verhältnisse sich vor uns entwickeln zu sehen oder sich über eigenartige moderne Talente, wie Fitger, 410 Bulthaupt, Nissel, Anzengruber u.a. aus eigener Bühnenanschauung ein selbstständiges Urtheil zu bilden, was heute in Berlin zu den Unmöglichkeiten gehört. Die Darstellung am D.T. verdeckt durch einen schreienden, stillosen Prunk, eine aufdringliche, nicht selten geschmacklose Farbenpracht die inneren Mängel und Schwächen ihrer Einzelleistungen, und dem Ganzen fehlt der Hauch der Vor- 415 nehmheit und Noblesse, und eine grundfalsche Auffassung des Wesens des Realismus greift hier immer mehr um sich. Das Ganze ist nichts mehr als eine neue, nicht einmal verbesserte Auflage des alten Wallnertheaters, wie ja die besten Kräfte des Personals dem letzteren entnommen sind. Wir kommen später auf diese Punkte noch im Einzelnen zurück. Im Uebrigen soll gern anerkannt werden, daß 420 noch Niemand der Welt so geschickt und mit soviel Aufgebot origineller Reclame Sand in die Augen zu streuen verstand, als der Director des D.T. Und das ist heutzutage gewiß auch ein Verdienst. Herr L’Arronge ist der Barnum der deutschen Bühne. Das Residenztheater, das manchmal vortreffliche Vorstellungen und höchst glückliche Inscenirungen bringt, vernachlässigt die deutsche Dichtung 425 vollkommen und lebt nur von Frankreich und zwar von dem ausgesucht schlechteren Theil der französischen Production. Das Wallnertheater zerfällt von Tag zu Tag mehr in sich selbst, die alte Berliner Posse ist, wie der seichte, witzlose Kern beweist, mit dem sich das Centraltheater behilft, im Begriff, auszusterben, eine eigenartige Berliner Operette will sich immer noch nicht entwickeln, trotz 430 mancher Anstrengungen, die Herr Raida u.a. gemacht haben. - Kurz, überall, wohin wir in Berlin blicken, Trostlosigkeit, Verfall der alten Kunst ohne Hoffnung auf eine neue; Herrschaft der dreisten Unfähigkeit, die sich nur durch die Kunst der Reclame behauptet, Schlendern in der veralteten Bureau- und Regiestuhlroutine, kein einziger neuer fruchtbarer Gedanke, kein Raum für die Entfaltung und 435 Fortbildung eigenartiger, moderner Talente, und diese letzteren selbst nur in geringer Anzahl vorhanden. Und nirgends, wohin wir in Deutschland blicken, sieht es besser aus, nicht an den Hof-, nicht an den großen Stadttheatern. In München, das sich so gern die erste Kunststadt Deutschlands nennen hört, hält Possart die Zügel in Händen, ein Mann, der nie in seinem Leben etwas anderes gewesen, als 440 ein Virtuose, dem es stets nur darauf ankam, sich selbst mit möglichst viel Bumbum und Trara in Scene zu setzen, dem Kunst und Poesie vollständig gleichgiltige Dinge waren, und der nebenbei als Schauspieler die Unnatur und Manie- <?page no="85"?> Conrad Alberti 85 rirtheit in eigener Person ist. Man könnte mit Recht behaupten, Herr P. sei eigentlich gar nicht Schauspieler, sondern Sänger, denn wenn er einen Monolog 445 oder eine längere Rede spricht, so klingt es, als sänge er eine Arie, und im Dialog erscheinen uns seine Reden wie Recitative. Daneben bewundert man Frau Clara Ziegler, welche sich seit einer Reihe von Jahrzehnten umsonst bemüht, der Welt weiß zu machen, sie sei eine Künstlerin, sie, die in jedem Satze, den sie auf der Bühne spricht, verräth, daß sie wie ein Papagei nachspricht, was man ihr einge- 450 trichtert hat, daß sie absolut nicht den Sinn ihrer Worte versteht. Und man nenne mir das deutsche Theater, an dem bessere Zustände herrschen. Sieht es vielleicht in Stuttgart, in Karlsruhe besser aus? Ueberall dasselbe veraltete Repertoir, dieselbe ablehnende Kühle gegen bedeutende Neuheiten, gegen junge Talente, dasselbe Kunsthandwerk, das nach der alten Schablone geübt wird. Und wo sind die 455 einstigen Glanzzeiten der Bühnen von Mannheim und Weimar? Ihr goldenen Stätten, auf denen einst unsere Classiker ihre ersten Erfolge errungen, die schönsten Perlen ihrer Dichtungen zur ersten Aufführung gebracht haben, kein Dalberg, kein Göthe leitet euch mehr. Nüchtern und öde seid ihr geworden, eisiger Frost liegt über den Brettern, da einst warmes Leben zauberhaft webte, und in 460 den Nächten lange nach Schluß der Vorstellungen vernimmt man wohl ein leises Wehklagen und Schluchzen in den leeren Räumen des Parterre und zwischen den Coulissen: die Geister der Vorzeit sind’s, die unter einander Klage erheben um die entschwundene Herrlichkeit der klassischen Tage und die moderne Oede. Wer ist heute noch so naiv, zu glauben, daß von Meiningen aus, wie man einst 465 vermuthete, die Reformation der deutschen Bühne ausgehen würde? Jene schönen Zeiten, da hier ein neues, gesundes Leben zu erwachen schien, da wir die Dramen Lindner’s, Fitger’s in vollendeten Darstellungen über die Bretter gehen sahen, haben sich längst als unfruchtbar und zukunftslos erwiesen. Aus dem wandernden Hoftheater scheint nichts als ein vazirender Theatercircus zu wer- 470 den, der seine schönen Decorationen, seine noch immer glänzenden Inscenirungen in allen größeren Städten zur Schau stellt, von künstlerischer Einsicht aber ist in den Darstellungen der einzelnen Rollen, in der Auswahl der Stücke keine Spur mehr zu finden. Geld verdienen und zwar nichts als Geld verdienen, heißt jetzt auch hier die Losung. Die Freude, auch einmal bei festlicher Gelegenheit dem 475 Genius Ibsens eine Huldigung dargebracht zu sehen, wird vergällt durch die Betrachtung, daß er diese Ehre mit einem - Lindau und Voß theilen muß! Vom Dresdner Hoftheater gilt ungefähr, was man vom Wiener Burgtheater sagen kann. Es besitzt einen Stamm vortrefflicher alter Mitglieder, Frl. Berg, Fr. Bayer, Frl. Pauline Ulrich, Hrn. Porth, Hrn. Jaffé. Der jüngere Nachwuchs ist jedoch mit 480 nur vereinzelten Ausnahmen (wie Herr v.d. Osten, welcher in einigen Rollen höheren Stiles, wie Coriolanus, Manfred etc., gediegene Leistungen bot) ungenügend. So fehlt z.B. schon seit Jahren eine jugendliche Liebhaberin für die Tragödie und seit dem Abgange des Herrn Matkowsky ein befähigter jugendlicher Held. Die Oper übertrifft das Schauspiel. Die Ausstattung ist glänzend, zum mindesten 485 prunkend. Die äußeren Mittel sind in Hülle und Fülle vorhanden, eine frische, realistische Brise könnte hier vielleicht gesundes Leben erwecken. Immerhin ist das Dresdner Hoftheater noch eine der besten Bühnen Deutschlands. - In Mann- <?page no="86"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 86 heim hatte man auf die neue Aera unter Martersteig die größten Hoffnungen gesetzt und setzt sie noch, bis jetzt habe ich freilich von künstlerischen Thaten 490 noch nicht viel gehört. Die Belebungsversuche Grabbe’scher Stücke kann ich beim besten Willen nicht als solche anerkennen. Die größeren Stadttheater in Deutschland befinden sich ebenfalls in völligem Zerfall. Von Frankfurt und Hamburg könnte dasselbe gelten, was ich oben von Prag gesagt habe. Das Hamburger Thaliatheater war zu Cheri Maurice’s Zeiten eine Blüthe und Zierde der deutschen 495 Kunst, die Auswahl der darzustellenden Stücke wie die Darstellung selbst war von gleicher Trefflichkeit. Aber der Leiter der Bühne hat sich aus Gesundheitsrücksichten von seinem Werk zurückgezogen und unter der Direction des klugen und geschäftsgewandten und auch sehr bühnenkundigen Pollini, dem nur leider die Kunst gleichgiltige Sache ist, sobald er nicht sehr viel bei ihr verdienen kann, 500 geht das Theater von Tag zu Tag zurück. Doch scheint er sich in der letzten Zeit eines Besseren besonnen zu haben, indem er zwei der genialsten Kräfte der deutschen Bühne, Frau Ellmenreich und Herrn Matkowsky, an sein Theater zu fesseln verstand. Es ist Aussicht, daß mit solchen Kräften das Hamburger Stadttheater schauspielerisch bald seine alte Höhe erklimmen wird. Wie konnte man sich aber 505 am Berliner Hoftheater zwei Künstler solcher Art entgehen lassen! Ich kann unmöglich hier jedes deutsche Hof- und Stadttheater namentlich anführen, was ich von einigen sage, gilt von Allen; nirgends ein frischer, freier, moderner Geist, überall nur Erstarren in der alten, hergebrachten Form, überall dieselbe klägliche Verständnißlosigkeit, die Furcht vor dem Hofe oder vor der Polizei, überall der 510 alte, gute Schlendrian, überall dieselbe mittelmäßige oder elende Darstellung, in deren Vordergrunde oft dieser oder jener Virtuose steht, allenthalben dasselbe Unvermögen der Zuschauer, Gutes vom Schlechten zu unterscheiden, die gleiche dumpfe, träge Gedankenlosigkeit, bei allen Theilen dieselbe unberechtigte und übertriebene Anbetung der ausländischen Production auf Kosten der einheimi- 515 schen oder thörichte Ablehnung gegen das Gute aus dem Auslande und Beharren im vaterländischen Philisterthum. Das ist der gegenwärtige Zustand des deutschen Theaters. Daß es auf den kleineren Bühnen noch schlimmer aussieht, wird mir jeder glauben. Die Schattenseiten unseres Bühnenlebens treten da noch grober hervor. 520 Neben den neuesten Mißgeburten von Lubliner und Moser figuriren da noch immer fleißig „Die Räuber von Maria-Kulm“ oder die blödesten aller Possen auf dem Spielzettel. Kein vernünftiger Mensch, dem es Ernst ist mit der Kunst, der in derselben nur ein klein wenig mehr sieht, als flüchtigen Sinneskitzel, dem es nicht gleich- 525 giltig ist, welche geistige Nahrung dem Volke in der so anziehenden und begehrlich machenden Form der theatralischen Aufführung gereicht wird, wird sich der Ueberzeugung verschließen können, daß es so nicht mehr weiter geht, daß hier eine Aenderung eintreten muß, wenn nicht in ein paar Jahrzehnten der Geschmack des Volkes vollständig verdorben sein soll, wenn es nicht in kürzester 530 Frist schon heißen soll: „finis artis! “ Denn daß wir mit mächtigen Segeln auf dieses Ziel zusteuern, kann nicht bezweifelt werden. Hier kann nur genaue und rasche Untersuchung der Ursachen dieser Mißstände zur Erkenntniß der nothwen- <?page no="87"?> Conrad Alberti 87 digen Verbesserungen und Durchführung derselben führen. Gehen wir ruhig im alten Schlendrian weiter, lassen wir es zu, daß dem Volke möglichst schlechte, 535 überflüssige und unverdauliche Kost immer wieder und wieder in der schlechtesten Zubereitung geliefert wird, so müssen wir nothwendig dahin kommen, daß der Geschmack und die künstlerische Urtheilsfähigkeit beim Volke wie bei den Gebildeten sich immer mehr und mehr verringern und schließlich gänzlich aufhören oder in ihr Gegentheil, die Freude am Flachen, Unbedeutenden oder 540 Häßlichen umschlagen, daß wir ein Volk von Böotiern erhalten, dem das leiseste Verständniß für geistige Leistungen abgeht, daß unsere Production sich immer mehr und mehr verseichtet und verflacht, daß wir nicht mehr fähig sind, ein großes Kunstwerk, einen großen Bühnenschriftsteller oder Schauspieler hervorzubringen noch zu verstehen, daß unsere dramatische Production, wie sie es jetzt 545 beinahe schon ist, zum Spott aller vorwärts strebenden andern Nationen, zum Beispiel der Skandinavier, wird, daß mit einem Worte unser deutsches Volk, das Volk der „Denker und Dichter“ zu einem Volke von Kunstbarbaren wird und die geistige Thätigkeit dem Volke selbst dem Handwerk gleichzustehen scheint. Es ist merkwürdig, daß von allen denen, welchen das Wohl und Wehe des 550 Theaters aus künstlerischen oder materiellen Rücksichten am Herzen liegt, der Nothstand unserer nationalen Bühne auch in den Hauptpunkten gar nicht bestritten, sondern mit bedauerndem Achselzucken in der Regel zugegeben wird. Nur will jeder Theil selbst keine Schuld am Unglück des Ganzen tragen, nur will jeder die Schuld auf andere am Werke mitschaffende Theile abwälzen und von 555 diesen die nothwendige Reform ausgehen sehen. „Ja,“ sagt das Publikum, „wir geben ja zu, daß die meisten neuen Stücke, die wir auf unseren Bühnen zu sehen bekommen, nicht viel taugen, aber was sollen wir thun? Liegt die Schuld an uns? Warum schreiben uns unsere Herren Dichter nicht gute Stücke, welche die Fragen der Zeit behandeln? Wir würden schon hineingehen. Nur dürften sie nicht zu 560 traurig und nicht zu aufregend sein! “ - „Die Fragen der Zeit auf der Bühne behandeln? “ rufen die Dramatiker mit Hohnlachen aus. „Seid doch so gut und zeigt mir den Theaterdirector, der den Muth haben würde, ein Stück aufzuführen, in dem die sociale Frage oder der Culturkampf behandelt würde? Zeigt uns das Publikum, welches sich dafür interessirte, welches Verlangen darnach trüge, die 565 Art und die Mißstände, von denen es im Leben genug gepeinigt wird, im Spiegelbilde der Bühne, des Abends, wenn es sich harmlos unterhalten will, noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen.“ - „Um Himmels Willen! “ schreit der Theaterdirector dem Schriftsteller zu, „Sie wollen mir doch nicht etwa eine socialistische Arbeiterversammlung oder die Vertreibung eines renitenten Geistlichen 570 auf die Bühne bringen? Sind Sie bei Sinnen? Dergleichen weist mir die Censur ja unerbittlich von der Schwelle ab! Wollen Sie mich mit dem Strafgesetz in Conflict bringen? Und selbst wenn ich das Stück durch die Censur brächte; denken Sie, die Aufführung ergäbe einen Theaterscandal in der besten Form. Den muß ich um meines Renommées willen vermeiden! Und wie würde am nächsten Tage die 575 Presse der Socialisten oder Ultramontanen über mich herfallen! Ich wäre ein ruinirter Mann! “ So sucht einer immer dem andern die Schuld zuzuwälzen, daß Alles im alten Schlendrian bleibt, und keiner wagt einen großen, befreienden <?page no="88"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 88 Schritt, eine „rettende That“, denn jeder fürchtet den andern. Wer aber von ihnen hat Recht, hat Unrecht? Alle haben sie beides in gleichem Maße, ja noch mehr 580 Factoren sind daran betheiligt. Nicht den Fehlern eines einzigen Theiles verdanken wir unser Theaterelend, nicht eine Seite allein darf wegen desselben angeklagt werden. Staatsbehörde und Bühnenleiter, Darsteller und Dichter, Publikum und Presse, sie alle haben ihren wohlgemessenen Theil der Schuld. Versuchen wir uns im Folgenden klar zu machen, in wie fern und bis zu welchem Grade jede 585 Partei an dem Verfall betheiligt ist, und auf welche Weise sie ihr Vergehen wider die Kunst wieder gut zu machen, die übeln Folgen ihres Verhaltens zu beseitigen im Stande ist. Wir haben schon oben nachgewiesen, daß und welches Interesse der Staat an einem guten Theater im Lande hat. Der Mensch lebt nicht vom Brod allein, er hat 590 auch ein Bedürfniß nach geistiger Nahrung, nach künstlerischen Genüssen. Dies Bedürfniß ist tief in der menschlichen Natur begründet, denn die Kunst ist nichts Zufälliges, keine willkürliche, sondern eine nothwendige Schöpfung des menschlichen Geistes, die mit zwingender Gewalt aus der natürlichen Organisation desselben, aus den geistigen Bedürfnissen des Menschen hervorging. Darum bildet 595 sie einen integrirenden und wichtigen Bestandtheil des öffentlichen Lebens, darum unterliegt sie der Fürsorge, Antheilnahme und Unterstützung des Staates, darum ist die Kunstfrage genau so wichtig und brennend wie die sociale, religiöse oder militärische. Von allen Künsten ist aber die theatralische die, welche der tiefsten und nachhaltigsten Wirkung auf die große Mehrzahl fähig ist, wie wir 600 oben dargethan haben, daher muß sie ganz besonders der wohlwollenden Antheilnahme und Unterstützung seitens des Staates und seiner Behörden unterliegen. Es genügt nicht, daß diese Antheilnahme sich nur in einer alljährlichen Subvention für das Hoftheater des Landes bethätigt (die noch dazu in manchen Ländern aus der Privatkasse des Monarchen fließt). Eine solche mehr oder min- 605 der bedeutende Geldunterstützung ist für nichts zu rechnen, es ist ein Almosen, ein Bettelpfennig, den man der Kunst hinwirft, während dieselbe ebenso sehr Anspruch auf Beachtung und Unterstützung seitens des Staates hat, wie jeder andere Zweig des öffentlichen Lebens. Warme Fürsorge und Antheilnahme seitens des Staates und der leitenden Behörden kann und muß sie beanspruchen 610 und zum mindesten darf sie fordern, daß ihrer freien Entwickelung kein Hinderniß in den Weg gelegt werde. Das ist doch wahrhaftig das allermindeste! Wie aber sieht es mit der freundlichen Antheilnahme des Staates, der Behörden an der theatralischen Kunst in Deutschland aus? So bedauerlich es ist, so muß es doch frei heraus gesagt werden, daß eine solche so gut wie gar nicht existirt, daß sich 615 der Einfluß des Staates auf die dramatische Kunst in Deutschland vielmehr in geradezu verderblicher Weise äußert. Hier hilft kein Beschönigen, kein Bemänteln, hier kann nur die reine, ungeschminkte Wahrheit helfen. Wer hegte nicht die tiefste und aufrichtigste Verehrung für den Mann, der die Geschicke Deutschlands nach außen wie nach innen in gleich gewaltiger Art zum 620 Heile des Vaterlands leitet, dessen umfassender Riesengeist auch dem kleinsten Rädchen der Staatsmaschine seinen eigenartigen Stempel aufdrückt und ohne dessen Zustimmung nicht die geringste Veränderung in derselben geschehen, <?page no="89"?> Conrad Alberti 89 nicht der unscheinbarste Theil sich regen darf? Welch’ gewaltige Reformen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens verdanken wir diesem, in seinem Jahr- 625 hundert einzig dastehenden Manne! Aber bei aller Verehrung vor dem Genie des erlauchten Mannes wird es doch der Kunst nicht verwehrt sein, zu erklären, daß sie von demselben bis jetzt fast völlig übersehen oder vernachlässigt worden ist, oder zum mindesten, daß von dem reformatorischen Riesengeiste jenes Mannes, der sich auf anderen Gebieten bemerkbar machte, bei ihr noch kein Hauch zu 630 spüren gewesen ist, trotzdem sie es sicher nicht hat fehlen lassen (wenn man dies überhaupt als ein wenn auch schwaches Argument gelten lassen will), auch ihrerseits ihm ihre Huldigungen darzubringen. Es ist rühmlich und edel und eine unsterbliche That, das Vaterland zu einen und eine Verbesserung der socialen Mißstände in demselben anzubahnen, aber neben dem Socialistengesetz und dem 635 Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen darf auch die Kunst nicht ganz vernachlässigt werden. Was aber bisher in der letzten Zeit für die Kunst und besonders für das Theater in Deutschland geschehen ist, läßt durchaus nicht erkennen, daß Deutschland das Glück hat, unter der Aegide eines so großen und weisen Staatsmannes zu stehen. Von einem Manne wie unser Reichskanzler, der sich 640 gewaltig über den Kreis der märkischen Junker emporhebt, aus denen er heraus gewachsen ist, hat man das Recht zu verlangen, daß er doch von der Kunst ein wenig andere, höhere Begriffe habe, als die meisten seiner früheren Standesgenossen, denen freilich wohl noch heute eine Zuckerrübe von zehn Pfund mehr bedeuten mag, als die milonische Venus oder eine Tragödie des Sophokles. Aber 645 weil Fürst Bismarck selbst seine kostbare Zeit durch die Aufgaben der praktischen äußeren und inneren Politik so sehr in Anspruch genommen sieht, daß er die Muße und Ruhe nicht finden kann, welche die Beschäftigung mit der Kunst nun einmal verlangt, weil die Nothwendigkeit auf die Freuden der Kunst und zumal des Theaters zu verzichten schließlich in ihm das Verlangen nach densel- 650 ben getödtet hat, darf er noch nicht voraussetzen, daß auch wir andern Erdenmenschen, die nicht so hohe und viele politische Aufgaben unermüdlich beschäftigen, kein Interesse an dem Blühen und der Fortentwickelung der Kunst und zumal der nationalen Bühne besäßen. Wenn Fürst Bismarck bisher sein Interesse für Kunst und Literatur kund gethan hat - ich sage es frei heraus, denn ich bin 655 zwar sein Bewunderer und ein ehrlicherer und überzeugterer als die meisten seiner byzantinisirenden Verehrer, aber darum doch nicht sein Speichellecker - wenn Fürst Bismarck bisher einmal sein Interesse für einen Gegenstand der Kunst und Literatur kund gegeben hat, so ist dies nie zum Vortheil der letzteren noch zu seinem eigenen geschehen. Man denke an den Brief, den er dem Verfasser der 660 „Familie Buchholz“ geschrieben und mit dem der geschäftsgewandte Autor und sein geschickter Verleger in so glänzender Weise für sich Reclame zu machen verstanden! Alle Verehrung vor den gewiß nicht hoch genug zu schätzenden literarische[n] Kenntnissen des Herrn Reichskanzlers, alle Verehrung für die treffende Richtigkeit seines literarischen Urteils, alles Lob für die humorreichen und 665 von scharfer realistischer Beobachtungsgabe zeugenden Schilderungen aus dem Berliner Kleinbürgerleben, wie sie in der „Familie Buchholz“ zu finden sind - aber ob gerade dieses Buch wirklich die große literarische That der modernen <?page no="90"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 90 Zeit, das epochemachende Werk des Jahrhunderts ist, ob kein Schriftsteller in Deutschland lebt, der es wagen darf, sich neben Julius Stinde zu stellen, ob Spiel- 670 hagen, Hamerling, Anzengruber, Rosegger, Wildenbruch, Heiberg, Bleibtreu, u.a. nichts, gar nichts geschaffen habe, was sich der „Familie Buchholz“ an die Seite stellen könnte oder sie vielleicht gar überträfe, und was des Interesses, der Lectüre des Herrn Reichskanzlers und eines kurzen anerkennenden Wortes ebenso würdig wäre, als jenes ja recht liebenswürdig geschriebene Buch; ich möchte es in 675 aller Ehrerbietung vor des Herrn Reichskanzlers Urtheil bezweifeln. Eine Zeile des Fürsten hätte den unglücklichen, beklagenswerthen Albert Lindner vor dem Hunger bewahrt, hätte der Familie, den trauernden Kindern, der Kunst, dem Vaterlande dieses große und ursprüngliche Talent erhalten, so wie eine Zeile von ihm Stinde zum reichen Manne gemacht hat! Denn ohne jenen Brief würde das 680 Buch, wie es nun einmal leider bei uns in Deutschland ist, kaum seine 50 Auflagen erlebt haben, da es denn doch schließlich immer noch kein „Ekkehard“ oder „Soll und Haben“ ist. Daß aber der Herr Reichskanzler nicht hätte voraus wissen sollen, welche gewaltige Wirkung jene große und bei ihm einzig in ihrer Art dastehende Empfehlung in der ganzen Welt machen würde, vermag ich unmöglich 685 zu glauben. Zu gut kennt Fürst Bismarck die Liebe und Verehrung, welche man ihm nicht nur im Vaterlande, nein allenthalben zollt, und er weiß zu gut, daß sein Wort nicht nur gilt und wie ein Orakel betrachtet wird, wenn er im Reichstage mit unwiderstehlicher Gewalt seine Politik gegen kleinliche und hämische Angriffe vertheidigt, sondern auch, wenn es ihm einmal beliebt, in einer verlorenen 690 Stunde einer launigen Anwandlung folgend, den Buchrecensenten zu spielen. Indessen gut, die sollen einmal Recht behalten, welche behaupten, daß die Kunst sich selbständig und frei aus sich heraus entwickeln müsse, daß es besser für sie sei, sie wachse ohne Unterstützung der Großen, ohne Hilfe des Staates empor, damit ihr nie auch nur der geringste Verdacht erwachen könne, damit nie 695 eine weltliche Macht auch nur den Schein eines Rechtstitels besitze, von ihr zu verlangen, daß sie ihr die eigene Freiheit und Selbstständigkeit opfere und sich zur Liebedienerei und Speichelleckerei ihres Beschützers erniedrige. Die Kunst, das Theater soll jeder Förderung seitens des Staates entrathen. Nun, dann darf es aber doch wenigstens darauf Anspruch erheben, nicht von demselben geknechtet 700 und in der freien Entwickelung gehemmt zu werden. Der Grundsatz hat noch bis auf den heutigen Tag bei allen Verständigen unbestrittene Giltigkeit gehabt, daß Kunst und Wissenschaft frei sein müssen, durchaus und unbedingt frei. Dies haben selbst solche nicht bestritten, welche von einer unbedingten und allgemeinen Toleranz und Freiheit in Politik, Religion und Presse nichts wissen wollten. 705 Die Freiheit der Bewegung, der Entwickelung ist der Kunst unentbehrlich wie der Pflanze das Licht, ohne dasselbe wird sie nur ein Scheinleben führen, nur schwache und klägliche Producte zur Welt bringen. Eine Kunst im Staate zulassen und sie in der Wahl ihrer Stoffe, Motive und Behandlungsweise beschränken oder einer Controle unterwerfen, heißt ein bemanntes Schiff ohne Ruder und Steuer 710 in’s Meer senden, heißt einen Gast zu Tisch bitten und ihm die Serviette vor den Mund binden. Die Beschränkung der dramatischen Kunst durch die Censur, die Polizei, wie sie noch in den meisten Ländern besteht, ist ein nicht zu rechtferti- <?page no="91"?> Conrad Alberti 91 gender Angriff auf die Kunst, eine Bevormundung derselben, der sie schon längst entwachsen ist. Der Staat erscheint da wie ein schlechter und eigensüchtiger 715 Vormund, der die Unkenntniß des Mündels, wie solche Fälle ja in der Gerichtspraxis existiren, in der Weise zu seinem Vortheil ausbeutet, daß er demselben einredet, elternlose Kinder würden nie majorenn, sondern bedürften zu allen sie verpflichtenden Handlungen stets der Einwilligung des Vormundes. So macht auch der Staat der Bühne weiß, sie werde niemals mündig, sie bedürfe um ihres 720 und des Staatswohles willen zu allen Handlungen, zu jeder Einübung eines neuen Stückes die polizeiliche Erlaubniß. Ich kenne keine staatliche Einrichtung, die dringendere Abschaffung oder wenigstens eine gründlichere Reform verlangt, als die Theatercensur. Welchen Zweck, welchen Werth hat dieselbe? Sie ist ein Zopf, eine bloße Chicane, ein Ueberrest aus der „alten guten Zeit“, nichts 725 mehr. Hält man unser Volk für so unreif, daß man nicht wagt, ihm den uneingeschränkten Genuß aller Theatervorstellungen zu gestatten? Warum hat man ihm dann die Preßfreiheit gegeben? Ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zwischen Preß- und Theaterfreiheit. Die Presse wie das Theater üben einen großen 730 Einfluß auf die Stimmung und Bildung des Volkes aus, aber ich bestreite, daß der des Theaters der größere ist, daß ein auf dem Theater zu unrecht gefallenes Werk in der Zuhörerschaft üblere Folgen anrichten, verderblicher auf dieselbe wirken könne, als eine Ungehörigkeit, eine Aufreizung in der Presse. Was die Bühne durch die unmittelbar zündende Gewalt des gesprochenen Wortes voraus hat, 735 das bringt sich die Presse durch den ungleich weiteren Leserkreis, dem jede einzelne Nummer zu Augen kommt, wieder ein. Dieselben Gründe, die für Aufhebung der Preßcensur sprachen, sprechen auch für die der Theatercensur: es ist eine Inconsequenz, die eine zu bewilligen, die andere zu verweigern. Wir denken sehr hoch von dem Werth und dem Einfluß der Bühne auf das Volk; aber daß 740 zum Beispiel die Schilderung einer Revolutionsscene, die Charakteristik eines Atheisten gleich in die Brust der ganzen Zuhörerschaft den Samen des Revolutionsgedankens, der Gottlosigkeit streuen sollte: wahrhaftig nein, das glauben wir nicht. Man überschätzt in dieser Hinsicht den Einfluß des Theaters nur zu oft. Noch nie sind junge, unschuldige Frauen dadurch, daß sie häufig die französi- 745 schen Sittendramen besuchten, zum Ehebruch verführt worden, eben so wenig dürfte ein Arbeiter durch die wahrheitsgetreue Darstellung eines Strikes bewegt werden, gleich hinzugehen und die Arbeit niederzulegen. Aber nun wage einmal ein Schriftsteller, ein Arbeiterstück zu schreiben, in dem ein Strike und dessen Verlauf naturgetreu geschildert ist! Die Censur wiese es ihm von der Schwelle 750 zurück. Ich meine hinsichtlich des Theaters dürfte nur das Gesetz gelten: Alles ist zur Aufführung erlaubt, was wahrhaften Kunstwerth besitzt und dem Publikum und der Kritik gefällt. Nur die letzteren beiden sollten das Recht haben, durch ihren materiellen und moralischen Einfluß freie Censur zu üben, und das Aufsichtsrecht der Polizei im Theater dürfte sich nur auf die Erhaltung der Ordnung 755 im Hause beziehen, der Raum zwischen dem Orchester, dem Prospect und den Coulissen müßte der Polizei ein Tabu sein. Würde es nicht genügen, wenn der Staat sich wegen jedes Theatervergehens nachträglich an die Person des Schuldi- <?page no="92"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 92 gen hielt, wie bei den Preßvergehen? Es müßte dann ebenfalls das sogenannte „Cascadengesetz“ eingeführt werden, welches die Verantwortlichkeit vom 760 Schauspieler zum Regisseur, von dem zum Theaterinhaber, von diesem zum Verfasser leitete. Die lästige, nicht zu rechtfertigende Censur wäre dann beseitigt, und die Theaterdirectoren, resp. die Autoren, die ja immer die factische Strafe träfe, würden Freiheit im Schaffen und Handeln genießen und sich doch klugerweise in Acht nehmen, gegen die Gesetze des Staates zu fehlen. Es wäre dann 765 nöthig, ein dem Preßgesetz analoges Theatergesetz zu schaffen, natürlich mit den durch die sachlichen Unterschiede gebotenen Abänderungen. Die Höhe der Strafen müßte mit den Wiederholungen steigen, von Geldzu Gefängnißstrafen übergehen, und in der Schließung des Theaters gipfeln. Niemand wird behaupten, daß ein solches Gesetz nicht hinreichenden Schutz gegen fahrlässige und 770 absichtliche Fehlgriffe der Bühnenleiter und Dramatiker gäbe. Die faulen gedankenlosen Theaterdirectoren, die vor jeder neuen Idee zittern, die nichts Ungewohntes auf ihrer Bühne sehen wollen und nur Alles im Gange der gewohnten Routine, das heißt des alten Schlendrians lassen wollen, die das Publikum tagaus tagein mit derselben hundertmal wieder aufgewärmten und zu 775 neuer Gestalt verarbeiteten albernen Schwänken füttern - diese werden allerdings nicht sehr erbaut von dem obigen Vorschlage sein, der ihnen mit einem Male eine Verantwortlichkeit für ihre eigenen Handlungen auferlegen will, über welche sie bisher der Maulkorb des Censors bequem hinwegleitete. Für den denkfaulen, immer im alten Geleise stehenden Bühnenleiter ist freilich die Censur 780 eine gar bequeme Eselsbrücke, sie überhebt ihn aller Verantwortlichkeit, und er empfindet gar nicht das drückende dieser Einrichtung, die ihn, einen gereiften, verständigen, kunstsinnigen Mann, den Leiter eines großen Unternehmens, an dem Hunderte betheiligt sind, zum Sklaven des Gutdünkens eines beliebigen Censors macht, der von Kunst oft die seltsamsten Begriffe hat - eine Einrichtung, 785 welche die Kunst, die schönste, höchste Entwickelungsstufe des menschlichen Geistes unter das Curatel der Polizei stellt! Aber ein Mann, dem es Ernst ist mit seiner Kunst, der eine Ehre darein setzt, selbst im ganzen Umfange zu vertreten, was er thut, und sich von Niemandem in seinem beruflichen Thun beschränken zu lassen, ein Mann, dem die Fortbildung und moderne Umbildung der deut- 790 schen Bühne am Herzen liegt - ein solcher würde den Tag mit Freude begrüßen, an dem die leidige Schranke zwischen ihm und der reinen vollen Hingabe an die Kunst gänzlich fiele. Das Publikum hat ein Recht und eine Pflicht zu verlangen, daß ihm Alles auf der Bühne vorgeführt werde, was bühnengemäß ist und nicht gegen die Gesetze des Landes verstößt, und daß nicht ein wirklich bühnenwirk- 795 sames Werk aus Gründen, die nur einer Polizistenseele bekannt sind, ihm für die Dauer entzogen bleibe. Ich will nicht reden von der unheilvollen Wirksamkeit der Theatercensur in anderen Ländern, zum Beispiel in Rußland, wo selbst die harmloseste und ehrbarste aller Operetten, „Fatinitza“, sich einer gänzlichen Umarbeitung unterzie- 800 hen lassen mußte, weil die K. Censurbehörde es nicht für angebracht hielt, daß die Kämpfe des türkischen Krieges auch nur im leichten Gewande der Operette auf der Bühne erschienen. Natürlich ging bei der Umarbeitung in italienische <?page no="93"?> Conrad Alberti 93 oder holländische Verhältnisse - ich weiß es nicht mehr - der ganze Reiz des Originals verloren, der eben auf der scharfen Charakteristik der russischen und tür- 805 kischen Gestalten, Kantschukoff’s und des Paschas, beruhte. Ich will nicht davon reden, wie unsere Classiker auf der russischen Bühne maltraitirt werden, wie die Aufführung des „Fiesko“ erst vor Kurzem ermöglicht werden konnte, und „Wilhelm Tell“ noch heut’ nicht die Bühne überschreiten darf, weil in demselben ein Beamtenmord vorkommt, eine Sache, die in Rußland alle Tage auf der Straße 810 geschieht und über die sich keine Katze wundern würde, wenn sie einmal auf der Bühne dargestellt würde. Ich will nicht davon sprechen, daß es in Oesterreich nur ein wenig besser zugeht, daß noch in den jüngsten Tagen Blumenthal’s „Tropfen Gift“, sicherlich nicht zu seinem Vortheil, für die Aufführung im Burgtheater so umgearbeitet werden mußte, daß die in demselben berührten politischen Ver- 815 hältnisse gänzlich in Schleier gehüllt wurden. Kann ein solches Verfahren etwas anderes erwecken als ein mitleidiges Lächeln bei allen Verständigen? Tausenden von gebildeten und vernünftigen Menschen einen Kunstgenuß verstümmeln und verkümmern, weil in demselben mit ein paar harmlosen, unschuldigen Worten Verhältnisse berührt werden, welche der Geschichte angehören, welche jedem 820 Gemeindeschüler vertraut sind! Wie rührend diese ängstliche Fürsorge für das Heil des feinsinnigen Burgtheaterpublikums, welches durch die Erwähnung der Thatsache auf der Bühne, daß Oesterreich im Jahre 1866 tüchtige Schläge bekommen, weil es die Einigung Deutschlands hindern wollte, an seiner Seele Schaden nehmen könnte! 825 Aber ich glaube, wir haben gar keinen Grund, über unsere österreichischen Nachbarn zu schelten oder zu spotten, wir, denen selbst ein gehöriger Balken im Auge steckt. Noch in der jüngsten Vergangenheit haben wir merkwürdige Beispiele für die Wirksamkeit unserer Theatercensur gehabt. Das dramatische Werk eines jungen Dichters, „Sedan“ von Heinrich Hart, sollte an einem Berliner Thea- 830 ter zur ersten Aufführung kommen, und in allen Kreisen, in denen noch ein wenig Interesse für Kunst und Poesie wach ist, war man auf diese Aufführung nicht wenig gespannt. Da erschien während einer der Proben ein Beamter der Berliner Polizei auf der Bühne jenes Theaters, der die Aufführung im Namen seiner Behörde verbot. Aus Rücksicht auf Frankreich, weil in dem Stücke Napoleon, Euge- 835 nie und andere historische Persönlichkeiten handeln und auftreten. Nicht wahr, wir Deutsche sind doch gute, edle, tactvolle Menschen? Um vorzubeugen, daß vielleicht irgend ein französischer Windbeutel sich darüber in seiner Seele gekränkt fühlen könnte, daß einmal ein echter deutscher Dichter es wagt, die großen Jahre seines Vaterlandes poetisch zu verherrlichen, verbietet man die Auffüh- 840 rung, mag auch darüber ein junger Dichter in seinem Künstlerrechte gekränkt werden, mag auch dem deutschen Publikum ein reiner und hehrer Genuß - wenigstens reiner und edler als die Vorstellungen gemeiner Pariser Schwänke, die anstandslos erlaubt werden - direct verloren gehen. Welches Recht haben wir Deutschen in Deutschland? Erst müssen ja die Franzosen zufrieden gestellt wer- 845 den, dann kommen wir an die Reihe. Ei, warum fragen wir denn nicht gleich bei allem, was wir denken und thun wollen, vorher in Paris an, ob Mr. Grevy nichts dagegen hat? Ja, was hätten von uns taktvollen Deutschen die alten Hellenen z.B. <?page no="94"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 94 nicht lernen können! Diese tactlosen, künstlerisch ungebildeten Menschen fragten den Henker darnach, ob die Perser sich gekränkt fühlen würden, wenn sie König 850 Xerxes und seine Familie unmittelbar nach der Schlacht bei Salamis auf die Bühne brächten, sie gaben dem Aeschylos einfach die Erlaubniß, seine „Perser“ aufzuführen - und retteten der Menschheit ein unsterbliches Kunstwerk der Poesie. Wenn wir ein Gesetz hätten, welches Theatercensurentscheidungen der Bestätigung eines Gerichtshofes unterwiese, so wäre Hart’s „Sedan“ uns gewiß nicht 855 vorenthalten worden. Nur der bedauerlichen vollständigen Abwendung unseres verehrten Reichskanzlers verdanken wir die Möglichkeit solcher Zustände, wie die oben geschilderten, sonst würde er, der das Panier der nationalen Selbstständigkeit hoch hält, die nur thut, was Recht ist und scheint, ohne Rücksicht, ob andere Nationen zustimmen oder sich gekränkt glauben, nicht gestattet haben, daß 860 einem nationalen Dichter, der nationalen Kunst aus übertriebenem Zartgefühl für ein fremdes Volk, das uns stets feindlich gewesen, auch nur ein geringer Schaden zugefügt werde - er würde ein gewaltiges Machtwort gesprochen haben. Als man jüngst im Residenztheater zu Berlin eines der erhabensten und erschütterndsten Werke der modernen Poesie, Ibsen’s „Gespenster“, dieses „Mene Tekel“ für un- 865 sere in Wollust verlodderte Generation, aufführen wollte, gelang es mit Mühe und Noth, der Berliner Polizeibehörde die Erlaubniß zu einer einmaligen Aufführung zu wohlthätigen Zwecken abzuringen, während die Veröffentlichung spaltenlanger Berichte über Berliner Scandalprocesse in den Zeitungen ungestraft gestattet ist, in denen die schamlosesten Familienintima haarklein abgehandelt 870 werden. Schmach und Schande über eine Zeit, die sich den einmaligen Genuß echter Dichterschöpfungen polizeilich erlauben lassen muß, indeß ein Proceß Gräf, ein Proceß Conrad bei offenen Gerichtsthüren verhandelt werden, in Anwesenheit junger Mädchen der „guten Gesellschaft“! Solche Beispiele ließen sich in großer Zahl anführen, aber ich denke, diese ge- 875 nügen vollauf. Wie soll sich unter solchen Verhältnissen eine gesunde nationale moderne Kunst entwickeln? Wie soll ein modernes Drama geschaffen werden, wenn es unmöglich ist, Fragen der Politik oder des socialen Lebens, welche die moderne Zeit vorwiegend beherrschen, in realistisch treuer Zeichnung der Verhältnisse für das Theater zu behandeln? Wenn es verboten wird, historische Per- 880 sönlichkeiten der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit mit dem Hauche der Poesie zu umgeben? Man erinnere sich, wie Börne, als er nach Paris kam und in den Boulevardtheatern die Geschichte der jüngsten Vergangenheit gespielt sah, über diesen Fortschritt, diese Theaterfreiheit aufjubelte und erklärte, nur so könne sich nach und nach ein gesundes nationales Drama entwickeln. Wie sind unsere 885 augenblicklichen öffentlichen Zustände, unsere ganzen socialen, politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Verhältnisse dazu angethan, sie in neuen aristophanischen Komödien darzustellen! Aber wie wäre das möglich, wenn es verboten wird, Persönlichkeiten des Tages auf die Bühne zu bringen, und Menschen und Zustände bei den richtigen Namen zu nennen. Solche Verhältnisse 890 müssen einen wirklichen Dichter ja abschrecken, sich an gute Vorwürfe zu wagen. Welch’ köstlichen Stoff zu einer aristophanischen Komödie hätte die Branntweinmonopolvorlage oder der Antisemitismus gegeben? Aber wer soll <?page no="95"?> Conrad Alberti 95 sich der überflüssigen Mühe unterziehen, seine Zeit an eine Arbeit zu wagen, die er nie hoffen darf, auf der Bühne zum vollen Leben gelangen zu sehen? Niemals, 895 so lange die Theatercensur besteht, werden wir aus dem circulus vitiosus herauskommen, daß das Publikum der Römer- und Mittelaltertragödien satt ist, der Timandren und Conradine, daß es aber die historischen Stücke, welche noch in die moderne Zeit hineinspielende Conflicte behandeln, Bulthaupt’s „Neue Welt“, Fitger’s „Von Gottes Gnaden“ und die Dramen, welche rein moderne Conflicte 900 behandeln, aus Censurrücksichten nicht zu sehen bekommt, daß es ein Ekel vor dem sogenannten modernen Lustspiel und der Posse erfüllt, die immer wieder die alten, hundertmal dagewesenen Scherze und Situationen bringen, daß aber eine wahrhaft moderne, gesunde Komödie über die Schranke der Censur nicht hinwegkann. Denn die letztere wird ihre Praxis nie ändern, sie kann ihrem gan- 905 zen Wesen nach nicht tolerant sein. Auch die gute alte Berliner Posse, wie sie durch Kalisch, Salingré u.a. eine so hohe Stufe der Ausbildung erlangt hatte, daß einzelne ihrer lebenssprühenden, durch und durch realistischen Erzeugnisse geradezu die Bezeichnung classisch verdienen, geht zum Theil infolge der in jüngster Zeit bedeutend verschärften Theatercensur ihrem Untergang entgegen. 910 Früher war man milde und duldete in dem Couplet, dem so wichtigen Bestandtheil der modernen Posse, der die antike Parabase ersetzt, die größtmöglichste Freiheit; alle öffentlichen Zustände unterlagen der Geißel desselben und seine Hiebe pflegten zu sitzen. Heute streicht die Censur unweigerlich jeden Vers, der nur ein wenig an Politik oder nicht ganz liebsame Vorgänge in der Oeffent- 915 lichkeit anklingt, und läßt dem Couplet und dem Dialog keine anderen Witzobjecte, als die längst veralteten, das Straßenpflaster, die Damenmoden, den Leichtsinn der Frauen und a.m., so daß unser Publikum bei der Posse von heute, die ihm fast immer die ältesten, längst bekannten Gerichte vorsetzt, beinah einschläft, und diese große und mächtige und in ihrer culturgeschichtlichen Bedeutung 920 nicht zu unterschätzende Kunstgattung, welche ein getreuer Spiegel der ernsten und heitern Seiten des Lebens der unteren Classen sein soll, so gut wie auf dem Aussterbeetat steht. - So stehen wir denn rettungslos vor der Alternative: Gänzlicher Verfall der Bühne oder Aufhebung der Theatercensur und Einführung eines dem Preßgesetz ähnlichen Theatergesetzes. 925 Um eine gewisse Garantie zu schaffen, daß die neue Freiheit nicht von Unwürdigen freventlich ausgebeutet würde, könnte man die Theatergewerbefreiheit bedeutend einschränken, denn diese hat der deutschen Bühne nur Unsegen gebracht, sie hat einer Menge Menschen das Directionsscepter in die Hand gegeben, welche weder sittliche noch geistige Fähigkeiten noch materielle Mittel genug zur 930 Führung eines so schwierigen Unternehmens besaßen, wie es ein Theater ist, auf welchem stets die Existenz von hundert oder ein paar hundert Menschen beruht. Die Kunst braucht künstlerische, nicht wirthschaftliche ungehinderte Bewegungsfreiheit. Ein genauerer Befähigungsnachweis, vielleicht auch Hinterlegung einer bedeutenderen Caution als heute verlangt wird, könnten gefordert werden, um 935 die Theaterfreiheit nicht in Zügellosigkeit ausarten zu lassen. Erst nach Abschaffung der Theatercensur wird das Tantièmengesetz, welches bisher die großen auf dasselbe gesetzten Hoffnungen auf Anbahnung einer neuen Blüthezeit der dra- <?page no="96"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 96 matischen Dichtung aus ganz natürlichen Ursachen getäuscht hat, seine segensreiche Wirksamkeit in größerem Grade als bisher erreichen. Jetzt kommt dasselbe 940 nur einigen Vielschreibern und geschickten Zusammenstellern und Bearbeitern älterer schon hundertmal dagewesener Stoffe, einigen Machern, zu gut, denn der erste Dichter kommt ja auf unsern Bühnen gar nicht zum Wort; werden Directoren und Dichter nicht mehr nöthig haben, aus reiner Angst vor der Censur Hasenfüße zu werden, dann wird auch der wahre Dichter, die echte Kunst bei jenem 945 Gesetz lohnenden Vortheil finden. Noch auf mannigfache andere Weise könnte der Staat nothwendige Fürsorge für das eine von ihm nie anders als stiefväterlich behandelte Kind der Kunst, das Theater bethätigen. Es ist mit logischen Gründen absolut nicht zu vertheidigen, daß der Staat Akademieen, Ausbildungsanstalten für Maler und Bildhauer und 950 Musiker baut und unterstützt und sich, in Deutschland wenigstens, noch immer nicht zur Errichtung einer Theaterschule hat bewegen lassen. Sollte die deutsche Regierung etwa glauben, daß die Schauspielkunst, weil ihre Werke vergänglicher Natur, eine niedrigere Stufe einnimmt als die bildenden Künste? Solche Anschauung sähe den schiefen Anschauungen in der That sehr ähnlich, die man in 955 den Kreisen der deutschen Staatsbehörden noch immer über die Kunst, ihre Werke und ihre Erzeuger hat. In den maßgebenden Kreisen Deutschlands gilt noch immer ein Unteroffizier, der seine Rekruten gut zusammenzudrillen versteht, mehr als ein Dichter oder ein darstellender Künstler. Hat man je davon gehört, daß hervorragende Vertreter der letztgenannten Berufe zu officiellen 960 Festlichkeiten geladen worden wären? Nur die bildenden Künstler und die Musiker haben sich daselbst eine gewisse Geltung verschafft. So lange in jenen maßgebenden Kreisen das Banausenthum, die verschrobenen Anschauungen über Poesie und Theater nicht weichen und besseren Platz machen, so lange gebe ich die Hoffnung auf eine gedeihliche Entwickelung der letzteren auf. Die Kunst hat 965 von dem Halbbarbarismus jener Kreise den Schaden, und letztere selbst die Schande. - Ein großer Theil der Schuld am Niedergange der deutschen Bühne fällt freilich den Leitern und Vorständen derselben selbst zur Last. Mustert man die ganze Reihe derselben vom Generalintendanten bis herab zum Meerschweinchendirec- 970 tor, so wird die Zahl derer, die man als tüchtige, ihren Beruf durch und durch verstehende und begreifende Männer bezeichnen darf, lächerlich gering erscheinen. Aus den heterogensten Elementen setzt sich dieser Stand zusammen - kein anderer, der eine solche Fülle der mannigfaltigsten Erscheinungen böte. Welche Wege haben diese Leute oft zurückgelegt, bis sie zur Directionsschaft gelangten! 975 Der war Unter-Gardelieutnant und zeichnete sich durch sein Talent aus, kleine Salonvorstellungen bei Hofe zu arrangiren; Jener spielte den Zuführer seines allergnädigsten Herrn und wurde durch Verleihung der Hoftheaterleiterwürde belohnt; da ein früherer Schauspieler, der durch Ersparnisse oder Erbschaft zu Gelde gekommen ist; dort ein Dichter oder Schriftsteller, der in einer poetischen 980 Idealwelt lebt und den realen Verhältnissen, den täglichen kleinen Sorgen rathlos gegenübersteht, der aber eine ehrgeizige Frau besitzt, die, vielleicht früher selbst Schauspielerin, darnach lechzt, die einflußreiche Frau Directorin zu spielen; hier <?page no="97"?> Conrad Alberti 97 ein ehrgeiziger Streber; dort ein Journalist, der sich durch fleißiges Schimpfen die Stellung erworben, mit der man ihn mundtodt zu machen hofft; hier ein Specu- 985 lant, dem es nur darum zu thun ist, möglichst viel Geld zusammen zu scharren; da der Liebhaber irgend einer kleinen Schauspielerin, der es gelüstet, einmal eine Zeit lang selbst die Bühnenbeherrscherin zu spielen; auch wohl ab und zu ein reicher Junge, dem es nur darauf ankommt, sich auf anständige Weise in unserm monogamischen Lande einen recht zahlreichen Harem einzurichten; dazu Res- 990 taurateure und Bierwirthe, denen es besonders um lange Zwischenacte zu thun ist, in denen sie möglichst viele Biere und Schinkenstullen absetzen! Man erinnert sich, welcher Art von Verdiensten einst der berüchtigte Cerf seine Theaterconcession verdankte, man entsinnt sich, was für Leute die Theatergewerbefreiheit in Deutschland zu Bühnenleitern machte: Schuster, Schneider, Stubenmaler, Tin- 995 geltangelinhaber u.dergl.m. Wie sollen solche Leute mit Ernst und Würde an ihre schwere Aufgabe gehen? Wie kann man zugeben, daß solche Leute an die Spitze von Unternehmungen treten, bei denen es sich um die Existenz oft von Hunderten von Familien handelt? Wo soll bei solchen Leuten das Kunstverständniß herkommen? Der größte Theil derselben steht auf einer Bildungsstufe von erschre- 1000 ckender Niedrigkeit. Es fehlt nicht unter ihnen an solchen, die kaum nothdürftig lesen und schreiben können. Von literarischer und ästhetischer Bildung ist schon gar keine Rede. Dem Director des Stadttheaters einer der ersten deutschen Städte schlug einmal sein Regisseur die Aufführung der „Antigone“ des Sophokles vor. „Ja, kostet das Stück 1005 Honorar? “ fragte derselbe, und der erstaunte Regisseur mußte seinem Director erst erklären, daß der Dichter Sophokles schon seit länger als 30 Jahren im Grabe ruhe. Ein Bühnenleiter muß aber unumgänglich literarische Bildung besitzen, ohne diese kann er sein Theater auf keiner bedeutenden Höhe erhalten. Er muß nicht nur die bekannten allgemein verbreiteten Stücke des Repertoirs durch und 1010 durch kennen, sondern auch die dramatische Literatur aller Zeiten in den Hauptumrissen, damit er seinen Regisseuren und Dramaturgen ab und zu Anregungen zu Neueinstudirungen oder Modernisirungen älterer wenig gegebener Stücke ertheilen kann. Er muß literarische und ästhetische Bildung besitzen, um sich über den Kunstwerth eines ihm eingereichten Stückes ein eignes selbstständiges 1015 Urtheil bilden zu können, was einer großen Anzahl unserer heutigen Theaterdirectoren völlig unmöglich ist. Die unbedingt erforderliche vollständige Kenntniß der Bühnentechnik, des Maschinen-, Beleuchtungswesens etc., eine wenigstens oberflächliche Kenntniß der Culturgeschichte, der Costüme, Sitten, Lebensgewohnheiten und Moden aller Zeitepochen ist ihm auch nothwendig, damit er 1020 seinen Regisseur stets controliren und zurechtweisen kann, damit jene haarsträubenden Unrichtigkeiten und Albernheiten vermieden werden, wie sie die Inscenesetzungen nicht ganz gewöhnlicher, zumal neuer Stücke oft auf unsern Bühnen zum Entsetzen jedes Kunstverständigen nicht selten zeigen, wie ich z.B. in meiner Schrift „Herr L’Arronge und das Deutsche Theater“ (Leipzig 1884) dem letzteren 1025 eine Reihe der schwersten und sinnlosesten Verstöße gegen die historische Richtigkeit, die gesunde Vernunft und den guten Geschmack nachgewiesen habe, bei denen jedem künstlerisch gebildeten Menschen die Haare zu Berge stehen. Die <?page no="98"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 98 gesetzliche Einführung des Befähigungsnachweises für Theaterdirectoren in schärferer Form, als es bisher verlangt wurde, erscheint mir fast als unabweisli- 1030 ches Bedürfniß, sie erscheint es im Interesse der Kunst und der Hebung des öffentlichen Geschmackes. Vielleicht wäre dieselbe am besten durch eine Prüfung vor einem vereideten Sachverständigencollegium abzulegen. Denn wie soll in anderer Form eine Garantie für das Fachverständniß eines Mannes gegeben werden, dem das Wohl vieler Dutzend Familien anvertraut ist? Hätten wir nur solche 1035 geprüfte Theaterdirectoren, so könnte man denselben unbedingt Vertrauen schenken, daß auf ihrer Bühne nichts Staatsgefährliches vor sich gehen würde und brauchte mit der Abschaffung der Theatercensur nicht zu zögern. Man gewöhne sich doch endlich daran, die alte Anschauung fallen zu lassen, das Theater sei einfach eine Sache der Routine, und wer sich mit ihr beschäftige, bedürfe kei- 1040 ner durch Studien erworbener Vorkenntnisse. Diese Anschauung allein ist die Grundursache unseres Theaterelends, da sie jeden Banausen verführt, sich der Theaterleitung, der dramatischen Kunst oder der Kritik hinzugeben. Das Theater verlangt so gut sein eingehendes, strenges Fachstudium wie die Pädagogik, die Jurisprudenz, die Medicin, die Malerei u.s.w. Auch der Nachweis eines beträcht- 1045 licheren Vermögens, als es jetzt verlangt wird, erscheint dringend geboten. Man bedenke, wieviel Unglück ein leichtfertiger und zahlungsunfähiger Bühnendirector über viele, viele Menschen bringen kann, wie, wenn das Theatergeschäft fehl schlägt, große Summen in kürzester Zeit verschlungen werden. Und noch immer kommen, trotzdem die Wachsamkeit der Behörden in diesem Punkte 1050 schon gegen früher in dankenswerther Weise gestiegen ist, viele und bedauerliche Mißstände und Unfälle im Theaterleben vor. Jedenfalls müßte von einem Theaterdirector, der nichts als Großcapitalist ist, die Anstellung eines nach jeder Richtung hin verantwortlichen Regisseurs verlangt werden und der Umfang dieser Verantwortlichkeit müßte gesetzlich festgestellt werden. Die gesetzliche Re- 1055 gelung dieser Materie in ihrer heutigen Gestalt ist durchaus ungenügend, die Staats-, die Verwaltungswie die Gerichtsbehörden kennen die realen Theaterverhältnisse so gut wie gar nicht, ebenso wenig wie die literarischen, und darum gerathen Gerichtshof, Anklagebehörde, Rechtsanwälte fast stets in eine gelinde Aufregung und zu den wunderlichsten Fehlsprüchen, falls es sich in ihrer Praxis 1060 um einen in dieses Gebiet schlagenden Fall handelt. Daß die Mehrzahl unserer Bühnenleiter und ihrer Adjutanten, der Regisseure, Dramaturgen etc., sich durch übertriebenen Fleiß und Berufseifer auszeichnen, wird Niemand zu behaupten wagen, der sie kennt. Wohl giebt es eine Anzahl rühmlicher Ausnahmen, Männer, die ganz in ihrem Beruf aufgehen und nichts 1065 Höheres kennen als ihn. Wie viele aber unter ihnen halten es für ihre Hauptmission auf Erden, nachdem sie sich täglich drei Stunden auf der Probe umhergetrieben und die unumgänglichen Cassengeschäfte und Correspondenzen erledigt, ihre Schauspielerinnen zu „poussiren“, sich in Weinstuben und Kaffeehäusern umherzutreiben, ihr kleines Spielchen zu machen, auf die Jagd zu gehen und 1070 ähnliche noble Passionen mehr zu pflegen. Ein guter Theaterdirector sollte vom Morgengrauen bis Mitternacht nichts Wichtigeres kennen als seinen Beruf, er kann nie hoch genug von demselben denken. So wie er seine laufenden Geschäfte <?page no="99"?> Conrad Alberti 99 beendet hat, sollte er sich an’s Fenster setzen und die eingegangenen Bühnenstücke, Manuscripte und Manuscriptdrucke lesen. Vielleicht findet er unter hunder- 1075 ten von unbrauchbaren Stücken einmal ein Werk eines jungen Autors, welches - nicht gewissen Erfolg verspricht, behüte nein, sondern nur einen Funken Talents zeigt, nur die Hoffnung auf die Möglichkeit eines nicht gänzlichen Durchfallens erweckt. Die Mühe darf er sich, wenn er es mit seinem Beruf ernst meint, nicht verdrießen lassen, eine Pyramide zu durchsuchen, um in einer verlorenen Ecke 1080 ein Weizenkorn zu finden, das vielleicht noch einmal zum Keimen gebracht werden kann. Hat er ein solches Stück gefunden, dann soll er sich sofort mit dem Verfasser in Verbindung setzen, soll ihn zu sich kommen lassen, sein Stück mit ihm durchgehen, ihm zeigen, welche Schwächen und Fehler es enthält, ihn auf die Vorzüge, die jener vielleicht unbewußt getroffen, aufmerksam machen, ihm 1085 daran auseinandersetzen, wie er den Stoff wirksam anfassen, wie ihn bühnenmäßig gestalten müsse, ihn das Stück umarbeiten und wieder umarbeiten lassen, so lange bis es endlich die Gestalt empfängt, die es zur Aufführung thunlich erscheinen läßt. Was würde ein junger Dichter nicht thun, um sein Stück endlich einmal zur Aufführung zu bringen! Der literarische Leiter einer Bühne, sei er nun 1090 der Director, Regisseur oder Dramaturg, soll den Bühnenschriftstellern und besonders den jungen ein Freund, ein Berather, nicht blos ein Manuscriptenzurückschicker sein, er soll an der Production derselben kräftigen Antheil nehmen, er soll es meinethalb nicht um Gottes Lohn, sondern um baare, metallene Münze, um Antheil an den Tantièmen der Aufführung an allen Bühnen thun, aber er soll 1095 es thun: diese Pflicht hat er gegen die deutsche dramatische Literatur, auf deren Fortblühen und Fortentwickelung auch der Bestand der deutschen Bühne gebaut ist. Unsere Herren Theaterdirectoren aber betrachten stets mit geheimem Schrecken die Sendungen von Manuscripten und Drucken unbekannter Autoren, die bei ihnen einlaufen, sie werfen wohl einmal einen Blick in eines derselben, einen 1100 kurzen, flüchtigen Blick, die meisten aber senden sie ungelesen den armen Dichtern wieder zurück. Nicht die geringste Mühe geben sie sich, junge Talente zu erziehen und langsam heranzubilden. Sie sind zu geistig kurzsichtig, um selbst einmal ein weniger gelungenes Stück eines jungen Autors aufzuführen, bei dem selbst nur ein halber Erfolg vorauszusehen ist, damit der junge Autor erkenne, 1105 was ihm fehlt und er es sich aneigne, und ihnen in Zukunft immer vollkommenere Stücke schreibe. So weit denken die Herren nicht, ihr Geist klebt immer nur am unmittelbaren, augenblicklichen, an der Einsendung, die sie gerade zu erledigen haben. Wer weiß, wie viele hoffnungsvolle Grillparzer’s und Kleist’s in den Archiven des Deutschen Theaters ihre Erstlingswerke begraben sehen. Die Herren 1110 Dramaturgen lesen zwar die eingereichten Stücke größtentheils - sie werden ja dafür bezahlt - aber auch sie kommen nie über den unmittelbaren Einzeleindruck hinaus, sie sagen sich immer nur: dieses Stück ist gut oder schlecht, aufführbar oder unaufführbar, niemals: dieses Stück ist in seiner vorliegenden Gestalt zwar unbrauchbar, aber einzelne Spuren und Stellen verrathen doch ein unzweifelhaf- 1115 tes Talent, noch sind sie unter vielem Wust begraben, aber wenn man den Autor darauf aufmerksam macht, ihm mit Rath und That zur Seite geht, ihn stets im Auge behält, daß er nie vom rechten Wege zur Selbstvervollkommnung weiche, <?page no="100"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 100 ihn redlich unterstützt, dann dürfte sich mit der Zeit hier vielleicht ein tüchtiger und brauchbarer Bühnendichter entfalten. Aber soweit reicht der Geist der Her- 1120 ren eben nicht, und wenn sie selbst gern wollten, würden ihre Directoren in gewohnter Trägheit sich auf dergleichen gar nicht einlassen. Unsere Theaterdirectoren sind eben - nicht Speculanten - das wäre kein Unglück - aber nur Tagesspeculanten, nichts weiter, und keiner von ihnen denkt über das Morgen hinaus. Ebenso wenig verstehen sie sich schauspielerischen Nachwuchs heranzu- 1125 bilden. Ein guter Theaterdirector oder Regisseur müßte auf jedes seiner Mitglieder, selbst auf den letzten Choristen und die letzte Choristin achten, ihnen von Zeit zu Zeit kleine Röllchen anvertrauen, und so wie er nur einmal einen von ihnen zehn Worte natürlich und charakteristisch sprechen hört, sofort auf ihn seine Aufmerksamkeit lenken, die schauspielerische Natur desselben zu entde- 1130 cken, zu entwickeln versuchen, ihm nach und nach immer umfangreichere Rollen geben und zwar solange, bis er erkannt hat, wohin sich seine mimische Anlage neigt und dann durch unausgesetzte eifrige künstlerische Arbeit an dem jungen Talent dasselbe zu einer künstlerischen Individualität zurichten. Die Kunst, und besonders die theatralische, ist eben kein Kinderspiel, keine Sache der Intuition, 1135 sondern ein Product unermüdlicher, ernster Arbeit. Aber wie wenig Theaterdirectoren und Regisseure findet man, die diesen Bedingungen entsprechen! Der Deutsche ist im Allgemeinen ein ruhiges, friedliebendes Individuum, das namentlich mit der heiligen Hermandad nicht gern etwas zu thun hat, sondern sich den Anordnungen derselben willig und ohne Widerspruch fügt und vor 1140 jedem Beamten der Sicherheitsbehörde einen heiligen Respect hat. Der deutsche Theaterdirector aber übertreibt diese Eigenschaft in’s Fratzenhafte. Es ist ja wahr, daß er in gewissem Sinne von der Polizei abhängig ist, daß diese nicht nur durch die Censur , sondern auch durch die Oberaufsicht über die Sicherheitsmaßregeln u.a.m. eine große Macht über ihn besitzt und ihm viele Unannehmlichkeiten be- 1145 reiten könnte, falls er es wagen wollte, ihr gegenüber einmal einen Willen zu haben, dennoch glaube ich, daß die Angst vieler Bühnenleiter vor der Polizei denselben in keiner Weise zum Vortheil gereicht. Die Folge ist, daß kein Director den Muth hat, auch nur das Geringste zu wagen, auch nur die leiseste Anspielung auf das politische oder sonstige öffentliche Leben auf seiner Bühne zu gestatten, daß 1150 er sie im Manuscripte des Schriftstellers zurückweist, und nicht einmal wagt, sie der Censur zu unterbreiten, denn, sagt er, „es wird doch gestrichen! “ Alles soll nur so harmlos, unschuldig, stachellos wie möglich sein, kein Salz und Pfeffer, kein aus der Wirklichkeit geholtes Motiv wird zugelassen. Der Theaterdirector hält es für ein Unrecht, der Polizei nur etwas zu unterbreiten, was diese in die 1155 Verlegenheit bringen könnte, es zu streichen. Bei solcher ablehnenden Haltung gegen alles, was actuell, zeitgemäß, modern, interessant ist, darf man sich über die Verlangweiligung der modernen Production nicht wundern. Auch in Bezug Das Zurechtbestehen der Theatercensur in Preußen wird bekanntlich von einigen Seiten bestritten, ist aber durch den kürzlichen Ausspruch eines Berliner Gerichtshofes zweifellos nachgewiesen. Uebrigens - zurecht oder nicht zurecht bestehend -, die Polizei weiß ihre censorische Gewalt durch die tausend Chicanen zu erzwingen, mit denen sie einem widerstrebenden Bühnenleiter das Leben sauer machen kann. <?page no="101"?> Conrad Alberti 101 auf Vorgänge aus dem Geschlechts-, dem Liebesleben u.s.w. , die nun auch einmal auf der Bühne im Trauerwie im Lustspiel scharfe Striche verlangen, wenn 1160 sie gezeichnet werden sollen, dessen tragische Verirrungen und komische Verwirrungen nun einmal vom Begriff des Dramas untrennbar sind, herrscht bei unseren Theaterdirectoren eine lächerliche quäkerhafte Strenge. Alles wird auf’s Töchterschulenmäßige zurechtgeschnitten und nur dann angenommen. Ueber die guten Seelen von Theaterdirectoren, die noch immer mit Mephisto denken: 1165 „Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen, Was keusche Herzen nicht entbehren können! “ Das Drama, das ernste wie das heitere, kann nicht prüde sein, ohne langweilig zu werden, und seine großen Meister sind es nie gewesen. Wir werden weiter unten auch auf diesen Punkt noch näher zu sprechen kommen. Aber die leiseste An- 1170 spielung, welche das züchtige Ohr eines Backfisches verletzen könnte, passirt nicht den Rothstift des Regisseurs. Stoffe, welche die Nachtseiten des Geschlechtslebens behandeln, ohne die es eine wahrhafte Tragödie nun einmal absolut nicht giebt, sind schon von vornherein ausgeschlossen. Der Backfisch ist in der That heut’ beim Theater die einflußreichste Persönlichkeit, auf seine Natur 1175 wird Alles zugeschnitten. Nur wenn es sich um eine Uebersetzung aus dem Französischen handelt, können es die Herren Directoren nicht pikant genug bekommen. Die Franzosen haben das Recht, auf unserer Bühne Alles zu sagen, weil man sich einbildet, daß sie es geschickter sagen, als wir, während unsere Autoren schweigen müssen. In der „Denise“ des jüngeren Dumas kommt folgende aller- 1180 liebste Pointe vor. Frau von Thauzette, eine alternde Cocotte, gesteht ihrem ehemaligen Verehrer lächelnd ein, sie fühle, daß sie alt werde. „Mein Sohn ist 27, mit 18 habe ich geheirathet - macht Alles eingerechnet, 46! “ Natürlich folgt anhaltendes Gelächter dem anmuthigen Scherz, der frei und offen auf unsern Bühnen gesprochen wird. Ein deutscher Schriftsteller sollte einmal wagen, eine solche 1185 Stelle in einem Stücke vorzubringen. „Nein, lieber Freund, das müssen wir streichen, das dürfen wir nicht sagen,“ würde ihm sofort der Director entgegnen. Warum sollen wir Deutschen auf unserer Bühne aber nicht ebensoviel Recht haben, geistreich zu sein, wie die Franzosen? Warum sollen wir allein die Pflicht haben, uns immer in den ausgefahrensten Geleisen zu bewegen, immer uninteressant 1190 und langweilig zu bleiben? Der Schriftsteller muß dem Geschmack seiner Zeit gemäß schreiben und das Pikante und Aetzende liegt nun einmal im modernen Zeitgeschmack, die Thatsache ist nicht zu bestreiten. Nicht blos in diesem Punkte, nein, auch in vielen andern zeigen unsere Theaterdirectoren ihre Muthlosigkeit, ihre Furcht vor allem Neuen - neuen Stoffen, 1195 neuen Dichtern, neuen Motiven, neuer Behandlungsweise. Namentlich gegen historische Dramen haben sie eine Abneigung, die sich in keiner Weise rechtfertigen läßt. Wie schwer haben sie es einem Talente wie Wildenbruch gemacht, sich emporzuarbeiten. Jahrelang mißlangen ihm mit beklagenswerther Beharrlichkeit seine Versuche, seine Werke auf die Bühne zu bringen, denen man alle Schwä- 1200 chen und Fehler nachsagen kann, nur den einen nicht: Mangel an Bühnenwirksamkeit, an Kenntniß und kluger Benutzung der Theatertechnik! Hätte Herr Kurz <?page no="102"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 102 in Berlin nicht den anerkennenswerthen Muth gehabt, uns das „Neue Gebot“ vorzuführen, wir hätten das beste Stück der modernen deutschen Bühne seit Gutzkow’s „Uriel Acosta“ und Fitger’s „Hexe“ in der Reichshauptstadt, in der 1205 Stadt des Deutschen Theaters nicht auf der Bühne gesehen. Denn die unfehlbare Weisheit der Herren L’Arronge und Förster lehnte das Stück als ungeeignet ab. Kein französisches Theater würde die Keckheit gehabt haben, das neue Werk eines der ersten zeitgenössischen Dichter so zu behandeln. Es würde die Aufführung für seine Pflicht angesehen und das Urtheil bescheidentlich dem Publikum 1210 und der Kritik überlassen haben. Zum Glück hat das Publikum auf das ablehnende Urtheil des Deutschen Theaters die unzweideutigste Antwort gegeben: es stürmte die Kasse des Ostendtheaters - denn bis vor das Frankfurter Thor hinaus, wo Berlin ein Ende nimmt, mußte ein Wildenbruch mit seinem Stücke förmlich hausiren gehen. Möchte Herr Kurz, der zweifellos den besten Willen besitzt, sich 1215 nur aus dieser Thatsache eine Lehre für seine zukünftige Directionsführung ziehen! Er erlasse uns die Classiker, er verschone uns mit Göthe, Schiller, Lessing, Shakespeare, die man ihm an seiner Bühne nicht glaubt und in deren Darstellung man ihn aus rein materiellen Gründen am Schillerplatz und in der Schumannstraße übertrifft, er gebe uns eine gute, echt moderne Bühne, er gebe uns Ibsen, 1220 Björnson, Wildenbruch, Nissel, Lindner u.s.w. u.s.w. , er ermuthige die jüngeren deutschen Dramatiker Beibtreu, Hart u.s.w. durch Vorführung ihrer Werke - er wird dann bald unter den deutschen Bühnenleitern ein weißer Rabe sein, man wird von seinem Theater sprechen - er wird keinen Schaden von diesem Rath ziehen, denn jede Aufführung an seinem Theater wird dann ein Ereigniß für die 1225 deutsche Kunstwelt und für das premièrensüchtige Berliner Publikum sein, während man nur die Achseln zucken dürfte, falls er versucht, uns auf der Großen Frankfurter Straße mit „Iphigenie“ und „Wilhelm Tell“ zu kommen, er wird den wohlklingendsten Lohn für seine Thätigkeit ernten. Und wie lange hat es gedauert, bis Kleist und Grillparzer, die größten deutschen Dramatiker der nachschil- 1230 lerschen Neuzeit, sich die Bühne eroberten. Solche Beispiele, denen sich viele, viele anreihen ließen, beweisen schlagend die Unfähigkeit, die Denkfaulheit, die literarische Unbildung, die Trägheit der Mehrzahl unserer Theaterdirectoren, die nichts zu würdigen verstehen, denen nichts zusagt, was nur über die alte hergebrachte Routine, den gewohnten Schlendrian mit einem Schritte hinausgeht, ihre 1235 Zaghaftigkeit vor einer kühnen, frischen That, ihr Erschrecken vor jedem selbstständigem Talent. Außer den alten Classikern, die keine Tantième kosten, heißen ihre Götter Moser, Lindau, Lubliner, L’Arronge und so weiter. Ein nettes Collegium! Ich bestreite nicht, daß diese Herren manches Verdienstliche für unsere Bühne geleistet 1240 haben. Moser’s „Hypochonder“, Lindau’s „Maria und Magdalena“, L’Arronge’s „Mein Leopold“, Schönthan’s „Raub der Sabinerinnen“ sind gute, wirksame, lebenswahre Stücke. In neuerer Zeit ist noch Oscar Blumenthal mit dem hübschen und bühnenwirksamen „Probepfeil“ dazu getreten, den er mit seiner späteren Production freilich nicht mehr erreicht hat. Aber jene Herren haben das bischen 1245 Talent, das ihnen die Natur in einer mitleidigen Stunde verlieh, schon längst verbraucht und abgenutzt, sie haben mit dem ihnen verliehenen Pfunde in einer <?page no="103"?> Conrad Alberti 103 Weise gewuchert, daß dagegen beinahe ein literarisches Wuchergesetz Noth gethan hätte, eine Bestimmung, welche verbietet, einen durch viel Glück und mäßiges Talent erlangten Namen in der unverantwortlichsten Weise zum Scha- 1250 den der Kunst, zur Langweile des Publikums auszubeuten. Was die Herren in den letzten Jahren producirt haben, waren literarische Fehlgeburten abschreckender Art. Ich erinnere nur an den „Salontyroler“, „Frau Susanne“, „Die armen Reichen“, „Die Loreley“, „Der Weg zum Herzen“, „Sammet und Seide“, „Frau Director Striese“, „Gräfin Lambach“ und so weiter, und so weiter, eine beinahe 1255 endlose Reihe sträflicher Erzeugnisse. Und doch dürfen diese Herren, trotzdem sie ihre Impotenz schon längst klar bewiesen, immer wieder von Neuem mit neuen Unglückskindern anrücken, doch drängen sich die Theaterdirectoren immer wieder nach jenem werthlosen Plunder und bringen ihn zur Aufführung, nur weil die Namen jener Verfasser auf den Titelblättern stehen. Nicht nach dem 1260 Werthe, nicht nach dem Gehalt der Arbeit wird gefragt, kaum gelesen, mit nasser Tinte noch wandert das Manuscript zum Rollenschreiber, und ehe vier Wochen vergehen, ist es ausgeschrieben, einstudirt, dargestellt und durchgefallen. Und unterdessen warten junge, vielleicht hundertmal begabtere Schriftsteller, deren Werke vielleicht hundertmal mehr Werth und Gehalt besitzen, monate- oder jah- 1265 relang hungernd und frierend vergeblich darauf, daß der Herr Director einmal in der Zeit, da er vom Nachmittagsbesuch bei seiner Maitresse kommt, bis zum Beginn der Abendvorstellung ein Viertelstündchen finden möchte, um einen Blick in ihr Manuscript zu werfen. Ich will, um Mißdeutungen vorzubeugen, gleich bemerken, daß ich zu diesen „Verkannten“ nicht gehöre, da ich noch nie in mei- 1270 nem Leben einer Theaterleitung ein Stück eingereicht habe, sondern nur ein einziges Mal, vor einer Reihe von Jahren, für einen Director auf dessen ausdrücklichen Wunsch eine Umarbeitung einer gegebenen Arbeit vollendet habe, die auch auf der Stelle zur Aufführung gelangte. Möchten die Directoren endlich einmal durch die fortdauernden Mißerfolge jener angeblichen Größen, denen nichts zur 1275 Seite steht als die schwächlichen Erstlingserfolge eines mäßigen Talents, viel Glück und unverschämt viel Cliquenreclame, belehrt werden und in sich gehen, um endlich zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß sie besser für sich und für die Kunst handeln würden, wenn sie nicht den Namen des Verfassers allein über die Annahme und Aufführung eines Stückes entscheiden ließen, sondern den Werth 1280 des letzteren, den sie selbst ehrlich und vorurtheilslos geprüft haben sollten, daß sie unbarmherzig die Miserabilitäten eines Lubliner und Moser zurückweisen, und die wenn auch nicht kunstvollendeten, so doch ursprünglicheren und lebendigeren Stücke eines unbekannten Müller oder Schulze lesen und eventuell aufführen sollten. Muß ja doch noch heute ein Wildenbruch förmlich um die Auffüh- 1285 rung jedes neuen Stückes bei den Directoren - zu ihrer Schmach sei es gesagt - betteln gehen, können doch anerkannte Größen wie Fitger, Bulthaupt, Albert Lindner ihre Werke nicht zur Aufführung bringen, während sich jenen literarischen Invaliden Thür und Thore öffnen. Mit Nothwendigkeit muß solch thörichtes Verfahren zum gänzlichen Niedergange der deutschen Production führen, 1290 denn jene Schriftsteller, auf denen die Zukunft des deutschen Theaters beruht, werden, wenn sie sich den Weg ewig versperrt sehen, schließlich alle Hoffnung <?page no="104"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 104 auf Anerkennung und Erfolg aufgeben und in ihrer Production erlahmen, sie werden schließlich unaufführbare Dramen, ohne jede Rücksicht auf die Bühne, hervorbringen, wie einst Grabbe in ähnlicher Lage. 1295 Ja, wären jene talentbegabten Dichter nur Ausländer, Franzosen, wie schnell würden sie bei unseren Directoren Aufnahme finden, wie würde man sich um dieselben reißen und streiten! Diese äffische Vorliebe für das Franzosenthum ist der Tod unserer deutschen Bühne. Gewiß, es ist nur in der Ordnung, daß man die 1300 Meisterwerke des modernen französischen Dramas, die Stücke Augier’s, Sardou’s, Feuillet’s, zum Theil auch Dumas fils und Pailleron’s, die besseren Possen von Labiche und einigen anderen Autoren übersetzt und in Deutschland aufführt. Aber es ist nie und nimmer zu rechtfertigen, daß der miserabelste Pariser Schund, die blödesten Rührdramen und Schwänke kaum nach ihrem Erscheinen 1305 in Paris sofort übersetzt werden und die Runde über die deutschen Bühnen machen. Was haben wir in den letzten Jahren z.B. nicht Alles über die Bühne des Berliner Residenztheaters - dieser wegen ihrer vorzüglichen Darstellungen sonst von uns sehr geschätzten Bühne - gehen sehen! Stücke wie „Der Vergnügungszug“, „Die Reise nach dem Kaukasus“, „Herr Goblé und seine Töchter“ u.s.w. 1310 nur zur Aufführung bringen, heißt der deutschen Production schweres Unrecht thun, die bessere Erzeugnisse hervorgebracht hat und der man Raum und Zeit in unverantwortlicher Weise entzieht. Welche Antwort ertheilte einst der Vorsitzende der Genossenschaft dramatischer Autoren in Paris einem deutschen Schriftsteller, der sich darüber beklagte, daß die Franzosen so wenig aus der 1315 deutschen Literatur übersetzten, während wir fast alle literarischen Erscheinungen Frankreichs uns sogleich zu übertragen beeilten? „Wir haben die Pflicht, erst für unsere einheimische Literatur zu sorgen, und da unsere Production so groß ist, daß sie beinah über unsern Bedarf hinausgeht, so bleibt naturgemäß nichts oder nur wenig für das Ausland übrig.“ So spricht ein vernünftiger, klar denken- 1320 der Mann, und so nur ist Frankreich zu der literarischen Weltmachtstellung gelangt, die es heut’ inne hat. Zunächst gilt es, die einheimische Production zu schützen, und so lange diese im Stande ist, den Bedarf zu decken, soll nur das Allervorzüglichste aus dem Auslande eingeführt und für uns übertragen werden. Wir dürfen fernerhin nicht dulden, daß die faden Albernheiten eines Hennequin 1325 oder anderer französischer Modetheaterwaarenfabrikanten unseren jungen Talenten Licht und Luft wegschnappen, wir wollen den Raum, den wir gewinnen, indem wir ihn jenen entziehen, zur Unterstützung der letzteren verwenden. Das Geschäft wird im Anfang vielleicht einen Verlust ergeben, nach drei, vier Jahren aber wird es glänzende, materielle und ideale Interessen tragen. Wir haben um 1330 der nationalen Kunst willen die Pflicht, so zu handeln. Und wenn unsere Herren Theaterdirectoren uns schon mit Uebersetzungen füttern wollen, gut, so mögen sie uns doch die gute dramatische Literatur des Auslandes vorführen, sie mögen z.B. Ibsen’s Dramen auf ihren Bühnen darstellen. An der Bühnenwirksamkeit und Ertragsfähigkeit des „Volksfeind“ und der anderen Ibsen’schen Stücke zweifelt 1335 wohl kein Mensch. Welche Erfolge haben Björnson’s Stücke auf unseren Bühnen davongetragen! Aber nein, Herr L’Arronge und Herr Wilbrandt ziehen es in ihrer <?page no="105"?> Conrad Alberti 105 unfehlbaren Directorialweisheit vor, uns lieber ein so klägliches, durch und durch verlogenes Machwerk wie den „Hüttenbesitzer“ aufzunöthigen, und das Publikum ist thöricht genug, sich an der blöden Eselei Philipp Derblay’s und der ge- 1340 machten Rührung Claire’s zu ergötzen, anstatt nach der kraftvoll trotzigen Gestalt Dr. Stockmann’s zu verlangen. Aber die Herren Directoren, welche die Pflicht hätten, ihr Publikum nach und nach zum Genuß und Verständniß des wahrhaft Guten und Schönen zu erziehen, zittern und zagen davor, daß der Cassenrapport des Monats, in dem sie mit jenen 1345 Neuerungen begännen, einen Ausfall von vielleicht ein paar hundert Mark ergeben könnte, und bedenken nicht, daß der Ausfall später wieder dreifach eingehen würde, sowie das Publikum sich der besseren Richtung zugewandt hätte. Denn das Gute, wenn es ihm erst einmal gelingt, sich zur Geltung zu bringen, übt dann naturgemäß eine viel stärkere Anziehungskraft aus als das Schlechte. Allerdings, 1350 der Leiter eines Privattheaters ist in erster Linie Geschäftsmann, das hat noch Niemand bestritten. Er wendet ein großes Capital auf, das er ganz und gar auf’s Spiel setzt, er bürdet sich eine große Arbeitslast auf - für alles das will er durch materiellen Gewinn entschädigt werden. Das wird ihm Niemand verübeln, Niemand wird von ihm materielle Opfer für die Kunst verlangen. Allein, was wir 1355 von ihm verlangen dürfen, das ist ein gewisser praktischer Idealismus, das ist, daß er den bessern wählt, wenn er zwei Wege vor sich sieht, die beide materiell gleich ertragsfähig scheinen. Aber, wie schon bemerkt, kaum einer unserer Theaterleiter denkt über den nächsten Tag hinaus, keiner sagt sich, daß er im Anfang materielle Opfer bringen müsse, um später glänzenden Gewinn zu erzielen, daß 1360 er nur für seine eigene Tasche arbeite, wenn er junge Dichter von Anfang an unterstütze und erziehe und ihnen zu Erfolgen verhelfe, da diese, über kurz oder lang zur Anerkennung gelangt, ihm zu glänzenden Einnahmen verhelfen werden. Jene plumpe Eigenheit der Herren, die Absicht, nur den Tag so viel als möglich zu rupfen, verleitet sie zu einem System der Directionsführung, welches nie 1365 als berechtigt anerkannt werden darf. Die Hauptsache für eine gut geleitete Bühne ist das Repertoir, die Auswahl und Folge der Stücke. Ein gut geleitetes Theater soll im Laufe eines Jahres oder zweier allen guten und lebensfähigen Besitz der nationalen Bühne und die aufführungswerthen Neuheiten dem Publikum vorführen. Vernünftige, regelmäßige Abwechselung, bunte, harmonische 1370 Mannigfaltigkeit ist die Hauptsache. Die meisten unserer Bühnen aber kennen das, was man ein Repertoir nennt, gar nicht, sie leben ausschließlich von den neuen Stücken, diese werden allein einstudirt, und jedes derselben wird so lange in ununterbrochener Folge gegeben, als sich in der Stadt noch ein paar Menschen finden, die dasselbe noch nicht besucht haben. Dann wird es wie eine aus- 1375 gepreßte Citrone in die Ecke geworfen und nicht mehr beachtet. Das Unsinnige dieses Verfahrens der Novitätenabhetzung leuchtet ein. Nie kann sich auf solche Weise ein Repertoir bilden, das Theater lebt immer nur von Heut auf Morgen, alle Kunst geht dabei zu Grunde, das Ganze wird zum Handwerk der niedrigsten Art. Hat ein Director einmal mit einem oder zwei Stücken Unglück, so sitzt er auf, 1380 wie man zu sagen pflegt; denn ein neues ist nicht so schnell einstudirt, das verlangt Wochen, und die alten sind so abgespielt, daß sie Niemanden mehr herbei- <?page no="106"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 106 locken, denn infolge jenes Verfahrens ist ein einmal vom Repertoir abgesetztes Stück auch für das Publikum abgethan. So werden die Schriftsteller gezwungen, immer nur neue und wieder neue Arbeiten zu liefern, das heißt, da ihnen zuletzt 1385 auch die Stoffe ausgehen müssen, ihre alten Ideen und Arbeiten unter neuen Larven, in neuen Gewändern dem Publikum vorzuführen, und es so zu täuschen, oder einer vom andern zu borgen, und das Publikum wird daran gewöhnt, nur nach Novitäten zu lechzen, und die schlechteste Novität, nur weil sie eben angeblich neu ist, dem besten älteren Stücke vorzuziehen, das es vielleicht gar nicht 1390 kennt, von dem es nur weiß, daß es schon früher gegeben wurde. Kunst, Dichter, Publikum, Schauspieler, Director, alle kommen bei dieser Novitätenhetze in gleichem Maße zu Schaden, und es erscheint geradezu unbegreiflich, daß gegen dieses thörichte Verfahren noch keine wohlthätige Reaction eingetreten ist. Es ist die erste Pflicht eines jeden guten Bühnenleiters, selbst wenn er auf seiner Bühne ein 1395 ganz bestimmtes Genre pflegt, für ein gutes, abwechselungsreiches Repertoir zu sorgen, und den Schatz der guten älteren Stücke neben den neuen immer zur Geltung zu bringen, damit jene dem Bühnenrepertoir nicht vollständig verloren gehen. Unsere Directoren bilden sich so viel ein auf ihre Routine, ihre praktische Erfahrung. Wie übel es aber damit bestellt ist, zeigt das Schicksal vieler Stücke, 1400 wie z.B. Björnsons „Neuvermählte“, die, zuerst von sämmtlichen deutschen Bühnen abgelehnt, dann durch Zufall einmal zur Aufführung gelangten und infolge des gewaltigen Erfolges bald Repertoirstück aller deutschen Theater wurden. Und auf solche Zufälle ist, Dank der Feigheit und Verständnißlosigkeit unserer Directoren, unsere ganze moderne dramatische Production angewiesen! 1405 Wir sagten: materielle Opfer kann man von den Leitern der Privatbühnen nicht beanspruchen. Wohl aber kann man sie von den Hoftheatern verlangen, deren wir ja so viele in Deutschland besitzen. Diese haben denn doch noch eine andere Pflicht, als bloß Geld zu verdienen. Ein Hoftheaterdirector, der nicht den Muth hat, ein Deficit zu erzielen, wenn er es nur durch eine warme und lebhafte 1410 Unterstützung der Kunst erklären kann, ist zu bedauern. Der Kassenrapport ist nicht der Maßstab für die Werthschätzung einer Hofbühne. Wozu erhalten diese ihre Subventionen? Die Hofbühnen haben die Pflicht, auf Privatbühnen selten oder nie dargestellte gute Stücke, auch wenn diese keine „Kassenstücke“ sind, von Zeit zu Zeit zur Aufführung zu bringen; sie haben die Pflicht, Versuche jun- 1415 ger, begabter Autoren, welche nur einigermaßen einen idealen Erfolg versprechen, zur ersten Aufführung zu bringen, wie einst Dalberg die „Räuber“. Sie sollten den Ton und die Geschmacksrichtung für die Privatbühnen im ganzen Lande angeben, und nicht, wie heute geschieht, ein halbes Jahr lang oder mehr hinter denselben nachhinken, nicht vor Experimenten und Einführungen junger 1420 Schriftsteller (vergl. wieder Wildenbruch) ängstlich zurückschrecken. Sie, gerade sie, haben die Pflicht, zu experimentiren, sie haben das Recht, sich ein- und das andere Mal im Feuereifer für die Kunst zu irren, sie sollen endlich jene zahllosen kleinlichen Rücksichtnahmen und Beschränkungen fallen lassen, die sie als Hoftheater immer noch bewahren zu müssen glauben, [i]ch bin der Ansicht, daß eine 1425 Umwandlung der Hoftheater in Staatstheater nur vortheilhaft, ja geradezu erlösend wirken könnte, denn eine Menge kleinlicher Rücksichten auf Privatliebhabe- <?page no="107"?> Conrad Alberti 107 reien einzelner Hofmitglieder, künstlerische wie persönliche, würden dann fortfallen, die jetzt die Repertoirwahl einschränken. Und ich glaube für gewiß, daß jene Zubußen, welche die Hofbühnen in dem 1430 angeführten Falle würden zahlen müssen, sich auf ein ganz geringes belaufen würden, wenn man sich entschließen könnte, nach anderen Richtungen hin zu sparen und manch’ alten und neuen Zopf abzuschaffen, der für die moderne Geschmacksrichtung nicht mehr paßt. Vor allem meine ich damit die Abschaffung des Ballets. Fort mit dem Ballet von der Bühne! Was hat es daselbst zu suchen? 1435 Selbst wenn man, was ich bestreite, zugiebt, daß die Tanzkunst eine Kunst sei (und wenn sie es ist, so ist sie sicherlich die niederste), so hat das Ballet im Theater doch nichts zu suchen. Wer behauptet, daß er im Ballet etwas anderes suche, als ganz gemeinen Sinneskitzel, daß er einen andern Eindruck von demselben mit nach Hause nähme, als den der aufgeregten Lüsternheit, wer beim Ballet von 1440 ästhetischen Empfindungen spricht, der sucht ganz einfach nach einer geschickten Maskirung seines Verlangens nach Befriedigung der niederen Sinne. Für den Geschmack eines preußischen Gardelieutenants oder eines alten, ausgemergelten Roué und Podagristen oder der geilen Mitglieder der jeunesse dorée, die nichts besseres kennt, als Pferde, Hazard und Maitressen, mag ja die möglichst graciöse 1445 Zurschaustellung von ein paar hundert strammen Waden und Schenkeln, das minutenlange Hopsen und Schwenken auf einem Beine oder gar nur auf den Fußspitzen, das bunte Durcheinanderrennen einiger Dutzend Ballerinen immerhin als Kunst erscheinen, aber das Theater ist doch noch für andere Menschenklassen da, und ich behaupte, daß ein Ballet auf einen ästhetisch gebildeten Men- 1450 schen nur einen langweiligen und widerwärtigen Eindruck machen kann, selbst wenn es sich mit dem Flitterkram höchst zweifelhafter culturgeschichtlicher Belehrung umgiebt, wie „Excelsior“, „Messalina“, „Amor“ etc. Die Tanzkunst ist viel zu sehr mechanischer Art, als daß sie mit der Schauspiel- oder Gesangskunst auf eine Stufe gestellt werden könnte, bei denen die mechanische Fertigkeit doch 1455 erst in zweiter Linie steht, das Wesentliche der Tanzkunst ist reine Uebung: auch ohne jegliches Naturtalent und Temperament, durch bloßen Fleiß kann man es in derselben zu hervorragenden Durchschnittsleistungen bringen, während selbst ein mittelmäßiger Schauspieler ohne natürliche Anlage, ohne Temperament nicht gedacht werden kann. Auf der Bühne soll in erster Linie das Wort herrschen, zum 1460 wenigsten der Ton, denn diese allein sind lebendig und belebend: die stumme, todte Pantomime, das Ballet, gehört in den Circus, nicht aber auf die Bühne, und es ist eines der größten Verdienste Richard Wagner’s, dasselbe in seinen Opern nur da angewendet zu haben, wo es die Situation der Handlung unbedingt erfordert, wo es einen wesentlichen episodischen Bestandtheil des Musikdramas selbst 1465 bildet, wie z.B. in der ersten Scene des „Tannhäuser“. Schon Schopenhauer sagt: (Parerga und Paralipomena II, 465) „...dazu kommen noch die Ballette, ein oft mehr auf die Lüsternheit als auf ästhetischen Genuß berechnetes Schauspiel, welches überdies durch den engen Umfang seiner Mittel und hieraus entspringende Monotonie bald höchst langweilig wird und dadurch 1470 beiträgt, die Geduld zu erschöpfen, vorzüglich indem durch die langwierige oft Viertelstunden lang dauernde Wiederholung derselben untergeordneten Tanz- <?page no="108"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 108 melodie der musikalische Sinn ermüdet und abgestumpft wird, so daß ihm für die noch folgenden musikalischen Eindrücke ernsterer und höherer Art keine Empfänglichkeit mehr bleibt.“ Und gerade diese untergeordneteste aller theatra- 1475 lischen Gattungen ist es, welche die meisten Kosten verursacht und die geringsten Einnahmen erzielt. Eine Shakespeare’sche Tragödie wäre auch heute noch auf einer Shakespeare’schen Bühne möglich, „Excelsior“, „Sardanapal“ sind ohne feenhafte, verblüffende Ausstattung überhaupt undenkbar. Jeder Nickel, der als Zuschuß an die Aufführung eines solchen Ballets auf einer Bühne verschwendet 1480 wird, ist ein Raub an der wirklichen Bühnenkunst. Noch einmal: das Ballet gehört in den Circus und nicht in’s Theater - außer wo es einen wesentlichen Bestandtheil der Handlung bildet. Aber habe ich es doch selbst mit angesehen, daß die Leitung eines der ersten deutschen Stadttheater, um den Pöbel anzulocken, in eine ernste Oper, wie Verdi’s „Maskenball“, die erbärmlichsten Scherze 1485 eines Clownballets einlegte, und daß an derselben Bühne in einer andern Oper, welche die Errettung des Kaisers Maximilian vom Abgrund der Martinswand behandelte, im letzten Act die Bürger der guten bigott-katholischen Stadt Innsbruck ihrer Freude über die Rettung des Landesherrn dadurch Ausdruck gaben, daß sie auf dem offenen Markte der Stadt von hochgeschürzten Ballerinen einen 1490 Walzer tanzen ließen. Heiliger Richard Wagner! Auch im Punkte der Ausstattung könnte mancherlei gespart werden. So große Freunde einer stilgemäßen und stimmungsvollen Ausstattung wir sind, so sehr wir dieselbe um des künstlerischen Eindrucks, um der Vollkommenheit des Bühnenbildes willen verlangen, so halten wir es doch für unverantwortlich, daß der 1495 Dichter, um dessen Schöpfung sich alle Ausstattung herumrankt, zu Gunsten des Theaterschusters und -schneiders zurückstehen oder leiden soll. Dies aber geschieht nur zu häufig auf unsern Bühnen. Albert Lindner erhielt von dem wegen seiner überprächtigen und allerdings oft des größten Lobes werthen Ausstattungen hochberühmten Meininger Hoftheater, für seine mit den größten Kosten und 1500 der größten Pracht ausgestatteten Dramen, welche dem Theater zu glänzenden Einnahmen verhalfen, eine Aufführungstantième von drei, sage und schreibe drei Procent , während der allgemein übliche Satz bekanntlich sieben bis zehn Procent beträgt. Albert Lindner wurde demgemäß um vier bis sieben Procent benachtheiligt. So unterstützt das Meininger Kunstinstitut die deutsche Production! Die 1505 deutschen Dichter mögen vor Hunger dem unheilbaren Wahnsinn in die Arme fallen, damit die Schuster und Schneider und Decorationsmaler des Meininger Hoftheaters sich bereichern! Nicht genug, daß der deutsche Dichter auf jede Anerkennung, jede Unterstützung seitens seiner Landesväter verzichten muß - man entsinne sich nur der winzigen Antheilnahme der deutschen Fürsten an der 1510 Schillerstiftung - muß er auch noch dazu beitragen, daß dieselben auf seine Kosten ihre Kassen füllen, indem sie ihm das verweigern, was ihm jede große Bühne bewilligt. Anders läge die Sache, falls der Herzog von Meiningen keine Kenntniß von der Höhe der Tantième gehabt hätte, die an seiner Bühne bezahlt worden: ob dies anzunehmen ist, überlasse ich der Beurtheilung eines jeden Lesers. Zu recht- 1515 Vergl. Nr. 29 der Deutschen Schriftstellerzeitung. <?page no="109"?> Conrad Alberti 109 fertigen ist der Vorgang auf keinen Fall, nicht durch die hohen Kosten des reisenden Unternehmens, denn der Dichter, dessen Werke die Grundlage des ganzen Unternehmens bilden, darf keinesfalls durch die Höhe der Geschäftsspesen leiden, und gerade das Meininger Hoftheater hätte die Pflicht, besonders hohe Tantième zu zahlen, da die meisten Stücke seines Reiserepertoirs classische, d.h. tan- 1520 tièmefreie sind. Auch das Deutsche Theater in Berlin zahlt für einzelne Stücke eine Tantième, deren geringe Höhe in keinem Verhältniß zu den auf die bei ihm übliche prächtige Ausstattung verwendeten Kosten und die großen Einnahmen des Instituts steht. Ich könnte noch mancherlei über den Antheil der Bühnenleiter am Verfall des 1525 deutschen Theaters sprechen, aber ich ziehe es vor, über Punkte zu schweigen, deren ausführliche Darlegung manches keusche Gemüth verletzen könnte. Was soll ich sprechen von der Maitressen- und Haremswirthschaft in den meisten Directionszimmern? Wie oft die Existenz eines Kunstinstituts von dem guten Willen und der Spiellust einer kleinen Schauspielerin und ihrem Einfluß auf die 1530 Kasse ihres Liebhabers abhängt! Wie oft ein vorzügliches Stück zurückgewiesen wird, weil die Gattin oder Maitresse des Directors darin keine Rolle hat oder nur eine solche, die ihr nicht ermöglicht, in jedem Acte eine neue glänzende Toilette zu zeigen! Wie oft Neigung oder Abneigung einer einflußreichen Theaterdame die Stellung der größten Talentlosigkeit an einer großen Bühne befestigen oder 1535 die einer bedeutenden Kraft untergraben kann! Wie viele Theaterdirectoren ihre Einnahmen mit dieser oder jener Schauspielerin durchbringen und ihre Bühne und hunderte von Existenzen dem Ruin entgegenführen! Ich denke, die Beispiele solcher Vorgänge leben noch frisch in unser Aller Gedächtniß! Wie viele Theaterdirectoren gleichen nicht jenem Monsieur Boerdenave in Zola’s „Nana“, der, 1540 wenn man von seinem „Theater“ spricht, ärgerlich mit dem Fuße stampfend ausruft: „Zum Henker, sagen Sie doch nicht immer mein Theater, sagen Sie doch mein Bordell! “ In der That, viele Theaterdirectoren - wer denkt hierbei nicht an eine ganz bestimmte, in Berlin zur Genüge bekannte Persönlichkeit? - wissen recht gut, daß ihre „Kunstinstitute“ nichts anderes sind als geschickt maskirte 1545 Bordelle, sie dulden den Unfug ruhig aus Rücksichten für ihre Kasse; sie sparen ja am Gagenetat, je mehr Nebeneinnahmen ihre Künstlerinnen besitzen; die Liebhaber der letzteren sind ihre besten Theaterbesucher, und wenn sie an ihre Künstlerinnen höhere Anforderungen stellen als die blendender Toiletten und leidlichen Memorirens ihrer Rollen, so ist es in der Regel höchstens das Verlangen des jus 1550 primae noctis! - Uebrigens oder vielmehr leicht erklärlicher Weise herrscht gerade an den kleinen und kleinsten Bühnen verhältnißmäßig größere Sittlichkeit als an den „vornehmen“. Man kann ja von Theatern, von Künstlern nicht verlangen, daß sie Klöstern und ihren Bewohnern, wie diese sein sollten, gleichen, und gern will ich bekennen, daß bei vielen unserer modernen Bühnen die Künstlerin- 1555 nen - natürlich außerhalb der Bühne - das einzige anziehende und genießbare sind, was jene bieten. Wie der Herr, so der Diener, das Sprüchwort gilt auch beim Theater, nur muß es hier heißen, wie der Director, so der Schauspieler. <?page no="110"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 110 Wenn zwei Schauspieler sich über einen dritten unterhalten und ausnahms- 1560 weise einmal eine Anerkennung desselben ausdrücken wollen, so sagen sie von ihm zumeist nicht: „Er ist ein genialer Künstler“ oder „er hat sehr viel Talent“, „er ist ein fein beobachtender Künstler“, sondern gewöhnlich: „er ist ein sehr routinirter Schauspieler“. Damit ist eigentlich das Urtheil über unsere heutigen Schauspieler gesprochen. Kein Verständiger wird läugnen, daß die äußere Technik der 1565 Schauspielkunst, die gewiß ein sehr wichtiger und unentbehrlicher Theil derselben ist, nur auf dem Wege langjähriger Uebung erlangt werden kann und durchaus Sache der Routine ist, daß hierher auch die Methode der Auffassung gehört, die Art, wie der Schauspieler an das Studium einer Rolle herangehen und sie sich analysiren muß. Dergleichen will ebenfalls auf empirische[m] Wege gewonnen 1570 sein. Aber dem großen Troß unserer Herren Durchschnittsschauspieler ist die Routine Alles, sie ersetzt ihnen in ihren Augen Talent, Auffassung, Studium des Lebens. Das Schema einer Rolle, wie sie der oder jener große Schauspieler aufgefaßt und gegeben hat, bleibt für alle Nachfolger stereotyp und erfährt nur selten eine Umänderung. Eine bekannte Größe gut zu copiren gilt für hohen Ruhm, den 1575 Ehrgeiz, Eigenes zu schaffen, selbstständig sich mit einer Rolle zu beschäftigen, auf dem Wege eigenen Studiums, eigener Lebensbeobachtung in dieselbe einzudringen, besitzen nur wenige, höchstens geben sie sich Mühe, ein paar neue Nuancen auszuklügeln, gleichgiltig, ob dieselben für den darzustellenden Charakter passen und natürlich erscheinen oder nicht. Daher geht eine Unmenge stereoty- 1580 per Bühnengestalten in veralteter Auffassung noch alltäglich über die Bühne, wie z.B. Wallenstein, diese dämonisch-leidenschaftliche Natur, als eisigkalter, zurückhaltender Soldat, Burleigh, der eifernde Fanatiker, als trockner Actenwurm, Ophelia, diese von latenter Sinnlichkeit erfüllte Gestalt, als die zarte, keusche Blume. Noch immer wird Hamlet, diese feine, zarte, schwächliche Ephebengestalt 1585 von ersten Helden dargestellt, in der Regel einem robusten, handfesten Gesellen, so daß die Schwäche und Feigheit Hamlet’s wegen des Widerstreits der körperlichen Erscheinung mit dem Charakter nicht mehr tragisch, sondern unsympathisch, ja lächerlich berührt. Solcher Beispiele ließen sich viele anführen. Von Beobachtung des Lebens ist bei unseren Schauspielern keine Spur, alles ist 1590 Schablone. Die meisten Schauspieler haben nichts von jener Proteusnatur, die der Bühnenkünstler braucht, sie stimmen alle Rollen auf einen Ton, gleichgiltig ob dieser zu dem darzustellenden Charakter paßt oder nicht. Man nennt das „sich eine Rolle zurechtlegen“ oder „seiner Individualität anpassen“. Besonders der „berühmte“ Herr Kainz in Berlin, ein Schauspieler ohne jede Verwandlungsfä- 1595 higkeit, leistet hierin Unglaubliches. Beim Studium einer Rolle denkt der Schauspieler - wofern er überhaupt dabei denkt und sich nicht etwa blos auf sein „künstlerisches Gefühl“ verläßt, - höchstens: wie würde ich mich in dieser Situation benehmen, aber nur selten: wie muß sich dieser und dieser Charakter unter diesen Umständen in dieser Situation geben? Stereotyp sind bei unsern Schau- 1600 spielern und noch mehr bei den Schauspielerinnen die Bewegungen, die Geberden, die Sprache, das Weinen, das Lachen. Mit ein wenig veränderter Maske, in anderen Gewändern spielen sie alle Rollen gleich. Und die eine Schablone - manchmal sind es vielleicht auch zwei und drei - die jeder besitzt - sind selbst so <?page no="111"?> Conrad Alberti 111 gemacht, so lebensunwahr als möglich. So wie sich unsere Schauspieler auf der 1605 Bühne benehmen, wie sie sprechen, stehen, gehen, lachen, weinen, klagen, Liebe gestehen, schelten, spotten, benimmt sich kaum ein vernünftiger Mensch auf Erden in diesen Situationen. Welcher gewöhnliche Mensch spricht so consequent durch die Nase wie unsere Herren Liebhaber und Charakterschauspieler, welches Mädchen redet in solch’ gezierten, singenden oder flötenden Tönen, wie unsere 1610 naiven oder sentimentalen Liebhaberinnen? Aehnlich giebt es auch Dichter und Schriftsteller, die Menschen und Situationen auch nicht nach dem Leben, sondern nur nach andern älteren Büchern zeichnen. Auch in den Aeußerlichkeiten begehen die Schauspieler die größten Schnitzer gegen die Wahrheit: wenn sie als Reisende aus fernen Ländern ankommen, tragen sie die üblichen Theaterlackstiefeln 1615 an den Füßen, selbst im amerikanischen Urwalde oder im Sande der Wüste, und die Bauernmädchen auf der Bühne tragen bei der Feldarbeit seidene Röcke. Für die Darstellung historischer Gestalten fehlen unsern meisten Schauspielern (zu denen ich Leute wie Friedrich Haase, Sonnenthal etc. nicht rechne) die Kenntnisse, für die modernen Figuren der Beobachtungssinn. Der Schauspielerstand 1620 recrutirt sich zumeist aus den minder gebildeten Kreisen der Gesellschaft: verdorbene Handwerker, weggelaufene Kaufleute, Studenten, die auf Schule und Universität nicht gut gethan haben, bilden seine Hauptelemente, und den meisten ist es nur darum zu thun, ein bequemes Leben zu führen, das ihnen gestattet, so viel als möglich zu lumpen und zu faullenzen. Wenige unserer Schauspieler kön- 1625 nen einen englischen, französischen oder italienischen Satz richtig aussprechen. Bei Darstellung historischer Figuren fällt es ihnen gar nicht ein, selbstständige Studien in Betreff des Charakters der Gestalt zu machen, sie spielen sie in der Weise, wie sie althergebracht ist. Nur wenigen Darstellern, die den Julius Cäsar zu spielen erhalten, wird es einfallen, einmal im Mommsen Genaues über die 1630 geschichtliche Figur nachzulesen, im Museum die Büsten desselben eingehend zu vergleichen, sie legen sich bestenfalls eine eigene Phantasieanschauung von ihm zurecht, schlagen einen recht hohlen pathetischen Ton an und lassen das Uebrige den Friseur und den Garderobier besorgen, mit deren Hilfe wirklich etwas wie eine Cäsargestalt zu Stande kommt. Auch im Costümlichen opfern sie jede 1635 Wahrheit der Wirkung auf. Solche Bettlaken ähnliche Rittermäntel, wie unsere Mimen sich malerisch um Hüften und Schultern drapiren, hat man nie getragen, ebenso wenig solche Rococcoperrücken von Pferdehaaren, wie sie noch heute beim Theater Mode sind: aber die Dinger nehmen sich recht hübsch aus, und so werden sie natürlich weiter getragen. 1640 Am kläglichsten offenbart sich die Lebensunkenntniß unserer Schauspieler bei der Darstellung hoher fürstlicher Persönlichkeiten oder von Figuren aus dem niedern Volke in modernen Dramen, zwei Menschenclassen, die sie so gut wie gar nicht kennen: die eine, weil sie sich von ihnen fern hält, die andere, weil sie es vermeiden, mit ihr in Berührung zu kommen. Diese Theaterprinzen und -Fürsten, 1645 die sich aufblähen wie Truthähne, fürstliche Würde und Hoheit zu zeigen meinen, wenn sie sich mit einem gewissen Schwunge die Hand in die Brustklappe des Ueberrockes stecken, die schwadroniren und schreien wie Jahrmarktsverkäufer, sind zu köstlich, noch wunderbarer aber die Arbeiter mit den nagelneuen <?page no="112"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 112 sauberen Blousen, denen sich nicht selten frisch vom Schneider gekommene 1650 Beinkleider und - Lackstiefel zugesellen, mit dem hohen, pathetischen Nasalton, den abgerundeten schwunghaften Bewegungen der Arme! Unsere Berliner Schauspieler scheuen einen Gang bis vor das Cottbuser Thor, um sich einmal einen leibhaftigen Arbeiter oder Strolch anzuschauen, wie er sich auf der Straße unter seinesgleichen benimmt. 1655 Der gute Schauspieler, der es ernst mit seiner Kunst nimmt, sollte fortwährend beobachten und studiren, im Salon, auf der Straße, in der Kneipe, an allen Orten. Er sollte auf jede Tonfärbung im Gespräch, jede Bewegung der Andern achten und dabei nie den Charakter derselben aus den Augen verlieren, um schließlich zu wissen, wie sich jeder Charakter in jeder Situation benimmt. Denn nur durch 1660 Erfahrung, nie durch die reine Intuition kann man davon Kenntniß erlangen. Jeder, mit dem der Schauspieler zusammen ist, müßte unbewußt demselben zum Studienobject dienen, denn nur so kann letzterer sich Lebenskenntniß und Lebenswahrheit in der Darstellung aneignen. In jeder freien Stunde müßte sich der Schauspieler unter fremde Menschen begeben, um zu beobachten, namentlich 1665 Menschen solcher Kreise und Stände, mit denen er im Allgemeinen nicht in Berührung kommt. Für alle Verhältnisse des öffentlichen und privaten Lebens müßte er Sinn haben, für die Bewegungen auf den Gebieten der Politik, der Gesellschaft, der Wissenschaft: denn er kann auf der Bühne leicht in die Lage kommen, von denselben sprechen zu müssen, darstellen zu müssen, wie sich Jemand, 1670 dem diese Verhältnisse vertraut sind, in denselben bewegt. Wie soll er dies aber, ohne sie zu kennen? Die ungeschickte Art, wie er dies heut in den meisten Fällen thut, die vollständige Unnatürlichkeit, die er dabei entwickelt und die den vernünftigen Zuschauer oft zum hellsten Lachen anreizt, zeigt ganz deutlich, daß ihm die Kenntniß, das Studium dieser Dinge völlig fern liegt, daß nur das letz- 1675 tere, nur eingehendste Erfahrung in solchen Dingen helfen kann, und der Künstler nicht, wie von Unwissenden oft behauptet wird, die Welt schon fertig mit auf die Welt bringt. Nur die Art, wie er die empirisch gewonnenen Anschauungen auffaßt, nachbildet und sie künstlerisch mit einander verbindet, ist ihm angeboren, nicht aber die Anschauungen selbst, und kein Künstler kann ohne die unab- 1680 lässigste, schärfste Beobachtung bestehen. Sich ganze Nachmittage lang in Kaffeehäusern umhertreiben, die Wiener Witzblätter auswendig lernen, die Nächte hindurch kneipen und Scat spielen, den Tag über auf dem Sopha schlafen, mit den Colleginnen Verhältnisse anbandeln, wie das Gros unserer Durchschnittsschauspieler seine freie Zeit verwendet 1685 (und nur von diesem spreche ich hier) heißt niemals das Leben studiren. Für die großen Fragen des öffentlichen Interesses, die allgemein versirt werden, für die politischen und wissenschaftlichen Bewegungen unserer Tage fehlt ihnen der Sinn: kommt in einer aus verschiedenen Berufselementen bestehenden Gesellschaft die Rede darauf, so wissen sie meistens nur zu schweigen oder banale All- 1690 tagsphrasen vorzubringen, theilnamslos steht der Mime der Zeit gegenüber. Nur von seinen Erfolgen, seinen Contracten weiß er zu sprechen, nur diese existiren für ihn, alles Andere dünkt ihm leerer Schein, nur von kleinlichem Coulissenklatsch weiß er zu berichten, und begreift nicht, wie es Menschen geben kann, <?page no="113"?> Conrad Alberti 113 die sich für die Fortschritte der Telegraphie, für die Heilung der Hundswuth, die 1695 bulgarische Frage oder die belgischen Arbeiterexcesse interessiren können. Was wollen diese Dinge sämmtlich gegen den Umstand sagen, daß er soeben für den nächsten Winter einen sehr vortheilhaften Contract mit dem Züricher Stadttheater abgeschlossen hat, oder daß er bei seinem letzten Gastspiel in Rügenwalde drei Lorbeerkränze zugeworfen erhielt, oder ob in der bevorstehenden Aufführung 1700 des „Hamlet“ am Deutschen Theater Herr Kainz oder Herr Sommerstorf die Titelrolle spielen wird? Aber wen interessirt das ernstlich mit Ausnahme einiger verliebter Backfische? So ist es denn kein Wunder, daß in der wahrhaft guten Gesellschaft der Schauspieler auch noch heute nur eine geduldete Rolle, die des Declamators oder Anecdotenerzählers spielt, und dies wird sich nicht eher 1705 ändern, als bis er aufhört, sich für den Mittelpunkt der Welt anzusehen, und anfangen wird, das Leben selbst zu studiren und nachzuschaffen. Denselben Fehler der Trägheit, des ungenügenden Studiums des realen Lebens muß ich auch unsern dramatischen Schriftstellern zum Vorwurf machen, die sich in diesem Punkte nicht sehr vortheilhaft von den Mimen unterscheiden. 1710 Nicht jeder Schriftsteller kann ein Genie sein, nicht jeder fortreißende Kraft und Leidenschaft der Darstellung, sprühenden, allezeit schlagfertigen Witz, ausgeprägte Schärfe der Charakteristik besitzen. Von jedem Schriftsteller aber ist man berechtigt zu verlangen, daß er Fleiß besitze, daß er das Leben studire und uns wenigstens Wahrheit gäbe. Die Welt aber, die unsere modernen dramatischen 1715 Dichter vor uns aufbauen, hat in den seltensten Fällen etwas mit der wirklichen gemein, alle ihre Figuren sind, um ein Wort Hebbel’s zu gebrauchen, construirte Menschen. In das Leben zu gehen, es mit offenen Augen zu studiren, sich ihre Stoffe von der Straße heraufzuholen, fällt ihnen nicht ein. In ihrem mit höchstem Luxus bric à brac eingerichteten Arbeitszimmer lesen sie ein paar Pariser soge- 1720 nannte Sittendramen oder -Romane, suchen sich aus zehn derselben ein paar effectvolle Scenen heraus, kleben diese zusammen, construiren sich auf dem Sopha liegend die Menschen dazu und dictiren, ohne einen Schritt vor die Thüre zu wagen, dann die Ausgeburt ihrer Einbildungskraft dem Secretär. Dann besorgen gute Freunde die Reclame, die Recensenten werden zweimal zu Tisch gela- 1725 den, und das Machwerk kann als Kunstwerk ersten Ranges in die Welt gehen. So wird in Berlin die deutsche Literatur von Lindau, Lubliner, L’Arronge etc. und ihren guten Freunden gemacht. Was diese Herren für Kunst und Witz halten und ausgeben, ist unglaublich. Der Beherrscher der modernen Bühne ist das Lustspiel, es entspricht dem 1730 Zeitgeschmack am meisten, es genießt die besondere Pflege unserer Dichter, es wird auf unseren Bühnen noch relativ am besten dargestellt. Wie wenig erfreulich aber ist der Anblick, den unsere angeblich besten und erfolgreichsten modernen Lustspiele bei näherer Betrachtung gewähren! Ein Lieutenant fällt in’s Wasser Ganz ausgezeichnet hat über den eben angezogenen Gegenstand Karl Böttcher in seiner unlängst erschienenen, frisch und munter geschriebenen Brochure „Schauspieler-Eitelkeit“ gehandelt. <?page no="114"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 114 und ist gezwungen, Civilkleider anzuziehen, die ihm viel zu weit sind - das ist 1735 der Kernpunkt des berühmten Moser’schen Lustspiels „Krieg im Frieden“, welches in Berlin und anderwärts sich ungeheurer Erfolge zu rühmen hatte. In der That, das ist etwas so ungeheuer Merkwürdiges, Interessantes und Bedeutsames, daß es nöthig ist, dergleichen auf die Bühne zu bringen. Wie komisch, einen Lieutenant zu sehen, der sich vor Nässe schüttelt wie ein Pudel! Es ist ein so 1740 wichtiges Moment im öffentlichen Leben, wenn ein Lieutenant mal in’s Wasser fällt, ein so künstlerischer Anblick, so unendlich spaßhaft, von so bedeutendem Einfluß, so unterhaltend und bildend, daß es durchaus durch die Kunst verherrlicht werden muß. Dieser Töffel Reif von Reiflingen ist ein Mensch, dessen Bekanntschaft man durchaus machen muß, wenn man auf das Prädicat „gebildet“ 1745 Anspruch zu erheben gesonnen ist! Oder wie interessant ist nicht für einen gebildeten modernen Menschen z.B. der Kutscher eines Arztes, der selbst gern den Doctor spielen möchte, der einem kranken Bauer ein ganzes Glas Rhabarbertinctur zu trinken giebt und sich dann in den Kopf setzt, der arme Mensch könnte daran gestorben sein. Das ist so wahr, so natürlich, und vor Allem so interessant, 1750 so wichtig! Gerade so sind die Kutscher in ärztlichen Häusern, und wir müssen uns durchaus mit diesen Herrn Lubowski beschäftigen, denn wir sind ja gebildete Menschen und suchen unsern Umgang mit Vorliebe in diesen Kreisen! Welch’ eine hohe künstlerische That, einen Bauer zu zeichnen, der sich vor Leibschmerz windet, und einen Kutscher, der ihm Rhabarber zu trinken giebt! Oder ein Stoffel 1755 von Berliner Referendar, der sich wie eine Einfalt vom Lande benimmt, die zum ersten Male nach der Stadt kommt, oder die feingebildete Gattin eines Berliner Arztes, welche in Gegenwart eines Gastes einschläft, um den letzteren nur mit ihrer Tochter allein zu lassen. Ja, solche Referendare, solche feine Damen giebt es auch nur in dem Berlin - des Herrn L’Arronge! Ja, das ist echtes Lustspiel! Das ist 1760 Wahrheit, Laune, frisches Leben, reger Witz! Oder von welch’ feiner Lebensbeobachtung zeigt es, wenn in Blumenthal’s „Großer Glocke“ ein Bildhauer seinen Entwurf zu einer Gruppe, an dem er Monate lang gearbeitet hat, auf den er die größten Hoffnungen setzt, der ihm Gold und Ruhm bringen soll, von der Preisbewerbung zurückzieht, um der Mutter eines Collegen einen Gefallen zu thun, 1765 wenn ein Sanitätsrath beim Anblick einer Ohnmächtigen ausruft: „Um Gottes Willen schnell einen Arzt,“ oder ein Consul uns versichert, er wisse sehr wohl, daß er der einzige sei, der in sein feines Haus nicht hineinpasse. Von welch’ tiefer Lebensauffassung und Lebenskenntniß zeigt das, wie sind solche Figuren von verblüffender Naturwahrheit! Ganz so geht es in der Gesellschaft zu! Ja, wir ha- 1770 ben noch Genies, noch ist die deutsche Kunst nicht verloren, denn „Krieg im Frieden“, „Doktor Klaus“, die „Große Glocke“ sind wirkliche, vollendete Werke der echten komischen Kunst! Doch genug des Hohns! Wir von heute spotten über die Geschmacksrichtung der Romantiker, ihr phantastisches, dem zeitgenössischen Leben gänzlich abge- 1775 wendetes Schaffen, über die Märchenwelt, die sie sich in ihrem eignen Hirn aufbauten. Aber wenn ich vor die Wahl gestellt werde zwischen jener romantischen Märchenwelt der Tieck’schen Lustspiele und der platten, modernen, langweiligen, interesselosen, unwahren, verzeichneten geist- und witzlosen Welt unserer <?page no="115"?> Conrad Alberti 115 heutigen Lustspielschreiber, so werde ich, der begeisterte Anhänger des Realis- 1780 mus, mich vermuthlich doch für die erstere entscheiden, denn in ihr steckt wenigstens poetisches Empfinden, Geist, Farbenreichthum. Um im besten Falle zu sehen, wie Herr Assessor Fritz Müller sich in Fräulein Gertrud Meyer, Tochter des Commerzienraths Wilhelm Meyer verliebt, zuerst von ihr abgewiesen wird, dann aber in einer gut gewählten Stunde ihr pochend Herz gewinnt und sie als 1785 die seine heimführt - wie Herr Referendar Gerstel der jungen Emma Klaus in Gegenwart der schlafenden Frau Dr. Klaus eine Liebeserklärung macht oder der Kutscher Lubowski einem kranken Bauer Rhabarber zu trinken giebt, wie der Lieutenant Reif-Reiflingen in’s Wasser fällt und Thee trinkt - um diese und andere Nichtigkeiten und Erbärmlichkeiten des allerplattesten Alltagslebens vor 1790 meinen Augen geschehen zu sehen, soll ich mich in besondere Toilette werfen, mich an der Theatercasse drängen und stoßen lassen, für schweres Geld ein Einlaßbillet kaufen, drei Stunden lang auf einem engen, unbequemen Sitze, zwischen einer dicken Schlächterswittwe und einigen faule Witze reißenden Börsianern in glühender Hitze eingepfercht sitzen, mich in den Zwischenacten durch das un- 1795 endlich alberne Gespräch meiner Nachbarn langweilen lassen, die sich über meinen Kopf weg unterhalten, mich beim Ausgang wieder drängen und stoßen lassen und die Gefahr einer Erkältung riskiren? - Nein, das Ziel ist wirklich des Preises nicht werth! Wenn das Theater nicht mehr bieten kann, so hat es keine Berechtigung des Bestehens. Was wir verlangen, ist ein realistisches modernes 1800 Drama: unter Realismus aber verstehen wir die Nachschöpfung des zeitgenössischen Lebens durch einen echten Dichter, die Behandlung der großen Tagesfragen in echt künstlerischer Gestalt, sei es nach der tragischen, sei es nach der komischen Seite, die poetische Lösung der Conflicte des Lebens oder den Versuch des Dichters, dieselben in seiner Dichtung darzustellen und zu lösen, die Dar- 1805 stellung der großen Gesetze des Lebens in getreuen, naturwahren, farbigen, plastischen, bewegten Bildern. Wer von unsern modernen Dramatikern, die jetzt auf der Höhe sind, kann uns dies aber gewähren? Etwa Paul Lindau? „Was kannst Du armer Teufel geben? “ der du jämmerlich Schiffbruch leidest, sobald du einmal etwas Anderes zeichnen 1810 willst als das trostlos öde Leben und Treiben hinter den Coulissen und im Theaterfoyer, dessen Wiedergabe im „Erfolg“, „Jungbrunnen“ u.a. das beste, das einzig Gute ist, was du geschrieben? du, dessen einzig gutes Lustspiel, wie Speidel sagt, das Deines Lebens war, indem du mit dem denkbar geringsten Quantum Talent und einer unglaublichen Menge Unverfrorenheit Dir eine Stellung in der 1815 deutschen Literatur zu verschaffen wußtest - durch das unaufhörliche Hosiannahgeschrei einer Menge Leute, die sich dreimal wöchentlich in deinem Hause satt aßen. Oder Sie, Herr G.v. Moser, der Sie das Bischen echten Humor, das Sie besaßen, schon längst in Ihren älteren ja recht liebenswürdigen Stücken „Ultimo“ und „Hypochonder“ verspritzt haben und nur noch von dem Credit leben, den 1820 man Ihnen auf Rechnung des einstmals Bezahlten gewährt? Der Sie in Ihrem Doppelstück Reif-Reiflingen (das Sie, wie ich lese, noch gar zur Trilogie vervollständigt haben) Ihren geistigen Bankerott in unverhüllter Weise angezeigt haben! Oder Sie, Herr L’Arronge, dessen Phantasie und Lebensanschauung über klein- <?page no="116"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 116 lichste Kleinlichkeiten des Alltagslebens, über erste Bälle und ärztliche Sprech- 1825 stunden, versäumte Eisenbahnzüge und Wohnungsausräumungen nicht hinausgeht, in dessen Stücken man jeden Moment irgend eine Person nach einem unentbehrlichen, unnennbaren Geschirr greifen zu sehen erwartet? Oder Sie, Herr Blumenthal, der Sie sich hundert Bonmots auf einen Zettel schreiben und dann um dieselben herum ein beliebiges Stück gießen, der Sie Ihre Kammerdie- 1830 ner wie die Barone, Ihre Barone wie die Kammerdiener reden, jeden Barbiergesellen von Witz und Geist triefen, und um einer komischen Wirkung willen eine anständige Frau im Handumdrehen zur Spitzbübin und Urkundenfälscherin und im nächsten Moment wieder zur liebenden Gattin werden lassen, der Sie noch nie ein Motiv selbstständig erfunden oder aus dem Leben geschöpft, sondern Alles 1835 nur Andern nachgeahmt und dann mit den Originalgaben ihrer Witzspiele garnirt haben, so wie etwa ein Bremer Cigarrenfabrikant echten Pfälzer mit einer Beize übergießt und dann als Originalimport aus der Havannah auf den Markt bringt? Der Sie allgemein besprochene Vorfälle, Personen und Thatsachen aus dem wirklichen öffentlichen Leben auf die Bühne herübernehmen - nicht um 1840 einer sittlichen, reinigenden Wirkung willen, nicht als Typen, nicht um daran die das sociale Leben beherrschenden Gesetze zu zeigen, nicht um Ihrer Zeit einen Spiegel vorzuhalten, das wäre lobenswerth -, nein, sie nur zusammenstoppeln aus Speculation auf die niedrigsten Triebe, die Lust am Scandal, um Sensation zu erregen, um mehr von Ihren Stücken sprechen zu machen, um einige Tausend 1845 Mark Tantièmen mehr einzustreichen. Sie haben ganz Recht, Herr Blumenthal, daß Sie Geld, viel Geld verdienen wollen, ein Thor wäre, wer die Gelegenheit und das Talent dazu besäße und beide nicht ausbeutete. Wer sich ein Jahr lang um eine Arbeit müht und an ihr schafft, will sie selbstverständlich so glänzend als möglich verwerthen, und Niemand wird heutzutage mehr vom Dichter verlan- 1850 gen, daß er um Gottes Lohn für den Ruhm allein arbeite. Behüte! Allein, der nur hat das Höchste erreicht, der beides zu vereinen weiß: materielle Erfolge und wahrhaft künstlerische Leistungen. Sie aber, Sie machen sich kein Bedenken, Ihr Geld zusammenzuscharren, indem Sie auf den niedrigsten aller Triebe speculiren, die Scandalsucht des Publikums. So stehen Sie denn nicht höher als die Verbreiter 1855 jener bekannten Berliner Extrablätter über den neuesten Mord, als die Verfasser jener Schundcolportageromane, welche die neuesten politischen und socialen Vorgänge, die bairische Königstragödie, die bulgarische Revolution, die belgischen Streiks sofort in ellenlangen Erzählungen, die Lieferung à 10 Pfennige, grob und plump verarbeiten. Sie sind der Gregor Samarow und Sir John Retcliffe der 1860 deutschen Bühne. Auch daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf: Jeder verdiene sein Geld wie er kann, sofern es ehrlich geschieht. Selbst Cloakenreiniger und Abdecker sind doch auch ehrenhafte und redliche Menschen. Aber dann besitzen Sie wenigstens auch die Ehrlichkeit, nicht mit den Früchten der Colportagedramatik den Heiligenschein der Poesie vereinen zu wollen - wagen Sie zu scheinen, 1865 was Sie sind, hören Sie auf, sich durch die Feder und den Mund Ihrer allzeit dienstbeflissenen Clique, welche Sie inspiriren, und der Blätter, die Sie zum Theil selbst bedienen, als das erlösende Genie unserer poetischen Misere proclamiren zu lassen und jedes ernste, redliche, echte Kunststreben, wie Sie und Ihre Freunde <?page no="117"?> Conrad Alberti 117 alltäglich thun, in den Koth zu treten, indem Sie horribiliscribifaxisch dazu 1870 schreien: Das einzige wahre Genie bin doch nur ich, und wehe dem, der es wagt, mir gleich sein zu wollen. Ueber Sie, Herr Lubliner, und Ihre literarischen Erzeugnisse mich weiter zu verbreiten, habe ich nicht die mindeste Lust. Sie haben mit „Gräfin Lambach“ Ihre Todesanzeige selbst unterzeichnet und de mortuis nil nisi bene. Ruhen Sie in Frieden! Ob Sie nun noch ein paar Lust- oder Schauspiele 1875 mehr in die Welt senden, um nach „Auf der Brautfahrt“, „Jourfix“, „Mitbürger“, „Frau Susanne“, „Gold und Eisen“, „Die armen Reichen“ das Dutzend Ihrer Durchfälle vollzumachen und wenigstens ein anständiges Jubiläum als der durchgefallenste Schriftsteller der Neuzeit zu feiern - es wird mich wenig kümmern und das Urtheil der Verständigen kaum beeinflussen. Wer uns immer und 1880 immer wieder in seinen modernen Stücken eine Welt vorführt, die im Monde, auf der Venus, dem Mars vielleicht, sicherlich aber nirgends auf der Erde existirt - wer nicht müde wird, uns die unglaublichsten Menschen als leibhaftig und wirklich existirend vorzuführen - eine Frau, die in einem Augenblick, in welchem es sich für sie um Sein oder Nichtsein, um ihre und ihres Mannes Ehre und Leben 1885 handelt, dem Gatten eine Standrede über Vorzüge und Schattenseiten der Ehe im witzelnden Saphir’schen Tone hält - ein Kaufmann, der an hochgradiger Hellseherei leidet und in einem im Kamin brennenden Papier intuitiv ein unschätzbares Document erkennt, und der an einem der wichtigsten und erregtesten Punkte der Handlung dem Schwiegersohne einen Vortrag über die Bedeutung des 1890 Kaufmannsstandes in der Welt hält - wer uns ein deutsches Ministerium vorführt, in dem über den Urlaub der Beamten nicht einmal Buch geführt wird, - wer die Spannung des Publikums durch eine unglaublich verwickelte Fabel bis auf’s Höchste steigert, was keine Kunst ist, um sie dann, wo die Kunst des Dichters anfangen soll, durch das Auffinden eines Tagebuchs eines jungen Mädchens 1895 aufzulösen, was seit dem seligen Benedix Niemand mehr gewagt hat - wer seine Motive und Gestalten consequent aus fremder oder älterer eigener Arbeit entlehnt und Alles dies um ein paar durch und durch unwahre, verlogene, lediglich auf einen äußeren Augenblickseffect berechnete Wirkungen zu erzielen, ohne jeden Funken von Lebenskenntniß, Beobachtung, psychologischen Scharfblick, 1900 Humor und Poesie - wer dies consequent durch Jahre mit eiserner Stirn treibt und sich nur durch das ohrenzerreißende Bravogeheul einer zahlreichen Verwandtschaft oder häuslich befreundeten Clique mühsam im Sattel zu halten vermag - der hat das Recht verwirkt, ernsthaft - ja überhaupt nur als anwesend genommen zu werden. Von Ihnen, meine Herren, soll man eine Blüthezeit des 1905 deutschen Lustspiels erwarten, von Ihnen, die Sie das Volk nicht kennen, dem Sie angehören, in dem Sie leben, das Sie schildern wollen, sondern sich auf den Sophas in Ihrem Salon im Berliner Westen herumräkeln und nicht wissen, wie es draußen im Norden, Osten und Süden aussieht und zugeht? Die Sie nie etwas Anderes verstanden haben, als für einander gegenseitig mit möglichst viel Lärm 1910 in’s Horn zu stoßen und sich eine Freundesclique zu erschmeicheln, erloben, erschimpfen oder zu erfüttern, welche den Sand, den Sie der Welt in’s Gesicht streuten, als Goldregen ausgiebt und brutal unter die Füße tritt, was nicht zu Ihnen und nicht zu ihr geschworen hat? Die Sie emporgestiegen sind nur durch <?page no="118"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 118 den Wind, den Ihre Freunde um Sie herum machten, und nur infolge Ihrer eige- 1915 nen Leichtigkeit. Die Sie in nichts groß sind, als in Ihrer eigenen Einbildung und der thörichten Bewunderung ihrer Clique, und an nichts reich, als an Honoraren. Aber nicht ewig wird sich die Welt von Ihnen Sand in die Augen streuen lassen, sie wird sich ihn schließlich doch einmal aus denselben wischen und Sie in Ihrer ganzen Gedankenarmuth und Blöße erkennen, und ich, bei Gott, will mit den 1920 Vernünftigen umhergehen und werben und wirken, so lange bis sie Vernunft angenommen hat, damit durch Pygmäen und deren Schmarotzer den ehrlich strebenden, den wahrhaft bedeutenden unter unseren Dichtern, wie ich sie oben genannt, wiewohl meine Liste auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, nicht länger die verdiente Anerkennung, das verdiente Brod entzogen werde. 1925 Sie wird es endlich müde werden, die Welt, immer wieder dieselben Handlungen, dieselben Gestalten auf der Bühne zu sehen, die stereotypen modernen Lustspielfiguren, die sich nur äußerlich, nur durch die Aenderung der Namen von der Art der Masken der altitalienischen Komödie unterscheiden, sonst aber gerade so stehende Typen sind wie diese: der gutmüthige, etwas schwache, etwas 1930 cretinhafte Commerzienrath, seine hochfahrende, aristokratisirende Gattin, der schüchterne und linkische Assessor, der flotte, liebenswürdig sein wollende Landwirth oder Lieutenant, der sechzehnjährige Backfisch, der noch nicht weiß, was Liebe ist (ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts! ) sondern es sich erst von dem vorhergenannten erklären lassen muß, die jungfräulich herbe, stolze erste 1935 Liebhaberin, welche sich gegen die Liebe zu wehren sucht und ihr schließlich doch unterliegt, der tölpelhafte Bediente, der seinen Herren, wo er kann, nachzuahmen sucht, der Schmierenkomödiant, der hochmüthige Beamte, der verlegene, ungeschickte Gelehrte, das dreiste, Jedem die Wahrheit in’s Gesicht sagende Stubenmädchen u.s.w. u.s.w. Macht Platz Ihr arbeitsscheues, liederliches Gesindel, 1940 die Ihr nichts versteht als zu faullenzen und Euch den trägen Bauch zu stopfen, herumzulungern und Possen zu treiben, die Ihr das heilige Wort „Liebe“ durch Eure Tändeleien zehn Mal in der Minute entweiht - steigt herab von der Bühne, macht Platz dem Manne der ehrlichen Arbeit, der redlich vorwärts strebt und sich müht und in dessen Herzen noch Raum ist für die natürliche, volle Entfal- 1945 tung großer und mächtiger Empfindungen und Leidenschaften, der noch hell und kräftig zu lachen versteht und nicht blos wie Ihr nervös zu hüsteln, macht Platz der Fülle individueller, nicht schablonenhafter Gestalten des modernen Lebens, dem Politiker, dem Agitator, dem Forscher, dem modernen Erfinder, der modernen Frau, die nach Gleichberechtigung mit dem Manne strebt und sich 1950 neue Berufszweige zu finden bemüht, den zahllosen verschiedenartigen Existenzen fremder Länder, welche der Strom des Lebens an die Ufer der Spree verschlägt - kurz allen den eigenartigen und lebensvollen Erscheinungen des modernen, nationalen Großstadtlebens! Natur, eigenartige, interessante Natur, Wahrheit des Lebens wollen wir auf der Bühne sehen. Nicht ferner soll ein gebil- 1955 deter Mensch in einem fremden Zimmer viertelstundenlang mit einem andern Gaste sprechen, ohne sich vorzustellen, so daß dieser den andern Gast für den Hausherrn und jener den Neuankömmling für einen verrückten Schneider hält, woraus tausend Verwickelungen entstehen - nicht ferner soll der Dichter alle <?page no="119"?> Conrad Alberti 119 seine Gestalten fortwährend einander hinter den Thüren, unter den Tischen be- 1960 lauschen lassen und durch dies läppische Motiv je nach Bedarf Verwickelung und Lösung hervorbringen, nicht ferner sollen zwei, die sich in der siebenten Scene eben noch gründlich und leidenschaftlich haßten, in der neunten schon als plötzlich hinter den Coulissen Versöhnte auftreten, nicht ferner soll jedes freie und offene Wort über weltbekannte öffentliche Zustände und Personen von der 1965 Bühne verpönt und ausgeschlossen sein. Das Leben sollen unsere Dichter studiren, und wenn sie der Kunst wirklich einmal das schwere Opfer bringen müßten, für ein Vierteljahr von Berlin W nach Berlin O. oder SO. oder C. zu verziehen! Das Lustspiel und seine in ihrer heutigen Form noch unnatürlichere Abartung, der Schwank, überwuchert so sehr unsere moderne dramatische Production, daß 1970 daneben das ernste Drama fast gar nicht aufkommen kann und die Posse zur Unbedeutendheit herabsinkt. Beides ist zu beklagen, denn beides zeugt für die Ungesundheit unserer Kunstzustände. Wie wenige Dichter haben wir, die es verstehen, die ernsten Conflicte und Vorgänge des modernen Lebens zur Gestaltung zu bringen. 1975 Was Wildenbruch in dieser Hinsicht geschrieben, ist gerade das am wenigsten gelungene unter seinen Werken: „Opfer um Opfer“. Daß auch Heyse das Problem des modernen Dramas nicht lösen wird, erscheint klar; Heyse als Dramatiker ist ein Widerspruch in sich selbst, sein Trauerspiel „Ehrenschulden“, ein in Handlung und Charakteristik gleich verunglückter Versuch. Daß Stücke wie Lindau’s 1980 „Gräfin Lea“ nicht ernst zu nehmen sind, braucht nicht erst gesagt zu werden, ein so tief einschneidender Vorwurf muß denn doch ganz anders angegriffen werden, daß Blumenthal’s Stücke nicht den geringsten Kunstwerth besitzen, sondern nur krasse, auf die Sensationswuth des Publikums berechnete Fabrikwaaren sind, habe ich schon oben dargethan, ebenso den gänzlichen Unwerth der Production 1985 des Herrn Lubliner. Ueber Hart’s „Sedan“ habe ich schon oben gesprochen. Aus der älteren Zeit ragt wie ein düsterer, gewaltiger, erratischer Granitblock Hebbel’s „Maria Magdalena“ hinein, dem sich Ludwig’s „Erbförster“ beigesellt. Nimmt man noch Freytag’s „Valentine“ und „Graf Waldemar“, so sind wir mit dem ernsten Drama des modernen Deutschland beinahe zu Ende, denn Stücken 1990 wie Wilbrandt’s „Tochter des Fabricius“ fehlt das ganz speciell moderne Gepräge. Eine traurige Ausbeute, wenn man sie mit der Production der Scandinavier vergleicht! Was bleibt uns hier noch zu lernen, noch zu thun übrig! Beinahe noch trauriger sieht es mit der Posse aus, diesem nicht hoch genug zu schätzenden Zweige der Bühnenliteratur. Welche Bedeutung die Posse hat, wie 1995 groß ihr Einfluß namentlich auf die untern Bevölkerungskreise ist, braucht wohl Niemandem gesagt zu werden. Die Berliner Posse der vergangenen Jahrzehnte war classisch in ihrer Art. Kalisch, Pohl, Hugo Müller, zum Theil noch Salingré, Weirauch lieferten Bilder aus dem Volksleben von einem wahrhaft herzerfreuenden Realismus: wohlgewählte Stoffe, kerngesunde Handlungen, lebenswahre 2000 Charaktere, eine unbarmherzig die Geißel über Mißstände aller Art schwingende In seinem Buche „Durch scharfe Gläser“ hat Gustav Schwarzkopf in einer Satire „Nach der Schablone“ die Plattheit des modernen Lustspiels witzig verspottet. <?page no="120"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 120 Satire, daneben auch Scenen von rührender Gemüthsinnigkeit! Stücke wie der „Goldonkel“, „Berlin wie es weint und lacht“, „Die Mottenburger“, „Die Maschinenbauer“, „Unruhige Zeiten“, „Der Actienbudiker“, „Die Spitzenkönigin“, „Von Stufe zu Stufe“, „Die Reise durch Berlin in 80 Stunden“ und viele andere ähnli- 2005 che, von genialem Uebermuth strotzende Possen werden noch leben und als Culturbilder in fernen Zeiten wieder hervorgesucht werden, wenn der seichte Lustspielkram der heutigen Bühne schon längst vom Meere des Vergessens fortgeschwemmt sein wird. Aber welchen Mißgeburten haben jene guten alten Possen Platz machen müssen! Fade Plattheiten, wie der „Jüngste Lieutenant“ wurden 2010 nur durch das Genie der Ernestine Wegner einigermaßen genießbar gemacht. Unerträglich aber ist jene Gattung sogenannter Possen, welche sich gegenwärtig im Berliner Centraltheater in vielhundertfachen Wiederholungen breit macht. Jede Spur nationaler, berlinischer Eigenart ist bei ihnen verwischt, während doch jede Kunst, und namentlich die humoristische, der Würze des nationalen Charakters 2015 bedarf, das Berlinische beschränkt sich in jenen Possen auf ein paar rein äußerliche Momente und Namen, und der letzte Rest derselben geht dadurch verloren, daß sie hauptsächlich von Wienern (wenigstens in den wichtigsten Partieen, den Soubrettenrollen) dargestellt werden. Unsere Posse muß aber speciell berlinisch bis in den kleinsten Zug sein, wenn sie wirken soll, es kann eine nationalitäten- 2020 lose Tragödie geben, nie aber eine Posse ohne scharf ausgeprägte nationale und im Besondern national-hauptstädtische Eigenart. Es ist aber unglaublich, welche Unsumme von Albernheit uns diese moderne Posse zumuthet. Handlung, Dialog, Charakteristik, Alles ist gleich trostlos und öde. Immer wieder dreht es sich um dieselben hundertmal dagewesenen Motive: um einen reich gewordenen Hand- 2025 werker, der den nobeln Mann spielen will, dem die Noblesse aber sehr schlecht bekommt und nur Unannehmlichkeiten bringt und der dann freiwillig wieder in die alten bescheidenen Verhältnisse zurückkehrt - oder ein junges Mädchen, dessen Eltern früher in einem fremden Hause ein Unrecht zugefügt worden ist, und das, herangewachsen, aus der Fremde, unbekannt in jenes Haus einkehrt, nach- 2030 träglich die Uebelthäter entlarvt und die Ehre der Eltern wiederherstellt. Ueber diese beiden im Leben so selten vorhandenen Motive reicht die Erfindungsgabe unserer Possendichter nur selten hinaus, immer bringen sie dieselben wieder in neuen Variationen. Als ob das großstädtische Volksleben nicht täglich eine Fülle der reizendsten Possenmotive freiwillig darreichte. Aber freilich, hier gilt wieder, 2035 was ich oben sagte: wer über Berlin W. nicht hinauskommt oder jahraus, jahrein in einem Villenvorort Berlins sein Heim aufschlägt, wird das Berliner Volk nie kennen lernen. Beobachtet das Berliner Volk draußen in den Vorstädten, am äußersten Ende von Moabit, draußen noch hinter dem Wedding oder in der Gegend des Ostbahnhofes, beobachtet es bei der Arbeit in den Fabriken der Reichenberger 2040 Straße oder am Grünen Weg, wie es um die Mittags- und Abendstunde über den Moritzplatz oder die Jannowitzbrücke fluthet, wie es sich an Sonntagen durch die Passage zwängt, hinaus nach Schildhorn oder Treptow wogt oder im Sande der Hasenhaide Kaffee kocht, beobachtet es in den Wahl- oder Frauenversammlungen, bei der Illumination an Kaisers Geburtstag, am Sedantage, oder wenn es 2045 heimlich vor Quartalsschluß aus seinen Wohnungen „rückt“, und Ihr werdet <?page no="121"?> Conrad Alberti 121 zehn und hundert der schönsten Possenmotive finden, Ihr werdet nicht mehr nothwendig haben, wenn Ihr im Theater Lachen erregen wollt, zu den ältesten und abgebrauchtesten Kindereien Eure Zuflucht zu nehmen, z.B. die eine Person rückwärts nach der Thür zu gehen und dort mit einer andern zusammenstoßen 2050 zu lassen, der größte komische Effect, über den der Hausdichter des Centraltheaters zu verfügen scheint. Wenn die Handlung langweilig wird, so helfen die Waden eines Dutzend hochgeschürzter, gleichgekleideter, stimmloser Choristinnen über die Verlegenheitspause fort, oder Herr Ernst wiegt sich in den Kniekehlen und streckt den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern nach vorn - was 2055 das ganze Publikum ungeheuer komisch findet. Ich habe viele Hochachtung vor dem Director Adolf Ernst, dem Fleiß, den er anwendet, um sein anfangs kleines Possentheater immer mehr und mehr zu heben, der Geschicklichkeit, mit der er seine Stücke in Scene setzt und ausstattet, aber mit der Richtung, die augenblicklich seine Bühne einschlägt, kann ich mich gar nicht einverstanden erklären, und 2060 nur der Umstand, daß Berlin sich von Tag zu Tag mehr entberlinert, daß das wirkliche Berlinerthum allmählich untergeht und die heutige Generation kaum noch mehr weiß, was eigentlich „berlinisch“ ist und heißt, läßt die Thatsache möglich erscheinen, daß Nichtigkeiten, wie der „Stabstrompeter“ oder die „Wilde Katze“ 100 und 200 Aufführungen erleben. Das Centraltheater trägt die Verant- 2065 wortung, den Geschmack Berlins auf Jahrzehnte hinaus vergiftet und verdorben zu haben. Freilich, ich gebe dem Director vollständig Recht, daß er die Geschmacksrichtung pflegt, die seinem Publikum gefällt. Aber was ist das für ein Publikum! Elegante Dirnen, halbreife Ladenschwengel, ungebildete, geistlose Subjekte, denen die Begriffe Kunst, Realismus, Lebenswahrheit wie Koptisch oder 2070 Sanskrit klingen, mit ihren „Verhältnissen“. Halbwüchsige Knaben, denen nichts daran liegt, auf der Bühne ein wahres und frisches Stück Leben zu sehen, denen nur daran liegt, Stücke, bei denen sie nichts zu denken brauchen, und eine Anzahl hübscher Soubretten und Choristinnen zu sehen, an deren Waden und halbbloßen Busen sie ihre Augen weiden. 2075 Wie Goethe den Theaterdirector im „Faust“ das Publikum schildern läßt, so ist es zum größten Theil noch heute. „Beseht die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh. Der nach dem Schauspiel hofft ein Kartenspiel, 2080 Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen. Was plagt ihr armen Thoren viel Zu solchem Zweck die holden Musen? [“] Und oft noch viel schlimmer! Die bessern, feiner empfindenden Elemente ziehen sich vom Theater zurück, weil der Niedergang der heutigen Bühne sie kränkt und 2085 sie verschmähen, gegen denselben Front zu machen und sich der Gefahr auszusetzen, von gewissen Seiten mit Steinen beworfen zu werden. Ich verstehe ihr Schweigen, wenn ich es auch nicht billigen kann - denn ich bin der Ansicht, daß jeder gute und anständige Mensch unter allen Umständen die Pflicht hat, für das Gute und Anständige einzutreten und gegen das Niedere und Gemeine energisch 2090 <?page no="122"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 122 Front zu machen, auch wenn er sich dabei Beschimpfungen aussetzen muß. Wunderbar sind die Elemente, aus denen sich unser heutiges Publikum zusammensetzt, wunderbar ist, was es sich Alles bieten läßt, wunderbar seine Urtheilslosigkeit, sein Schwören auf fremde Worte. Man geht heute in’s Theater - nicht mehr, wie früher, um einen Kunstgenuß zu haben, um fleischgewordene Poesie 2095 zu sehen, um sich einen Abend lang zu erfreuen und anregen zu lassen - nein, nur um einen verlorenen Abend auszufüllen, weil man Besuch aus der Provinz hat, für dessen Unterhaltung man sorgen muß. Da sitzt im Parquet die Familie des reichen Börsianers, die bei einem klassischen Stück gähnt, daß ihr die Kinnbacken schmerzen, und doch die Antigonevorstellung besucht, damit man sie für 2100 „gebüldet“ halte; da sitzt der Geschäftsinhaber, der sich den Tag über abgemüht hat und nur durch ein paar faule Witze und kitzliche Situationen zerstreut und aufgeheitert sein will, und neben ihm der Student und der Commis, die ihre Operngläser nicht von den Busen der Schauspielerinnen abwenden und mit kundigem Blick prüfen, ob sie genügend decolletirt sind; da macht ein Anderer zwi- 2105 schen der Gefangennahme Tell’s und dem Schusse auf den Landvogt sein nervenstärkendes Schläfchen, um nachher lustig und munter zu sein, wenn man bei Langlet oder Dressel erst wieder im gemüthlichen Kreise beisammen ist, und dort unterhalten sich während des Zwischenactes von „Romeo und Julia“ zwei Herren mit schwarzen Bartcoteletten eingehend in der Foyerecke, und der Vorüberge- 2110 hende hört mit Staunen: „67¾ - die neuesten Wiener Depeschen - ich gebe blos ½“. Nur um Himmels Willen nichts Großes, Bedeutendes auf der Bühne, nichts, worüber der Zuhörer nachdenken muß, und vor allen Dingen nichts Tragisches! Zerstreuen will man sich in Deutschland im Theater, aber den erschöpften und 2115 angestrengten Kopf sich nicht auf’s Neue zerbrechen, lachen will man[,] sich amüsiren. Trauriges hat man im Leben, im Geschäft, in der eigenen Familie des Tages über genug! Leichte und seichte Lustspiele, Witze, Kindereien - nur um Himmels Willen keine Probleme, keine schwierigen Fragen, nur nicht wieder den Zank und Streit und die Sorgen des Tages heraufbeschwören! Wenn wir die wol- 2120 len, bleiben wir hübsch zu Hause. - So denken und sprechen unsere Philister und machen sich und uns zum Spott und Gelächter des Auslandes. Wir Deutschen sind die unliterarischeste Nation der Welt. Man erinnere sich, wie von gewissen Seiten gegen Björnson’s grandioses „Fallissement“ gesprochen und agitirt wurde. Die Hälfte unseres kaufmännischen Theaterpublikums demonstrirte gegen das 2125 Stück, sie betrachteten dasselbe wie eine gegen sie gerichtete Satire - der Fluch des bösen Gewissens trieb sie. Ein Unterhalter ist dem heutigen Publikum der Dichter, nichts weiter, wie die Alten sich bei ihren Gastmählern von Sklaven Musik machen und vortanzen ließen, so will unsere Welt vom Dichter ein paar Stunden lang aufgeheitert werden, gleichviel durch welche Mittel; er soll es lachen 2130 machen, und müßte er auf dem Kopfe spazieren gehen; ist die Stunde der Unterhaltung vorbei, so klatscht es ihm großmüthig zu und wendet sich von ihm ab. Davon ahnt es nichts, daß eine Dichtung sein soll wie ein reinigendes Gewitter, das die faule Schwüle, die über der Welt lagert, mit Macht vertreibt und die Luft von den ungesunden Dünsten des Parteienhasses, der Verrohung, der Lange- 2135 <?page no="123"?> Conrad Alberti 123 weile, der Bigotterie reinigen soll, daß sie versuchen soll, die Räthsel des Lebens zu lösen, die Gesetze derselben lebendig darzustellen, die Erkenntniß vom Wesen der Welt, der Gesellschaft zu fördern, daß der Dichter ein Prophet ist, der zürnt, ermahnt und straft, der den ewigen Kampf für alles Große und Heilige, gegen alles Kleinliche und Schlechte führt und das Unrecht und die Philisterhaftigkeit 2140 bekämpft, wo sie ihm begegnen. Ehrlos der Dichter, der seine Aufgabe anders auffaßt, der sich zum Clown des Publikums hergiebt, er schändet sein Handwerk - er kann es eine Zeit lang ungestört und mit Erfolg treiben, endlich aber muß er doch einmal schlecht und schmählich enden! Unser größtes Unglück ist aber das Ueberwiegen des weiblichen Geschlechts 2145 im Theaterpublikum, das sich fast zu Dreivierteln aus Frauen und Mädchen zusammensetzt. Ihrer ganzen Natur nach ist die Frau im Allgemeinen (es giebt natürlich auch Ausnahmen) die geborene Feindin der Wahrheit in der Kunst. Wie Emil Peschkau einmal in einem meisterhaften Aufsatze im „Magazin f.d. Literatur“ ausgeführt hat, vermag die Frau die Wahrheit im Leben wie in der Kunst nur 2150 schwer ertragen, sie ist immer geneigt, die Welt unter dem apriorischen Idealbilde zu betrachten, das sie sich von ihr gemacht hat, sie urtheilt nicht nach ihrem Verstande, ihrer Lebenskenntniß, sondern nach ihrem Gefühl, und dieses findet sich fast stets durch die brutale Unbarmherzigkeit des Lebens verletzt. Vollends im grellen Lichte der Bühne erscheint ihr jede einfache Wahrheit doppelt brutal, 2155 sie versteht sie einfach nicht und findet sie häßlich. Darum hassen die Frauen z.B. in der Literatur Zola, stehen Turgenjew und Dostojewski kalt gegenüber und lieben Paul Heyse. Nur das Schöne, Ideale, Romantische, Ueberschwengliche, Verlogene gefällt ihnen, und ich bin überzeugt, daß jede Frau heimlich die „Jungfrau von Orleans“ himmelhoch über „Lear“ und „Macbeth“ stellt. Das Kindliche, 2160 Artige, Anmuthige lieben sie besonders, und dann das Rührende, Versöhnende, Sentimentale. Bei einem so durch und durch kindischen und verlogenen Stücke wie dem „Hüttenbesitzer“ vergießen sie Thränen, Hebbel’s „Maria und Magdalena“ oder Otto Ludwig’s „Erbförster“ finden sie abstoßend. Und von diesen weiblichen Kritikern ist der moderne Dichter abhängig, sie füllen die Sitze des 2165 Parquets und ersten Ranges und haben die entscheidende Stimme. Sie protestiren dagegen, daß Fragen und Gegenstände der Politik und des öffentlichen Lebens auf die Bühne gebracht werden, von denen sie nichts verstehen, die blödeste Liebesgeschichte interessirt sie mehr, es giebt für sie nichts Wichtigeres als zu wissen, wie Fräulein Mathilde Müller unter die Haube kommt. Die Blouse des Ar- 2170 beiters auf der Bühne verletzt sie, die Uniform des Stabstrompeters läßt ihre Herzen höher schlagen. Ob diese oder jene Schauspielerin natürlich oder wie ein Papagei spricht, ist ihnen gleich, die Hauptfrage ist: was trägt sie für Toilette? Wenn jene Figur aus dem gewöhnlichen Volke, wie es ihr zukommt, gewöhnliche Worte und Wendungen gebraucht, oder der erste Liebhaber so einfach spricht, 2175 wie man eben im Leben zu sprechen pflegt, so verletzt sie das, sie wollen auf der Bühne nur „edle“ und geistreiche Reden hören, nur vornehme Allüren sehen. Der starke Procentsatz, den die Frauen zum großen Theaterpublikum stellen, die vorwiegende Majorität, in der sie sich daselbst befinden, trägt einen großen Theil der Schuld an der Abwendung derselben vom realen Leben, von den Fragen der 2180 <?page no="124"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 124 Zeit, an dem Niedergange der Darstellung. Früher sprachen Männer im Theater das Urtheil und darum ist uns das Andenken von einfachen, wahren Künstlern wie Ludwig Devrient und Seydelmann überkommen, heute richten im Theater die Frauen und sie sind es, die gezierte, unwahre Mimen und Virtuosen, wie den „schönen“ Barnay, auf die Staffel des Ruhmes erheben. 2185 Was aber die Sache, besonders in Betreff der dramatischen Production noch bedeutend verschlimmert, ist, daß gerade der urtheilsloseste Theil der Frauenwelt, die Jugend, das Hauptcontingent der Theaterbesucher stellt. Junge Damen und Backfische füllen die Reihen der Sitze, und ihr Geschmack ist entscheidend. Eine weltkundige, lebenserfahrene Frau, die die Menschen und Dinge kennen 2190 gelernt hat, wird trotz des angeborenen, angeblich „idealen“ Triebes noch eher auf die Stimme der Wahrheit in der Kunst hören, nie aber ein Backfisch, der die Welt nur durch die Brille seiner Wünsche und Hoffnungen betrachtet, haßt, was ihn aus seinen Illusionen zu reißen droht, und alles „unedle“ verschmäht - jene Altersstufe, der - mag sie auch für’s Leben schon so raffinirt als möglich sein und 2195 die Augen bereits unablässig nach einem reichen, schönen oder vornehmen Manne auswerfen - literarisch doch noch Max und Thekla, die beiden guten, alten Puppengestalten, als die Bilder höchster Vollkommenheit vorschweben. Die Rücksicht auf diesen Theil des Publikums zwingt unsere Dichter und Schriftsteller, Alles zu vermeiden, was Politik, Religion, sociale Kämpfe, Nachtseiten des 2200 Herzens u.dgl. heißt, und nichts niederzuschreiben, was über die glatte Oberflächlichkeit des Alltagslebens hinausgeht, denn die jungen Mädchen könnten ja Schaden an ihrer Seele nehmen, wenn sie im Theater erführen, daß es Arme und Reiche auf der Welt giebt, Frauen, die ihre Liebe verkaufen u.s.w. Daß sie gleichzeitig durch die Zeitung in alle Einzelheiten des Prozesses Gräf oder der Ver- 2205 handlungen gegen Anarchisten und Kindesmörderinnen eingeweiht werden - ja das ist etwas ganz Anderes! Daß jedes Trauerspiel kraft seines inneren Wesens unsittlicher Momente nicht entbehren kann, daß das Tragische im Abfall von der Sittlichkeit besteht und ein durch und durch sittenreines Stück eben ganz unmöglich eine gute oder nur eine wirkliche Tragödie sein kann, daß Lustspiel, 2210 Schwank, Posse ohne gesunde Derbheiten nicht bestehen können, daß ihrem Wesen nach das Hereinziehen des geschlechtlichen Lebens und seiner furchtbaren wie seiner heiteren Seiten unbedingt nöthig und unvermeidlich ist, darnach wird nicht gefragt. Man verurtheilt häufig das moderne französische Sittendrama, man schreibt und spricht viel über die verderbliche Wirkung eines Theaters, dessen 2215 Repertoir sich zu einem großen Theil aus Ehebruchsdramen zusammensetzt. Aber man sollte bedenken, daß eben in Paris junge Mädchen diese Stücke auch nicht entfernt in dem Maße besuchen, wie bei uns, daß dort junge Mädchen überhaupt aus ihrer Pension viel weniger in’s Theater kommen als bei uns und das Publikum sich größtentheils aus Männern und verheiratheten Frauen zusammen- 2220 setzt. Das ist der Unterschied, dieses Moment ist für die Beurtheilung wesentlich. <?page no="125"?> Conrad Alberti 125 Darum hat sich in Frankreich eine so reiche und trotz aller Fehler anziehende moderne Theaterliteratur entfalten können, welche in alle Sprachen übertragen wird, weil Augier, Sardou, Dumas keine kleinlichen Rücksichten auf die weibliche Jugend zu nehmen hatten, darum will und wird unseren Deutschen nie 2225 Aehnliches gelingen, sondern sie wird immer eine Literatur für Backfische und Solche bleiben, die auf einer Geistesstufe mit ihnen stehen. Das Thema verdiente einmal eingehender behandelt zu werden, als es an dieser Stelle möglich ist. Schon Goethe hat gesagt, junge Mädchen gehörten in’s Kloster, nicht aber in’s Theater, und wenn wir auch das erstere bestreiten, das letztere können wir mit 2230 einigen Einschränkungen zugeben. Nicht ganz vom Besuch des Theaters ausschließen sollte man die jungen Mädchen, aber man sollte sie auch nicht zu jeder Vorstellung mitnehmen oder mitnehmen zu dürfen verlangen, man sollte sie nur zu gewissen Vorstellungen in’s Theater schicken, die den bekannten Kindervorstellungen analog als Backfisch-Vorstellungen zu behandeln wären, zum we- 2235 nigsten sollte eine stillschweigende Uebereinkunft unter den Eltern bestehen, zu gewissen Vorstellungen junge Mädchen nicht in’s Theater zu schicken, sondern nur selbst hinzugehen. In einer Stadt wie Berlin müßte ein Theater ausschließlich für Männer und verheirathete Frauen, oder eines ausschließlich für junge Mädchen bestehen. Der innige Familiensinn des Deutschen gestattet aber nicht, daß 2240 die Eltern sich im Theater unterhalten, während die heranwachsenden Töchter das Haus hüten, sie wollen die ganze Familie beisammen haben. Dann aber sollte man wieder vernünftig genug sein, den jungen Mädchen auch nicht den Weg zur Erkenntniß des Lebens durch das Bühnenbild zu verschließen, sondern sie frühzeitig in die Mysterien und Abgründe des Lebens einweihen, nicht sie in Un- 2245 kenntniß und Harmlosigkeit aufwachsen lassen, denn jenes kann sie allein vor späterem Verderben bewahren, während Unkenntniß der Lebensabgründe sie unbedingt in einen solchen stürzen lassen muß, sobald der Zufall des Geschickes sie späterhin an den Rand eines solchen führt. Nicht früh genug kann man die Gefahren des Lebens kennen lernen. Hätte ich eine Tochter, nie würde ich Beden- 2250 ken tragen, sie in eine Vorstellung der „Denise“ von Dumas zu schicken, jenes Stück, welches mit seiner Darstellung der Qualen, die einem jungen Mädchen ein Fehltritt bereiten kann, vielleicht dem letzteren die nachhaltigste und lauteste Mahnung ist, sich nie von der Leidenschaft überrumpeln zu lassen. Gegenwärtig lautet das Stichwort des deutschen Philisterthums - und fast je- 2255 der Deutsche kommt mit der Schlafmütze auf die Welt - „peinlich“. Es findet Henrik Ibsen’s „Gespenster“ - „peinlich“. Freilich, dem Philister ist es immer peinlich, wenn man ihm die Wahrheit sagt. Ich glaube nicht, daß die Weltliteratur ein sittlicheres Stück kennt als die „Gespenster“, dieses furchtbare, in Nordlichtfarben glänzende mene tekel für unsere männliche Generation, sittlich zu leben, 2260 da sie das leibliche und geistige Heil der zukünftigen zu verantworten hat. Solch’ eine Aufforderung muß freilich unserer wollustentnervten jeunesse dorée „pein- Auch wir verwerfen das französische Sittendrama, aber aus ästhetischen, nicht aus pädagogischen Gründen. Ist es auch künstlerisch fehlervoll, so weckt es doch das Nachdenken. <?page no="126"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 126 lich“ sein. Zu allen Zeiten hat sich das Philisterthum aufgelehnt gegen das Neue und Große in der Kunst: als die Sturm- und Drangperiode, Goethe und Schiller an der Spitze, den neuen Kunststil schufen, nannten die Vertreter der alten Schule 2265 einstimmig den „Götz“ und die „Räuber“ roh und verletzend - heute heißt das Stichwort „peinlich“. Wie traurig, wenn das Gewissen sich in die Nerven flüchtet! Schlimmer aber als das Philisterist das Pharisäerthum, welches in keinem Lande der Welt so in Blüthe steht wie bei uns. Bei Ibsen, Zola und Dostojewski ruft es aus: Ja ja, solche Schurken und Cretins sind die Norweger, Franzosen und 2270 Russen, diese sind so der Sittenlosigkeit verfallen, wie ihre Schriftsteller es schildern, aber wir, wir Deutsche, sind das auserwählte Volk, die erblichen Pächter der Moral und Sittlichkeit, bei uns kommt nie dergleichen vor - wir brauchen nur eine „reine“ nationale Poesie, welche uns Deutsche so schildert, wie wir sind, - als Engel. Ein Muster solch’ literarischen Pharisäerthums ist Herr Adolf Rosen- 2275 berg, der Kunstreferent eines bekannten Berliner Blattes. Als ob unsere ganze Gesellschaft nicht genau so verlogen, verfault und in Unsittlichkeit erschlafft wäre, wie die Pariser oder Petersburger. Nur daß jene Dichter ehrlich genug sind, es einzugestehen - wir aber bei unserer Verderbtheit entweder blind sind oder Heuchler. Einem anderen Theil ist wieder das Theater nur Modesache, man 2280 „poussirt“ Wildenbruch, nicht weil er ein bedeutender Dramatiker ist, sondern weil allenthalben augenblicklich „so viel von ihm gesprochen wird“, und auf einen großen Theil des Publikums übt nicht der poetische Werth des „Neuen Gebot“ Anziehungskraft, sondern nur der Staub, den sein ursprüngliches Verbot erregte oder der bei dieser Gelegenheit künstlich aufgewirbelt wurde. Daß damit 2285 schließlich Kunst und Dichter in den Rang der altdeutschen Zimmereinrichtungen, der Tournuren oder der Möpse gerathen - Modesachen, die man mitmachen muß - ist klar. Auch die kindische Sucht, nur immer Novitäten im Theater sehen zu wollen, auch das Schwören auf irgend einen großen Namen gewöhne das Publikum sich 2290 ab: wir haben schon oben gezeigt, wie oft und schwer es in dieser Hinsicht getäuscht wird, wie oft man ihm das abgestandenste Bier in gewechselten Gläsern reicht, wie oft der Wirth „plantscht“ und auf sein Renommée hin sündigt. Es ziehe ein gutes, altes, wohlbewährtes Stück, zumal wenn es dasselbe nur vom Hörensagen kennt, einem miserablen neuen vor und gewöhne sich, vor eine neue 2295 Arbeit auch des berühmtesten Autors mit derselben ruhigen Kühle des Urtheils, mit derselben Zurückhaltung zu treten, wie vor die Erstlingsarbeit eines jungen unbekannten Autors. Nur wenn der Schriftsteller die Gewißheit hat, jeden neuen Erfolg in einem ehrlichen, schweren Kampfe erringen zu müssen, wird er stets mit den besten Waffen ausgerüstet in’s Feld treten, sonst aber bald Helm und 2300 Schild zu Hause lassen und sich im nachlässigsten Hauskleide vorstellen. Ueber das Berliner Publikum insbesondere, dessen Urtheil ja anfängt für ganz Deutschland ausschlaggebend zu werden, hat Alexander v. Humboldt einmal sehr richtig gesagt: Die Berliner gehen in’s Theater nicht wie Leute, die sich amüsiren wollen, sondern wie solche, die über einen Mörder richten sollen. Das 2305 Urtheil ist auch heute noch theilweise wahr. Und doch ist wieder das sogenannte Berliner Premièrenpublikum - das übrigens in jeder ersten Vorstellung eines <?page no="127"?> Conrad Alberti 127 neuen Stückes beinahe dasselbe ist und nur einen ganz unbedeutenden Ausschnitt der Berliner Gesellschaft bildet - bisweilen wieder von einer Milde im Urtheil, ja um es dreist zu sagen, von einer Urtheilslosigkeit, die überrascht. In 2310 Berlin erringen aber nicht die Stücke Erfolge, sondern ihre Verfasser, nicht schauspielerische Leistungen werden beklatscht, sondern die Schauspieler. Das Publikum hat seine Lieblinge, welche es „hält“, denen es zu Erfolgen verhilft, und seine Feinde, die es rettungslos durchfallen läßt. Nur läßt es sich leider dabei oft mehr von persönlichen als von sachlichen Gründen leiten. Der politische Stand- 2315 punkt, den der Verfasser eines Stückes im Alltagsleben einnimmt, seine Religion, tausend andere persönliche Dinge bestimmen sein Urtheil. Man erinnere sich, aus welch’ schmählichen persönlichen Gründen früher um Stücke von Autoren wie Blumenthal, Herrig u.a. bei den Premièren ein förmlicher Kampf stattfand und zum Theil noch jetzt stattfindet. Man zischte, weil jener Jude, dieser Antisemit 2320 war, weil jener sich durch rücksichtslose Angriffe und Kritiken mißliebig gemacht hatte u.s.w. Es gab Antisemiten, die schamlos genug waren, das Stück des Autors um dessen Religion willen auszuzischen, während sich die Glaubensgenossen und Freunde desselben in gröblicher Mißachtung der Gebote der Objectivität in der Kunstkritik verpflichtet fühlten, für seine Schwächen einzutreten und 2325 selbst seinen Albernheiten Beifall zu klatschen, nur weil er in dasselbe Gotteshaus wie sie beten ging, weil er an einem Kneiptische mit ihnen zu sitzen und Scat zu spielen pflegte. Eine Schaar angeblich christlich und national gesinnter Jünglinge fühlte sich lange Zeit verpflichtet, im Deutschen Theater stets zu zischen, nicht weil die Vorstellungen (wie in der That) mittelmäßig waren, sondern weil zwei der 2330 Societäre Juden sind, während die Glaubensgenossen des Herrn L’Arronge aus demselben Grunde auch die verunglücktesten Vorstellungen dieser Bühne wie neue Kunstoffenbarungen bewunderten und anpriesen. Daß ein so durch und durch persönliches Urtheilen eines Publikums keinen Anspruch auf Beachtung seitens der Verständigen erheben kann und nur dazu beitragen muß, das Publi- 2335 kum und die Stadt, in welcher derlei geschieht, vor den Augen des In- und Auslandes herabzusetzen und zu discreditiren, erscheint klar, und ich finde den Spott und die Mißachtung, welche man in Wien, Paris und vielfach in Deutschland selbst dem Berliner Publikum und seinen Urtheilen entgegenbringt, bedauerlicherweise nur zu begreiflich. Es ist leider wahr, daß der Erfolg aller dramatischen 2340 Werke in Berlin, der Millionenstadt, von einem kleinen Häuflein von etwa 40-50 Menschen gemacht wird. Es ist der Stamm des sogenannten Premièrenpublikums, welches überall bei jeder Neuaufführung zu finden ist und mit wenig Witz und viel Selbstbewußtsein sein kritisches Verdict abgiebt. In den Zwischenacten tauscht man seine Ansichten aus, drei, vier „maßgebende“ Persönlichkeiten, Be- 2345 herrscher der Stimmung eines Rings von Anhängern, der auf ihre Worte schwört geben die Parole aus, darnach werden die Hände oder die Mundspitzen in Bewegung gesetzt, und das übrige im Theater anwesende Publikum vermag gegen das mehr als selbstbewußte, jede abweichende Meinung niederklatschende oder zischende Publikum nicht aufzukommen. Die Frauen einiger hiesige[r] Zeitungs- 2350 redacteure, ein paar Schriftsteller zweifelhaften Erfolgs nebst ihren Frauen und Angehörigen, sonstige literarische und künstlerische Bohème, ein paar blasirte <?page no="128"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 128 Börsenleute mit ihren Maitressen u.dergl. bilden dieses maßgebende Publikum der Residenz. Nur nach persönlicher Bekanntschaft, Gunst oder Ungunst wird hier entschieden, was nicht den abgestumpften Gaumen dieser Herren und Da- 2355 men kitzelt, wird als „oberfaul“ abgelehnt. Kommt nun ein neues Stück der Herren Lubliner, Blumenthal und Consorten zur Aufführung, so wird der ganze Heerbann dieser Herren aufgeboten, jeder, der nur einigermaßen in persönlichen Beziehungen zum Autor oder dessen Verwandten, Freunden etc. steht, muß in’s Theater hinein, 3 Tage vor der Aufführung ist das Haus bereits ausverkauft, bzw. 2360 ausverschenkt - und dieses „objective, feinsinnige, kunstliebende“, wie es der „Börsencourier“ mit unbewußter Ironie nennt, Publikum spricht nun sein vorher schon längst feststehendes Urtheil über das neue Stück. Unter rauschendem Beifall geht der Vorhang nieder und die Autoren erfahren dann gewöhnlich erst am nächsten Tage aus den Zeitungen des gegnerischen Lagers, daß ihr Stück eigent- 2365 lich hätte durchfallen müssen. Leider kann ich unserer sonst so mustergiltigen Presse den Vorwurf nicht ersparen, daß sie sich von dem eben getadelten Fehler auch nicht immer frei hält. Allerdings nur ein ganz geringer Theil derselben. Nur ein paar Kritiker sind es, die die Objectivität, die ihr Beruf verlangt, wohl ab und zu um eines befreundeten 2370 oder gehaßten Autors willen einmal vergessen, und diese nehmen auch im Urtheil der überwältigenden Mehrzahl ihrer streng objectiv denkenden und urtheilenden Collegen den gebührenden Platz ein. Unsere Tagespresse nimmt freundlichen und unterstützenden Antheil an dem Gedeihen und Blühen der deutschen Bühne, ihr ist dieselbe kein leerer Zeitver- 2375 treib, sondern eine ernste wichtige Sache, und sie räumt derselben daher einen guten Theil ihrer Spalten ein. Niemand wird sie des Mißwollens gegen das Theater zeihen. Eher könnte man bisweilen im Gegentheil glauben, daß sie dasselbe durch ein in bester Absicht zu weit getriebenes Wohlwollen verwöhnt. Eine Anzahl unserer Tagesblätter fühlt sich wenigstens um der Kunst willen für ver- 2380 pflichtet, auch von den kleinsten und unbedeutendsten Neuigkeiten aus dem Kreise der Bühnenkünstler auf’s Ausführlichste Notiz zu nehmen, uns über das Unwohlsein jenes Sängers, den Contractbruch dieser Tänzerin oder die neuen Toiletten einer bekannten Schauspielerin für irgend eine neue Rolle eingehende, nicht selten spaltenlange Beweise zu bringen und alle in diesen Angelegenheiten 2385 gewechselten Briefe, Billete, Actenstücke u.s.w. wörtlich abzudrucken. Dadurch wird ja nun allerdings das Interesse am Theater in weiteren Kreisen wach gehalten, allein es fragt sich, ob das Uebel, das man dabei mit in den Kauf bekommt, den Vortheil nicht aufwiegt. Denn indem die edlen Mimen und Miminnen in solcher Weise in den Vordergrund der Tagesereignisse und der Journale gescho- 2390 ben werden, muß natürlich in ihnen der Glaube erweckt und bestärkt werden, daß ihre Person Alles, die Kunst selbst nichts sei. So wird die Eitelkeit und Aufgeblasenheit derselben großgezogen, das Gefühl, sich für die größten und wichtigsten Leute ihrer Zeit zu halten, welches die meisten Schauspieler außerhalb des Theaters so ungenießbar macht. So werden sie schließlich dazu getrieben, sich 2395 sämmtlich für Sterne ersten Ranges, für künstlerisch unfehlbar zu halten und mit Hochmuth auf die herabzusehen, die sie groß gemacht, die Kritik, und Jeden für <?page no="129"?> Conrad Alberti 129 einen Feind oder einen Narren zu halten, der in den Chor ihrer Bewunderer nicht bedingungslos mit einstimmt. Um so mehr, als die Schauspielkunst allein von allen Künsten diesen Vorzug genießt, denn ein neuerschienenes gutes Buch, die 2400 neue Statue eines Bildhauers, Werke genialeren, mühevolleren Schaffens als die reproducirende Darstellung irgend einer Rolle, werden von denselben Blättern, die sich beeilen, über jedes Gastspiel einer Soubrette anderthalb Spalten zu bringen, oft wochenlang keines Wortes gewürdigt und dann mit ein paar nichtssagenden Worten abgethan, die Personen ihrer Schöpfer haben vollends nie die 2405 Hoffnung, sich einmal erwähnt zu sehen. Was ist über den Contractbruch des Fräulein Lehmann vom Berliner Opernhause in den Zeitungen nicht wochenlang geschrieben worden, über den Vergiftungsversuch einer kleinen Schauspielerin des Deutschen Theaters? Von dem Tode eines Mannes, wie Julian Schmidt, haben kaum ein Dutzend Blätter flüchtige Notiz genommen, das Erscheinen von hoch- 2410 bedeutenden wissenschaftlichen Werken, die mächtige, augenblicklich in der Schriftstellerwelt stattfindende und alle Kräfte derselben aufregende Einigungsbewegung haben die Blätter mit ein paar Zeilen abgethan. Die deutsche Journalisten- und Schriftstellerwelt gleicht eben leider noch allzusehr jenem guten Schwaben, der alle seine Genossen zählte und nur sich selbst mitzuzählen vergaß. 2415 Der Hochmuth und die Arroganz gewisser Elemente, durch die Liebenswürdigkeit und zuvorkommende Unterstützung der Presse genährt, streift ja bisweilen an die Grenzen alles Erlaubten und Schicklichen. Hatte nicht Herr L’Arronge, dessen Unternehmen doch einzig und allein durch die beispiellose Güte und Unterstützung der Presse seine großen äußeren Erfolge erzielte, jetzt, nachdem er 2420 sicher im Sattel sitzt, die Rücksichtslosigkeit, als im letzten Winter der Verein Berliner Presse sein alljährliches Ballfest gab, für denselben Abend eine Première anzusetzen, blos um denen, die ihn groß und reich gemacht haben, einmal zu zeigen, daß er ihrer nicht mehr bedürfe - ein Protzenthum, das man einem ungebildeten Parvenu schwerlich verzeihen würde. Das charakteristischeste Beispiel 2425 in dieser Hinsicht ist das Verhalten eines Herrn Fritzsche, Director einer sich durch keinerlei künstlerische Vorzüge auszeichnenden faulen Berliner Operettenbühne. Der Referent eines angesehenen Berliner Blattes hatte sich - man staune - erkühnt, einen neuen an dieser Bühne aufgeführten Singsangschmarren als künstlerisch werthlos zu bezeichnen und dadurch den Dünkel des Comö- 2430 dienprinzipals in solcher Weise erregt, daß dieser von Beleidigungen strotzende Briefe an den Referenten und die Redaction des Blattes richtete, in denen er sich für künftig einen anderen Referenten ausbat, so daß der Beleidigte sich genöthigt sah, die Hilfe der Gerichte in Anspruch zu nehmen. Das sind die natürlichen Folgen eines solchen Verzärtelungssystems. Es ist traurig, daß der kritische Theil 2435 selbst angesehener Blätter abhängig ist vom Inseratentheil, daß die Furcht, das ständige Theaterinserat zu verlieren, ja nicht selten sogar die Besorgniß um die Entziehung des Freibillets, so manche Redaction an einer objectiven Theaterbeurtheilung verhindert und sie veranlaßt, nur immer in Wendungen höchsten Lobes zu sprechen. Mögen die Vertreter der Presse daher einsehen, daß auch zu 2440 viel Liebenswürdigkeit und Wohlwollen, an der unrechten Stelle angewendet, für sie selbst und die Kunst üble Folgen haben muß. Scharf und streng soll die Presse <?page no="130"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 130 gerade dem Theater gegenüber sein, denn nirgend wird mehr gegen den guten Geschmack gesündigt, als dort. Die Mittelmäßigkeit und Talentlosigkeit, die sich dort so sehr bemerkbar macht, soll sie erbarmungslos verfolgen, das Gute aner- 2445 kennen, aber nicht in enthusiastischer Ueberschwenglichkeit gleich als die höchste Leistung menschlichen Geistes preisen. Nie darf der Schauspieler und Bühnenleiter vergessen, der Kritik den schuldigen Zoll der Achtung und Ehrerbietung zu erweisen (wohl gemerkt, nur der Achtung, nicht der widerwärtigen Kriecherei, die fast stets verkappter Hochmuth ist), nie vergessen, daß das größte 2450 darstellende Genie noch immer in vielen Punkten von dem unbedeutendsten Kritiker lernen kann und lernen soll, nie darf die Presse die Person des Künstlers, welche für die Kunst selbst fast vollständig gleichgiltig ist, in den Vordergrund stellen, sondern nur gelegentlich ganz beiläufig erwähnen. Und was soll man dazu sagen, wenn man sich in Berlin als offenes Geheimniß erzählt, daß ein Re- 2455 dacteur eines sehr bekannten hiesigen Blattes pecuniär, mit einem bestimmten Tantièmesatz an den Einnahmen eines Berliner Volkstheaters betheiligt ist, gegen die Verpflichtung, von Zeit zu Zeit in den Spalten seines Blattes die Reclametrommel für jenes Unternehmen zu rühren und für die Aufnahme der Reclamen auch in die andern Blätter der Hauptstadt zu sorgen. 2460 Ich kann auch nicht billigen, daß ein Theil unserer Kritik sich ganz auf den kindischen und beschränkten Standpunkt unseres Durchschnittspublikums stellt und sich zum Vertreter seiner Backfischhaftigkeit macht, wie dies z.B. bei Wildenbruch’s „Neuem Gebot“ geschehen. Man nahm Anstoß an einer Liebesscene an den Stufen des Altars und an dem Hereintragen der hochschwangeren Köni- 2465 gin in die von Waffenlärm erfüllte Kirche. Sind wir denn wirklich ein so erbärmliches Geschlecht von Gefühlspygmäen geworden, daß uns das Große, Gewaltige nur noch entsetzt und nicht mehr erhebt und erschüttert! Und auch das Tadeln und Nörgeln, nur um des Tadelns willen, nur weil man Kritiker ist, sollte man sich abgewöhnen und lernen, echte Größe, echte Kunst auch rückhaltlos anzuer- 2470 kennen. Sollte das ein Tadel für Wildenbruch’s „Neues Gebot“ sein, daß im dritten Acte ein neues Motiv einsetzt? Freuen sollten wir uns doch, daß wir endlich wieder einen Dichter besitzen, der über eine Fülle poetischer Motive gebietet. Tragisches Menschenschicksal ist es eben, was Wildenbruch in jenem Stücke schildert, zeigen will er, wie ein edler Mensch jenes wildbewegten Zeitalters von 2475 der Fülle der auf ihn einstürmenden neuen Conflicte und Ideen vernichtet werden konnte. Und noch kläglichere Armuthszeugnisse haben sich die Berliner Kritiker gelegentlich der Aufführung der „Gespenster“ Ibsen’s ertheilt. Ich kann mich auch nicht davon überzeugen, daß es von Vortheil ist, wenn zwischen Theaterkritiker und Theaterdichter eine Personalunion stattfindet. Der 2480 Kritiker kommt dabei entschieden am ungünstigsten fort, denn die Besorgniß, späterhin selbst einmal auf der Bühne Schiffbruch zu leiden und herben Tadel zu erwerben, wird ihm oft genug das erforderliche Maß kritischer Objectivität und Schneidigkeit beeinträchtigen und seinen Besprechungen den Reiz der unmittelbaren Frische rauben, sie seicht und im schlechten Sinne versöhnlich machen. Wie 2485 aber soll man es erst nennen, wenn ein bekannter Lustspieldichter in Berlin, der seine Werke an einem hiesigen Theater zur Aufführung bringt, also am materiel- <?page no="131"?> Conrad Alberti 131 len Gedeihen des Letzteren, das ihm seine hohen Tantièmen zahlt, offenbares Interesse hat, zugleich Theater-Kritiker eines maßgebenden Blattes der Hauptstadt ist und seinen Einfluß nun dahin benutzt, sein Theater - das heißt dasjenige, 2490 welches zum Theil von seinen Stücken lebt - dadurch emporzubringen, daß er alle Aufführungen, sie mögen so mißlungen sein als sie wollen, bis in den Himmel erhebt, für dasselbe in widerwärtigster Weise die Reclametrommel rührt, alle anderen Theaterunternehmungen in Berlin aber in einem Tone abkanzelt, wie ihn kein Lehrer bezüglich der Arbeiten eines erwachsenen Schülers gebrauchen 2495 würde. Es kommt ihm darauf an, Alles neben sich in Grund und Boden zu recensiren, er erkennt nichts Gutes neben sich an, höchstens was in Berlin zu seiner Clique schwört, darf ab und zu einmal auf ein bei Seite fallendes Lobspänchen rechnen. Jedes Wort, was dieser Mann in Theaterdingen schreibt, ist ein in Gift getauchter Pfeil, und […] er klingt dem unbefangenen Ohr mißtönig, wie der 2500 Klang einer gesprungenen Glocke. Was er schreibt ist moralisch strafbarer Eigennutz, ist ungerecht, übertrieben, nach der Seite des Lobes wie des Tadels, und wenn er einmal ein junges aufstrebendes Talent eines freundlichen Wortes würdigt, so geschieht es sicherlich in der Absicht, das anscheinend gütig gewährte Geschenk später bei passender Gelegenheit mit Zinseszins zurückzufordern. So 2505 zwingt er alle Bühnenleiter Berlins, sich zu ihm in Beziehungen zu setzen, seine Stücke zu geben, deren Witz und Bühnenwirksamkeit ich übrigens durchaus anerkenne, ihm dramaturgische Aufträge zu ertheilen, Uebersetzungen, Ballettexte u.dergl. zu bestellen. Wehe ihnen, wenn sie es wagen, ihn zu ignoriren! Und dieser Mann, der die Würde und das Ansehen der Kritik, ja der Presse überhaupt 2510 Tag um Tag mit Füßen tritt, gilt Zehntausenden als der neue Lessing, der Reformator der deutschen Bühne, der „deutsche Sardou“ und die um ihn gesammelte Clique, die er sich, wie Lessing von Klotz sagt, theils erschimpft, theils erlobt hat, posaunt sein Lob und seine Ehre hinaus in alle Winde. Das heißt nicht mehr die Muse zur milchenden Kuh machen, die für den Butterbedarf sorgt, das heißt die 2515 freie, unabhängige Kritik, die Tochter des Scharfsinns und der Wahrheit, zur Helotin erniedrigen, das heißt sie mißbrauchen, sie für sich arbeiten lassen, wie der Berliner Louis seine Dirne. Denn daß man zugleich selbstschaffender Dramatiker und doch streng objectiver Kritiker sein kann, ohne zu solch’ wenig rühmlichen Mitteln zu greifen, um 2520 für seinen eignen Ruhm und seinen Geldbeutel zu wirken, ohne alle andern Mitstrebenden schnöde zu verhöhnen, zu unterdrücken und anzuspeien, lehrt das Beispiel von Männern wie Heinrich Bulthaupt und selbst Paul Lindau mit unwiderleglicher Klarheit. Es ist wahr, nicht jeder Kritiker kann ein Lessing sein, nicht jedem ist eine solche Fülle von eigenartigen und treffenden Gedanken, nicht je- 2525 dem so viel Witz, so viel Wissen, solche Glätte der Form gegeben wie unter den heutigen Kritikern einem Frenzel, allein jeder Kritiker, auch des kleinsten Blättchens, könnte und sollte die Eigenschaften besitzen, welche um ihrer Seltenheit willen ihren Besitzern großen, wohlverdienten Ruhm verschafft haben: Unbefangenheit, Liebe zur Wahrheit, zur Kunst, und das Vermögen, jede persönliche 2530 Stimmung oder Verstimmung zu Hause zu lassen, jeden Gedanken an gesellschaftlichen, Liebes- und gar pecuniären Vortheil oder Nachtheil, sowie er den <?page no="132"?> Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) 132 Zuschauerraum des Theaters betritt. Das beste Mittel, sich diese Eigenschaft zu erhalten, wird freilich immer Enthaltung von eigner Production sein. Der Kritiker sollte keine Stücke schreiben, der Dramatiker keine Kritiken. Oder zweifelt Je- 2535 mand daran, daß z.B. ein Frenzel, wollte er für die Bühne schreiben, bei seiner außerordentlichen Bühnenkenntniß und Erfahrung, seinem feinen poetischen Sinn mit leichter Mühe Bühnenwerke zu Stande bringen würde, gegen welche „Ein Tropfen Gift“ und „Der schwarze Schleier“ erscheinen würden, wie ein gefärbter Glasfluß, ein Spielzeug für Kinder, neben einem den funkelnden Strahl 2540 der Sonne in hundert Brechungen wiedergebenden Rubin, dessen Glanz die Augen blendet - ein Schmuck für Könige. Besondere Erwähnung verdient eine üble Eigenschaft der Berliner Kritik, aus gemeinem, persönlichem Neid nicht anzuerkennen, was an positiven Kunstleistungen aus der Feder heimathlicher Schriftsteller stammt, mag es so ernst, gediegen, geistreich sein als möglich. Nur was 2545 aus Wien oder Paris stammt, mag es so erbärmlich sein als es will, findet vor den Augen der Berliner Kritik Gnade, und auch dies nur, weil die letztere so Gelegenheit hat, die Leistungen der einheimischen Collegen zu ignoriren oder vornehm zu verdammen. Es ist der erbärmliche Neid der Impotenz, der aus diesem Verfahren spricht. 2550 Ich glaube im Vorangegangenen die Ursachen unseres Theaterelends wenigstens in den Hauptpunkten dargelegt und eingehend erörtert zu haben. Ich hätte mich über manche Punkte wohl noch ganz anders, viel schärfer, äußern können. Ich hätte sprechen können von der Käuflichkeit gewisser Intendanten, Regisseure, Dramaturgen, Kritiker, die sich jede Aufführung des Stückes eines jungen 2555 Autors, jede Rollenzutheilung, jedes gespendete Wort des Lobes mit klingender Münze bezahlen lassen. Aber es ist mir nicht um das Schimpfen und Herunterreißen zu thun gewesen, denn ich habe mich bemüht, wo es nur anging, die Mittel und Wege anzugeben, mit und auf denen Besserung zu erstreben wäre. Ob meine Vorschläge die rechten sind, überlasse ich der Beurtheilung Anderer. Kei- 2560 nesfalls komme man mir aber mit der alten, sinnlosen Phrase, tadeln sei leichter als besser machen. Es ist weder leichter noch verdienstloser. Eine Kritik kann unter Umständen eine ebenso positive productive Leistung sein, als ein Roman, ein Drama, ein Epos, ein Gemälde. Sie ist es, falls die Beurtheilung nicht blos an dem einzelnen vorliegenden Kunstproducte geübt wird, sondern wenn der Ver- 2565 fasser bestrebt ist, für die Allgemeinheit, die Gesammtkunst oder einzelne Gebiete derselben bestimmte giltige, neue Gesetze und Regeln aufzustellen. Ein solches Gesetz, eine solche Regel zuerst zu finden, ist bisweilen schwerer und verdienstlicher als ein Kunstwerk hervorzubringen, und jene würden von ebenso langer Dauer sein als dieses. Im übrigen ist es gleichgiltig, ob in Zeiten der Nie- 2570 derlage und Verwirrung durch Rath oder That Hilfe gebracht wird: wer da die Mitlebenden in kurzen Worten über die Gründe des Mißstandes aufklärt und ihnen zeigt, wie sie sich von demselben befreien können, erwirbt sich eben so viel Verdienst, als wer sich kühn an die Spitze einer Bewegung stellt und durch eine rasche That das Glück zu wenden versucht. Nur muß die Wahrheit auf seiner 2575 Seite sein, nur darf ihm der Erfolg nicht ausbleiben. Darüber aber kann im vorliegenden Falle allein die Zukunft entscheiden. <?page no="133"?> 2. Conrad Alberti: Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater (1887) Kommentar 56 Deutsches Theater (Berlin), 1850 als Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater eröffnet; 1881-1883 Leitung durch Julius Fritzsche (1844-1907); 1883 durch Adolph L’Arronge (1838-1908) und eine Schauspielersozietät übernommen; 1894-1904 Leitung durch Otto Brahm (1856-1912), der das Deutsche Theater als Bühne des Naturalismus etablierte; 1904-1905 Leitung durch Paul Lindau (1839-1919); 1905-1932 Leitung durch Max Reinhardt (1873-1943); 1906 Eröffnung der Kammerspiele im umgebauten Nebengebäude. 56 Königliches Schauspielhaus (Berlin), nach einem Brand 1816 durch den Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) am Gendarmenmarkt erbaut und 1821 eröffnet; 1851-1886 Generalintendanz von Botho von Hülsen (1815-1886); 1886-1902 Generalintendanz von Bolko von Hochberg (1843- 1926); 1903-1918 Generalintendanz von Georg von Hülsen-Haeseler (1858- 1922). 113 Caroline Bauer (1807-1877), Schauspielerin; 1824 kurzes Engagement am Königsstädtischen Theater in Berlin; 1824-1829 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1829-1834 Engagement am Deutschen Theater in Sankt Petersburg; 1834-1835 Tätigkeit am Wiener Burgtheater; 1835-1844 Mitglied des Dresdner Hoftheaters. 113 Königsstädtisches Theater (Berlin), erstes privatwirtschaftlich geführtes Theater in Berlin; am Alexanderplatz gelegen; 1824 Gründung durch Karl Friedrich Cerf (1771-1845); 1851 Schließung; später Wiederaufnahme des Namens Königsstädtisches Theater für ein Theater in der Blumenstraße, das 1858-1864 das Wallnertheater beherbergte. 115 Prof. Graefe, vermutlich Karl von Graefe (1787-1840), Ordinarius für Medizin an der Berliner Charité. 212 Adam Müller-Guttenbrunn (Pseudonym: Ignotus) (1852-1923), Theaterleiter, Schriftsteller, Dramatiker, Politiker; 1892-1896 Leitung des Raimundtheaters in Wien; Werke: „Wien war eine Theaterstadt“ (1885); „Das Wiener Theaterleben“ (1890). 223 Josephine Gallmeyer (1838-1884), Schauspielerin, Tänzerin; Engagements an unterschiedlichen Wiener Bühnen, u.a. am Theater an der Wien, Carltheater; galt als eine der beliebtesten Schauspielerinnen der Zeit. 237 Adolf von Sonnenthal (eigentlich Adolf Neckwadel) (1834-1909), Schauspieler, Regisseur; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Temesvar, Graz, Königsberg; 1856-1908 Mitglied des Wiener Burgtheaters; ab 1884 Oberregisseur; 1887-1888 und 1889-1890 provisorische Leitung der Bühne; rege Gastspieltätigkeit in Europa und den USA. 238 Charlotte Wolter (1834-1897), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Pest, Wien; 1859-1861 Engagement am Victoriatheater in Berlin; 1862-1896 Mitglied des Wiener Burgtheaters; rege internationale Gastspieltätigkeit; berühmt vor allem für ihre Darstellung tragischer Rollen. <?page no="134"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 134 239 Wilhelmine Mitterwurzer (1840-1909), Schauspielerin; 1869-1871 Engagement in Leipzig; ab 1871 Mitglied des Wiener Burgtheaters. Helene Hartmann (1843-1898), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Mannheim, Hamburg; ab 1865 Mitglied des Wiener Burgtheaters. 248 Stella Hohenfels (eigentlich Amalie Loderbang) (1852-1920), Schauspielerin; 1873-1910 Mitglied des Wiener Burgtheaters. 251 Bernhard Baumeister (eigentlich Bernhard Baumüller) (1828-1917), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Schwerin, Hannover, Oldenburg; ab 1852 Mitglied des Wiener Burgtheaters. 255 Josephine Wessely (1860-1887), Schauspielerin; 1876-1879 Engagement am Leipziger Stadttheater; ab 1879 Mitglied des Wiener Burgtheaters. 256 Agathe Barsescu (1858-1939), Schauspielerin; ab 1883 Mitglied des Wiener Burgtheaters; 1892-1893 Engagement am Hamburger Stadttheater; 1893 Engagement am Raimundtheater (Wien); rege Gastspieltätigkeit. 257 Georg Reimers (1860-1936), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Dresden, Wien; ab 1885 Mitglied des Wiener Burgtheaters. 269 Carltheater (Wien), 1838 Kauf des Leopoldstädter Theaters durch Carl Carl (1787-1854); 1838-1845 Leitung durch Carl; 1847 partieller Abriss und Wiederaufbau des Gebäudes nach Plänen der Architekten August Sicard von Sicardsburg (1813-1868) und Eduard van der Nüll (1812-1868); Wiedereröffnung als Carltheater; hier Uraufführungen vieler Stücke des Alt-Wiener Volkstheaters von Johann Nestroy (1801-1862); 1854-1860 Leitung durch Nestroy; danach häufige wechselnde Leitungen. 273/ 74 „Herr L’Arronge und das ‚Deutsche Theater’“, 1884 beim Leipziger Verlag Bernhard Selicke erschienene Schrift von Conrad Alberti. 278 Felix Schweighofer (Pseudonym Felix Dammer) (1842-1912), Sänger, Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Bukarest, Odessa, Innsbruck; 1873-1874 Engagement am Theater an der Wien; ab 1891 ausschließlich Gastspieltätigkeit. 279 Alexander Girardi (1850-1918), Schauspieler, Komiker; 1871-1874 Engagement am Strampfertheater in Wien; 1874-1898 Engagement am Theater an der Wien; Gastspiele an unterschiedlichen Wiener Bühnen; ab 1918 Mitglied des Wiener Burgtheaters. 281 Angelo Neumann (1838-1910), Sänger, Theaterleiter; 1881 Gründung eines Richard-Wagner-Gastspieltheaters; damit rege Gastspieltätigkeit, u.a. in England, Deutschland, der Schweiz, Belgien; 1883-1885 Leitung des Stadttheaters in Bremen; 1885-1910 Leitung des Deutschen Landestheaters (Prag). 289/ 90 Hedwig Reicher-Kindermann (1853-1883), Sängerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in München, Karlsruhe, Hamburg; ab 1874 Engagement an der Berliner Hofoper; Engagement bei Angelo Neumanns Richard-Wagner-Gastspieltheater; berühmt vor allem als Wagner-Interpretin. 292 Wandervorstellungen, 1881 Gründung eines Richard-Wagner-Gastspieltheaters durch Angelo Neumann (1838-1910); Spezialisierung besonders auf Wagners „Ring des Nibelungen“; Tournee mit dem „Ring“-Zyklus u.a. <?page no="135"?> Kommentar 135 durch Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Schweiz; 1889 letzten Tournee, u.a. durch Russland. 344 Botho von Hülsen (1815-1886), Offizier, Theaterleiter; 1851-1886 Generalintendanz des Hoftheaters in Berlin, ab 1866 Generalintendanz der Hoftheater in Hannover, Kassel, Wiesbaden. 347 Bolko von Hochberg (1843-1926), Bühnenkomponist; Theaterleiter; 1886- 1902 Generalintendant des Hoftheaters in Berlin. 356 Eugène Labiche (1815-1888), französischer Schriftsteller, Dramatiker; besonders berühmt durch seine Lustspiele, Possen, Vaudevilles. 356/ 57 Alexandre Dumas fils (1824-1895), französischer Schriftsteller, Dramatiker; besonders berühmt für seine Salon- und Gesellschaftsdramen; Werke: „La Dame aux camélias“ (dt. „Die Kameliendame“ 1852), „Le Demi-monde“ (dt. „Halbwelt“ 1855). 358 Émile Augier (1820-1889), französischer Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „L'Aventurière“ (1848), „Gabrielle“ (dt. „Gabrielle oder der Anwalt seiner Ehre“ 1849). Victorien Sardou (1831-1908), französischer Schriftsteller, Dramatiker; einer der meistgespielten Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; schrieb viele seiner weiblichen Rollen der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844-1923) auf den Leib; Werke: „Fedora“ (1883), „Theodora“ (1884). Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910), norwegischer Schriftsteller, Dramatiker, Politiker; Vertreter des skandinavischen Naturalismus; 1903 Nobelpreis für Literatur; Werke: „Ein Fallissement“ (1874), „Ein Handschuh“ (1883). Lindner, vermutlich Albert Lindner (1831-1888), Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Brutus und Collatinus“ (1867), „Die Bluthochzeit“ (1871). 362 revenant, wiederkehrendes Gespenst. 374 „Donna Diana“, Komische Oper von Emil Nikolaus von Reznicek (1860- 1945); UA 1894 im Deutschen Theater (Prag). Lola Beeth (1861-1940), Sängerin, 1882-1888 Engagement an der Berliner Hofoper; 1888-1901 Engagement an der Wiener Hofoper. 404 Hugo Lubliner (Pseudonym Hugo Bürger) (1846-1911), Schriftsteller, Dramatiker; berühmt durch seine Lustspiele; Werke: „Der Frauenadvokat“ (1873), „Glück bei Frauen“ (1884, gemeinsam mit Gustav von Moser), „Frau Susanne“ (1885, gemeinsam mit Paul Lindau). 405 Albin Rheinisch (1845-1892), Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Theaterkritiker; Kritiker beim Berliner Börsen-Courier; verfasste vor allem Lustspiele; Werke: „Die Freunde der Frau“ (1883), „Die Liebesbotschaft“ (1885). 410 Heinrich Bulthaupt (1849-1905), Schriftsteller, Dramatiker; schrieb Bearbeitungen von Shakespeare-Stücken; Werke: „Ein korsisches Trauerspiel“ (1871), „Imogen“ (1885). Nissel, vermutlich Franz Nissel (1831-1893), Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Ein Wohltäter“ (1854); „Agnes von Meran“ (1877). 418 Wallnertheater (Berlin), 1855 Übernahme des Königstädtischen Theaters durch Franz Wallner (1810-1876); Umbau als auf Possen spezialisiertes Theater und Umbenennung in Wallnertheater; 1864 Umzug in ein neues Gebäude; ab 1868 Leitung des alten Wallnertheaters durch Theodor Lebrun <?page no="136"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 136 (1828-1895) und Umbenennung in Bundeshallen-Theater; ab 1894 Umbenennung in Schillertheater. 423 Phineas Taylor Barnum (1810-1891), US-amerikanischer Unternehmer, Impresario, Zirkusdirektor, Theaterleiter; 1841 Übernahme des Scudder’s American Museum in New York; Umbenennung des Museums in Barnum’s American Museum und Umwandlung in ein Kuriositätenkabinett; 1851 Organisation der Tournee der schwedischen Sängerin Jenny Lind (1878-1920) durch die USA; Leitung mehrerer mobiler Zirkusunternehmen; verschiedene Tourneen der Zirkusse durch die USA und Kanada; 1885 Fusion mit dem Schausteller James A. Bailey (1847-1906) zu Barnum and Bailey: The Greatest Show on Earth; erneut rege Gastspieltätigkeit des Zirkus durch Nordamerika und Europa; war berühmt für seine Bluffs (z.B. Fidji-Mermaid) und seinen extrem findigen Unternehmergeist. 424 Residenztheater (Berlin), 1869-1871 Leitung unter Otto Nowack (1823- 1889) als Nowacktheater; 1871 Umbau und Umbenennung in Residenztheater; 1871-1876 Leitung durch Albert Rosenthal (1830-1909); 1876-1879 Leitung durch Emil Claar (1842-1930); 1879-1884 Leitung durch Emil Neumann (1840-1916); 1884-1887 Leitung durch Anton Anno (1838-1893); 1887-1904 Leitung durch Sigmund Lautenburg (1852-1918). 429 Zentraltheater (= Central-Theater) (Berlin), 1869-1879 Theaterbetrieb unter dem Namen Réunion-Theater; Leitung durch Friedrich Bente (genannt 1869); 1880 Umbenennung in Central-Theater; 1880-1887 Leitung durch Adolph Ernst (1846-1927); 1887 Leitung durch Emil Thomas (1836-1904) und Umbau wie auch Umbenennung in Thomas-Theater; 1893-1898 Leitung durch Richard Schultz (1863-1928) und erneute Umbenennung in Central-Theater; auf dem Programm stand vor allem die Berliner Posse; ab 1898 Umbau und Umbenennung in Eden-Theater. 431 Carl Alexander Raida (1852-1923), Dirigent, Theaterleiter, Komponist; Leitung des Viktoriatheaters in Berlin. 439 Ernst von Possart (1841-1921), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Breslau, Bern, Hamburg; 1878 Leitung des Hoftheaters in München; 1887 Tätigkeit am Lessing-Theater in Berlin; ab 1893 Generalintendant am Münchner Hoftheater; 1900-1901 zusammen mit dem Architekten Max Littmann (1862-1931) Beteiligung am Bau des Prinzregententheaters in München; war als Charakterdarsteller bekannt, v.a. durch seine Interpretationen des Jago, Hamlet und Nathan. 447/ 48 Clara Ziegler (1844-1909), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Ulm; ab 1868-1874 Mitglied des Münchner Hoftheaters; ab 1874 ausschließlich Gastspieltätigkeit; ab 1888 Engagement am Berliner Theater; war als Charakterdarstellerin bekannt, v.a. durch ihre Interpretationen der Medea, Iphigenie, Brunhild. 459 Wolfgang Heribert von Dalberg (1750-1806), Theaterleiter; 1778-1803 Leitung des Nationaltheaters in Mannheim; machte Mannheim zu einer Musterbühne, wo er u.a. Schillers „Räuber“ zur Uraufführung brachte. 470 vazi(e)ren, frei und dienstlos sein. 477 Voß, vermutlich Richard Voß (1851-1918), Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Unehrlich Volk“ (1883), „Mutter Gertrud“ (1885). <?page no="137"?> Kommentar 137 478 Königliches Hoftheater (Dresden), 1838-1841 Bau nach dem Plan des Architekten Gottfried Semper (1803-1879); 1869 Brand des Theaters; 1871-1878 Bau des zweiten Hoftheaters unter der Leitung des ältesten Sohnes Sempers, Manfred Semper (1838-1913); 1894-1919 Generaldirektion von Nikolaus von Seebach (1854-1930). 479 Franziska Berg (1813-1893), Schauspielerin; 1831-1889 Engagement am Dresdner Hoftheater. Fr. Bayer, vermutlich Marie Bayer-Bürck (verheiratete von Falkenstein) (1820-1910), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Prag, Hannover; 1841-1910 Mitglied des Dresdner Hoftheaters; zahlreiche Gastspiele am Wiener Burgtheater. 480 Pauline Ul(l)rich (1835-1916), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Stettin, Berlin, Hannover; 1859-1914 Mitglied des Dresdner Hoftheaters. Karl Porth (1833-1905), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Bautzen, Meißen, Chemnitz; 1855-1860 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1860-1863 Engagement am Kaiserlichen Deutschen Theater in Sankt Petersburg; ab 1863 Mitglied des Hoftheaters in Hannover; 1871-1896 Mitglied des Dresdner Hoftheaters. Julius Jaffé (1823-1898), Schauspieler; seit 1864 Mitglied des Dresdner Hoftheaters. 481 Emil von der Osten (1847-1905), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Hannover, Hamburg; Gastspieltätigkeit in den USA; ab 1880 Engagement am Dresdner Hoftheater. 484 Adalbert Matkowsky (eigentlich Adalbert Matzkowsky) (1857-1909), Schauspieler; 1877-1886 Engagement am Dresdner Hoftheater; 1886-1880 Engagement am Hamburger Stadttheater; 1889-1909 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 488/ 89 Nationaltheater (Mannheim), 1777 nach Anregung durch den Kurfürsten Karl Theodor Eröffnung der ersten deutschen Nationalschaubühne unter der Leitung Theobald Hilarius Marchand (1741-1800); 1778 Leitung durch Wolfgang Heribert von Dalberg (1750-1806); 1779 Verpflichtung der Theatertruppe Karl Ekhofs (1720-1778); Versuch der Bildung einer Musterbühne; 1782 Uraufführung von Schillers „Die Räuber“. 489 Max Martersteig (1853-1926), Schriftsteller, Theaterleiter; 1885-1890 Leitung des Nationaltheaters Mannheim; 1890-96 Leitung des Stadttheaters in Riga; 1904-1911 Leitung der Vereinigten Stadttheater (Köln); 1912-1918 Leitung des Theaters in Leipzig; verfasste u.a. theaterhistorische und -theoretische Schriften; Werke: „Der Schauspieler, ein künstlerisches Problem“ (1893/ 1900), „Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert“ (1904). 495 Cheri Maurice, gemeint ist hier Charles Maurice Schwartzenberger. 499 Bernhard Pollini (eigentlich Baruch Pohl) (1838-1896), Impresario, Schauspieler, Theaterleiter; ab 1874 Leitung des Hamburger Stadttheaters; ab 1876 zusätzliche Leitung des Altonaer Stadttheaters; ab 1894 zusätzliche Leitung des Thalia Theaters (Hamburg). 503 Franziska Ellmenreich (1847-1931), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Kassel, Hannover, Leipzig; 1877 Engagement <?page no="138"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 138 am Stadttheater in Hamburg; 1879 Mitglied des Dresdner Hoftheaters; 1881 Engagement am Germania-Theater New York; 1883 Engagement in London; kurze Engagements in Wien, Berlin Hamburg; 1899-1901 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 504 Stadttheater (Hamburg), 1827 Bau nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) und Eröffnung als neues Stadt-Theater; 1874 Umbau unter der Leitung von Bernhard Pollini (1838-1896). 522 „Die Räuber von Maria-Kulm“, Volksschauspiel von Heinrich Kuno (? - 1829); UA 1815. 531 finis artis! , übersetzt: die Grenze der Kunst. 541 Böotier, Bewohner Böotiens (Gebiet im heutigen Mittelgriechenland) in der Antike, denen man Unempfänglichkeit für geistige Anregung und Einfältigkeit unterstellte. 661 „Familie Buchholz“, 1884 erschienener Erfolgsroman von Julius Stinde (1841-1905). 670 Julius Stinde (1841-1905), Schriftsteller, Dramatiker; verfasste plattdeutsche Komödien sowie humoristische Schilderungen des Berliner Bürgertums; Werke: „Tante Lotte“, „Familie Buchholz“ (1884), „Emma, das geheimnisvolle Hausmädchen“ (1904). 671 Robert Hamerling (1830-1889), Schriftsteller, Dramatiker; eher bekannt durch seine Epik; Werke: „Danton und Robespierre“ (1871), „Lord Luzifer“ (1880). Peter Rosegger (1843-1918), Schriftsteller, Dramatiker; bekannt durch seine in steirischer Mundart verfassten Erzählung; nur wenige Dramen, bspw. „Am Tage des Gerichts“ (1892). Hermann Heiberg (1840-1910), Schriftsteller; bekannt durch seine realistisch erzählten Romane und Novellen. Carl Bleibtreu (1859-1928), Schriftsteller, Dramatiker; gilt als Vorkämpfer des Naturalismus; 1890 Gründung des Theatervereins Deutsche Bühne gemeinsam mit Conrad Alberti (1862-1918) als bewusste Gegenbewegung gegen den Berliner Verein Freie Bühne; Scheitern des Unternehmens nach nur einem Jahr; Werke: „Schicksal“ (1888), „Der Erbe“ (1889). 682 „Ekkehard“, 1855 erschienener Roman von Joseph Viktor von Scheffel (1826-1886). 683 „Soll und Haben“, 1855 erschienener Roman in sechs Büchern von Gustav Freytag (1816-1895), der in zahlreichen Auflagen zu einem der meistgelesenen Romane des 19. Jahrhunderts wurde; entzündete eine lange Debatte wegen des im Roman zum Ausdruck kommenden Antisemitismus. 718 majorenn, mündig, volljährig. 800 „Fatinitza“, Operette von Franz von Suppé (1819-1895); UA: 1876 im Carltheater (Wien). 813/ 14 „Ein Tropfen Gift“, Lustspiel von Oscar Blumenthal (1852-1917); UA: 1886 im Deutschen Theater (Berlin). 830 „Sedan“, Schauspiel von Heinrich Hart (1855-1906); sollte 1881/ 82 an der Kroll’schen Oper Berlin aufgeführt werden, wurde aber einen Tag vor der Premiere verboten; im Druck erschienen 1882. <?page no="139"?> Kommentar 139 847 François Paul Jules Grévy (1807-1891), französischer Politiker; 1879-1887 Staatspräsident von Frankreich. 873/ 74 Proceß Graef, öffentliches Aufsehen erregender Prozess um den Maler und Kunstprofessor Gustav Graef (1821-1895), dem Missbrauch an einem minderjährigen Modell sowie Meineid während der Gerichtsverhandlung vorgeworfen wurde; 1885 Freispruch Graefs. 882 Ludwig Börne (1786-1837), Schriftsteller, Journalist; ließ sich als freier Schriftsteller nach der Julirevolution dauerhaft in Paris nieder; verfasste in den 1830er Jahren die „Briefe aus Paris“. 896 circulus vitiosus, hier zu verstehen als Teufelskreis. 898 Timandren und Conradine, Hinweis auf die vielen im 19. Jahrhundert verfassten Historienstücke, bspw. Adolf Friedrich von Schacks (1815-1894) Tragödie „Timandra“ (1880). 899 „Eine neue Welt“, Schauspiel von Heinrich Bulthaupt (1849-1905); UA: 1885. 900 „Von Gottes Gnaden“, Trauerspiel von Arthur Fitger (1840-1909); UA: 1884. 906 Berliner (Lokal-) Posse, in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin sehr beliebte Gattung; Volksstück mit Couplets; durch (stereo-) typisierte Figuren Darstellung der typischen Eigenheiten der Stadt; Vertreter: u.a. David Kalisch (1820-1872), Hugo Müller (1830-1881), Hermann Salingré (1833- 1879). 907 David Kalisch (1820-1872), Schriftsteller, Dramatiker; 1848 Gründung der satirischen Wochenzeitschrift Kladderadatsch; gilt als einer der Begründer der Berliner Lokalposse; Werke: „Hunderttausend Taler“ (1847/ 50), „Einer von unsere Leut’! “ (1859), „Berlin wird Weltstadt“ (1866). Hermann Salingré (eigentlich Hermann Salinger) (1833-1879), Schriftsteller, Dramatiker; Vertreter der Berliner Lokalposse; Werke: „Sachsen in Berlin“, „Reise durch Berlin in 80 Stunden“. 912 Parabase, Standardszene der antiken griechischen Komödie; steht thematisch nicht in Beziehung mit der dramatischen Handlung; direkte Ansprache an das Publikum 1. durch den Chorführer in Vertretung des Dichters, um u.a. das persönliche Anliegen des Dichters zum Ausdruck zu bringen, 2. durch den gesamten Chor, um bspw. moralische oder politische Ratschläge zu geben. 927 freventlich, veraltete Form von frevelhaft. 993 Karl Friedrich Cerf (1811-1871), Theaterleiter; 1924 Gründung des Königsstädtischen Theaters als erstes privatwirtschaftlich organisiertes Theater in Berlin; 1822 Erhalt der Theaterkonzession, obwohl er bis dato unbekannt war und weder Beziehungen zum Theaterbetrieb noch finanzielle Rücklagen aufweisen konnte; dies nährte Spekulationen über die (evtl. verwandtschaftlichen) Beziehungen Cerfs zum Herrscherhaus der Hohenzollern, die aber nicht nachgewiesen werden konnten. 1139 Heilige Hermandad, seit 1476 in Spanien unter Königin Isabella I (1451- 1504) und König Ferdinand II (1479-1516) eingesetztes Rechtsorgan zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung im Lande. 1180 „Denise“, Schauspiel von Alexandre Dumas fils (1824-1895); UA: 1885. <?page no="140"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 140 1202 August Kurz (1828-1903), Schauspieler, Theaterleiter; Engagement am Wallnertheater (Berlin); Leitung des Ostendtheaters in Berlin; dort 1886 Uraufführung des Dramas „Das neue Gebot“ von Ernst von Wildenbruch (1845- 1909). 1203 „Das neue Gebot“, Schauspiel von Ernst von Wildenbruch (1845-1909); UA: 1886. 1205 „Uriel Acosta“, Schauspiel von Karl Gutzkow (1811-1878); UA: 1846. 1207 August Förster (1828-1889), Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Meiningen, Danzig, Breslau; 1875-1883 Leitung des Stadttheaters in Leipzig; 1883 Beteiligung an der Gründung des Deutschen Theaters (Berlin) als Sozietär; ab 1888 Engagement am Wiener Burgtheater. 1213 Ostendtheater (Berlin), 1877 Eröffnung; 1877-1890 häufig wechselnde Leitungen sowie Namen (u.a. Nationaltheater); 1890-1896 Leitung durch Max Samst (1860-1932); 1896 Leitung durch Carl Weiß (1850-1911) und Umbenennung in Carl-Weiß-Theater; wurde häufig für Vorstellungen der Freien Bühne gepachtet; 1906 Übernahme durch Bernhard Rose (1865-1927) und Umbenennung in Rose-Theater. 1241 „Hypochonder“, Lustspiel von Gustav von Moser (1825-1903); UA: 1878. „Maria und Magdalena“, Schauspiel von Paul Lindau (1839-1919); UA: 1872. 1242 „Mein Leopold“, Schauspiel von Adolph L’Arronge (1838-1908); UA: 1873. „Der Raub der Sabinerinnen“, Schauspiel Franz von Schönthan (1849- 1913); UA: 1885. 1244 „Der Probepfeil“, Lustspiel von Oscar Blumenthal (1852-1917); UA: 1882 im Deutschen Theater (Berlin). 1253 „Der Salontyroler“, Lustspiel von Gustav von Moser (1825-1903); UA: 1885. „Frau Susanne“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911) und Paul Lindau (1839-1919); UA: 1885. 1253/ 54 „Die armen Reichen“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911); UA: 1886. „Die Loreley“, Lustspiel von Adolph L’Arronge (1838-1908); UA: 1885. „Der Weg zum Herzen“, Lustspiel von Adolph L’Arronge (1838-1908); UA: 1885. „Sammet und Seide“, Lustspiel von Oscar Blumenthal (1852-1917); UA: 1886 im Deutschen Theater (Berlin). 1254/ 55 „Frau Direktor Striese“, Figur aus „Der Raub der Sabinerinnen“ von Franz von Schönthan. „Gräfin Lambach“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911); UA: 1886. 1302 Octave Feuillet (1812-1890), französischer Schriftsteller, Dramatiker; verfasste gesellschaftskritische Romane und Dramen; Werke: „Julie“ (1869), „Les portraits de la marquise“ (1882). Edouard Pailleron (1834-1899), französischer Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Le monde où l’on s’ennuie“ (1881), „Cabotins! “ (1893). 1309/ 10 „Der Vergnügungszug“, Posse. 1310 „Die Reise nach dem Kaukasus“, Posse. „Herr Goblé und seine Töchter“, Posse. <?page no="141"?> Kommentar 141 1325 Albert Hennequin (Pseudonym Alfred Lebrun) (1842-1887), französischer Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „Le procès Veauradieux“ (1875), „Les dominos roses“ (1876). 1339 „Der Hüttenbesitzer“, Drama nach dem Roman „Le Maître de Forges“ von Georges Ohnet (1848-1918); im Druck erschienen 1882. 1340 Philipp Derblay, Figur aus „Der Hüttenbesitzer“ von Georges Ohnet. 1341 Claire, Figur aus „Der Hüttenbesitzer“ von Georges Ohnet. 1401 „Die Neuvermählten“, Schauspiel von Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910). 1444 Roué, Lebemann. Podagrist, Leidender. 1453 „Excelsior“, dramatisches Ballet von Luigi Manzotti (1835-1905), UA: 1881. „Messalina“, dramatisches Ballett von Luigi Danesi (1821-1908); UA: 1885. „Amor“, dramatisches Ballet von Luigi Manzotti (1835-1905); UA: 1886. 1467 „Parerga und Paralipomena II“, philosophisches Werk von Arthur Schopenhauer (1788-1860) aus dem Jahr 1851. 1478 „Sardanapal“, dramatisches Ballett von Paul Taglioni (1808-1884); UA: 1865. 1488 „Kaisers Maximilian vom Abgrund der Martinswand“, Sage aus Tirol; war Grundlage für die Oper „Kaiser Max auf der Martinswand“ von Ernst Pasqué (1821-1892); UA: 1857. 1511 Schillerstiftung, ein im Jahr 1858 dem Andenken Schillers gewidmeter Verein zur Unterstützung hilfsbedürftiger Schriftsteller und Schriftstellerinnen. 1540 Emile Zolá (1840-1902), französischer Schriftsteller; gilt als Vorreiter des Naturalismus; Werke: „Nana“ (1880), „Germinal“ (1885). „Nana“, Roman von Emile Zolá (1840-1902) über den Aufstieg in die bessere Gesellschaft und Fall einer jungen Frau aus dem Volk. 1595 Josef Kainz (1858-1910), Schauspieler; 1877-1880 Engagement am Meininger Hoftheater; 1880-1883 Engagement am Hoftheater München; seit 1883 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1889-1892 Engagement am Berliner Theater; 1892 Rückkehr ans Deutsche Theater; 1899-1910 Mitglied des Wiener Burgtheaters; galt vielen seiner Zeitgenossen als der ideale Hamlet. 1619 Friedrich Haase (1825-1911), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Prag, Karlsruhe, München, Frankfurt/ M., New York; 1870-1876 Leitung des Stadttheaters Leipzig; rege Gastspieltätigkeit; 1883 Beteiligung an der Gründung des Deutschen Theaters (Berlin) als Sozietär; verließ das Deutsche Theater im selben Jahr gegen eine Konventionalstrafe; gilt als einer der bedeutendsten Charakterdarsteller des 19. Jahrhunderts. 1630 Mommsen, steht für das berühmteste Werk „Römische Geschichte“ des Historikers Theodor Mommsen (1817-1903), das von 1854 bis 1856 in drei Bänden erschien und die Geschichte Roms bis zum Ende der römischen Republik und der Herrschaft Caesars beschreibt. 1701 Otto Sommerstor(f)f (eigentlich Otto Müller) (1859-1934), Schauspieler; 1879-1883 Engagement am Stadttheater Leipzig; 1883-1907 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1907-1921 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; rege Gastspieltätigkeit, u.a. in den USA. 1720 bric à brac, Trödel, Gerümpel. <?page no="142"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 142 1736 „Krieg im Frieden“, Lustspiel von Gustav von Moser (1825-1903); UA: 1881. 1744 Reif von Reiflingen, Figur aus Gustav von Mosers Lustspiel „Krieg im Frieden“. 1752 Lubowski, Figur aus Adolph L’Arronges Lustspiel „Doktor Klaus“. 1772 „Doktor Klaus“, Lustspiel von Adolph L’Arronge (1838-1908); UA: 1878. „Die große Glocke“, Lustspiel von Oscar Blumenthal (1852-1917); UA. 1885. 1812 „Erfolg“, Lustspiel von Paul Lindau (1839-1919); UA: 1874. 1812 Ludwig Speidel (1830-1906), Schriftsteller, Theaterkritiker; ab 1853 Mitarbeiter von unterschiedlichen Wiener Zeitungen. 1818 „Ultimo“, Lustspiel von Gustav von Moser (1825-1903); UA: 1874. 1858 bairische Königstragödie, Anspielung auf die Entmündigung König Ludwigs II (1845-1886) von Bayern im Jahr 1886. 1860 Gregor Samarow (eigentlich Johann Ferdinand Martin Oskar Meding) (1829-1903), Schriftsteller; bekannt durch seine meist mehrbändigen historischen Romane. Sir John Retcliffe (eigentlich Hermann Gödsche) (1815-1878), Schriftsteller; bekannt durch seine historischen Sensationsromane. 1870 horribiliscribifaxisch, lächerlich großsprecherisch; geht zurück auf eine Figur aus Andreas Gryphius’ Scherzspiel „Horribilicribrifax Teutsch“. 1874/ 75 de mortuis nil nisi bene, übersetzt: Von Gestorbenen (rede) nichts als Gutes. 1876 „Auf der Brautfahrt“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911); UA: 1880. „Jourfix“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911). „Die Mitbürger“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911); im Druck erschienen 1884. „Gold und Eisen“, Lustspiel von Hugo Lubliner (1846-1911); im Druck erschienen 1881/ 82. 1887 Karl Friedrich Moritz Saphir (1795-1858), Schriftsteller, Journalist; bekannt durch seine Satiren. 1968 Berlin C., Berlin Centrum. 1977 „Opfer um Opfer“, Schauspiel von Ernst von Wildenbruch (1845-1909); UA: 1883. Paul (von) Heyse (1830-1914), Schriftsteller, Dramatiker; 1910 Nobelpreis für Literatur; bekannt vor allem durch seine Novellen; Werke: „Die Sabinerinnen“ (1859), „Das Recht des Stärkern“ (1883). 1979 „Ehrenschulden“, Schauspiel von Paul Heyse (1830-1914); UA: 1884 in Frankfurt/ M. 1988 „Der Erbförster“, Schauspiel von Otto Ludwig (1813-1865); im Druck erschienen 1853. 1989 „Die Valentine“, Schauspiel von Gustav Freytag (1816-1895); im Druck erschienen 1847. „Graf Waldemar“, Schauspiel von Gustav Freytag (1816-1895); im Druck erschienen 1858. <?page no="143"?> Kommentar 143 1998 Emil Pohl (1824-1901), Schriftsteller, Dramatiker; Vertreter der Berliner Posse; Werke: „Sachsen in Preußen“ (1858); „Seine Dritte! oder Amerika in Spandau“ (1860). Hugo Müller (1830-1881), Schriftsteller, Dramatiker, Theaterleiter; Präsident der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger; Werke: „Anno 66“ (1867), „An die Luft gesetzt“ (1878). 1999 August Wilhelm Weirauch (1818-1883), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; Engagements an unterschiedlichen Bühnen; 1865 Rückzug von der Bühne; seine Lustspiele und Possen wurden vor allem am Berliner Wallnertheater zur Aufführung gebracht; Werke: „Kieselack und seine Nichte vom Ballett“ (1860), „Die Mottenburger“ (1867, gemeinsam mit David Kalisch). 2003 „Goldonkel“, Posse von David Kalisch (1820-1872); UA: 1862. „Berlin wie es weint und lacht“, Posse von David Kalisch (1820-1872); UA: 1858. „Die Mottenburger“, Posse von David Kalisch (1820-1872) und August Wilhelm Weirauch (1818-1883); UA: 1867. 2003/ 04 „Die Maschinenbauer von Berlin“, Posse von August Wilhelm Weirauch (1818-1883); UA: 1860. 2004 „Unruhige Zeiten oder Lietze's Memoiren“, Posse von Emil Pohl (1824- 1901); UA: 1862 am Wallnertheater (Berlin). „Die Actienbudiker“, Posse von David Kalisch (1820-1872); UA: 1856. „Die Spitzenkönigin“, Schauspiel von Adolph L’Arronge (1838-1908) und Hugo Müller (1830-1881); UA: 1871. 2004/ 05 „Von Stufe zu Stufe“, Posse von Hugo Müller (1830-1881). 2005 „Die Reise durch Berlin in 80 Stunden“, Posse von Hermann Salingré (1833-1879); UA: 1875 am Wallnertheater (Berlin). 2010 „Der jüngste Lieutenant“, Posse von Eduard Jacobsohn (1833-1897); UA: 1883 in erlin. 2011 Ernestine Wegner (1850-1883), Sängerin, Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Bern, Zürich, St. Gallen; 1868-71 Engagement am Woltersdorff-Theater in Berlin; 1871-1873 Engagement am Thalia Theater in Hamburg; 1873-1883 Mitglied des Wallnertheaters in Berlin; bekannt für ihre Darstellung komischer Berliner Figuren. 2064 „Der Stabstrompeter“, Posse von Wilhelm Mannstaedt (1837-1904); UA: 1886. 2064/ 65 „Die wilde Katze“, Posse von Wilhelm Mannstaedt (1837-1904); UA: 1885. 2108 Langlet (Berlin), luxuriöses Berliner Restaurant (Unter den Linden); war bei der besseren Berliner Gesellschaft sehr beliebt nach dem Theaterbesuch. Dressel (Berlin), luxuriöses Berliner Restaurant (Unter den Linden); galt als eines der besten Berliner Lokale. 2124 „Ein Fallissement“, Schauspiel von Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910). 2149 Emil Peschkau (1856-1930), Schriftsteller; bekannt vor allem durch seine Romane; verfasste auch einige Dramen, insbesondere Lustspiele; Werke: „Reiseabenteuer“ (1882), „Liebestränke“ (1898). 2149/ 50 „Magazin f.d. Literatur“ (= „Magazin für (die) Literatur (des In- und Auslandes)“), 1832 in Berlin gegründetes, wöchentlich erscheinendes Literaturmagazin; nach länger währendem Erfolg wechselte es mehrmals den <?page no="144"?> 2. Alberti: Ohne Schminke! (1887) 144 Verleger und wurde umbenannt; verlor um die Jahrhunderts seine Bedeutung. 2183 Ludwig Devrient (1784-1832), Schauspieler; seit 1804 Schauspieler in der Langeschen Truppe; 1805-1809 Engagement am Hoftheater Dessau; 1809-1814 Breslau; seit 1814 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 2185 Ludwig Barnay (1842-1924), Schauspieler, Theaterleiter; ab 1874 Engagement am Meininger Hoftheater; 1871 Mitbegründer der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger; 1883 Beteiligung an der Gründung des Deutschen Theaters (Berlin) als Sozietär; verließ das Deutsche Theater bereits zum Ende der Spielzeit 1883/ 84 wieder; 1887 Gründung des Berliner Theaters; 1906 Direktor des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1908-1912 Direktor des Hoftheaters in Hannover. 2197 Max und Thekla, Figuren aus Schillers „Wallenstein“. 2262 jeunesse dorée, reiche, vergnügungssüchtige junge Männer einer Großstadt. 2275/ 76 Adolf Rosenberg (1850-1906), Schriftsteller; bekannt für seine Künstlermonographien und Schriften zur Kunst und Kunstgeschichte. 2293 plantschen, synonym für pantschen; hier vermutlich Wein pantschen und ihn damit auf unerlaubte Art vermischen und verfälschen. 2330/ 31 weil zwei der Societäre Juden sind, gemeint sind hier Ludwig Barnay (1842-1924) und Siegwart Friedmann (1842-1916). 2362 „(Berliner) Börsencourier“, 1868 bis 1933 herausgegebene Tageszeitung; das Feuilleton galt am Ende des 19. Jahrhunderts als das beste, u.a. weil aufgeschlossenste seiner Zeit. 2407 Lilli Lehmann (1848-1929), Sängerin; 1870-86 Mitglied der Berliner Hofoper; wurde vertragsbrüchig an der Berliner Hofoper, da sie sich 1886 an der Metropolitan Opera New York verpflichten ließ; 1886-1890 Engagement in New York. 2409 Julian Schmidt (1818-1886), Journalist, Literaturhistoriker; verfasste mehrere Werke zur neueren Literaturgeschichte. 2426 Julius Fritzsche (1844-1907), Sänger, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Salzburg, Prag, Wien; 1881-1883 Leitung des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters; 1889 Kauf des Woltersdorfftheaters in Berlin und Leitung desselben als Operettenbühne. 2486 bekannter Lustspieldichter, gemeint ist hier Oscar Blumenthal. 2511 der neue Lessing, gemeint ist hier Oscar Blumenthal; Anspielung auf Blumenthals Leitung des Lessing-Theaters, welches 1888 mit Lessings „Nathan der Weise“ eröffnet wurde und sich als ein „Theater der Lebenden“, als künstlerisch anspruchsvolle Bühne in Berlin etablieren wollte. 2512 der „deutsche Sardou“, Anspielung auf Oscar Blumenthals Tätigkeit als Lustspieldichter. 2513 Christian Adolf Klotz (1738-1771), Gelehrter; sein erklärter Gegner Lessing richtete gegen ihn die „Briefe antiquarischen Inhalts“. 2527 Karl Frenzel (1827-1914), Journalist, Schriftsteller, Theaterkritiker; 1861- 1908 Redakteur und Leiter des Feuilletons der Berliner National-Zeitung. 2539 „Der schwarze Schleier“, Schauspiel von Oscar Blumenthal (1852-1917); UA: 1886 im Deutschen Theater (Berlin). <?page no="145"?> 3. Maximilian Harden: Berlin als Theaterhauptstadt (1888) Einführung Maximilian Hardens Streitschrift „Berlin als Theaterhauptstadt“ aus dem Jahr 1888 ist ein Vorwort vorangestellt, in dem der Schauspieler, Journalist und einflussreiche Theaterkritiker darauf verweist, dass einzelne Teile seiner Darstellung bereits in der Zeitschrift „Nation“ erschienen seien. Es handelt sich also um ein Konglomerat bereits veröffentlichter Einzelartikel Hardens. Vielleicht lässt sich dadurch die eigentümliche Dramaturgie der Streitschrift erklären: Der Text beginnt mit einem allgemeinen Teil über die Missstände der Theatersituation; es folgt eine lange Passage, die den Anschein einer persönlichen Abrechnung Hardens mit dem Königlichen Schauspielhaus und der Königlichen Oper sowie deren Generalintendanten Bolko Graf von Hochberg hat. Nach einer kurzen Betrachtung dreier Berliner Privattheater schließt Harden mit einem Rückgriff auf seine Argumentation im ersten Teil. Hardens Text fehlt die Kohärenz: Der lange Abschnitt über die Missstände am Berliner Hoftheater erscheint vergleichsweise überdimensional, der absichtlich kurz gehaltene Teil über die Privattheater wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet - und die Übergänge beider Teile zu den rahmenden Abschnitten wirken forciert. Damit stehen zwei Hauptthemen im Mittelpunkt der Harden’schen Streitschrift, die aber nicht direkt miteinander verbunden werden: der Versuch einer Erklärung für die vorherrschenden Missstände und den dadurch verursachten Status Berlins, eben keine Theaterhauptstadt zu sein, und die Abrechnung mit dem Berliner Hoftheater. Zur Erklärung der Zustände stellt er die Entwicklung der Theater bis hin zur vorherrschenden Misere in eine historische Genealogie und begründet diese mit den jeweils zeitgenössischen ökonomischen sowie den damit zusammenhängenden politischen Bedingungen. Als die Streitschrift 1888 erschien, herrschte seit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges (1871) Frieden. Der erste ökonomische Aufschwung der Gründerjahre war wie die darauf folgende wirtschaftliche Krise bereits Geschichte: Es herrschte relative soziale, politische und wirtschaftliche Entspannung. Die Folge dieser vor allem ökonomischen Stabilität sei ein Publikum, das nicht der Kunst fröne, sondern der mit Geld zu erwerbenden, oberflächlichen Unterhaltung, was sich wiederum einerseits auf die Kunstschaffenden, andererseits auf die Zusammensetzung des Publikums auswirke: Harden bezeichnet das Theater in Berlin als „Luxusanstalt“ (Harden 70), welche von der „Plutokratie“ (Harden 92) als dominanten Teil der Zuschauerschaft beherrscht werde. Damit dieser Zustand der künstlerischen Stagnation ein Ende finde, das Theater in seinem Kunstanspruch nicht weiter untergraben werde und seine Funktion als „Volksbildemittel“ (Harden 177) nicht ganz verliere, stellt er folgende Forderungen auf: „Zweierlei braucht das Theater am nothwendigsten: Geld vom <?page no="146"?> 3. Harden: Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 146 Staat und Interesse vom Publikum.“ (Harden 173f.) Davon sei man aber noch weit entfernt: Die staatliche Subventionierung sei noch nicht in Sicht und die Geschäftstheater beherrschten die Theaterlandschaft. Auch das Publikum erfreue sich mehr am Ausstattungsluxus als an anspruchsvoller, gesellschaftlich relevanter Kunst. Durch das vorherrschende Theater würde die die Fantasie unterdrückende Schaulust noch mehr befriedigt als der Intellekt. Aufgrund dieser Faktoren könne sich Berlin als Theaterhauptstadt noch nicht etablieren: Schwerer wiegend aber ist die offenbare Rückwirkung der gesteigerten Schaulust auf unsere moderne Produktion. Das Auge der Menge ist verwöhnt durch die prachtstrahlenden Bilder, ein einfacher Vorgang aus dem Alltagsleben fesselt schon rein äußerlich nicht genügend. (Harden 994f.) Allerdings - und hier greift Harden auf seinen Argumentationsansatz vom Anfang zurück - begreift er diese Situation als „Uebergangsepoche“ (Harden 1029), deren Überwindung eine der Aufgaben Berlins in der Funktion als Theaterstadt sei. Dass nach Hardens Dialektik eine Veränderung der Berliner Theaterverhältnisse zuallererst aber eine Veränderung der politischen und ökonomischen Verhältnisse vorausgehen müsse, lässt der Autor unkommentiert. Das zweite Hauptthema des Texts spiegelt eine Seite der Harden’schen Arbeit als Journalist und Kritiker wider, die ihn berühmt und berüchtigt machte: seine Polemik, hier gegenüber dem Berliner Hoftheater. Dieses beschreibt er als obsolet und der kulturellen Führungsfunktion, die es aufgrund der Subventionierung eigentlich innehaben solle, nicht gewachsen. Außerdem wirft er dem Hoftheater sowie seinen Akteuren statt der Erfüllung des Bildungsauftrags übermäßige Bürokratie und Prunksucht, Manieriertheit im Spiel und Ausstattungsluxus vor. Die Hauptschuld gibt er dem Generalintendanten der beiden Häuser, Bolko Graf von Hochberg, den Harden als künstlerisch reaktionär, den Bühnendarstellern gegenüber despotisch, dilettantisch und bürokratisch beschreibt Dass er sich gerade diesen eingefahrenen Strukturen des Hoftheaters so intensiv widmet, spiegelt Hardens weiteres Engagement sehr gut wider: Als Mitbegründer des Theatervereins Freie Bühne (Gründung 1889) und Kritiker der eigenen Kulturzeitschrift Die Zukunft sowie der Gegenwart, der Nation und des Berliner Tageblatts äußerte Harden regelmäßig in provokativer Manier seinen Ärger über die behördlich strikt regulierte (Kultur-) Politik Deutschlands. Ein sehr öffentlichkeitswirksamer Versuch, gerade diese verkrusteten Strukturen des Kaiserreichs zu entlarven, war die als Harden-Eulenburg-Affäre in die Geschichte eingegangene, in den Jahren 1907-09 ausgetragene rechtliche Auseinandersetzung Hardens mit mehreren Mitgliedern des Kabinetts Kaiser Wilhelms II, welche das Ansehen des Kaiserhauses beträchtliche schädigte. Nicht zuletzt aufgrund seiner provokativen Haltung in der Öffentlichkeit zog Harden den Unmut der national-konservativen Kräfte auf sich, welcher sich 1922 in einem auf ihn verübten Mordanschlag entlud. Zwar überlebte Harden das Attentat schwer verletzt, zog sich in Folge dessen allerdings konsequent aus dem öffentlichen Geschehen zurück und starb fünf Jahre später an den Nachwirkungen des Anschlags. Stefanie Watzka <?page no="147"?> Maximilian Harden Berlin als Theaterhauptstadt (1888) „...Doch zu Zeiten sind erfrischend wie Gewitter Gold’ne Rücksichtslosigkeiten.[“] 5 Wer ein ehrliches Wort ungeschminkter Wahrheit über unser Theaterwesen aussprechen will, begegnet ungeahnten Schwierigkeiten. Er heißt ein langweiliger Theoretiker, wenn er sich im Rahmen allgemeiner Bemerkungen aesthetischer Natur hält, sobald er aber das kaum vermeidliche Gebiet persönlicher Polemik betritt, trifft ihn der ärgere Vorwurf, sich zum Mundstück öden Coulissenklat- 10 sches gemacht zu haben. Das Zeitalter der Nervosität hat die Empfindlichkeit des Einzelnen derartig gesteigert, daß der Begriff der freien Kunst, in deren Diensten jede kleinliche Rücksicht zu schweigen hat, sich mehr und mehr zu verflüchtigen droht. Im hastenden Getriebe der großstädtischen Theatersaison findet der berufs- 15 mäßige Kritiker kaum Zeit und Stimmung, die Gesammtsumme der Erscheinungen prüfend zu betrachten. Sei dieser Versuch denn hier gewagt. Geschautes habe ich zu schildern versucht, Niemand zum Leid, Niemand zur Freud’. Wo der polemische Charakter dieser kleinen Schrift hervortritt, da gilt der Kampf nicht der Person, sondern dem verantwortungsvollen Amt der Angegrif- 20 fenen. In früherer Bühnenthätigkeit habe ich den inneren Mechanismus des modernen Theaters aus nächster Nähe kennen gelernt. Einzelne Theile der hier versuchten Darstellung erschienen in der „Nation.“ Wenn ich sie hier in wesentlich erweiterter Form zusammenfasse, so habe ich nur den einen Wunsch: mögen sie anregen - zum Nachdenken - meinetwegen auch 25 zum Widerspruch. M. H. „Wer geht denn heute noch in’s Theater? ! “ 30 Die Frage erscheint paradox, aber sie ist durchaus berechtigt. Es ist ja nicht zu verkennen, daß besonders in der Reichshauptstadt ein großes Theaterpublikum vorhanden ist. Berlin besitzt zehn größere Theater und zwei neue, weitausschauende und anspruchsvolle Unternehmungen treten mit Beginn dieser Spielzeit auf den Plan. Man hat über diese Fülle der gebotenen Genüsse den Kopf geschüttelt, 35 sich bewundert und verwundert, ohne zu bedenken, daß Paris, mit dem sich die junge Weltstadt sonst so gern vergleicht, nicht weniger als zweiundzwanzig diskutirbare Theater sein eigen nennt, daß wir also auch im Verhältniß zur Einwohnerzahl noch keineswegs Unerhörtes erreicht haben. Es ist nur selbstverständlich, daß in der Hauptstadt des neuen deutschen Reiches das Theaterleben 40 <?page no="148"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 148 sich ganz anders ausgestalten mußte, als es in dem Berlin der sechsziger [sic! ] Jahre möglich war und nur das bleibt zu bewundern, daß sich diese Entwicklung so spät erst vollzieht. Die Gründe für diese Erscheinung aber wurzeln zunächst in dem ganz unglaublichen Phlegma, das unserem Theaterwesen von altersher eigen ist, in jener 45 berüchtigten vis inertiae, von der schon Franz Dingelstedt zu sagen und zu klagen weiß. Das Theater ist konservativ, nur ungern und widerstrebend ist es von jeher dem Neu-Schöpfer gefolgt und erst vor dem erkämpften Erfolg beugt es die Kniee. Eine Addition der geistigen Potenzen, welche in unserem Bühnenleben thätig sind, würde eine erschreckend kleine Summe ergeben, im allgemeinen 50 herrscht die ödeste, flachste Routine und jeder einigermaßen geschickte Praktiker hat alle Aussicht, gar bald als ein großes Licht am Himmel der deutschen Kunst gefeiert zu werden. Kluge Geschäftsleute, die im kaufmännischen Betrieb unter der Menge verschwunden wären, sind hier gleich „geniale Direktoren“ und der große Handelsmann im Norden wird wie ein Weltwunder angestaunt, weil er mit 55 annähernd ebenso großer Kühnheit und Geschick in Tenorstimmen spekulirt, wie andere in russischen Werthen. Ohne den flachen Untergrund verzopfter Zustände wäre der stolze Ruhm all’ dieser gemachten Größen ganz unmöglich. Zum Glück für die solchergestalt Gefeierten kümmert sich aber Niemand in Deutschland ernstlich um das Theater und seine Lebensbedingungen. Man geht wohl hin, 60 wenn ein neues Stück gegeben wird - d.h. vorwiegend Frauen und Börsenleute gehen hin - man liebt auch den Klatsch der Koulissen über alle Maßen und würde nur mit schwerem Herzen auf all’ die hübschen Notizen über das „noch immer unersetzte“ Frl. so und so verzichten, irgend eine ernsthafte Frage aber ernsthaft zu prüfen, dazu findet sich niemals Zeit und noch weniger Lust. 65 Das Theater hat in der vormärzlichen Zeit der politischen Windstille einen so hervorragenden Platz im Geistesleben der Deutschen eingenommen, daß über belanglose Personalfragen Gute und Beste sich in wildem Haß entzweien konnten, heute ist es für den größten Theil gerade des gebildeten Publikums eine nicht ernsthaft zu nehmende Luxusanstalt geworden. Die Regierungen haben ihrerseits 70 wohl einsehen gelernt, daß in unseren Tagen der aufregenden politischen und sozialen Kämpfe die Bühne sich nicht mehr gut als Blitzableiter für ordnungsfeindliche Gemüthserregungen verwerthen läßt und mit dieser Erkenntniß haben sie auch jedes fernere Interesse für das moderne Theater verloren. Wenn nicht ab und zu ein Drama verboten würde oder ein Minister des Innern erklärte, er habe 75 ein hundert Mal aufgeführtes Stück natürlich nicht gesehen, so wären von den Beziehungen des Staates zur moralischen Anstalt absolut keine menschlichen Dokumente erhalten, späteren, sonnenhelleren Jahrhunderten zu Nutz und Frommen. In unseren Schauspielhäusern aber fehlt gerade der beste Theil unseres Volkes, Gelehrte, Beamte, geistige Arbeiter jeglicher Art haben längst auf den 80 Besuch der Theater verzichtet, den sie ebenso wie die schöngeistige Literatur ‘s [=als] einen ernsthafter Männer unwürdigen Zeitvertreib betrachten. Woraus setzt sich denn unser viel genanntes, oft gerühmtes und öfter getadeltes Premièrenpublikum zusammen? Nicht ohne einige Regungen des Neides vermag man es zu lesen, wie in Paris nach den heftigsten Kammerdebatten bei einer interes- 85 <?page no="149"?> Maximilian Harden 149 santen Erstaufführung von den politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Notabilitäten Niemand fehlt, wie die Floquet und Goblet mit den Herren Dumas und Sardou nicht weniger eifrig und lebhaft irgend eine künstlerische Frage besprechen, als sie vorher die politischen Debatten führten. So etwas kommt bei uns - leider! - nicht vor. Kaum daß man die vornehmen oder vor- 90 nehm sein wollenden Schriftsteller an den Novitätenabenden bemerkt. Im Allgemeinen herrscht in unseren Theatern die Plutokratie, jene gefürchteten Premièrentiger, in deren Händen oft das Schicksal eines ernsten Kunstwerkes liegt, sind fast ausnahmslos in den Koulissen der Börse mehr noch und besser bewandert, als in denen der Bühne. In diesen engen Kreisen wohnt einzig noch Interesse für 95 das Theater, aber dieses Interesse klebt immer und ewig an Personalien fest und keine befruchtende Anregung ist aus diesen Regionen zu erwarten. Ich leugne keineswegs die historische Berechtigung dieses Zustandes: in einer Periode beispiellosen politischen Aufschwunges und ungeheurer Erschütterungen ist für die Kunst des Heils nur wenig zu erwarten. Inter arma silent musae. 100 Nur darf man nicht so unaufrichtig sein, diesen Mangel zu verschweigen und das jetzige Deutschland als das Land der Dichter und Denker vor anderen zu feiern. Nein - wir haben ja andere Vorzüge vor jedem einzelnen Volke, aber die Indifferenz an allen künstlerischen Dingen ist nirgends annähernd so groß wie bei uns. Wer freilich seine Anschauungen nur aus einem Theil der Tagespresse schöpft, 105 der wird zu einem weitaus günstigeren Resultate kommen müssen, denn da liest man es ja täglich, wie herrlich weit wir es gebracht und wie mächtig der Sinn für alles Schöne und Große um sich greift. Solche Darstellungen, die mit pharisäischem Stolz gewisse Kuriositätserfolge als Siege des Idealismus preisen, während sie andere noch viel lautere und breitere Erfolge einfach ignoriren, lügen die öf- 110 fentliche Meinung in einen gefährlichen Zustand eitler Selbstzufriedenheit hinein, aus dem sie leicht einmal recht unfreundlich und rauh aufgerüttelt werden dürfte. Thatsächlich spielt für die heutige Generation das echte Bier und der Skat eine ganz unvergleichlich wichtigere Rolle als die Literatur und die Bühne, gerade das jüngere Geschlecht taumelt zwischen der Kneipe und den Berufspflich- 115 ten recht trostlos einher und bezieht seine einzige Geistesnahrung aus dem Central-Theater oder aus den Reichshallen. Dabei glaube ich gern, daß die Herren, welche zu so optimistischen Anschauungen gelangen, wie ich sie vorhin skizzirt habe, durchaus bona fide handeln: sie leben und bewegen sich tagaus tagein in demselben kleinen Kreise, der aus allerlei Elementen der Literatur, der Börse und 120 des Sports sich zusammensetzt und nach dieser kleinen Welt beurtheilen sie die große. Die Lust an der Selbsttäuschung kommt dazu, man möchte sich gern einbilden, ein wichtiger Faktor im Geistesleben der Hauptstadt zu sein und täuscht sich und andere über die Indifferenz des lieben Publikum hinweg. Die erdrückende Mehrheit unserer „Gebildeten“ wird von einem künstlerischen Ereigniß 125 überhaupt nicht im mindesten berührt, die Gelehrtenwelt stellt sich dem Theater durchaus ablehnend gegenüber und ich bin überzeugt, daß unter den vielen Tausenden von Studirenden, von Referendarien und Assessoren nur ein verschwindend kleiner Theil von dem meistumstrittenen Dramatiker unserer Tage, von <?page no="150"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 150 Henrik Ibsen, mehr weiß, als daß er „peinliche“ Stücke schreibt, die das gelegentli- 130 che Mißfallen der hohen Polizei erregten. Nun giebt es andere Stimmen wiederum, die auch solchen Stand der Dinge gut heißen und im dunklen Drange ihres unbestimmten Kraftgefühles mit viel schönen Reden unser positives Zeitalter zu prüfen wissen, welches viel zu sehr mit realen Bedürfnissen zu rechnen habe, um an den schönen Luxus der Künste 135 Zeit verlieren zu können. Der alte und ewig unwahre Gemeinplatz, nur in den Perioden des Verfalls hätten die Künste geblüht, wird wieder einmal ohne Rücksicht auf Perikles, den vierzehnten Ludwig und Shakespeare’s Tage hervorgesucht und mit stolzem Achselzucken wendet sich der deutsche Jüngling ab von dem unmännlichen Treiben der verkommenen Nation jenseits der Vogesen. Fern 140 sei es von uns, die Herren Franzosen zum Muster nehmen zu wollen, aber mit leeren Schimpfereien auf sie und ihre Literatur ist nichts erreicht und allem Schmähen und Schelten zum Trotz werden die französischen Dramen, die ich ganz gewiß nicht allzu hoch schätze, unsere Bühnen so lange beherrschen, bis wir selbst ein modernes Drama besitzen - ein Ziel, von dem wir noch recht weit ent- 145 fernt sind. Um es aber einst erreichen zu können, muß vorerst der modernen Bühne das Interesse derjenigen Kreise zurückgewonnen werden, die ihm jetzt oft schroff ablehnend, meist gleichgültig gegenüber stehen. Die ideellen Imponderabilien gelten nicht wenig im Kampfe der Zeiten und nach zwei Dezennien politischer Konsolidirung darf auch der gute Patriot wohl wieder einmal daran den- 150 ken, daß er nicht nur deutscher Staatsbürger, sondern nebenbei auch Mensch ist und seinen Theil hat an den großen humanistischen Aufgaben der Kulturmenschheit. Die einseitige Nationalitätssucht unserer Tage ist um nichts besser als das unklare Weltbürgerthum, wie es das Ideal des achtzehnten Jahrhunderts bildete - beide sind nur Etappen auf dem weiten Wege zu jenem dritten Reich, 155 das die Wahrheit mit der Schönheit in reiner Harmonie zu vereinen verheißt. Man hat schon sehr viel an unserem Theater herumkurirt, gar viele Doctoren und leider auch Professoren haben sich an diesem corpus vile versucht. Wenn die vivisecirte deutsche Schaubühne den Wunderkuren ihrer „Retter“ noch nicht erlegen ist, so hat sie damit allein schon in glänzender Weise Zeugniß abgelegt 160 von ihrer Lebensfähigkeit. Von der einen Seite rufen die Fanatiker der Verstaatlichung nach Staats-Akademien für Schauspieler, Staatsprüfungen für Directoren und Regisseure und was dergleichen schöne Dinge mehr sind; in dem anderen Lager - fast möchte man es das der dramatischen Freihändler nennen - will man von alledem nichts hören und schwärmt nur für Selbsthilfe und Privatbetrieb, 165 während eine dritte, sehr verbreitete Ansicht, die von den Opportunisten aller Parteien getheilt wird, dahin geht, es sei alles, wie es eben ist, ganz ausgezeichnet und nur ganz unerträgliche Theoretiker und Moralisten könnten in nörgelnder Unzufriedenheit verharren. Und inmitten dieser divergirenden Urtheile einer kleinen Gruppe von Interessenten, inmitten der Theilnahmelosigkeit der zahllo- 170 sen Indifferenten florirt die deutsche Schaubühne flott ihrem Untergange in glänzende Aeußerlichkeiten und alberne Nichtigkeiten entgegen. Zweierlei braucht das Theater am nothwendigsten: Geld vom Staat und Interesse vom Publikum. Was geschieht denn heutzutage aus öffentlichen Mitteln für <?page no="151"?> Maximilian Harden 151 das Theater? Nichts, oder doch so gut als nichts, denn die Hoftheater beziehen 175 ihre Subvention aus der Privatschatulle des Souveräns. Ist aber das Theater wirklich das populärste und wirksamste Volksbildemittel - und Niemand wird das hundert Jahre nach Lessing und Schiller in Abrede stellen wollen -, so darf es mit Fug bittere Klage führen über die lieblose Vernachlässigung, die es bisher erfahren. Durch städtische Verwaltung in der Provinz, durch staatlichen oder städti- 180 schen, von maßgebender Seite kontrollirten Zuschuß in der Hauptstadt muß das Theater mehr und mehr aus den Händen der privaten Spekulation losgelöst werden, so weit es höhere, edlere Ziele verfolgt; die Genretheater mögen getrost der privaten Bewirthschaftung verbleiben. Zunächst aber gilt es, dem arg vernachlässigten Theater durch rücksichtslos offene Discussion seiner Lebensbedingungen 185 aufzuhelfen und an Stelle von schaalem Personalklatsch ernste Fragen würdig und furchtlos, Niemand zur Freud’, Niemand zum Leid zu erörtern. Sicherlich ist es unmöglich, Dichter zu züchten, die uns neue, gewaltige Dramen schenken, wohl aber kann die Oeffentlichkeit dafür Sorge tragen, daß mit dem Vorhandenen künstlerisch gewirthschaftet wird, daß die Dramatiker, die wir und andere 190 Völker für uns haben, auch an der rechten Stelle zum Wort gelangen und dem Volke, d.h. dem ganzen Volke, nicht dem, was jetzt oft in mißverständlich demagogischem Sinne als solches bezeichnet wird, der erziehliche Einfluß der Schaubühne gewahrt bleibt. In erster Reihe braucht die Reichshauptstadt mit ihrem Dutzend allabendlich überfüllten Spezialitäten-Etablissements und ihren unge- 195 zählten Dutzenden von Bierpalästen wenigstens eine Bühne, die von rein künstlerischen Voraussetzungen aus geleitet wird. Diese Bühne sollten wir in dem Hoftheater, speziell in dem Königlichen Schauspielhause besitzen, welches bis vor wenigen Jahren ein zwar nicht gesetzlich erzwungenes, aber thatsächlich bestehendes Monopol für die höhere Richtung der 200 dramatischen Literatur besaß. Dies Monopol ist erst erloschen, seitdem das Deutsche Theater in’s Leben getreten ist, es wird eine weitere Abschwächung erleiden durch das Entstehen der beiden neuen Bühnen, dennoch bleibt die Stellung des Hoftheaters eine ganz eigenartige und exzeptionelle. Ein Privattheater kann naturgemäß nur von ewigen Kompromissen zwischen 205 dem Guten, Wahren, Schönen und dem durchaus nicht immer guten Geschmack des Publikums leben, kein billig Denkender wird es einem Theaterleiter verargen können, wenn er nicht aus eigenen Mitteln einen Kreuzzug gegen die Geschmacklosigkeit unternimmt, der wie jeder echte und rechte Krieg Geld, Geld und wiederum Geld erfordert. Der Mann macht mit „Francillon“ und „Goldfische“ 210 volle Häuser, warum sollte er zu eigenem Schaden die „Wildente“ oder den „Prinzen von Homburg“ geben? Wer ersetzt ihm die Auslagen für seinen kostspieligen Idealismus? Dazu kommt das absichtlich oder unabsichtlich schwache Sehvermögen dieser Kunstpächter, welches sie, aller Abmahnungen ungeachtet, veranlaßt, immer wieder die werthlosesten Stücke in der besten, die bedeutendsten in 215 der stillsten Zeit zu geben, also etwa die „berühmte Frau“ im November, Grillparzer oder Ibsen im Mai auf die Bühne zu bringen, um so für sich und Andere den sophistischen Trugschluß herbeizuführen, diese Werke machten nichts. Gegen diese bequeme Theorie sprechen laut die in den letzten Jahren gerade mit klassi- <?page no="152"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 152 schen Werken erzielten Erfolge, selbst wenn man einen erheblichen Prozentsatz 220 derselben auf Rechnung der oft bedenklich weitgehenden Konzessionen an die Schaulust setzt, von denen wir noch zu sprechen haben werden. Alle diese Rücksichten, entstanden aus der unvermeidlichen Vermengung der freien Kunst mit dem rein kaufmännischen Theaterbetrieb, sie haben für ein Hoftheater keine Bedeutung. Andere Nationen haben Deutschland lange Zeit 225 beneidet um diese Institution, deren historischer Werth nicht leicht überschätzt werden kann, selbst von dem, der heute eine Hofbühne kaum noch als existenzberechtigt ansehen kann. Im Vollgenuß einer kaum beschränkten Subvention kann eben ein solches Institut bis auf diesen Tag noch getrost die hohe Aufgabe auf sich nehmen, des Geschmackes Bildnerin zu werden, ja es muß seinen Stolz dar- 230 ein setzen, neue, das Durchschnittsniveau der bloßen Unterhaltungsliteratur überragende Werke zuerst würdig vorzuführen. Niemand wird behaupten wollen, daß die Berliner Hofbühne diese Aufgabe erfüllt, ja nur zu erfüllen versucht hat. Wohl werden auch im Schauspielhause ab und zu neue Stücke aufgeführt und freundliche Notizen wohlmeinender Tages- 235 blätter wissen nicht genug von der Novitätenliste jeder kommenden Saison zu erzählen, aber nicht alles, was in alten Bahnen neue, d.h. andere Figuren - denn von Menschen darf man nicht wohl sprechen - zeigt, ist darum auch wirklich neu, und von dem wirklich Neuen und Originalen ist uns bisher auf der Bühne des Königl. Schauspielhauses nichts entgegengetreten. Ibsen haben wir im Residenz- 240 theater und weiter draußen, den salonfähigeren, glatteren Echegaray auf der Bühne des Deutschen Theater kennen gelernt, die geschickt angefertigten dramatischen Atrappen der Franzosen sind eo ipso von der Hofbühne ausgeschlossen, selbst die kräftigeren Werke älterer Epochen, wie Calderon‘s „Richter von Zalamea“, Hebbel‘s „Maria Magdalena“, Otto Ludwig‘s „Makkabäer“ hat uns mit einigen willkom- 245 menen Gaben Grillparzer‘s das Deutsche Theater vorgeführt. Das Repertoir des Schauspielhauses hat im vergangenen Theaterjahr ein salzloser, von der wohlwollendsten Kritik rundweg abgelehnter Schwank „Auf glatter Bahn“ beherrscht, um welchen sich eine melodramatische Dilettantenarbeit aus hohen Kreisen, „Der Seestern“, und etliche minderwerthige Einakter gruppirten, während Heyse‘s 250 sprachschöne, aber süßliche und unwahre „Weisheit Salomo‘s“ die einzige irgendwie discutirbare Darbietung in zehn Monaten war. Den Rest der künstlerischen Leistungen bildeten Neueinstudirungen klassischer Dramen, die sämmtlich - es waren „Egmont“, „Othello“ und „Maria Stuart“ - einen entschiedenen Tapezierererfolg und einen nicht minder entschiedenen Mißerfolg der Darstellung 255 erzielten. Andere klassische Stücke, in denen zu dekorativer Prachtentfaltung nicht genügende oder auch zu viel Veranlassung gegeben ist, ruhten einfach, „Faust“, „Götz“, „Clavigo“, „Tasso“, „Nathan“, die Königsdramen, „Macbeth“, „Lear“, fast sämmtliche Lustspiele Shakespeare‘s, der ganze Schatz, den uns Heinrich Kleist hinterlassen - all’ das fehlte einfach im Repertoir des Schauspielhauses 260 und wer endlich die „Räuber“, „Fiesko“, „Carlos“, „Tell“, „Jungfrau“, „Braut von Messina“ zu sehen wünschte, dem durfte beileibe nicht einfallen, diese Dramen am Schillerplatz zu suchen. <?page no="153"?> Maximilian Harden 153 Angesichts solcher beschämenden Repertoir-Verhältnisse schrumpfen die unzähligen persönlichen und sachlichen Beschwerden, die auch sonst noch gegen 265 die Leitung der Hofbühnen vorzubringen wären, fast in nichts zusammen. Ein Repertoir wie das des Schauspielhauses bedeutet einfach den künstlerischen Bankerott, den völligen Verzicht auf jede führende Stellung im deutschen Theaterleben. Die oft wiederholte Vertheidigung, es handle sich vorerst darum, die von der früheren Leitung angenommenen Stücke aufzuarbeiten, involvirt eine wahr- 270 scheinlich unbewußte Entstellung der Thatsachen: weder der für die ganze Gattung typische Schwank „Auf glatter Bahn“, noch der „Seestern“, noch endlich die fragwürdigen Einakter sind von Herrn von Hülsen erworben worden, sie wurden unter dem jetzigen General-Intendanten acceptirt und unter seiner Leitung wurden sie so lange heruntergespielt, bis die Einnahmen eine weitere Ausschachtung 275 untersagten. Die Königlichen Bühnen fallen nicht in das Ressort eines Staatsministers, als Hofinstitut unterstehen sie einzig der Kontrolle des Hausministeriums, dessen Inhaber bis vor Kurzem ein naher Verwandter des eigentlichen Verwaltungschefs war. Dieser, Herr Graf von Hochberg, steht jetzt seit zwei Jahren dem Hoftheater 280 als General-Intendant vor, er leitet das Institut in künstlerischer Beziehung völlig selbständig, er ist daher der Träger der Verantwortlichkeit in guten wie in schlimmen Tagen. Und da der Herr Graf mit einer Sicherheit, wie sie nur ein muthiges Selbstbewußtsein giebt, allen aufgetauchten Zweifeln gegenüber in der ungewöhnlichen Form eines offiziellen Dementi bekannt gab, daß er auch ferner- 285 hin an seinem Platze bleiben werde, so ist es eine unabweisbare Pflicht für die Kritik sich hören zu lassen und dem siegessicheren Entschluß des Intendanten gegenüber Stellung zu nehmen. Die deutschen Hofbühnen leiden schon recht lange an dem Unwesen der Intendanzwirthschaft; praktische Theatermänner wie Eduard Devrient und Heinrich 290 Laube haben vergeblich ihre warnende Stimme laut dagegen erhoben, daß ein Kunstvorstand aus den Reihen des Hofadels heraus kommandirt wird. Nach wie vor wird irgend ein beliebiger und beliebter Edelmann, der vielleicht gestern noch glaubte, daß Taglioni ein bedeutender Dramatiker war und wußte, daß es hinter den Koulissen oft recht nett sein soll, ohne die nothdürftigste Vorbereitung 295 an eine Stelle befördert, die an Kompetenzen und Selbständigkeit fast überreich ist und deren Aufgaben hohe und wichtige sind. Die evidenten Fehler dieser zopfigen Institution werden nur da einigermaßen wieder gut gemacht, wo, wie z.B. in Wien, der Intendant sich auf eine vorwiegend repräsentative Rolle neben seinen Verwaltungsgeschäften zurückzieht und die eigentliche künstlerische 300 Leitung den Fachleuten überläßt. Ein ähnliches Verhältniß hat auch in Berlin eine Reihe von Jahre hindurch nicht ohne günstige Wirkung geherrscht, erst nach dem nicht ganz freiwilligen Austritt des tüchtigen Schauspieldirektors Hein dem ein physiognomieloser Theaterbeamter folgte, machte sich der allein maßgebende Einfluß des Herrn von Hülsen auch in rein künstlerischen Fragen geltend. Frei- 305 lich hätte auch Hülsen niemals so viel Selbstkritik und Hochachtung vor der Kunst besessen, um einer Individualität von der rücksichtslosen Energie Laube’s <?page no="154"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 154 den gehörigen Raum zur Entfaltung ihres Könnens zu gewähren. Die Briefe Laube’s über diesen Punkt lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zwei hergebrachte Formen der Verwaltung kennt der preußische Staat: das 310 militärische und das bureaukratische System. Hülsen als Vertreter des Militarismus hatte es nicht verstanden, die Sympathie der Presse, deren Macht er aus seinen veralteten Anschauungen heraus naturgemäß unterschätzte, und anderer gewichtiger Faktoren zu erwerben, woran eine gewisse altpreußische Steifnackigkeit seines Wesens viel Schuld trug. Jedenfalls aber hat er der Hofbühne, 315 der er im ganzen wenig oder garnichts bieten konnte, im einzelnen genützt, indem er ihr die besten Talente wie Berndal, Liedtke, Vollmer, Ludwig, Krause, die Frieb-Blumauer u.a. zuführte. Dabei machte er es sich nicht so bequem, den anderen großen Bühnen der Residenz und der Provinz ihre besten Kräfte abzujagen, sondern er wußte die Talente zu finden, ehe sie die Sonnenhöhe des Ruhms er- 320 reicht hatten. Hülsen hat die Künstlerschaar allezeit streng, aber unbeeinflußt durch Launen und vom militärischen Ehrenpunkt ausgehend, regiert und durch seine Zuverlässigkeit im Lob wie im Tadel hat er ihre Sympathien errungen. Hülsen war ein Kavalier - freilich wie andere Kavaliere, aber er leitete „sein“ Theater im Sinne seines kaiserlichen Herrn und man muß es ihm lassen, seinen Zielen, die 325 natürlich nicht die Unseren sind, ist er gerecht geworden: er hat im Schauspiel nie ein irgend nennenswerthes Defizit erzielt und er hat dem Schauspielhause seinen höheren Töchterstandpunkt fern von allen nachtheiligen modernen „Auswüchsen“ treulich gewahrt. Dies Resultat ist sicherlich kein glänzendes und es war recht leicht und dankbar die Hülsen’sche Erbschaft anzutreten. 330 Der Nachfolger des Herrn von Hülsen ist nur der zweiten Seite des erwähnten preußisch-militärischen Programms: gute Wirthschaft und gut bürgerlicher Anstand, gerecht geworden, er hat das Repertoir auf den sattsam bekannten Standpunkt zwischen dem schlechtweg Erhabenen und dem bis zur plattesten Albernheit Lächerlichen erhalten, mit sorglicher Vermeidung jedes unliebsamen 335 Windhauchs von Norwegen oder Frankreich - wirthschaftlich bedeutet das Resultat seiner zweijährigen Amtsführung ein bisher noch niemals in ähnlicher Höhe erreichtes Defizit. Er hat folglich als Verwaltungschef einen Rückgang, als künstlerischer Leiter im besten Falle einen Stillstand, also einen maskirten Rückschritt zu verzeichnen. 340 Graf Hochberg war früher Assessor - nach dem Soldaten also der Bureaukrat. „Auch einmal die Probe vom Gegentheil.“ Glatter und schmiegsamer als Hülsen wußte er gewisse Klippen besser zu umschiffen als jener. Er suchte im Anfang seiner mehr im Hinblick auf Ehre als auf hohen Lohn ergriffenen Thätigkeit Fühlung zu einem Theil der Presse zu gewinnen, er ließ der staunenden Mitwelt 345 verkünden, daß fortan auf der Intendanz „auch“ zwei der größten Berliner Blätter gelesen werden, er hatte eine recht bezeichnende Konferenz mit einem Löwen der neuesten Dramatik, der damals offiziell wenigstens noch nicht daran dachte, nach Shakespeare’s und Ibsen’s Vorgange sein eigener Direktor zu werden - kurz, alles ließ sich zum Besten an und die öffentliche Meinung kam dem neuen Intendanten 350 mit dem denkbar größten Wohlwollen entgegen. <?page no="155"?> Maximilian Harden 155 Aber Graf Hochberg ist nicht nur Bureaukrat, was schlimm für die arg reglementirten und disziplinirten Künstler ist, er ist auch Dilettant, und das ist schlimmer für die Kunst. Die Spur seiner bureaukratischen Neigungen bezeichnen die unzähligen Kon- 355 flikte mit den Mitgliedern, bei denen es nicht immer lustig zuging und die bald als die einzigen interessanten Novitäten der neuen Aera galten. Wo Hülsen für ein Versehen, eine dienstliche Unpünktlichkeit ein scharfes Tadelwort gehabt hatte, da stellte sich jetzt sofort eine entsprechende Geldstrafe ein, deren Höhe und Begründung durch öffentlichen Aushang den sämmtlichen Theaterangehöri- 360 gen als warnendes Exempel und zur Abschreckung von ähnlichen Frevelthaten mitgetheilt wurde. Meist bestanden diese Greuel in irgend einer „inkorrekten“ Auflehnung gegen einen Garderoben-Inspektor oder einen der zahlreichen Beamten, die als Stab des „Herrn Grafen“ niemals verfehlten, den Schauspielern, in deren Hände nach des Dichters Wort der Menschheit Würde gegeben ist, recht 365 deutlich zu zeigen, daß sie eben nur der unumgängliche Vorwand für die Errichtung einer Theaterbehörde seien. Ein Künstler, der von einer anderen vornehmen Bühne nach dem Schillerplatz übersiedelte, mußte wohl einigermaßen befremdet diesen seltsamen Zuständen gegenüberstehen; anstatt eines einzigen, voll verantwortlichen Leiters trat ihm ein Heer von Angestellten gegenüber, jeder 370 streng sich auf seine Kompetenzen steifend, jeder, bis herab zum letzten Ankleider, von der stolzen Höhe seiner gesicherten Beamtenstellung mit schlecht verhehlter Verachtung herabsehend auf die unter ihm, die nichts weiter sind als - Schauspieler. In den Stunden guten Humors scherzte man darüber hinweg, besonders da es dem Direktor auch nicht besser erging, oft genug kam es aber auch 375 zu schwer empfundenen Kränkungen. So geschah es z.B. bei der Aufführung eines klassischen Stückes, daß ein Darsteller für die oft von ihm gespielte Rolle plötzlich am Abend ein anderes Kostüm vorfand und erst auf recht energische Reklamationen zu seiner gewohnten Kleidung gelangen konnte. Er glaubte damit die Sache erledigt und war auf’s peinlichste erstaunt, als am nächsten Abend ein 380 Plakat verkündete, „der Königl. Schauspieler X.X. sei wegen Widersetzlichkeit gegen die Garderoben-Inspektion in eine Strafe von und so viel Mark genommen“. Mit solchen Schülerstrafen - der Fall ist typisch, darum findet er hier Erwähnung - will man eine freie Kunstgenossenschaft regieren? Der „Herr Graf“ aber, der es allen Traditionen zuwider gestattete, daß bei Vorstellungen und Pro- 385 ben ihm befreundete oder verwandte Personen die Bühne betraten, auch wohl gelegentlich „maßgebende“ Ansichten riskirten, mochte dann wohl zu seinem treuen Begleiter und Vertreter - in den Koulissen nennt man ihn „Vice-Intendant“ - sagen: „Mein lieber Freund, Du mußt verstehen, das ist die Art, mit - Künstlern umzugehen“. 390 In dieses traurige Kapitel gehören auch die unterschiedlichen Erlasse bezüglich der Kleiderordnung im Zuschauerraum wie im Orchester, die famose Einführung von Gesellschaftsabenden im Opernhause, an denen „das Publikum höflichst ersucht wurde, die Herren im Frack, die Damen in Gesellschaftstoilette zu erscheinen“ (wörtliches Citat vom Theaterzettel! ), der grammatikalische Essay 395 über die Aussprache des seit den Tagen König Eduard’s denkwürdigen Buchsta- <?page no="156"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 156 ben „G“, die Disziplinirung des Herrn von Strantz auf Grund der Zettel-Affaire („selber insceniren - geht brillant“) und endlich als Krone des Ganzen die Austreibung Hans von Bülow‘s aus dem Paradiese des Opernhauses durch die Herren Logenschließer, denen in Ermangelung eines feurigen Schwertes die Photo- 400 graphie des heißspornigen Künstlers anvertraut worden war. Immer und überall die Ueberschätzung der bureaukratischen Machtstellung, das mechanische Reglementiren vom grünen Tisch aus, immer und überall die Geringschätzung des Künstlers und der Kunst. Vor grauen Jahren, von denen als einziger Zeuge der jetzige Hofkapellmeister 405 Deppe etwas zu künden weiß, hat Graf Hochberg eine Oper komponirt. An und für sich wäre das nicht so schlimm, aber diese Oper, der „Wärwolf“ wurde in Hannover unter schroffer Mißbilligung Bülow‘s aufgeführt, und sie soll den Berlinern nur auf den wenig günstigen Bericht des Directors von Strantz hin, der von Hülsen zur Aufführung geschickt worden war, erspart worden sein. Sicher ist, 410 daß Bülow noch später in seinen „Skandinavischen Konzertreiseskizzen“ mit unverhülltem Ingrimm von der „unangenehm anspruchsvollen Dilettantenarbeit“ des Grafen Hochberg sprach, und so konnte ein geistvoller Kritiker mit Fug Bülow’s Schicksal im Opernhause dahin resumiren, er sei „vom Wärwolf verschlungen“. Freilich konnte der Intendant behaupten, seine Rache gelte nur dem 415 treffenden, aber harten Worte vom „Circus Hülsen“, obwohl Graf Hochberg selbst sofort den musikalischen Leiter, auf den in erster Linie das Wort hinzielte, verabschiedet hatte, aber, wie dem auch sei - die Thatsache, daß ein Künstler von der Bedeutung und dem europäischen Ruf Bülow’s förmlich steckbrieflich verfolgt und von einem Logenschließer mit deutlicher Handbewegung und einem 420 stereotypen „Der Herr Graf hat befohlen“ zum Hause hinaus - komplimentirt worden ist, dürfte ihresgleichen in den Annalen irgend einer vornehmen Bühne nicht haben. Uebrigens hatte Hülsen selbst niemals an eine persönliche Rache für Bülows Konzertrede gedacht, die ganz sicherlich nur der leidenschaftlichen Erregung für 425 die Sache entsprang: Bülow hatte seither mehrfach unbeanstandet das Opernhaus besucht und so war der Biß des Wärwolfes zum mindesten etwas verspätet. Seiner ersten That in Tönen hat Herr Graf von Hochberg einige gefällige Lieder folgen lassen, die uns nach seiner Beförderung gefällige Sänger nicht vorenthalten haben, er hatte also Grund genug, an seine Kompetenz auf dem Gebiet der 430 Oper inniglich und festiglich zu glauben und für das Stiefkind Schauspiel erachtete er wohl seinen Schatz an landesüblicher schöngeistiger Scheidemünze für ausreichend. Vorerst freilich galt es, anstatt des mißliebigen Herrn Deetz einen besseren Steuermann zu finden, der die für seine bescheidenen Funktionen genügende Routine mit der nöthigen Nachgiebigkeit gegen die Leitung des dilettiren- 435 den Kapitäns verbinden sollte. Der rechte Mann fand sich in Herrn Anno, der als Leiter des Residenztheaters viel Sinn für geschmackvolle Bühnenausstattung und flottes Zusammenspiel gezeigt und sich namentlich durch den entschlossenen Eifer, mit dem er an die Verkörperung Ibsen’scher Dramen ging, viele und gerechte Sympathien erwor- 440 ben hatte. Die Aufgaben eines Regisseurs am Residenztheater sind nun aber ganz <?page no="157"?> Maximilian Harden 157 wesentlich erleichtert durch die minutiös ausgearbeiteten Regiebücher der Franzosen, die zu jedem wichtigen neuen Stück beigegeben werden, ferner durch die Möglichkeit, an Ort und Stelle die Pariser Originale sorgsam zu studiren und getreulich zu übertragen. Daher kommt es, daß seit dem Bestehen des Residenz- 445 theaters bis auf den heutigen Tag nur von „meisterhaften“ Regisseuren dort zu hören war. Die Herren Rosenthal, Claar, Keppler, sogar Herr Neumann zum Theil, endlich Herr Lautenburg - sie alle erhielten ihr gerüttelt Maß des Lobes widerspruchslos zuerkannt. Diese etwas übertriebene Würdigung seiner Regiekunst hatte auch Herrn Anno gegenüber die Stimmung derartig beeinflußt, daß man es 450 gänzlich übersah oder übersehen wollte, wie völlig andere Ansprüche die leitende Stellung eines ersten Kunstinstitutes naturgemäß erheben muß. Diesen Posten ist nur eine Persönlichkeit mit voller außeramtlicher Autorität den Darstellern gegenüber gewachsen, ein selbständig schaffender Mann, der das Institut literarisch repräsentirt und zu der modernen Produktion ein Verhältniß hat - der 455 Rückblick auf die Iffland, Immermann, Tieck, Schreyvogel, Laube, Dingelstedt giebt dieser wohl kaum noch ernstlich angefochtenen Behauptung auch die historische Basis. Wie schnell es mit dem bedeutendsten Kunstinstitut bergab geht, sobald ein solcher Leiter fehlt und Schauspieler oder andere Routiniers an seine Stelle treten, zeigt das Beispiel des Burgtheaters, von dem die deutsche Bühne seit 460 Wilbrandt‘s Rücktritt nicht die mindeste literarische Anregung mehr erhalten hat und dessen Stern trotz der hervorragenden Kräfte, die ihm noch immer angehören, doch eben in dem Moment zu erbleichen beginnt, wo sich der für alle Bühnenverhältnisse symbolische Umzug in das neue, prachtglänzende Haus vollziehen soll. 465 Graf Hochberg ist über alle diese Dinge anderer Meinung. Er hat seinen Direktor die ohnedieß schon recht winzigen Befugnisse noch erheblich verkürzt, so daß man für die Geduld und Fügsamkeit des Herrn Anno einige bedauernde Bewunderung empfinden muß. Der Intendant besetzt die Stücke, er behält sich die ausschlaggebende Entscheidung über Annahme und Ablehnung neuer Dramen vor, 470 er entläßt wohl auch über den Kopf des Direktors hinweg einen ihm persönlich unsympatischen Künstler, wie er auf privatem Wege, ohne den Direktor auch nur zu verständigen, eine Liebhaberin des Deutschen Theater engagirte, um ihr einige Monate später wieder zu kündigen - alles das nach Laune und Willkür, ohne prinzipiellen Standpunkt. Der nimmer rastende Koulissenscherz hat die unbe- 475 hagliche Situation der sprunghaft geleiteten Künstler dadurch recht treffend charakterisirt, daß er dem Herrn Grafen die Worte in den Mund legte: „Sie gefallen mir ausgezeichnet, Herr Z., - Sie sind entlassen! “ Der Kunst sucht der Intendant nach alter Dilettantenweise von außen beizukommen, da er ihr Inneres nicht zu übersehen vermag. Die starken und nachhal- 480 tigen Erfolge des Deutschen Theater, durch eifervolles Zusammenstreben aller Kräfte zum Ganzen errungen, schienen ihm nur Resultate einer prächtigen Bühnenausstattung. Er beschloß diese zu überbieten. Noch unter der Leitung des Herrn Deetz, aber, wie offiziös lebhaft betont wurde, unter hervorragender Betheiligung des Herrn Grafen war der „Wallenstein“ neu inscenirt worden und 485 hatte einen ansehnlichen Erfolg vor dem wohlwollend zuwartenden Urtheil ge- <?page no="158"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 158 funden. Prächtig genug war hier der Rahmen - wenn nur das bescheidene Bild der Aufführung diesem Apparat entsprochen hätte! Aber schon das Lager zeigte nur die üblen Seiten einer lärmenden „Meiningerei“, der jener Geist völlig fehlte, durch den allein die Aufführungen der Meininger und des Deutschen Theater ihre 490 Bedeutung erhalten haben. Das Lager soll uns die Heere des Friedländers in jauchzender Sonntagslust vorführen, die den strengen Dienst und den allgemeinen Geldmangel der Truppen leichtsinnig und fröhlich unterbricht: im Schauspielhause aber, dem Schiller den Rücken zuwendet, wird uns mit überlauter Vordringlichkeit jedes Detail des täglichen Dienstes in die Ohren getutet, alles ist 495 auf den rein äußerlichen Theatereffekt berechnet und Gustel, die wetterharte Soldatendirne, in deren Schuldbuch die ganze Armee steht, erscheint in einem koketten Maskenballkostüm mit Federhut und schönem Goldschmuck nebst tadelloser Wäsche. In demselben Stil sinn- und stimmungsloser Prachtentfaltung geht es dann flott weiter, der ganze Kontrast zwischen den darbenden Feld- 500 hauptleuten und der goldstrotzenden kaiserlichen Camarilla geht verloren, denn Terzky, Illo und die Uebrigen gehen in reichen, gepreßten Sammetgewändern einher, anstatt öder, nur von kriegerischem Leben angefüllter Säle („hier ist kein Glanz als der von Waffen,“ läßt der Dichter die Gräfin sagen) erblicken wir Räume voll überladener Pracht, schwellende, lauschige Ruheplätze, die unver- 505 meidlichen Portieren von kostbarstem Stoff, selbst Isolani, der bis über die Ohren verschuldete Kroat, strotzt von Goldstickereien, entgegen seinen eigenen Worten, Max Piccolomini, das Kind des Lagers paradirt mit blendend weißen Glacéhandschuhen und wechselt vor dem Souper bei Terzky die Toilette! So versteht man im Schauspielhause das schöne Wort von der modernen, stimmungsvollen Aus- 510 gestaltung des Bühnenbildes. Was schließt denn die Soldateska des dreißigjährigen Krieges so lange und so fest an den einen Mann, was schaart sie alle um „ihren“ Wallenstein, wenn es nicht das Gefühl der Gemeinsamkeit in Freud und Leid ist, das Bewußtsein, in der Höflingsschaar, die ihnen den Sold vorenthält, einen gemeinschaftlichen Feind zu besitzen? ! 515 Aber „Wallenstein“ machte volle Häuser am Schillerplatz, denn wir leben in einer unerfreulichen Kunstperiode, wo sich jede Konzession an die Schaulust reichlich bezahlt macht. Natürlich ging der neue Intendant nun resolut weiter auf der glatten Bahn solcher Pyrrhussiege. Drei malerische Beiräthe wurden gewonnen, von jedem neu studirten Stück wurden mehrfache Kostümproben abgehal- 520 ten, Prospekte und Maschinen nicht geschont, bis man endlich die Theile alle in der Hand hatte. Nun aber fehlte das geistige Band. Im Parquet saß der Allgewaltige, umgeben von einem Generalstab von Notabilitäten, in welchem vom aesthetisirenden General bis „herab“ zum Hofästhetiker alle Nuancen der Kunstliebhaberei und kein einziger wirklicher Kenner vertreten waren. Ein Maler 525 wünscht einen anderen Beleuchtungseffekt, der den Direktor zu gänzlich verändertem Bühnenarrangement zwingt, ein zweiter erklärt dem erhitzten Darsteller des Egmont in ausführlichster Weise, wie er das Bandelier seines Schwertes zu befestigen hat, der General hat mit dem Maschinenmeister eine äußerst wichtige Besprechung über die stilvollen Möbel in der Egmont’schen Privatwohnung und 530 der Intendant selbst entwickelt einer andachtsvoll lauschenden Korona seine <?page no="159"?> Maximilian Harden 159 künstlerischen Anschauungen über die Stiefelmoden unter Philipps des Zweiten Szepter, nach welchen er „sich zu richten“ bittet. Und der Direktor? ! Allen Stürmen preisgegeben steht er ruhig inmitten dieses Chaos. Er warnt den Intendanten vor der gefährlichen Besetzung einer Hauptrolle - vergebens, es bleibt beim Alten 535 oder bei der Alten. Hätte Herr Anno wenigstens die nöthige Machtvollkommenheit, man wäre zwar von einem erwünschten künstlerischen Zustand immer noch weit genug entfernt, aber die ärgsten Niederlagen wären dem Regime Hochberg dann doch erspart geblieben. Herr Anno, der viele Dezennien ein trefflicher Komiker war, der mehrere wirksame Possen verfaßt hat, bringt den klassischen Stü- 540 cken zwar anscheinend kein in die Tiefe dringendes Verständniß, wohl aber eine gewisse frische Naivetät entgegen, wie sie dem schwer erreichbar wäre, der in dieser geistigen Atmosphäre aufgewachsen ist. Eine bedeutendere Individualität als die Anno’s ist, hätte man nie und nimmermehr für diese inhaltslosen Funktionen zu gewinnen vermocht, jede scharf 545 umrissene Persönlichkeit hätte diesem Intendanten gar bald ihre Ueberlegenheit mit verletzender Deutlichkeit bewiesen. Herrn Anno ist unermüdlicher Fleiß nicht abzusprechen, aber diese treffliche Eigenschaft subalterner Geister reicht für eine leitende künstlerische Stellung nicht annähernd aus, hier braucht man Charakter, Eigenart und zielbewußtes Können. Als vortrefflicher Arrangeur hat sich 550 Herr Anno auch im neuen Wirkungskreise bewährt, die Bühnenausstattung hat an Geschmack gewonnen und keine deutsche Bühne hat feiner abgetönte Portieren als das Schauspielhaus. Aber keine noch so kostbare - die bekannt gegebene Ziffer ist mir leider entfallen - und noch so geschmackvolle Gardine vor dem Bette Desdemonens vermag eine verfehlte Besetzung zu verdecken und alle 555 glanzvolle Pracht am Hofe der stolzen jungfräulichen Brittenkönigin hält manchmal das Publikum nicht von lauten Mißfallensäußerungen zurück. Man hat sich durch das übermäßige Vordrängen des Ausstattungsluxus allmählich daran gewöhnt, die Aufgaben des Regisseurs nur im reichen, gefälligen Bühnenarrangement, allenfalls in sinngemäß belebter Anordnung der Gruppen und der 560 Massen zu sehen und die weitaus wichtigere Sorge für das gesprochene Wort gering anzuschlagen. Nur dadurch ist es zu erklären, daß man jetzt häufig in Kritiken nach einer gründlichen Ablehnung der Darstellung liest: „Die Regie war wie immer meisterhaft u.s.w.“, daß man einen Mann, unter dessen nomineller Leitung und Verantwortlichkeit fast regelmäßig die Hauptdarsteller einstimmig 565 getadelt wurden, immer noch für einen vorzüglichen Regisseur erklärt. Wer wird einen verantwortlichen Redakteur wegen des äußeren Zuschnitts seines Blattes und der geschickten Reportage preisen, wenn dasselbe von schlechten Leitartikeln und reizlosen Feuilletons angefüllt ist? Schon die Thatsache, daß man immer wieder ohne Rücksicht auf den augenblicklichen Personalbestand, nach rein äu- 570 ßerlichen Erwägungen an Neueinstudirungen schritt, spricht laut und deutlich gegen die Qualifikation des Herrn Anno für seine Stellung, gegen sein Verständniß für schauspielerische Individualitäten spricht es, daß er einem besonders begabten Künstler, der drei Jahre unter ihm am Residenztheater gewirkt hatte, durch die unglückliche Auswahl der Antrittsrolle ernste Schwierigkeiten auf dem neuen 575 Terrain schuf. Dieser Schauspieler, Herr Reicher, erscheint als die einzige Neuer- <?page no="160"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 160 werbung von größerem Werth, in ihm, dessen Können sich an Ibsen und den Franzosen gefestigt hat, dürfte dem Schauspielhaus vielleicht endlich ein moderner Charakterspieler heranreifen, der es versteht, ohne hohle Deklamation und schöne, langgedehnte Töne, mit einfachen Mitteln der Wahrheit Menschen darzu- 580 stellen. Auch sonst weist das Personal des Schauspielhauses noch manchen guten Namen auf, dessen Klang auch heute noch vollwerthig ist. Vollmer, der prächtige, vielseitige Komiker voll Frische und Liebenswürdigkeit brauchte nur einige Förderung durch Zuertheilung lohnender Aufgaben, um der erste humoristische 585 Schauspieler Berlins zu sein, während er so, mit Stahl und Heinemann genährt, nur der beliebteste ist. Den ausgezeichneten Chargenspieler Krause, dem ein reiches Legat aus der Erbschaft des Döring’schen Humors zufiel, stellte die Laune des Grafen Hochberg einfach kalt - nur zum Schaden des Instituts. Noch schlimmer fast erging es, mit mehr Berechtigung freilich, Hrn. Müller, der durch die 590 Ungnade des Chefs seinen gesammten Rollenkreis verlor. Man muß nun unumwunden zugeben, daß Hr. Müller kein jugendlicher Held für das Schauspielhaus ist, und mit dem Eintritt des Hrn. Matkowsky wäre sein Reich ohnedies zusammengebrochen. Einstweilen aber ist dieser nur ewiger Gast des Schauspielhauses - nebenbei auch kein sehr würdiger Zustand für eine erste Bühne - und die Rol- 595 len des jugendlichen Heldenliebhabers liegen meist in den Händen eines Darstellers, der von Publikum und Kritik mit einer hierzulande seltenen Einmüthigkeit als Mortimer abgelehnt morden ist. Natürlich ist er im unangefochtenen Besitz der Rolle geblieben, denn der Intendant ist inzwischen zu sehr Kenner und Sachverständiger geworden, um fernerhin andere Meinungen zu toleriren oder 600 gar zu respectiren. So hat sein mächtiger Wille die beste Schauspielerin des Theaters, Frl. Meyer, in unverdienter Weise in den Hintergrund treten lassen und dieser feinsinnigen und immer weiblichen Künstlerin die Kränkung nicht erspart, an zweiter Stelle, gewissermaßen in der Reserve, eine Hauptrolle in einem Schiller’schen Drama spielen zu müssen, der sie dann trotzdem einen ersten Preis zu 605 danken hatte. Auch Frl. Conrad, dies kräftigste, eigenartigste Talent unter den Naiven der Residenz, mußte den ersten Platz an eine recht mäßig begabte Dilettantin abtreten, deren ausgeprägtes Streben nach Reklame und Lärm um jeden Preis das Hoftheater nur kompromittiren kann. Ueberhaupt ist an dieser Stelle der Typus der Sport-Schauspielerin neu. Bisher hatte nur eine Dame, welche inzwi- 610 schen ausgeschieden ist, die vornehme Zurückhaltung der Hofschauspielerin aufgegeben, aber sie hatte zum mindesten künstlerische Reklame gesucht, während heute die Hofbühne zwei weibliche Mitglieder besitzt, deren Namen einem bei jeder denkbaren Veranlassung in die Ohren geschrieen werden, mag es sich um einen Wohlthätigkeitsbazar, einen Ball oder ein Pferderennen handeln, und 615 die man bei jeder Premiere erwähnen hört - die nicht im Schauspielhause stattfindet. So lange dies Treiben an einem Privatinstitut sich breit macht, kann man es getrost dem Urtheil aller verständigen Theaterfreunde überlassen, wenn es aber an einer Hofbühne Unsitte wird, mit Brillanten und kostbaren Toiletten Reklame zu machen, die in gar keinem Verhältniß zu dem Talent der Betreffenden 620 steht, so ist man aus Achtung vor der Kunst, die solches Gebahren discreditirt, <?page no="161"?> Maximilian Harden 161 verpflichtet, die öffentliche Aufmerksamkeit darauf hinzulenken. Alle persönlichen Rücksichten haben da zu schweigen, wo es die Sache gilt. Zum Glück sind diese Fälle vereinzelt, aber sie gehören zu dem ganzen, wenig erfreulichen Bilde. Mit der angenehmen Abwechselung von Zuckerbrod und 625 Peitsche ist eine Künstlerschaar ohne Schaden nicht zu kommandiren, und Rücksichtslosigkeiten, wie die gegen den hochverdienten, urwüchsigen Th. Liedtke, beweisen eine traurige Energie. Man muß es in der „Geschichte des Burgtheaters“ lesen, wie zart und vorsichtig der rauhe Laube es anstellte, um ältere, bedeutende Künstler von der Nothwendigkeit einer ganzen oder theilweisen Demission zu 630 überzeugen, um den vollen Unterschied zu begreifen. Wären die Zustände an den deutschen Bühnen gegenwärtig minder trauriger Natur, so hätte sicherlich manches Mitglied der Hofbühne längst gern und freudig auf die Vortheile der gesicherten Lebensstellung verzichtet, um anderwärts sein Heil zu versuchen. Das Urtheil über den Einzelnen ist „oben“ beständigen Schwankungen unterwor- 635 fen, und selbst Damen, die den Beschwerdeweg mündlich betreten, sind nicht sicher, empfindlich brüskirt und mit einem bündigen consilium abeundi entlassen zu werden. Es ist eine alte Legende, daß die Schauspieler schwer zu behandeln sind - möglicherweise hatte sie einst, als es noch wenig brauchbare Schauspieler in Deutschland gab, einige Berechtigung, heute ist sie jedenfalls völlig 640 hinfällig geworden, aber wie jeder Künstler will der Schauspieler, soweit er auf den stolzen Titel eines solchen überhaupt Anspruch erheben kann, von seines Gleichen, von Künstlern und Kunstkennern beurtheilt und geleitet werden, nicht von dilettirenden Grandseigneurs, die sich mehr als er dünken und ihn am Gängelbande ihrer hochmögenden Launen führen möchten. 645 Im Allgemeinen kann man wohl behaupten, daß unser Schauspielhaus noch heute einen Kreis trefflicher Künstler sein eigen nennt. Wären die klaffenden Lücken in den Fächern der Heldin, der geistvollen Salondame, das seit dem Uebergang der Frau Keßler-Kahle völlig verwaist ist, würdig ausgefüllt, gelänge es der Leitung, einen Ersatz für Liedtke als Konversationsliebhaber zu gewinnen und 650 die derbkomischen Mütterrollen in geeignete Hände zu legen, so würde es an dem Personal mindestens nicht fehlen, wenn ein Führer wie z.B. Barnay vorhanden wäre, dessen fortreißender Eifer zum Siege zu führen vermöchte. Aber durch die jahrelange künstlerische Anarchie, die trotz des strengen militärischen und bureaukratischen Regimes am Schillerplatz geherrscht, hat sich ein unleidlicher 655 Zustand der Manierirtheit herausgebildet, dem sich fast keiner der Künstler, auch der hervorragendste nicht, hat entziehen können. Wohnt man nach mehrjährige[r] Pause wieder einer Aufführung im Schauspielhause bei, so erfaßt einen wehmüthige Heiterkeit, wenn man sieht und hört, wie jeder seine Manier und Unmanier nur noch ängstlicher und deutlicher herausgebildet hat, der erste Ton 660 jedes Neuauftretenden zeigt mit schmerzhafter Klarheit, daß er der Alte geblieben ist. Dieses Erstarrtsein in Manier jeglicher Art ist es, was die Vorstellungen des Schauspielhauses so unerträglich macht, aber nur die wenigsten Besucher legen sich darüber Rechenschaft ab. Man weiß es nach einigen Besuchen genau, wie Hr. Liedtke oder gar Hr. Kahle jede Rolle spielen wird, welches Register seiner Kehle er 665 tönen lassen wird, und selbst das große, starke Talent des Hrn. Ludwig bringt sich <?page no="162"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 162 durch leidige Manierirtheit oft um den Beifall der Besten. Hier liegt der Grundfehler, aus dem alle übrigen nothwendig resultiren müssen. Die jämmerliche Begrenztheit des Repertoirs, der Zwang, sich beständig mit bereits ausgeschöpften oder völlig werthlosen Aufgaben beschäftigen zu müssen, 670 trägt die Schuld an diesem unerträglichen Zustand der Dinge. Das Repertoir bildet sich seine Schauspieler: bevor man das französische Salonstück zu uns importirte, gab es auch keine Darsteller für dieses Genre, heute übt es seinen belebenden Einfluß auf beflügeltes Sprachtempo überall, wo man es eben aufführt. Die Mitglieder eines Theaters, das von den Klassikern selbst nur einen be- 675 schränkten Dramenkreis pflegt, das beinahe allwöchentlich verstaubte Werke von Iffland oder Töpfer auf die Bühne bringt und das sonst nur von Benedix, Moser, Heinemann, Stahl und Lubliner lebt, können nach einer durch Dezennien ausgeübten Wirksamkeit kaum noch irgend welche frische Unmittelbarkeit sich gewahrt haben, während der Schauspieler, der heute im „Carlos“, morgen in „Ga- 680 leotto“, dann im „Richter von Zalamea“ auftritt, schon dadurch vor einseitiger Manierirtheit bewahrt bleibt. Dazu kommt nun noch, daß Niemand das darzustellende Kunstwerk von innen heraus zu beleben vermag, es fehlt an Einheitlichkeit der Führung wie an Fähigkeit, und in dem unsicheren Tasten und Experimentiren, in dem beständi- 685 gen Wechsel der Ansichten und Absichten zerflattert schließlich sogar der bis dahin sorgfältig gepflegte Schauspielhaus-Stil, jene behutsame schauspielerische Leisetreterei, die, allen schädlichen Gemüthsbewegungen vorsichtig und superklug aus dem Wege gehend, nichts verdirbt, weil sie nichts gewagt und gewollt hat. Die neuen Elemente, welche die Augenblickslaune des Intendanten bestimmt 690 hatte, ihm persönlich mißliebige Künstler zu ersetzen, waren wohl entschlossen, sich dem altbewährten Stil des Theaters für alte Damen und junge Offiziere nicht zu unterwerfen, ohne aber die genügend kräftige Eigenart zu besitzen, um ihrerseits dem senilen Institut ihres Geistes Stempel aufzudrücken. Im Großen und Ganzen war die Neuergänzung des brüchigen Personalstandes so unglücklich, als 695 sie nur sein konnte, und die Geschicklichkeit des nunmehr völlig autokratischen Kunstchefs, den unrechten Mann an die unrechte Stelle zu setzen, feierte ihre Triumphe in Vorstellungen, wo das zahme Publikum des Schillerplatzes mit sehr vernehmbarem Gelächter in die Hauptscenen klassischer Dramen einbrach. Ein anderes Scherzspiel hatte sich mittlerweile in den angeblich Apollini et 700 Musis geweihten Hallen abgespielt: die beständige Kapellmeisterkrisis. Der bekannt gewordene Konflikt mit Herrn von Strantz hatte den nahe liegenden Gedanken einer Vereinigung aller Kompetenzen in den Händen eines Fachmannes wieder zur Diskussion gestellt, und allseitig wurde dies Project freudig begrüßt. Nun aber zeigte sich die große Schwierigkeit, einen solchen musikalisch-dramati- 705 schen Vorstand zu finden. Nicht daß es an qualificirten Bewerbern um die so lohnende Stellung fehlte, nein, die Herren Seidl und Mottl standen sogar schon in ernsten Unterhandlungen mit der Intendanz, im letzten Augenblicke aber schob sich jedesmal eine Hand dazwischen und alle Kandidaten scheiterten an - Herrn Deppe. Nachdem sich dies ergötzliche Schauspiel mehrfach zur Freude aller lus- 710 tigen Blätter wiederholt hatte, nachdem sich um die legendäre Gestalt des Herrn <?page no="163"?> Maximilian Harden 163 Deppe ein reicher Kranz von ernsten und heiteren Mythen gewunden hatte, gab man endlich das unfruchtbare Bemühen auf und engagirte nur neben dem Allmächtigen noch einen anderen Kapellmeister, diesem die Sorge um die Gebietsabgrenzung überlassend, während die Stellung des Operndirektors bis auf weite- 715 res unbesetzt blieb. Der vielgenannte Herr Deppe hatte gezeigt, daß er ein ganz tüchtiger Musiker, aber, wie es bei einem in so hohen Jahren zu einem ganz neuen Wirkungskreis Berufenen natürlich ist, als Operndirigent unzuverlässig und überdies ein Hemmschuh der Repertoirentfaltung geworden war. Er hatte sich in seiner Ju- 720 gend wohl viel mit der Instrumentirung von Opern, die nicht immer die Seinen waren, aber zu wenig mit Kleinigkeiten wie Klavierspielen und Partiturlesen abgegeben und fühlte sich daher außer Stande, vom Klavier aus die Einstudirung zu beginnen, ja er war gezwungen, vor dem Wunsch einer gastirenden Sängerin, mit ihr schnell die Tempi am Klavier festzustellen, in Räumlichkeiten zu retiriren, 725 die zu Apoll’s Gebiet kaum noch gerechnet werden können - alles aus Antipathie gegen das harmlose Pianoforte. Diese Idiosynkrasie führte dazu, daß die Einstudirung von Opern wie „Freischütz“ und „Don Juan“ einige zwanzig Orchesterproben erforderte, weil, wie die Kammermusiker seufzend verriethen, „unser Kapellmeister die Oper noch nicht kann“, und daß im Repertoir der Oper fast noch 730 traurigere Oede herrschte, wie in dem des Schauspielhauses. Die „Götterdämmerung“, längst Gemeingut fast aller größeren Stadttheater, gehört erst jetzt der ersten und einzigen Opernbühne der Reichshauptstadt, die „Meistersinger“ ruhen, „Tristan und Isolde“ war im letzten Winter nur mit Gästen, und endlich „Rienzi“ überhaupt nicht zu ermöglichen. Das war unser Wagner-Repertoir. Jetzt wird es 735 darin besser werden, denn Graf Hochberg hat aus den bekannten Ansichten des Kaisers über die Wagner’sche Kunst sichtlich seine Lehre gezogen, seine Canossafahrt nach Bayreuth giebt den ersten Beweis dafür. Dürfen aber auch Werke wie die „Entführung“, „So machen es alle“, „Titus“, „Idomeneus“, „Euryanthe“, die beiden „Iphigenien“, „Armide“, „Alceste“, „Iessonda“, „Wasserträger“, dürfen 740 die Italiener, die reizenden Spielopern der Franzosen uns gänzlich fehlen? Von den neueren Werken der letzten Jahre kennen wir so gut wie nichts, weder Massenet noch Saint-Saens haben Eingang zu uns gefunden, Boito‘s „Mefistofele“, Verdi‘s „Othello“, Goldmark‘s „Merlin“, die nachgelassenen Opern Weber‘s „Silvana“, „Die drei Pinto‘s“, Gounod‘s „Tribut von Zamora“ u.s.w., u.s.w. - all’ das 745 existirt für die Leitung unserer Hofoper einfach nicht. Dafür aber passirte es Herrn Deppe wohl gelegentlich, daß er in endloser Probenreihe die Zauberflöte aufführungsreif fertigstellte, ohne zu bedenken, daß die Vorstellung nur durch eine gastirende Koloratursängerin zu ermöglichen war, weil die Berliner Hofoper keine Vertreterin der „Königin der Nacht“ ihr eigen nennt. Wieder also war ein 750 großer Aufwand müßig und zwecklos verthan. Und nun begann für beide Hofbühnen jenes bedenkliche Stadium der Irrungen und Wirrungen, das nur durch die übergewaltigen Ereignisse der letzten Monate der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen wurde: die niemals zurückebbende Fluth der Gastspiele in Oper und Schauspiel, die ewigen Neubesetzun- 755 gen und Doppelbesetzungen, welche die hilflose Verlegenheit der Regie und <?page no="164"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 164 Oberleitung auf bemertenswerther Höhe zeigten, endlich der berühmte, unbedingt gerade jetzt erforderliche Umbau des Schauspielhauses, der sich anscheinend bis zum Jahresschluß hinziehen dürfte und also in diesem Herbst des Heils und der Konkurrenz die Bühne am Schillerplatz einfach aus der Reihe der Kämp- 760 fenden strich. Für den umfassenden und wohlgelungenen Umbau des Walhalla- Theater hat ein Zeitraum von etwa vier Monaten genügt - nach ebenso langer Dauer ist bisher noch kein Endtermin für die Renovationsarbeiten im Schauspielhause irgendwie zu fixiren gewesen. Im vollsten Glanze zeigte sich dieser langsame, aber unaufhaltsame Zersetzungsprozeß einer ohnehin vom Zeitzahn ange- 765 fressenen Erbschaft, als man zehn oder zwölf Abende hintereinander vier belanglose Einacter in dem festlich entleerten Wallner-Theater vor einem Parterre von civilen und militärischen Anwärtern auf Freibillets aufführte, um, wie der hübsche Ausdruck lautete, solchergestalt „dem genius loci zu opfern“. Gelegentlich dieser Opferfeierlichkeit sprachen es mehrfach Berufene aus: „Das wäre unter 770 Hülsen nicht möglich gewesen“. Man braucht wahrhaftig kein Verehrer des Regime Hülsen zu sein, um dem voll und ganz beizustimmen. Herr Graf von Hochberg, der ja wahrscheinlich das Gute gewollt, aber ganz unzweifelhaft das Schlechte geschaffen hat, bleibt auf seinem Posten. Als repräsentirende[n] Hofbeamten, als Intendanten - wenn es denn nicht anders sein soll 775 - kann man ihn wie jeden Andern willkommen heißen, wenn auch das erstrebenswerthe Ziel nur ein öffentlich kontrollirtes und rückhaltlos debattirtes Staats- Theater sein kann. Das aber haben wir in anderen Fällen, z.B. an unseren Museen, und vielleicht auch aus dieser sachlichen Darstellung einsehen gelernt: An die Spitze einer Kunstanstalt gehört ein ganzer Künstler. 780 Unsere Betrachtung der Verhältnisse an den Privatbühnen der Hauptstadt wird um so gedrängter sein können, als die prinzipiellen Punkte meist schon ihre Erledigung gefunden haben. Es ist bereits ausgesprochen, daß ein Privatunternehmen nur von Kompromissen leben kann und daß es den höchsten Aufgaben der 785 Schaubühne dauernd nur durch ein Zusammenwirken außerordentlich günstiger Umstände gerecht zu werden vermag. Es lag nicht zum wenigsten an der Unfähigkeit der Hofbühne, wenn das Deutsche Theater so schnell sich eine achtunggebietende, ja tonangebende Stellung im ganzen Reich erwerben konnte. Nicht zu verkennen aber ist der unermüdliche Fleiß dieser Bühne und die Findigkeit ihrer 790 Leiter, die Talente wie Kainz, Pohl, die Damen Geßner, Sorma, Ortwin und Pospischill auch im Verborgenen zu entdecken wußten. Ueberdies besitzt das Deutsche Theater in Förster das vielleicht bedeutendste erzieherische Talent unserer Tage und einen Regisseur von weitem Blick und größter Erfahrung. Freilich kann man auch ohne Uebertreibung behaupten, daß wohl noch niemals eine neue Theater- 795 gründung so freudig begrüßt, so fort und fort von allseitiger wohlwollender Theilnahme getragen wurde wie diese. Mit warmem Beifallsdank nahm man alles Gebotene auf, sorgfältig verschwieg man die nicht zu verkennenden Mängel und Schwächen, um die unbestrittenen Vorzüge in allen Tonarten zu preisen. Wer die Tagesblätter aus den ersten Jahren des Bestehens des Deutschen Theaters liest, der 800 muß nothgedrungen zu der Annahme gelangen, daß hier ein letztes Ideal in the- <?page no="165"?> Maximilian Harden 165 atralischen Dingen verwirklicht ist und daß nur ein unverbesserlicher Utopist ein Mehr, ein Höheres überhaupt anstreben könne. Es entbehrt nicht eines gewissen Humors, daß einer der lautesten, eindrucksvollsten und jedenfalls wohl überzeugtesten Lober des Deutschen Theaters nach- 805 träglich durch ein neues, in nächster Nähe liegendes Theater an dem alten Institut eine Kritik übt, deren Lapidarstil auffällig zu den früher mit Druckerschwärze auf Holzpapier gelieferten Dithyramben kontrastirt. Das jetzt unter dem Namen Lessing-Theater in’s Leben tretende Unternehmen kündete sich zunächst als ein Theater der Lebenden an und erhob damit gegen das Deutsche Theater den nicht 810 ungerechtfertigten Vorwurf, die Production der Lebenden allzuwenig unterstützt zu haben. Man will wissen, die Idee einer Theatergründung sei dem erfolgreichen Bühnendichter Blumenthal gleich einer Offenbarung aufgegangen, als er einst, den Kassenbericht einer Vorstellung des „Tropfen Gift“ in der Rechten, auf intuitivem Wege zu der Einsicht kam, daß die Sozietät des Deutschen Theaters immer noch 815 den neunfachen Betrag einstriche, während er sich als der Dichter mit den üblichen zehn Prozent begnügen müsse. Dieser für unsere Theatergeschichte bedeutsame Moment wird hoffentlich der Nachwelt durch malerische Darstellung erhalten bleiben, denn der Gedanke selbst dürfte bei dem Direktor Blumenthal vor der Macht der Thatsachen und der - Kosten bald sich verflüchtigen. In jedem 820 Falle aber bleibt es hoch erfreulich, daß wieder in unser Theaterleben eine literarische Potenz - über deren Werth und Umfang man ja verschiedener Ansicht sein kann - eintritt, um dem Treiben der gefährlichen „Praktiker“ die Waage zu halten. Wie weit der Direktor Blumenthal den Spuren zu folgen gedenkt, die er in langjähriger kritischer Thätigkeit vorgezeichnet hat, das müssen die nächsten 825 Jahre erweisen - einstweilen hat er sich einigermaßen von seinem früheren Ich emanzipirt, indem er für sein Theater als Hauptdarsteller mehrere Schauspieler gewann, denen er vordem in seinen Beurtheilungen überaus scharf zu Leibe gegangen war. Auch der Dramatiker Blumenthal hat gleich dem Direktor seine kritische Ver- 830 gangenheit einigermaßen verleugnet. Die erste Novität des neuen Theaters führte uns einen Helden der Bühne mit allen kleinen und großen Schwächen dieser Spezies vor, eine etwas idealisirte Schauspielerin, endlich ein merkwürdig vernünftiger Regisseur sorgten dafür, daß man auf den Brettern kaum vom Theaterklatsch loskommen konnte. Und wie dachte der Kritiker Blumenthal über solche Selbstbe- 835 spiegelung der Bühne? In seiner Besprechung des Lindau’schen Lustspiels „Jungbrunnen“ finden wir folgende Sätze: „Könnten wir nicht zur Abwechselung einmal von etwas Anderem redeu [sic! ], als von dem leidigen Theater? “ fragt der Professor Reißner im zweiten Akt. „Die nämliche Frage darf die Kritik an den Verfasser richten, der hier wieder 840 einmal die Bühne nicht von Gesellschaft und Leben sprechen läßt, sondern von der Bühne selbst. Es ist, als wenn Lindau aus der engen Welt von Latten und Pappdeckeln gar keinen Ausweg fände ... Er führt uns hinter die Coulissen und läßt uns - zum wievielten Male? - das Theater von der Rückseite erblicken. Diese unkeusche Selbstentkleidung war schon nicht geschmackvoll, als sie neu war. Um 845 wieviel verdrießlicher wirkt sie bei Lindau, wo es sich um eine wohlfeile Wieder- <?page no="166"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 166 holung handelt! Hier bedeuten die Bretter nicht die Welt, sondern nur sich selbst, und an dem Ort, wo Täuschungen erwachen sollen, werden Täuschungen zerstört...“ Heine hatte so Unrecht nicht, als er in fröhlicher Selbstpersifflage behauptete, 850 er läse vor jeder neuen schriftstellerischen Bethätigung seine sämmtlichen früheren Werke durch, um Widersprüche zu vermeiden - der Verfasser von „Anton Antony“ hätte vielleicht gut gethan, diesem vorsichtigen Beispiel zu folgen. Auch die goldenen Worte, mit welchen Blumenthal einst die Ausstattungswuth geißelte, mögen hier ihre Stelle finden: 855 „Mir wenigstens will es scheinen, als ob Zuschauern von keuscherem Sinne immer ein Stich durch’s Herz gehen muß, wenn in der Dichtung eines Unsterblichen, der auf einem O von Holz für seine Weltbilder Platz gefunden hat, heutzutage - eine Dekoration applaudirt wird, mag diese Dekoration im Uebrigen so stilgemäß, so 860 geschmackvoll und von so fesselnder Bildwirkung sein, wie sie es hier thatsächlich gewesen ist.“ Et hoc meminisse juvabit. Mit einem mächtigen Aufgebot von schauspielerischen Hilfskräften tritt das Ber- 865 liner Theater auf den Plan, Ludwig Barnay hatte die Loosung ausgegeben, er wolle eine Volksbühne gründen, und freudiger Beifall begrüßte das schöne, weitausschauende Vorhaben. Das Berliner Theater wendet sich aber nicht an jenen immerhin kleinen Bruchtheil des Volkes, der sich durch seiner Hände Arbeit im Tagelohn ernährt, es will vielmehr den breiten Schichten des Bürgerthums zu 870 erschwinglichen Preisen Hervorragendes bieten, ohne von dem blasirten Geschmack der Plutokratie abhängig zu sein. Eine solche Volksbühne wird eine Fülle großer Aufgaben vor sich sehen, deren glückliche Lösung einen mächtigen Einfluß auf unser gesammtes Kunstleben verheißt. Man sollte es kaum für möglich halten, daß Werke wie „Cäsar“, „Coriolan“, „König Johann“, „Antonius und 875 Cleopatra“, „Cymbelin“ seit Jahren dem Repertoir der Deutschen Reichshauptstadt fehlen. Von den Dingelstedt’schen Bearbeitungen der Königsdramen, von Hebbel’s „Nibelungen“, Grillparzer’s „Goldenem Vließ“ ausgehend, kann eine Volksbühne ihr fruchtbares Gebiet ausdehnen bis zu Raimund’s „Alpenkönig“ und „Menschenfeind“ und ähnlichen Werken, die auch der vornehmsten Bühne 880 zur Zier gereichen müssen. Die wichtigste Aufgabe aber wird es sein, unsere lebenden Autoren, soweit sie höhere Ziele anstreben, zum Wort gelangen zu lassen an einer Stelle, wo sie sicher sind, vom Volk, zu dem sie sprechen wollen, gehört zu werden. Wir werden dann nicht mehr Werke von Wildenbruch, Voß u.A. auf entlegenen Bühnen in mangelhafter Besetzung aufsuchen müssen, und der 885 „Volksfeind“ von Henrik Ibsen wird auf dem Volkstheater zu mächtig gesteigerter Wirkung gelangen. Ob ein Einzelner diesen schönen Traum zu verwirklichen vermag, selbst wenn dieser Einzelne ein Künstler und Regisseur wie Barnay ist? ! Ein Theater, welches nach rein künstlerischen Gesichtspunkten geleitet wer- 890 den soll, muß, um seinen großen Zielen, unbekümmert um den Tageserfolg, treu <?page no="167"?> Maximilian Harden 167 bleiben zu können, eine Subvention aus öffentlichen Mitteln erhalten. Nicht vom Staat ist in absehbarer Zeit diese Hilfe zu erwarten, wohl aber von Denen, die zunächst die ideellen Früchte einer Volksbühne ernten, von der Bürgerschaft der Stadt Berlin. Ein neues, ein eminent volksthümliches Bedürfniß zeigt sich hier! Ist 895 es da nicht an der Zeit, einen kleinen Theil der vom Volk zu seinem eigenen Besten erhobenen Mittel zu verwenden, um eine Schöpfung zu stützen und zu fördern, welche zum Volke sprechen, das Volk erheben und der zunehmenden Bierseligkeit steuern will? ! Zum Heil unserer Stadt stehen an der Spitze des Gemeinwesens Männer, die den materiellen Bedürfnissen wie den Forderungen 900 der Erziehung vollauf Rechnung zu tragen wußten. Bei ihnen ist wohl mit Sicherheit ein warmes Gefühl und ein offener Sinn auch für die höheren, edleren Bedürfnisse des hauptstädtischen Bürgerthums vorauszusetzen. Der erste Erfolg des Berliner Theaters scheint laut gegen die hier aufgestellte Forderung zu sprechen. Aber - das erste Jahr einer neuen Bühne gleicht den Flit- 905 terwochen in der Ehe: Alles schwimmt in Seligkeit und Wonne, die Einrichtung ist neu und hochmodern, der große Reiz des Ungewohnten kommt hinzu, die Sorgen und Kämpfe kommen erst später, und dann erst läßt es sich entscheiden, ob der Ehebund zu guter Stunde geschlossen ward. Vertrauend aber und hoffnungsvoll muß dem Berliner Theater auch derjenige entgegenkommen, der von 910 Natur aus skeptisch allzu groß geplanten Kunstunternehmungen gegenübersteht, die schließlich doch nur als Spekulationen enden, wofern sie nicht gleich so beginnen. Barnay aber, der unvergessene Regisseur des „Don Carlos“ im Deutschen Theater, wird ganz sicherlich nicht gewillt sein, den in jahrelanger ehrlicher Kunstübung errungenen Namen zu opfern einem unkünstlerischen Geschäftsbe- 915 trieb. Die diesjährige Saison gewinnt durch die beiden neuen Bühnen erheblich an Interesse, eine eigentliche theatergeschichtliche Bedeutung scheint mir aber dieser Vorgang kaum zu besitzen. Der bedeutsame Moment für das hauptstädtische Theaterleben war jener, als das faktische Monopol des Schauspielhauses gebro- 920 chen wurde durch das Entstehen des Deutschen Theater - ob nun zwei oder drei große Privattheater mehr existiren, daß ist für den Augenblick gleichgiltig. In jedem Wettstreit giebt es einen endlichen Sieger, erscheint der Ausgang zweifelhaft, so liegt das eben daran, daß man nicht lange genug hinsah; auch in dem schönen Wettstreit der Bühnenkunst wird es einen Sieger geben und dieser wird 925 die Erbschaft der hohen Mission der Hofbühne antreten - möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß der einstige Erbe - der Erblasser selbst ist. Einstweilen werden sich die bestehenden und die neu eröffneten Theater zu theilen haben in eine wenig aussichtsvolle Ernte auf dem Boden der dramatischen Literatur. Bisher reichte die dramatische Produktion selbst mit Zuhilfenahme der erbärm- 930 lichsten französischen Vorstadtpossen für unsere Bühnen keineswegs aus, sie konnten nur bestehen von ihren - Ausstattungs-Erfolgen. Die für unser Theaterleben vor allem wichtige Frage der Bühnenausstattung ist schon früher von beiden Partheien, den Fanatikern der Einfachheit und den Prachtliebhabern, mit lebhaftem Eifer umstritten worden. Das regitirende Drama 935 aber hat sich die Ausstattungswuth erst durch die bahnbrechenden Erfolge der <?page no="168"?> Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 168 Meininger erobert. Hier zum ersten Male hatte es sich gezeigt, was eine mittelmäßige Truppe durch die szenische Begabung des Leiters zu leisten vermag und wie mächtig das Dichterwort gefördert wird durch stilgerechte, stimmungsvolle Ausgestaltung des Bühnenbildes. Trotz dieser offenbaren Vorzüge fehlte es nicht an 940 gewichtigen Stimmen gegen die neue Art szenischer Darstellung, man wies auf die bedenklichen Konsequenzen hin, die der Bühnenluxus nothwendig im Gefolge haben müßte und der Verfasser der „Journalisten“ und der „Technik des Dramas“ ging soweit in schönem Zorn über die Spielerei mit Aeußerlichkeiten, daß er die Behauptung wagte, alle gute[n] Wirkungen eines Drames [sic! ] müßten 945 bei gänzlich verdunkelter Bühne, ohne jeglichen szenischen Apparat ebenso stark, aber reiner zur Geltung kommen. Der rauschende Erfolg übertönte die Warner. Andere trösteten sich auch mit dem Glauben, es werde dieser äußerlichen Neuerung, die sichtlich nach Natur und Wahrheit drängte, auch die künstlerische Revolution auf dem Fuße folgen 950 und in unwiderstehlichem Ansturm würde sie die Bühne rein fegen von all’ dem alten Kehricht überwundener Zeiten. Nichts davon ist eingetreten, mehr als je beherrscht konventionelle Verlogenheit unser Theater, wir haben unsere feststehenden Typen so gut wie zur Zeit der alten Puppenspiele, nur ist Harlekin und Kolombine abgelöst durch den unwiderstehlichen Lieutenant und den unaus- 955 stehlichen Backfisch. Der Luxus aber ist uns geblieben, er hat sich naturgemäß gesteigert und die Konkurre[n]z wird ihn zu noch ungeahnter Höhe führen, bis wir uns eines schönen, nicht mehr allzu fernen Tages auf dem Standpunkt der englischen Bühne befinden werden, die tagaus, tagein dasselbe blendende Ausstattungsstück mit unterlegtem Shakespeare’schen Text zur Aufführung bringt. 960 Welche Ursachen das Aufkommen der luxuriösen Mode begünstigt haben, das ist unschwer zu erkennen. Die Schaulust ist schneller und mit sicherem Erfolge anzuregen als der Geist jener disparaten Elemente, aus denen sich ein modernes Theaterpublikum zusammensetzt. Der völlig hoffnungslose Stillstand unserer Bühnenproduktion, die mehr und mehr in geschickte Handwerkerhände über- 965 geht, drängt zur Rückeroberung der echten Schätze unserer Literatur. Natürlich mußte da ein Mittel mit Jubel begrüßt werden, durch welches die sonst gefürchteten und gemiedenen Klassiker einer wenig urtheilfähigen Menge schmackhaft gemacht werden konnten. Gewiß ist es als eine gesunde Reaktion gegen ein unerfreuliches Interregnum 970 schauspielerischer Virtuosität freudig zu begrüßen [,] daß heute das Ganze der Vorstellung den alleinigen Ausschlag giebt, daß dem Einzelspiel mit seiner fatalen Vordringlichkeit so ziemlich ein Ende bereitet ist. Die virtuosen Schauspieler aber durch den virtuosen Regiekünstler verdrängen, das bedeutet eine Aenderung zwar, aber keine Besserung. Früher wählte man zur Aufführung gern solche 975 Werke, für deren Hauptrollen geeignete Vertreter vorhanden waren, jetzt hält man zunächst Umschau nach Dekorationen, Möbeln, Kostümen und Requisiten. Man sorgt zunächst für einen möglichst glänzenden Rahmen, in dem wohl auch das verblaßte Bild dem ungeübten Auge neu erscheint. Die Ausstattungsbewegung läuft parallel und gleichzeitig mit der Mode des 980 Gelehrtenromans. Die Herren Ebers und Genossen versuchen eine vergangene <?page no="169"?> Maximilian Harden 169 Kulturepoche lebendig zu machen und setzen in dies mit viel Behagen rekonstruirte Milieu ganz moderne Menschen, die jene Zeit niemals hätte hervorbringen können. Der Regisseur der neuesten Schule sucht ebenfalls eine bestimmte Geschichtsperiode uns zu sinnenfälliger Anschauung zu bringen, nicht 985 ohne gelegentlich - ganz wie der Romanprofessor auch - einige selbstgefällige Zeichen seines Daseins zu geben und am Ende erreicht er nichts als den Beweis, daß eben die dichterischen Gestalten, so wie sie einmal gegeben sind, den streng historischen Lebensbedingungen geradezu widersprechen. Schiller’s „Maria Stuart“ kann durch die peinlich getreue Wiedergabe des Zeitkolorits nur verlieren. 990 Die Luxusentfaltung auf der Bühne ist eine große Gefahr für unser gesammtes Theaterwesen. Die allzu deutliche Illustration schläfert die Phantasie ein und schließlich versagt diese auch da, wo keine Äußerlichkeit mehr fortzuhelfen vermag. Schwerer wiegend aber ist die offenbare Rückwirkung der gesteigerten Schaulust auf unsere moderne Produktion. Das Auge der Menge ist verwöhnt 995 durch die prachtstrahlenden Bilder, ein einfacher Vorgang aus dem Alltagsleben fesselt schon rein äußerlich nicht genügend. Die ewigen Gesellschaftsszenen der neuen deutschen und französischen Stücke haben nicht zum wenigsten in dem Bedürfniß nach Toilettenglanz ihren Ursprung, die klugen „Dichter“ verzichten nur schwer und ungern auf die wirksame Unterstützung durch reich und bunt 1000 gekleidete Damen. Gerade in dieser Richtung liegen die schwersten Gefahren, denn wo die liebe weibliche Eitelkeit in’s Spiel kommt, pflegen alle Bande frommer Scheu zu reißen. Dem verehrlichen Publikum aber wären vielleicht manche Stoffe weniger „peinlich“[,] wenn sie die Möglichkeit zu reicherer Stoffentfaltung böten. Warum tragen auch die Frauen in Ibsen‘s „Wildente“ in langen fünf Akten 1005 nur ein einfaches Hauskleid? Das ist doch zu peinlich. Noch darf man die Hoffnung nicht aufgeben, daß der Ausstattungsluxus einer Uebergangsepoche angehört. Die szenische Nüchternheit einer nur spekulativer Betrachtung und Vergeistigung zugewandten Epoche ist überwunden, für das Zeichen einer gesunden Kunstperiode aber kann man es nicht füglich ansehen, 1010 wenn es beständig erweiterter Konzessionen an unkünstlerische Instinkte bedarf, um unser Theater bei Aufführungen von Meisterwerken der Weltliteratur zu füllen, während die moderne Bühnenliteratur der ödesten Stagnation anheimfällt. Hierin Wandel zu schaffen, die Bühne dem echten, dem einfachen, blutwarmen Leben wieder zu erobern, das bleibt die große, weittragende Aufgabe von Berlin 1015 als Theaterhauptstadt. <?page no="170"?> 3. Maximilian Harden: Berlin als Theaterhauptstadt (1888) Kommentar 23 „Die Nation“, 1883-1907 erschienene, von Theodor Barth (1849-1909) gegründete Wochenschrift. 46 vis inertiae, Beharrungsvermögen. 87 Charles Thomas Floquet (1828-1896), französischer Politiker; 1888-1889 Ministerpräsident und Innenminister von Frankreich. René Goblet (1828-1905), französischer Politiker, 1888-1889 Außenminister unter Charles Floquet (1828-1896). 100 Inter arma silent musae, übersetzt: „im Waffenlärm (während des Krieges) schweigen die Musen“; Abwandlung von Ciceros Ausspruch „Inter arma silent leges“ (übersetzt: „im Waffenlärm (während des Krieges) schweigen die Gesetze“). 117 Reichshallen(-Theater) (Berlin), 1881 Gründung durch H. Schlegel; hauptsächlich als Varieté-Theater genutzt. 138 Perikles, führte Athen in den 440er Jahren v.d.Z. zu politischer und geistiger Blüte (Perikleisches Zeitalter). 158 corpus vile, nach dem lateinischen corpus Körper und vile wertlos; Floskel für das Versuchstier. 210 „Francillon“ (UA 1887), Schauspiel von Alexandre Dumas fils (1824-1895). 210/ 11 „Goldfische“ (UA 1886), Lustspiel von Franz von Schönthan (1849-1913) und Gustav Kadelburg (1851-1925). 216 „Die berühmte Frau“ (UA 1888), Lustspiel von Franz von Schönthan (1849- 1913). 241 José Echegaray (1832-1916), spanischer Schriftsteller, Dramatiker; Werke: „En el seno de la muerte“ (dt. „Im Schoß des Todes“, 1883), „Joyas del teatro español“ (dt. „Wahnsinn oder Heiligkeit“). 245 „Die Makkabäer“, Schauspiel von Otto Ludwig (1813-1986). 248 „Auf glatter Bahn“ (1887), Lustspiel von Heinrich Heinemann (1842-1918). 249/ 50 „Der Seestern“ (1887), von Philipp zu Eulenburg (1847-1921). 251 „Die Weisheit Salomo‘s“ (1887), Schauspiel von Paul Heyse (1830-1914). 294 Paul Taglioni (1808-1884), Tänzer, Ballettmeister; 1856-1883 Ballettmeister der Berliner Hofoper; Choreographie des dramatischen Balletts „Sardanapal“ (UA 1865). 303 Julius Hein (eigentlich Julius Heinsius) (1821-1879), Architektur, Regisseur, Theaterleiter; ab 1863 Oberregisseur des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1871 artistisch-technische Leitung des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 317 Karl Gustav Berndal (1830-1885), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Rostock, Königstein, Stettin; ab 1854 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. <?page no="171"?> Kommentar 171 Theodor Liedt(c)ke (1822-1902), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Rostock, Stettin, Weimar; 1850-1889 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. Arthur Vollmer (1849-1927), Schauspieler, Dirigent, Komponist; 1870-1874 Engagement am Deutschen Landestheater in Prag; 1874-1916 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. Maximilian Ludwig (1847-1906), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Görlitz, Breslau, Dresden; ab 1872 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. Ernst Krause (1842-1892), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Halle, Leipzig; ab 1870 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1891 Präsident der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. 318 Minona Frieb-Blumauer (1816-1886), Sängerin, Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Köln, Düsseldorf, Wien; ab 1854 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 395 grammatikalischer Essay, Anspielung auf den Essay „Die Aussprache des Deutschen Buchstaben G. Eine Abhandlung für Sänger, Schauspieler, Redner und Sprachlehrer“ von Heinrich Dorn, 1879 in Berlin erschienen; der Inhalt wurde später übernommen in der von Bolko von Hochberg mit veranlassten Anleitung für Schauspieler: „Deutsche Bühnenaussprache: Ergebnisse der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die vom 14. bis 16. im April 1898 im Apollosaale des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin stattgefunden haben“, die von Theodor Siebs im Jahr 1898 im Berliner Ahn Verlag herausgegeben wurde. 396 König Eduard, Anspielung auf Shakespeares „König Richard III“, in dem es zur Prophezeihung kommt, der Name des Nachfolgers King Eduards werde mit dem Buchstaben „G“ beginnen. 397 Ferdinand Karl Friedrich Felix von Strantz (1821-1909), Sänger, Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Darmstadt, Wien, Magdeburg; 1864-68 Engagement am Hoftheater Dresden; 1876-1878 Leitung der Königlichen Oper Berlin; seit 1879 Leitung des Carola-Theaters in Leipzig. 398/ 99 Austreibung, Hans von Bülow wurde von Logenschließern der Berliner Hofoper, denen man Fotografien des Kapellmeisters zur Erkennung gegeben hatte, des Hauses verwiesen, weil er die Berliner Hofoper angeblich „Circus Hülsen“ genannt hatte, eigentlich aber, weil er sich einst abwertend über die von Bolko von Hochberg komponierten Opern geäußert hatte. 406 Ludwig Deppe (1828-1890), Komponist, Kapellmeister; 1885-1887 Kapellmeister an der Berliner Hofoper. 407 „Der Wärwolf“ (UA 1876), Oper von Bolko von Hochberg (1843-1926). 411 „Skandinavische Konzertreiseskizzen“, 1882 erschienene Schrift von Hans von Bülow. 424/ 25 Bülows Konzertrede, 1891 von Hans von Bülow gehaltene, berühmt gewordene Konzertrede, in der er eine „Umwidmung“ der „Eroika“ von Beethoven an Bismarck vornahm; die Rede wurde am nächsten Tag in den Berliner Tageszeitungen abgedruckt und verursachte einen kleinen Skandal. <?page no="172"?> 3. Harden: Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 172 433 Arthur Deetz (1826-1897), Schauspieler, Theaterleiter; ab 1848 Engagement am Wiener Burgtheater; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Leipzig, Weimar, Mannheim; ab 1864 Leitung der Deutschen Oper in Amsterdam; 1873 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1874 auch Regietätigkeit; 1877-1887 künstlerische Leitung des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 437 Anton Anno (1838-1893), Komiker, Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Heidelberg, Zwickau, Berlin; 1876-1880 Engagement am Hoftheater in Sankt Petersburg; 1884-1887 Leitung des Residenztheaters in Berlin; 1887-1889 künstlerische Leitung des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1889 Oberregisseur am Lessing-Theater in Berlin. 447 Albert Rosenthal (1830-1909), Schauspieler, Theaterleiter; 1871 Gründung des Berliner Residenztheaters; 1871-76 Leitung desselben; 1887 Leitung des Stadttheaters in Salzburg; 1891-1909 Leitung des Deutschen Theaters in Lodz. Emil Claar (eigentlich Emil Rappaport) (1842-1930), Komiker, Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wien, Graz, Berlin; 1876-1879 Leitung des Berliner Residenztheaters; ab 1879 Leitung des Stadttheaters Frankfurt. Heinrich Keppler (eigentlich Heinrich Kripgans) (1851-1895), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Oberhausen, Leipzig; 1872 Engagement am Berliner Residenztheaters; ab 1878 dort auch Regietätigkeit; 1879-1881 stellvertretende Leitung des Berliner Residenztheaters; 1881-1895 Engagement am Münchner Hoftheater. Emil Neumann (1840-1916), Theaterleiter; Leitung des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters in Berlin; Leitung des Deutschen Theaters (Berlin); 1879- 1884 Leitung des Berliner Residenztheaters. 448 Sigmund Lautenburg (1852-1918), Schauspieler, Theaterleiter, Regisseur; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Königstadt, Budapest, Berlin; rege Gastspieltätigkeit; Leitung des Elysiumtheaters in Stettin; unterschiedliche Direktionen, u.a. in Amsterdam, Lübeck, Bremen; 1887-1904 Leitung des Residenztheaters Berlin. 576 Emanuel Reicher (1849-1924), Schauspieler; ab 1873 Engagement am Königlichen Residenztheater München; 1889 Mitbegründer der Freien Bühne; 1892 Engagement am Lessing-Theater (Berlin); 1894 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); danach längerer Gastspielaufenthalt in den USA, v.a. in New York. 586 Stahl, vermutlich Francis Marion Stahl (1844-1901), Ingenieur, Schriftsteller, Dramatiker; verfasste vor allem Lustspiele; Werke: „Tilly“ (1885), „Der Herr Major auf Reisen“ (mit Eugenie Heiden). Heinrich Heinemann (1842-1918), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Breslau, Königsberg, Braunschweig; bekannt vor allem für seine Lustspiele; Werke: „Auf glatter Bahn“ (1887), „Rezept gegen Schwiegermütter“ (1895). 588 Theodor Döring (eigentlich Theodor Häring) (1803-1878), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Rollen, u.a. in Mainz, Mannheim, Ham- <?page no="173"?> Kommentar 173 burg; ab 1845 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; sowohl für seine Charakterals auch seine komischen Rollen bekannt. 590 Müller, vermutlich Eugen Müller (1857-1917), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Freiburg, Lübeck, Danzig; 1880-1893 Engagement am Königlichen Schauspielhaus in Berlin; verließ diese Bühne unter Bolko von Hochberg trotz laufenden Vertrags freiwillig; danach rege Gastspieltätigkeit, auch am Königlichen Schauspielhaus. 602 Meyer, vermutlich Clara Meyer (1848-1922), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Düsseldorf, Amsterdam, Dessau; 1871- 1891 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; schied 1891 nach sehr erfolgreicher Zeit aus dem Ensemble des Königlichen Schauspielhauses aus; danach nur noch spärliche Gastspieltätigkeit. 606 Paula Conrad (verheiratete Schlenther) (1860-1938), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wien, Brünn; 1880-1900 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1900 Engagement am Wiener Burgtheater unter der Leitung ihres Mannes, Paul Schlenther (1854- 1916); ab 1914 wieder Auftritte in Berlin. 637 consilium abeundi, nach §6 des preußischen Gesetzes vom 29. Mai 1879 Entfernung von der Universität; schwächere Form der Relegation; hier auf das Theater zu übertragen. 649 Marie Keßler-Kahle (1844-1896), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Hannover, Prag; 1866-1895 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; Ehefrau des Schauspielers Richard Kahle (1842-1916). 665 Richard Kahle (1842-1916), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Hannover, Elberfeld, New York; 1871-1899 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; Ehemann von Marie Keßler-Kahle (1844-1896). 677 Karl Töpfer (1792-1871), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; schrieb vor allem Lustspiele; Werke: „Der Empfehlungsbrief“ (1823), „Der beste Ton“ (1828). 680/ 81 „Galeotto“ (spanisch „El gran Galeoto“), Schauspiel von José Echegaray (1832-1916). 681 „Der Richter von Zalamea“ (spanisch „El alcalde de Zalamea“), Versdrama von Pedro Calderón de la Barca (1600-1681). 707 Anton Seidl (1850-1898), Dirigent; Assistent von Richard Wagner (1813- 1883); ab 1885 Leitung der deutschen Oper an der Metropolitan Opera in New York; bekannt als Wagner-Dirigent. Felix (von) Mottl (1856-1911), Komponist, Dirigent; 1881-1904 Hofkapellmeister in Karlsruhe; ab 1886 Hauptdirigent in Bayreuth; 1893 Ernennung zum Generalmusikdirektor in Karlsruhe; ab 1903 Kapellmeister an der Hofoper in München; 1904 Leitung der Königlichen Akademie der Musik in München; 1907 Generalmusikdirektor der Hofoper in München; bekannt als Wagner-Dirigent; lehnte in den 1880er Jahren eine Berufung an die Berliner Hofoper ab. 742/ 43 Jules Massenet (1842-1912), französischer Komponist; Werke: „Manon“ (1884), „Werther“ (1892). <?page no="174"?> 3. Harden: Berlin als Theaterhauptstadt (1888) 174 743 Charles Camille Saint-Saëns (1835-1921), französischer Komponist; Werke: „La princesse jaune“ (1872), „Samson et Dalila“ (1877). Arrigo Boito (eigentlich Enrico Giuseppe Giovanni Boito) (1842-1918), italienischer Schriftsteller, Komponist; Werke: „Mefistofele“ (1868). 744 Karl Goldmark (1830-1915), Komponist; Werke: „Die Königin von Saba“ (1875); „Götz von Berlichingen“ (1902). 745 Charles François Gounod (1818-1893), französischer Komponist; Werke: „Faust (Margarethe)“ (1859), „La Colombe“ (1860). 753/ 54 übergewaltigen Ereignisse der letzen Monate, evtl. Anspielung auf das „Dreikaiserjahr“ 1888: 9. März Tod Kaiser Wilhelms I; aufgrund seines schnellen Todes lediglich 99 Tage währende Regentschaft seines Sohns Friedrich Wilhelms als Kaiser Friedrich III; 15. Juni Thornbesteigung dessen Sohns Friedrich Wilhelms als Kaiser Wilhelm II. 761 Walhalla-Theater (Berlin), 1854 Eröffnung durch Friedrich Gottlieb Großkopf als Walhalla-Volkstheater; ab 1873 Leitung durch Großkopfs Sohn Emil Großkopf; vor allem Varieté-Programm, aber auch Possen standen auf dem Spielplan; gescheiterter Versuch der Etablierung von Opern; 1881 Umbenennung des Theaters in Walhalla-Theater; 1883 Umbenennung in Walhalla- Operetten-Theater; gescheiterter Versuch der Etablierung als Operettentheater; ab 1885 Leitung durch Franz Steiner; ab 1888 Leitung durch Ludwig Barnay (1842-1924) und Umbenennung in Berliner Theater. 791 Max Pohl (1855-1935), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Leipzig, Hamburg; 1884-94 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1895 Engagement am Berliner Theater; ab 1897 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1901 Vorsitzender der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger. Theresina Geßner (eigentlich Theresina Müller) (1865-1921[? ]), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Innsbruck, Graz; 1886-1804 Mitglied des Deutschen Theaters (Berlin), 1894-1899 Engagement am Berliner Theater, 1899-1905 erneutes Engagement am Deutschen Theater. Agnes Sorma (eigentlich Agnes Martha Karoline Zaremba, verheiratete Minotto) (1865-1927), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. Görlitz, Weimar; 1883 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1890-1894 Engagement am Berliner Theater; 1894-1898 erneutes Engagement am Deutschen Theater Berlin; danach hauptsächlich Gastspieltätigkeit in Europa und den USA; 1904-1908 Rückkehr ans Deutsche Theater; danach wechselnde Engagements; 1919 Umzug in die USA. Maria Ortwin (eigentlich Maria Trittenwein; verheiratete Winter) (1868-? ), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Köln, Königsberg; 1888-1891 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1891 Rücktritt von der Bühne und Rückzug ins Privatleben. 791/ 92 Marie Pospischill (eigentlich Maria Vondrich; verheiratete Hirschberg) (1862-1943), Schauspielerin, Theaterleiterin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Prag; 1888 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1890-1893 Mitglied des Wiener Burgtheaters; 1893 Engagement am Berliner Theater; danach Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wien, <?page no="175"?> Kommentar 175 Berlin; rege Gastspieltätigkeit; ab 1908 Leitung des Stadttheaters in Aussig; ab 1912 Engagement am Theater in der Königgrätzer Straße in Berlin. 809 Lessing-Theater (Berlin), 1887-1888 in Auftrag von Oscar Blumenthal (1852-1917) nach Plänen der Architekten Hermann von der Hude (1830- 1908) und Julius Hennicke (1832-1892) erbaut, 1888 Eröffnung mit Lessings „Nathan der Weise“; 1888-1897 Leitung durch Oscar Blumenthal; 1897-1905 Leitung durch Gilbert Otto Neumann-Hofer (1857-1941); 1905-1912 Leitung durch Otto Brahm (1856-1912); 1913-1924 Leitung durch Victor Barnowsky (1875-1952); wurde häufig für Vorstellungen der Freien Bühne gepachtet. 863 Et hoc meminisse juvabit, Verkürzung des Verses: „Forsan et haec olim meminisse juvabit“ (übersetzt: „Vielleicht wird auch dies einmal eine Erinnerungsfreude.“) aus Vergils „Aeneis“. 865/ 66 Berliner Theater (Berlin), gegründet als Walhalla Theater; 1887 Verpachtung an Ludwig Barnay (1842-1924) und Umbenennung in Berliner Theater; ab 1905 Leitung durch Ferdinand Bonn (1861-1933); ab 1908 Leitung durch Rudolf Bernauer (1880-1953) und Carl Meinhard (1886-1949); unter Barnay gemischtes Programm aus Klassikern und modernen Dramen, unter der Leitung Bonns vor allem dessen „Sherlock Holmes“-Dramen nach den Romanen Arthur Conan Doyles (1859-1930), moderne Komödien und Schwänke. 943/ 44 Verfasser der „Journalisten“ und der „Technik des Dramas“, gemeint ist der Schrifststeller Gustav Freytag (1816-1895). 981 Ebers, vermutlich Georg Moritz Ebers (1837-1898), Ägyptologe, Schriftsteller; bekannt durch seine im alten Ägypten spielenden Romane. <?page no="177"?> 4. Paul Linsemann: Die Theaterstadt Berlin. Eine kritische Umschau (1897) Einführung Der im Jahr 1897 erschienenen Streitschrift „Die Theaterstadt Berlin“ von Paul Linsemann (1871-unbekannt) steht ein „Geleitwort“ voran, welches, wie explizit erwähnt wird, auf Bitten Linsemanns hin von dem bekannten Kritiker Maximilian Harden verfasst wurde. Harden stilisiert sich darin gegenüber dem nur zehn Jahre jüngeren Kollegen - und auch dem Leser - als Vertreter einer älteren Generation von Theaterkennern und -kritikern. Diese Rolle ermöglicht es ihm, seine Meinung nicht nur zum Thema, sondern auch zur Argumentation Linsemanns zum Ausdruck zu bringen. Die Argumentationslinie des Vorworts ähnelt dabei der in Hardens neun Jahre zuvor veröffentlichten Streitschrift „Berlin als Theaterhauptstadt“ (1888): Erneut betont der Autor, dass Theater immer als ein Zeichen seiner Zeit und ihren Bedingungen zu lesen sei, als Spielball von Kräften und Spiegel der eigenen Gesellschaft: Es giebt kein „Theater an sich“ […]; es giebt nur das Theater einer Epoche, einer herrschenden Klasse, das sich in seinem individuellen Lebensgesetz einrichten muß, und alles durch die Zeiten tönende Gezeter über den Verfall des Theaters stammt zum größten Theil aus dem Irrthum, der nicht erkennen will, daß die Theater sich mit den Gesellschaften und mit dem Besitzstande der Klassen wandeln. (Harden in Linsemann, 122ff.) Im Gegensatz zu seiner 1888 erschienenen Schrift gibt sich Harden neun Jahre später allerdings weniger optimistisch: War er damals zuversichtlich, dass sich die gesellschaftliche und somit auch Theatersituation in Berlin mit all ihren Missständen nur in einer Übergangsphase befände, die bald überwunden sei, so kann er im Erscheinungsjahr des Linsemann’schen Texts nur noch Stagnation in Gesellschaft und Theater erkennen. Linsemann geht von einer ähnlichen Situation aus und macht seinem Ärger darüber deutlich Luft: Es wirkt fast, als hätte er eine „Theater-Mängelliste“ erstellt, die er in provokativer, manchmal sogar angriffslustiger Sprache abarbeitet. Er nennt die drei „Schädlinge für die Entwicklung der modernen Bühne: das Publikum, die Kritik und die Leiter.“ (Linsemann, 365f.) Anhand dieser hangelt er sich von Missstand zu Missstand: Er kritisiert die Berliner Presse und wirft ihr fehlende Expertise und Bestechlichkeit vor; er desavouiert die nicht an der Kunst, sondern nur am Geschmack der Zuschauer orientierten Theaterdirektoren; gleichzeitig verteufelt er das nur an Unterhaltung interessierte Berliner Publikum, das die Sensation mehr schätze als die Bildung; er nimmt die Zensur in den kritischen Blick, prangert verschiedene Gesetze an, welche die Bühnenkünstler dem Sklavenstatus näher brächten, und lässt sich über den allgemein schlechten Stand der Schauspieler und vor allem Schauspielerinnen aus. Weiterhin zählt er einzelne Theater und Bühnenkünstler auf, die er be-, oft auch abwertet - und gibt <?page no="178"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 178 mit all dem ein recht lebhaftes, wenn auch mit Vorsicht zu genießendes Bild der Berliner Theatersituation. Wie Harden schon im Vorwort deutlich macht, handelt sich bei Linsemanns Auseinandersetzung mit dem Thema nur um ein Statuieren von Missständen unter Rückgriff auf eine im ausgehenden 19. Jahrhundert geradezu traditionell gewordene Argumentation - ein progressives Moment in Linsemanns Behandlung des Themas fehlt. Wo Harden äußert, das Theater solle als wandelbare Instanz akzeptiert und so in die historische Entwicklung, in ein Netz von sozialen, politischen und ökonomischen Interdependenzen eingewebt werden, verharrt die Argumentation Linsemanns in einem im zeitgenössischen Diskurs weit verbreiteten kulturkritischen Konservatismus, der aus heutiger Sicht zur Erklärung der misslichen Lage nicht ausreicht. So stößt sich Linsemann - wie so viele seiner Mitstreiter - hauptsächlich an der Kommerzialisierung des Theaters in Berlin, die dem Prinzip einer Kettenreaktion folgend, noch weitere Änderungen mit sich bringe. Harden erkennt dieses Manko des Textes und fügt daher kritisch an: Was Sie hauptsächlich an unseren Schauspielhäusern tadeln - den kapitalistischen, nur auf den Profit gerichteten Betrieb, [etc.] -: alle diese Symptome finden Sie auch auf allen anderen Gebieten unseres Wirthschaftlebens […]. Und diese Symptome verrathen, daß die Wurzel des Uebels nicht in den besonderen Verhältnissen des Theaters und erst recht nicht in den Personen zu suchen ist, die im Theater und vom Theater leben. (Harden, 138ff.) Mit dem Fehlen einer - auch für die eigenen Zeitgenossen - zufrieden stellenden Erklärung reiht sich Linsemanns Streitschrift ein in eine lange Serie kritischer bis aggressiver, in einer Aufzählung der Missstände stagnierender Philippika, die dem heutigen Leser als Zeitdokument vielleicht gerade deswegen aufschlussreicher sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Ein Grund für die Bedeutung seiner Schrift mag dem heutigen Forscher auch die Biographie Linsemanns sein, die man wohl als ein „Leben für das Theater“ bezeichnen kann. So war er Theaterkritiker und Autor von (heute unbekannten) Bühnenstücken. Vor allem aber war er Theaterdirektor, u.a. der Komischen Oper in Berlin, der auf Gastspiele spezialisierten Berliner Schauspielgesellschaft oder des Irving-Place-Theaters in New York - alles so genannte Geschäftstheater. Liest man seine 1897 veröffentlichte Streitschrift vor diesem Hintergrund, so ist man gezwungen, die kritischen Äußerungen Linsemanns gerade hinsichtlich der ökonomischen Orientierung der Bühnen zu hinterfragen. Einmal mehr wird hier die Lücke zwischen dem Ideal eines Theaters im ausgehenden 19. Jahrhundert und der Realität der Bühnen allzu deutlich. Stefanie Watzka <?page no="179"?> Paul Linsemann Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) Mit einem Geleitwort von Maximilian Harden Lieber Herr Linsemann! 5 Während ich Ihrem Wunsche, ich solle Ihrer Theaterbrochure ein Geleitwort schreiben, ein Bischen verlegen nachdenke, schweift mein Sinn, ohne daß ich den flatternden halten kann, in die ersten Tage unserer Bekanntschaft zurück. Erinnern Sie sich noch der Zeit? Gar so lange ists ja nicht her, sechs, sieben Jahre ungefähr, nicht wahr? Sie waren noch sehr jung, hatten noch keinen modernen 10 Scheitel und kein Monocle. Ein ziemlich zarter, hellblonder Herr, schüchtern und ernst und oft recht aufgeregt. Ich glaube, Sie „plauderten“ damals in irgend einem der vielen Blätter, die seitdem unselig entschlummert sind. Es lag gewiß nicht an Ihnen, daß dieses Blatt welkte, denn Sie plauderten sicher sehr anmuthig und unterhaltsam; zwar habe ich von diesem Geplauder nie eine Silbe gelesen, 15 aber ich denke mir, daß es hübsch war und lebhaft und warm, weil es meist doch jedenfalls dem einen großen Gegenstande galt, der allein Ihnen des Schweißes der Edlen werth schien: dem Theater. Und über die Dinge, die seinem Herzen am Nächsten liegen, plaudert schließlich Jeder ganz gut. Erinnern Sie sich der Zeit noch? Es war im Café Schiller, wo ich seit manchem Jahre täglich die Blätter lese - 20 ich würde lieber sagen: ablause, wenn dieser ekle Ausdruck, der aber die garstige Sache trifft, mir von Ihrem holden Ephebengeist gütig gestattet würde - und wo bald darauf, zu unserem Heil in einer anderen Ecke, das blasse Köpfchen des stammelnden Jünglings auftauchte, der später in der politischen Geschichte des Deutschen Reiches eine ungeahnt wichtige Rolle spielen sollte: das Minister 25 schreckende und in die Flucht scheuchende Haupt Heinrichs Leckert. Auch diesem Trefflichen lag damals nur das Theater im Sinn und Sie denken lächelnd vielleicht noch des Tages, da er mich, wie das braune Bohemerweib einst Schillers lothringischen Bauern, antrat und bat, seinen bewährten Händen die Theaterkritik der „Zukunft“ anzuvertrauen. Er blieb seiner ersten Liebe nicht lange treu, 30 bog bald in die Lützowstraße und wurde ein politischer Fallensteller und Maskenverleiher. Sie aber - Sie nehmen mir, den man wundervoll witzig den Familien-Leckert des Hauses Bismarck und ganz ernsthaft den Spießgesellen der Lützows genannt hat, den Vergleich doch nicht übel? - Sie blieben standhaft und stark bei der ersten Leidenschaft Ihrer frischen Jugend und haben auch heute 35 noch, wenn Sie aus Höflichkeit sich auch manchmal verstellen, nur die eine Herzenswonne, das eine Interessenziel: das Theater. Leugnen Sie nicht! Selbst die <?page no="180"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 180 liebe und kluge Gattin haben Sie ja unter den wenigen Glücklichen erkürt, die rein und ruhig durch das schwüle Coulissenreich wandern durften. Und doch, scheint mir, hat auch über Ihrem Verhältniß zum Theater das Ge- 40 setz der Entwickelung gewaltet, dessen umwandelnder Kraft, was die lieben Frauen auch dagegen sagen mögen, kein Menschengefühl sich entziehen kann. Sie sind, wenn meine Beobachtung nicht ganz falsch ist, aus einem Enthusiasten ein Resignirter geworden. Nicht so resignirt wie ich, Gott und Ihrer muthigen Jugend sei Dank. Ich hoffe 45 von dem Theater nichts mehr, weil ich von der Gesellschaft, die in den Theatern unserer großen Städte den Ton bestimmt, nichts hoffe. Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben und sind mit löblichem Eifer am Werk, wenigstens die schlimmsten Symptome hinwegzukuriren, während ich von meinem lieben Freunde Ernst Schweninger gelernt habe, daß mit Symptomkuren herzlich wenig 50 erreicht wird. Was sollten Sie mit meiner Stimmung anfangen? Sie wollen dem Theater gute Stücke geben, sind, was man gemeiniglich einen produktiven Schriftsteller nennt, und ich bin nur ein armer Kritiker, der allenfalls weiß, wies gemacht werden könnte, es aber nicht selbst machen kann, der, wenn er nach Recht und Pflicht Einen kränken muß, die Schmerzen, die er dem Anderen zu- 55 fügt, am eigenen Leibe qualvoll spürt und am Liebsten, nach dem Beispiel des englischen Kollegen, der, glaube ich, Jeffris oder so ähnlich hieß, mit den vom Schlachten blutigen Händen, um sich zu trösten, nach dem herrlichen Johannes- Evangelium griffe. In solcher Verfassung könnten Sie nichts leisten, denn unser Liebling Fontane sagt mit Recht, daß der Schaffende fröhlich sein muß... 60 Aber Sie sind nicht mehr so fanatisch wie früher. Als der Leib rundlicher wurde und mit Scheitel und Cylinder das Monocle kam, hat auch Ihre Leidenschaft Fett angesetzt, - nicht zu viel, nur gerade genug, um Ihnen zwei köstliche Güter zu bescheren: Ruhe und Skepsis. Früher schmollten Sie ganz allerliebst, wenn nicht ohne Ermatten stets vom Theater geredet wurde, und waren böse auf 65 mich, weil ich - nicht oft, denn Sie wissen, ich bin nicht redselig, aber doch mitunter - von politischen und sozialen Dingen sprach. Das war für Sie ganz und gar verlorene, nutzlos vergeudete Zeit; das dankenswerth freundliche Gefühl, das Sie für mich hegen, forderte, ich solle mich beständig mit dem Theater beschäftigen, nur über das Theater schreiben, alle anderen langweiligen Sachen in die Rumpel- 70 kammer verweisen und namentlich nicht höhnisch lächeln, wenn Sie Tag für Tag um sieben Uhr pünktlich in irgend ein Schauspielhaus pilgerten. Wie gern hätte ich mich Ihren Wünschen gefügt! Glauben Sie, daß es mir Freude macht, das gemeine Gewerbe des politischen Publizisten zu treiben, daß ich nicht viel, unendlich viel lieber mich mit saubereren Sachen befaßte, daß ich nicht weiß, wie viel 75 mehr für die Menschheit die Neunte Symphonie und der Hamlet bedeuten als alle Marschälle und Boetticher dieser Erde? …Nicht eigene Wahl hat mich vor die häßliche Aufgabe gestellt, sondern das Gefühl einer Pflicht, der Pflicht, „auszusprechen, was ist“, und, ohne nach irdischen Göttern und Teufeln zu fragen, in einer Zeit schlimmster Verwirrung, Verhüllung, Heuchelei und Fälschung 80 furchtlos, aber auch in anspruchlosester Subjektivität, zu sagen, was mir richtig scheint. Solche Erwägungen waren Ihnen damals ganz fremd; ich war Ihnen der <?page no="181"?> Paul Linsemann 181 Abtrünnige, der dem Theater nicht mehr gab, was dem Theater gebührt, und vor schnöden Götzenbildern schmähliche Opfer brachte. Diese Epoche liegt hinter Ihnen. Sie haben den Gegenstand Ihrer Leidenschaft näher und schärfer gesehen 85 und die Erkenntniß ist Ihnen gedämmert, daß man auch die Schaubühne nicht isoliren, nicht aus der Summe der Erscheinungen lösen kann, die das Leben einer Volkheit bestimmen, daß auch sie auf dem wirthschaftlichen Unterbau ruht, den wir seit den Tagen Karls Marx besser als einst würdigen gelernt haben. Die Bedeutung des einen Faktors ist Ihnen aufgegangen, den Sie bisher kaum beachtet 90 oder allzu gering geschätzt hatten: die Bedeutung des Publikums. Sie wissen jetzt, daß die Leute, die im Parquet, im ersten Rang und in den Logen sitzen, nicht die in allen Zeiten und Zonen einander gleichen Normalmenschen sind, denen der Liberalismus ein Fabelkleid auf den erklügelten Leib schneiden wollte, sondern von einer bestimmten Atmosphäre umfangene, einem bestimmten Boden ent- 95 stammte Kinder der Zeit, deren Wille und Vorstellung von Zeittendenzen und Klassengefühlen determinirt ist. Die Theaterleidenschaft und die Theaternarrheit übersieht diesen wichtigsten Faktor gern und auch der im Bereich der reinen Aesthetik Thronende ist leicht geneigt, da nur Kunstfragen, Fragen des ungeklärten und des geläuterten Geschmackes, zu sehen, wo es sich im Grunde um 100 Spiegelungen des sozialen Besitzstandes und der wirthschaftlichen Instinkte handelt. Die Herrschaften, die für fünf oder sechs Mark ihren Platz im Schauspielhause erkaufen, wollen davon freilich nichts wissen und stellen sich, als lebten sie in den drei Abendstunden, die oft über Ruhm und Schmach eines aus der Rippe Geschaffenen entscheiden, nur von der Kunst und nur für die Kunst. Aber 105 schon Marx hat gelehrt, daß man eben so wenig ein Individuum nach Dem, was es sich dünkt, beurtheilen darf, wie man eine Umwälzungepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen kann, daß dieses Bewußtsein vielmehr erst aus den Widersprüchen des materiellen Lebens erklärt werden muß. Ein großbourgeoises Publikum, das doch zunächst stets ein Bestandtheil der Großbourgeoisie und dann 110 erst Publikum ist, kann kein Theater haben, wie es dem Attika der großen Tragiker und später der Renaissance beschieden war. Die Fülle der Sensationen, die heutzutage selbst auf den friedlichsten Bürger einstürmen, erzeugt mählich ein anderes Temperament, eine andere Epidermis, ein anderes Bedürfniß und eine andere Sehnsucht. Wer wacker gejobbert hat oder zermürbt von der Geschäfts- 115 last, von erregenden, aufrüttelnden Eindrücken her ins Theater kommt, wer an Mordgeschichten und blutdunstigen Telegrammen aus aller Herren Ländern die Nerven abgestumpft hat, Der wird im Schauspielhause andere Kost verlangen als der athenische Bürger, der Kavalier aus Shakespeares Zeit oder der kleine Handelsmann des Mittelalters, für den die Stadtmauer das Universum umschloß. Es 120 giebt kein „Theater an sich“, dem man ewig unverbrüchlich geltende Gesetze vorschreiben könnte; es giebt nur das Theater einer Epoche, einer herrschenden Klasse, das sich in seinem individuellen Lebensgesetz einrichten muß, und alles durch die Zeiten tönende Gezeter über den Verfall des Theaters stammt zum größten Theil aus dem Irrthum, der nicht erkennen will, daß die Theater sich mit 125 den Gesellschaften und mit dem Besitzstande der Klassen wandeln. <?page no="182"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 182 Diese Erkenntniß glaube ich in den krausen, keck von einem zum anderen Gegenstande hüpfenden Betrachtungen zu spüren, die Sie in Ihre Broschüre zusammengefaßt haben. Noch ist sie - verzeihen Sie mir den kritischen Einwand - in Ihnen nicht herrschend geworden, noch vergessen Sie, wie mir scheint, allzu 130 oft, daß die Leute, die Sie mit spitzen Stöckchen schlagen, nichts Anderes sind als die Exponenten einer Zeitstimmung und eines Klassenempfindens. Aber die Erkenntniß hat Sie doch schon auf den rechten Weg geführt und ich hoffe, Sie werden künftig den Leuten, die Stücke sehen, nicht geringere Aufmerksamkeit schenken als den anderen, die Stücke schreiben, verhandeln, einstudiren und 135 spielen. Was Sie hauptsächlich an unseren Schauspielhäusern tadeln - den kapitalistischen, nur auf den Profit gerichteten Betrieb, die Prunksucht, die Abhängigkeit von jeder, auch der läppischsten Mode, den Hang zur Syndizirung, der den Einzelnen stachelt, sich die Herrschaft über den Markt zu sichern, die Zurückdrängung der Persönlichkeit, die wachsende Proletarisirung der wimmeln- 140 den Masse der Kleinen und die innige Verbindung mit der Prostitution, die das Angebot der weiblichen Arbeit verbilligt -: alle diese Symptome finden Sie auch auf allen anderen Gebieten unseres Wirthschaftlebens, - alle, selbst die parasitäre Wirksamkeit der Agenten und Zwischenhändler. Und diese Symptome verrathen, daß die Wurzel des Uebels nicht in den besonderen Verhältnissen des 145 Theaters und erst recht nicht in den Personen zu suchen ist, die im Theater und vom Theater leben. Wenn Sie die Blumenthals und Praschs mit eisernem Besen wegkehren könnten: ich fürchte, die Sache bliebe dennoch so ziemlich unverändert. Neue Blumenthals und neue Praschs träten an die Stelle der alten und Alles kehrte zur alten Uebung wieder. Denn die Funktionen schaffen sich immer ihre 150 Organe. Sie hoffen, in gläubigem Jugendmuth, das Publikum erziehen zu können. Ich glaube ziemlich fest an den epikurischen Satz, daß alles Erziehen, als überflüssig, zu meiden ist, und viel fester noch an die Erfahrung, daß selbst der Stärkste nicht stark genug ist, um eine Klassenentwickelung zu hemmen. Wir werden uns dar- 155 über nicht einigen, - und [d]as ist gut, denn sonst würden Sie keine Stücke und keine Theaterbrochuren mehr schreiben. Sie sind, seit wir uns kennen, aus einem Enthusiasten ein Resignirter geworden, gehen nicht täglich mehr ins Schauspiel und sind nicht mehr empört, wenn von politischen und sozialen Dingen gesprochen wird, weil Sie begreifen, daß auch diese Dinge ihre Bedeutung für das The- 160 ater haben. Ihre Coulissenleidenschaft aber haben Sie sich doch bewahrt und im Grunde interessirt Sie nur der eine Gegenstand, regt nur er Ihre besten und stärksten Denkkräfte an... Möchte diese Leidenschaft Ihnen erhalten bleiben! Wir sind so jammervoll, so bettelhaft arm an Leidenschaft, daß ich Jeden froh willkommen heiße, der sich noch für irgend Etwas ehrlich erhitzen, für Etwas 165 schwärmen und Tollheiten begehen kann. Ich wünschte nur, dieser Leidenschaft mischte sich ein Bischen mehr Verachtung bei. Man soll, sagt Rousseau, sagt Nietzsche, sagt Edmond Goncourt und Sarah Bernhardt, das Theater nicht überschätzen; und Hebbel hat bitter lächelnd verkündet, man könne eben so gut von den Thierbuden der Jahrmärkte wissenschaftliche Leistungen wie von der Schau- 170 bühne reine Kunst verlangen. Es ist ja hart, ich weiß es, da verachten zu müssen, <?page no="183"?> Paul Linsemann 183 wo man liebt, aber es ist gesund, es ist die beste Hygiene des Moralisten, der kein Moralprediger sein soll und sein will. Es ist wirklich gesund. Sie können mirs glauben. Ihr kleines Buch wird nicht ohne Anfechtung bleiben. Ich habe es nur flüchtig 175 durchblättert, aber doch schon gesehen, daß Sie recht dreist und hitzig mit der Gerte fuchteln. Das verzeiht die Mandarinenschaft nicht, kann sie besonders nicht einem Jungen verzeihen, der sich fein säuberlich in die Sitte fügen sollte. Manche werden Sie freilich auch mit Lobsprüchen kränzen, - aber ändern werden auch diese zärtlicheren Richter sich wahrscheinlich nicht. Wenn kritische oder kritisch 180 scheinende Freunde Ihnen Angenehmes über die Brochure sagen, dann, bitte, denken Sie an den athenischen Greis, von dem Rousseau in dem berühmten Theaterbrief an d’Alembert erzählt. Der Alte suchte im Schauspielhause einen Platz; ringsum winkte man ihm, sobald er aber herankam, machten die selben Leute, die ihm gewinkt hatten, sich auf ihren Plätzen so breit, daß für den armen, ver- 185 höhnten Geronten kein Raum übrig blieb. Nur die spartanischen Gesandten, die seine Noth jammerte, standen alsbald auf und schufen ihm Platz und ihre freundliche Regung wurde vom ganzen Hause mit lautem Beifall begrüßt. Da sah der Alte sich lange im Saal um und sagte endlich: „Die Athener wissen den Anstand zu schätzen, aber die Spartaner haben ihn im Geblüt...“ Lassen Sie sich 190 durch die Winkenden nicht vom einmal ertasteten Pfade a[b]blocken! Ich wünschte, Sie fänden recht viele Spartaner. Mit guten Grüßen Ihr Maximilian Harden. 195 Berlin, am elften Juni 1897. <?page no="184"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 184 Meine Freunde sagen: Nun sehen Sie einmal, warum thun Sie das? Warum wollen Sie eine Theaterbrochüre schreiben? Glauben Sie noch, der Sie den Schwindel nun gründlich kennen, daß Sie auch nur ein Versatzstück auf der Bühne damit 200 verschieben werden? Die Bühnenmenschen, die Ihre Schrift besonders angeht, werden sie nicht kaufen, und in den Zeitungen werden die Kenner Sie als Phantasten oder als gräßlichen Nörgler hinstellen. Und Einer von ihnen wies mich auf Hebbels Aufsätze, wo ich lesen konnte: „Wer über das deutsche Theater ein ernstes Wort zu sprechen unternimmt, der 205 kommt den Meisten so vor, als ob er über eine Kinderklapper philosophische Betrachtungen anstellen oder, wie Swift, über einen Besenstiel predigen wolle. Die Zeiten sind vorüber, wo man mit Schiller übereinstimmte, wenn er in jugendlichem Enthusiasmus die Schaubühne für eine moralische Bildungsanstalt erklärte, und den Histrio, nachdem man ihm lange genug den Zutritt in anstän- 210 dige Gesellschaft verweigert, ja das ehrliche Grab auf dem Kirchhof bestritten hatte, als den Hohenpriester der Humanität zu ehren anfing, von dem man die ästhetische Läuterung der Menschheit erwartete, da die ethische, trotz Mosen und den Propheten, mißglückt war. Auch die Zeiten sind vorüber, wo das Theater, wenn man ihm auch nicht mehr einen erhöhten Mittelplatz zwischen Kanzel 215 und Katheder anwies, doch noch für die illuminirte Uhr gehalten wurde, auf die man nur zu schauen brauchte, um genau zu erfahren, wie es mit der dramatischen Nationalproduktion stand, und wo man es besuchte, um sich an dem geistigen Ringkampf der hervorragendsten Dichterkräfte zu erfreuen. Ja sogar die Zeiten sind vorüber, wo das Theater doch wenigstens noch für die letzte Unter- 220 haltung galt, und wo ein neues Stück ein Stadt- und ein FamiIien-Ereigniß war, dem man mit Spannung entgegen sah und das man mit Behagen genoß oder mit Resignation hinnahm. Keiner sucht in den Hallen noch Bildung, wo, so stolz sie auch dastehen und so prahlerisch die Inschriften auch lauten mögen, die Bilder sinn- und planloser durcheinander fliegen, wie die Karten, mit denen die Kinder 225 spielen; Jedermann weiß, daß der Dichter überall eher zu treffen ist, als auf den Brettern, die blos seinetwegen zusammen gezimmert sein sollen, und das muß ein ganz verlorener Abend sein, den Jemand noch an’s Theater wendet, wenn ihn anders nicht ein Virtuos oder ein sonstiger Nebenreiz hineinlockt.“ Diese Zeilen schrieb Friedrich Hebbel im Jahre 1859. 230 Man gestatte, daß ich noch ein paar Zeilen hierhersetze, denn es dürften keine prägnanteren Ausdrücke gefunden werden: „Denn es ist ein ebenso wunderlicher, als gewöhnlicher und weitverbreiteter Irrthum, daß derjenige, der das deutsche Theater für schlecht erklärt, sich auch nicht mit demselben befassen dürfe. Im Gegentheil, das Theater ist zu allen Zei- 235 ten, namentlich aber in der unsrigen, ein so wichtiges Institut, daß man es mit allen Mitteln wieder zu heben suchen muß, wenn es tief gesunken ist. ...Wir sind, um einen Ausdruck von dem alten Tieck zu entlehnen, endlich ganz unten im Keller, wo die Ratten hausen, die faulen Dünste ziehen und das schmutzige Wasser sickert, an der Hand unserer Musegaben angelangt und müssen nach dem 240 allgemeinen Naturgesetz, das den Stillstand ausschließt, wieder hinauf. ...Wir sind auch weit davon entfernt, uns der Hoffnung zu ergeben, daß unsere Bemü- <?page no="185"?> Paul Linsemann 185 hungen viel zur Verbesserung des miserablen Zustandes im Ganzen beitragen werden, aber wir glauben doch zur Abstellung manches Detailunfugs, der in der Stille betrieben wird, durch schonungslose Aufdeckung desselben das Unsrige 245 thun zu können.“ Ich lese noch einmal die Hebbelschen Worte, die ich für unsre Zeit adoptiren will. Aber wie? Ich bin doch wohl ein öder Pessimist? Kann ich nicht tagtäglich in meinen geliebten Morgenblättern lesen, wie herrlich weit es die Berliner Theater gebracht haben? 250 Und meine Freunde sagen: Nein, Sie sind doch ein Phantast, wenn Sie glauben, daß eine eingehende Schrift über das Theater uns interessiren soll. Warum schreiben Sie nicht etwas über die orientalische Frage? Wie denken Sie sich die Zukunft Kretas? Das ist unendlich wichtiger für uns Zeitgenossen, und der Zeitgenosse fängt doch erst beim Haussier oder Baissier an. 255 Doch ich bin nun mal ein so ausgepichter Theaterenthusiast, daß mir Griechenland und Kreta vollständige Hekuba sind. Auch bin ich ja nicht Kapitalist. Und ich habe das Bedürfniß, mich einmal gründlich auszuschimpfen. Das macht Einem das Herz leicht. Ich habe mir das Theater recht genau von vor und hinter den Kulissen angesehen, ich maße mir an, es vielleicht ebenso gut zu ken- 260 nen, wie die Berliner Theaterkritiker. Bin ich andrer Meinung wie sie, so halten Sie es meinem... Temperament zu gute. Ich liebe das Theater so zärtlich, daß ich noch in Zorn gerathen kann, wo ich es auf Abwegen finde. Mehr will ich zu meiner Vertheidigung nicht sagen. Ehe meine Leser die nächstfolgenden Seiten aufschlagen, will ich sie beruhi- 265 gen. Keine chronikartigen Berichte und keine doktrinären Abhandlungen erwarten sie, sondern Impressionen, die der Theaterbesucher, Theaterkritiker und Theaterschriftsteller gesammelt hat. Nicht graue Theorie, sondern praktische Erfahrungen enthalten sie. Diese Zeilen sind nicht vom Tag für den Tag geschrieben worden, sondern sie sind gesichtet und geklärt für die ruhigere Betrachtung. 270 In der Perspektive sieht manches anders aus, wie ich es vor Jahr und Tag geschaut. Darum wird es mich auch kalt lassen, wenn Dieser oder Jener, der noch zufällig etwa irgend eines Artikels von mir sich erinnert, mir entgegenhalten wird: Aber damals haben Sie ja so geschrieben! Freilich: damals sah ich es eben so. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich zugelernt habe, wenn ich nicht „kon- 275 sequent“ geblieben bin. Ich weiß - denn ein so großer Phantast bin ich ja doch nicht: ich werde nichts ändern und bessern. Einige werden mich verlachen, Einige mich beschimpfen und Einige vielleicht mich für einen ehrlichen Kerl halten, der das Bedürfniß hatte, die Wahrheit zu sagen oder wenigstens das, was er für Wahrheit hielt, got- 280 tesfürchtig und dreist. Die eiskühle Objektivität kommt mir immer verdächtig vor: ich halte es mit der ungenirten Subjektivität. Wir haben leider noch immer kein, etwa jährlich erscheinendes Theaterarchiv: der Geschichtschreiber unserer Schaubühne hat ein immer wachsendes, verworrenes Material vor sich. 285 Vielleicht dienen ihm diese Zeilen einmal als nicht unwillkommene Metakritik Berliner Theaterwesens. <?page no="186"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 186 Der Theater-Almanach für 1897 zählt auf an Theaterstätten in Berlin mit der Zuschauerzahl: 290 das Königliche Opernhaus………………………………………….… 1585 das Königliche Schauspielhaus…………………………………….…. 1044 das Königliche Neue Opernhaus (Kroll)…………………………..… 1760 das Deutsche Theater…………………………………………………... 1000 das Berliner Theater……………………………………………………. 1600 das Lessing-Theater…………………………………………………….. 1136 das Schiller-Theater…………………………………………………….. 1300 das Residenz-Theater…………………………………………………... 657 das Neue Theater……………………………………………………….. 821 das Theater des Westens……………………………………………….. 1700 das Theater Unter den Linden………………………………………… 1600 das Thalia- (Adolf Ernst-)Theater…………………………………….. 1100 das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater……………………………. 1250 das Central-Theater…………………………………………………….. 1000 das Belle-Alliance-Theater…………………………………………….. 1600 das Ostend-Theater…………………………………………………….. 1200 das Alexanderplatz-Theater…………………………………………… 750 das Volks-Theater……………………………...……………………….. 1200 Dazu kommen noch Theater, die Possen mit Spezialitäten untermischt geben: Americain-Theater (Dresdenerstraße 55)........................................................... 700 Gebr. Richter-Theater (Lothringerstraße 37)……………................................. 600 Eden-Theater (Reichenbergerstraße 34)............................................................. 1000 Moabiterbiter Stadttheater (Alt-Moabit 47-49).................................................. 1000 Feldschlößchen (Müllerstraße)............................................................................ (nicht angegeben) Ausstellungs-Theater (Hasenhaide 61-79)......................................................... 750 Puhlmann’s Sommertheater (Schönhauser Allee 148)..................................... 3000 Prater-Theater (Kastanien-Allee 7-9).................................................................. (nicht angegeben) Artushof (Perlebergerstraße 23).......................................................................... 3000 Marienbad (Badstraße 35/ 36).............................................................................. (nicht angegeben) Quarg’s Vaudeville-Theater (Grand-Hotel Alexanderplatz).......................... (nicht angegeben) Noak’s Sommertheater (Brunnenstraße 16)....................................................... 800 Die letztgenannten Theater kommen natürlich für unsre Umschau nicht in Be- 295 tracht, auch nicht die Sommer-Oper in der Charlottenburger Flora (faßt 2000 Personen), ebenso die nicht einmal im Almanach aufgeführten ganz kleinen Saaltheater. Ich habe sie nur angegeben, um zu demonstriren, wieviel Publikum sie absorbiren können. Freilich thun das noch in viel höherem Maße die beiden Zirkus <?page no="187"?> Paul Linsemann 187 Renz und Busch, der Wintergarten, das Apollotheater, die Reichshallen und die 300 zahllosen Vaudevilles und Tingeltangel. Wir haben uns nur mit den Theatern zu beschäftigen, die Schauspiele kultiviren. Die Oper und Operette werden ausgeschieden. Die Musikleute ihrerseits mögen jammern, daß wir leider kein gutes Operettenpersonal und vor allem keine Ope- 305 rette mehr haben, sie mögen mit dem Opernhause ins Gericht gehen, über diese oder jene Kraft, die dort ist oder nicht dort ist, über die mangelnden Novitäten, die kundige Bühnenleiter draußen im Reich entdecken und über die Novitäten, mit denen man uns behelligt. Das ist Alles nicht meines Amtes und davon laß ich meinen Fürwitz. Aber auch das Gute werden sie freudig anerkennen. 310 Das Friedrich-Wilhelmstädtische, Alexanderplatz- und Ostend-Theater, die Posse, Sensationstück und - last not least - Klassiker kultiviren, kommen ebenfalls hinsichtlich ihrer Repertoire und Ensembles nicht für uns in Betracht. Ab und zu hat der sehr rührige und in seiner Art ganz tüchtige Direktor der beiden ersten Bühnen, Herr Samst, das Bedürfniß, von sich literarisch reden zu machen. So hat er 315 im vorigen Jahre Grabbe’s „Kaiser Friedrich Barbarossa“ aufgeführt: zum ersten Male in Berlin! wofür er ein Recht auf unsre Dankbarkeit hat. Aber diesen Luxus darf er sich nicht oft gönnen. Nun muß er Dilettanten sein Theater vermiethen für ihre unmöglichen Stücke oder muß, wie seine Kollegen, das geben, was gerade den höchsten Kassenrapport erzielt. 320 Vom Central-, Thalia- und Volks-Theater wird bei dem Kapitel „Berliner Posse“ zu reden sein. Also bleiben uns übrig: Das Schauspielhaus, das auch Sonntags im Krollschen Theater spielt, (das die Sommer-Oper beherbergt, im Winter in der Woche meist leersteht, hie und da für 325 Wohlthätigkeitsaufführungen hergegeben wird), das Deutsche Theater, das Berliner Theater, das Lessing-Theater, das Schiller-Theater, das Westen-Theater. Nach der Versicherung des Almanachs „pflegen sie die vornehmste Richtung im klassischen wie im modernen Spielplan.“ Lessing-, Residenz- und Neues Theater haben allmählich die gleiche Physiognomie bekommen. Vom Schauspiel bis zur Posse geben 330 sie Alles - manchmal sogar Klassiker! und lassen im Sommer Operetten-, im Winter fremdsprachliche Ensembles gastiren. So! Nun haben wir neun Theater herausgesiebt. Das sieht schon anders aus! Da wir nun doch bei der leidigen Statistik sind, möchte man die alte Frage aufwerfen: Hat Berlin zuviel Theater? Bei 1¾ Million Einwohnern hat Berlin 18 335 Theater; Wien, die Stadt, mit der man Berlin allein vergleichen kann (denn im Ausland Beispiele zu suchen ist mißlich, weil dort andre Verhältnisse herrschen), Wien hat bei 1½ Million Bewohnern 9 Bühnen. Hat Berlin zuviel Bühnen? Wenn ein Stück gefällt, ist das Theater gut besucht, hat das Theater kein Zugstück, ist es leer - ganz gleich, ob viel oder wenig Thea- 340 ter am Ort sind. Das lehrt die Erfahrung. Das Prosperiren eines Theaters hängt vom Zufall ab. Wenn ein paar Stücke nicht einschlagen, ist der Bestand des Theaters in Frage gestellt, da weder eine künstlerische noch materielle Basis vorhanden ist. Im besten Falle ist der Direktor ein glücklicher Lotteriespieler, den bei <?page no="188"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 188 einem Treffer die mitternächtlichen Schreiber als Finanzgenie ausschreien! Berlin 345 hat zu viel Theater, weil die große Konkurrenz einem besonnenen Arbeiten hinderlich ist. Die Kunst hat mit der Quantität ja auch nie etwas zu thun. Wir haben zu viel Theater, aber zu wenig Kunststätten! Ob die Preise der Plätze zu hoch sind? Ja und nein. Beim Gastspiel der Frau Duse konnte der Direktor 10 Mk. für den Parkettplatz nehmen und das Haus war 350 glänzend besucht, gehen die Stücke nicht, so bringt man selbst an die beliebten Vereine den Platz zu 2 Mk. und darunter nicht an. Da das Theater leider eine Luxusstätte ist, so gehen den minder Bemittelten solche Preisverschiebungen gar nichts an, das Theater wird doch nur von der wohlhabenden Minorität besucht, die die Frequenz bestimmt. 355 Und die Frequenz wiederum bestimmt die Wahl der Stücke: und so wird der Kassenrapport das Regulativ für das Repertoir. Drei Faktoren sind vornehmlich die Schädlinge für die Entwicklung der modernen Bühne: das Publikum, die Kritik und die Leiter. Das Publikum - ich spreche 360 von der Majorität - hat einen schlechten Geschmack; die Kritik - ich spreche von der Majorität - bestärkt es darin und die Direktoren - ich spreche von der Majorität - folgt dem Publikum und der Kritik. Wie jeder Mann die Frau hat, die er verdient, so jede Stadt die Theater, die sie verdient. Sie sind der Gradmesser ihres Geschmackes. 365 Berlin hat nur noch Geschäftstheater, das Hoftheater mit einbegriffen. Natürlich: ohne Geschäft keine Kunst; aber nur Geschäft, das ist traurig, namentlich wenn es in so niedriger und widriger Form getrieben wird, wie in Berlin. Das ist ein Hasten und Jagen und eine Konkurrenz, gegen die die auf dem versunkenen Mühlendamm gentlemanlike genannt werden kann. 370 Muß es so sein? Ich glaube nicht. Aber unsre Direktoren haben den Kopf und was schlimmer ist - manchmal das Portemonnaie verloren. Da ist von keinem künstlerischen Programm mehr die Rede und wie die Idealismen aus der Rumpelkammer heißen mögen, sondern: wo ist das Zugstück für die Saison und wo ist der oder die Schauspielerin, die gerade en vogue sind? Und schlägt das Stück 375 nicht ein, dann wird herumexperimentirt mit Possen und klassischen Stücken - den Helfern in der Noth - dann wird lüderlich Stück auf Stück herausgehetzt, bis endlich wieder etwas einschlägt. Ein ruhiges und verständiges Arbeiten giebt es nicht mehr. Setzt der Kollege X., sagen wir: den „Fiesco“ an - Herrgott, das ist eigentlich eine Idee! Das können wir auch! Nächste Woche giebt Kollege Y. eben- 380 falls den „Fiesco“. Fängt ein Theater mit dem blödsinnigen Spektakelstück „Trilby“ an, so dauert es nicht lange, bis noch drei andere Bühnen es gegeben haben. Man fragt nicht: Welche Kräfte hab ich? Wie erzieh ich mir ein Ensemble? Wie stell ich Jeden zu meinem und seinem Vortheil am besten heraus? Welches Genre will ich eigent- 385 lich geben? - Man giebt eben das, wovon man sich ein paar Mark mehr Kasseneinnahme verspricht. Jedes Theater giebt eben Alles. Herr Brahm setzt über 30 Mal den „Lumpazivagabundus“ mit seinem Liebhaber an, und das auf den französischen Schwank dressirte Neue Theater giebt, wenns darauf ankommt, auch <?page no="189"?> Paul Linsemann 189 einmal den „Lear.“ Das einzige Theater, das mit minimalen Ausnahmen seinem 390 Programm in drei Jahren treu geblieben ist, ist das Schiller-Theater. Aber die Direktoren wollen doch auch leben und verdienen? Gewiß. Aber es ist schlimm, wenn in so verantwortungsvolle Posten Theater-Fremdlinge sich einschleichen oder wüste Spekulanten, die ebenso gut in Roggen und Spiritus wie in Theater machen könnten und die, was man denn doch wenigstens verlangen 395 könnte, nicht einmal über die nöthigen Kapitalien verfügen. Die Entstehung und der Krach des Westen-Theaters, dieser frechen Spekulation, ist lehrreich dafür, und in der Brochüre des Herrn Blumenreich wird einmal ein Berliner Romanschriftsteller prachtvolles Material finden. Und unsere Behörde, die bei jedem kräftigen Wörtchen auf der Bühne erschreckt zum Rothstift greift, die die neue Schilder- 400 ordnung der Geschäftsleute wie eine Kulturthat behandelte, was hat sie gethan? Hat sie irgend einen der Herren, wie es sich gehörte, vor den Staatsanwalt geschleppt? Und unsere Zeitungen, die für ihre Inserate zittern, haben sie irgendwelche namhafte Entrüstungsform gefunden? Man hört immer von erschwerten Konzessionsbedingungen und Kautionssummen, aber ehe man es sich versieht, 405 ist der Krach da, und hundert und mehr Menschen sind mitten im Winter brodlos oder müssen in Gagenreduktionen einwilligen. Geht das Geschäft wider Erwarten, so ist der Direktor ein kunstverständiger Mann und die Presse findet des Lobes kein Ende. Denn der Erfolg beweist eben Alles. 410 Die Presse! Ist sie denn wirklich so mächtig? Die Direktoren glauben es, die Autoren glauben es, die Schauspieler glauben es. Aber vor Allem: glaubt ihr das Publikum? Man erlebt da manchmal merkwürdige Dinge. Da lesen Sie, wie der ganze Klüngel ein Stück lobt oder ein bestimmtes Theater - und es geht Niemand hinein. Und manchmal verreißen sie das Stück, daß dem Direktor am nächsten 415 Morgen die Haare zu Berge stehen - und Abends ist das Theater voll. Herrn Barnay hat die Presse, als er noch das Berliner Theater hatte, meist übel mitgespielt, er aber ging unbeirrt weiter und sitzt heute als reicher Mann da. Er zitterte nur dann, wenn man ihm einmal ein Stück lobte. Er hatte eben das Publikum für sich. Das „Herumsprechen“ im Publikum, das macht den Erfolg eines Theaters. Wenn 420 am Premierenabend ein Stück wirklich, ohne Beihilfe von Claque, gefallen hat, dann ist es auch seines ferneren Erfolges sicher, auch ohne den Aichstempel der Kritik. Nein, die Presse ist im Allgemeinen keine Macht mehr in Berlin. Und wie sollte es auch anders sein? Das dumme, leichtfertige und verlogene Geschwätz, 425 das wir hier zumeist aufgetischt bekommen, kann auf keine Autorität mehr Anspruch erheben. Gewiß. Sie werden hier und da einen Kritiker von Kenntniß und Geschmack treffen, denn es wäre schlimm, wenn unter soviel Sündern nicht einige Gerechte wären. Aber ihre Stimmen verhallen in dem wüsten Tohuwabohu. Es sind die Stimmen der Prediger in der Wüste. Im Folgenden ist also nur von 430 den Herren die Rede, die zum Kummer ihrer vornehmen Kollegen die Feder führen dürfen. Ich will die schärfsten Worte für sie gebrauchen, denn ich weiß mich eins mit jenen Männern, die das Amt des Kunstrichters noch gerecht und berufen verwalten. <?page no="190"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 190 Mein Gott, was schreibt Alles in Berlin Kritiken! Nicht in einer mittleren Pro- 435 vinzstadt wäre der freche Unsinn möglich, den die Leser mancher Blätter vorgesetzt bekommen. Und doch geberden sich die Herren in Berlin immer, als hätten sie die Weisheit gepachtet und blähen sich in großmüthigem Hohne auf, wenn von der „Provinz“ die Rede ist. Wenn sie wüßten, wie grotesk ihnen die Arroganz steht! 440 Die Verleger haben nämlich im Allgemeinen kein sonderliches Interesse daran, wer unter dem Strich „gegen“ die Theater schreibt, und der „ernsthafte“ Zeitungsleser wird Ihnen sagen: Das interessirt mich nicht. Dafür habe ich keine Zeit. Das lesen nur meine Frau und Tochter. - Na und für die braucht man sich ja wohl nicht viel Mühe zu geben? 445 Da sudelt man nach der Vorstellung von 10½ - 11½ Uhr (wenns hoch kommt) seine drei bis vier Dutzend Zeilen auf der Redaktion hin: denn die Gattin wartet und man will ja noch in die Kneipe, auch knurrt der Magen schon bedenklich. Jeder hat seine zehn Clichés fertig: Technik, Dialog, Mache, kraß, schwungvoll u.s.w. Dann wird der Erfolg konstatirt und die Schauspieler erhalten ihre Zensu- 450 ren. Alles natürlich per „Wir! “ Ja, zum Henker, mein Herr, wer ist denn Ihr „Wir? “ Wen identifiziren Sie denn mit Ihrem blödsinnigen Geschmier? Ihre Leser, Ihre Abonnenten oder das Publikum? Sie bedanken sich schönstens! Aber man muß ja wohl in Berlin jetzt noch sehr zufrieden sein, wenn der gelie- 455 ferte Bericht (Kritik darf man ihn doch nicht nennen) in leidlich genießbarem Deutsch geschrieben ist. Denn Sie können auch Berichte finden, in denen der Verfasser sich den Teufel um die Gesetze der deutschen Grammatik kümmert, vom Stil ganz zu schweigen. Und diese Burschen mit brüchiger Tertianerbildung wagen es, in verquollenem und verschwollenem Deutsch ungetrübt von Kenntnis- 460 sen und Erfahrungen über Stücke und Schauspieler zu urtheilen! Denn man sollte meinen, daß wer zum Kunstrichter-Amt sich berufen fühlt, die klassische und moderne Dramenliteratur kennen sollte, ästhetische und dramaturgische Schriften und Theatergeschichte sorgsam studirt hat, fleißig die Theater und die Proben besucht, um zu lernen, wie ein Kunstwerk entsteht, am grü- 465 nen Tisch und auf der Bühne. Aber wie in Berlin Leute über Musik schreiben, die einen Musikschlüssel nicht von einem Hausschlüssel unterscheiden können, solche über Malerei, denen die Unterschiede zwischen Rembrandt und Tintoretto böhmische Dörfer sind, so gewisse Herren über die Theater, die kaum wissen, daß der Souffleurkasten in der Mitte der Rampe liegt. Es sind angestellte Fleisch- 470 beschauer, die leider kein Examen gemacht haben. Zur Kunstrichterei drängt sie keine Neigung, sie registriren die Theater-Affairen wie die orientalische Angelegenheit und die Lokalunfälle. Denn man muß leben! Kenntnisse? Die sind Ballast und ein Geschmack wäre vom Uebel. Ihnen gefällt immer das, was ihnen gefallen will oder muß, aus diesem oder jenem Grunde. 475 Aber ihre pöbelhafte Unwissenheit scheint die Wenigsten zu ärgern und so treiben sie jahraus jahrein ihr Handwerk. „Sie haben sich gestern blamirt, sie blamiren sich heute und sie werden sich morgen blamiren.“ Wenns den Leser nicht genirt - sie genirts auch nicht! <?page no="191"?> Paul Linsemann 191 Und wie sie schreiben! Sie schreiben klobig und sie schreiben witzig und sie 480 schreiben geistreich und was weiß ich noch. Nur vernünftig schreiben sie nicht und nicht ehrlich. Aber ein unglaubliches Gefühl ihrer Macht haben sie in sich und wunderbarer Weise verstehen sie noch immer es den Theaterleuten zu suggeriren und je nach dem Grade der Bildung der Letzteren sogar mit Erfolg. Aber die Theaterleute machen die entwürdigenden Redaktionsbesuche, sie 485 katzenbuckeln vor jedem „Herrn Doktor“, und sprechen süßliche Elogen. Und die Direktoren erst! Warum thun Sie das, meine Herren? wozu das hündische Gewinsel? Lehnen Sie doch ruhig die miserablen Stücke des Kritikers X. ab, geben Sie nicht Herrn Y. Vorschüsse für Uebersetzungen, die er nie macht, denunziren Sie doch sofort den 490 Herrn, der für eine lobende Kritik 50 oder 100 Mark prompt verlangt, werfen Sie doch Herrn Z. hinaus, der Ihnen durchaus seine talentlose kleine Dirne aufdrängeln will. Glauben Sie mir, der anständige Theil der Kritik, der noch Gottlob vorhanden ist, wird Ihnen beistehen und Sie unterstützen, wenn Sie die Parasiten vertilgen wollen. 495 Aber so lange Sie nur im Caféhaus und am Biertisch darüben seufzen, wirds nie anders. Machen Sie den Gefälligkeitssachen ein Ende. Warum bewilligen Sie denn dem einen und andern Berliner Blatt täglich 2-6 Frei-Billets? Warum lassen Sie sich denn diese unerhörte Schnorrerei gefallen? Die Herren sagen: Gott, es ist ja so viel Platz alle Abend in den Theatern. Ja, aber 500 die zahlenden Leute werden abgehalten, ihre Billets zu kaufen. Aber Sie haben Angst, daß Ihre Reklamenotizen, im Falle der Ablehnung, nicht aufgenommen werden. Gut, in dem Falle denunziren Sie doch das Blatt. Im Uebrigen erweisen Sie - unter uns - den Blättern ja nur einen Dienst, wenn Sie ihnen Neuigkeiten aus den Theatern schicken. Denn womit sollten sie ihre Feuilletonspalten füllen? 505 - Aber sie verreißen Ihnen die Stücke? Auch das werden wir feststellen können. Lassen Sie einmal Ihre Aengstlichkeit und Feigheit, gehen Sie rücksichtslos vor, daß wir die Buben für immer brandmarken können. Aber keiner von Ihnen will anfangen, das ists. Nicht wahr? Freilich, dann werden Sie noch lange jammern und stöhnen und es wird nicht anders werden. 510 Kürzlich hat Jemand laut und deutlich zwei Berliner Musikkritiker der Bestechung angeklagt. Ich könnte mir den Spaß machen, Pendants aus den Reihen der Theaterkritiker hierher zu stellen, die indirekt bestechlich sind. Doch sie sind nur dürftige Symptome der Versumpfung unserer Presse, kleine jämmerliche Schlucker, die um ein Trinkgeld Schmockdienste leisten. So lange wir Handelsredak- 515 teure in Berlin haben, die das Rechenkunststück fertig bekommen, mit Mark 200 monatlichen Gehaltes Villeninhaber zu sein , so lange sich Zeitungsbesitzer durch diese und jene großen Inseraten-Aufträge prostituiren lassen, so lange politische Redakteure für hohen Lohn gegen ihre Ueberzeugung schreiben und dem Leser bewußte Lügen im Interesse des Verlegers auftischen, so lange kann ich den ge- 520 dachten Schmöcken nicht die Ehre erweisen, hier ihre unberühmten Namen zu Immer wieder seien die Zeitgenossen an die Brochüre Franz Mehrings „Kapital und Presse“ erinnert. <?page no="192"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 192 nennen. Das ist Sache der Erpreßten. Mehr Schaden als sie und die Herrn, die ihre Macht mißbrauchen, um bei kleinen Mädchen Liebesdienste zu erpressen, richten - soweit man noch an die Presse glaubt, die Cliqueschreiber an und die Herren, die sich durch kleine Gefälligkeiten bestechen lassen, die man nicht in Mark und 525 Pfennigen nachrechnen kann und wobei man, nach ihrer Meinung, noch Gentleman bleibt. Die Kamaraderie ists, die Klüngelwirthschaft, die so üppig in Berlin gedeiht. Das Stück des Kollegen X. muß gelobt werden, „denn er ist von den Unsern“, den Direktor Y. darf man nicht verreißen, denn man speist doch bei ihm so gut. Wie 530 possirlich, wenn man oft Zeuge der Unterhaltung der Herren in den Foyers ist: Wie miserabel ging die Komödie heute wieder! Im Blättchen können Sie dann am nächsten Tage lesen, wie vorzüglich „sie“ sich gestern amüsirt haben! Und wieder andere Herren haben den Sport, mindestens jede Saison „ihren“ Autor zu entdecken, an dessen Rockschöße sie sich ängstlich klammern, um so 535 auf billige Weise durch die Literatur mitgezerrt zu werden. Es ist erstaunlich, wie viel „Genies“ wir im Laufe der Jahre bekommen haben. Und sie haben Alle gleich kläglich geendet. Da wird zuerst in den Kritiken mit den großen Worten herumgeworfen, und Vergleiche mit Ibsen, Zola und anderen einsamen Riesen schwirren nur so durch 540 die Luft. Der Maulwurfshügel oder im besten Falle der Berliner Kreuzberg soll so zur Höhe des Montblanc aufgetrieben werden. Dann wird in marktschreierischen Reklamenotizen und in Interviews von dem neuen Dichter berichtet, was er gegessen hat und was er nächstens dichten wird, kurzum: im Publikum wird die Fiktion erregt, als ob es sich um einen neuen Nationaldichter handelt. Es ist klär- 545 lich, daß selbst im bescheidensten Menschen und im kühlsten Hirn so allgemach eine Selbstschätzung erzielt wird, die unheilvoll für seine Produktion wird. Das zweite Stück kommt und im Auditorium sitzt das mit Erwartung geladene Premièrenpublikum. Es erwartet jetzt eine That! Ist das neue Stück nur ebenso gut wie das erste, so ist es schon abgefallen - ist es gar schlechter, so findet eine Hin- 550 richtung erster Klasse statt, die Zerstörungswuth feiert wahre Orgien und die nicht gerade melodische Musik der Hausschlüssel pfeift dem unglückseligen Dichter, der schon von seiner Schaar unter die Klassiker gerückt war, ein unsanftes Abschiedslied. Diese Kritiker verwirren das Publikum, das schließlich die Unterschiede von 555 Gut und Böse nicht mehr kennt, diese einseitigen Herren, die, auf eine Klique eingeschworen, mit sattsam bekannten Schlagworte[n] operiren und Alles, was nicht in ihren Klüngel paßt, mit Keulen todtschlagen. Das sind die Formenkrämer, die dem winzigen Geiste gleichen, den sie zur Noth begreifen. Und was kann man nicht Alles in Berlin erleben! Als Herrn Hauptmanns „Flo- 560 rian Geyer“ in eigner Haltlosigkeit zusammengebrochen war - erzählten uns da nicht kritische Jüngelchen von „shakespearischen Einfällen“, von einem „einsam in Europa dastehendem Meister- und Riesenwerk“? Soll man mehr die Dummheit oder die Dreistigkeit dieser Jongleure bestaunen, die doch sonst schnell bei der Hand sind, gilt es, einem mißliebigen Autor den Nichterfolg zu konstatiren. 565 Aber was sagt unser Hamburger Dramaturg: „Doch was halte ich mich mit die- <?page no="193"?> Paul Linsemann 193 sen Schwätzern auf? Ich will meinen Gang gehen und mich unbekümmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren. Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel. Ihr Sommer ist so leicht abgewartet.“ Ueberhaupt mit dem Erfolg konstatiren! Es ist merkwürdig, was für verschie- 570 dene Ohren die Herren bei verschiedenen Stücken haben. Bei dem Freunde heißt es: Das Zischen vermochte nicht gegen den Beifall aufzukommen. Bei dem Andern: Der schwache Beifall wurde von einem kräftigen Zischen unterdrückt. Lehnt das Publikum das Stück ihres Freundes ab: das Stück hatte das Glück, dem Publikum zu mißfallen. Das thörichte Publikum ist noch nicht X.-reif. - Im andern 575 Falle: Ein Sieg auf der ganzen Linie. Das Publikum ging auf alle Intentionen des Dichters ein. Das Publikum leiten und erziehen, für Autor und Darsteller produktive Kritiken schreiben - doch was verlange ich denn von einem Berliner Theaterkritiker! Man schreibt im besten Falle Berichte, die den eigenen Geist, oder was man 580 dafür hält, leuchten lassen, kümmert sich nicht um die Idee des Künstlers, und geht nicht liebevoll auf seine Absichten ein: man säbelt einfach nieder. Das ist schneidig - das macht vielleicht beliebt - bei dem Verleger und den Lesern. Nur immer schnoddrig sein! Im Theater zerstreut dasitzen, eine falsche Inhaltsangabe machen, die Absichten des Dichters verwirren und ridikulisiren, (das kann man 585 bekanntlich auch mit dem „Hamlet“ und „Faust“) mit ein paar Schlagworten um sich werfen und eine schlechte Zensur ertheilen: so wirds gemacht, wenn der Autor nicht zu den „unsren“ zählt. Ein anderer Herr möchte wieder dadurch glänzen, daß ihm nichts gefällt - weder Klassiker noch Moderne. Die Antike hält er für todt - die „Antigone“ hat 590 er in dreißig (! ) Zeilen verrissen (so was ist auch nur in Berlin möglich) und der Shakespeare muß nach seiner Meinung auch in den meisten Stücken umgedichtet werden. Dieser Größenwahn, die Werthe in der Literaturgeschichte ohne Beweise verschieben zu können, ist in seiner Anmaßung bezeichnend für unsere Epoche! Das wahre oder gespielte Banausenthum gefällt natürlich dem süßen Mob. Das 595 ist unser Mann! Wozu auch den alten Krempel studiren? Fort damit, der ist überwunden! Unser Kritiker sagt es, und der muß es doch wissen. So wird in Berlin das Publikum zur Kunst erzogen! Und wie mit den Stücken und den Autoren, so gehts auch mit den Schauspielern und deren weiblichen Kollegen. Himmel, welche Unzahl von Talmas oder 600 Rossis und Duses und Wolters an der Spree! Wieviel Meister und Meisterinnen! Ein hübsches Puppenköpfchen, ein paar Pariser Roben, eine dankbare Rolle und fertig ist die Künstlerin. Die dankbaren Rollen! Da hört nämlich das Verständniß für unseren Kritikus (der schon von den Stücken wenig oder gar nichts versteht) vollständig auf. Er 605 kann die Rolle von der Darstellung nie unterscheiden, weil er vom Wesen der Schauspielerei nicht die blasse Ahnung hat. In einer „Paraderolle“ verblüfft bei uns Jede und Jeder und im Foyer raunen sich die Auguren zu (sie sind nur lange nicht so gerieben wie in Rom): „Nein, wer hätte das von dem X. oder der Y. erwartet.“ Daß in Magdeburg oder Bromberg die Rolle meist ebenso gut gespielt 610 wird - manchmal vielleicht sogar besser, daran denken diese Weisen nie, auch <?page no="194"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 194 daran nicht, daß sie eigentlich ganz anders gespielt werden müßte. So giebt es hier in Berlin ein paar Modedamen, die das Glück hatten, ein paar „Bomben“rollen zu spielen, wie sie im Kulissendeutsch sagen, und die seitdem als wirkliche Schauspielerinnen gelten. Daß sie in ernsten künstlerischen Aufgaben 615 auch danach abscheulich talentlos sind, das macht nichts. Dann heißt es: „Fräulein X., die unübertreffliche Darstellerin der ... eignet sich für diese Partie durchaus nicht. Wie kann ihr aber auch die Direktion eine solche Rolle geben! “ Im Caféhaus sagte uns einmal ein bekannter und guter Schauspieler: „Ich bin jetzt zehn Jahre in Berlin. Man hat mich gelobt und man hat mich gerissen. Ich 620 kann aber sagen: Gelernt hab aus ich [sic! ] den Kritiken wohl nicht so viel! Ich lese sie aber alle fleißig am Morgen nach der Première, um zu sehen, wie ich im Kurse stehe. Das ist geschäftlich für mich wichtig, weil die Direktoren was auf die Blätter geben. Ob ich gut war oder schlecht? Sechs meinen ja, sechs nein, sechs andere halten die Mitte. Zuerst wurde ich bei den zwanzig diametral sich entge- 625 genstehenden Meinungen verrückt, allmählich hab ich mich dran gewöhnt. Wer hatte Recht? Lüderliche Abende hat man bewundert, heiße ehrliche Abende kühl hingenommen. Mal so, mal so - wies trifft! “ Die Päbstlein auf ihren kritischen Nachtstühlchen sollten nur wissen, mit welch gerechter Verachtung ernsthafte Bühnenkünstler über ihre himmelschrei- 630 ende Ignoranz und über ihre Gevattermachenschaften sich auslassen. Wenn die Herren da Tiefsinnigkeiten über die Bühne auskramen, die das Gelächter selbst eines Choristen erregen, wenn sie über die Darstellung einer kinderlichen Rolle in Entzücken gerathen und über eine schwierige Partie mit einem Worte hinweggehen! 635 Wie kann auch der Kritiker in eiliger Mitternachtsstunde in ein bis zwei kurzen Feuilletonspalten Stück, Darstellung und Regie würdigen können? Das ist ja eine verruchte Institution. Man sollte am Abend nur eine kurze Vornotiz schreiben, die die äußerliche Aufnahme konstatirt und alle Woche nur ein ausführliches Feuilleton bringen. 640 Die werthlosen Stücke würden gar nicht darin vermerkt sein, und die gehaltvollen sollten gehaltvoll besprochen werden. Ebenso die Darsteller. Und ab und zu bringe man eine vergleichende Skizze über die Schauspielerei an den verschiedenen Theatern, prüfe, wäge und vergleiche. So käme doch vielleicht etwas Ersprießliches heraus. 645 Und dann will ich den Herren hierher setzen, was Lessing sagt, über den sie schon die Nase rümpfen, den sie aber immer noch nicht kennen. Drei Sätze für den Kritiker, wie er sein soll: „Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache 650 erfordert. „Die größte Feinheit eines dramatischen Richters zeigt sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnügens oder Mißvergnügens unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wie viel daran auf die Rechnung des Dichters oder des Schauspielers zu setzen sei. Den Einen um etwas tadeln, was der Andere versehen hat, 655 <?page no="195"?> Paul Linsemann 195 heißt Beide verderben. Jenem wird der Muth benommen, und dieser wird sicher gemacht. „Besonders darf es der Schauspieler verlangen, daß man hierin die größte Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor 660 die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauscht gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das Eine oder das Andere einen lebhaften Eindruck auf Jenen gemacht hat.“ Raum genug (worüber die Herren immer klagen) wäre da. Man verschone uns 665 nur mit Berichten über Fräulein X. als Amalia bei einer Neubesetzung im Ostendtheater und mit dem öden und blöden Theater-Klatsch über die Garderoben und Abenteuer des Fräulein Y. Ist es zu glauben, daß große Berliner Blätter sich ernsthaft seiner Zeit über die Ehescheidung einer Wiener Schauspielerin telegraphiren ließen oder daß eine ganz gleichgültige Frau R. ihre Demission am Burgtheater 670 verlangt habe, weil sie eine bestimmte Rolle nicht bekommen? Man sage nicht: das Publikum verlangt das! Das ist eine faule Ausrede. Das Publikum nimmt auch gern Besseres, wenn es ihm geboten wird. Das ist mit den Zeitungen genau so wie mit den Stücken. Man gewöhne es nur an die besseren. Zum Schluß dieses Kapitels ein kleines Capriccio. Es hat einmal vor Jahr und 675 Tag Einigen nicht mißfallen. Darum mag es hier noch einmal seinen Platz finden. Sie kennen gewiß des Johann Hermann Detmold „Anleitung zur Kunstkennerschaft oder die Kunst in drei Stunden ein Kenner zu werden.“ Danach ist der folgende Katechismus für Theaterkritiker entworfen. Man bittet, ihn nicht für eine Satire zu nehmen, denn er ist aus den Clichéphrasen Berliner Theaterkritiker zu- 680 sammengestellt. §1. Hüte dich, eine eigene Meinung zu haben. Bilde sie dir erst nach den Gesprächen im Foyer. §2. Bewege dich nur in den unten angegebenen terminis technicis. Sonst glaubt 685 man nicht, daß du zur Zunft gehörst. §3. Entdecke von Zeit zu Zeit ein „Talent“. Das macht dich interessant. Nenne „sie“ in der I. Kritik „recht bemerkenswerth“. Sage in der II.: „Ganz vortrefflich war wieder Frl. Schminktopf.“ In der III.: „Mustergiltiges bot Mieze Schminktopf.“ In der IV.: „Das große Talent der Schminktopf.“ In der V.: „Unsere“ Mieze 690 Schminktopf. In der VI.: „Künstlerinnen wie die Duse, die Bernhardt und die Schminktopf.“ In derVII.: „Die Meisterin.“ §4. Nenne Dumas und Sardou stets die „frivolen Seinedramatiker“. Ueberhaupt entrüste dich von Zeit zu Zeit sittlich-germanisch. Das macht dich beim Publikum und dem Verleger beliebt. Sei ergimmt über die sog. „Naturalisten“. Sprich von 695 „peinlichen Stoffen“ und von „widerlichem Abklatsch der gemeinen Alltäglichkeit“. Vergiß nicht das Cliché: „Müssen uns denn die Dichter immer die Nachtseiten des Leben zeigen? “ §5. Von Zeit zu Zeit wirf den Namen Friedrich Nietzsche in die Debatte. Von dem spricht in Deutschland Jeder, aber nur ein Dutzend hat ihn gelesen und von dem 700 <?page no="196"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 196 hat ihn [die] Hälfte nicht verstanden. Aber bei dem Worte „Herrenmoral“ kann sich jeder Leser etwas anderes denken. §6. (für eine lobende Kritik): Eine Heroine hat „eine stattliche Erscheinung“, „ein klangvolles Organ“ und ist „imposant.“ 705 Ein jugendlicher Held ist „feurig“, „temperamentvoll.“ Eine Naive: „anmuthig, neckisch, schalkhaft.“ Eine Sentimentale hat „zartes, echt mädchenhaftes Empfinden.“ Ein Komiker: „drastische, überwältigende Komik.“ Anstandsvater und -mutter: „würdig.“ 710 Charakterdarsteller: „charakterisirt scharf.“ Salondame: „vornehm und gewandt.“ Episodendarsteller: [„]füllt seine kleine Partie gut aus.“ oder: „Bietet eine Leistung aus einem Guß.“ §7. Weißt du nicht, ob du loben oder tadeln sollst, so schreibe: „X. X. genügte“ 715 oder: „war wacker.“ §8. Nenne die Regie bei historischen Stücken „glänzend“ (der Dekoration und Kostüme wegen). Bei modernen Dramen sage: Die Regie sorgte für ein „flottes“ Ensemble. (Mehr verstehen die meisten deiner Kollegen auch nicht von der Regie.) 720 §9. Vergiß nicht, von Zeit zu Zeit ein Schlagwort einzuflechten, wie z.B.: „modulationfähiges Organ“, „Nüancen“, „chargirt“, „Stil“, „Lebenswahrheit“, „Technik“. Aber gebrauche es nicht an falscher Stelle. §10. Eine Uebersetzung nenne immer „glatt“, „flüssig“ (sofern sie nicht von grammatikalischen Fehlern wimmelt, wie fast die Mehrzahl der Uebertragungen 725 auf deutschen Bühnen). §11. In Salonstücken ist der Dialog „geistvoll“, in den realistischen Dramen ist er von „verblüffender Echtheit, dem Leben abgelauscht“. §12. Hat das Stück gefallen, so beginne die Kritik: „Einen „rauschenden“ Sieg hat gestern Abend…“ oder: „Wieder war es ein genußreicher Abend...“ und zum 730 Schluß sage: „In den Beifall durften sich Dichter und Darsteller theilen.“ Da die Bühnenmenschen noch immer viel auf die Zeitungen geben, darum muß man das Unkraut unter diesen mit der größten Rücksichtslosigkeit vertilgen. Wir Alle, die wir im Kampf mit der unfähigen und verlogenen Kritik stehen, wir müs- 735 sen namentlich einem Manne unseren Dank bezeugen, der als Erster auf dem Plan stand und mit scharfgeschliffenen Waffen der Hydra der unverschämten Klüngelwirthschaft schon manchen Kopf abgeschlagen hat. Dieser Mann ist Maximilian Harden. Er, unser Pfadfinder in der Literatur und Bühnenkunst, der mit sicherem Stift uns die Höhen und Tiefen bezeichnet, er ist auch in die Gestalt des 740 Herkules geschlüpft, um den Augiasstall der Berliner Presse zu säubern. Aber das Rindvieh vermehrt sich eben, und mit ihm der Schmutz... <?page no="197"?> Paul Linsemann 197 Von der Zensur, die vor der Bühne ausgeübt wird, führt nur ein Schritt zu der Zensur, die begangen wird, ehe das Stück auf die Bühne gelangt. Es ist das die 745 Zensur der Polizei. Der Staat Preußen fängt an, sich für das Theater zu interessiren. Und ordentlich und bureaukratisch abgezirkelt wie er ist, richtet er nicht etwa im mäcenatischen Geiste Theater-Akademien oder Pfründen für talentirte Dichter ein, sondern giebt seiner Polizei die Anweisung, den Kunstzigeunern ein 750 Wirthschaftsbüchlein vorzulegen, in dem sie sorgsam einzutragen haben, was dem Aktenmenschen interessant ist. Da soll angegeben werden die Gage, die Größe des Theaters, die Anzahl der Kulissen, die Gattung der Stücke, - ich glaube sogar das Alter der Naiven. Welche Weiterungen sich an diese Rundfragen, die vor zwei Jahren erfolgt sind, knüpfen werden, das läßt sich noch nicht absehen. 755 Aber da alles im Staate schon registrirt ist, so sollen auch die Bretter, die nach der Meinung der Phantasten immer noch die Welt bedeuten, den Aichstempel erhalten. Eine Fabrikordnung für die Bühnen - das war das Ziel aufs innigste zu wünschen. Dem Finder dieser Idee, dem väterlichen Fürsorger der Theater, dem verflos- 760 senen Herrn Minister von Köller, wurde anläßlich seiner Reformpläne ein Wunsch nahe gerückt, dessen Verwirklichung den Bühnenleitern und Bühnenautoren noch ein bischen wichtiger erscheint, als die Erhebungen, die in erster Linie nur das Herz des Statistikers erfreuen. In der Enquête war zu guterletzt die Frage zu beantworten, welche Ue- 765 belstände in wirthschaftlicher, künstlerischer und sittlicher Beziehung bei dem Theater hervorgetreten sind. - Ueber die sittlichen Uebelstände gleitet die Feder schämig hinweg, zu den materiellen und künstlerischen Uebelständen aber zählen wir einen, den endlich einmal die Volksvertretung reiflich erwägen sollte: das ist die Theaterzensur. 770 Jeder Preuße hat bekanntlich nach irgend einem Paragraphen der Verfassung das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Diese Freiheit ist natürlich eine illusorische, und nirgends tritt das mehr zu Tage als auf der Bühne. Allenfalls kann der Autor noch seine Meinung im Buche verfechten, aber auf der Bühne vernichtet sie der Rothstift des Zensors, dessen einzige Maxime das „Car tel est notre plaisir“ 775 ist. Man hat eine merkwürdige Scheu vor dem gesprochenen nicht völlig harmlosen Wort, zumal wenn es in einem wirklichen Theater ertönen soll. Das Spezialitätentheater: das ist etwas anderes! Dort gestattet man die unglaublichsten Frechheiten, denn die teutsche Volksseele will ein Abflußrohr für ihr schlammiges 780 Behagen haben. Aber im Theater - wie leicht kann die Satire, die im anscheinend frivol-cynischen Witze steckt, eine ganz andere Wirkung haben, als sie dem gewissenhaften Polizisten lieb ist. Und tastet gar das Stück an staatliche, soziale oder ethische Fragen in ernster Form, so ist das Spiel des Rothstiftes noch ärger! Es ist kein Zeichen der Stärke und des Selbstvertrauens für den Staat und seine 785 Organe, wenn sie sich vor den Skribenten fürchten. „Gazetten dürfen nicht genirt werden, wenn sie interessant sein sollen,“ meinte der große Preußenkönig. Er <?page no="198"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 198 würde, frei und erleuchtet wie er war, in unserer Zeit das Wort „Gazetten“ durch „Theater“ substituirt haben. 790 Das Publikum und die Theaterkritik seien die Richter über ein Stück, aber nicht der Polizei-Zensor. Und da er dem Dichter und Direktor materiell und künstlerisch schaden kann, so muß die Parole lauten: Fort mit der staatlichen Bevormundung. - Dieser Schrei ist schon viele Male ertönt, aber es kann gar nicht oft genug wiederholt werden das: „censorem esse delendum! “ 795 Ein Herr, dessen Bekanntschaft in der Deutschen Literatur zumeist mit der Lektüre in der Prima aufgehört hat, sitzt auf dem kurulischen Sessel und streicht „unentwegt, voll und ganz“, was nach seinem unmaßgeblichen Geschmacke nur irgend wie bedenklich erscheint. Und nun sehe man sich einmal die zensirten Bücher an: da findet man in dem einen Szenen und Dialogstellen gestrichen - in 800 dem andern Drama sind gleich gefährliche gelassen. Das hängt eben von der jeweiligen Laune und Verdauung des Herrn Zensors ab. Daß das Werk eines Dichters erheblich Schaden leiden kann, wenn man ihm wichtige Pointen streicht, versteht sich von selbst. Unter Umständen kann so der Sinn des Vorhergehenden ins Gegentheil verkehrt werden. Eine Appellation ist unmöglich: unnahbar sitzt 805 in pythischer Abgeschlossenheit der Polizeibeamte und würde die Zumuthung als einen Hohn betrachten, sich in eine Konferenz mit dem Autor einzulassen, der ihn über den Sinn der gestrichenen Stellen belehren will, um ihre Freigabe zu ermöglichen. Eine Beschwerde an die vorgesetzte Behörde dauert erheblich lange und ist auch zwecklos: denn wie wird diese den Unterbeamten so desavouiren? 810 Wem Gott einen Rothstift in die Hand giebt, dem giebt er auch Verstand. - Der Autor dieses Wortes hat nie die Striche und Streiche eines Zensors gekannt! Vielleicht auch verbietet der Zensor gleich das ganze Stück. Und da erlebt man denn oft das Schauspiel (in diesem Falle eine Komödie! ), daß das in Berlin verbotene Werk in Treuenbrietzen gestattet ist, und umgekehrt. Das ist sehr spa- 815 ßig, denn man hat noch nicht gehört, daß in beiden Kleinresp. Großstädten etwa die Raubmörder verschieden behandelt werden. Aber die Dichter! Wir werden es vorläufig nicht erreichen, daß die Zensur gänzlich beseitigt wird. Dieser Illusion müssen wir uns begeben. Aber die Zensur kann eingeschränkt werden. Es sollte für Preußen eine Kommission eingesetzt werden, die 820 die an den gesammten Theatern der Monarchie aufzuführenden Stücke zensurirt. Diese Kommission, etwa aus fünf literarisch gebildeten Herren bestehend, hätte die Arbeit unter sich zu vertheilen. Ein Verbot bedürfte der Zustimmung aller fünf; in Betreff von nothwendig erscheinenden Strichen wäre der Autor oder Direktor, wenn diesen die gestrichenen Stellen wichtig zu sein scheinen, anzuhören, 825 und zwar von mindestens drei Herren der Kommission. Dann aber müßte, wenigstens relativ, im Landtage festgestellt werden, wie weit der zensorische Nothstift gehen kann: vor Allem darf nicht einem Theater gestattet werden, was dem andern verboten ist. Wir wünschen Freiheit nicht nur für unser geschriebenes, sondern auch für 830 unser zu sprechendes Wort und wir werden immer und immer wieder dagegen protestiren, daß von irgend einem Polizeibeamten das Werk monate- oder jahre- <?page no="199"?> Paul Linsemann 199 langer Arbeit in einer halben Stunde verstümmelt wird. Wir können verlangen, von Sachverständigen beurtheilt zu werden. Wir fordern ein Gewerbegericht! Man wird lächeln und über utopische Wünsche sich moquiren. Aber die Zeit 835 hat die Umgestaltung viel größerer Dinge gesehen, sie wird auch eines Tages von der Willkür der Zensur wie von einem Märchen sprechen. Man wird dann empört sein über die Barbarei - um nur aus der letzten Zeit zwei Fälle zu nennen - daß in Berlin Björnsons gewaltigste Dramen: „Der König“ und „Ueber unsere Kraft“ zur öffentlichen Aufführung nicht die Genehmigung des Censors erhiel- 840 ten. - Vielleicht finden sich einmal im Landtage, wenn nichts wichtigeres vorliegt, einige Herren, die sich mit dem groben Unfuge der Censur, beschäftigen. Im Lande der sogenannten Dichter und Denker dürfte eine Berathung darüber ja nicht ganz unangebracht erscheinen! 845 Nun zu dir, mein werthes Publikum! Soll ich Dir sagen, was Du bist? Ich will es mit den Worten meines geliebten Fontane thun: „Das Publikum ist eine einfache Frau, Bourgeoishaft, eitel und wichtig, Und folgt man, wenn sie spricht, genau, 850 So spricht sie nicht mal richtig. Eine einfache Frau, doch rosig und frisch, Und ihre Juwelen blitzen, Und sie lacht und führt einen guten Tisch Und es möchte sie Jeder besitzen.“ 855 O mein Publikum, wenn Du wüßtest, wie wir Dich lieben und wie wir Dich hassen - je nach dem! Wie wir dich verachten und doch dich nicht entbehren können, und die, die das Gegentheil behaupten, am wenigsten. Denn du bist unser Resonanzboden und ohne dich würden unsere Töne in der Luft verhallen. Wer bist du eigentlich? Bist du das Premièrenpublikum von heute oder das 860 Auditorium von morgen oder die Hörerschaar vom Theater nebenan oder die paar verständigen Freunde, die uns aufmerksam lauschen? Jedenfalls bist du eine undefinirbare Masse und vor allen Dingen bist du eine launische Frau. Es ist ja fabelhaft, was dir Alles gefällt und nicht gefällt, und wer die Physiologie deines Geschmackes schreiben wollte, der würde vor lauter Problemen stehen. 865 Richtest du nach Schlüssen und Vernunftgründen? Nein. Nach vagen Impressionen nur und knalligen Sensationen. Heute gefällt dir Shakespeare, morgen Ibsen, dann wieder eine rüde Zirkusposse. Wahllos schlingst du alles hinunter. Darum zittern die Direktoren und Autoren vor jeder Première: denn du bist unberechenbar. Was dir gestern gefallen hat, mundet dir heute vielleicht schon nicht 870 mehr und kein Theatermensch kann mit tödtlicher Sicherheit voraussagen, ob ein Stück gefallen wird und warum. Wer bist du eigentlich, räthselhaft Ungeheuer? Also zunächst du, das Premièrenpublikum, das erwählte Volk. Denn wenn du gesprochen hast - Roma locuta - so giebt es keine Appellation mehr: das Schicksal des Stückes ist besiegelt. Du 875 weißt es, daß Leben oder Tod in deine Hände gegeben ist, darum bist du auch <?page no="200"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 200 stolz und gewichtig. Jeder Einzelne unter dir hat seinen Parkett- oder Logenplatz bezahlt - sofern er nicht ein Freibillet hat - und damit hast du dir an der Kasse wohl auch Verständniß und Urtheil erworben. Du bist an dem Tage aus geschäftlichen Gründen in ärgerlicher Stimmung - oder vielleicht waren die Hammel- 880 rippchen beim Diner zu scharf geröstet - wehe dem Stück! Vielleicht hat dir der erste Akt gefallen - aber dein Freund im Foyer, dem du vertraust, belehrt dich, daß es ganz und gar nichts war. Der zweite Akt gefällt dir wieder - aber um dich herum zischt man, und du genirst dich, deinen Beifall zu zeigen. Im dritten Akt bringt der Autor seine Meinung über Ehe und Liebe vor - es sind nicht die dei- 885 nen. Ja, was fällt denn dem Kerl ein, anders zu meinen als ich? Und kraft deines für 4,50 Mk. erworbenen Rechtes fängst du kräftig an zu zischen. Die Berliner Premièrentiger namentlich in den spezifischen Luxustheatern sind von einer unsagbaren Ruppigkeit. Im Grunde genommen geht jeder mit der heimlichen Lust im Herzen hin, ein hübsches Skandälchen zu erleben. Das giebt 890 morgen an der Börse Stoff zum Plaudern! War auch dabei! Habe auch auf dem Hausschlüssel mitgepfiffen! So amüsant ist es bei einem Erfolge nie. Es ist eben jammerschade, daß das Publikum, das literarischen Dingen noch Interesse entgegenbringt, nicht in der materiellen Lage ist, alle Premièren zu besuchen. Da möchte manches Generalurtheil anders ausfallen als das, was eine 895 Minorität von Jobbern, Sportsmen und Nichtsthuern abgiebt. „Die erdrückende Mehrheit unserer Gebildeten, wird von einem künstlerischen Ereigniß überhaupt nicht im Mindesten berührt, die Gelehrtenwelt stellt sich den Theatern durchaus ablehnend gegenüber und ich bin überzeugt, daß unter den vielen Tausenden von Studirenden, von Referendarien und Assessoren nur ein verschwindend 900 kleiner Theil von dem meistumstrittenen Dramatiker unserer Tage, von Henrik Ibsen mehr weiß, als daß er „peinliche“ Stücke schreibt. Du weißt gar nicht, mein Publikum, wie du dich von den Premièrentigern terrorisiren läßt. Aber du bist eben so selten deiner Meinung, Welches Wort soll gelten: Ist die ganze Masse dumm und der Einzelne darunter leidlich gescheit 905 oder ist jeder Einzelne ein Dummkopf und nur in corpore gescheit? Wer wills entscheiden? Es giebt für die Urtheile des Premièrenpublikums keine Regeln, es giebt nur Ausnahmen. Machst du die Moden, mein Publikum, oder machen die Dichter die Moden? Hast du dich an sozialen Konflikten müdegesehen, so legt dir ein ganz fixer 910 Knabe ein neues Muster vor und du rufst: Ja, das will ich jetzt haben. Und du bekommst Gesellschaftsdramen. Darauf historische, darauf Märchenstücke. Und so fort. Dir würden gewiß auch bessere Arbeiten gefallen, aber du bist nicht wählerisch. Du nimmst auch mit den schlechteren freudig vorlieb. Du willst dich amüsiren, mein Publikum, und du hast vollkommen recht. 915 Einmal jammerst du, daß nach des Tages Last du nur „heitere“ Sachen haben willst. Sie werden dir. Dann fesseln dich spannende Ehebruchsdramen. Dann rütteln die Kraßheiten des Weber-Dramas deine Nerven. So liebst du eben Alles, was deinen Nerven schmeichelt und sie reizt. Gewiß gefällt dir der „Faust“ - Maximilian Harden „Berlin als Theaterhauptstadt“. (Berlin 1888). <?page no="201"?> Paul Linsemann 201 seiner romantischen Handlung willen. Aber „Iphigenie“ läßt dich kalt. Die „Stüt- 920 zen der Gesellschaft“ gefallen dir - ha, wie da dem Nachbar mitgespielt wird! Doch des verstiegenen Baumeister Solneß sehnende Worte treffen dein Ohr nicht und der heilige Zorn des Weberdichters ist für dich ein Spiel: Gott, das war früher, und dazu in Schlesien. Nicht mal in Berlin. Von dem Satze: L’art pour l’art, weißt Du nichts, vom Kunstwerk selbst verstehst Du nichts - es sind immer nur 925 nebenlaufende Momente, die Dich festhalten. Für dich ist die Kunst der Vielzuvielen und die Poesie der Einsamen bleibt für Einsame. „Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft zu werden, ins Theater, und nur Wenige und diese Wenige nur sparsam aus anderer Absicht.“ 930 Das schrieb der Hamburger Dramaturg. Du bist roh und dumm, mein Publikum, das du die Kunstbarbarenstadt Berlin bevölkerst. Hol dich der Teufel - aber wir brauchen dich doch nun einmal. Dein Geschmack sinkt zum Erbarmen von Tag zu Tag, wie der deiner Theater, wie der deiner Kritiker. Ihr seid einander werth. Das Theater ist für dich kein Kunstfaktor 935 mehr. Du suchst Alles Andere im Theater: Zerstreuung oder Sensation, aber kein ernsthaftes literarisches Interesse bindet dich mehr an diese Stätte. Was ist dir die Kunst? Du kannst das Theater nicht mehr vom Wintergarten oder vom Zirkus unterscheiden. Du liebst auch das Theater nicht mehr mit Zärtlichkeit wie der Wiener, du bist 940 eben kein Stammpublikum mehr und es läßt dich kalt, ob heute Herr X. oder Herr Y. den Mephisto spielt. Wenn ein Bühnenmitglied ein Paar Monate nicht zum Auftreten gekommen ist, hast du es vergessen. Du sprichst nicht mehr von ihm. Es muß mit jeder Rolle seine Position neu vor dir erkämpfen. Heute gefällt er dir und morgen hast du ihn vergessen. Ebenso machst dus mit dem Autor. Heute 945 Hosiannah und morgen, wenn er nicht mehr so deinen Geschmack getroffen oder wenn er wirklich gefehlt hat - aufs Kreuz mit ihm! Deine Dichter sind die Girondisten, deine Kritiker die Henkersknechte und du bist die Schaar der Damen der Halle, die wollüstig grinsend zusieht, wie seine bleichen Opfer dahin zur Richtstätte geschleppt werden. 950 „Wer dem Publikum dient, ist ein armes Thier; Er quält sich ab, Niemand bedankt sich dafür.“ Das steht bei Papa Goethe. Ob das Publikum erzogen werden kann? O ja. Von den Theatern und von der Kritik. Man muß der launischen Frau nicht alle Launen nachgeben. Das ver- 955 wöhnte reiche Publikum könnte von ihrer arbeitsamen Schwester, dem Publikum im Schiller-Theater wie in den Volksbühnen lernen: wie es sich betragen und wie es genießen, wie es jauchzen und weinen, wie es von Kunstpöbel zum Kunstvolk sich bilden sollte. Das wäre gut für dich und für uns. Denn wir würden uns den Kuckuck um 960 dich kümmern, wenn wir dich nicht so nothwendig brauchten. Aber du hast wirklich keinen Grund, dir darauf etwas einzubilden. Denn es ist kein Verdienst, in der Majorität zu sein. <?page no="202"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 202 Immer und immer wieder von Neuem spielt sich in jeder Woche mindestens 965 einmal im Theater-Bureau das Vorspiel auf dem Theater aus dem „Faust“ ab. Es behält seine ewige Wahrheit. Direktor, Publikum, Geschmack - der Altmeister hat für sie die typischen Worte gewählt. Da hatte man auf den deutschen Bühnen die deutsche Harmlosigkeit. Eines Tages wollte man sie nicht mehr. Dann kamen die Franzosen und ihre deutschen 970 Nachahmer - eines Tages wurden sie wieder verabschiedet. Dann kam Wildenbruch, und man begeisterte sich wieder für Verse. Die Kritik machte natürlich alle Kursschwenkungen getreulich mit. Dann erlebten wir - man verzeihe das Schlagwort - die neue Richtung. Aber davon wollten die Leute nicht viel wissen. Die war ihnen zu trüb. Sie wollten sich den Theaterabend nicht verärgern lassen. 975 Nun bekamen wir das Märchen und die „Versunkene Glocke“ hub an zu läuten. Wie die Modemacher am Theater uns mittheilen, ist die nächste Station das religiöse Drama. Ich besitze einen Packen Berliner Zeitungskritiken. Da lese ich denn aus der Blüthezeit Blumenthals, daß man den „Tropfen Gift“ und „Probepfeil“ als die 980 Meisterwerke unserer Zeit hinstellte. Zehn Jahre später geschieht das mit der „Versunkenen Glocke“. Und die drei genannten Werke erleben an derselben Stelle in Berlin an die hundert Aufführungen. Solche Rückerinnerungen sind sehr lehrreich. Das Theater steht unter dem Gesetz der Reaktion. Haben wir uns an den Kar- 985 toffelkomödien in den Dachstuben müde gesehen, die abgehackten Sätze zum Ueberdruß gehört, so wünschen und bekommen wir wieder Verse und das Kostümstück. Siehe „Versunkene Glocke“, siehe „Morituri“, siehe „Renaissance“. Der Geschmack Berlins ist zum überwiegend großen Theil maßgebend geworden für den Geschmack der Provinzdirektoren - nicht des Provinzpublikums. 990 Der Provinztheaterdirektor nimmt selten noch ein Stück an, was nicht in Berlin seine Première erlebt - das Provinzpublikum bewahrt sich noch seine eigene Meinung und erlaubt sich ein Stück abzulehnen, worüber dann die Herren in der Berliner Presse moquant die Achseln zucken. Was, diese „Provinzialen“ wagen es, an unserm illustren Geschmack zu zweifeln? 995 Berlin ist zum Glück noch weit entfernt, Zentrale im Kunstleben zu sein und den Geschmack zu bestimmen. Es hat auch, weiß Gott, keine Berechtigung dazu. Am wenigsten hat die Provinz von der „neuen“ Richtung etwas wissen wollen, zum Kummer für deren Anhänger. Denn sie sind auch sehr für Tantièmen. Der wüste Rummel der Richtungsmacher hat in Berlin vielen den Kopf ver- 1000 dreht: Schriftstellern, Kritikern und Bühnenmenschen. Es wurde jetzt gelehrt: im Jahre 1889 mit „Vor Sonnenaufgang“ fängt die deutsche Literatur an! Da hatte man das Pendant zu dem Professor, bei dem mit Goethes Tod die deutsche Literatur aufhört! Unsere Leute wußten nichts vom Naturalisten Goethe, wußten nichts von 1005 Kleist, Hebbel, Ludwig, Anzengruber. Sie warfen alle Kunstgesetze über Bord und kamen sich mit ihrem Abklatsch einer dürftigen Wirklichkeit ganz bedeutend vor. „Selbst das mäßige Talent hat immer Geist in Gegenwart der Natur, <?page no="203"?> Paul Linsemann 203 deswegen einigermaßen sorgfältige Zeichnungen der Art immer Freude machen.“ 1010 Vom Café Kaiserhof bis zum Café Schiller kannten sie die Zeitgenossen, das „Weib“ erforschten sie von der Kellnerin bis zum Drei Mark-Mädchen - gelernt hatten sie sonst nichts, aber arrogant waren sie geworden. "Genie! Genie! “ schreien sie. „Das Genie setzt sich über alle Regeln hinweg! Was das Genie macht ist Regel! “ So schmeicheln sie dem Genie; ich glaube, damit wir sie auch für Ge- 1015 nies halten sollen.“ - Von den „Genies“ und deren Kritikern hat Lessing das gesagt. Wie sind in den Jahren die Talente und Genies wohlfeil wie Brombeeren gewesen! Sie schrieben ein Werkchen, indem sie ihr bischen Subjektivität niederlegten und dann starben die Eintagsfliegen. Wenn sie daran gingen, ein beschei- 1020 denes Segment eines Weltbildes zu liefern, war es aus. Und sie verschwanden. „Es werden jetzt Produktionen möglich, die Null sind, ohne schlecht zu sein: Null, weil sie kein Gehalt haben; nicht schlecht, weil eine allgemeine Form guter Muster dem Verfasser vorschwebt.“ So läßt sich Goethe einmal in seinen Aphorismen vernehmen, die immer noch als unsere vornehmste Aesthetik gelten kön- 1025 nen. Er hätte nicht treffender die moderne Produktion signifiziren können. Diese moderne Technik ist nämlich spottbillig. Man nimmt irgend eine berühmte Marlittgeschichte, läßt lose und lüderlich die vier Akte dahinziehen, die Leute in abgehacktem Deutsch sprechen, wie es im Leben kaum gesprochen wird, bringt recht rüde Ausdrücke hinein und verschmäht vor Allem die alten Bühnenmittel- 1030 chen nicht, die schon bewährt sind: Abendsonne, Mondschein, Musik, Glocken. Die Psychologie entlehnt man von der Birch-Pfeiffer. Die Welt dieser Autoren drang nicht aus den vier Zimmerwänden heraus, nirgends in den vier Akten war eine Perspektive, die das Zufällige, das Alltägliche in den Kreis des Allgemeinen rückt, das Typische im Besondern schafft und so 1035 das Kunstwerk errichtet. Sie waren kurzsichtig, die Herren in Berlin, und durch die materielle Decke der flüchtigen Erscheinungen vermochten sie keine treibenden Kräfte zu erschauen. Der Naturalismus, wie sie ihn verstehen, ist die Kunst des Kleinlichen, die Kunst des Reporters, der die bloßen Geschehnisse in mehr oder minder geschmackvoller Form registrirt. Aber es sind keine Künstler, seine 1040 Jünger, denn es fehlt ihnen an Weltbetrachtung, und sie vermögen nicht die Fäden aufzuspüren, die das Individuum mit der Allgemeinheit verknüpfen, nicht dem Einzelnen die allgemeine Weihe zu geben. „Den dramatischen Dichter“, um Hebbel das Wort einzuräumen, „macht vor Allem, wenigstens in der modernen Welt, die Kunst zu individualisiren, das heißt auf jedem Punkt der Darstellung 1045 Allgemeines und Besonderes so in einander zu mischen, daß eines das andre niemals ganz verdeckt, daß das nackte Gesetz, dem alles Lebendige gehorcht, der Faden, der durch alle Erscheinungen hindurchläuft, niemals nackt zum Vorschein kommt und niemals, selbst in den abnormsten Verzerrungen nicht, völlig vermißt wird.“ 1050 Es hat sich gerächt, daß die Herren die Gesetze, die das Theater schon seit Aeschylos beherrschen, so mit Füßen getreten haben. Sie sind an ihrer eigenen grauen Langenweile gestorben. Vor allen Dingen wollten sie auf die Bühne den <?page no="204"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 204 Werken Einzug erzwingen, die mit dem Theater gar nichts zu thun haben. Man kennt doch die schönen Worte: „Wozu die saure Arbeit der dramatischen Form? 1055 Wozu die Theater erbaut, Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen, wenn ich mit meinem Werke und mit der Aufführung desselben weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefähr auch hervorbringen würde? “ 1060 Beiden, den Schauspielern wie den Autoren ist der Berliner Naturalismus ein Verderben geworden. Sie sahen ihn nicht als heilsame Vorschule an, sondern als das letzte Erstrebenswerthe und so verlüderten sie sich, im Gestalten und im Sprechen. Es galt als natürlich - und war ja auch das Bequemste, uns drei Stunden hin- 1065 durch langweilige Menschen vorzuführen. Die Franzosen, die konzentrirte Lustigkeit in derselben Zeit vorsetzen, wurden als unwahr verschrieen. Ueberhaupt ging es den Franzosen in dieser Zeit schlimm. Diese Meister der dramatischen Form mußten sich von der Berliner Kritik wie Schulknaben herunterputzen lassen. Daß Alexandre Dumas, in dessen Arsenal selbst ein Ibsen seine Waffen 1070 schleifen gelernt, für das Theater und die Literatur hundert mal mehr bedeutet als die ganze Schaar der modernen Größen - diese Behauptung wird den Herren eine ruchlose Ketzerei scheinen. Und nun zeige man mir doch die Stücke, in denen die Berliner Schule ihrer Zeit den typischen Stempel aufgedrückt, man zeige mir ihre „Demi-Monde“, 1075 „Kamelien-Dame“, „Monsieur Alphonse! “ Und man nenne mir Komödien wie „Cyprienne“ und „Rabagas.“ Freilich, Dumas und Sardou sind Leute von Witz und Laune und Geist - und das gilt unsern Leuten eben als unnatürlich. Aber sie berufen sich auf Zola und Ibsen. Du lieber Gott, was die beiden Riesen mit den Knirpsen zu thun haben! Vielleicht die oder jene formalistische Ein- 1080 zelheit, die sich abgucken und nachahmen läßt, aber im Uebrigen ist die Anmaßung auf Aehnlichkeit zu grotesk, als daß ich darauf eingehen könnte. Beileibe nicht auf Gerhart Hauptmann war Alles gemünzt, was ich in dem Vorstehenden gesagt habe. Das ist ein Dichter und ein Könner und ein Bildner feiner 1085 Scenen aus dem Alltagsleben: „Einsame Menschen“; „Friedensfest“ und „die Weber“ haben uns ergriffen und erschüttert. Aber Herr Hauptmann ist ehrgeizig und so machte er sich an den „Florian Geyer“ und die „Versunkene Glocke“. Ein großer historischer und ein großer symbolischer Stoff. Doch bei beiden zeigte es sich, daß Herr Hauptmann doch nur ein kleiner Mann ist, und das Gefasele kriti- 1090 scher Freunde von „Shakespearischen und Goetheschen Einfällen“ ist blitzdumm. Sie wissen gar nicht, wie sehr sie mit diesen lächerlichen Parallelen dem Dichter schaden. „Ich kann nicht leugnen“, sagt Lichtenberg, „mein Mißtrauen gegen den Geschmack unserer Zeit ist bei mir vielleicht zu einer tadelnswürdigen Höhe gestie- 1095 gen. Täglich zu sehen, wie Leute zum Namen Genie kommen wie die Kellerassel zum Namen Tausendfuß, nicht weil sie soviel Füße haben, sondern weil die <?page no="205"?> Paul Linsemann 205 meisten nicht bis auf 14 zählen wollen, hat gemacht, daß ich keinem mehr ohne Prüfung glaube.“ Wirklich - er hat nicht mehr als 14 Füße, meine Herren, und die fehlenden 986 1100 hat Ihre Kritiklosigkeit dazu gedichtet. Bei der „Versunkenen Glocke“ bewahrheitete sich das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: jeder phantasirte da von den Schönheiten, die er gesehen haben wollte. Das feine und stille Stück „Einsame Menschen“ macht keine Kasse, diese bunte Umarbeitung aber mit den Erinnerungen an „Faust“, „Brand“, 1105 „Rosmersholm“, deutsche Märchenpoesie - diese bombastige Maskerade schafft ausverkaufte Häuser. „Man sagt wohl zum Lobe eines Künstlers, er hat Alles aus sich selbst. Wenn ich das nur nicht wieder hören müßte! Genau besehen, sind die Produktionen eines solchen Originalgenies meistens Reminiszenzen; wer Erfahrung hat, wird sie einzeln nachweisen können.“ 1110 Wieder Goethe, meine Herren! Maximilian Hardens Zeilen geben das beste Resumé des Stückes: „Ist es ungerecht, wenn man dieses künstlerisch verdunkelte Stückwerk den im hellen Tageslicht finster erscheinenden Pharus am Meere des Unsinns nennt? ...Er wollte um jeden Preis das Ungeheure schaffen, das nie Erschaute, er überschätzte die 1115 eigene Kraft und leimte mühselig ein Gedicht zusammen, das, trotz manchem feinen Gedanken, mancher zarten Stimmung und lyrischen Schönheit in seiner stillosen Mischung ältester und neuester Motive auf den gebildeten Betrachter doch wie eine widrige Barbarei wirken muß und in seiner Abscheulichkeit als das Werk eines starken und ernsten Talentes erst verständlich wird, wenn man sich 1120 Doudans Wort ins Gedächtniß ruft: C’est le rage de louvoir penser et scutir au delà des uforce.“ Die „Versunkene Glocke“ und ihr Erfolg: sie sind das prachtvollste Denkmal der Geschmacksverrohung der Kritik und des Publikums in unserer Zeit. 1125 Das Material an Schauspielern in Berlin ist das denkbar reichhaltigste. Wir haben vortreffliche Schauspieler, aber wir haben kein Ensemble, an keinem Theater mehr. Wir sehen hier und da eine gute Aufführung, aber das ist Zufallssache. In der nächsten Woche ist am selben Theater eine Vorstellung unerträglich. Das kommt daher, weil wir keine Genretheater haben, sondern weil alle Theater Alles 1130 geben - ohne die zureichenden Kräfte. Dazu kommt noch in manchen Theatern ein unleidliches Starsystem, das alle Ordnung und Banden sprengt. Und da kein Direktor weiß, was er eigentlich zu geben beabsichtigt, so engagirt er schauspielerische Kräfte, die er in seinen Kassenstücken nicht brauchen kann und die dann die ganze Saison spazieren gehen können. Oder er beschäftigt 1135 sie in Rollen, die ihrer Individualität absolut nicht zusagen. Wie ärgerlich, daß man die zusammengehörigen Künstler an den verschiedenen Bühnen nicht zusammenhat - ja, daß man - der Autor und das Publikum beklagen es - nicht einmal den geeigneten Vertreter der Hauptrollen erhält. Wie wäre es, wenn die Berliner Direktoren nach Pariser Vorbild, wenn sie doch schon 1140 einmal Kassenstücke haben, für geraume Zeit die Darsteller austauschten, die bei ihnen nicht beschäftigt sind? <?page no="206"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 206 Wieviel gutes Material liegt in einer Saison todt da! Wir haben die trefflichsten Kräfte im klassischen und modernen Fach, wir haben die genialsten Tragiker und Komiker und wir haben glänzende Episodisten 1145 und äußerst verwendbare Schauspieler - aber sie wirken eben getrennt. Dabei wird natürlich leichter ein modernes als ein klassisches Stück herausgebracht, denn es ist fabelhaft, wie die naturalistischen Genies aus der Erde schießen. Es genügt in Berlin schon, die Hände in den Hosentaschen zu tragen, keine Bewegungen zu haben und lüderlich zu sprechen, um als Natürlichkeitskünstler zu 1150 gelten. Im andern Falle nennt man den Schauspieler von herrlichem Organ und stolzen, schönen Linien, wie Matkowsky, opernhaft. Die Plattheit liegt den Herren, die ja von Schauspielerei so wie so nichts verstehen, am nächsten. Unsere Schauspieler - ich betonte das schon vorhin - haben es schwerer als ihre glücklichen Wiener Kollegen. Sie haben hier ein gleichgültiges Publikum und 1155 eine unverständliche Kritik. Es kann in Wien nicht vorkommen, daß man eine akkreditirte Kraft einfach bei Seite schiebt, aus diesen oder jenen Gründen. Das Publikum hält eben fest an seinen Lieblingen. Ist es nicht toll, daß ein Künstler, wie Georg Engels, kein seinen berechtigten Forderungen angemessenes Engagement in Berlin bekommt und seine beste Kraft 1160 auf aufreibenden Gastspielen in der Provinz verzetteln muß? Ist es nicht toll, daß ein Mann wie Matkowsky, der genialste und unvergleichlichste Schauspieler der ganzen deutschen Bühne, nachdem er schon zehn Jahre hier wirkt, sich Kritiken gefallen lassen muß, wie ein mäßig begabter Anfänger, daß Leute, die nicht werth sind, ihm die Schuhriemen zu lösen, wie Halbgötter 1165 neben ihm gefeiert werden? Für den Kenner ist immer Feiertag, wenn er diesen Künstler sieht. Es ist, als ob ein ahnungsvolles Rauschen seine Seele durchbebt, das im Klang seiner Stimme endet. Es ist, als ob in unsre Zeit kleinen und kleinlichen Empfindens ein Sturmwind riesiger Leidenschaft hineinbraust, als ob titanische Lüfte und Kräfte in 1170 seinem Leibe sich regten. Ein lachender Held steht vor uns, der von sonniger Höhe herabgeschritten ist, der uns, ein gottgeborener Prophet, künden und deuten soll das Vergangene, das Gewaltige, das Größte, wie es in der Seele der Träumenden in sieghafter Schönen [sic! ] lebt. Darum hassen ihn auch die Epigönlein. Er ist ihnen nicht gegenwärtig genug, 1175 ist zu gewaltig und zu groß. Mit der kurzen Elle ihres armseligen Alltagsempfindens können sie ihn nicht messen. Das macht sie ärgerlich und sie finden ihn unnatürlich. Da lieben die Gründlinge im Parterre mehr den Gesellen, der „die Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen zerreißt.“ Das nennen sie einen denkenden Künstler und finden es interessant und originell, wenn er den 1180 Shakespeare in rechte Lumpen zerrissen. In Berlin, wo vor und seit Nicolai der seichte Rationalismus immer noch herrscht, hat man in den Jahren, die Matkowsky hier wirkt, das dümmste Zeug über ihn lesen und hören können. Und diesem letzten der Mohikaner haben die Bleichgesichter soviel vorgeschwatzt, daß ein Anderer ängstlich leicht zu ihrer 1185 gepriesenen Kultur sich bekehrt hätte. Er aber lachte in einsamer Größe ihrer und blieb ein trotziger Recke. Und das ärgerte doch Viele in der Kunststadt Berlin. <?page no="207"?> Paul Linsemann 207 Es klingt wie ein Märchen, daß er noch heute um seine Rollen kämpfen muß, die er für sein Leben gern spielen möchte, daß wir nach zehn Jahren endlich seinen Coriolan bekommen haben, - mit Hängen und Würgen - im Mai! Und doch 1190 hat er durch seine Leistung dem Stück, das 22 Jahre lang im Hoftheater nicht war, zu einem ungemeinen Erfolge verholfen! Dafür kann er aber in der Wintersaison die faulsten Liebhaberrollen spielen und in seiner freien Zeit gastiren, da seine Gage bis jetzt für einen Künstler von seiner Bedeutung herzlich unbedeutend war. 1195 Und von seiner Kollegin, der prachtvollen Frau Paula Conrad ist gar nicht mehr die Rede. Sie, die beste Lustspielsoubrette in Berlin, der humorsprühende Kobold mit den schelmischen Augen, sie kann z.B. zusehen, wie eine öde Routinière ihr den Puck, ihr Meisterstück vorspielt. Und Fräulein Haverland, die edelste tragische Mutter, wird nach jahrelanger 1200 Pause neulich wieder - ganz zufällig, im „Coriolan“ entdeckt. Das ist nämlich in Berlin furchtbar drollig, dieses Entdecken. Fräulein Else Lehmann ist schon dreimal entdeckt und dreimal wieder vergessen worden: immer, wenn sie wieder eine ihrem Temperamente zusagende neue Rolle spielte, war sie die große Schauspielerin. 1205 Nach einer solchen ihr liegenden Rolle kann sie dann einige andere spielen, die ihr gar nicht zusagen oder die sie auf den Kopf stellt: es macht nichts, sie ist eine Zeitlang en vogue, und ein possirliches Herrchen, das ein Mitläufer im Entdeckungssport ist, kündet uns im Pathos und schlechtem Deutsch von der „einzigen“ Schauspielerin in Berlin. 1210 Das neue und dankbare Rollen-Spielen ist wie gesagt das ganze Geheimniß der Schauspielerei in Berlin. Dem verdanken auch die Damen Butze und Petri ihr Renommee. Frau Petri als Nora und Alma (in der „Ehre“) - ja du lieber Himmel, so was gabs doch gar nicht mehr in Berlin! - Vergessen nach zwei Saisons! Das Staunen in den Blättern bei diesem gelegentlichen Wiederfinden hat ja 1215 denn auch etwas fabelhaft Komisches! Ach, was haben die Herren doch für ein kurzes Gedärm! Es kann sich auch ereignen, daß einem Blatt ein Kritiker bescheert wird, der von Berliner Theatergeschichte keine Ahnung hat. Da lasen wir denn eines Tages in einem namhaften Blatte von der Entdeckung, die ein neu engagirter Rezensent 1220 verübte. Sie betraf die uns schon seit sechs Jahren bekannte Frau Sorma! - Im Deutschen Theater finden wir die besten von unseren modernen Schauspielern, die dort ihre Kräfte falsch oder gar nicht bethätigen können. Herr Reicher, der die Menschen in gedrückter Athmosphäre am Feinsten giebt, sehnt sich nach seinen ehemaligen Fleischtöpfen am Residenztheater, und kommt einmal eine 1225 Rolle für ihn, so spielt sie nach der Weisheit des Herrn Brahm entschieden ein Anderer. Herr Nissen ist der geborene Vertreter für die breitschultrigen, gesunden niederdeutschen Männer mit dem behaglichen Lachen und den fröhlichen Augen. Das Herz muß einem Lustspieldichter bei diesem Manne aufgehen. „Wenn solche Köpfe feiern - wieviel Verlust für meinen Staat.“ Und Herr Sauer, 1230 der elegante Führer der Konversation, der Typus des preußischen Aristokraten und Reseverlieutenants in seinen angenehmen und unangenehmen charakteristi- <?page no="208"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 208 schen Eigenschaften: er kann den Casca im „Cäsar“ spielen und den Marquis in Blau (in Sudermanns „Ewig-Männlichem“). So gehen unsern Schauspielern gute und reife Jahre verloren. Sie verärgern und verbittern sie. 1235 Oder sie müssen Glück haben, sie müssen gute Konjunkturen ausnützen, wie die Damen Poppe und Sorma, wie Herr Kainz und Herr Rittner, was dann freilich auch den Schaden für die Betreffenden selbst involvirt. Fräulein Poppe ist am Hoftheater jetzt Alles, zumal ihr keinerlei Konkurrenz auf dem Terrain erwächst. Sie spielt Heroinen, Sentimentalen, Salondamen, Nai- 1240 ven - was es nur Gutes und Theueres giebt. Daß eine Schauspielerin unmöglich all das gut spielen kann, liegt auf der Hand. Organ und Gestalt befähigen sie für das Heroinenfach, und in ihm hat sie ihr Bestes geleistet. Lady Milford, Medea und Kriemhild: das waren Leistungen in großen Zügen. Nun aber, da sie auch die anderen Rollen spielen will, quält sie sich in ihr nicht zusagende Individualitäten 1245 hinein, was dann für den Kunstfreund eine ärgerliche Sache wird. Und da es hier mit eignen Mitteln nicht geht, so legt man sich aufs Adaptiren. So entsteht ein gräulich manirirter Stil, den sie leider auch auf ihre Heroinenrollen überträgt, die sie bei Weitem nicht mehr so gut spielt wie früher. Aber Niemand ist da, der ein reichhaltiges Talent von der irrigen Bahn zurückführt auf die einfachen Wege der 1250 Kunst. Und nun kommt der Humor: früher gefiel Fräulein Poppe nur Wenigen und sie wurde oft kühl betrachtet, jetzt aber liest man nach den mißlungensten Rollen die größten Hymnen auf sie. Bei diesen falschen Freunden wird sie sich eines Tages schön bedanken! Bei Frau Sorma liegt die Sache nicht ganz so, obwohl sie sich auch in Rollen 1255 versucht, mit denen sie nichts zu schaffen hat. Sie beneiden sämmtliche Schauspielerinnen, denn eine Stellung wie sie hat noch keine Dame je in Berlin gehabt. Sie ist die „Nebenregierung“ im Deutschen Theater. Sie hat zunächst eine Gage, wie sie wohl schwerlich je wieder gezahlt wird, sie kann die Stücke und die Rollen auswählen, die sie spielen will, sie giebt ihr Votum bei der übrigen Rollenbe- 1260 setzung ab, sie spielt wann sie will und so oft sie will, für die Abende, da ihr nicht aufzutreten beliebt, muß das Publikum mit einer recht minderwerthigen Kraft vorliebnehmen, sie kommt zu spät auf die Proben oder sie macht, das ist vorgekommen, nur die drei letzten Proben mit! Daß solch ein Star-System die vollständige Disziplinlosigkeit herbeiführt, liegt auf der Hand. 1265 Aber für Frau Sorma und Herrn Kainz werden jetzt die Stücke ausgesucht. Ueber die großen künstlerischen Qualitäten der Beiden brauche ich wohl kein Wort zu verlieren. Frau Sormas Rautendelein und ihre Nora, um nur zwei Rollen zu nennen, spielt ihr so leicht keine nach, und Herr Kainz hat für die nervösen, zerrissenen Menschen (der König in der „Jüdin von Toledo“, um das signifikan- 1270 teste Beispiel zu nennen) die feinsten Laute. Auch daß er ein Sprachvirtuos ist, ist zur Genüge bekannt. Vom Starsystem wird noch einmal die Rede sein: hier nur eins. Die Stars machen es nicht allein. Sie müssen auch das nöthige Material haben. Zwei Jahre schon waren unter der neuen Direktion Frau Sorma und Herr Kainz 1275 da: aber erst diese Saison, die „Morituri“ und „Versunkene Glocke“ brachte, hat der Direktion die großen materiellen Erfolge geschafft. Denn um eines Schau- <?page no="209"?> Paul Linsemann 209 spielers Kunst geht kein Mensch in Berlin ins Theater: er will auch ein Stück dazu haben, von dem alle Welt spricht, sei es klassisch oder modern. Wenn es nur in Mode ist. 1280 Denn Berlin ist ja eine Kunstbarbarenstadt. Wie kommt es sonst, daß, wenn die größte Schauspielerin deutscher Zunge, Hedwig Niemann-Raabe von Zeit zu Zeit uns wieder beglückt, die Häuser noch manche Lücken haben, selbst wenn sie eine neue Rolle wie die Madame Sans Gêne bringt? Das Stück war abgespielt, man hatte es gesehen! Daß aber sie zum ersten Male die wirkliche Madame Sans 1285 Gêne brachte, die vorher von einer wohlsoignirten Dilettantin gegeben war - das macht nichts in Berlin. Im Gegentheil: Manche mochten die erste doch für viel pikanter halten. - Ich nannte Herrn Rittner. Er ist ein Produkt des Geschmacks der Freien Bühnenlaute. 1290 Die Theaterfremdlinge geriethen bei den Aufführungen der Freien Bühne immer in namenloses Erstaunen, wenn sie in dieser und jener Rolle von irgend einer Possen- oder Operettenbühne einen Darsteller sahen, von dem sie nie was Besonderes gehalten und der sie jetzt verblüffte. Nein, wie sieht der Mensch aus! Und wie natürlich spielt er! Wirklich wun- 1295 derbar! Daß diese Kleinkunst recht einfach ist und aus billigen Mitteln sich bestreikte, wußten sie und die Kritiker natürlich nicht, auch nicht, daß sie schon immer da war. Sie hielten sie einfach für eine Inspiration der Freien Bühne, mit deren Gründung für sie überhaupt das moderne deutsche Drama anfing, ja auch die deutsche Schauspielerei! Hier konnte man natürlich spielen sehen. Als ob ein 1300 Matkowsky, ein Engels oder ein Baumeister „unnatürlich“ spielten! Daß es unvergleichlich schwerer ist und seltener, den Faust oder den Hamlet gut zu spielen als einen Schnapsbruder oder Bauernburschen, daß Shakespeare schwerer zu sprechen ist als die „ick“ und „det“ Sprache - solche Erleuchtung darf man in Berlin nicht voraussetzen. Es wird Alles hier mit demselben Maaße 1305 gemessen. Daß ein Werthunterschied in der Darstellungskunst der „Weber“ und des „Faust“ liegt, der ebenso groß ist wie der der genannten Stücke selbst - dieses feine Unterscheidungsvermögen darf man hier zu Lande nicht erwarten! Daß die naturalistische Schauspielerei kinderleicht ist und einem nicht ungeschickten Dilettanten ebenfalls eingedrillt werden kann, die Kunst, wo man nicht 1310 viel zu lernen hat und die eine spottbillige Technik hat, wo sämmtliche Fehler zu Vortheilen werden, will man trotz vieler Enttäuschungen auch heute noch nicht einsehen. Als Herr Rittner vor sechs Jahren kam, verblüffte seine gesunde Ursprünglichkeit. In ihm schien gutes Material zu stecken. Nun erhielt er die schönen Rol- 1315 len: den Hans in der „Jugend“ und den Moritz Jäger in den „Webern“, wo er seine Persönlichkeit ausspielen konnte. Er brauchte da nichts zuthun und nichts wegnehmen. Er war da das Mittelwesen zwischen Junge und Jüngling, er war der trotzige verärgerte und auftrampfende Bauernbursch. Herr Rittner ist geblieben, was er war. Er hat nichts gelernt und nichts vergessen. Sein Rollenkreis ist un- 1320 endlich klein, und macht er einen Schritt heraus, spielt er einmal den Ferdinand in der „Kabale und Liebe“ so passirt ein Malheur. Man sieht da seine hölzernen <?page no="210"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 210 Bewegungen, er weiß mit den Armen nichts anzufangen, er hat nur verbissene Wuth und keine große Leidenschaft und er hat eine lüderliche Sprache. Seine Freunde nannten das den Schiller „realistisch“ spielen! Als ob, um auf den Un- 1325 sinn einzugehen, nicht jedes Stück in dem ihm eigenen Stil gespielt werden muß. „Unsere Schauspieler“, um ein Goethesches Wort zu gebrauchen, „wissen nichts mehr von Kunst, von Handwerk haben sie gar keinen Begriff; alles beruht noch auf dieser und jener Individualität.“ Herrn Rittner sind seine Freunde gefährlich geworden: was er auch spielt, sie finden es meisterhaft, für sie ist er der Favorit- 1330 Schauspieler. Herr Brahm hat sich einst die unsagbar dumme Phrase geleistet: Rossi: Herbst, Reicher: Sommer, Rittner: Frühling der Schauspielkunst. Vielleicht besinnt sich Herr Rittner eines Tages auf sich selbst. Er sehe seinen Kollegen Herrn Jarno an, wie der sich entwickelt hat, der bei seinen Anfängen in schlechter Wienerischer Art den Tewele nachahmte. Was ist aus Herrn Jarno für 1335 ein vielseitiger, in allen Sätteln gerechter Schauspieler geworden. In tragischen und komischen Rollen, als Gustav in den „Gläubigen“, als Kaplan in der „Jugend“, als Wiener Tadedel oder Pariser Bonvivant - stets wird er eine interessante Leistung bieten, die von Talent und ernster Arbeit kündet. Vom alten Iffland, der doch auch vom Theater Einiges verstand, möchte ich 1340 einige Zeilen zur Beherzigung hierhersetzen. Er spricht da von dem natürlichen Spielen. „Sie erzählen ihre Reden hintereinander her, achten wenig oder gar nicht, was neben ihnen vorgeht, und haben, in der Regel, alles mit bloßem Sprechen abgethan. Hierüber kann für den Haufen eine Art von Täuschung stattfinden, so lange der 1345 Jüngling die Jugend darstellt. Aber wenn dieser Zustand mit den Jahren aufhört und nun die Darstellung von Menschen mit Listen, Leidenschaften, Gewohnheiten und Charakteren eintritt - was wird dann? Hier gilt nur Studium, Talent, Beobachtung, Kenntniß und Fertigkeit in mannigfachem Ausdruck.“ Er spricht von den Bauernburschen-Rollen: „Angehenden Künstlern werden die 1350 Knappen, Ritter und Bauernburschen-Rollen mehrentheils früh verderblich. Indem sie in den breiten, gerade hinausfahrenden, oder drolligen Reden den Wohlmuth ihrer Jahre sorglos daher plaudern können, gewinnen ihre Bewegungen ein zwangloses, auch wohl kräftiges Wesen. Sie überraschen damit Andere und sich selbst. Die Zuschauer sind erfreut, ein frisches Leben aufgehen zu sehen, 1355 und lohnen in ihrer Zufriedenheit gewöhnlich mit freigebigem Beifalle das Wagestück des kecken Hervorgehens. Dies ist eine gefährliche Klippe, an welcher schon mancher junge Schauspieler gescheitert ist... Die jungen Ritter, Knappen und Bauernbu[r]schen gleichen sich mehr oder minder nur gar zu sehr. Sie veranlassen eine Einseitigkeit der Haltung, eine Vernachlässigung der Sprache, der 1360 Bewegungen, und verleiten, aus mißverstandener Darstellung von Kraft, zu einer Derbheit, die endlich in Plumpheit und Rohheit ausartet.“ Des Iffland dramaturgische Schriften sind doch recht lesbar. Der Schauspieler, der Dramaturg und der Regisseur, ja sogar der Berliner Kritiker kann aus ihnen manches kluge Wort lernen. 1365 <?page no="211"?> Paul Linsemann 211 Ueber Schauspielerei, ich kann es nicht oft genug wiederholen, herrschen in Berlin die konfusesten Ansichten. Sehr lehrreich war dafür das Gastspiel der Frau Duse, von der Maximilian Harden, und die Adelaide Ristori die feinsten Analysen geboten haben. Was ist über die Duse, die virtuoseste Technikerin, für ein Unsinn zusammengeschrieben worden! Sie war für Berlin einfach das Alpha und 1370 Omega jeder Schauspielkunst. Daß sie zunächst nur, nun schon seit fünfzehn Jahren, mit demselben halben Dutzend Rollen vom gleichen Kaliber reist, genirte nicht weiter in den kritischen Duseleien. Daß sie in jeder Rolle immer dieselbe interessante Frau Duse ist, daß sie in einer unbeträchtlichen Truppe immer in der Mitte der Bühne steht und alles 1375 auf sich konzentrirt: das schien man nicht zu bemerken. Es war Nervenkunst, es war geistreiches Raffinement, es waren reizvollste Sensationen: aber es war keine große Kunst. Es gilt ihr des Cabanis Wort, der ein Freund Condo[r]cets war: Les nerfs - voilà tout l’homme. Man konnte von ihr lernen, sehr viel lernen. Manche Berliner Schauspielerinnen befolgten das, indem sie sie kopirten: und diese Duse- 1380 Kopien waren nun gar gräulich! Aber eine ungeheure Reklame ging ihr voran, der Parkettplatz kostete zehn Mark, die italienische Sprache erschwerte das Verständniß - kein Wunder, daß es bald zum guten Ton gehörte, in die Duse-Verhimmlungen mit einzustimmen. - Auch mich hat Frau Duse verblüfft, auch ich habe Herrn Rittner zärtliche 1385 Worte gegeben: aber ich meine, man sollte mit der Zeit Einiges durch vergleichen lernen. Da Irren noch immer menschlich ist, so ist ein kräftiges Apostatenthum noch allemal besser als ein eigensinniges Verharren in überwundenen Wahrheiten. Und ich preise mir das Bekenntniß Wilhelms von Humboldt: "Ich halte gar 1390 nichts daran, in seinen Grundsätzen, Meinungen und Empfindungen so ein für alle Mal abgeschlossen zu sein, und zu denken, daß das nie Alles darin so recht wäre, weil man es so lange dafür gehalten hat. Ich prüfe vielmehr immer alles aufs Neue und würde es keinen Hehl haben, wenn auch das, woran ich sehr gehangen hätte, mir plötzlich anders erschiene.“ 1395 Ich muß hier einige der Sätze hinschreiben, die die Ristori über Frau Duse sagte. Denn das Wesen der Schauspielerin ist darin doch so wundervoll getroffen, daß man nichts Besseres leicht sagen dürfte: „Frau Duse hat das seltene Verdienst, sich eine eigene und jedem Betrachter sofort auffallende künstlerische Physiognomie geschaffen zu haben, da die Künstlerin es 1400 verstand, sogar ihre physischen Mängel für sich auszunützen und so Effekte zu erzielen, welche neu sind oder neu scheinen, jedenfalls aber beim Publikum den Eindruck der Neuheit hervorrufen. So wie Frau Duse nun einmal ist, bewundert man sie mehr mit dem Verstande, als daß man ihre Kunst im Herzen spürt; sie ist eine Künstlerin, die sich aufzwingt, das Publikum knechtet und dem Zuschauer 1405 ihre nervöse Ueberreizung mittheilt, so daß man auch noch lange nach der Vorstellung von ihr beherrscht ist… Die Duse ist eine Schauspielerin von großer Begabung, von scharfem Verstande und großer Eigenart, aber sie ist deshalb noch nicht die Künstlerin der Wahrheit, als welche sie einige gar zu heiße Verehrer ausrufen. Die Kollegin hat aus sich allein ihre „Manier“ geschaffen, sie schuf sich auch 1410 <?page no="212"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 212 einen ihr allein gehörenden „Konventionalismus“, Schöpfungen, durch die sie eine andere Frau wurde mit all deren Krankheiten, Hysterie, Anämie und Neurose mit den daraus entspringenden Zuständen, kurzum die Frau fin de siècle; kluger Weise hat sie auch in ihren Rollenkreis nur die Typen der modernen Anormalen aufgenommen, deren Schwäche, Phantasterei, Stimmungswechsel, deren Leiden- 1415 schaftsausbrüche und deren matte Lebensmüdigkeit ihr liegen, - gehen Sie doch die Liste durch von Marguerite Gautier und Fedora angefangen bis zu Magda und Fracillon[.] Der Hauptfehler der Duse ist aber der, daß sie in allen Rollen sie selbst bleibt; ich gebe ja zu, daß sie, um die Typen der verschiedenen Rollen zu absorbiren oder sie in ihre eigene Individualität hineinzugießen, soviel Geist, Mühe und 1420 Studium braucht, als ich in meinen mehr oder weniger gelungenen Versuchen aufwenden mußte, um mich selbst in die verschiedensten Rollen und oft die entgegengesetztesten hinein zu tragen, um die Künstlerin hinter der dargestellten Heldin verschwinden zu lassen - und eben deshalb bewundere ich Eleonore Duse und deshalb preise ich ihr Verdienst.“ 1425 Von den lehrreichen Aufführungen möchte ich noch die der „Jugend“ nennen. Man nannte sie mit Recht eine Musteraufführung. Daß aber die Jugend das leicht zu spielendste Stück par excellence ist (bis auf die Rolle des Kaplans) das wurde wenigen Herrschaften klar. Es giebt so leicht kein schlechtes Annchen und Hanschen und Amanduschen. Ich habe verschiedene Aufführungen des Stückes ge- 1430 sehen: ich habe stets diese Beobachtung gemacht. Das Annchen spielte bei der Première eine Dame, deren schlechtes Deutsch und kümmerliches Spiel seit Jahren in Berlin bekannt war. Sieh da! Ein Talent, mit einem Male, über Nacht! Sofort wird sie ans Königliche Schauspielhaus engagirt. Seit drei Jahren hat sie aber nicht Gelegenheit genommen, noch einmal ihr Talent zu zeigen! „Diese Sachen spielen 1435 sich selbst, und wer sie zuerst spielt, ist ein Roscius und ein Garrick,“ sagt der Altmeister Schröder. Aehnliches passirt in Berlin alle Augenblicke, aber das genirt die kritischen Radamantusse nicht! Morgen haben sie ja ihre Entdeckungen von heute doch wieder vergessen und kümmern sich nicht weiter darum. Aber immer wird so ein 1440 Talent mit Dithyramben angekündigt, die Backen werden so voll genommen, daß die Worte wirr aus dem Munde purzeln, und stammelnd wird uns erzählt, daß man nun gestern wieder etwas gesehen habe, was noch nicht da war. - Ephemere Größen und ephemerer Ruhm! Aber die Herren wollen und können nichts lernen! 1445 Ich darf die Modedamen nicht vergessen. Sie haben zwar mit der Kunst nichts zu thun, aber leider mit dem Theater sehr viel und sie sind viel schädlicher als man gemeinhin glaubt. Zunächst ihre Entstehung. Eines Tages sagt Fräulein Irma, die kleine Freundin des Kommerzienraths X.: „Weißt Du, ich langweile mich.“ X. fühlt sich dadurch nicht beleidigt, denn Irma 1450 ist ihm als kapriziös bekannt. Er denkt sich, es wird ihm ein paar Brillantboutons kosten, aber Irma will höher hinaus. Sie sagt ganz einfach: „Ich möchte zum Theater. Der Direktor Y. ist doch Dein Freund, sprich doch mal mit dem. Was seine Mädchen da können, das kann ich auch.“ Und das Engagement kommt zu Stande. Die Gage besteht in einer Scheingage: der Kommerzienrath bezahlt dem 1455 <?page no="213"?> Paul Linsemann 213 Direktor 200 Mark, die dieser prompt am Ersten Fräulein Irma aushändigt. Sie darf in Salonstücken mitstatiren und erregt durch ihren schönen Wuchs und kostbare Toiletten immerhin einiges Aufsehen. Im nächsten Jahre kriegt sie schon Rollen von ¼ Bogen, hie und da wird sie schon in einem Blättchen erwähnt. Und ehe drei bis vier Saisons ins Land gegangen sind, ist sie schon wer! Die Kritiken 1460 besprechen sie ernsthaft, sie reißen sie oder loben sie (statt sie todt zu schweigen). Sie hat ihre Equipage, sie ist auf allen Rennen und Bällen, sie giebt Soupers, bei denen auch Herren der Kritik nicht fehlen, auf den Pressebällen ist sie vielumworben, die Blätter berichten über ihre kostbaren Brillanten, die den armen Schmocks sehr zu imponiren scheinen, diese Denkmäler der Schande. Nach und 1465 nach steigt sie immer höher, sie kauft mit dem Direktor Stücke zusammen (sie war geschäftlich immer sehr klug) - und eines Tages gehört sie zu unsern „Lieblingen“. Sie hats erreicht! Nicht alle werden das. Aber die Zahl der Freuden-Mädchen, die ein Schein- Engagement annimmt, um vor der Polizei eine Deckung zu haben und um das 1470 Geschäft in größerem Stile zu betreiben, ist ganz erheblich. Denn das Theater, das lockt immer! Und Herr X. ist furchtbar stolz, wenn er mit seinen Freunden in der Loge sitzt und sagen kann: Paßt mal auf - jetzt kommt meine Kleine! So steigert das Theater den Marktwerth. Der Direktor reibt sich schmunzelnd die Hände, er hat da schönes Fleisch in 1475 schöner Garnirung! Er hat so und so viel kleine Gagen gespart, wodurch natürlich ebenso vielen anständigen Mädchen beim Theater das Brod weggenommen wird. Diese kleinen Mädchen mit den großen Brillanten und kleinen Gagen und noch kleineren Talenten haben auch den Toilettenluxus aufgebracht. Wenn sie in 1480 Roben von 800 bis 1000 Mark angerauscht kommen, so kann im gleichen Stück die erste Liebhaberin nicht im Kattunkleidchen erscheinen. Sie hat, sagen wir, 400 Mark Gage und ist ein anständiges Mädchen. Kommt sie in bescheidenem Kostüm, so erhält die nächste Rolle schon eine Andere, auch wenn sie weniger kann, und der Direktor sagt bedauernd: Ja, mein Fräulein, wenn Sie keine Toiletten 1485 machen, kann ich Ihnen eben nicht solche Rollen geben. Haben Sie denn keinen Liebhaber? Wer nicht eine starke und vornehme Natur ist, den drängt das Theater eben zur Unsittlichkeit. Ich erzähle hier Thatsachen und keine Märchen. Da sitzt nun unsere Liebhaberin zu Hause und näht sich die Finger wund, um das Kostüm 1490 billiger zu haben, oder sie macht Schulden bei der Schneiderin (die dann natürlich die Preise um 40-60 Prozent aufschlägt.) Die Herren schaffen sich von ihren 300-400 Mark monatlich in der Saison ein paar Anzüge an, die sie ja auch außer der Bühne verwerthen können, die Dame muß für die gleiche Gage historische und moderne Kostüme besorgen, die sie wirklich in ihrem Privatleben nicht 1495 gebrauchen kann. Welche Ungerechtigkeit! Allein die Hoftheater und das Schiller- Zu diesem Kapitel der wirthschaftlichen Lage der Schauspieler möchte ich auf die Brochüre Dr. Paul Schlenthers „Der Frauenberuf am Theater“ hinweisen. (Berlin, R. Taendler.) brauchen kann. Welche Ungerechtigkeit! <?page no="214"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 214 theater stellen den Damen die historischen Gewänder. Sie wohnt in einem elenden Miethszimmerchen und ißt alle Abende ihre zwei Butterbrode, während sie in der Garderobe gehört hat, daß Fräulein Z. heute Abend zu Borchardt geht. Und im Sommer fährt Fräulein Z. nach Ostende oder Interlaken, und sie kann an einer 1500 kleinen Sommerbühne mit 120 bis 150 Mark ihr Leben fristen. Sie müßte keinen Tropfen Blut mehr in den Adern haben, wenn sie es nicht erbitterte und empörte, wie der Direktor Fräulein Z. feiert (denn Fräulein Z. hat eine gute Küche und ihre Freunde kaufen in der Saison so und so viele Logen). Und unsere Aermste wird gedemüthigt und zurückgesetzt, und in den Blättern steht dann noch, daß „sie 1505 und Fräulein Z. gestern wieder sehr nett gewesen seien. Namentlich erregte Fräulein Z. wieder durch die Pracht ihrer Toiletten allgemeines Aufsehen.“ Man muß als Mädchen bei der Bühne einen felsenfesten Muth, einen starken Willen und einen wahnsinnigen Glauben haben, um in der miasmatischen Luft des Theaters nicht umzukommen. All die Demüthigungen und Beleidigungen, 1510 die Kabalen und Gemeinheiten und oft die materielle Noth: sie sind größer, als sie sonst eine Frau im Leben zu erdulden hat. Daneben soll sie aber noch Künstlerin bleiben! Man soll Abends bei Laune sein, sonst ist das Publikum sehr ungnädig. Denn das Publikum hat sich ja nicht zu kümmern um all das, was vor sieben Uhr Abends lag. 1515 Einer wichtigen Institution sei hier noch gedacht, das ist die der Theateragenten, über die schon oft und viel, Falsches und Richtiges geschrieben wurde. Manche Hitzköpfe wollten sie aus der Welt schaffen, aber das ist gar nicht möglich. Denn sie sind für Autoren wie für Schauspieler gleich wichtig, da man nicht alle Ge- 1520 schäfte selbst abmachen kann oder will, also eines Mittelsmannes bedarf. Aber daß solche Mittelsmänner oft hinderlich in den Weg treten, dafür sind hundert und mehr Fälle. Da schließt z.B. der Direktor X. nur durch einen Agenten Y. ab. Er braucht ihn für alle seine geschäftlichen Schiebungen, wenn er Mitglieder bekommen, wenn 1525 er sie los werden will. Fräulein Z. möchte nun gern an dieses oder jenes Theater. Sie wundert sich, daß sie, die doch nicht zu den Schlechtesten gehört, absolut dort kein Engagement bekommen kann. Kein Wunder! Herr Agent Y. hat seine „Lieblinge“ bei der Hand, die zwar talentlos sind, die er aber immer wieder den Direktoren aufzuschwatzen versteht und von denen er seine reichlichen Douceurs 1530 erhält, die zehn oder zwanzigfach so hoch sind als die fünf Prozent, die er von Fräulein Z. bekäme. Und die Direktoren fallen immer wieder auf den Schwindel rein. Da sieht es eben bedenklich aus mit dem ehrlichen Maklerthum! O, die Agenten verstehen auch Gastspiele zu machen! Da treiben sich jahrelang an Provinzbühnen Damen als Gäste herum, an denen außer ihren Brillanten 1535 und ihrer Talentlosigkeit nichts auffallend ist. Aber sie bekommen immer wieder die Gastspiele, dank ihren Agenten und ihrem großen Portemonnaie. Und was das Schlimmste ist: nicht einmal die rechtliche Stellung des Schauspielers und der Schauspielerin ist eine gesicherte. 1540 <?page no="215"?> Paul Linsemann 215 Die Theaterkontrakte gleichen solchen, die zwischen einem Plantagenhalter und einem Kuli gemacht werden: der Theaterdirektor hat alle Rechte, das Mitglied alle Pflichten. Das ist genau in fünfzig Paragraphen aufgestellt. Nimmt das Mitglied nun eine Star-Stellung ein oder steht es sonst mit der Direktion gut, so hat es mit dem Kontrakt nichts weiter auf sich. Im andern Falle 1545 wird jeder Paragraph zur Schlinge, in der man das Mitglied fangen kann. Das Mitglied hat, sagen wir, einen dreijährigen Vertrag, den der Direktor in jedem Jahre kündigen kann. Aber nicht das Mitglied! Wenn der Direktor es aber darauf anlegt, kann er das Mitglied nach acht Tagen aus dem Engagement treiben. In den Verträgen werden bekanntlich die Herren und Damen als Schauspieler 1550 und Schauspielerin ohne Angabe des Faches engagirt. Wie herrlich kann man da Jemanden chikaniren, den man los werden will. Entweder man beschäftigt ihn gar nicht, um ihn künstlerisch auszuhungern. Wir sagten es schon, daß dadurch ein Schauspieler in Berlin entwerthet wird. Oder man giebt ihm lächerlich kleine Rollen. Oder man giebt ihm verkehrte Rollen, die ihn künstlerisch schädigen. Will 1555 er sich das nicht gefallen lassen: gut, so kann er gehen. Oder schickt er solche Rollen zurück: gut, so wird er sofort entlassen, oder kontraktbrüchig erklärt. Es giebt ja freilich ein Bühnenschiedsgericht, aber das hat schon allmählich ein Renommee erlangt wie das selige Reichskammergericht. Was sagen Sie zu dem famosen Heirathsparagraphen? Wenn ein weibliches 1560 Mitglied heirathet, so hat der Direktor das Recht, den Vertrag sofort zu lösen. - Ich will Ihnen einen Fall erzählen. Eine Schauspielerin will heirathen und theilt dies dem Direktor mit, der ihr erklärt, daß er ihrer Verbindung nichts in den Weg lege. Das Paar begiebt sich auf die Hochzeitsreise, und der Direktor verlangt, der Ordnung wegen (! ), eine schriftliche Anzeige. Zwölf Tage später „besinnt“ er sich 1565 anders und ertheilt ihr die schriftliche Kündigung. Das Paar muß aus dem Salzkammergut nach Berlin zurückreisen und seinen Rechtsbeistand mit einer Klage beauftragen, daß das Kündigungs-Recht des Direktors in Folge seiner ersten Zustimmung hinfällig geworden sei. Darauf giebt der Direktor sofort klein bei und zieht die Kündigung zurück, mit der himmlischen Bemerkung „er sei nicht ge- 1570 neigt, ohne zwingende Noth Prozesse zu führen - obgleich er hier in seinem formellen (! ! ) Recht sei.“ Für die dem Paare entstandenen Unkosten, Mühen und den Aerger entschädigt es natürlich Niemand. Das passirte nicht an einem Theater zweifelhaften Ranges, auch nicht im Coursaal, wo der Reiz der Damen fürs Herrenpublikum mit der Verheirathung schwindet: dieser Bordenave-Streich blieb 1575 dem Direktor des Deutschen Theaters, Herrn Dr. Otto Brahm vorbehalten! Er revanchirte sich, als ihm sein Plan nicht gelungen war, indem er die Künstlerin in der folgenden Saison wenig oder gar nicht beschäftigte und die ihr zukommenden Rollen nicht ertheilte; in einem Stück z.B. eine wichtige Rolle einer Anfängerin gab, und erst auf der drittvorletzten Probe nothgedrungen die Künstlerin 1580 holen ließ. Und warum that das Herr Brahm? Für sein Theater, wo mehrere Damen verheirathete Damen sind, gelten ja wohl nicht die Maximen des Coursaals. Und die Dame selbst hatte er ein viertel Jahr zuvor von Neuem für sein Institut verpflichtet. Nein, er wollte einfach die Gelegenheit benutzen, an dem Gatten der <?page no="216"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 216 Dame, der ihn als Kritiker unsanft behandelt und der jetzt sein Amt niedergelegt 1585 hatte, sein Müthchen zu kühlen! Dieser Heirathsparagraph, der noch an mittelalterliche Zustände gemahnt, enthält noch folgenden Passus: durch Eingehung einer Ehe wird eine engagirte Dame nicht berechtigt, ihr Engagement vertragswidrig und eigenmächtig zu lösen, und verfällt, wenn sie es demungeachtet thut, in die Konventionalstrafe (je 1590 nach Höhe der Gage von 1 bis mehreren tausend Mark). Die Zahlung der Konventionalstrafe hebt die Verpflichtung gegen die Direktion nicht auf! ! ! Ein moralisches Institut, das Theater, nicht wahr? Dites mon bordel, heißts in Zolas „Nana“. Also es hängt vom Belieben der Direktion ab, wen sie in solchen Fällen kündigen will! - 1595 Sie kennen den Kündigungsparagraphen? Der Direktor hat bekanntlich das Recht, ein Mitglied in den ersten sechs Wochen nach Anfang des Vertrages zu kündigen, ohne weitere Gründe, nach eigenem Belieben. Da sitzt eine Dame z.B. ruhig in Magdeburg und erhält einen Antrag an das Y. Theater in Berlin. Entweder hat der Direktor des Y. Theaters sie gesehen oder ein Agent hat sie empfoh- 1600 len. Sie verläßt das sichere Magdeburg und kommt nach Berlin, wo bereits für ihr Fach noch drei andere Vertreterinnen da sind. Unter diesen wird nun die Wahl getroffen. Vielleicht gefällt ein Fräulein dem Direktor ganz persönlich und sie bezahlt das Engagement mit ihrer Schande. O, das kommt häufiger vor als man glaubt, und die Phrase eines bekannten 1605 Direktors: Der Weg der guten Rollen führt durch mein Schlafzimmer, stammt nicht aus einem Witzblatt, sondern ist trauriger Ernst. Auch gewisse Theateragenten sollen einen so persönlichen Tribut nicht verschmähen. Kommt der Direktor an eine Unrechte, so wird sie sich hübsch hüten, Lärm zu machen! Sie würde dadurch in ein schönes Renommee kommen und als Rebellin sich man- 1610 ches Engagement verscherzen, wenn sie auch augenblicklich ihren Zorn befriedigt hätte. Ich will Ihnen einen andern Fall erzählen. Eine Dame wird an ein hiesiges Theater engagirt, die an einer großen Provinzstadt erste Rollen jahrelang gespielt hat. Der Direktor kommt aber nach dem Abschluß zur Einsicht, daß sie für die 1615 große Gage überflüssig ist. Er giebt ihr als Antrittsrolle die Portia im „Cäsar“ (! ). In den drei Tagen vor der Première läßt er aber schon „heimlich“ nach der Probe eine Andere probiren. Die Dame tritt am Sonnabend auf, wird Sonntag früh gekündigt, und Sonntag Abend spielt schon die Andere. Ihr Schicksal war also schon vor dem Auftreten besiegelt. 1620 Der Verüber auch dieses Bordenave-Streiches ist Herr Dr. Otto Brahm. Nicht ein kleiner Schmieren-Direktor, sondern ein ehemaliger sog. vornehmer Literat, der früher baß ergrimmen konnte, that je ein armer Direktor fehlen. Man sieht, wie das Theater den Charakter verdirbt. - Sie wissen, was Strafgelder sind? Sie reichen von einer Mark bis zur Höhe ei- 1625 ner Monatsgage für alle möglichen Vergehen und fließen in die Kasse des Direktors. Würde irgend ein Geschäftsinhaber einen so willkürlichen Straftarif aufstellen: seine Arbeiter und Arbeiterinnen würden ihn auslachen. Aber beim Theater! <?page no="217"?> Paul Linsemann 217 Die Herren Direktoren halten fest zusammen, und die Hausordnung beim Theater ist nicht polizeilich abgenommen. 1630 Einer Souffleuse, die in dem betr. Theater schon eine Reihe von Jahren mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ihres Amtes waltet, wird bedeutet, daß sie bei einer Neubesetzung nicht zu souffliren brauche (das Theater hat noch eine Hilfssouffleuse). Die Frau faßt es irrthümlich auf, daß es nicht nur für die Proben gilt, sondern auch für die Abendvorstellung, was nicht der Fall war. Sie wird mit zehn 1635 Mark bestraft, für eine Souffleuse eine namhafte Summe. Sie weint dem Direktor vor, daß sie doch wahrlich nicht aus Tücke oder Pflichtvergessenheit gehandelt, aber der Mann mit der eisernen Stirn bleibt ungerührt. Es war ja wieder Herr Dr. Brahm. Ich habe gerade diese Fälle angeführt, weil sie in an dem vornehmsten Pri- 1640 vattheater Berlins passirt sind unter einem angeblich kunstverständigen Direktor. Kennen Sie den Krankheitsparagraphen? Bei Dienstunfähigkeit, welche durch Krankheit von längerer Dauer als vierzehn Tagen hervorgerufen wird, steht der Direktion das Recht zu, von Beginn der ersten Woche ab die Gage auf die Hälfte herabzusetzen. Nach Ablauf der vierten 1645 Woche der Krankheit hat die Direktion das Recht, den Vertrag zu kündigen und vierzehn Tage darauf zu lösen. Ein Beispiel! Ein Schauspieler, der schon seit Jahren an dem Theater thätig ist, wird eines Nachts von einem Einbrecher die Treppe hinabgestoßen und bricht den Arm. Der Direktor benützt die günstige Gelegenheit, ihm in der vierten Wo- 1650 che zu kündigen. Es war Herr Dr. Oscar Blumenthal, derselbe, der die Naivetät hatte, einmal einem Autor, der auf Zahlung der Conventionalstrafe für ein nicht aufgeführtes Stück drang, Versuch einer „gehässigen“ Ausnutzung des Vertrages vorzuwerfen. Wer lacht da? 1655 Unter den zahlreichen Paragraphen, die der Direktion das Recht der Kündigung geben, ist einer, der immer mein stilles Schmunzeln erweckt: Die Direktion ist berechtigt, den Vertrag zu lösen, „wenn das Mitglied durch Handlungen gegen die Gesetze des Staates, der Sittlichkeit oder des Anstandes offenkundig Anstoß erregt und dadurch die Achtung vor dem Künstlerstande 1660 beeinträchtigt ist! “ Wie sittlich gedacht, nicht wahr! Möchte doch dieser Paragraph wirklich einmal in Anwendung kommen. Freilich, davon steht nichts geschrieben, was einen Direktor trifft, der die „Achtung vor dem Künstlerstande beeinträchtigt.“ Aber durch zwei Paragraphen ist das Mitglied auch berechtigt, seinen Vertrag 1665 zu lösen. Man höre und staune. „In folgenden Fällen ist das Mitglied berechtigt, diesen Vertrag sofort zu lösen und seine Dienste der Direktion zu untersagen: a) Wenn die Direktion trotz geschehener Aufforderung ihren im Kontrakt festgesetzten Zahlungsverbindlichkeiten binnen dreimal 24 Stunden nach dem Fällig- 1670 keitstermine nicht nachgekommen ist. <?page no="218"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 218 b) Wenn das Mitglied nachweist, daß es ohne schwere Gefährdung seines Lebens oder seiner Gesundheit überhaupt nicht mehr im Stande ist, seine Dienste fortzusetzen.“ Kolossal, die Rechte des Schauspielergesindes! Es darf gehen, wenn es keine Gage 1675 mehr bekommt (! ! ) und es braucht nicht Dienste zu thun, die seine Gesundheit und Leben „schwer“ gefährden. „Leichte“ Gefahren muß es also wohl auf sich nehmen! Und warum unterschreiben die Schauspieler solche Verträge? Sehr einfach, weil sie keine anderen bekommen und ohne Engagement blieben. Viel ist gespro- 1680 chen und geschrieben über die Verbesserung ihrer Kontrakte, und die Herren Kadelburg und Keßler haben auf Genossenschaftstagen tapfer die Lanzen für die gute Sache eingelegt. Aber man ließ sie im Stiche, und mählich wurden sie der undankbaren Sache müde und zogen sich zurück. Denn es ist leider kein Korpsgeist unter den Schauspielern, und das Komödiespielen macht die Leute recht 1685 biegsam und schmiegsam. Wenn das Publikum von der Riesengage der Frau Sorma hört und davon, daß die Bühnengenossenschaft über vier Millionen Mark im Vermögen hat, dann denkt es wohl, daß diese Komödianten nur so im Golde schwimmen. Aber beim Theater ist alles Zufallssache, und die Würdigsten können oft ihr Leben lang an 1690 der Schwelle sitzen. Dieser Tage hat sich eine würdige Veteranin von der Bühne zurückgezogen. Es ist Frau Walther-Trost, vom Wallner-Theater und Lessing-Theater rühmlichst in Erinnerung: in ihrem Fache, das der Berliner Wirthin und Zimmervermietherin, war sie einfach klassisch. Und diese Frau, die über dreißig Jahre in Berlin gewirkt, 1695 Tausende und aber Tausende durch ihre Kunst herzhaft lachen gemacht, auch von der Presse stets hervorgehoben wurde - sie hat es bei ihrem bescheidenen Wesen nie mehr als an die 200 Mk. monatlicher Gage gebracht! ! konnte in Folge dessen nur in der letzten Klasse des Pensionsfonds Beiträge zahlen und hat nach so langem treuen und ehrlichen Wirken in der Kunst nun nicht mal eine mäßige 1700 Rente auf ihre alten Tage. Und die Zeitungen? Sie verabschiedeten sich von ihr in drei Zeilen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit gethan, der Mohr kann gehen. Dafür wird uns in der nächsten Notiz ausführlich über die Geisha-Kostüme berichtet... Ja, es ist von bitterer Ironie voll, das Leben der Bühnenmenschen. 1705 Es hieß vorhin, wir hätten keine Ensemble. Und daran ist, außer den berührten Verhältnissen, auch der Mangel an guten Regisseuren schuld. Was Regie ist, darüber ist sich das Publikum und die Kritik im Allgemeinen recht unklar. Gewöhnlich halten sie ihn beide für den Tapezier, der die Möbel 1710 stellt, also das Bühnenbild schafft, den Schauspielern sagt, ob sie rechts oder links abzugehen haben, und die Volks- und Kriegerszenen ordnet. Das muß ich wenigstens nach den Kritiken der Herren glauben: „Das Ensemble war flott, die Inszenirung recht prächtig, die Volksszenen waren sehr bewegt.“ Manchmal haben die Herren ja recht: viele unserer Regisseure thun ja auch nicht mehr. 1715 <?page no="219"?> Paul Linsemann 219 Daß aber das Genannte nur zum äußern Handwerk gehört, daß der Regisseur vor allem Führer oder Bildner des Ensembles sein soll, die künstlerische Idee des Stückes herausschälen muß - davon haben sie doch nur selten gehört. Zum Regieführen gehört Talent und viele Kenntnisse und nicht nur Fleiß und guter Willen. Aber vor allen Dingen: Talent. Ein guter Regisseur bedeutet oft drei Viertel 1720 Erfolg der Darstellung. Daß ein Schriftsteller kürzlich den barocken Einfall producirte, unter den Schriftstellern sollten gebildete Dilettanten sich um die Regieposten bemühen, ist wieder ein Symptom für den spielerigen Zug unserer Zeit, der nichts mehr ernst ist. Wie wäre es, wenn man einen Dilettanten mit gutem Willen, aber ohne 1725 Kenntnisse als Kapellmeister anstellte? Der Wunsch des Herrn beweist wieder einmal auf das Schlagendste, wie wenig selbst in schriftstellerischen Kreisen feste Begriffe von der Kunst des Regisseurs vorhanden sind. Gehen Sie doch einmal auf die Proben zum Herrn Lautenburg, unserm besten Regisseur in Berlin, der dem modernen Repertoir mehr als ein halb Dutzend vor- 1730 trefflicher Schauspieler erzogen hat und lernen Sie, was ein Regisseur zu thun hat! Worin beruhen seine Erfolge? Er hat drei bis vier gute Schauspielkräfte, die übrigen sind Durchschnittswaare. Aber wie versteht er es, seine Leute zu drillen, wie unermüdlich probt er an einer Szene, welche treffliche, von sicherm Bühnenblick inspirirte Rathschläge kann er Autoren und Darstellern geben. Wie ausge- 1735 zeichnet wird nun schon seit Jahren der französische Schwank und das Konversationsstück bei ihm gegeben. Er muß Feldherr und Unteroffizier zugleich sein, er muß leiten und ausbilden. Solche Regisseure für das klassische Repertoir, wie Förster und L’Aronge haben wir leider nicht mehr. Aber das ist ja das Elend in Berlin: Ist wo noch eine 1740 tüchtige Kraft vorhanden, so muß sie feiern. Die beste Koupletsängerin und der beste weibliche Komiker: die Dora und die Bäckers haben hier kein Engagement, einer der gebildetsten und klügsten kritischen Köpfe, Herr Leo Berg, hat kein Kritikeramt in einer Zeitung, und einer der tüchtigsten Regisseure, der mit seinen theoretischen und positiven Kenntnissen zwei Dutzend Kollegen versorgen kann, 1745 Herr Max Martersteig, hat keinen Regie- und Direktionsposten, während ein Theaterfremdling, wie Herr Brahm, dank seiner finanziellen Beziehungen eine erste Privatbühne hat. Aber ich wollte von der Regie sprechen. Ich halte es für einen großen Fehler, wenn der Regisseur, wie es hier oft geschieht, zugleich als Schauspieler im Stück 1750 beschäftigt ist. Er soll sich mit seiner Rolle beschäftigen und er soll sich um die Andern kümmern, jeden Augenblick muß er aus dem Rahmen treten und die übrigen von der Rampe aus kontrolliren. Und dann: er müßte ja ein Mensch von engelhaftem Gemüth sein, wollte er seine besten Kniffe nun einem Rivalen verrathen, der mit ihm um die Palme des Abends ringt! 1755 Guter Schauspieler und guter Regisseur zugleich zu sein, ist sehr selten: Ludwig Barnay konnte es. Und er mußte auch uneigennützig Rath ertheilen: denn er war ja der Direktor des Theaters, und es war nur sein Vortheil, wenn Jeder so gut als möglich an seinem Platze war. <?page no="220"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 220 Da kann man sich die Einrichtung des Wiener Burgtheaters loben, das sechs Re- 1760 gisseure hat, nämlich sechs seiner hervorragendsten Schauspieler, die sich in der Inszenirung der Stücke ablösen. Da wird Einseitigkeit vermieden, und ein einheitlicher schauspielerischer Stil herangebildet, der mit Unrecht vielgeschmähte Burgtheaterstil, der ja gewiß, wie jede Tradition, sein Unleidliches, aber auch seine unleugbaren Vorzüge hat. 1765 Und nun sehe man unser Schauspielhaus an. Da ist es Einem an manchen Abenden, als ob fünf bis sieben Leute aus verschiedenen Theatern dort gastirten. Jeder spielt da auf eigene Faust und kümmert sich den Teufel viel um rechts oder links. Vortreffliche Theile - aber es fehlt das nothwendige einheitliche Band. Denn erst das abgerundete Ensemble kann einen vollständigen harmonischen 1770 Kunstgenuß bereiten. Ich habe früher oft auf Herrn Grube gescholten. Aber ich gestehe, daß ich da manchmal zu weit gegangen bin. In Wien, wie gesagt sind sechs, in München vier, bei Herrn Lautenburg außer ihm zwei bis drei Regisseure: und das Berliner Schauspielhaus muß ein einziger Regisseur besorgen. Er hat die Neuinszenirun- 1775 gen, die Neueinstudirungen, heute Schiller, morgen Moser, dann wieder einzelne Repetitionsproben zu besorgen, muß dazu noch Stücke lesen und Abends bei der Vorstellung sein. Dazu spielt er noch einen Theil der Charakterrollen. Sein Amt ist zudem noch mit Schwierigkeiten verknüpft: er ist nicht Privatdirektor, sondern Kollege, der namentlich mit den Altangesessenen behutsam umzugehen, hie 1780 und da viele Rücksichten zu beobachten hat. Diese Arbeit ist für einen Einzigen ungeheuerlich, und sie kann unmöglich für ihn und die andern den erwünschten Erfolg allemal haben. Oft lese ich in den Zeitungen: Die Vorstellung klappte gestern nicht. Sie thun dann so, als ob die Schauspieler schuld daran wären. Wenn sie wüßten, daß oft in 1785 Berlin ein klassisches Stück mit vier - ein ganz neues Stück mit fünf Proben herausgebracht wird! Es ist nämlich fabelhaft, wie lüderlich oft an ersten Berliner Theatern gearbeitet wird! Man staunt hier über die dreißig bis fünfzig Proben, die ein Pariser Theaterleiter an Stücke setzt. Freilich! er sieht auch seine Mühe belohnt. In Paris arbeitet auch der Autor Hand in Hand mit dem Regisseur - hier 1790 wird von dünkelhaften Bühnenmenschen der Autor oft als die überflüssigste Person am Theater angesehen. Man macht Striche, ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen; korrigirt er an Auffassungen, so kann er schnoddrige Redensarten zu hören bekommen. Daß der Autor doch auch Einiges von seinem Stück versteht, setzt man nicht voraus. Manchmal haben ja die Mimen wirklich recht, und der 1795 Autor ist recht fremd in Theaterdingen. Aber warum besuchen sie (dasselbe gilt von den Kritikern) nicht öfter die Proben, warum sehen sie nicht zu, wie ein Stück sich aufbaut - warum gehen sie immer erst zum fertigen Bau? Praktisch lernen, hier auf dem Schlachtfelde, und nicht am grünen Tische! 1800 Bei der Bildung des Schauspielers durch die Regie darf ich wohl einer anderen Erziehung Erwähnung thun. Es betrifft die erste Ausbildung des Novizen. Manche Künstler (und die besten darunter) sind Autodidakten, andere haben Unter- <?page no="221"?> Paul Linsemann 221 richt bei einer tüchtigen Kraft genossen, andere wieder haben Theater-Akade- 1805 mien, Schulen oder Konservatorien besucht. Bei diesen (es gelten diese Zeilen für das Publikum) sei man in der Wahl recht vorsichtig. Namentlich in Berlin sind da Dinge möglich, die jeder Beschreibung spotten. Bekanntlich muß ein Mann, der eine Klippschule eröffnen will, mehrere Examina absolvirt haben: aber eine Vorbildungsschule für Schauspielerei kann Jeder ohne Konzession aufmachen. Der 1810 Direktor ist ein verkrachter kleiner Schauspieler: er ist die erste Lehrkraft! Jedweder wird angenommen, der sich meldet, ob er Talent hat oder nicht, ob er vier Fuß groß ist und einen Buckel hat und stottert - wenn er nur das Beitrittsgeld zahlt. So wird den Leuten ein bis zwei Jahre hindurch das Geld aus der Tasche gelockt, und wer eine Spur von Begabung hat, dem wird sie durch jammervollen 1815 Unterricht verkümmert. Vielleicht kriegt der eine oder andere gänzlich Unberufene ein Engagement in Buxtehude - zwei, drei Jahre treibt er sich auf Schmieren herum: und dann gehört er zu den problematischen Naturen, die womöglich eines Tages Kollekte machen. Es wäre sehr erfreulich, wenn die Behörde, die sich ja sonst um alles kümmert, den gewissenlosen „Direktoren“ solcher Anstalten das 1820 Handwerk legen würde! Dann möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal wieder für meinen Lieblingsplan eintreten: nämlich eine Revue für Bühnenkunst anzuregen. Alle acht oder vierzehn Tage müßte sie erscheinen und ein Tummelplatz werden für alle Bestrebungen der Bühne. Autoren, Kritiker, Regisseure, Schauspieler, alle, die einen 1825 Einfall haben, müßten darin das Wort ergreifen. Kein Theaterklatsch, sondern ernsthafter Ideenaustausch. Künstlerische und wirthschaftliche Dinge müßten da rückhaltlos besprochen werden. Maurer und Schuster haben ihr Fachblatt - warum sollten es die Schauspieler nicht auch haben? Denn das Bühnengenossenschaftsblatt bringt ja nur die Repertoire und ledernen Notizenkram. - Im 1830 Anschluß hieran soll auch einer Reform des Bühnenalmanachs das Wort geredet werden. Die Redaktion nehme doch mal die prachtvollen Pariser Almanache zur Hand und sehe zu, wie großartig dort der reichhaltige Stoff geordnet ist, daß alle Geschichtsschreiber des französischen Theaters eine zuverlässige Chronik daran haben. In unserm Almanach sind die Angaben ungenau und dürftig, und als 1835 Nachschlagebuch hat er einen fragwürdigen Wert. So steht im Almanach von 1897 - um nur ein Beispiel anzuführen - an drei (! ) Stellen, daß Sudermanns „Teja“, „Fritzchen“ und „Ewig Männliche“ ihre Premièren in Berlin am Berliner (statt am Deutschen) Theater erlebt haben! ! 1840 Ein Posten, der an unsern Theatern fast gänzlich vernachlässigt ist, ist der des Dramaturgen. Der Direktor hat wohl einen Büreauchef, einen Inspektor, einen Rendanten, einen Bücherrevisor, einen Bibliothekar und was weiß ich noch - aber einen Dramaturgen? Für das, wovon ein Theater lebt: von den Stücken, ist kein Beamter da - das ist für unsere Verhältnisse bezeichnend! Nicht einmal das Kö- 1845 nigliche Schauspielhaus gönnt sich diesen Luxus. Aber - der Direktor hat ja einen Sekretär! der kann Briefe schreiben, ihn in geschäftlichen Angelegenheiten vertreten und vor allem die „Waschzettel“ (die Reklamenotizen für die Zeitungen) fein säuberlich mit Kopirtinte vervielfältigen. <?page no="222"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 222 Wenn er dann ein paar freie Minuten hat, kann er die eingelaufenen Stücke prü- 1850 fen. Es ist unerhört, wie leichtsinnig das verantwortungsvollste Amt hier behandelt wird. Dann aber ist das Geschrei der Direktoren groß: es giebt keine Stücke, wir finden keine Stücke! Es giebt nämlich doch mehr verwendbare Stücke, die mit einem gedruckten Wisch zurückgeschickt werden, als man annimmt. Der Autor, 1855 der schon bekannt ist, wird sofort gelesen: der Neuling kann Monate lang warten und dankt es einem gütigen Zufall, wenn sein Opus geprüft wird. Würde aber der Herr Direktor einen gebildeten und kenntnißreichen Mann hinsetzen, der würde gewiß bei manchem der Stücke sagen: hier ist eine brauchbare Sache. Sowie sie vorliegt, ist sie freilich nicht bühnenreif. Aber lassen wir uns 1860 den Mann doch einmal kommen. Vielleicht wird er diesen oder jenen Rath beherzigen. - Manches Stück würde so für die Bühne gewonnen werden können. Der Dramaturg könnte auch bei den Proben sein und dem Regisseur mit seinen Kenntnissen bei der Einrichtung der Stücke an die Hand gehen. Denn mit dem Rothstift allein ist das Redigiren nicht gethan, und mancher Regisseur, der über- 1865 flüssige Glieder amputiren sollte, hat schon das Herz des Stückes fortgeschnitten. Wieviel talentvolle Stücke hat man in Berlin nach der dritten Aufführung verschwinden sehen: um ihren Erfolg hatte sie diese oder jene ungeschickte Scene gebracht, die mit Leichtigkeit hätte geändert werden können, wenn auf der Bühne ein Mann mit literarischem und bühnentechnischem Verständniß gewesen 1870 wäre. - Ein Dramaturg könnte auch die oft schauderhaft lüderlichen Uebersetzungen durchsehen, er könnte ältere Stücke für die Bühne neu bearbeiten. Kurzum, es gäbe manches Gute für den Dramaturgen zu thun, wenn man einen engagirte! Aber fürs Sparen an unrechter Stelle ist man sehr beim Theater. Der Direktor, der das ganze Theatergetriebe zu inspiziren hat, vielleicht gar Re- 1875 gisseur oder Darsteller ist, kann unmöglich mit Ruhe sich in die Lektüre aller Stücke vertiefen. Den Regisseuren noch die Lektüre der Stücke zu überlassen halte ich auch für bedenklich: jeder wird da, zumal wenn er Schauspieler ist, nach seinem Geschmack und seiner Neigung verfahren. 1880 Berlin hat, wie wir schon sagten, nur noch Geschäftstheater. Selbst das Hoftheater legt sich auf die Spekulation. Es hetzt einen Skowronnekschen Schwank oder ein Stück „Wie die Alten sungen“ bis zur Ermattung ab - in der besten Saison - und giebt an schönen Maientagen Stücke schwersten Kalibers. „Faust zweiter Theil“ ist jetzt, sechs Jahre nach dem ersten Theil noch nicht gegeben worden, obgleich 1885 wir in Matkowsky den idealsten Faust haben. „Macbeth“ mit demselben Darsteller kommt nicht heraus, und auf „Coriolan“ haben wir all die Jahre warten können. Ebenso scheinen „Julius Caesar“ und „Antonius und Cleopatra“ nicht mehr zu existiren. „Ja“, wird Einem mit ernstem Gesicht erklärt, „sehen Sie mal - die Ausstat- 1890 tung kostet da so viel. Und es ist doch immer ein Risiko.“ Also, so gebt doch nicht eine Unsumme für Ausstattung aus, laßt den unsinnigen Bühnenluxus, der die grobe Schaulust auf Kosten des Interesses für das Kunstwerk züchtet, und setzt an die Stelle ein gediegenes Ensemble - aber vor allem gebt diese Stücke. Der <?page no="223"?> Paul Linsemann 223 Luxustrieb wird die Klassiker noch zu Ausstattungsstücken herabwürdigen. Und 1895 die Ausstattung? ! Ihr habt doch den Coriolan in alten Dekorationen gespielt, die das Rom zur Zeit Caesars darstellten (! ) und des Aufidius Haus in Corioli sah aus, als ob Lukullus es gebaut hätte. Diese Anachronismen stören Euch in der „stilgerechten“ Ausstattung nicht? Hebbels Dramen sind nach jahrelangem Zögern herausgekommen, und von 1900 Shakespeares Königsdramen sind nach langer Pause zwei Stücke gegeben worden, so als Leckerbissen für die Feinschmecker. Ein Hoftheater, das nicht die materiellen Rücksichten zu nehmen hat wie ein Privattheater, sollte eine Art Idealbühne sein. Ständig müßten hier die klassischen Stücke auf dem Repertoir sein und die Pflege der zeitgenössischen Autoren 1905 müßte ihr Ehrensache sein. Aber wer von den zeitgenössischen Autoren kommt hier denn zu Wort? Den Besten ist das Thor verschlossen, denn sowie ein freies Wörtchen fiele, würden ja sämmtliche Hofschranzen in Ohnmacht fallen. Nein, hier darf nur der Geist des seligen Kotzebue umgehen, und Spießerkomödien in Schlafrock und Pantoffeln oder „patriotische“ Stücke, in denen der 1910 „Korse“ als frecher und dummer Parvenü hingestellt wird, sind die Gäste, die hier zechen und sich breit machen dürfen. Hat denn die Leitung des Schauspielhauses gar nicht mehr das Gefühl für das Blamable dieses Repertoirs? Daß das Gestammele eines Sechsdreierpatriotismus uns im Lande und draußen lächerlich macht? Daß diese Begeisterung einem geschmackvollen Menschen Erbrechen 1915 bereitet? Die „Herrmannsschlacht“ und der „Prinz von Homburg“ sind unsere patriotischen Stücke, aber mit dem erhabenen Gefühl der Vaterlandsliebe haben die Grimassen der Geschäftsspekulanten nichts zu thun. Soll denn dieser Schlendrian, der den Geschmack verdirbt, so fortgehen? Doch nein! Man macht ja auch Neuerwerbungen. Man kauft die abgetragenen Kleider anderer Herrschaf- 1920 ten an. Man giebt „Die Welt, in der man sich langweilt“ (in Berlin seit zehn Jahren bekannt) oder erwirbt die überall abgespielten Stücke Blumenthals („Zweite Gesicht“ und „Probepfeil“). Man staune über diese Rührigkeit! Sehen Sie auf das Wiener Burgtheater! Dort geben Sie Ibsens „Wildente“ und „Klein Eyolf“, Hauptmanns „Einsame Menschen“, Dumas und Sardous Komö- 1925 dien, Schnitzlers „Liebelei“ und Giacosas „Sündige Liebe“. Hier würde man sich vor den Genannten wie vor dem Gottseibeiuns bekreuzigen! Nein, Förderung der modernen literarischen Produktion giebts hier nicht: man muß immer auf die anwesende Kadettenschaar Rücksicht nehmen. Hat man doch sogar den treuen Wildenbruch so und so oft abgelehnt. 1930 Aber bekümmert man sich denn hier zu Lande um einen so vornehmen literarischen Mann wie Paul Heyse? Ebenfalls seit zehn Jahren hat man nichts Neues von ihm aufgeführt. Achselzuckend sagen die Bühnenthebaner: Gott, seine Sachen sind ja sehr fein, aber so undramatisch. Nun, daß bei allen Aussetzungen eine dreistündige Abend-Unterhaltung mit einem so sinnigen Kopf immer noch 1935 Wer sich über das Wiener Theaterwesen gut informiren will, den darf ich auf die Revue „Die Zeit“ hinweisen. Hermann Bahr, ein feiner Kennner des Theaters, giebt hier seine anregenden Impressionen wieder. <?page no="224"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 224 tausendmal anregender ist, wie die trivialen Späße der geaichten Schauspiel[h]auspoeten, das bedarf wohl nicht der Bekräftigung. Weiß das Schauspielhaus z.B. von einem Dichter Namens Karl Bleibtreu? Er hat - längst vor der neuen Mode - historische Stücke geschrieben und er ist sogar hoftheaterfähig, wenigstens das Stuttgarter Hoftheater giebt seine Werke. Welch 1940 ein Vergnügen müßte es für einen bühnenkundigen Mann sein, sich der Werke dieses Poeten anzunehmen, den freilich die um Brahm nicht kennen wollen, und der doch im kleinen Finger mehr dichterisches Können hat als sein ganzer Clan. Ich weiß, auch ein Hoftheater kann nicht jeden Tag Festtag haben, jeden Tag Dichtwerke geben. Das Publikum kann nicht von lauter Delikatessen leben. Ers- 1945 tens mal werden gewisse mittelmäßige Stücke, die „vorzügliche Rollen“ haben, der Darsteller wegen dableiben, dann aber ist die „Gegenwart von einem munteren Knaben“ auch was werth. Nur muß der muntere Knabe nette Manieren haben und wirklich munter sein. "Il y faut plaisanter; et c’est une étrange entreprise que celle de faire rire les honnêtes gens.“ Molière hat das behauptet. Also auch All- 1950 tagswaare, aber gefällige, die uns eine heitere Stunde bereitet. Es ist wahrlich in solchem Falle nicht Aufgabe des Kritikers, auf hohem Stuhle dann zu sitzen und zu thun, als habe er „Literaturgeschichte“ zu schreiben. Soll das Hoftheater mit seinem modernen Repertoire nicht zum Gespött der Ernsthaften werden, will es nicht, wie schon die übrigen Theater außer allem 1955 Konnex mit der Literatur kommen, so muß es eine schleunige Umkehr halten und die öden Faiseure zum Hause hinaus jagen. Es hat ja von den Regiekünsten des Meininger Herzogs gelernt: es lerne auch von seinem künstlerisch freien Geist, es lese doch, was man in Meiningen Alles spielt! Aber das werden wohl nur fromme Wünsche sein, denn die Verzopfung des 1960 Königlichen Institutes ist schon zu bedenklich, und selbst unternehmungslustigen Männern sind die Hände gebunden wie dem rührigen Intendantur-Direktor, Georg Pierson. Welche Schwierigkeiten hat er zu überwinden, bis er seine Pläne manchmal verwirklichen kann! Wie viel Rücksichten sind da nach oben und unten zu nehmen! Denn als höchste Instanz steht ja immer noch das Hausministe- 1965 rium da. Im Intendanturbureau sind an dreißig Beamte da (zehnmal so viel wie an jedem Privattheater). Herr Pierson arbeitet dabei fast Alles, muß es auch, denn die Theaterleitung muß immer konzentrirt sein. Man denke, wie viel schönes Geld den künstlerischen Bestrebungen durch diese Beamtenschaar entzogen wird! Was 1970 die Bureaukratie mit der Kunst zu schaffen hat, mögen zwei Geschichtchen lehren (sie sind bezeichnender als alle theoretischen Expektorationen). Als ich einmal (vor etlichen Jahren) Herrn Pierson besuchte, trat ein inzwischen verstorbener Hofrath mit wichtiger Miene und dicker blauer Mappe ein. „Ich finde hier in einem offiziellen Glückwunschtelegramm an Mascagni auch 1975 Ihren Namen in der Unterschrift. Das ist doch eine Privatangelegenheit. Wie soll ich das nun buchen? “ Herr Pierson zog ruhig ein 10 Pfennigstück aus der Tasche und sagte: „Gestatten Sie, daß ich die Angelegenheit sofort berichtige! “ Eine andere Sache erzählte mir der Direktor Martersteig. Er hatte am Hoftheater zu Kassel den „Sonnenwendhof“ neu zu inszeniren und ließ für eine Mahlzeit 1980 <?page no="225"?> Paul Linsemann 225 eine Schüssel Milch und Semmel (Kostenpunkt 1,60 M.! ) anschaffen. Nach einem halben Jahr kam von der hiesigen Rechnungskammer ein großes Aktenstück: Dieser Posten sei bei den früheren Aufführungen des Stückes nie in Rechnung gekommen und Herr M. möge beantworten, warum, wieso und weshalb diesmal eine solche Ausgabe gemacht sei. Aktenstücke wurden nun hin und her gewech- 1985 selt, bis Herrn M. die Geduld riß und er, um endlich Ruhe zu haben, da M. 1,60 aus seiner Tasche zahlte! An diesen kleinen Beispielen kann man sehen, wie schwerfällig dieser höchst überflüssige Apparat arbeitet, wie Zeit und Geld an Lappalien verschwendet werden, zur selben Zeit, wo die wichtigsten, künstlerischen Dinge versäumt wer- 1990 den. Also fort mit den Bureaukraten in der Kunstwelt! Es bleibt nichts übrig, man muß den vermessenen Wunsch haben, daß die Hoftheater eines Tages unabhängig geleitete National-Theater werden, die unbekümmert um materielle und andere Rücksichten vor allem der modernen, litera- 1995 rischen Produktion entgegen kommen, die den Ehrgeiz haben, wieder Kunsttheater zu sein! Zum Hoftheater ist der nächstliegende Gegensatz das Volkstheater. Wir haben jetzt ein ständiges hier, das Schillertheater, von dem zum Glück nur Erfreuliches 2000 zu berichten ist. Allen Spott und Anfeindungen zum Trotze hat Herr Dr. Loewenfeld es verstanden, zu billigen Preisen hier einem großen Publikum ein anständiges Repertoir vorzusetzen, in durchaus achtungswerther Darstellung und Ausstattung, die oft geschmackvoller ist wie die an sog. ersten Bühnen. Hier wird tüchtig gearbeitet, der Direktor ist nur angestellter Beamter, braucht also die 2005 wüste Konkurrenz nicht mitzumachen. Das Theater hat ein dankbares Publikum, das herzhaft lachen und weinen kann, das genießen will mit vollen Zügen und Gott sei dank von der Blasirtheit der Premièrentiger nicht angesteckt ist. Hier treffen Sie ein verständiges und anständiges Publikum, was man nicht von dem Publikum eines jeden Theaters in Berlin sagen kann. 2010 Selbstverständlich sieht darum der alberne Bursche, der in Theaterkritik machen darf, von der Höhe seines Freibillets mitleidig lächelnd auf die Lauscher hin, die noch die naive Freude am Genusse haben! Gott, wenn sie erst so gebildet sein werden wie er mit seiner Fünfzigpfennigbazar-Bildung! Den Leutchen macht Schiller noch Spaß - nein, wie rührend! Die können noch über die „Zärtlichen 2015 Verwandten“ lachen - wie beschränkt! Es zeugt von der immensen Bornirtheit eines Theiles der Berliner Presse, daß sie das Schillertheater nicht „ernst“ und „voll“ nimmt - weil es so billige Preise hat! Zum Glück kümmert sich im Schillertheater weder Direktor noch Publikum um das Geschreibsel dieser Faselhänse und geht unbeirrt seinen Weg weiter. 2020 Auch die Darstellung wird von den Kunstreportern dementsprechend behandelt. Oder lesen Sie so sehr viel von Herrn Albert Patry? Dieser stille und vornehme Künstler zählt zu den besten unserer modernen Schauspieler in Berlin. Als Bonvivant und im Charakterfache ist er gleich zu Hause. Er gehört, man verzeihe den nautischen Ausdruck, zur Klasse „Nissen“. Was ich von dem sagte, gilt auch für 2025 <?page no="226"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 226 Patry. Er hat noch die künstlerische Bescheidenheit zu seiner Partie, was man - ach! nicht von Allen sagen kann. Vor allem: es ist gesunder, stetiger Pulsschlag des Lebens in seinen Rollen. - Wir haben auch noch fliegende Volksbühnen in Berlin, die sich im Belle-Alliance- und Friedrich Wilhelmstädtischen Theater zu Gaste geladen haben, (Entree 0,50 2030 Mark für jeden Platz, Sonntags Nachmittags) oder im Deutschen Theater eine Nachmittagsvorstellung miethen. Sie lassen sich Klassiker, Ibsen, Anzengruber, Hebbel, und neuere Leute vorspielen. Der Gründer der Volksbühne war im Jahre 1890 Herr Dr. Bruno Wille, den Gemeinheit und krasser Undank unter den eigenen Genossen oft aus Positionen gedrängt haben, was ihn aber nie seinem huma- 2035 nen Wirken abtrünnig machen konnte. Sein lauteres Wesen und seine Begeisterungsfreudigkeit sind in unserer trüben Zeit staunenswerthe Monumente. Seine verdienstvolle und segensreiche Institution wird ihm in der Theatergeschichte Berlins eine rühmliche Seite sichern! 2040 Ein Besuch im Schillertheater, dem ehemaligen Wallnertheater lenkt stets die Erinnerung an die Zeit zurück, wo wir in Berlin noch eine Posse und ein Volksstück hatten. Der vornehm sein wollende Kritiker rümpft ja heute schon die Nase darüber - spottet seiner selbst und weiß nicht wie! Denn bei Kalisch, Pohl, Salingré und Weirauch stecken oft in einer Scene und einem Kouplet mehr Beobachtung 2045 des Lebens und mehr Humor, als in den gesammelten Werken eines der Modernen! Die Berliner Posse ist todt. Einmal kommt es daher, weil der Berliner keine Tradition hat, keinen lokalen Sinn und keine Kenntniß der lokalen Geschichte. Auf tausend Berliner kommt ja mal ein wirklicher Berliner! Dann haben wir, wie es scheint, keinen Possendichter mehr, der aus dem Volksleben schöpfen kann. 2050 Und dann ist der Geschmack leider ein anderer geworden. Der emsige Herr Anger giebt in seinem Volkstheater in der Reichenbergerstraße die guten, alten Possen: aber die Gegend scheint mir recht ungünstig dafür zu sein. Im Arbeiterviertel kann man ja nicht ein oder zwei Mark fürs Theater ausgeben. Die Posse hat uns Adolf Ernst gründlich verdorben. Sinnlose Aufzüge, viel 2055 Fleisch und wenig Kostüme, dazu gräßliche Texte und banale Kouplets - ein Stück sah bei Ernst wie das andere aus. Direktor Schulz muß nun dasselbe machen. Freilich: er hat mehr Phantasie und bemüht sich, soweit es bei der modernen Posse möglich ist, die Szene ein bischen realistischer zu gestalten. Und in der That sind manche seiner Berliner Bühnenbilder sehenswerth, denn Herr Schulz 2060 ist ein sehr geschickter Regisseur. Er hat in Herrn Freund einen pointenreichen Koupletdichter und vor allem in Emil Thomas den Berliner Possenkomiker par excellence. Thomas herzhafte Komik kann den unglaublichsten Text über Wasser halten: er könnte das Alphabeth herbuchstabiren und man würde sich in Lachkrämpfen 2065 winden. Thomas ist der Hexenkünstler, der aus Thon Gold machen kann. Wenn wir ein Berliner Volksstück, eine Berliner Posse einmal haben könnten, welch ein überreiches Material an Künstlern für dieses Genre wäre da. Da hätte man außer Thoma[s], noch: Guthery, Formes, Tielscher, Deutsch, Pauli, Hans 2070 <?page no="227"?> Paul Linsemann 227 Fischer, außer der Dora und der Bäckers die prächtige Gisela Schneider, die glänzende Karikaturistin Ella Gabri, die drollige Bergère, die urkomische Gallus, die echtberlinische Eberty. Aber was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe? Wir haben keine Berliner Posse mehr, wir haben nur noch Pariser Possen, die 2075 dreiste, freche und meist recht amüsante Zote. Das Residenztheater macht sie uns mundgerecht, nachdem die Zensur oft die beste[n] Pointen im Interesse der höheren Sittlichkeit herausgestrichen hat. Was im Zentraltheater Thomas ist hier Richard Alexander, und seiner beweglichen Komik, seinem liebenswürdigen Naturell und seiner Eleganz gelingt es, selbst an den gefährlichsten Klippen 2080 herumzusteuern. Ob alte oder junge Schwerenöther: alle Menschen in tausend Aengsten weiß er mit seiner nie versagenden ergötzlichen Laune auszustatten. Und im zweiten Treffen steht dann der ausgezeichnete charakterisirende Hans Pagay, der meisterhafte Episodenspieler. Freilich, auch die Pariser Possen haben ihren Höhepunkt hinter sich: sie müs- 2085 sen jetzt immer exzentrischer, immer ordinärer werden, wenn die eine ihre Vorgängerin überbieten soll, wenn sie den erschlafften Gaumen ihrer Gäste noch kitzeln will. Giebt Herr Lautenburg den pariser Schwank, so giebt Herr Hasemann, ebenfalls ein gewandter Regisseur, das Vaudeville. Er hat in Deutsch, Sachs und Jun- 2090 ckermann jun. drei tüchtige Helfer gefunden. Herr Blumenthal hat in der letzten Saison furchtbares Pech gehabt. Auch nicht ein Stück konnte es zu einem leidlichen Erfolge bringen. Und von der Posse bis zur Tragödie versuchte er Alles. Seines Thrones beste Stütze, Herr Sudermann, war in 2095 die Schumannstraße übersiedelt, da im Lessing-Theater - keine Schauspieler mehr waren. Herrn Blumenthal trifft allein alle Schuld. Sein Ensemble hat er allmählich so abgebröckelt, daß wichtige Rollen oft beklagenswerth besetzt werden mußten. Herr Blumenthal ist regierungsmüde und will eben sparen. Aber mit dem „billig arbeiten“ und ganz ohne Schauspieler spielen gehts eben nicht in Berlin. Dann 2100 ging Herr Blumenthal zwei Monate lang auf Gastspiel, und in der Zwischenzeit wurde hier ein[e] Komödie mit einem künstlerischen Landsturm letzten Aufgebots herausgebracht, die in einer mittlern Provinzstadt nicht möglich gewesen wäre. Was für einen Begriff mußte ein Fremder bekommen, der in Berlin zu der Zeit das vielbesprochene Lessingtheater besuchte! Was ist aus dem schönen En- 2105 semble geworden, dem einst Reicher, Sauer, Molenar, die Damen Meyer und Pöllnitz angehörten? - Der Direktor arbeitete diesen Winter mit dem wüsten Wagemut eines Hazardeurs, aber er hatte keine Trümpfe mehr in der Hand und so verlor er endlich das Spiel. Er ist künstlerisch bankerott. 2110 Herrn Prasch hingegen ist das Glück erschienen. Es sah im vorigen Jahre schon recht bedenklich aus, da erschien der „König Heinrich“, den das Schauspielhaus aus überkluger politischer Bedenklichkeit, Herr Brahm, weil er mit dem „Florian Geyer“ die Saison zu füllen gedachte, abgelehnt hatten. In diesem Jahre hat Herr 2115 <?page no="228"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 228 Prasch den zweiten Theil des „Heinrich“ und die „Renaissance“ herausgebracht, ein harmloses, aber ganz liebenswürdiges Schwänklein, das ganz lustig gespielt wurde. Alle Welt strömte jetzt ins Berliner Theater, der Kaiser kam öfters hin - und dessen Besuch ist noch allemal das stärkste Zugmittel für ein Theater. Nun hat aber Herrn Prasch auch der Spekulationsteufel erfaßt: er, der gerade 2120 aus schwieriger Bedrängniß heraus ist, hat soeben das Westentheater übernommen, das er unter dem Namen Goethe-Theater glücklicheren Tagen entgegenführen will. Seiner Zeit thaten sich fünf der bühnenkundigsten Leute zusammen, um Berlin eine Musterbühne, das Deutsche Theater, zu geben: heut nimmt ein Mann die 2125 Führung zweier Theater fröhlichen Muthes. Ihn schrecken nicht Babingtons, nicht Tichburns blutge Häupter, auf Londons Brücken warnend aufgesteckt: er denkt nicht an Lebrun, Blumenthal und Lautenburg. Auch Herr Prasch wird bald die immensen Schwierigkeiten und Gefahren des Doppelregimentes erkennen! Wieder werden wir das ewige Hinüber und Herüberschieben der Schauspieler 2130 erleben, das ständige Ablösen in den Rollen nach jeder Première und Umbesetzen mit minderwertigen Kräften. Einen Schaden für das Publikum, für den Autor und für die Schauspieler, denn bei diesem Arbeiten ist eine stetige Ausbildung des Ensembles schwer möglich. 2135 Vom Westentheater, dem Schmerzenskinde im Berliner Bühnenwesen, braucht hier als von einem Kunstfaktor nicht gesprochen zu werden. Es hat nur ein wirthschaftliches Interesse. Wie ein Mann ohne einen Pfennig Geld in der Tasche es fertig bekommt, ein prunkvolles Gebäude da hinzustellen, wie ein in Theaterdingen so völlig unbewanderter Mann ohne Fachleute zu Rathe zu ziehen, ein 2140 Theater baut, wie dort ein Personal engagirt wird, das für zwei große Bühnen reicht, zu unerhörten Gagen Damen verpflichtet werden, die in Berlin kein Mensch mehr sehen will - das wird für den kommenden Geschichtschreiber einmal sehr ergötzlich zu lesen sein. Der Etat des Theaters war so groß, daß er natürlich nicht gedeckt werden konnte; allein für elektrisches Licht betrug er täglich 2145 dank der pompösen Lichtkörper: 230 M. (im Berliner Theater z.B. 40 M.! ! ) Die Stücke, die man dort gab, ließen den Geschmack der Leitung in einem sehr traurigen Licht erscheinen, und die Darstellung hielt sich auf der eines mäßigen Stadttheaters. Nur der Mätzchenmacher Herr Bonn fiel dort auf. Er verhunzte den Hamlet als Darsteller und Regisseur, was dem Preßklüngel ausnehmend 2150 gefiel. Man schrieb ganze Feuilletons über ihn. Man muß eben die Leute verblüffen und sei es durch eine kolossale Dreistigkeit. Das nennen sie dann hier zu Lande: einen interessanten denkenden Künstler. Wenn Einer den Hamlet anständig spielt, das fällt nicht auf. Man muß ihn eben anders spielen! Heros oder Herostrat: das gilt in Berlin gleich. Die Herren, die ja von Hamlet trotz Karl Werder 2155 und Adolf Gelber immer noch nichts verstehen (wo werden sie denn auch gute Bücher lesen) die sagen: Donnerwetter, ist der Bonn aber ein gescheidter Kerl. Also so sieht der Hamlet aus! - Selbstverständlich hat Herr Brahm nicht verfehlt, für den abgehenden Kainz Herrn Bonn zu verpflichten. 2160 <?page no="229"?> Paul Linsemann 229 Das Deutsche Theater habe ich mir, als einen fetten Bissen, bis zuletzt aufgespart. Bekanntlich hat es unter L’Arronge und Förster reformatorisch im Berliner Theaterleben gewirkt. Es war eine Schule für Regisseure und Schauspieler, und der alte L’Arronge, auf den die großmäuligen Kunstschreiber als auf einen kümmerlichen Routinier herabsehen, verstand im kleinen Finger vom Theater mehr als sein 2165 Nachfolger. Herr Brahm hätte es leicht gehabt, die Tradition seines Vorgängers fortzusetzen, aber das wäre ja nicht originell gewesen. Er zerstörte das gute Ensemble und wollte die Klassiker im Stil der freien Bühne geben. Gleich seine Eröffnungsvorstellung „Kabale und Liebe“ war eine eklatante Niederlage. Das war dem Schillerschen Stück seit seiner Niederschrift noch nicht passirt. So grotesk 2170 war das Stück noch nie besetzt, so ungeheuerlich noch nie gespielt worden. Aber was wollen Sie? Die um Brahm hatte doch die Stirn, von einem „ganz interessanten Experiment“ zu lallen! Auch später sahen die klassischen Vorstellungen im Hause des Herrn Brahm recht dürftig aus und verschwanden meist nach einigen Aufführungen. 2175 Worin bestehen nun die Verdienste des Herrn Brahm, von denen seine Leute so viel uns zu künden wissen? Er giebt die Stücke, die L’Arronge viel besser herausgebracht hat und er hat die Schauspieler, die an dieser oder anderer Stätte schon bekannt waren. Ist es ein so besonderes Verdienst, die Herrn Kainz, Nissen, Reicher und Frau Sorma engagirt zu haben und sie womöglich falsch zu plaziren? 2180 Ist es ein Verdienst, ein Starsystem aufkommen zu lassen? Wo stellt denn Herr Brahm wie sein Vorgänger im Laufe einer Saison alle seine Mitglieder in geeigneten Rollen heraus? Bei L’Arronge hatten die Damen Sorma, Geßner, Pospischil, Ortwin, Frauendorfer und Retty alle Gelegenheit, ihre Künste zu zeigen. Hier spielt Frau Sorma allein und wenn sie auf Gastspiel geht, darf sich allenfalls 2185 Frl. Lehmann zeigen. Was giebt denn der große Ibsenkenner? „Nora“, „Stützen“, „Wildente“ - lauter bekannte Sachen. Aber „Kaiser und Galiläer“, „Brand“, „Bund der Jugend“, „Komödie der Liebe“ fehlen immer noch. Es ist nicht sein Verdienst, daß die Schauspieler, die unter L’Arronge nicht am 2190 Deutschen Theater waren, also die Spieler im modernen Fach: Reicher, Sauer, Frau Meyer etc. ihm bei den Berliner Bühnenverhältnissen zufielen. Man preise doch nicht Herrn Brahm immer als Entdecker! Die Freie Bühne hat Maximilian Harden angeregt, auf Hauptmann machten ihn Reicher und Th. Fontane aufmerksam, Ibsen war in Berlin von L’Arronge, Anno und Lautenburg gegeben. Die „Jugend“ 2195 und die „Gläubiger“ hat Lautenburg zuerst gespielt, Sudermann Herr Blumenthal, Anzengruber L’Arronge, Wolzogen das Wallner-Theater. Schnitzlers „Liebelei“ hatte er abgelehnt, aber Frau Sorma witterte die gute Rolle darin, und so kam sie zur Aufführung. Auf Frau Rosmer-Bernstein war er von anderer Seite hingewiesen: bleibt von allen Autoren allein Georg Hirschfeld, dessen schier unheimli- 2200 che Wunderkindbegabung die gespanntesten Erwartungen hervorgerufen hat. Den hat er entdeckt. Auch mit den Schauspielern steht es so! auf Herrn Rittners unzweifelhafte Begabung wies zuerst Harden hin, der natürlich später mehrfach Siehe Adolph L’Arronges Buch „Zehn Jahre Deutsches Theater“. <?page no="230"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 230 vor seiner Ueberschätzung warnte. Herr Brahm erwähnte ihn in seiner ersten Kritik nicht: nachher wurde er erst sein Favorit-Schauspieler. 2205 Herr Brahm hat kein Repertoir mehr, er hat nur noch Kassenstücke. Ab und zu schiebt er eine andere Vorstellung ein, um die beiden Stars verschnaufen zu lassen. So giebt er fünfmal in der Woche Hauptmann. Einen Dramaturgen braucht er nur, um Stücke zurückzuschicken: es werden nur die seines engeren Bekanntenkreises angenommen. Er hat die besten Leute fürs Lustspiel da - aber 2210 er giebt keine heiteren Sachen. In der ganzen Saison hat er nur ein Lustspiel gegeben - und das verdankte er dem glücklichen Erfolge einer Matinee, die seine Mitglieder ohne sein Zuthun arrangirten. Nun erschien im Spielplan des Deutschen Theaters das alte bewährte Singspiel: „Guten Morgen, Herr Fischer“! ! Etwas genirte sich Herr Brahm doch: er nannte es auf dem Zettel „Schwank“! 2215 Manches Fach ist doppelt und dreifach besetzt: dafür hat er keinen Heldenvater, keine Heldenmutter, keine Heroine, keinen ersten Helden. Und da spricht man von einem glänzenden Ensemble! Gewiß: die modernen Zustandsstücke, die „Einsame Menschen“ und „die Mütter“ werden tadellos gegeben. Aber nach dem früher Gesagten wird man wohl weislich einsehen, daß dies nicht das Letzte in 2220 der Darstellungskunst ist. Unter des „Florian Geyer“ schwärzlicher Richtung brach natürlich Reicher zusammen: die Königin im Hamlet schickte er der Frau von Pöllnitz, und den König Claudius spielte neulich - Herr Nissen! So arbeitet eben ein Theaterfremdling. An dem Abend gab übrigens ein Schauspieler: den Geist und den ersten Schauspieler! Natürlich unter zwei Namen. Dieses Schmie- 2225 renkunststück passirte an einem ersten berliner Theater. - Beliebt ist bei ihm auch das Nachspielen, wenn der erste Künstler auf Urlaub geht oder wenn er sein garantirtes Spielhonorar erreicht hat! ! Für Herrn Kainz und Frau Sorma steht immer eine Reservekraft bereit: hier werden aber nicht jüngere talentvolle Kräfte dafür herangezogen, sondern irgend wer, der grad da ist, übernimmt die Rolle. Aber 2230 auf den Zetteln stehen oft noch die Namen der ersten Darsteller. Das Publikum fällt auf die Täuschung herein und zahlt seine vier oder fünf Mark. Allmählich wird nur noch für die Première und die Kritik gespielt. Auch in andern Theatern sieht man das, sogar im Hoftheater. Es ist beleidigend für den Künstler des ersten Abends und für das Publikum, dies Arbeiten mit ganz min- 2235 derwertigen Garnituren. So leitet man allerdings ein Theater ohne Kopfzerbrechen - allerdings auch ohne künstlerische Prätensionen. Wenn aber die Kassenstücke versagen, wenn die Stars nicht ziehen, was dann? Dann sieht es böse aus, wie in den ersten beiden Saisons unter Herrn Brahms 2240 Leitung. Jetzt hat Herr Brahm Glück: darum gilt er auch mit einem Male wieder in Berlin als ein geschickter Mann. Hätte Herr Blumenthal nicht ein so klägliches Personal gehabt, so hätte Sudermann ihm wie die anderen Stücke auch „Morituri“ gelassen: hätten die „Versunkenen Glocken“ das Schicksal des „Florian Geyer“ 2245 gehabt, so wäre Herr Brahm heute verloren. Bei dieser Wirthschaft von der Hand in den Mund kommt nie etwas heraus; ein guter Hausvater hat seine geordnete <?page no="231"?> Paul Linsemann 231 Vorratskammer, versagt heute ein Stück, braucht er morgen nicht rathlos dazustehen, wenn er ein Repertoir hat. 2250 Ein Wort noch von der „freien“ Bühne. Die erste dieses Namens hat unzweifelhaft manche Anregung geschaffen, und wir haben manches Lehrreiche zu sehen bekommen. Nun aber ist ihr Repertoir so ziemlich erschöpft: auch hat man, da alle Theater jetzt Nachmittagsvorstellungen geben, nicht mehr wie früher die geeigneten Schauspieler zur Verfügung. Nun giebt Herr Brahm in jeder Saison 2255 einmal eine Sonntagnachmittags-Vorstellung unter der Deckflagge „Freie Bühne“. Es sind für ihn Probeaufführungen von Stücken, die schon polizeilich zensurirt sind und die man gegen Entree besuchen kann. „Freie“ Bühne ist also eitel Humbug. Dann tauchen ab und zu Gesellschaften auf, deren Vorstand das Bedürfniß 2260 hat, seine eigenen Stücke aufzuführen oder den beliebten Sport des Entdeckens mitzumachen. Sie stehlen den Leuten, die noch so leichtsinnig sind hinzugehen, den schönen Sonntag Mittag. Possirlich an der einen Gesellschaft in dieser Saison war es nur, wie ein Literat, der in allen „Richtungen“ schon gemacht hat und noch machen kann, den 2265 Herold spielte und, das vorsichtige und leisetreterische Männlein, durchaus den wilden Naturalisten herausbeißen wollte. Er möchte um jeden Preis so recht modern sein. Er hatte aber kein Glück mit seinen Erfindungen, das spärliche Publikum lachte ihn und seine Pathenkinder aus. Es war, wie gesagt, sehr possirlich. Zu bedauern bleibt es immerhin, daß sich nicht eine Vereinigung schaffen läßt, 2270 die von jeder Clique emanzipirt, ein talentvolles Stück aufführt, wenn es in der Saison eines trifft. Im Sommer, wenn die schwelende Julihitze dem Asphalt üble Dünste entlockt, sinkt das Niveau der Berliner Kunst, das an und für sich schon einen betrüblichen 2275 Tiefstand aufweist, noch um ein beträchtliches. Wenn Sie die Anschlagsäule studiren oder die ehrenvolle Mission haben, einem lieben Gastfreunde oder wichtigen Onkel die Herrlichkeiten Spree-Athens zu zeigen, so bemerken Sie zu Ihrem mäßigen Behagen, daß Berlin dann im Zeichen des Tingel-Tangels und des Gassenhauers steht. Sie reisen in das kleinste Bad oder Sie gehen in eine leidliche 2280 Mittelstadt: Sie finden dort ein Theater, das Ihnen im wechselnden Repertoire Schau- und Lustspiele bringt. In Berlin finden Sie dann nur eine Operette, die nicht vom Spielplan schwindet, eine unbedeutende Ausstattungsposse und ein Sensationstück trübster Qualität. Das ist (von der Oper abgesehen) alles, was die Reichshauptstadt an theatralischen Genüssen bietet! Daneben blühen etwa fünf 2285 Etablissements, wo im geschlossenen Raum oder im Freien bei möglichst dünnem Bier die zehnte Muse, die der Spezialitäten, ihre albernen oder obscönen Künste der jubelkreischenden Menge für billiges Geld entfaltet. Die Spezialitäten finden Sommer und Winter ihr groß Publikum. An dem Verfall der Theaterkünste in Berlin und an dem damit Hand in Hand 2290 gehenden Niedergange des Geschmackes haben die Späße der Spezialitäten ihren hervorragenden Antheil. Sie unterminiren den Geschmack, und sie fangen an, <?page no="232"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 232 das Theater zu erobern, und Waden und Trikots spielen dort schon eine dominirende Rolle. Es ist ja auch eine so behagliche Kunst, die des Tingel-Tangels, wo der wa- 2295 ckere Bürgersmann mit feistem Schmunzeln die rüdesten und klobigsten Späße vernimmt, die einen Matrosen erröthen machen könnten. Frau und Kinder sitzen dabei. Sie verstehen es oder vielleicht ahnen sie den Sinn nur, wenn das Johlen des Auditoriums einen schallenden Refrain auf die Zote macht. Das ist nämlich derselbe Bürgersmann, der im Theater stets sittlich entrüstet ist und das ernste 2300 und freie Wort des redlichen Dichters mit zornigem Runzeln vernimmt. Und die gemeinste Zote gestattet dieselbe Polizei, die mit eifrigem Rothstift hinter jedem Satze einer modernen Dichtung schnüffelt. Das sind Widersprüche, die nur die Erwägung löst, daß den brutalen Instinkten die löbliche Behörde einen Kanal gräbt, in den sie sich ergießen können, ohne doch des klugen Wortes von Rudolf 2305 Virchow zu gedenken: „Die Bestie im Menschen, der Cynismus, wird überall da ihr Haupt erheben, wo die natürlichen und berechtigten Forderungen mit Gewalt unterdrückt werden.“ Ich möchte nicht mißverstanden werden: Das gute brave „Brettl“, wie sie in Oesterreich sagen, hat auch seine Daseinsberechtigung. Eine fesche Soubrette, die 2310 lustig oder mit Grazie singt, ein Komiker, der wirklich komisch ist und drollige Kouplets vorträgt, und für solche, die Geschmack daran haben: ein Prestidigitateur und ähnliche kurzweilige Menschen: sie seien willkommen. Aber das Uebermaß der Spezialitätenbühnen (wir haben im Winter wohl an die zwanzig) und der widerlich ordinäre Theil ihres Programmes - das ist es, was einen so schädli- 2315 chen Einfluß ausübt. Bisher war es nur die direkte Laszivität, die wiehernden Beifall fand: ein schamloses Kostüm und ein schamloses Lied. Aber der Geschmack ist raffinirter geworden: die Perversität ist in ihr Recht getreten: der Kontrast reizt mit lüsternem Streicheln die erschlafften Nerven und er kitzelt neue ungeahnte Sensationen. Yvette Guilbert, die im schlichten geschlossenen 2320 Kleide und mit schämig-unschuldigen Mienen ihre haarsträubenden Chansons singt, machte Schule. Fünf Mädchen mit blonden Kinderperrücken, dazu im Nachthemd mit Schuh und Strümpfen, leierten ihre Verse herunter; sie machten gute Kindermienen mit den Gesichtern, in denen man alle Geheimnisse der cabinets particuliers lesen konnte, und verrenkten den Körper zu allerhand schamlo- 2325 sen Stellungen. Wieviel Kontraste - wieviel wollüstige Reize! Von der Kokotte bis zum Bürgersmann mit Frau und Tochter war alles entzückt - die „Barrisons“ wurden Mode, man frisirte sich à la Barrison, ihre dummen Gröhlereien pfiff jeder Schusterjunge, und jeder Leierkasten bereitete uns mit seinen Melodien täglich neue Torturen. Ihre Photographien fanden reißenden Absatz, und auf 2330 andern Bühnen kopirte oder parodirte man sie - als ob das letztere noch nöthig gewesen wäre, sie, die schon eine unfreiwillige Parodie auf jeden Geschmack waren! Es war so gar nichts von Witz, so gar nichts von Laune an ihnen - freilich sangen sie Englisch, und da glaubten die Berliner eo ipso, daß in der fremden, ihnen 2335 zum größten Theil unverständlichen Sprache entschieden unendlich viel Pikantes berichtet wurde. <?page no="233"?> Paul Linsemann 233 Ein krankhafter Geschmack nur konnte an den Barrisons, deren Künste und Erfolge typisch sind, seine Wonne finden. Nicht daß sie pikant waren, kann man den fünf behemdeten Fräuleins zum Vorwurf machen - die pikante Schnurre, 2340 wenn sie graziös auftritt, ist dem lachfrohen Menschen genehm - nein, daß ihre Produktionen so grenzenlos dumm und so widernatürlich waren, das machte sie so gefährlich. Das steckt an. Es hat den Berliner Geschmack redlich infizirt. Welch öde Dürftigkeit, wenn Sie in einen der Biergärten treten, wo dem Tingeltangel eine kleine Bühne errichtet ist. Das Auditorium gedrängt voll. „Die 2345 Gigerlkönigin“, das „Schaffner, lieber Schaffner“, „Linger longer loo“[,] „Du ahnst es nicht“ und ähnliche das Ohr beleidigende Melodien bilden die Zwischenpausen-Musik. Ein unförmig dicker Komiker trägt asthmatisch seine witzlosen Kouplets vor: eine Strophe auf die unvermeidliche Schwiegermutter, eine auf eine aktuelle politische Frage, eine auf den Magistrat oder auf die Steuern, eine 2350 auf ein pikant sein sollendes Abenteuer und schließlich womöglich eine patriotischen Gehaltes. Das zündet stets, und der spottbillige Hurrahpatriotismus feiert eine Orgie. Daß hier ein frecher Mißbrauch mit einem der erhabensten Gefühle vorliegt, das merkt Gevatter Spießbürger natürlich nicht. - Dann kommt ein Zauberkünstler mit den schon seit Adam bestaunten Kunststücken, dann eine Soub- 2355 rette, die keine Bewegung und keine Stimme hat und durch einige Zoten diese Mankos wieder gut zu machen trachtet, worüber der frenetische Beifall der vor Wonne schmatzenden Banausen jubelnd quittirt. Nach dreiviertel Stunden verläßt man den Ort mit einem Gefühl der gelinden Uebelkeit, um beschämt dem Gastfreund auf seine Frage: „Das ist Alles, was die Deutsche Hauptstadt bietet? “ 2360 die Antwort schuldig zu bleiben. Vielleicht treffen Sie, wenn Sie Glück haben, hier oder dort eine oder einige bessere „Nummern“, aber im Allgemeinen sind die Darbietungen auf keiner irgendwie nennenswerthen Höhe. Sie finden sie reichlich ebenso in Städten diesseits und jenseits der Spree. 2365 Die Anforderungen an die theatralischen Künste in Berlin müssen in den Sommertagen fast auf Null gestellt werden - das ist für die Millionen-Stadt ein gar betrübliches Zeichen und sollte zu etlichem Nachdenken doch Anlaß geben! Die Invasion der apokryphen Künste des Tingeltangels und Gassenhauers hat mit dem guten Geschmack fast völlig aufgeräumt; sind sie doch so bequem diese 2370 Künste, die die Faulheit bestärken. Denn im Theater, selbst bei unseren Lustspielen, muß man doch manchmal aufpassen und aufmerken -, die Spezialitätenkünste fordern das nicht. Und die bequeme Kunst, die Kunst, die da schmeichelt, hat stets ihren Sieg gehabt! 2375 Ich schließe. Ich will keine Entschuldigungen vorbringen, für das, was an dieser Schrift nicht gelungen ist. Ich wollte, meinen Kritikern sei es bemerkt, keine dramaturgische Schrift schreiben und keine Theatergeschichte, ich wollte nur ein Notizbuch voll Anregungen und Beobachtungen auskramen. Ich wollte die wirthschaftli- 2380 chen Momente nicht von den künstlerischen trennen, denn sie sind unlöslich, und gerade das Theater darf man nicht einseitig betrachten. Es muß von vor und hin- <?page no="234"?> Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) 234 ter den Koulissen geschehen. Ich habe mich manchmal wiederholen müssen, aber die Materien kreuzen sich eben. Manches ist schon vor mir viel und oftermalen gesagt und besser gesagt wor- 2385 den, am besten von Maximilian Harden, dessen Schriften und Gesprächen ich unendlich viel Anregung zu danken habe. Vieles, was hier steht, ist sein Eigentum. Aber das Gute kann man nicht oft genug wiederholen: Carthaginem esse delendam! Für einen Nörgler muß mich halten, wer nur die Berliner Blätter liest, wo im- 2390 mer steht, wie herrlich weit wir es nun gebracht! Und weil mich das selbstgefällige Geblähe ärgerte, darum bin ich als Hecht einmal in den Karpfenteich gesprungen und habe um mich gebissen. Saisonschluß steht vor der Thür. Aber ich will nicht prophezeien und aus den Eingeweiden der Opfertiere künden. Denn wie sagte der alte Praktikus Laube? 2395 Beim Theater kommt alles anders. Damit vertröste ich auch die ernsthaften Leute mit der bangen Frage, die einst zu Jerusalem, auch am ersten Pfingsttage gestellt wurde: Was will das werden? Berlin, am ersten Pfingsttage 1897. 2400 <?page no="235"?> 4. Paul Linsemann: Die Theaterstadt Berlin - Eine kritische Umschau (1897) Kommentar 20 Café Schiller (Berlin), Café am Gendarmenmarkt; galt als Künstlertreffpunkt; 1889 wurde dort der Theaterverein Freie Bühne gegründet. 26 Heinrich Leckert (genannt Larsen) (1876-? ), Journalist; wurde bekannt durch den politisch brisanten „Leckert-Lützow-Tausch-Prozess“ (1896), der aufdeckte, dass er, wie auch Karl von Lützow und andere Journalisten, von dem im Innenministerium beschäftigten Kriminalkommissar Eugen von Tasch (1844-1912) zur Bespitzelung und Streuung von Meldungen zu bestimmten politischen Themen angeworben worden war. 28/ 29 Bohemerweib, Anspielung auf Schillers Drama „Wallenstein“. 33/ 34 Lützows, Anspielung auf den gemeinsam mit Heinrich Leckert angeklagten Journalisten Karl von Lützow (1856-1933) im „Leckert-Lützow-Tausch-Prozess“ (1896). 38 Gattin = Nina Sandow (eigentlich Nina Schwarz) (1860-? ), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Berlin, Hannover, Mainz. 50 Ernst Schweninger (1850-1924), Mediziner; ab 1884 Professor an der Berliner Universität. 77 Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein (1842-1912), Politiker; 1890-1897 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes des Deutschen Kaiserreichs. Karl Heinrich von Boetticher (1833-1907), Politiker; 1881-1897 deutscher Vizekanzler. 152 Aloys Prasch (1858-1907), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Meiningen, Karlsruhe, Wiesbaden; ab 1889 Leitung des Stadttheaters in Straßburg; ab 1892 Leitung des Mannheimer Nationaltheaters; ab 1895 Leitung des Berliner Theaters; 1897/ 1898 Leitung des Theater des Westens und Umbenennung des Theaters in Goethe-Theater; 1903-1906 erneute Leitung des Theaters des Westens. 168 Edmond Goncourt (1822-1896), französischer Schriftsteller; bekannt durch seine naturalistischen Romane. Sarah Bernhardt (eigentlich Marie Henriette Rosine Bernardt) (1844-1923), französische Schauspielerin, Theaterleiterin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen in Paris, u.a. an der Comédie-Française, dem Théâtre de l’Odeon; rege weltweite Gastspieltätigkeit; 1900 Leitung des Théâtre des Nations in Paris und Umbenennung in Théâtre Sarah Bernhardt; eine der international berühmtesten Bühnenkünstlerinnen. 182/ 83 Theaterbrief an d’Alembert, Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) berühmt gewordener „Lettre à d'Alembert sur les spectacles“ (1758). 255 Haussier, Börsenspekulant. Baissier, der an der Börse auf den Fall der Kurse spekulierende Verkäufer. <?page no="236"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 236 296 Flora, 1874 Eröffnung des Vergnügungspalasts Flora in Berlin-Charlottenburg; 1904 Abriss nach der Insolvenz; im Gebäude befand sich auch ein Saal, der als Theater genutzt wurde. 300 Zirkus Busch (Berlin), 1884 Gründung durch Paul Busch (1850-1927); feste Häuser in Berlin, Breslau, Hamburg und Wien; in Berlin feststehendes Zirkusgebäude am Monbijouplatz; auch bei Kaiser Wilhelm II beliebtes Unterhaltungsetablissement; berühmt für seine Ausstattungspantomimen. Wintergarten (Berlin), Theater im Centralhotel am Bahnhof Friedrichstraße; 1888 Eröffnung unter der Leitung Franz Dorns (1855-? ) und seines stillen Teilhabers Julius Baron (genannt 1897); 1888-1904 Leitung durch Franz Dorn; 1908-1916 künstlerische Leitung durch Franz Steiner (1855-? ); hauptsächlich als Varieté-Theater genutzt; 1895 erste Filmvorführung durch die Brüder Max (1863-1939) and Emil Skladanowsky (1866-1945). Apollotheater (Berlin), 1884 Gründung als Flora-Etablissement; Umbenennung in Concordia-Theater; 1890 Eröffnung als Apollotheater unter der Leitung Franz Dorns (1855-? ) und Julius Barons (genannt 1897); danach wechselnde Leitungen; hauptsächlich als Varieté-Theater genutzt; 1893 wird Paul Lincke (1866-1946) Kapellmeister; durch ihn Etablierung der „Berliner Operette“, bspw. „Frau Luna“ (1899); 1896 frühe Filmvorführungen durch Oskar Messter (1866-1943). 310 Fürwitz, Übereilung im Urteilen und Handeln. 311 Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater (Berlin), 1883 Eröffnung; 1883-1896 Leitung durch Julius Fritzsche (1844-1907); 1896-1900 Leitung durch Max Samst (1860-1932); 1900-1902 erneute Leitung durch Julius Fritzsche; ab 1902 zweites Schillertheater im Norden unter der Leitung Raphael Löwenfelds (1854-1920). Alexanderplatztheater (Berlin), 1824 Gründung als Königstädtisches Theater; 1884-1885 Leitung durch Richard Quarg (geb. 1844) als Quargs Vaudeville- Theater; 1885-1889 Leitung durch Gebr. Rosenfeld (genannt 1885-1889); ab 1889 Leitung durch Max Samst (1860-1932) und Umbenennung in Nationaltheater; wechselnde Leitungen und verschiedene Namen, u.a. Victoria-Theater, Buntes Theater, Intimes Theater. 315 Max Samst (1860-1932), Theaterleiter; ab 1889 Leitung des Alexanderplatztheaters; 1890-1896 Leitung des Ostendtheaters; ab 1892 Umbenennung in Nationaltheater; 1896-1900 Leitung des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters. 321 Thalia-Theater (Berlin), 1867 Eröffnung als Luisenstädtisches Theater; ab 1879 Leitung durch Adolph Ernst (1846-1927); 1887-1888 Umbenennung in Eden-Theater; 1888 Umbau und Umbenennung in Adolph-Ernst-Theater; 1890 erneuter Umbau; ab 1895 Leitung durch Wilhelm Hasemann (1843-1910); Umbenennung der Bühne in Thalia-Theater; ab 1899 Leitung durch Jean Kren (1860-1922); häufig als Gastspielbühne genutzt, bspw. 1902 durch das Schlierseer Bauerntheater, 1904 durch die Tänzerin Isadora Duncan (1877-1927). Volks-Theater (Berlin), 1896 Eröffnung; Leitung durch Richard Anger (1846-1901); ab 1897 Umbenennung in Luisen-Theater. <?page no="237"?> Kommentar 237 325 Krollsches Theater (= Neues Königliches Opernhaus) (Berlin), ab 1896 Nutzung der alten Krolloper als alternative Spielstätte der Königlichen Hofbühne; 1898 Umbaumaßnahmen. 329 Schillertheater (Berlin), 1894 Eröffnung durch Raphael Löwenfeld ( 1854 - 1910 ) als Schillertheater-AG; hatte den Ruf eines Volkstheaters mit günstigen Eintrittspreisen und anspruchvollem Programm; 1902 Eröffnung einer Schwesternbühne im ehemaligen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater im Norden Berlins; 1907 Eröffnung einer weiteren Spielstätte, des Schillertheaters Charlottenburg. Westen-Theater (= Theater des Westens) (Berlin), 1895-96 Bau nach den Plänen des Architekten Bernhard Sehring (1855-1941); 1896 Eröffnung unter der Leitung Paul Blumenreichs (1849-1907); Umbenennung in Goethetheater unter der Leitung Max Hofpau(e)rs (1845-1920), Leitung durch Aloys Prasch (1858-1907) und Max Monti (1858-1929) als Operettenbühne unter dem Namen Theater des Westens; diente als Verlagstheater des Bühnenverlags Felix-Bloch-Erben. 329 Neues Theater (Berlin), Bau des Theaters nach den Plänen des Architekten Heinrich Seeling (1852-1932); 1892 Eröffnung; 1892-1894 Leitung durch Max Loewenfeld (1848/ 49-1906); 1898-1902 Leitung durch Nuscha Butze (1860-1913); 1903-1906 Leitung durch Max Reinhardt (1873- 1943); ab 1906 wechselnde Direktionen; hier fand 1928 die Uraufführung von Brechts „Dreigroschenoper“ statt; seit 1954 Sitz des Berliner Ensembles. 350 Eleonora Duse (1858-1924), italienische Schauspielerin; rege weltweite Gastspieltätigkeit; gilt als eine der international berühmtesten Bühnenkünstlerinnen. 382 „Trilby“, Schauspiel von Paul M. Potter (1853-1921). 387 Otto Brahm (eigentlich Abrahamson) (1856-1912), Theaterleiter, Theaterkritiker; seit 1881 Theaterkritiker bei der Berliner „Vossischen Zeitung“; seit 1889 Mitbegründer der Freien Bühne in Berlin und Chefredakteur der neu gegründeten Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben; 1894-1904 Leitung des Deutschen Theaters in Berlin; gilt als Begründer des Naturalismus in Deutschland; 1905-1912 Leitung des Lessing-Theaters in Berlin. 388 „Der böse Geist Lumpazivagabundus oder das liederliche Kleeblatt“ (UA 1833), Posse von Johann Nestroy (1802-1862). 397 dieser frechen Spekulation, Anspielung auf die Gründung des Theaters des Westens durch eine GmbH, welcher der Architekt Bernhard Sehring (1855- 1941) und der Schriftsteller Paul Blumenreich (1849-1907) vorstanden; die Baukosten waren von vornherein nicht gedeckt, Blumenreich verlor seinen Posten und verfasste daraufhin die erwähnte Flugschrift „Das Theater des Westens. Festschrift und Epilog“ (1896); das Unternehmen galt damit als Reklameschwindel. 398 Paul Blumenreich (1849-1907), Schriftsteller, Dramatiker; 1896 Gründung des Theater des Westens gemeinsam mit Bernhard Sehring (1855-1941). 566 Hamburger Dramaturg, gemeint ist Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781); das Zitat stammt aus dem 96. Stück der Hamburgischen Dramaturgie. <?page no="238"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 238 600 François Joseph Talma (1763-1826), französischer Schauspieler; 1787 Engagement am Théâtre-Français in Paris; 1789 Sozietär des Theaters; Gründer des Théâtre de la République; rege internationale Gastspieltätigkeit. 601 Ernesto Rossi (1827-1896), italienischer Schauspieler; rege internationale Gastspieltätigkeit. 677 Johann Hermann Detmold (1807-1856), Satiriker, Politiker. 677/ 78 „Anleitung zur Kunstkennerschaft oder die Kunst in drei Stunden ein Kenner zu werden.“, Titel einer 1834 beim in Hannover ansässigen Verlag der Hahn’schen Hofbuchhandlung herausgegebenen Schrift von Johann Hermann Detmold. 761 Ernst Matthias von Köller (1841-1928), Politiker; 1894-1895 preußischer Innenminister; erklärter Gegner des Naturalismus und reaktionärer Verfechter eines Theaters als moralische Bildungsanstalt. 775 Car tel est notre plaisir, übersetzt: „Denn das ist unser gnädiger Wille“; seit Franz I (1708-1765) Schlussformel der Verordnungen der französischen Könige. 787 der große Preußenkönig, gemeint ist Friedrich II von Preußen (1712-1786), der bei seinem Amtsantritt die zitierten Worte sagte und damit die Zensur für den nichtpolitischen Teil der Zeitungen aufhob. 795 censorem esse delendam, Anspielung und verkürzte Abwandlung des berühmten Ausspruchs von Cato („ceterum censeo, Carthaginem esse delendam“, übersetzt: „im Übrigen bin ich der Ansicht, dass Karthago zerstört werden muss“); übersetzt: „dass die Zensur zerstört werden muss“. 839 „Der König“, Schauspiel von Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910). 839/ 40 „Über die/ unsere Kraft“, Schauspiel von Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910). 874 Roma locuta, übersetzt: „Rom (d.h. der Papst) hat gesprochen“; sprichwörtliche Redensart, auf Augustinus zurückgehend. 918 Weber-Dramas, Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Die Weber“. 924 L’art pour l’art, übersetzt: „die Kunst für die Kunst“, ein angeblich vom französischen Kulturtheoretiker Victor Cousin (1792-1867) 1818 getätigter Ausspruch; die dadurch beschrieben Kunstauffassung verweigert sich jeglicher Zweckgebundenheit der Kunst. 957 Volksbühnen, 1890 Gründung des Theatervereins Freie Volksbühne nach dem Vorbild des Theatervereins Freie Bühne; die Freie Volksbühne sollte breiten Bevölkerungskreisen, insbesondere der Arbeiterschaft, günstige Theatervorstellungen ermöglichen wollte; Leitung durch Bruno Wille (1860- 1928); Eröffnung der Freien Volksbühne mit einer Aufführung des Schauspiels „Stützen der Gesellschaft“ von Henrik Ibsen (1828-1906) im Ostend- Theater; 1892 Abspaltung der Neuen Freien Volksbühne unter der Leitung von Bruno Wille von der Freien Volksbühne, die nun unter der Leitung von Franz Mehring (1846-1919) stand; zu Beginn der 1890er Jahre Gründung einer großen Anzahl von Theatervereinen nach dem Vorbild der Freien Bühne. 980 „Morituri“ (UA 1896), Schauspiel von Hermann Sudermann (1857-1928). „Renaissance“ (UA 1896), Schauspiel Franz von Schönthan (1849-1913). 1011 Café Kaiserhof (Berlin), im gleichnamigen Hotel am Wilhelmplatz gelegenes Café, Künstlertreffpunkt. <?page no="239"?> Kommentar 239 1027/ 28 Marlittgeschichte, abschätzig gemeinte Verallgemeinerung des Erzählmusters der von der Schriftstellerin E. Marlitt (eigentlich Eugenie John) (1825- 1887) angewandten Erzähltechnik; die Romane Marlitts sind aufgrund ihrer Inhalte und Erzähltechnik nicht selten der Trivialliteratur zugeordnet worden. 1032 Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868), Schauspielerin, Schriftstellerin, Dramatikerin, Theaterleiterin; 1837-1843 Leitung des Theaters in Zürich, ab 1844 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin, vor allem berühmt geworden durch ihre sehr populären Rührstücke; Werke: „Dorf und Stadt“, „Die Waise von Lowood“. 1075 „Demi-Monde“ (UA 1855), Schauspiel von Alexandre Dumas fils (1824- 1895). 1076 „Die Kameliendame“ (UA 1852), Schauspiel von Alexandre Dumas fils. „Monsieur Alphonse! “ (UA 1873), Schauspiel von Alexandre Dumas fils. 1077 „Cyprienne“, Schauspiel von Victorien Sardou (1831-1908). „Rabagas“, Schauspiel von Victorien Sardou. 1159 Georg Engels (1846-1907), Theatermaler, Schauspieler, Dramatiker; Engagements am Woltersdorfftheater und am Wallnertheater Berlin sowie am Irving Place Theatre in New York; 1883 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); ab 1894 rege internationale Gastspieltätigkeit. 1200 Anna Haverland (1851-1908), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Leipzig, Dresden; 1878-1879 und 1896-1899 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1883-1885 Engagement am Berliner Theater; rege internationale Gastspieltätigkeit. 1203 Else Lehmann (1866-1940), Schauspielerin; ab 1889 Engagement am Lessing- Theater in Berlin; 1891-1905 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; 1905 erneutes Engagement Lessing-Theater in Berlin. 1212 Nuscha Beermann (geb. Butze) (1860-1913), Schauspielerin, Theaterleiterin; 1880-1882 Mitglied des Stadttheaters in Leipzig; 1888 Engagement am Berliner Theater; 1897 Wechsel an das Theater des Westens (Berlin); 1898-1902 Leitung des Neuen Theaters in Berlin; ab 1902 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. Lili Petri (verheiratete Anno) (1864-1915), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Berlin, Weimar, Leipzig; ab 1888 Engagement am Lessing-Theater (Berlin); rege internationale Gastspieltätigkeit; ab 1892 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1897 Engagement am Raimundtheater in Wien. 1213 „Die Ehre“ (UA 1889), Schauspiel von Hermann Sudermann. 1227 Hermann Nissen (1853-1914), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Meiningen, Hamburg, Sankt Petersburg, Prag; 1887- 1901 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1901 Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wien, Berlin; ab 1884 Vorstandsmitglied der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger; ab 1892 Vize-, ab 1895 Präsident derselben. 1230 Oskar Sauer (1856-1918), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Danzig, Mainz, Straßburg, Königsberg; ab 1890 Engagement am Lessing-Theater (Berlin). <?page no="240"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 240 1234 Hermann Sudermann (1857-1928), Schriftsteller, Dramatiker; unterschiedliche journalistische Tätigkeiten; Hausautor am Lessing-Theater unter Oscar Blumenthal (1852-1917); zählte zu den meistgespielten deutschen Bühnenautoren seiner Zeit; Werke: „Die Ehre“ (UA 1889), „Sodoms Ende“ (UA 1891), „Heimat (UA 1893). „Das Ewig-Männliche“ (UA 1896), Schauspiel von Hermann Sudermann. 1237 Rosa Poppe (1867-1940), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Augsburg, Hamburg; ab 1889 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. Rudolf Rittner (1869-1943), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen; ab 1891 Engagement am Residenztheater (Berlin); 1894-1904 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); ab 1904 Mitglied des Lessing- Theaters Berlin; 1907 überraschender Rückzug von der Bühne; danach hauptsächlich Engagements beim Film. 1282 Hedwig Niemann-Raabe (1844-1905), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Hamburg, Stettin, Mainz; ab 1883 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; rege Gastspieltätigkeit. 1284 Madame Sans Gêne, Figur aus dem gleichnamigen Schauspiel von Victorien Sardou. 1286 wohlsoignirten Dilettantin, Anspielung auf die Schauspielerin Jenny Groß (1861-1904); Groß hatte die Übersetzungs- und Aufführungsrechte für „Madame Sans Gêne“ exklusiv von Victorien Sardou erworben und trat in der Titelrolle am Lessing-Theater in Berlin und auf zahlreichen Gastspielen auf. 1289/ 90 Freien Bühnenlaute, Anspielung auf die innovative Spielweise, die versucht wurde, in den Aufführungen der Freien Bühne zu realisieren. 1291 Freie Bühne, 1889 nach dem Vorbild des französischen Théâtre libre gegründeter Berliner Theaterverein zum Zweck der Förderung zeitgenössischer Dramatiker und der Aufführung moderner (naturalistischer) Bühnenstücke als geschlossene Vereinsaufführungen und damit unter Umgehung der strikten Theaterzensur; Gründungsmitglieder: Otto Brahm (1856-1912), Maximilian Harden (1861-1927); Paul Schlenther (1854-1916); Heinrich (1855-1906) und Julius Hart (1859-1930), u.a.; 1889-1893 Vorsitz und Leitung durch Otto Brahm; ab 1895 der Zensur unterworfen; 1896 Einstellung des Spielbetriebs der Freien Bühne; berühmt geworden u.a. durch den Skandal um die Uraufführung von „Vor Sonnenaufgang“ des Naturalisten Gerhart Hauptmann (1862-1946) 1889 im eigens hierfür gepachteten Berliner Lessing-Theater. 1334 Josef Jarno (eigentlich Josef Cohner) (1866-1932), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Ischl, Budapest; 1889-1894 Engagement am Residenztheater in Berlin; 1894-1897 Mitglied des Deutschen Theaters in Berlin; ab 1899 Leitung des Josefstädtertheaters in Wien. 1335 Franz Tewele (1841/ 42/ 43-1916), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Brünn, Graz, München; 1865-1872 Engagement am Carltheater in Wien; 1872-1878 Engagement am Stadttheater in Wien; 1878-1882 Leitung des Carltheaters in Wien; rege internationale Gast- <?page no="241"?> Kommentar 241 spieltätigkeit; 1887-1890 Engagement am Residenztheater in Berlin; ab 1890 Mitglied des Volkstheaters in Wien. 1337 „Gläubigen“, gemeint ist hier das Schauspiel „Die Gläubiger“ von August Strindberg. 1337/ 38 „Jugend“ (UA 1893), Schauspiel von Max Halbe (1865-1944). 1368 Adelaide Ristori (1822-1906), italienische Schauspielerin; rege weltweite Gastspieltätigkeit. 1378 Pierre Cabanis (1757-1808), französischer Philosoph der Aufklärung. Nicolas de Condorcet (1743-1794), französischer Philosoph, Mathematiker, Politiker. 1378/ 79 Les nerfs voilà tout l’homme, Grundlehre des Sensualismus. 1417 Marguerite Gautier, Figur aus „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas. Fedora, Figur aus dem gleichnamigen Drama von Victorien Sardou. Magda, Figur aus „Heimat“ von Hermann Sudermann. 1418 Fracillon, Figur aus dem gleichnamigen Drama von Alexandre Dumas fils. 1439 Radamantus, Sagenfigur aus der griechischen Antike; Sohn des Jupiter und der Europa, der wegen seiner Gerechtigkeit nach seinem Tod einer der drei Richter der Unterwelt wurde. 1499 (F.W.) Borchardt (Berlin), kleines Restaurant in der Französischen Straße, das zu einem Delikatessengeschäft gehörte; galt als sehr vornehme Lokalität, die nur von der „besseren Gesellschaft“ Berlins besucht wurde. 1509 miasmatisch, hier im Sinne von ansteckend. 1530 Douceur, Trinkgeld, kleines Geldgeschenk. 1575 Bordenave-Streich, Anspielung an die Figur des unmoralischen Theaterdirektor Bordenave aus Émile Zolás Roman „Nana“ (1879/ 1880). 1593 Dites mon bordel, übersetzt: „Sagen Sie ruhig mein Bordell“; Ausspruch des unmoralischen Theaterdirektors Bordenave in Émile Zolás Roman „Nana“ (1879/ 1880) über sein Theater. 1682 Gustav Kadelburg (1851-1925), Bühnenschriftsteller, Schauspieler; 1884- 1894 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); gemeinsam mit Oscar Blumenthal (1852-1917) eines der erfolgreichsten Autorenduos der Zeit; Werke: „Großstadtluft“ (UA 1891, mit O. Blumenthal), „Im weißen Rössl“ (UA 1898, mit O. Blumenthal), „Das Bärenfell“ (UA 1899). Oskar Keßler (1846-1923), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Aachen, Frankfurt, Wiesbaden; 1881-1913 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1892-1895 Präsident der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. 1693 Johanna Walt(h)er-Trost (1837-1900), Schauspielerin; ab 1871 Engagement am Wallnertheater in Berlin. 1742 Josefine Dora (eigentlich Josefine Worlitsch) (1867-1944), Sängerin, Schauspielerin; ab 1881 Engagement am Theater an der Wien; rege internationale Gastspieltätigkeit, u.a. in den USA; ab 1885 Engagement am Central-Theater in Berlin; bekannt durch ihre vielen Operettenrollen. Anna Bäckers (1858-1902), Sängerin, Schauspielerin; Engagements am Wallnertheater, am Adolf-Ernst-Theater sowie am Metropoltheater in Berlin; bekannt für ihre Darstellung typischer Berliner Figuren. <?page no="242"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 242 1743 Leo Berg (1862-1908), Kritiker, Schriftsteller; Theoretiker des deutschen Naturalismus; Gründungsmitglied des Berliner literarischen Vereins „Durch“; Herausgeber der „Kulturprobleme der Gegenwart“. 1772 Max Grube (1854-1934), Schauspieler, Theaterleiter, Schriftsteller; 1872-1888 immer wieder Engagements am Meininger Hoftheater; 1888 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; dort seit 1890 Oberregisseur; seit 1898 Leiter der Goethe-Festspiele in Düsseldorf; 1909-1913 Leitung des neuen Theaters in Meiningen; 1913-1918 Leitung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. 1838 „Teja“ (UA 1896), Schauspiel von Hermann Sudermann. „Fritzchen“ (UA 1896), Schauspiel von Hermann Sudermann. 1882 Richard Skowronnek (1862-1932), Journalist, Schriftsteller, Dramatiker; 1897-1898 Dramaturg am Königlichen Schauspielhaus in Berlin; Verfasser vor allem von Schwänken und Lustspielen; Werke: „Die stille Wache“ (1895), „Hohe Politik“ (1909). 1883 „Wie die Alten sungen“ (UA 1895), Lustspiel von Karl Niemann (18860- 1893). 1921 „Die Welt, in der man sich langweilt“, Schauspiel von Eduard Pailleron (1834-1899). 1922/ 23 „Das zweite Gesicht“, Lustspiel von Oscar Blumenthal (1852-1917). 1926 Giuseppe Giacosa (1847-1906), italienischer Schriftsteller, Schauspieler, Librettist; berühmt vor allem durch seine Opernlibretti; für G. Puccini Werke: „La Bohème“ (1896), „Tosca“ (1900), „Madama Butterfly“ (1904). „Sündige Liebe“, Schauspiel von Giuseppe Giacosa. 1933 Bühnenthebaner, die in Böotien lebenden Einwohner der Stadt Theben galten als sehr einfältig und unempfänglich für geistige Anregung. 1949/ 50 "Il y faut plaisanter; et c’est une étrange entreprise que celle de faire rire les honnêtes gens.“, Zitat aus „Schule der Frauen“ von Molière (Szene 6, Vers 214). 1957 Faiseure, verächtlich für Unternehmer. 1958 Meininger Herzogs (= Herzog Georg II von Sachsen-Meiningen) (1826- 1914); Theaterleiter, Regisseur, Bühnenbildner; Leitung des Meininger Hoftheaters; gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Ellen Franz (1839- 1923), und dem Regisseur Ludwig Cronegk (1837-91) Etablierung eines modernen Regietheaterstils, der sich vor allem durch historische Genauigkeit in Bühne und Kostüm sowie ein geschlossenes Ensemblestil auszeichnete; mit den Meiningern internationale Erfolge auf Gastspielreisen. 1963 Henry Georg Pierson (1851-1902), Theaterleiter; 1896-1902 Direktor der Generalintendatur des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 1975 Pietro Mascagni (1863-1945) italienischer Komponist; einer der wichtigsten Vertreter des musikalischen Verismus; Werke: „Cavalleria rusticana“ (1890), „Parisina“ (1913). 1980 „Sonnenwendhof“ (1857), Volksschauspiel von Salomon Mosenthal (1821- 1877). 2001/ 02 Raphael Löwenfeld (1854-1910); Theaterleiter, Slawist, Publizist; ab 1897 Leitung des Schillertheaters und Mitgründer der Schillertheater AG in Berlin; 1898-1906 Herausgeber der Zeitschrift Die Volksunterhaltung. <?page no="243"?> Kommentar 243 2015/ 16 „Die zärtlichen Verwandten“, Schauspiel von Roderich Benedix (1811- 1873). 2022 Albert Patry (1864-1938), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Heidelberg, Halle; 1889-1891 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1892 Engagement am Lobe-Theater in Breslau; 1896-1901 Mitglied des Schillertheaters in Berlin; ab 1901 Engagement am Lessing-Theater in Berlin. 2029/ 30 Bellealliance-Theater (Berlin), 1854 Eröffnung unter der Leitung August Wolfs (1835-unbekannt) als Vaudevilletheater; 1887-1903 Leitung durch Hermann Bruckhoff (genannt 1887) und Hermann Sternheim (1849-? ? ? ); ab 1897-1899 Leitung durch Georg Dröscher (1854-1943); 1913 Abriss des Theatergebäudes. 2034 Bruno Wille (1860-1928), Prediger, Philosoph, Journalist, Schriftsteller; Mitglied des Friedrichshagener Dichterkreis; 1890 Gründung des Theatervereins Freie Volksbühne. 2051/ 52 Richard Anger (1846-1901), Theaterleiter, Schriftsteller, Dramatiker; Leitung des Volks-Theaters bzw. Luisen-Theaters in Berlin; Verfasser von Berliner Possen; Werke: „Berliner Leben“, „Berliner Tiroler“ 2057 Richard Schultz (1863-1928), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wien, Marburg; 1890-1893 Leitung des Tivolitheaters in Bremen; 1894-1898 Leitung des Central-Theaters Berlin; 1898- 1919 Leitung des Metropoltheaters in Berlin. 2061 Julius Freund (1862-1914), Schriftsteller, Dramatiker, Komponist; Engagement am Burgtheater Wien; Hausdichter am Metropoltheater Berlin; Werke: „Auf ins Metropol! “ (1905), „Der Teufel lacht dazu“ (1906), „Die Reise um die Welt in 80 Tagen“ (1908). 2062 Emil Thomas (eigentlich Emil Tobias) (1836-1904), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Zürich, Frankfurt, Breslau; ab 1861 Engagement am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater Berlin; 1868-1871 Engagement am Wiener Burgtheater; ab 1875 Leitung des Woltersdorfftheaters Berlin; danach rege Gastspieltätigkeit; 1881 Engagement an der Komischen Oper Wien; 1883 Mitglied des Wallnertheaters Berlin; mehrmalige Gastspieltätigkeit in den USA; unterschiedliche Engagements in Berlin, u.a. am Thalia-Theater, Metropoltheater, Residenztheater; einer der beliebtesten deutschen Schauspieler. 2070 Robert Guthery (der Jüngere) (1839-1918), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Halle, Amsterdam, Hamburg, Köln; Engagements am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, Wallnertheater, Central- Theater und Metropoltheater in Berlin; vor allem durch komische Rollen bekannt. Ernst Formes (1841-1898), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wiesbaden, Breslau, Wien, Berlin; 1878-1892 Engagement am Thalia Theater in Hamburg; danach Engagements in Berlin, u.a. am Berliner Theater und am Schillertheater. Guido Thielscher (1859-1941), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Berliner Bühnen, u.a. am Wallnertheater, Central-Theater, Deutschen Theater, Metropoltheater, Theater des Westens, Lessing-Theater. <?page no="244"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 244 Leopold Deutsch (1853-1930), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Wien, München, Sankt Petersburg; ab 1890 Engagement am Wallnertheater in Berlin; rege internationale Gastspieltätgkeit; 1887- 1888 Engagement am Thalia-Theater in Berlin; ab 1888 Engagemant am Deutschen Volkstheater in Wien. Karl Pauli (1856-? ), Schauspieler, Schriftsteller, Dramatiker; ab 1885 Engagement am Residenztheater in Berlin; Verfasser von Schwänken und Humoresken; Werke: „Der verhängnisvolle Skat“ (1889), „Versichert“ (1898). 2070/ 71 Hans Fischer, Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller, Dramatiker; ab 1893 Mitglied des Deutschen Theaters in Berlin; verfasste auch Bühnenstücke; Werke: u.a. „Rabenvater“ (gemeinsam mit Joseph Jarno [1866-1932]). Gisela Schneider-Nissen (1870-1944), Schauspielerin; ab 1884 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1901 ausschließlich Gastspieltätigkeit. 2072 Ella Gabri, Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Breslau, Altenburg; 1894-1897 Engagement am Theater des Westens in Berlin; ab 1898 Engagement am Stadtttheater in Breslau. Hedwig Gallus (1848-1926), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. am Deutschen Theater in Berlin. 2073 Paula Eberty (verheiratete Klaar) (1869-1929), Schauspielerin; Engagement am Deutschen Theater in Berlin. 2078/ 79 Richard Alexander (1852-1923), Schauspieler, Theaterleiter; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Berlin, Hamburg, München, Wien; nach Engagement am Residenztheater Berlin 1904-1912 auch Leitung der Bühne. 2084 Hans Pagay (1843-1915), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Linz, Wien; ab 1886 Engagement am Deutschen Theater in Berlin. 2089 Wilhelm Hasemann (1843-1910), Schauspieler, Theaterleiter; Leitung unterschiedlicher Bühnen, u.a. in Wien, Lübeck; ab 1895 Leitung des Adolph- Ernst-Theaters in Berlin und Umbenennung der Bühne in Thalia-Theater. 2090 Julius Sachs (1868-1924), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Augsburg, Darmstadt, Berlin, Wien; 1897-1899 Engagement am Thalia-Theater in Berlin; ab 1900 Engagement am Josefstädtertheater in Wien. 2090/ 91 Hans Jun(c)kermann (1872-1943), Schauspieler; ab 1894 Engagement am Residenztheater in Wiesbaden; ab 1896 Mitglied des Thalia-Theaters in Berlin; später Engagement am Trianontheater in Berlin; internationale Gastspieltätigkeit, u.a. in den USA. 2106 Georg Molenar (eigentlich Georg Müller) (1864-1924), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Breslau, Dresden; 1890-1893 Engagement am Lessing-Theater in Berlin; ab 1893 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. Marie Meyer (1840-1908), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in München, Hamburg, Prag, Sankt Petersburg; 1891- 1902 Engagement am Lessing-Theater (Berlin). 2107 Luise von Pöllnitz (? -1904), Sängerin, Schauspielerin; ab 1865 Mitglied der Berliner Hofoper; ab 1883 Engagement am Residenztheater in Berlin; 1884- <?page no="245"?> Kommentar 245 1890 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1890 Engagement am Lessing-Theater in Berlin; später erneutes Engagement am Deutschen Theater in Berlin. 2113 „König Heinrich“, Shakespeares „Heinrich IV“. 2122 Goethe-Theater (Berlin), unter der kurzen Leitung Aloys Praschs (1858- 1907) in den Jahren 1897/ 1898 Umbenennung des Berliner Theater des Westens in Goethe-Theater. 2126 Ihn schrecken nicht, Zitat aus Schillers „Maria Stuart“ (I, 6). 2128 Theodor Lebrun (eigentlich Theodor Leineweber) (1822-1895), Schauspieler, Theaterleiter; Engagement an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Breslau, Hannover, Wiesbaden; 1865-1889 Leitung des Wallnertheaters in Berlin. 2129 Doppelregimentes, Prasch hatte 1897 sowohl die Leitung des Berliner Theaters wie auch die des Theater des Westens inne; der genannte Sigmund Lautenburg (1852-1918) leitete in den 1890er Jahren mit dem Residenz- und dem Neuen Theater zwei Bühnen gleichzeitig, wie auch Oscar Blumenthal (1852- 1917), der das Lessing-Theater und das Berliner Theater ab 1893 gleichzeitig geführt hatte. 2149 Ferdinand Bonn (1861-1933), Schauspieler, Theaterleiter, Schriftsteller, Dramatiker; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Nürnberg, München, Wien; Engagement am Lessing-Theater (Berlin); ab 1902 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1905 Leitung des Berliner Theaters; dort vor allem bekannt durch die opulenten Inszenierungen seiner eigenen Dramatisierungen der „Sherlock Holmes“-Romane Arthur Conan Doyles (1859-1930). 2155 Karl Werder (1806-1893), Philosoph; bekannt durch ästhetische Vorlesungen über »Hamlet« (1875), »Macbeth« (1885), »Wallenstein« (1889). 2156 Adolf Gelber (1856-1923), Schriftsteller; verfasste u.a. „Shakespeare'sche Probleme. Plan und Einheit im Hamlet“ (1898). 2283/ 84 Marie Frauendorfer (1868-1941), Schauspielerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Brslau, Königsberg; Engagements am Residenztheater und am Deutschen Theater in Berlin; ab 1898 Engagement am Berliner Theaters; ab 1905 Mitglied des Hoftheaters in Karlsruhe. Rosa Albach-Retty (1874-1980), Schauspielerin; ab 1890 Engagements an unterschiedlichen Bühnen in Berlin, u.a. am Deutschen Theater, am Berliner Theater wie am Lessing-Theater; 1895-1903 Engagement am Deutschen Volkstheater in Wien; ab 1905 Mitglied des Burgtheaters in Wien. 2197 Ernst von Wolzogen (1855-1934) Schriftsteller, Dramatiker; 1901 Gründung und Leitung des Überbrettl im Bunten Theater in Berlin; einer der Begründer des Kabaretts in Deutschland. 2199 Elsa Bernstein (Pseudonym Ernst Rosmer) (1866-1949), Schauspielerin, Schriftstellerin, Dramatikerin; vor allem bekannt durch ihre Dramen; Werke: „Königskinder“ (1895), „Themistokles“ (1897). 2200 Georg Hirschfeld (1873-1935), Schriftsteller, Dramatiker; Förderung durch Dramatiker und Theaterleiter, wie Ernst von Wildenbruch (1845-1909), Otto Brahm (1856-1912), Gerhart Hauptmann (1862-1946) und Theodor Fontane (1819-1898); Werke: „Die Mütter“ (1895), „Nebeneinander“ (1904). <?page no="246"?> 4. Linsemann: Die Theaterstadt Berlin (1897) 246 2214 „Guten Morgen, Herr Fischer“, Singspiel von Eduard Stiegmann und Wilhelm Friedrich Riese (1805-1879). 2219 „Die Mütter“, Schauspiel von Georg Hirschfeld (1873-1935). 2278 Spree-Athen, Bezeichnung für Berlin; erste Verwendung in einem Lobgedicht von Erdmann Wircker auf Friedrich I (in: „Märkische neun Musen etc.“, 1706). 2312/ 13 Prestidigitateur, Taschenspieler, Gaukler. 2320 Yvette Guilbert (1869-1944), französische Sängerin, Chansonette; ab 1889 Auftritte in Variétés in Paris; rege internationale Gastspieltätigkeit, u.a. im Berliner Wintergarten. 2324/ 25 cabinet particulier, Hinterzimmer; Ort, an dem Öffentlichkeit und Intimität verschwimmen. 2327 „Barrisons“ (= Barrison Sisters), US-amerikanische Varieté-Truppe; bestehend aus den Schwestern Lona (Abelone Maria), Sophia, Inger, Olga und Gertrude Barrison; gilt als erste Girl-Truppe; 1891-1900 rege Gastspieltätigkeit in den USA und Europa. 2345/ 46 „Die Gigerlkönigin“, beliebter Schlager von Paul Lincke (1866-1946). 2346 „Schaffner, lieber Schaffner“, beliebter Schlager. „Linger longer loo“, Lied aus dem Programm der Barrison Sisters. 2346/ 47 „Du ahnst es nicht“, beliebter Schlager. 2388/ 89 Carthaginem esse delendam! , Verkürzung des berühmten Ausspruchs von Cato („ceterum censeo, Carthaginem esse delendam“, übersetzt: „im Übrigen bin ich der Ansicht, dass Karthago zerstört werden muss“). <?page no="247"?> 5. Victor Laverrenz: Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898 ) Einführung Victor Laverrenz’ (1862-1910) „Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins“ aus dem Jahr 1898 ist keine Streit-, sondern eine Werbeschrift für ein Bühnenreformprojekt: ein bürgerliches Schauspielhaus in Form einer Aktien-Gesellschaft. Ziel des Textes ist es, dem Leser das Projekt vorzustellen und ihn von der (finanziellen) Unterstützung des Entwurfs zu überzeugen. Wie in der Werbeschrift betont wird, soll es sich um ein Unternehmen handeln, das insbesondere das gebildete, aber finanziell schlechter gestellte Bürgertum anspricht, welches sich die hohen Eintrittspreise der privaten Berliner Bühnen in der Regel nicht leisten kann. So heißt es: „Und wer ist der Unbemittelte? Etwa nur der Arbeiter? Sind nicht vielmehr die Vertreter der Geisteswelt mit den allerwenigsten Ausnahmen selbst von größerem Einkommen ausgeschlossen? “ (Laverrenz, 98ff.) Hier artikuliert sich ein Gefühl der kulturellen Benachteiligung des Kleinbürgertums. Dieses lässt sich mitunter als Reaktion auf die Volksbühnenbewegung zurückführen: Seit den 1890er Jahren wurden eine Reihe von Theatervereinen gegründet, bspw. die Freie Volksbühne oder die Neue Freie Volksbühne, deren erklärtes Ziel es war, speziell die Arbeiterschaft in das kulturelle Leben zu integrieren. Die Gründung eines bürgerlichen Schauspielhauses kann demzufolge als bürgerlich-emanzipatorischer, sozial-reformatorischer Akt, als ein Versuch der Schaffung einer Möglichkeit zur kulturellen Teilhabe des Kleinbürgertums am öffentlichen Leben, repräsentiert durch das Theater, interpretiert werden. Das Konzept des bürgerlichen Schauspielhauses ist nach dem Ideal eines, wie im Text gerne betont wird, „volkstümlichen Theaters“ konzipiert: Es wird baulich wie ökonomisch als demokratisiertes Theater beschrieben, weswegen die Eintrittspreise vergleichsweise niedrig sein sollen; zusätzliche Kosten für Garderobe und Theaterzettel sollen vermieden werden. Der sozialverträgliche Anspruch bezieht sich auch auf die am Haus engagierten Bühnenkünstler und vor allem -künstlerinnen: Sie sollen einen verbesserten gesellschaftlichen Stand und moralischen Ruf genießen. Ästhetisch orientiert sich das Theater am Ensemblespiel nach dem Vorbild der Meininger; allerdings soll die Ausstattung nicht so prunkvoll, sondern angemessen und bescheiden sein. Das Repertoire soll sich aus Dramen zusammensetzen, die zwar anspruchsvoll, aber nicht elitär-intellektuell und damit für jedermann verständlich und bildend sind. Neben den Klassikern soll auch der zeitgenössische literarische Nachwuchs gepflegt werden. Die klare Zielsetzung des Theaters ist es, ein „Volkserziehungs- und Erbauungs-Institut und nicht ein Geschäftstheater“ (Laverrenz, 264f.) zu sein. Um die Seriosität des Unterfangens zu unterstreichen bedient sich der Text mehrerer Legitimationsstrategien: Er beginnt mit einer Einleitung Laverrenz’, in welcher er eine Rede Kaiser Wilhelms II. zu den Zielsetzungen des Theaters zitiert, und endet mit einem zusammenfassenden Kapitel des Autors. Neben den <?page no="248"?> 5. Laverrenz: Ein bürgerliches Schauspielhaus (1898) 248 Laverrenz’schen Rahmentexten kommen weitere Autoren zu Wort: Als ausgewiesene Experten wollen sie jeweils eine wichtige Aufgabe im bürgerlichen Schauspielhaus übernehmen, sei es die Bühnenmalerei, das Kostümbild oder die künstlerische Leitung. So darf jeder Spezialist auf einigen Seiten seine Kompetenz unter Beweis stellen. Im Text ist eine lange Liste angeblich am Projekt interessierter, namentlich genannter Bürger zu finden. Dabei handelt es sich zum Großteil um bekannte und damit beim potenziell am Modell interessierten Leser Vertrauen erweckende Personen der besseren Berliner Gesellschaft, u.a. etablierte Schriftsteller, Rechtsanwälte, Militärs a.D., etc. Diese seien bereits - so wird hier etwas vage formuliert - „zur Förderung dieses volkstümlichen Unternehmens in so warmherziger Weise eingetreten“ (Laverrenz, 152f.). Außerdem finden sich Tabellen und Rechenbeispiele, um die aufgestellten Thesen zum Nutzen des bürgerlichen Schauspielhauses auch statistisch zu belegen. Das Konzept setzt viele im Diskurs anklingende Vorstellungen von einem „guten“ und anspruchsvollen Theater in praktikable Thesen um. Es hat - aus heutiger Sicht - nur einen Haken: Zur Realisierung des hehren Vorhabens eines bürgerlichen Schauspielhauses im Westen Berlins kam es nie. Über die Gründe für das Scheitern des Projekts lässt sich heute nur noch spekulieren. Vielleicht lag es an Finanzierungsschwierigkeiten, vielleicht daran, dass Laverrenz’ Idee so neu nicht war; im Gegenteil: Das Konzept des bürgerlichen Schauspielhauses ähnelt sehr dem des Schiller-Theaters, das im Jahr 1894 von Raphael Löwenfeld ins Leben gerufen wurde. Dieser hatte das ehemalige Wallner- Theater im ärmeren Osten Berlins gepachtet und für sein Vorhaben eine Theater- Aktiengesellschaft gegründet. Unterstützt wurde er durch kulturell interessierte und finanziell etablierte Berliner Bürger. Durch die niedrigen Eintrittspreise und das vom Klassiker bis zum Lustspiel reichende Repertoire gewann das Theater ein vor allem kleinbürgerliches Publikum und erfreute sich noch lange Zeit eines sehr guten Rufes - nicht nur beim Publikum, sondern auch bei der Berliner Kritik. Vergleicht man die beiden Konzepte miteinander, sieht man einen der möglichen Gründe, warum das des bürgerlichen Schauspielhauses nicht in die Praxis umgesetzt wurde: Es gab bereits ein solches Theater - allerdings im Osten Berlins, wo auch das dafür passende Publikum lebte. Lediglich die Gründung eines zweiten Standortes im teureren Westen der Hauptstadt konnte nicht reichen. Trotzdem ließ sich der ausgewiesene Berlin-Kenner Laverrenz - dies zeigt sich in seinen sonstigen Schriften bspw. zum Berliner Witz und den Berliner „kleinen Leuten“ - nicht von seinem Plan eines Theaters abbringen: Im Jahr 1900 gründete er gemeinsam mit Dr. Erich Korn den Theaterverein Deutsche Volksbühne, der dem Konzept der meisten Theatervereine entsprach und wie viele andere nur mäßigen Erfolg hatte. Außerdem wagte er 1904 eine weitere Theaterunternehmung: Er wurde künstlerischer Leiter des im Osten Berlins angesiedelten und bis dahin für seine Lustspielaufführungen bekannten Karl Weiß-Theaters, in welchem er - allerdings nur zwei Jahre lang - unter dem Namen Deutsches Volkstheater ein kleinbürgerliches Publikum mit Klassikervorstellungen und neueren Dramen zu erbauen versuchte. Stefanie Watzka <?page no="249"?> Victor Laverrenz Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) Ein Kaiserwort über die Aufgaben der deutschen Bühne. Schon mehr als einmal, seit Kaiser Wilhelm II. vor nunmehr zehn Jahren von sei- 5 nem unvergeßlichen Großvater und Vater die deutsche Krone geerbt hat, ist aus seinem erlauchten Munde ein kräftiges Wort gegangen, das wie ein zündender Funke durch alle deutschen Lande lief und alle Herzen bewegte, das neue hohe Ziele, nach denen Viele mehr oder weniger bewußt sich sehnten, klar und deutlich enthüllte und durch die Kundgebung des festen Entschlusses, sie zu errei- 10 chen, Tausende mit begeistertem Mut und frischer Thatkraft erfüllte. Dieser unermüdliche Schaffensdrang, diese aus dem Innersten quellende, mächtig nach außen sich geltend machende Initiative ist vielleicht die herrlichste Gabe, die dem jungen Herrscher vom Schicksal mitgegeben, und die er immer von neuem wieder in den Dienst des Vaterlandes und des allgemeinen Wohles stellt. 15 Galt so manche kräftige Rede der Festigung der deutschen Macht zu Wasser und zu Lande, der Fürsorge für die mit der Ungunst der Verhältnisse kämpfenden Volksschichten oder Berufsarten, der Hebung des Verkehrs, dem Unterricht und der Erziehung der deutschen Jugend, so ist es diesmal die deutsche Kunst und insbesondere die deutsche Bühne, der sich die Aufmerksamkeit des Kaisers zu- 20 wendet, der seine Worte erhabenen Schutz, kräftige Förderung und, so Gott will, eine neue Blüte verheißen. Wir geben hier noch einmal den öffentlich mitgeteilten Wortlaut der Ansprache, die Kaiser Wilhelm II. am 16. Juni dieses Jahres an die versammelten Mitglieder der Königlichen Schauspiele in Berlin gerichtet hat: 25 „Ich habe Sie gebeten, sich hier einzufinden, weil Ich wünschte, daß Sie an dem heutigen Feste teilnehmen sollten, wie alle andern, die heute zu Mir gekommen sind und mit Mir feiern. Als Ich vor zehn Jahren zur Regierung kam, da trat Ich aus der Schule des Idealismus, in welchem Mich Mein Vater erzogen hatte. Ich war der Ansicht, daß das 30 Königliche Theater vor allen Dingen dazu berufen sei, den Idealismus in unserem Volke zu pflegen, an welchem es, Gott sei Dank! noch so reich ist und dessen warme Wellen noch in seinem Herzen reichlich quellen. Ich war der Überzeugung und hatte Mir fest vorgenommen, daß das Königliche Theater ein Werkzeug des Monarchen sein sollte, gleich der Schule und der Universität, welche die Aufgabe haben, das heranwach- 35 sende Geschlecht heranzubilden und vorzubereiten zur Arbeit für die Erhaltung der höchsten geistigen Güter unseres herrlichen deutschen Vaterlandes. Ebenso soll das Theater beitragen zur Bildung des Geistes und des Charakters und zur Veredelung der sittlichen Anschauungen. Das Theater ist auch eine Meiner Waffen. <?page no="250"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 250 Es liegt Mir am Herzen, Ihnen Allen Meinen innigsten, herzlichsten, tiefge- 40 fühltesten Königlichen Dank für die Bereitwilligkeit, mit der Sie sich dieser Aufgabe unterzogen haben, anzusprechen. Den hohen Erwartungen, die Ich von dem Personal Meiner Oper und Meines Schauspiels gehegt habe, haben Sie vollständig entsprochen. Es ist die Pflicht eines Monarchen, sich um das Theater zu kümmern, wie Ich es an den Beispielen meines hochseligen Vaters und Großvaters gesehen habe, eben weil 45 es eine ungeheuere Macht in seiner Hand sein kann, und Ich danke Ihnen, daß Sie unsere herrliche, schöne Sprache, daß Sie die Schöpfungen unserer Geistesheroen und derjenigen anderer Nationen in so hervorragender Weise zu pflegen und zu interpretieren verstanden haben. Ich danke Ihnen ferner, daß Sie auf alle Meine Anregungen und Wünsche eingegangen sind. Ich kann es mit Freude sagen, daß alle Länder mit Aufmerk- 50 samkeit die königlichen Theater in ihrer Thätigkeit verfolgen und mit Bewunderung auf Ihre Leistungen blicken. Ich habe die feste Überzeugung, daß die Mühe und Arbeit, die Sie auf Ihre Darstellungen verwendet, nicht vergeblich gewesen sind. Ich bitte Sie nun, daß Sie Mir fernerhin beistehen, jeder in seiner Weise und an seiner Stelle, im festen Gottvertrauen dem Geiste des Idealismus zu dienen und den Kampf 55 gegen den Materialismus und das undeutsche Wesen fortzuführen, dem schon leider manche deutsche Bühne verfallen ist. Und so wollen Sie in diesem Kampfe fest bestehen und in treuem Streben ausharren. Halten Sie sich versichert, daß Ich jeder Zeit Ihre Leistungen im Auge behalten werde und daß Sie Meines Dankes, Meiner Fürsorge und Meiner Anerkennung gewiß sein können.“ 60 An diesen kaiserlichen Worten wird jeder seine helle Freude haben, der ein Herz hat für echte deutsche Kunst und insbesondere für eine ideale und volkstümliche deutsche Bühne. Nicht ungehört ist dieser Aufruf verhallt. Hoffen wir, daß die hochbedeutsamen und weittragenden Worte unseres Kaisers ein neues Verständnis eröffnen 65 für die Wichtigkeit einer volkstümlichen und idealen deutschen Bühne und die Herzen zu thatkräftiger und opferwilliger Liebe für eine echte deutsche Kunst entflammen. Gewiß, auch die Bühne ist „eine Waffe“ in der Hand eines hochsinnigen Fürsten, eine Waffe gegen niedrige und undeutsche Denkart, gegen selbstsüchtige und materielle Gesinnung; sie ist oder sollte immer sein eine Hüterin der 70 idealen Besitztümer unseres Volkes, eine unvergleichliche Bildungsstätte des Geistes und des Herzens für jedes empfängliche Gemüt; sie hat „gleich der Schule und Universität die Aufgabe, das heranwachsende Geschlecht heranzubilden zur Arbeit für die Erhaltung der höchsten geistigen Güter unseres herrlichen deutschen Vaterlandes,“ sie soll „beitragen zur Bildung des Geistes und des Charak- 75 ters und zur Veredelung der sittlichen Anschauungen.“ Bricht sich diese Auffassung, die hier von erhabenem Munde verkündigt wird, überall in unsrem Volke Bahn, so ist uns um das Gedeihen der deutschen Bühne und der deutschen dramatischen Dichtung nicht bange; darum wünschen wir auf das sehnlichste, daß diese Kaiserworte nicht nur laut und vernehmlich 80 durch alle deutschen Gaue erklingen, sondern auch kräftig und dauernd nachwirken und sich umsetzen mögen in eine von Fürsten und Volk gemeinsam geförderte Arbeit zur Pflege einer edlen deutschen Kunst. Diese hehren Kaiserworte sollen auch uns ein Leitstern sein bei der Errichtung eines Bürgerlichen Schauspielhauses im Westen Berlins. 85 <?page no="251"?> Victor Laverrenz 251 Aufruf. Von Dr. Adalbert von Hanstein. Die Kunst dem Volke! Das ist der große Grundsatz, den das letzte Jahrzehnt unseres scheidenden Jahrhunderts aufgestellt hat. Wenn der Sturmwind eines neu erwachenden Idealismus die Brutstätten der 90 Volksverbildung, die Tingeltangel und die Singspielhallen hinwegfegen soll, so müssen zuvor Hände sich regen, die in wetteiferndem redlichen Bemühen wirkliche Tempel hehrer Kunst errichten. Wie großartig auch in mancher Hinsicht die Berliner Theater ausgestattet sein mögen, sie leiden fast alle an dem Fehler, daß sie mit ihren teuren Eintrittspreisen die Bühnenkunst zu einem Sonderbesitz der 95 wohlhabenden Klassen machen; aber an den strahlenden Hallen schreitet der Unbemittelte entsagend vorüber. Und wer ist der Unbemittelte? Etwa nur der Arbeiter? Sind nicht vielmehr die Vertreter der Geisteswelt mit den allerwenigsten Ausnahmen selbst von größerem Einkommen ausgeschlossen? Ist das Gehalt eines Gymnasiallehrers, eines Richters, eines Universitäts-Professors, ist 100 das Durchschnittseinkommen eines Arztes, eines Kaufmanns oder Handwerkers etwa ausreichend, um die enormen Theaterpreise zu zahlen, damit er seinen heranwachsenden Kindern die Schönheiten der dramatischen Welt zeigen könne? In wie manche Familien halten Materialismus und Frivolität ihren Einzug, weil die lauteren Freuden des Lebens ihnen verschlossen sind! So giebt es denn 105 kaum eine Frage von größerer Wichtigkeit, als die der volkstümlichen Schauspielhäuser. Im Osten Berlins ist man dem Bedürfnis schon teilweise entgegengekommen, aber der Westen gilt den Unternehmern immer nur als der Stadtteil des Luxus und neben Marmorpalästen und Prunkwohnungen entstehen hier Kunstanstalten von monumentaler Pracht, die aber nur für die oberen Zehntausend 110 ihre Pforten öffnen. Hier wollen wir Abhilfe schaffen! Es gilt auf dem Gebiete der Potsdamer Vorstadt, leicht zugänglich für die Bewohner der westlichen Vororte, zugänglich für alle die Tausende arbeitsamer Bürger und Beamten des Westviertels ein Schauspielhaus zu errichten, das in erster Linie eine vornehme Stätte der Erholung und 115 Erhebung, deutsch in seinem Gepräge, rein in seinen Darbietungen und in seinem Spielplan mannigfaltig sei. Unsere deutschen Klassiker, die Meisterwerke des Auslandes, die neueren Erzeugnisse der Litteratur, soweit sie in den Rahmen einer volkstümlichen Bühne passen, erziehlich und versittlichend wirken, sollen in diesem Hause in möglichst vollendeter und künstlerischer Ausgestaltung für 120 den mäßigsten Preis dargeboten und neben dem hohen künstlerischen Ernst soll auch ganz besonders dem echten, gesunden Humor die ihm gebührende Stelle eingeräumt werden. Kein Virtuosentum unter minderwertigen Leistungen soll hier wirken, sondern ein gleichmäßiges Ensemble von auserlesenen, begabten Kräften, deren Ge- 125 samtleistung vor allem in Betracht kommt. Der Preis von 2 Mark für den Parkettplatz soll als Maßstab für die Regulierung der übrigen Eintrittspreise gelten. Keine Nebenausgaben für Garderobe und Theaterzettelverkauf sollen dem Besu- <?page no="252"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 252 cher nachträglich noch die Tasche plündern helfen. Dafür soll eine genügende Anzahl von Plätzen - etwa achtzehnhundert - hergestellt werden und ein ausge- 130 dehntes Abonnementssystem soll auch Familien, Vereinen und ganzen Gruppen der Bevölkerung eine noch weiter gehende Erleichterung bieten, um ihnen die echte Kunst in ernster und heiterer Vertretung vorzuführen, wobei alles dasjenige streng ausgeschlossen sein soll, was dem Stile eines bürgerlichen Schauspielhauses im edelsten Sinne des Wortes nicht entspricht. 135 Zur Vorgeschichte. Als Professor Carl Emil Doepler der Ältere, Dr. Adalbert von Hanstein und der Verfasser dieser Schrift zu Beginn des Jahres 1898 zusammentraten mit der Absicht, dem deutschen Volkstum in der Reichshauptstadt eine neue, würdige Kunststätte der Erholung und Erbauung zu errichten, erließen dieselben zunächst 140 an höher gestellte Persönlichkeiten und geistig hervorragende Kreise der Metropole, bei denen sie ein Interesse für ein Unternehmen wie das von ihnen geplante vermuten durften, einen Aufruf, welcher dem als Vorwort dieser Schrift abgedruckten Aufsatze Dr. Adalbert von Hansteins entsprach, und konnten zu ihrer großen Genugthuung schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit konstatieren, daß 145 fast sämtliche Aufgeforderte sie der lebhaftesten Sympathie mit ihrem Beginnen versichert und sich auf das liebenswürdigste bereit erklärt hatten, an dem von ihnen geplanten humanitären Werke mitzuarbeiten. Nachstehend folgen die Namen der Gönner und Freunde, welche zur Förderung dieses volkstümlichen Unternehmens in so warmherziger Weise eingetreten 150 sind: [Es folgt eine mehrseitige Liste von Namen potenzieller Sponsoren - die Hrsg.] Ist in Berlin das Bedürfnis nach einem neuen Theater vorhanden? Wenn jemand sich mit der Absicht der Errichtung eines neuen Theaters beschäf- 155 tigt, so ist selbstverständlich die erste Frage, welche auftaucht und sich an den oder die Schöpfer des Unternehmens herandrängt, die Bedürfnisfrage, und es wäre ein Grundfehler, wenn man diese wichtigste aller Fragen beiseite schieben oder gar völlig mißachten wollte. Auf den ersten Blick könnte man, wenn man die Sachlage nicht kennt, der 160 Meinung sein, daß unsere Reichshauptstadt genügend mit Theatern gesegnet und daß mithin ein neues zu errichten überflüssig sei. Besonders angesichts des Umstandes, daß eine Anzahl von Theatern in Berlin schlechte Kassenerfolge erzielt, läge es vielleicht nahe, zu einer direkten Verneinung der oben aufgeworfenen Frage zu kommen. Doch nur dem mit dieser Materie nicht genügend Vertrauten 165 kann es so erscheinen. Der Kenner und derjenige, der gewohnt ist, den Dingen auf den Grund zu sehen, wird zu einem ganz anderen Resultate gelangen. <?page no="253"?> Victor Laverrenz 253 Hierzu ist es unbedingt notwendig, die Berliner Lokal-Verhältnisse im allgemeinen und seine Theaterzustände im besonderen zu betrachten. Bevor ich jedoch zur näheren Erörterung dieses interessanten Themas übergehe, sei es mir 170 gestattet, einige statistische Daten hier anzuführen, welche die Bedürfnisfrage besser illustrieren, als langatmige Auseinandersetzungen dies zu thun imstande wären. Ein alter erfahrener Theaterpraktiker nennt es „ein weitverbreitetes Laienvorurteil“, wenn man annimmt, die Reichshauptstadt habe bereits gegenwärtig zu 175 viel Theater. Grade das Gegenteil ist der Fall. Die Zahlen, welche anzuführen ich mir sogleich erlauben werde, zeigen unabweislich, daß Berlin hinter den größeren Provinzstädten des deutschen Reiches und den Metropolen Europas, ja der ganzen Welt, hinsichtlich keines [sic! ] Theaterreichtums (nämlich im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer) zurücksteht und sogar als die „theaterärmste“ Stadt bezeich- 180 net werden kann. Es kommen in Berlin auf einen Sitzplatz 90 Einw. in Wiesbaden 37 Einw. Braunschweig 60 “ Paris 63 “ Bremen 29 “ London 65 “ Köln a.Rh. 79 “ New York 31 “ Danzig 34 “ Brooklyn 33 “ Frankfurt a.M. 71 “ Boston 21 “ Halle 54 “ Philadelphia 48 “ Hamburg-Altona 57 “ Pittsburg 18 “ Hannover 32 “ San Francisco 20 “ Karlsruhe 37 “ Melbourne 37 “ Königsberg i.Pr. 56 “ Auckland 61 “ Mannheim 53 “ Adelaide 24 “ München 49 “ Sidney 26 “ Stettin 65 “ Kapstadt 15 “ Stuttgart 83 “ Calcutta 43 “ Weimar 27 “ Bombay 72 “ Wien 82 “ “ 185 Diese Zahlen sprechen eine beredte Sprache. Allerdings genügen die nackten Ziffern allein noch nicht, die Bedürfnisfrage endgiltig zu entscheiden. Es ist vor allen Dingen notwendig, auch das mangelnde Interesse der Berliner Bevölkerung am Theater in Betracht zu ziehen und zu prüfen, was wohl die Veranlassung dazu sein könnte, daß einige Berliner Theater mit finanziellen Schwierigkeiten zu 190 kämpfen haben. Die Antwort darauf wäre, daß der Besuch der besseren Theater dem minder begüterten Mittelstande durch die viel zu hohen Eintrittspreise und die damit stets verbundenen, unverhältnismäßig hohen Nebenausgaben absolut versagt ist, und so wird der erzieherische Wert einer solchen Bühne, überhaupt für die brei- 195 <?page no="254"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 254 teren Volksschichten - was ich hier im besten Sinne des Wortes aufgefaßt wissen will - völlig illusorisch. Paul Heyse hat sich vor einiger Zeit über den Grundgedanken der Errichtung volkstümlicher Theater mit mäßigen Eintrittspreisen wie folgt ausgesprochen: „Ich kann nur wünschen,“ schreibt er, „daß das Verdienst um die Pflege des 200 ernsten Dramas höheren Stils immer mehr gewürdigt, immer mehr erkannt werden möchte, wie folgenreich und dankenswert ein Unternehmen ist, ein Theater zu gründen, das den minder bemittelten Klassen edle dramatische Genüsse zu einem äußerst mäßigen Preise gewährt, damit endlich wieder erkannt werde, daß die dramatische Kunst ein wesentliches Element unserer geistigen Kultur, ein 205 Lebensbedürfnis der Nation, nicht bloß ein gesellschaftlicher Luxusartikel der wohlhabenden Minderheit ist.“ Was sind die Hauptaufgaben eines wahren Volkstheaters? Nachdem in dem vorher Gesagten dargethan wurde, daß in Berlin nach der Seite der allgemeinen Bedürfnisfrage hin die Verhältnisse für ein neues Theater-Unter- 210 nehmen in Berlin sich bedeutend günstiger gestalten, als in sämtlichen Theaterstädten der Erde, möge es gestattet sein, diejenigen Punkte herauszugreifen, auf welche ein besonderes Gewicht gelegt werden muß. In diesem Kapitel werden wir zunächst diejenigen Punkte beleuchten, welche das theaterbesuchende Publikum direkt angehen und die Betrachtung des Spielplanes, der Ausstattung (De- 215 korationen und Kostüme), des Baues in seinen einzelnen Teilen (Bühne und Zuschauerraum) u.s.w. in besonderen Kapiteln folgen lassen, welche von den dazu ausersehenen Gruppenvorständen selbst verfaßt sind. In erster Linie muß das neue Theater, will es in Wahrheit den geistigen Bedürfnissen des Volkes genügen und seiner Kulturaufgabe gerecht werden, billig 220 sein, und sollen infolgedessen die Eintrittspreise so niedrig normiert werden, daß es jedem, selbst dem Unbemitteltsten, möglich sein dürfte, sich einen Kunstgenuß, wie ihn eine gut geleitete Bühne bietet, zu verschaffen. Die Preise der Plätze werden zwischen 3 Mark und 50 Pfennigen variieren. Diese Preise sind, das wird jeder mit den Verhältnissen Vertrauter zugeben, 225 für gute Leistungen ganz außerordentlich mäßig. Aber noch eine weitere Verbilligung soll dem Publikum des Bürgerlichen Schauspielhauses geboten werden und zwar durch den gänzlichen Wegfall der überall üblichen Ausgaben für Garderobe und Theaterzettel. Es ist allbekannt, daß sämtliche Theater aus diesen Untereinnahmen einen nennenswerten Verdienst ziehen; dies geschieht lediglich 230 auf Kosten des theaterbesuchenden Publikums. Aber wo bleibt dann die weihevolle Stimmung des letzteren, mit welcher es sich in’s Theater begeben hat und deren es zum wirklichen Genuß eines Kunstwerkes möglichst ungetrübt bedarf? Sie ging durch die obenerwähnten kleinlichen Plackereien zum großen Teil verloren. 235 Hier gilt es energisch einzugreifen und reformierend Abhilfe zu schaffen. Die Besucher des Bürgerlichen Schauspielhauses werden völlig unentgeltlich die <?page no="255"?> Victor Laverrenz 255 Aufbewahrung der Garderobe erhalten; auch nicht der geringste Aufschlag auf die Billets wird gemacht werden. Gleichwohl wird die Anordnung der Garderoben und die Besetzung derselben durch dienstthuendes Personal eine solche sein, 240 daß auch bei starkem Andrange der fast allgemein übliche Kampf um die Garderobestücke in Wegfall kommt. Beim Eintritt in den Zuschauerraum wird durch den Logenschließer jedem Besucher ein Theaterzettel unentgeltlich verabreicht. So dürfen wir hoffen, dem Zuschauer eine angenehme, durch keinen Mißklang gestörte Stimmung zu erhalten, und er wird von den Darbietungen auf der Bühne 245 einen erhöhten Genuß haben. Mit dem Spielplan und der Form, in welcher die gewählten Stücke geboten werden sollen, werden uns die weiteren Kapitel beschäftigen, doch sei hier von vornherein betont, daß vor allen Dingen das Repertoire täglich wechseln muß. Ganz ausgeschlossen ist es nach unseren Grundsätzen, daß auf der neuen Bühne, welche ein Volkserziehungs- und Erbauungs- 250 Institut und nicht ein Geschäftstheater sein soll, sogenannte „Treffer“ bis zur Bewußtlosigkeit hintereinander wiederholt werden. Derartige Geschäftspraktiken verscheuchen den festen Besucherstamm des Hauses und drücken den Schauspieler vom Künstler zum Handwerker hinab. Sie haben mit der wahren Kunst, welche erheben und erquicken soll, nichts gemein. 255 Gesunde Reformbestrebungen. Von Professor Carl Emil Doepler d. Ä. Die Verwaltung des Bürgerlichen Schauspielhauses gedenkt nächst den billigen Eintrittspreisen, dem Garderobe- und Theaterzettel-Erlaß u.s.w. auch nach anderen Richtungen hin gründliche Reformen eintreten zu lassen, indem sie sich nicht 260 nur der Interessen des verehrlichen Publikums, sondern auch des Wohles ihrer ausübenden Künstlerschar in der uneigenützigsten und kunstförderndsten Weise anzunehmen den festen Entschluß gefaßt hat. Betrachten wir in einigen Zügen die Lage und Stellung der ausübenden dramatischen Künstler. Diese ist, abgesehen von den wenigen, welche das große 265 Glück haben, an einem Hoftheater oder guten Stadttheater mit Jahreskontrakten plaziert zu sein, - einfach entwürdigend. - Die Misère ist an einer großen Anzahl von Provinz- und Stadttheatern gradezu eine zum Himmel schreiende. Die Künstler haben in vieler Beziehung die bittersten und herbsten moralischen wie physischen Leiden durchzumachen und werden sie leider noch weiter durchma- 270 chen müssen, wenn nicht endlich Kämpfer für ihr Wohl eintreten, welche den Mut haben, mit dem altherkömmlichen Unwesen zu brechen. Wir haben hier in erster Linie den unglücklichen Kündigungsparagraphen, diesen Krebsschaden unserer dramatischen Kunst, im Auge; denn vier Wochen lang vom Tage der ersten Vorstellung an bis zum letzten Tag des Monats jede 275 Stunde gewärtig sein zu müssen, trotz besten Könnens, Wollens und gewissenhafter Erfüllung der übernommenen Pflichten, durch die willkürliche Anwendung dieses Paragraphen existenzlos zu werden, ist für den Künstler eine Passionszeit, die nur derjenige, welcher sie durchgekostet, nachzufühlen imstande ist. <?page no="256"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 256 Einige in letzter Zeit bekannt gewordene Gerichtsverhandlungen haben ein trau- 280 riges Licht in das Treiben gewissenloser Direktoren geworfen. Bei dem neu ins Leben tretenden Unternehmen soll der ominöse Paragraph vollständig gestrichen werden, denn nur ein Jahresvertrag kann dem engagierten Mitgliede eine sorgenlose nächste Zukunft bieten und die Lust und Liebe zur Kunst gedeihlich fördern. 285 Direktor Neumann-Hofer vom Lessingtheater soll nach Zeitungsberichten den rühmlichen Anfang damit gemacht haben, in seinen Verträgen die vierwöchentliche Kündigung zu streichen, und können unsere Künstler diese segensvolle und weittragende Reform nur mit freudigem Herzen begrüßen, welche in der Künstlerlaufbahn eine vollständige Umwälzung hervorzubringen berufen sein dürfte. 290 Denn frei muß die Kunst sich regen können, ohne den lähmenden Druck der Existenzfrage. Der Künstler, der einen unkündbaren Jahresvertrag unterzeichnet, tritt mit leichtem und fröhlichem Herzen seinen neuen Wirkungskreis an und wird gewiß in jeder Weise sich seinem hehren Berufe mit ganzer Hingebung widmen, dadurch seine Dankbarkeit dem Institut gegenüber an den Tag legen, 295 und das Publikum wird seinen Vorteil davon haben. Doch noch weiter gedenken wir in unseren Reformbestrebungen zu gehen; es sollen nicht nur die Herren, wie es kontraktlich üblich, sondern auch das Damenpersonal das historische Kostüm geliefert erhalten, und wird dadurch den Damen, welche stets geringer honoriert sind, als ihre männlichen Kollegen, und 300 welche dabei noch ihre sämtliche Garderobe zu stellen haben, eine große Wohlthat und Erleichterung in der Ausübung ihres Berufes zu Teil, eine Wohlthat, die gewiß die vollste Anerkennung aller Künstlerinnen finden dürfte. Ein Chorpersonal, wie es überall zur Statisterie und Komparserie gebräuchlich ist, gedenkt die Verwaltung des bürgerlichen Schauspielhauses nicht zu engagie- 305 ren, sondern nur Schauspieler und Schauspielerinnen, selbst für die kleinsten Sprechrollen. Hier soll namentlich den vielen, jungen, häufig recht talentierten Kräften Gelegenheit geboten werden, sich zu entfalten und zu zeigen, was sie leisten können. Nach solchen Prinzipien glauben die Leiter des neuen Kunstinstitutes ein gut 310 geschultes, harmonisches Ensemble, welches mit voller Freudigkeit und Hingabe zum Gelingen des schönen Ganzen beiträgt, heranzuziehen und immer größerer Vollendung entgegenzuführen, sich selbst und anderen zur Freude, und hoffen damit der Sympathien sowie des Wohlwollens aller Kunstfreu[n]de im voraus versichert zu sein. 315 Wie soll ein bürgerliches Schauspielhaus gebaut werden? Von Franz Jaffé, Königlicher Kreisbauinspektor. Die Zeiten des Beginnes des Theaterbaues in Berlin liegen nicht weit zurück. Seit jenen ersten Anfängen im Jahre 1700, als König Friedrich I. in der Breiten Straße im königlichen Marstall ein kleines, nur für Hofzwecke benutztes Theater 320 erbauen ließ, welches bereits 1708 Montierungsmagazin und 1786 ganz beseitigt <?page no="257"?> Victor Laverrenz 257 wurde, sind kaum 2 Jahrhunderte verflossen. Mit dem Regierungsantritte Friedrichs des Großen änderten sich mit einem Schlage die Verhältnisse. Kaum hatte der junge König Friedrich II. den Thron bestiegen, als er seinem Hofbaumeister Knobelsdorff den Auftrag erteilte, nach italienischen und französischen Vorbil- 325 dern ein Opernhaus zu errichten, welches den damaligen Zeiten weit voraus war und unter der lebhaften persönlichen Anteilnahme des Königs an den Bauplänen und der Ausstattung sich zu einer allerersten Sehenswürdigkeit der Haupt- und Residenzstadt entwickelte. Die späteren Umbauten haben an der ursprünglichen äußeren Gestalt wenig zu ändern vermocht. Der Genius eines Schinkel läßt im 330 Jahre 1817 auf den Brandruinen des Königlichen Schauspielhauses ein neues Schauspielhaus entstehen und schmückt auch die scenischen Aufführungen mit Dekorationen von wunderbarer Großartigkeit und Hoheit der Erfindung. Um diese beiden ragenden Geistesdenkmäler zweier Könige, des Großen Friedrich und Friedrich Wilhelms III. im Verein mit den beiden eben genannten Architekten 335 gruppierten sich damals eine ganze Reihe von kleineren Theatern, teilweise dem kleinen dramatischen Tagesbedürfnis, teilweise der niederen Komik oder der leichtgeschürzten Muse eine Stätte bereitend. Bis in die neuere Zeit hält sich namentlich das Schauspiel an bevorzugter Stelle, bis durch das Eindringen materialistischer Strömungen und fremdländischer Einflüsse eine neue Gattung von 340 Theaterbauten entsteht, die, durch die Gewerbefreiheit von 1869 zu neuer Blüte entfacht, der Zeit und dem Geschmack der neuzeitlichen Menschen gerecht zu werden versuchen. Das Streben, diesem Geiste eine Stätte in der Darstellung zu bereiten, führt zu einer gewissen Blüte des Theaterbaues überhaupt in Berlin. Jedoch hat das sich dem Ende zuneigende Jahrhundert neben gediegenen Leis- 345 tungen auf dem Gebiete moderner Bühnenkunst und neben einem Wust von Charlatanerie, von Renommisterei und Augenverblendung und unter Aufgabe vormärzlicher Rührungsstücke, wirklich eine Bühne in Berlin geschaffen, die dem gesunden breiten Volksbewußtsein eine Heimstätte edlen Kunstgenusses ist, in der die größere Menge der Bevölkerung ihre Klassiker in mustergiltiger Auffüh- 350 rung zu sehen bekommt, in welcher die Zuschauer eine reine künstlerisch verklärte Freude empfinden an der Bühnenkunst und ihrem ethischen Werte, und wo es bei alledem ermöglicht ist, daß so und so viele Tausende mit geringen Ausgaben sich diese Erholung des Geistes, die Erfrischung des Gemüts nach anstrengender Tagesarbeit verschaffen können? 355 Es soll das lobenswerte Bestreben einiger Bühnenleitungen, volkstümliche wohlfeile Aufführungen ab und zu zu veranstalten, nicht verkannt werden, eine Veranstaltung größeren Stiles, welche diesen Forderungen gerecht wird und welche dies Ziel auf ihre Fahne geschrieben hat, besteht jedoch bislang nicht und sollte in einem bürgerlichen Schauspielhause seine Stätte finden. - Ein volkstüm- 360 liches Unternehmen wie dieses muß auf breiter gesunder Basis ruhen und zunächst müssen die baulichen Einrichtungen eines solchen Theaters zwischen Ideal und Wirklichkeit eine gesunde Mitte zu halten suchen. Das Theater müßte für ungefähr 1800 Plätze berechnet sein, seine Baukosten dürften außer Grunderwerb eine Million Mark kaum überschreiten und dabei müßte das gute Sehen 365 und Hören von allen Plätzen aus als die oberste Bedingung innerhalb seines <?page no="258"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 258 Constructionsorganismus gelten. Als Richard Wagner im geistigen Verein mit G. Semper im Jahre 1872 daran ging, für seine musikalischen Riesenschöpfungen in Bayreuth eine Stätte zu erbauen, wurde diesem „Leitmotiv“ des guten Sehens von allen Plätzen aus der Gesamtaufbau unterstellt. Infolgedessen enthält das 370 Bayreuther Theater nur ein einziges ungeheures Parkett mit rund 1400 Plätzen nebst einer umkränzenden oberen sogenannten Fürstengalerie; jeder Besucher ist durch die Anordnung der Sitze gewissermaßen gezwungen, dem Vorgang auf der Bühne seine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das Orchester, in einen „mystischen Abgrund“ versenkt, als Träger der traumhaften überirdischen Mu- 375 sik, und Dekorationen von nie gesehener Kunstschönheit mit ihren gemeinsamen Wirkungen helfen dazu, den Beschauer aus der Welt der Wirklichkeit in diejenige der Illusion zu versetzen, und wie ein geschickter Magus mit einem Zauberspiegel versteht das erfinderische Genie Wagners, den Besucher seinen Zwecken dienstbar zu machen. - 380 Es kann nicht die Absicht einer Volksbühne sein, einesteils zu solchen Höhen der Illusionswirkung sich versteigen zu wollen, andernfalls wird sie sich von puritanischer Einfachheit, wie sie die Shakespearsche Bühne bot, ohne jede Dekoration, sich ebenfalls fernzuhalten haben. Die Zuschauerplätze werden im Prinzip gewiß so angeordnet werden müssen, wie Wagner es in seinem Bayreuther Fest- 385 spielhause that und wie es teilweise im neuen Opernhause in Frankfurt a.M. verwirklicht ist, es wird aber außer dem „Sehen“ auch das „Gesehen werden“ für die Zuschauer in Rechnung gestellt werden müssen. Die Ränge, welche man allerdings in beschränkter Zahl einführen wird, auch um die bebaute Grundfläche für das Parkett und damit die Baukosten überhaupt möglichst einzuschränken, 390 müßten immerhin einen beträchtlichen Teil der Plätze aufnehmen, nach überschläglicher Berechnung von den 1800 Plätzen annähernd die Hälfte. Hierbei müßten seitliche Logenplätze und ähnliches fortfallen. Eine Vergleichung von 5 größeren Berliner Theatern zeigt folgende Verhältnisse in Bezug auf Bühnengröße, Bühnenöffnung, Gesamtplätze, Parkettplätze 395 und Entfernung der letzten Bänke im Parkett von der Bühne. Bühne Tiefe u. Breite Bühnenöffnung Meter Plätze Plätze im Parkett Entfernung d letzten Bänke in Metern von der Bühne Opernhaus 24: 29 13 1439 u. 106 534 21 Schauspielhaus 28: 26 11,30 1044 410 15 Lessingtheater 18: 20 9,8 1160 430 17 Theater Unter den Linden 11: 20 12,50 2500 612 17 Theater des Westens 17: 21 12 1710 510 20 Die Baukosten haben beim Lessingtheater 1.018.000 Mark, beim Theater Unter den Linden 1.300.000 Mk. betragen. 400 Die Bühnenbreite wird sich auf rund 13 Meter bringen lassen, die Höhe des Bühnenhauses müßte aber das dreifache der Prospekte betragen, wenn es möglich sein soll, dieselben nach der Höhe und nach der Tiefe verschwinden zu lassen. Jeder entbehrliche Prunk im Inneren und im Äußeren müßte vermieden <?page no="259"?> Victor Laverrenz 259 werden, desto mehr Gewicht aber auf eine schnelle und sichere Entleerung wäh- 405 rend eines etwa eintretenden Brandes gelegt werden. Die Ringtheater-Katastrophe in Wien und andere haben bewiesen, daß es unbedingt nötig erscheint, für alle Ränge besondere Treppenhäuser anzulegen, die möglichst gegen Verqualmen gesichert sind. Außer einer feuersicheren Imprägnierung aller Coulissen, Soffiten, Holzteile etc. kommt es, außer dem Schutz des Gebäudes von innen und 410 außen, ganz besonders auf den Schutz der Zuschauer in solchen Falle an. Eine statistische Zusammenstellung der Theaterbrände giebt an, daß die Gefährdung, welcher ein Theaterbau in den einzelnen Tages- und Nachtstunden ausgesetzt ist, in Zahlen-Einheiten ausgedrückt wie folgt sich verhält: 415 für 1 Stunde während der eigentlichen Tageszeit = 1 “ “ “ “ der Vorstellung = 2 “ “ “ “ Einlaß des Publikums = 3 “ “ “ “ Zeit zwischen Mitternacht und Morgen = 3,5 “ “ “ “ der auf das Ende der Vorstellungen unmittelbar folgenden 2 Stunden = 7 Man sieht hieraus, daß die größte Gefahr, welche während der Vorstellung bei größter Beleuchtung eintreten sollte, durch schärfere Bewachung unschädlich gemacht wird, und daß die gefährlichsten Stunden die nach Schluß der Vorstellung sind. Bühnenschutzvorhänge, Brandmauern und bei etwa eintretendem 420 Brande reichliche Wassermengen müssen vorhanden sein, Heizungs- und Lüftungsanlagen bei den großen Abmessungen des Baues, schnell und sicher funktionieren. Schließlich ist an wohlangelegte Restaurations-Räumlichkeiten zu denken, welche nach dem geistigen Genusse dem Zuschauer auch Gelegenheit geben, sich seinem materiellen Wohle zu widmen. Dekorations- und Garderobe- 425 Magazine dürfen ebensowenig fehlen wie im Anschluß an den Bühnenraum, Verwaltungs- und eventuell Wohnräume für die Theater-Leitung. Die Lage eines bürgerlichen Schauspielhauses soll, wenn möglich, auf einem freien Platze sein, nur wenn es absolut unmöglich ist, derartige Plätze zu erwerben, kann auf eingebaute Grundstücke eventuell mit gut verzinsbaren Vorder- 430 häusern zurückgegangen werden. Jedenfalls erfordert die Unterbringung außer Bühnen- und Zuschauerraum so vieler Nebenräume in einem im Äußeren und im Inneren harmonisch wirkenden, in jeder Beziehung zweckentsprechenden Gebäude die sichere Hand eines erfahrenen Architekten; es giebt kaum eine volkstümlichere und dankbarere Aufgabe für ihn, als ein Schauspielhaus, welches 435 seine Aufgabe der Erziehung und Herzensbildung ebenso ernst nimmt, wie die geweihten Stätten des Kultus, an denen das Menschenherz Erquickung und Ruhe sucht, und an denen es nach den Stürmen und Gefahren des Lebens sich selbst wiederfindet im Reiche schöner und idealer Menschlichkeit. Kostümliche Ausstattung. 440 Das, was man bei einem Theater mit dem Ausdruck Fundus oder Ausstattung bezeichnet, ist nächst den Leistungen eines gut geschulten Ensembles ein Haupt- <?page no="260"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 260 faktor zur harmonischen Abrundung des Ganzen. Die Kunst unserer Zeit strebt und verlangt nach Wahrheit, besonders nachdem die Meininger und Richard Wagner durch die Echtheit ihrer Vorführungen in Wort, Tracht und Bild dem 445 Publikum gezeigt haben, wie es auf einer künstlerisch geleiteten Bühne zugehen muß. Seitdem ist der Weg, der begangen werden soll, genau vorgeschrieben. Der historischen Treue, dem Spiegel der darzustellenden Zeit, Rechnung zu tragen, müssen die Darsteller sich den Anordnungen des künstlerischen Leiters fügen. 450 Selbstverständlich kann ein Schauspielhaus, welches zum Wohl breiterer Volksschichten mit billigen Eintrittspreisen arbeitet, nicht eine solche Pracht entfalten, wie z.B. seiner Zeit die Meininger bei allen Gelegenheiten in ihrer Ausstattung gezeigt haben; dazu gehören fürstliche Mittel. Nichtsdestoweniger kann man mit geringerem Aufwand auch Gleichwertiges in Form und Farbe schaffen, 455 indem man sich derjenigen Surrogatstoffe bedient, welche oft besser wirken, als die echten. So ist es eine bekannte Thatsache, daß z.B. echter Sammet das Licht zu sehr aufsaugt, während ein minderwertiges Maschinenfabrikat vermöge seiner anders beschaffenen Textur Licht ausstrahlt und deshalb einen viel größeren Effekt hervorruft. Ebenso verhält es sich mit der echten Spitze, die auf der Bühne 460 meist verfällt, wogegen eine grobe Kirchenspitze auf dem Theater den Eindruck der echten hervorbringt. Über diese kostümlichen Details ließen sich Bände schreiben und es würde zu weit führen, das Thema breiter zu erörtern; es sei also genügend, noch zu erwähnen, daß sehr viel des einheitlichen, harmonischen Eindrucks auf das Publikum 465 darin liegt, daß eine geschickt verteilte Farbengebung der Kostüme zu gleicher Zeit die Figuren charakterisieren hilft, je nach den Charaktereigenschaften, die den Rollen vorgeschrieben sind. Hier wird leider auch auf den besseren Theatern noch viel gesündigt. Um das oben Angedeutete nun zu erreichen, wird ein reichhaltiger eigener 470 Fundus in solider Ausstattung geschaffen werden, der es ermöglichen soll, allen Ansprüchen an Tracht, Zeitcharakter und in dekorativer Beziehung an Landschaft und Architektur, nach jeder Richtung hin zu genügen. - Reiches, sorgfältig seit 40 Jahren zusammengetragenes Material steht zur Verfügung und die besten Ateliers Berlins verbürgen eine gute Ausführung der einzelnen übertragenen 475 Arbeiten. Für die Entfaltung einer gewissen Pracht in Stoffen, Draperien und Besätzen soll durch ein eigens zu diesem Zwecke erfundenes Verfahren ausreichend Sorge getragen werden. Übrigens wird der Fundus an Rüstungen, Waffen, Möbeln, Requisiten u.s.w. unter fachgemäßer Leitung in eigenen Werkstätten ausgeführt. 480 Professor Carl Emil Doepler der Ältere, der designierte künstlerische Leiter, sieht auf ein Leben voll erfolgreichen Schaffens und rastloser Thätigkeit, insbesondere auf dem Gebiete des Kostümwesens zurück. War es ihm doch vergönnt, volle zehn Jahre, am Großherzoglichen Hoftheater zu Weimar unter Dingelstedts strengem Regiment zu wirken, ferner dem Reorganisator der deutschen Bühnen- 485 kunst, Richard Wagner, dem Meister von Bayreuth, bei der Einrichtung des „Ring des Nibelungen“ im Jahre 1876, mit Rat und That zur Seite zu stehen. Weltbe- <?page no="261"?> Victor Laverrenz 261 kannt sind seine Figurinen zu dieser Tetralogie, die bahnbrechend für die Auffassung des germanischen Elementes an allen ersten Bühnen geworden sind. - Auch durch seine Beteiligung an zahllosen Künstlerfesten zu München, Weimar und 490 Berlin, sowie durch glänzende Arrangements am Weimarer und Berliner Hofe, dürfte derselbe unbestritten als Autorität auf kostümlichem Gebiete gelten, und so wäre gerade Professor Doepler durch seine langjährigen Erfahrungen, wie vielleicht wenige, berufen, die gesamte künstlerische Oberleitung zu übernehmen; der Fundus soll nach seinen Angaben neu geschaffen werden. 495 Was müssen wir von dem Dekorationswesen einer guten Bühne verlangen? Von Heinrich Harder, Landschaftsmaler. Die in unserer Zeit rastlose Thätigkeit aller Berufsarten, der unermüdliche Kampf um das Dasein sind wohl die Ursache gewesen, daß ganze Kreise der Bevölke- 500 rung die Fühlung miteinander verloren haben und nur noch Interesse für das eig’ne Wohl und Wehe an den Tag legen; zum Teil mögen auch die verschiedenartigen gesellschaftlichen Zustände der Weltstadt die Veranlassung sein, daß man die Leiden und Freuden eines anderen Berufes nicht mehr genügend kennen lernt. 505 Daher kommt es denn auch wohl, daß so mancher, ehedem blühende Zweig unserer heimischen Kunst der Gefahr ausgesetzt ist, zu verdorren; er entbehrt der nötigen Pflege und Aufsicht. Unter solch ungünstigen Umständen hat auch die Theatermalerei der Jetztzeit zu leiden. Sie ist so recht eigentlich teils das Dornröschen, teils aber auch das 510 Aschenputtel der heutigen Bühne. Zu den wichtigsten Erfordernissen und größten, weil wirkungsvollsten Hilfsmitteln unserer modernen Bühne gehört wohl eine stimmungsvolle, sich einerseits eng an die Dichtung, andererseits möglichst genau an die Natur anlehnende Ausstattung. 515 Sehr viele der geehrten Leser werden schon Gelegenheit gehabt haben, farbenprächtige Ausstattungen zu bewundern und sich über minderwertige, ja geradezu schäbige Dekorationen zu ärgern, ohne doch sich erklären zu können, weshalb gerade eine der wichtigsten Bühnenangelegenheiten oft eine nachlässige Behandlung erfährt. 520 In der heutigen Zeit geht leider das Dekorationswesen mehr und mehr zurück, bis jetzt ist diese Thatsache noch nicht genügend gewürdigt, auch wohl vielfach noch nicht erkannt worden, da der hohe Stand der heutigen Bühnenbeleuchtung und Maschinentechnik viele Mißstände verhüllt, welche nur der Kenner und Fachmann sieht. 525 Es wird aber nicht ausbleiben, daß die Mängel der Ausstattung sehr vieler Bühnen auch vom größeren Publikum erkannt werden, dann aber wird es vielleicht nicht mehr möglich sein, durchgreifende Reformen vorzunehmen. <?page no="262"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 262 In den Kreisen der bildenden Künstler und verwandter Berufsarten sind diese Verhältnisse längst erkannt worden, es fehlt auch nicht an Versuchen, das künst- 530 lerische Niveau der Dekoration zu heben; sollen doch, einer Zeitungsnotiz zufolge, die Herren v. Lenbach und F. Stuck in München die Absicht haben, eine Schule für Theatermalerei einzurichten. Diese Schule würde aber nicht den geringsten Erfolg haben, da höchstwahrscheinlich die meisten der dort ausgebildeten jungen Leute bei den heute üblichen geringen Preisen für Bühnenmalerei der 535 letzteren den Rücken kehren würden. Ist es doch schon heute Thatsache, daß die begabteren jungen Theatermaler, wenn ihnen irgend eine Möglichkeit dazu geboten wird, sich einem anderen Kunstzweige zuwenden. Mir sind z.B. mehrere Herren bekannt, die sich jetzt vom Unterricht, vom Illustrieren etc. weit auskömmlicher ernähren, als es ihnen in ihrer Thätigkeit als Theatermaler je möglich 540 war. Die größeren Bühnen, welche über ausreichende Mittel verfügen, bringen ja ab und zu immer noch Ausstattungen, die allen künstlerischen Ansprüchen genügen; wie sieht es aber häufig auf den mittleren und kleinen Bühnen aus? Was man dort zu sehen bekommt, spottet manchmal geradezu jeder Beschreibung. Ganz 545 abgesehen von den Zimmerausstattungen, welche sich immer mit Hilfe der Requisiten, Mobiliar etc. leidlich herstellen lassen, ist es besonders die Landschaft, die in den meisten Fällen durchaus ungenügend in Hinsicht auf die Naturwahrheit und den vom Dichter beabsichtigten Ort der Szene hergestellt wird. Ich brauche nur unter vielen anderen an Dekorationen, welche hier in Berlin einen Teil 550 des Grunewaldes darstellen sollen, erinnern. Da wird der zu jeder Bühne gehörige feste Bestand an Dekorationen verwendet; man nimmt einfach mehrere sogenannte Waldbögen, einen dazu in Beleuchtung, Farbe und Komposition absolut nicht passenden Hintergrund, stellt mehrere Setzstücke, „Rosenbüsche oder Felsen“, wenn man nichts anderes hat, und die Ausstattung des Bildes „Im Gru- 555 newald“ ist fertig. Dieses Sammelsurium macht aber auf jeden Beschauer den Eindruck, als ob weder Direktor, noch Regisseur oder Theatermeister je in ihrem Leben einen märkischen Kiefernwald gesehen hätten. Dasselbe läßt sich auch von vielen anderen Motiven sagen. 560 Es ist Thatsache, daß keine Bühne, und sei es die größte und bestdotirte, der immensen Kosten wegen jede Novität neu ausstatten kann, wohl aber können neu eingerichtete Bühnen bei Anschaffung des notwendigen Bestandes an Dekorationen, sowie ältere Bühnen bei neuen Ausstattungen darauf sehen, daß nicht die Billigkeit, sondern die künstlerische Qualität der Dekoration mehr berück- 565 sichtigt wird. Meist aber bestellt der Theaterleiter seine Dekorationen bei dem Atelier, welches am billigsten arbeitet, das Atelier wieder kann für künstlerische Ausgestaltung und nötige Vorstudien zu neuen Dekorationen nicht die nötige Zeit und die nötigen Mittel aufwenden, bei dem geringen Preise, welcher dem Besitzer des 570 Ateliers gezahlt wird, ist er erstens gezwungen, in kürzester Zeit möglichst viele Quadratmeter fertigzustellen, zweitens aber kann er seinen Hilfsmalern nur sehr geringe Gehälter zahlen, wenn er überhaupt existieren will. <?page no="263"?> Victor Laverrenz 263 In vielen Ateliers wird deshalb so ein Auftrag gewissermaßen parzelliert, d.h. ein Hilfsmaler bekommt fast gar kein festes Gehalt, er malt auf Akkord, er be- 575 kommt also von dem bedungenen Preis für den Quadratmeter einen bestimmten Prozentsatz; daß bei dieser Behandlung der Sache die Theatermalerei vom Kunsthandwerk nach und nachauf das Niveau der reinen Fabrikarbeit heruntergedrückt werden muß, ist wohl selbstverständlich. Aus der früheren künstlerischen Behandlung der Dekorationsmalerei ist eine rein geschäftliche geworden, 580 sehr zum Nachteil dieser selbst wie auch der Theatervorstände. Ich will versuchen, an der Hand zuverlässiger Zahlen zu erklären, weshalb nun bei den geringen Preisen eine künstlerische Auffassung und Ausgestaltung der Dekoration nicht mehr möglich ist. Im Anfang der siebziger Jahre wurde der Quadratmeter Malerei inkl. Material 585 mit 3 bis 5 Mark bezahlt, jetzt werden 1,80 bis allerhöchstens 4 Mark dafür ausgegeben, trotzdem für den Maler die Kosten für Farben, Leinwand, Ateliermiete etc. seit dieser Zeit bedeutend größere geworden sind, es würde zu weit führen, wenn diese Preisunterschiede hier ziffermäßig festgelegt werden sollten. Selbst die königlichen Theater in Berlin, welche vor sieben Jahren für den Quadratmeter 590 noch 4 Mark ohne jeden Abzug zahlten, bewilligen heute nur 3,50 Mark und ziehen von dieser Summe für Barzahlung noch 5 Prozent ab, so daß thatsächlich nur 3,32 Mark gezahlt werden; aber selbst von diesem Preise sind noch für die erheblich teurere Leinewand (die Verwaltung beansprucht bei Aufträgen nur Leinewand allererster Qualität) pro Quadratmeter noch etwa 0,17 Mark in Abzug zu 595 bringen. Daß nun bei dieser seit Jahren geringer werdenden Honorierung der Malerei auch die künstlerische Beschaffenheit starke Einbuße erleidet, bedarf wohl keiner Erklärung. Wie aber kann dem Verfall der Dekorationskunst entgegengetreten werden? Da ist es zunächst die Aufgabe der Presse, durch wohlwollende aber strenge Kri- 600 tik das Bessere anzuerkennen, das minderwertige aber mit aller Entschiedenheit abzulehnen. Wie aber wird in den heutigen Kunstkritiken diese Angelegenheit behandelt? Man lese nur aufmerksam die Berichte über Neuaufführungen; in denselben wird über neue Dekorationen und Neuausstattungen entweder garnicht oder nur lo- 605 bend gesprochen; von einer eingehenden Kritik ist nicht die Rede, man hält eben die Ausstattung für ein nebensächlich Ding und will der Theaterdirektion vielleicht auch durch sachgemäße Besprechung einer Ausstattung keine Ungelegenheit bereiten. Würde aber die Presse mehr Wert auf eine würdige, durchdachte und der Dichtung entsprechende Ausstattung legen und dieselbe mit derselben 610 Aufmerksamkeit wie die Dichtung und Darstellung besprechen, dann würde auch das Verständnis des Publikums mehr geweckt werden und jeder Theaterleiter würde bei Neuanschaffungen vielleicht weniger bringen, dann aber nicht nur das billigste berücksichtigen, sondern auch mehr Wert auf künstlerische Durchbildung legen. - Wie gering viele Direktoren jetzt die Dekorationsmalerei 615 achten, geht schon daraus hervor, daß auf den Theaterzetteln mehrerer großen Theater Berlins zwar jeder Chorist, der einige Worte zu sprechen hat, genannt wird, daß man es aber nicht der Mühe für wert erachtet, auch dem Dekorations- <?page no="264"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 264 maler, welcher der Novität neue Dekorationen lieferte, ein bescheidenes Plätzchen auf dem Zettel anzuweisen. 620 Die Dekoration muß mit der Dichtung und Darstellung zusammenklingen, sie ist für die heutigen Bühnenverhältnisse nicht mehr nur der Rahmen für die Darstellung, nein, sie soll auf die Stimmung der Dichtung eingehen und diese, sowie die Darstellung nach Möglichkeit unterstützen; um dies aber zu erreichen, muß der Maler mit dem Dichter und Darsteller in enge Verbindung treten, er muß an 625 allen Vorbesprechungen über eine Neuaufführung teilnehmen und muß auch, wenn irgend möglich, für die einzelnen Landschaftsdekorationen entsprechende Naturstudien anfertigen. Was aber dann zu erreichen ist, hat Hubert Herkomer auf seiner Privatbühne in London gezeigt. 630 Ähnlich, wie an größeren Bühnen für die Bearbeitung der eingegangenen Stücke ein Dramaturg, also ein akademisch gebildeter Litterat angestellt ist, müßte gleichfalls für die malerische Inscenierung ein begabter, ebenfalls akademisch gebildeter und mit den Bühnenverhältnissen vertrauter Maler der Direktion angehören, welcher die malerische Bearbeitung etwa nötiger Dekorations-Skizzen 635 vorzunehmen hätte und welchem auch das Beleuchtungswesen unterstellt werden müßte; er hätte sämtliche Dekorations- und Beleuchtungsproben zu leiten, das technische Personal wäre ihm in dieser Hinsicht unterzuordnen, er wäre verantwortlich für die Stimmung des Bühnenbildes. Heut liegt die Leitung der Beleuchtung meistens in den Händen eines Elektrotechnikers, welchem in vielen 640 Fällen für malerische Wirkungen und Beleuchtungsmöglichkeiten die Empfindung fehlt. Die Zukunft wird mehr und mehr verlangen, daß auch die dekorativen Ausstattungen der Bühne weniger durch raffinierte Farbentechnik und Flitterkram brillieren, als durch schlichte Naturtreue und liebevolles Eingehen auf die Absichten des Dichters wirken sollen; der Beschauer soll die Welt des Scheins 645 als Wirklichkeit empfinden, er muß gehobenen Herzens das Theater verlassen, das Erlebte muß in ihm nachklingen; es wird nötig sein, die Fortschritte der bildenden Kunst dem Theater nutzbar zu machen. Dann wird auch das große Publikum sich wieder mehr dem Theater zuwenden und an dem Dargebotenen wirkliche, reine Freude empfinden. Wieweit auch der Bühnenbau einer zeitge- 650 mäßen Reorganisation unterworfen werden kann, wird vielleicht in einem späteren Aufsatze dargelegt werden. Diese Zeilen sollen die Anregung geben, wie einem bestehenden Mißstande abzuhelfen sei, - mögen sie auf fruchtbaren Boden fallen. Der Spielplan. 655 Von Dr. phil. Marx Möller. Die Kunst des Bürgerlichen Schauspielhauses - und somit auch ihr Spielplan - soll eine volkstümliche sein. Was verstehen wir unter volkstümlicher Kunst? Was giebt es überhaupt außer volkstümlicher Kunst? Wann schreibt der Dichter volkstümlich und wann nicht? 660 <?page no="265"?> Victor Laverrenz 265 Wenn der Künstler - sei es nun ein Maler, Dichter, Schauspieler oder Musiker - nur produziert, um den Beifall der Kollegen oder einiger wenigen „Kenner“ zu ernten, dann entsteht Atelierkunst, die nur für wenig Eingeweihte verständlich ist. Bornierte Eingeweihte schätzen oft derartig schwerverständliche Kunstwerke, besonders weil es ihrer Eitelkeit schmeichelt, etwas zu genießen, was nicht für 665 „Hans und alle Mann“ ist. Ein solches Atelierkunstwerk ist stellenweise der „Faust“ Goethes; der große Dichter sagt ja selber in der Zueignung, daß er mehr einzelner Freunde wie der unbekannten Menge bei Abfassung seiner Arbeit gedenke. Wenn aber der Künstler es für seine Pflicht hält, sich nicht an einzelne Kolle- 670 gen, sondern an sein Volk zu wenden, dann entsteht volkstümliche Kunst. Volkstümlich und populär ist nicht derselbe Begriff. Im neuesten Sprachgebrauch bezeichnet man unter populärer Ausdrucksweise die oft derbrealistische, praktische Erklärungsmethode, in welcher wissenschaftliche oder sonst dem wenig gebildeten Teil des Volkes schwer verständliche Gebiete in oft bilderreicher Rede klar ge- 675 macht werden; eine solche Redeweise kann durch drollige Komik wohl den Gebildeten und den Kunstkenner belustigen, aber sie wollte sich ursprünglich nicht an ihn wenden. Die volkstümliche Kunst wendet sich weder (wie die Atelierkunst) an die Eingeweihten und Kenner noch an das beschränkte Volk (wie die populäre Rede- 680 weise, denn von populärer „Kunst“ kann man wohl nicht reden), sondern an das ganze Volk, also sowohl an die Eingeweihten und Kenner, wie auch an die Halbgebildeten, wie auch an die Beschränkten; sie wendet sich an König und Bettler, an Alt und Jung, an den Wirklichen Geheimen Regierungsrat wie an den Kellner und Laufburschen; darin gleicht die volkstümliche Kunst dem Worte Gottes, wel- 685 ches sich auch an alle Mühseligen - und wer wäre das nicht? - wendet. Mancher alberne Geselle ist nur zu leicht geneigt, den Leuten mit den schwieligen Händen das richtige Urteil abzusprechen; kein Irrtum ist gefährlicher. Lieber Leser, denke doch einmal zurück an die Theaterbekann[t]schaften in jenen Tagen, als Du Dir nur einen Platz auf der höchsten Gallerie leisten konntest, da 690 Du das Bedürfnis zu oft spürtest, in’s Schauspiel zu gehen. Ich ließ mir vor Jahren auf der Gallerie des Hamburger Stadttheaters den Inhalt der shakespearischen Königsdramen erzählen - ich hörte selten so klar und schlicht den Gang dieser verworrenen Handlung erklären - und der Mann, der dieses mir erzählte, war ein einfacher Milchmann. Nicht im Arbeiterstande nicht unter der Landbevölkerung 695 finden sich die künstlerisch Rohen allein! Du lieber Gott! Was für rohe Burschen giebt es doch unter den Gelehrten! Ein shakespearesches Stück fesselt einen jeden, der nicht direkt roh ist. Die Eingeweihten und Kenner sind zufrieden, wenn das Stück nach den Gesetzen gebaut ist, die sie anerkennen. Sie untersuchen das Kunstwerk mit dem Stumpf- 700 sinn, mit dem der Feuerversicherungsbeamte ein Gebäude untersucht, der alle Wände und Dielen beklopft und der sich nicht darum kümmert, ob in den Räumen nachher eine Schule oder eine gemeine Kneipe Platz finden soll. In gleicher Weise fesselt also die Berufspflicht solchen Beamten und den Kunstrichter. Das Volk, d.h. die Leute, die nicht beruflich sich der Kunst widmen müssen, und die 705 <?page no="266"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 266 nicht in der Lage sind, eingehende künstlerische Studien zu machen, will aber mehr wissen, als ob alles kunstgerecht gefügt ist, es will spüren, welch ein Geist in dem Kunstwerk wohnt, d.h. es fragt nach der Tendenz des Stückes. Ebenso wie wir vorher betonten, daß volkstümlich nicht populär sei, so müssen wir uns jetzt gegen den Vorwurf verwahren, wir wollen der breiten, altfränki- 710 schen Moralpredigt das Wort reden. Wir verlangen - und mit uns, das wissen wir, das große Volk - daß wir aus jeder Dichtung eine Lehre ziehen können für unser Leben. Die Wirkung eines edlen Kunstwerkes sei, wie Goethe sie sich denkt, wenn er seine Elegie „Hermann und Dorothea“ schließt mit den Worten: Hab ich euch Thränen ins Auge gelockt, und Lust in die Seele 715 Singend geflößt, so kommt, drücket mich herzlich ans Herz! Weise dann sei das Gespräch! Uns lehret Weisheit am Ende Das Jahrhundert; wen hat das Geschick nicht geprüft? Blicket heiterer nun auf jene Schmerzen zurücke, Wenn euch ein fröhlicher Sinn manches entbehrlich erklärt. 720 Menschen lernten wir kennen und Nationen; so laßt uns, Unser eigenes Herz kennend, uns dessen erfreuen. Wie wenig Dichter giebt es jetzt, die Thränen ins Auge und Lust in die Seele zaubern! Wie gesagt, das Volk verlangt eine Tendenz. Wenn z.B. in einer leidlich ver- 725 ständigen Versammlung, etwa einer politischen oder bürgerschaftlichen, ein Mann das Wort ergreift und Verhältnisse schilderte ohne die Konsequenzen zu ziehen, ohne mit einem Antrag, d.h. mit einem Vorschlag, was man nun dabei thun müßte, zu enden, so wird man ihn für einen Schwätzer halten. So geht es auch dem, der von der Bühne herabredet. Daß sich Leute, die gar keine Erziehung ge- 730 nossen haben, die gar keinen inneren Halt, gar keinen Glauben haben, leicht verirren und daß sie leicht ganz verkommen (wie Ibsens „Nora“ oder Hauptmanns „Glockengießer Heinrich“), das weiß jede alte Bauersfrau aus tausend Stellen der heiligen Schrift. Befremdend wirkt es auf das Volk, wenn dann noch solche "Gottlosen“, deren „Weg vergehet“, nicht klar als das gekennzeichnet werden, 735 was sie sind, sondern uns wie Helden nahe gerückt werden sollen. Das Volk will - wie im „Faust“ Goethes - sehen, wie Gott und Teufel um eine Seele kämpfen, und will vor dem Bösen gewarnt und zum Guten hingewiesen sein. Ich glaube mich deutlich ausgedrückt zu haben, so deutlich, daß eine Aufzählung von passenden Stücken für den Spielplan des Bürgerlichen Schauspiel- 740 hauses fast entbehrlich wäre, weil man ja immer nach den angedeuteten Gesichtspunkten jedesmal das Stück prüfen kann. Über unsittliche Machwerke, wie sie die Franzosen lieben - und leider auch viele Deutsche - brauche ich wohl nicht erst zu sprechen. Der Spielplan des bürgerlichen Schauspielhauses müßte auf alle Fälle 745 aufweisen: Den ganzen Shakespeare, Goethe, Schiller, Lessing, Hebbel, Ludwig, Raimund, Grillparzer, Kleist. <?page no="267"?> Victor Laverrenz 267 Auszuscheiden wären diejenigen Werke, welche irgend einer einzelnen Partei - etwa der Orthodoxie oder dem Freisinn, dem Königtum an und für sich oder 750 dem Republikanismus - dienen wollen; diese Ausscheidung würde oft z.B. Anzengruber treffen. Der Dichter des volkstümlichen Theaters gehört nicht auf die Zinne einer einzelnen Partei. Das Volkstheater hätte die ernste Pflicht, sich der lebenden Dichter - natürlich soweit sie es verdienen - anzunehmen, ohne jemals Cliquenwesen zu betreiben. Es müßte sich dabei mit der Zeit so die Treue des 755 Publikums zu sichern wissen, daß es auf die „Mithilfe“ des reklametrommelnden Teiles der Presse Verzicht leisten kann. Gebe Gott, daß, wenn das Bürgerliche Schauspielhaus existiert, sich so viel gesunde junge Dichter finden, daß das neue Theater in erster Linie sich ihren Erzeugnissen zuwenden kann, und nur hin und wieder die Großen unter den Toten 760 ehrt und als ein Vorbild hinstellt. Wenigstens sind sie bis jetzt noch immer als Vorbild zu betrachten. Sollte die Mithilfe der Lebenden nicht so stark sein, so würden Stücke zur Aufführung gelangen wie: Anzengruber: „Meineidbauer“. Björnson: „Ein Fallissement“; „die Neuver- 765 mählten“. Calderon: „Der Richter von Zalamea“. Dostojewsky: „Raskolnikow“. Heyse: „Hans Lange“ u.s.w. - u.s.w. - u.s.w. Litterarische Experimente (wie z.B. eine Aufführung von Grabbes „Theodor von Gothland“) würden nicht angestellt, denn solche gehören vor Litteraten und nicht vor das Volk. Der harmlose Scherz kann nur berücksichtigt werden, wenn 770 die Form eine kunstvolle ist. Selbstverständlich wird Ehrbarkeit allein nie einem Stücke die Pforten des Bürgerlichen Schauspielhauses öffnen; im Gegenteil: Das Langweilige soll ganz und gar nie in Frage kommen. Die Rentabilität des Bürgerl. Schauspielhauses. 775 Nachdem ich in Obigem, unterstützt von Fachleuten, die ästhetische Seite des geplanten Unternehmens dargelegt habe, werde ich in dem Nachstehenden die Geschäftslage des Unternehmens an der Hand von sorgfältig geprüften Zahlen - soweit dies ohne zu weit gehende Detaillierung geschehen kann - auseinandersetzen, denn es handelt sich bei unserm Vorhaben keineswegs um ein Unterneh- 780 men, welches idealistische Ziele auf Kosten der praktischen verfolgt, sondern um ein solches, das nicht nur in unserer realen Zeit durchaus leicht ausführbar ist, sondern den Beteiligten sogar eine sichere Kapitalsanlage und eine verhältnismäßig hohe Rente gewährleistet. Würden wir uns diesen rein geschäftlichen Erwägungen und peinlichen Berechnungen entziehen, so würde uns die sichere 785 Grundlage, auf welcher wir stehen müssen, ermangeln. Nichts wäre verkehrter, als ein heißblütiges Vorgehen auf Grund optimistischer Ansichten. Daß es unserm Theater an Besuchern nicht fehlen dürfte, davon werden die geschätzten Leser dieser Schrift nach den gemachten Ausführungen wohl überzeugt sein, indessen stellen wir in unseren Geschäftsetat unter „Einnahmen“ nicht 790 <?page no="268"?> Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) 268 etwa den Betrag für ausverkaufte Häuser ein, sondern rechnen nur mit einem Drittel dieser Summe. Hiermit tragen wir wohl auch pessimistischen Anschauungen Rechnung. Indessen darf es wohl als zweifellos betrachtet werden, daß bei dem, was das Bürgerliche Schauspielhaus bieten wird, namentlich bei seinem täglich wechselnden Repertoire, der Besuch ein bei weitem regerer sein wird, als 795 wir unserer Berechnung zu Grunde legen. Da wir den Hauptwert auf ein tüchtiges, streng geschultes Ensemble legen und schon aus Rücksicht auf die Bühnenkunst an sich von dem Starsystem völlig absehen und die sogenannten Virtuosen, welche ungeheure und unverhältnismäßig hohe Gagen verlangen, grundsätzlich ausschließen, so sind wir in der Lage, 800 unsern Ausgaben-Etat in außerordentlich mäßigen Grenzen zu halten. Auch für die Lösung der Dekorations- und Kostümfrage haben wir Gesichtspunkte aufgestellt, welche bei aller Gediegenheit und künstlerischen Schönheit dennoch unsern Etat außerordentlich wenig belasten, denn wir sind selbstverständlich von der Überzeugung durchdrungen, daß Gutes zu niedrigem Preise nur bei beson- 805 ders peinlichem Maßhalten und Abwägen von Ausgaben und Einnahmen und bei weisester Sparsamkeit geboten werden kann. Diese Überzeugung aber sichert andererseits die Rentabilität des Unternehmens, d.h. den Beteiligern eine gute Verzinsung ihrer Kapitalien. Wir müssen davon absehen, in dieser Denkschrift das eigentliche Zahlenmate- 810 rial zu veröffentlichen, da das Verständnis dieser Zahlen nur demjenigen aufgehen kann, der auch die Detaillierung derselben kennt. Diese hier wiederzugeben, würde viel zu weit führen. Indessen liegt der gesamte, bis ins Kleinste ausgerechnete Etat für ernste Interessenten jederzeit zur Einsicht bereit, und sei besonders darauf hingewiesen, daß sämtliche Positionen von den in Frage kommenden 815 sachverständigen Fachleuten, die sich für das Unternehmen in selbstloser Weise zur Verfügung gestellt haben, auf das sorgfältigste geprüft worden sind. Über den Platz, auf welchem der geplante Theaterbau zur Ausführung kommen soll, dürfen wir - für jeden Geschäftsmann wird dies selbstverständlich sein - zur Zeit keine näheren Angaben machen, indessen sei so viel mitgeteilt, daß 820 derselbe unmittelbar an einem von allen Seiten leicht erreichbaren Hauptverkehrsknotenpunkt des Berliner Westens, leicht zugänglich auch für die Bewohner der westlichen Vororte, gelegen ist. Verkehrslinien aus allen Teilen der Stadt laufen unmittelbar vor dem in Aussicht genommenen Grundstück zusammen und gehört auch dieser Gesichtspunkt zu den wichtigsten Faktoren, welche das Ge- 825 deihen eines populären Institutes sichern. Da zudem der ganze Berliner Westen, mit alleiniger Ausnahme des auf Charlottenburger Gebiet liegenden Theaters des Westens, welches jetzt übrigens dauernd der Oper geweiht ist, ohne jedes Theater ist, so wird das Bürgerliche Schauspielhaus keinerlei ,Konkurrenz’ (wenn wir so sagen dürfen) zu fürchten haben. Der ungeheure, vom besten Publikum be- 830 wohnte Berliner Westen - jenseits des Potsdamer Thores - besitzt kein Theater. Die Gegenüberstelluug der Einnahmen und Ausgaben, die nach den dargelegten Prinzipien festgesetzt sind, ergeben einen jährlichen Reingewinn von rund 100,000 Mark nach Abzug sämtlicher Unkosten und Zinsen. Hieraus erhellt wohl zur Genüge, daß das geplante Theater-Unternehmen finanziell nicht nur in jeder 835 <?page no="269"?> Victor Laverrenz 269 Beziehung gesichert ist, sondern den Geldgebern auch Vorteile bietet, wie kaum ein anderes Geschäftsunternehmen. Ganz falsch wäre es, auf verunglückte Berliner Theater-Unternehmungen, die nicht in dieser soliden Weise berechnet und auf Grund von vornherein unerfüllbarer Illusionen ins Leben gerufen sind, exemplifizieren zu wollen. Mit derartigen Gründungen hat das Bürgerliche 840 Schauspielhaus, welches von dem Wohlwollen der besten Gesellschaftskreise des Berliner Westens getragen ist und an welchem hervorragende Fachleute honoris causa bereitwilligst mitarbeiten, nicht das Geringste gemein; wir verwahren uns ausdrücklich dagegen, mit derartigen Gründungen irgenwie in Parallele gezogen zu werden. 845 Aber im Interesse unseres Beginnens wünschen wir andererseits herzlichst, daß sich an dem Projekt nicht etwa nur Geschäftsleute beteiligen, sondern ebensowohl gutsituierte Gönner, die um der Kunst selber willen einem deutschen Volkstheater ihr Interesse und ihre thatkräftige Unterstützung entgegenbringen, so daß die Beteiliger jene Mischung aus Idealismus und Realismus bilden, welche 850 zum erfolgreichen und dauernden Bestehen eines derartigen Institutes unbedingt erforderlich ist. Für die rechtliche Gestaltung der zu begründenden Gesellschaft „Bürgerliches Schauspielhaus“ dürfte sich die Form der Aktiengesellschaft am meisten empfehlen, wonach keiner der Beteiligten außer in der Höhe seiner freiwilligen 855 Zeichnung noch weiter in Anspruch genommen werden kann. Es würden Aktien auf 500 Mark lautend zur Emission gelangen müssen. Für den zu bildenden Aufsichtsrat hat eine Reihe von Persönlichkeiten der besten Gesellschaftskreise bereits die ehrenamtliche Übernahme der Funktionen zugesagt. Herr Rechtsanwalt Dr. Haase, Berlin, Alexanderstr. 16 hat sich bereit erklärt, die erforderlichen Ver- 860 handlungen von dem juristischen Gesichtspunkte aus zu leiten und sämtliche Verträge zu begutachten. An der Spitze der verschiedenen Ressorts stehen Künstler und Fachleute ersten Ranges; die geschäftliche Oberleitung ist dem Verfasser der vorliegenden Schrift anvertraut worden. Das einstweilige Theaterbureau, an welches Anfragen und Zuschriften zu richten sind, befindet sich Berlin 865 W.-Schöneberg, Helmstraße 5. Wer aber von den Lesern dieser Denkschrift ein ideelles oder materielles Interesse an dem hier dargelegten Unternehmen hat und sich zur Verwirklichung desselben dem bestehenden Arbeitsausschuß, der aus den Vorständen der einzelnen Ressorts gebildet worden ist, anschließen bezw. zur Verfügung stellen 870 will, der trete uns vertrauensvoll näher und sei uns behilflich mit Rat und That in der Erreichung unseres schönen Zieles, der Errichtung eines Bürgerlichen Schauspielhauses im Westen Berlins. <?page no="270"?> 5. Victor Laverrenz: Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins (1898) Kommentar 87 Adalbert von Hanstein (Pseudonym Ludwig Bertus) (1861-1904), Theaterkritiker, Journalist, Schriftsteller, Dramatiker; ab 1896 Dramaturg am Theater des Westens; Werke: „Um die Krone“ (1885), „König Saul“ (1897). 107 Im Osten Berlins, gemeint ist hier das 1894 durch Raphael Löwenfeld (1854-1910) im Osten Berlins gegründete Schillertheater. 137 Karl Emil Doepler der Ältere (1824-1905), Historienmaler, Professor; Mitbegründer des Berliner Theaters; Zeichner von Kostümentwürfen für die Bayreuther Festspiele. 286 Gilbert Otto Neumann-Hofer (Pseudonym Otto Gilbert) (1857-1941), Journalist, Theaterkritiker, Theaterleiter; 1897-1905 Leitung des Lessing-Theaters in Berlin. 317 Franz Jaffé (1855-1937), Architekt, Maler, Schriftsteller. 325 Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699-1753), Architekt; Oberaufseher aller königlichen Bauten Friedrichs I; Erbauer von Schloss Sanssouci sowie des Berliner Opernhaus. 330 Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), Architekt; Stadtplaner; 1817-1821 Bau des Königlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt; seine Arbeit prägte das Stadtbild Berlins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 367/ 68 Gottfried Semper (1803-1879), Architekt; 1837-41 Bau des Hoftheaters und 1871-1878 des Neuen Hoftheaters in Dresden; stand in engem Kontakt mit Richard Wagner (1813-1883); seine Pläne für ein Wagner-Festspielhaus in München wurden zwar nicht verwirklicht, doch bei der Planung des Festspielhauses in Bayreuth berücksichtigt. 386 Neues Opernhaus (Frankfurt/ M.), Bau nach den Plänen des Architekten Richard Lucae (1829-1877); 1880 Eröffnung des Hauses. 399/ 400 Theater Unter den Linden (Berlin), 1891/ 92 erbaut; 1892 Eröffnung unter der Leitung von Alois und Rudolf Ronacher; 1898 Umbau und Umbenennung in Metropoltheater. 406/ 07 Ringtheater-Katastrophe in Wien, 1881 Ringtheaterbrand, der mindestens 384 Todesopfer forderte; 1882 Erlass eines neuen Gesetzes betreffend die Einrichtung der Theater sowie Sicherheitsvorkehrungen (u.a. Eiserner Vorhang, nach außen öffnende Türen, Imprägnierung der Bühnendekorationen). 498 Heinrich Harder (1858-1932), Maler; bekannt durch seine Zeichnungen von Landschaften und vorzeitlichen Tieren. 532 Franz von Lenbach (1836-1904), Maler; bekannt vor allem durch seine Porträtmalerei. Franz von Stuck (1863-1928), Maler, Bildhauer; 1892 Mitbegründer der „Münchner Sezession“. 629 Hubert Herkomer (1849-1914), Maler, Bildhauer, Schriftsteller; Leitung des kleinen Herkomer Theatre in Bushey bei London/ England. <?page no="271"?> Kommentar 271 656 Marx Möller (1868-1921), Schriftsteller, Dramatiker; verfasste vor allem Märchen, Märchenspiele und Romane. 747 Ferdinand Raimund (eigentlich Ferdinand Raymann) (1790-1836), Schauspieler, Theaterleiter, Schriftsteller, Dramatiker; Engagements an unterschiedlichen Wiener Bühnen, u.a. am Leopoldstädter Theater; 1828-1830 Leitung dieser Bühne; bekannt durch seine Volksstücke; Werke: „Der Bauer als Millionär“ (1826), „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ (1828). 765 „Der Meineidbauer“ (UA 1871), Schauspiel von Ludwig Anzengruber (1839-1889). 766 „Raskolnikow“, Schauspiel nach Dostojewskys Roman „Schuld und Sühne“. 767 „Hans Lange“, Schauspiel von Paul Heyse (1830-1914). <?page no="273"?> 6. August Scherl: Berlin hat kein Theaterpublikum! Vorschläge zur Beseitigung der Mißstände unseres Theaterwesens (1898) Einführung Mit dem Namen August Scherl (1849-1921) verbindet man heute weniger die 1898 erschienene Schrift „Berlin hat kein Theaterpublikum! Vorschläge zur Beseitigung der Mißstände unseres Theaterwesens“ als vielmehr einen der wichtigsten und erfolgreichsten Zeitungsverleger der Wilhelminischen Zeit. Eine unternehmerische Karriere schien Scherl in die Wiege gelegt: In eine Düsseldorfer Verlegerfamilie geboren, übernahm er schon früh den väterlichen Betrieb und versuchte sich in verschiedenen anderen Verlagsunternehmen, u.a. als Herausgeber von Kolportageromanen. Es folgte ein „Theatergastspiel“: Im Jahr 1878 gründete er zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Flora Rosner, das Flora Theater in Köln und war auch in der folgenden Zeit an anderen Bühnenunternehmungen beteiligt. Sein Engagement in der Theaterbranche ruinierte Scherl allerdings finanziell und so suchte er, wie so viele seiner Zeitgenossen, sein Glück in Berlin. Dort baute er mit wirtschaftlichem Geschick ein ganzes „Verlagsimperium“ auf: Er begründete 1883 den Berliner Lokal-Anzeiger und gab eine Reihe von weiteren Zeitungen, wie die Neuesten Berliner Handels- und Börsennachrichten oder die Berliner Illustrirte Zeitung, und Zeitschriften, wie den Praktischen Wegweiser, heraus. Neben der von den finanziellen Verlusten in Köln ungebrochenen Leidenschaft für das Theater hatte Scherl noch ein weiteres Steckenpferd: innovative Technik. Hiervon zeugt die folgende Episode aus der Biographie des Berliner Verlegers: Er unterstützte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Entwicklung eines Einschienenbahn-Systems, das er in seiner 1909 erschienenen Werbeschrift „Ein neues Schnellbahn-System“ anpries und das in dem Projekt „Einschienenbahn am Taunusrand“ getestet werden sollte, um es dann in ganz Deutschland und sogar Europa zu verbreiten. Allerdings kam es nie zu einer praktischen Umsetzung des Projekts. Scherls Interesse an technischen Innovationen steht auch im Mittelpunkt seiner Veröffentlichung „Berlin hat kein Theaterpublikum! “. Auf den ersten Blick ähnelt Scherls Text der im selben Jahr erschienenen Veröffentlichung „Ein bürgerliches Schauspielhaus im Westen Berlins“ von Victor Laverrenz; auf den zweiten lassen sich aber doch signifikante Unterschiede aufzeigen. Zwar haben beide Autoren die gleichen Grundideen: die Verbesserung der Theatersituation in Berlin und den Versuch einer Demokratisierung des Theaters. So soll bspw. durch die Reduktion der Eintrittspreise eine Öffnung auch für „de[n] Mittelstande und de[n] sogenannten ‚kleinen Mann’“ (Scherl 190f.) erfolgen. Allerdings differieren die Meinungen hinsichtlich des Zwecks von Theater: Wo Laverrenz eine „moralische Anstalt“ zur Bildung der Zuschauerschaft im Sinne Schillers vorschwebt, zeigt sich Scherl diesbezüglich weniger programmatisch. Seine Vorschläge zu den Inhalten, die das Theater übermitteln solle, hält er <?page no="274"?> 6. Scherl: Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 274 im Vagen. Vielmehr steht die Organisation und vor allem die technische Innovation im Mittelpunkt seiner Überlegungen, die einen fast planspielerischen Charakter haben. Scherl entwickelt eine interessante Idee: Nicht nur eine neue Bühne soll in Berlin gebaut werden, um der - seiner Meinung nach vor allem auf das Publikum zurückgehenden - Theatermisere entgegenzuwirken, sondern vier so genannte „Stadtteiltheater“. Mit diesen durch die Hauptstadt verwalteten und finanzierten, als Bühnenverbund organisierten sowie unter der Leitung eines Generalintendanten stehenden Theatern soll das gesamte Berliner Stadtgebiet kulturell „versorgt“ werden. Allen demographischen Differenzen der Stadtteile - und damit zusammenhängenden sozialen Interessen der Bewohner - zum Trotze soll ein für alle Bühnen geltendes Programm entstehen, das wöchentlich in den vier Theatern rotiert. Dieses durch einen Demokratisierungsgedanken geprägte System ist nur mittels einer straffen Organisation und totalen Durchstrukturierung umsetzbar, bedeutet aber gleichzeitig auf ökonomischer Ebene eine Kostenoptimierung unter voller Ressourcenausnutzung. An technischen Neuerungen soll offensichtlich nicht gespart werden; und auch in diesem Punkt tritt Scherls scheinbare Vorliebe für straffe infrastrukturelle Organisation zu Tage: So soll bspw. um alle vier Theater herum ein „Theaterbahnhof“ entstehen, der den Knotenpunkt eines Verkehrssystems bildet, durch das die Hin- und Rückfahrt der Zuschauer im jeweiligen Stadtteil gebündelt wird. Damit sollen die Fahrtzeiten wie -kosten für die Theaterbesucher minimiert werden. Auch bezüglich Restauration und Garderobe, die für Theater wie Publikum immer ein finanzielles wie zeitliches Problem darstellen, hat Scherl einen Lösungsvorschlag: Mit Hilfe eines Aufzugsystems sollen zwei übereinander liegende Ebenen, von denen eine als Restaurations-, eine als Garderobenräumlichkeit dient, je nach Gebrauch abgesenkt oder emporgehoben werden. Scherls Begeisterung für die Institution Theater einerseits, andererseits für deren Technisierung weist ihn als typisch „modernen“ Zeitgenossen aus. Mit seiner Idee eines mit modernster Technik ausgestatteten und infrastrukturell eingebetteten, ökonomisch und organisatorisch straff strukturierten Theaters auch für die finanziell schlechter gestellten Schichten der Gesellschaft schließt er die Lücke zwischen der bürgerlichen Technik- und Fortschrittsangst, welche die Moderne für viele mit sich brachte, der kulturellen Vormachtstellung des Bürgertums vor allem im Theater und der ökonomischen Haltung, die vom Bürgertum im privaten Leben so sehr geprägt, bezüglich des Theaters von ihm aber abgelehnt wurde. Stefanie Watzka <?page no="275"?> August Scherl Berlin hat kein Theaterpublikum! Vorschläge zur Beseitigung des Mißstände unseres Theaterwesens (1898) Vorwort. 5 Theaterprojekte für Berlin stehen nicht im guten Ruf, und was in vielen Veröffentlichungen wohlmeinend und wortreich hinausgeklungen ist an Vorschlägen zur Reform der Schaubühne, zur Schaffung eines Volkstheaters und dergl. mehr, das ist zu allermeist unbeachtet geblieben, weil die Vorschläge als unausführbar sich erwiesen. 10 Darum möchte ich von vornherein betonen, daß die in dieser Schrift enthaltenen Anregungen geschrieben sind in voller Berücksichtigung der Erkenntniß, daß man den praktischen Boden nicht verlassen darf, wenn man einen frischen Zug in das Theaterleben Berlins bringen will. Nicht nur die Frage: „Wie reformirt man das Theater? “ sondern auch die Frage: „Wer soll die materiellen Mittel dazu her- 15 geben? “ versucht diese Schrift zu beantworten. Die Legitimation für die vorliegende Broschüre bildet vor allem mein ehrliches Wollen, der Oeffentlichkeit einen Dienst zu erweisen; die Schrift selbst ist das Produkt jahrelangen Studiums, gegründet auf starkes Mitempfinden der ganzen äußerlichen und innerlichen Theatermisère in Berlin, die ich als Freund und 20 Kenner des Theaters gründlich beobachtet habe. Es sei nichts destoweniger noch einmal darauf hingewiesen, daß meine nachfolgenden Ausführungen zunächst eben nur Anregungen sein sollen. Das Theaterinteresse, die Bühnenerfahrung, das technische Können kompetenter Kreise mögen das, was ich vorschlage und auseinandersetze, verbessern und ausbauen. Den mir zunächst am Herzen lie- 25 genden Hauptzweck aber, so hoffe ich, wird diese Broschüre durch sich selbst und durch die Massen-Verbreitung, die ich ihr angedeihen lasse, erreichen: in die weitesten Schichten der Berliner Bevölkerung das Bewußtsein tragen, daß durch sachgemäße Reformen des Berliner Theaterwesens die Freude an dramatischer Kunst ein Gemeingut aller werden kann, selbst solcher, die heute ihr noch fremd 30 gegenüberstehen. So möge denn diese kleine Schrift mit dazu dienen, das Theater in Berlin populär zu machen und es so umzugestalten, daß es nach dem Kaiserwort vom 16. Juni d.J. die Aufgabe erfülle, „gleich der Schule und der Universität das heranwachsende Geschlecht heranzubilden und vorzubereiten zur Arbeit für die Er- 35 haltung der höchsten geistigen Güter unseres herrlichen deutschen Vaterlandes, und ferner beizutragen zur Bildung des Geistes und Charakters und zur Veredelung der sittlichen Anschauungen“. <?page no="276"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 276 In dieser wohlgemeinten Absicht unterbreite ich meine Vorschläge der Einwohnerschaft Berlins. 40 Berlin, im November 1898. August Scherl. Die Mißstände und ihre Ursachen. Berlin hat kein Theater-Publikum. Wer an die Fülle bei Premièren-Abenden 45 denkt, dem mag dieser Satz paradox erscheinen. Und doch ist er richtig, soweit man den Begriff Theater-Publikum nicht eben ausschließlich auf das kleine Heer der „Premièrenfexe“ und der von fieberhaftem Interesse für alle Personalien des Bühnenlebens beseelten Theaterhabitués anwenden will. Auch durch die Existenz sogenannter Kassen- und Zugstücke, die lange Wochen hindurch das Theater 50 allabendlich füllen, darf man sich nicht irre machen lassen. Unter Theater-Publikum möchte ich eine für die dramatische Kunst warm und lebhaft sich interessirende Einwohnerschaft verstanden wissen, ein Theater-Publikum, wie es etwa in der Blüthezeit von Hellas und Rom die riesigen Schaustätten bevölkerte, an denen die Muse eines Aeschylos, Sophokles, Terenz und Plautus Siege erfocht. Der 55 Theaterbesuch ist heute noch vielfach ein „Ereigniß“ im Leben weiter Volksschichten, etwa so, wie vor Jahrzehnten, als wir noch nicht im Zeichen des Verkehrs standen, eine Kremserfahrt in’s Grüne es war. Der weitaus größte Theil aller Einwohner Berlins gelangt außerordentlich selten zu einem Theaterbesuch, große Schichten der Bevölkerung kommen wohl überhaupt nicht dazu. Betrachtet 60 man die Berliner Theater auf ihre Frequenz hin, so wird man alsbald die Wahrnehmung machen, daß durchschnittlich die Hälfte aller vorhandenen Plätze leer bleibt. Das moderne Theater erfreut sich also gegenwärtig nicht der allgemeinen Beliebtheit, und es ist weit davon entfernt, im eigentlichen Sinne volksthümlich zu 65 sein. Mit mehr oder weniger Gründlichkeit hat man den Ursachen nachgeforscht, aber die gefundenen Resultate befriedigen den denkenden Beobachter ebenso wenig, wie die Vorschläge es thun, die von Berufenen und Unberufenen zur Hebung und Popularisirung der modernen Schaubühnen gemacht worden sind. Man setzt sehr umständlich auseinander, daß das Theater in litterarischer und 70 schauspielerischer Beziehung versumpft sei und daß daraus die Theilnahmslosigkeit des Publikums erwachse. Das klingt sehr plausibel, aber zu allen Zeiten hat es gute und schlechte Stücke, gute und schlechte Darsteller gegeben. Jener Hinweis ist meiner Ansicht nach kaum mehr als ein Scheingrund, der denjenigen genügen mag, die im Theater immer nur die litterarische Bildungsstätte erblicken, 75 nicht auch den Ort einer anregenden Unterhaltung. Gewiß tragen die Repertoir- und künstlerischen Verhältnisse unserer Bühnen einen großen Theil der Schuld an dem herrschenden Zustande, ein ebenso großer Theil ist indessen anderswo zu suchen. Eine Anzahl verschiedener Umstände wirkt zusammen, die dem weitaus größten Theil unserer Bevölkerung den Besuch der sogenannten „besseren“ The- 80 <?page no="277"?> August Scherl 277 ater unmöglich oder doch so unerfreulich macht, daß man es vorzieht, daheim zu bleiben oder den Abend beim Bier zu verbringen oder endlich die Spezialitäten- und solche Theater aufzusuchen, die mit wahrer Kunst nichts zu thun haben. Gerade der Besuch dieser Institute hat in den letzten Jahrzehnten in kaum geahnter Weise zugenommen, und schon diese Thatsache an sich, meine ich, muß 85 jedem zu denken geben, der den wirklichen Ursachen der vorhandenen Theatermisère nachzuforschen sich bestrebt. Jede Zeit schafft sich ihren besonderen Inhalt, ihre Einrichtungen, Sitten, Gebräuche nach Maßgabe der geistigen und sittlichen Faktoren, die in ihr zum Ausdruck kommen. Ich kann natürlich als Laie nicht die Absicht haben, alle Fäden 90 klar zu legen, die von der herrschenden Weltanschauung zum Theater führen. Das möge berufeneren Federn überlassen bleiben. Aber man wird nach meiner Ansicht die Entstehung der heutigen Theaterverhältnisse niemals begreifen lernen, wenn man nicht den noch keineswegs überwundenen Materialismus unserer Zeit näher in’s Auge faßt. 95 Die Proklamirung des Materialismus hatte die Herrschaft der Technik, die Anerkennung und Bewunderung des Technisch-Mechanischen gezeitigt und damit zugleich dem krassesten Nützlichkeits-Prinzip eine allgemeine Befolgung verschafft, die in dem Satze „Nach uns die Sintfluth“ ihren Ausdruck gefunden hat. Die Zeit, die solchen Prinzipien eine fast ausschließliche Herrschaft erstehen 100 sah, konnte natürlich nicht zugleich die Zeit allgemeiner Kunstentfaltung sein. Wo das Nützlichkeits-Prinzip dominirt und allein die Technik Bewunderung findet, da kann die Luxusblume Kunst nicht erblühen. Die Technik ist meist ein Feind wahrer Kunstbestrebungen, weil sie das Individuelle erstickt und das Maschinelle großzieht, mithin das vollführt, was den Ruin jeder Kunst bedeutet. Und 105 weil es so ist, weil alles technisch Vollkommene noch vielfach begeisterte Verehrer findet, eben deswegen sind die ernsten Theater leer - die Spezialitätenbühnen und verwandte Stätten erdrückend voll. Zu solchen Vergnügungen zieht ihre Anhänger im Grunde nichts als das auf’s Höchste gesteigerte Interesse für alle Vorführungen, die weder durch Geist noch Schönheit, sondern allein durch das 110 rein Technische und mehr oder weniger grob Mechanische verblüffen, abgesehen von Pikanterieen, die aber zu allen Zeiten ihr Publikum gefunden haben. Die Spezialitätenbühne beansprucht von ihren Besuchern nur das Mindestmaß von Denken, von geistiger Arbeit; die meisten Besucher wollen sich nicht noch geistig bemühen, nachdem sie tagsüber ihrem Beruf obgelegen. Sie sehen täglich 115 Irrungen und Wirrungen, Noth und Elend genug und verzichten gern auf deren dramatische Vorführung; sie wollen angenehm unterhalten sein, aber nicht geistig arbeiten. Sie wollen vor allem Abwechselung und alles Gebotene in größter Bequemlichkeit und ohne Umstände genießen können. Diesen Forderungen kommt das Variété zum großen Theil in weitem Maße entgegen; es bietet gemäß 120 den Empfindungen seiner Verehrer die größte Summe von Vergnügen für einen relativ geringen Preis und dies auf eine bequeme Art. Die Leiter der Spezialitätenbühnen haben eben ihre Zeit verstanden. Erklärt sich also aus dieser Darlegung einerseits die Bevorzugung der Spezialitätentheater und verwandter Stätten, andererseits der verhältnißmäßig schwa- 125 <?page no="278"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 278 che Besuch derjenigen Schaubühnen, die der ernsten Kunst gewidmet sind, so braucht daraus nicht etwa geschlossen zu werden, daß die Darbietungen der letzteren auf das Niveau der ersteren hinabsteigen müßten, um Besucher heranzuziehen. Trotz der Werthschätzung der Variété-Vorführungen und dergl., die im Allgemeinen noch besteht, sind doch auch Anzeichen dafür vorhanden, daß der 130 Geschmack des modernen Menschen bereits begonnen hat, sich besseren Kunstgenüssen wieder zuzuwenden. Wir befinden uns gegenwärtig in einem Stadium des Ueberganges zu einer neuen Kunstepoche. Selbst die große Menge empfindet das mehr oder weniger klar, denn der Uebergang äußert sich bereits auf solchen Gebieten, mit denen auch die breite Masse tagtäglich in Berührung kommt: in der 135 Herstellung und Ausstattung der Wohnräume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, in den Erzeugnissen des Buchdrucks, der Textil-, der Kunstindustrie u.s.w. Nach den unerfüllt gebliebenen Verheißungen des Materialismus ist eben allmählich eine weithin sich bemerkbar machende Ernüchterung eingetreten. Heute wird nicht mehr ganz die strenge Wahrheit gefordert wie ehedem, weder in der Male- 140 rei noch in der Litteratur noch in anderen Künsten. Die auf’s Höchste entwickelte Technik allein befriedigt heute nicht mehr, Gemüth und Phantasie wollen auch wieder theilnehmen an der Tafel der Kunstgenüsse. Die Verehrung und Bewunderung der bloßen Mache, des rein Technischen fängt an, mehr und mehr zu schwinden. Dem Realismus mischt sich wieder eine Dosis Idealismus bei. 145 Es gilt nun für die Leiter der ernsten Theater, diese Uebergangszeit zu benutzen und beide bis zu einem gewissen Grade sich bekämpfenden Richtungen zu versöhnen. Die Schaubühnen der Gegenwart entsprechen den Anforderungen nicht, die man im Interesse des großen Publikums stellen muß. Sie machen selbst in ihren Einrichtungen, in ihrer Organisation dem hierin verwöhnten Publikum der Ge- 150 genwart keinerlei Concessionen. Alles geht im alten Geleise weiter; aus den technischen Errungenschaften der Neuzeit haben die gegenwärtigen Theaterleiter wenig oder gar nichts gelernt; sie haben eben die Zeichen der Zeit nicht zu deuten gewußt. Gewiß dürfen sie in ihren Darbietungen nicht denen der Variétés sich nähern, aber sie sollten wenigstens das heute Erreichbare in Bezug auf Bequem- 155 lichkeit dem Publikum bieten. Doch auch in Betreff der künstlerischen Darbietungen könnte den Zeitverhältnissen besser Rechnung getragen und den Theaterbesuchern weit mehr entgegengekommen werden, als es jetzt geschieht. Die große Masse des Volkes verlangt nichts Unerfüllbares. Mit den sogenannten „kleinen Preisen“ und „volksthümlichen Vorstellungen“ allein ist ihm freilich 160 nicht gedient. Auch das breite Publikum will Erzeugnisse der modernen Kunst kennen lernen, indessen solche, die es versteht und die ihm, wenn nicht Belehrung, so doch Unterhaltung bieten. Es sieht Vorstellungen, die man offiziell als „volksthümliche“ bezeichnet, nicht immer „für voll“ an und steht ihnen deshalb voreingenommen gegenüber. Gerade in diesem Punkt ist das Publikum außeror- 165 dentlich empfindlich; es verträgt nicht, gleichsam mit „zweiter Garnitur“ abgespeist zu werden. Auch die wohlmeinendste und uneigennützigste Absicht wird darum gewöhnlich verkannt. Der Menschenfreund mag darüber jammern; wer das Theaterwesen heben will, muß aber mit dieser Thatsache als einem der wich- <?page no="279"?> August Scherl 279 tigsten Faktoren rechnen. Aus all’ diesen Gründen ist der Zusammenstellung des 170 Repertoirs eine intensive Beachtung zu widmen, ja geradezu ein eifriges Studium. Wird die gegenwärtige Periode des Ueberganges in der richtigen Weise wahrgenommen, dann kann die Umgestaltung des Berliner Bühnenwesens keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten; dann muß es möglich sein, ein großes theaterfreudiges Publikum heranzuziehen, selbst aus der Menge derer, die heute 175 dem Theater noch völlig fern stehen. Ein Weg zur Abhilfe. I. Um ein wirkliches Theaterpublikum zu bilden, um die Schaubühne im besten Sinne volksthümlich zu machen, ist meiner Ansicht nach die erste Forderung: 180 Der Spielplan muß nach Gesichtspunkten zusammengestellt werden, die auch auf das Vergnügungs- und Bildungsbedürfniß und das Verständniß der breiten Massen des Volkes Rücksicht nehmen, nicht blos auf den Geschmack der „oberen Zehntausend“; er muß überdies abwechselungsreicher gestaltet werden. 185 Die heutigen ernsten Theater bieten zwar demjenigen Publikum, das auf bestimmte Richtungen eingeschworen ist, vielerlei, dem Mittelstande und dem sogenannten „kleinen Mann“ jedoch so gut wie gar nichts. Viele der modernen Dramen sind dem Verständniß breiter Schichten weit entrückt, und schon aus diesem Grunde können sie diesen kein Vergnügen bereiten und ihrem Bildungs- 190 bedürfniß nichts entgegenbringen. Für die Pikanterieen und die psychologischen Fragen der Sittenkomödien und Ehebruchsdramen, mit denen das Ausland uns meist versorgt, fehlt der Menge vielfach ebenfalls das Verständniß, da sie in diesen Produkten fremden Geistes weder ihre eigene Empfindung noch ihre Anschauung wiederfindet. Summa summarum: Das Durchschnitts-Publikum vermißt 195 im Theater meist das, was es bewußt oder auch unbewußt dort sucht. Andere Kreise wieder hält die Eintönigkeit des heutigen Spielplans vom Besuche vielfach zurück. Das klingt manchem vielleicht paradox, aber es ist Thatsache. Theater mit wirklich wechselndem Programm giebt es in Berlin kaum zwei oder drei. Dies erklärt sich daraus, daß, wenn einmal ein Stück gefällt, es Monate lang 200 über die Bühne geschleppt wird. Will gar der Zufall, daß zwei oder drei Theater in Berlin zu gleicher Zeit „Zugstücke“ haben, dann bleibt für denjenigen, der diese Stücke bereits kennen gelernt hat, während langer Wochen, ja Monate nichts übrig, als Schaubühnen von mehr oder weniger zweifelhafter Qualität zu besuchen. Selbst des begeistertsten Theaterfreundes Eifer muß unter solchen Um- 205 ständen bald erlahmen. Es ist daher kein Wunder, wenn trotz des an Theater- Anzeigen so reichen Inhalts der Vergnügungs-Inserate der Theaterfreund mitten in der Saison zu dem merkwürdigen Urtheil gelangt: „Es ist nichts los in Berlin“. 210 <?page no="280"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 280 Meine zweite, ebenso wichtige Forderung wäre: Die Eintrittspreise müssen ganz wesentlich verbilligt, der Billet-Bezug vereinfacht werden; die Nebenabgaben müssen ganz fortfallen. Da heutzutage mehr als in früheren Zeitperioden alles billig zu erlangen sein 215 soll, insbesondere die Theilnahme an Vergnügungen aller Art, so können schon aus diesem Grunde die gegenwärtigen Theater auf einen allgemeinen Besuch nicht rechnen. Wieviel Familienväter dürfen denn an einen regelmäßigen Theaterbesuch denken, wenn ihnen pro Abend eine Ausgabe von fünf bis zehn Mark und mehr bevorsteht? Der Mittelstand, die breite Masse des Volkes, auch Ge- 220 lehrte, Künstler und eine Reihe anderer „studirter“ Leute können sich solche Ausgaben nicht gestatten, die sogenannten „kleinen Leute“ erst recht nicht. Für alle diese müssen Eintrittspreise möglich gemacht werden, die nur einen Bruchtheil der bisherigen betragen. Dazu tritt die heute übliche, höchst unbequeme Art des Theaterbillet-Bezuges. Will 225 man nicht Abends an der Kasse lange warten und mit einem schlechten Platze vorlieb nehmen, oder gar, wenn zufällig ein Stück „zieht“, unverrichteter Sache zurückkehren, dann ist man gezwungen, einen Dienstboten während der besten Vormittagsstunden zu dem für die Meisten weit entfernt liegenden Theater nach Billets zu schicken. Das bedeutet, abgesehen von den zu entrichtenden Vorver- 230 kaufs-Gebühren, für viele Haushaltungen eine überaus empfindliche Störung und eine Mehrausgabe für Pferdebahnen oder sonstige Fahrgelegenheiten, die nicht unerheblich mitspricht. Durch diese umständliche und kostspielige Art des Billetbezuges wird manchem der Theaterbesuch verleidet. 235 Meine dritte Forderung betrifft die technische oder „äußere“ Umgestaltung des Theaters; sie lautet: Die bauliche Anordnung der Theater muß eine andere, zweckentsprechendere sein. Es muß eine durchgreifende Organisation des gesammten Betriebes geschaffen werden, einschließlich allen Zubehörs, wie Restauration, Garde- 240 robe, Wagenverkehr etc. Wie nothwendig die Aenderung vielleicht nebensächlich scheinender Einrichtungen der heutigen Theater ist, wird dem sofort klar werden, der die bestehenden auf ihre Verbesserungsfähigkeit prüft. Da ist z.B. der Zuschauerraum. Es steht fest, daß es heutzutage noch in den meisten Theatern viele Plätze giebt, von de- 245 nen aus gutes Sehen und Hören unmöglich ist. Das bezieht sich insbesondere auch auf die Logenplätze. Ferner wird nicht bestritten werden, daß die Leerung des Theaterraums viel zu langsam vor sich geht, weil die Parquet- und Logen- Ausgänge nicht genügen, ein Uebelstand, der im Falle einer Katastrophe schon oft verhängnißvoll geworden ist. Ebenso wenig ausreichend sind die Vorrichtun- 250 gen zur Regelung der Temperatur und Einführung guter Luft. Demnach ergiebt sich die Nothwendigkeit wesentlicher Veränderungen des Zuschauerraums und der ganzen bautechnischen Anlage der Ein- und Ausgänge zu resp. von den Plätzen und Treppen, einschließlich der Ventilationsvorrichtungen. Wenn das Theater-Restaurationswesen heute an hohen Preisen und theilweise an 255 schlechter Qualität des Gebotenen krankt, so muß eben nothwendigerweise auch <?page no="281"?> August Scherl 281 hier Wandel geschaffen werden, abgesehen von den nöthigen Maßnahmen, die die fabelhaften Unbequemlichkeiten bei Verabreichung von Speisen und Getränken an den umlagerten Theater-Buffets beseitigen sollen. Wenn ferner heute noch die Garderoben-Frage nicht gelöst ist, so weist dies auf die Nothwendigkeit hin, 260 das „Garderoben-Wesen“ nach den Grundsätzen der absoluten Bequemlichkeit, Schnelligkeit und Unentgeltlichkeit von Grund auf umzugestalten. Für Viele nicht weniger unangenehm als die oben berührten Punkte ist die heute übliche Beförderung zum und vom Theater; sie bedeutet für jeden, der auf einige Bequemlichkeit Anspruch erhebt, die Ursache fortwährender Verstim- 265 mung. In einem Anhang zu dieser Schrift werde ich auch für die Behebung dieser Mißstände ganz bestimmte Vorschläge machen, die eine vollständige Umwälzung der Art des Wagenverkehrs nach und von dem Theater zum Zweck haben soll. Die Forderung einer durchgreifenden Organisation mag manchem vielleicht, 270 als auf Aeußerlichkeiten beruhend, zu kleinlich erscheinen. Wer das meint, hat die Bedeutung und den Werth des modernen Begriffes „Organisation“ im Allgemeinen nicht richtig erkannt. Wo blieben wohl unsere großen industriellen und kommerziellen Unternehmungen ohne die auf die modernen technischen Errungenschaften basirte, bis in die kleinste Einzelheit gehende Organisation? Sie ist 275 für manches Unternehmen geradezu Lebensbedingung, und viele jetzt blühende Institute verdanken ihr in erster Linie Emporkommen und Ansehen. Daß es gerade auf dem Gebiete der Theater-Organisation so bedenklich schlecht bestellt ist, kann im Grunde nicht sonderlich auffallen. Die Direktoren sind vielfach Künstlernaturen, weniger Verwaltungstalente; sie betrachten als ihre eigentliche Auf- 280 gabe die Auswahl und Einstudirung der Stücke und die Anwerbung des Künstlerpersonals, während sie den Werth einer guten Organisation zu gering anschlagen. Ich behalte mir vor, in dem bereits erwähnten Anhang auf alle anderen bautechnischen und organisatorischen Veränderungen, die ich anrege, im Einzelnen 285 einzugehen. Hier sollen zunächst nur die allgemeinen Gesichtspunkte entwickelt werden. II. Wenn ich als Endergebniß meiner bisherigen Ausführungen drei Forderungen aufstellte, von deren Erfüllung ich mir die Besserung unseres Theaterwesens ver- 290 spreche, so geschah das, wie ich gern zugebe, ohne Würdigung des Umstandes, daß die Einnahmen aus dem Theater die Ausgaben decken oder vielleicht gar übersteigen müssen. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß jene Forderungen niemals ganz erfüllt werden können, so lange man die Theater lediglich als geschäftliche Unternehmungen betrachtet. 295 Der ganze Charakter der heutigen Theater wird durch ihre Eigenschaft als Privatinstitute, die ihren Besitzern Geld einbringen sollen, bestimmt. Nach der Geschmacksrichtung einer verhältnißmäßig kleinen Gemeinde von Interessenten werden die modernen Bühnen geleitet. Was auch immer an Unzuträglichkeiten <?page no="282"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 282 im Repertoirwesen mit lautem Lamento beklagt wird, das ist auf das Conto des 300 privaten, geschäftlichen Charakters unserer Schaubühnen zu setzen. Nur wenn die Theater keine geschäftlichen Unternehmungen mehr sind, kann meines Erachtens eine durchgreifende Wandlung herbeigeführt werden. Die Theater müssen also losgelöst werden von allen pekuniären Interessen, losgelöst in ebenso weitem Maße, wie etwa öffentliche Bibliotheken, städtische und staatliche Schu- 305 len, Volksbäder und dergl. es sind. Ihre Existenzfähigkeit auf breiter und doch vornehmer künstlerischer Basis muß die Hauptsache sein. Die Frage des pekuniären Gewinnes hat zurückzutreten. Somit darf nicht ein spekulativer Millionär sie errichten, nicht ein finanzkräftiges Konsortium, das auf hohe Dividenden erpicht ist, sondern 310 die Stadt Berlin muß die Theater bauen und in eigene Verwaltung nehmen. Berücksichtigt man, was alles in andern Ländern und Städten für die Pflege des Theaters geschieht, dann wird man alsbald erkennen, daß Berlin dagegen weit 315 zurücksteht. Die ungarische Nationaloper in Pest z.B. hat eine staatliche Subvention von 500,000 Gulden; sie genießt bei der Bevölkerung ein solches Ansehen, daß sie gewissermaßen eine Art Nationalheiligthum bedeutet, zu dessen Bau die Bürger und Bürgerinnen einst selbst die Steine in Gestalt von Geldspenden, Stiftungen etc. herbeigetragen haben. Aber selbst in deutschen Städten hat man Ber- 320 lin gegenüber einen großen Vorsprung erreicht. Wohin wir auch im Deutschen Reiche unsere Blicke wenden, fast jede größere Stadt hat ihr „Stadt-Theater“, erbaut aus den Mitteln des Stadtsäckels. Mit besonderem Stolz pflegt man in diesen Städten gerade das Theater als vornehme Bildungsstätte zu rühmen … Und in Berlin? ! Millionen über Millionen macht man in unserer schönen Metropole für 325 allerlei gemeinnützige Anstalten der verschiedensten Art flüssig, um für die Ausbildung des Geistes und des Körpers zu sorgen, nur für das Theater hatte und hat man bisher nicht einen Pfennig übrig, nur an die Stätten, die jede große und mittlere Provinzialstadt als besonders stolze Wahrzeichen stadtväterlicher Fürsorge betrachtet, dachte bisher noch kein Vertreter der Stadtgemeinde. Es ist doch 330 kein zuweitgehender Wunsch, keine unberechtigte Forderung, wenn ich sage: Berlin in erster Reihe von allen deutschen Städten hat die heilige Pflicht, für eine ernste, würdige Pflege der Bühnenkunst, für eine in diesem Rahmen gehaltene Ausgestaltung des Theaters zu sorgen! Nicht nur bauen soll die Stadt Berlin die Theater, sie soll auch für die Erhaltung, für die materielle und künstlerische För- 335 derung der Kunstinstitute Sorge tragen, indem sie selbst den gesammten Theaterbetrieb in eigene Verwaltung nimmt. Keinem Privatmann, keiner Aktiengesellschaft ist es gegeben, diejenigen Forderungen auch nur annähernd zu erfüllen, die ich an die von mir gedachten Bühnen stelle. Der Gewinn soll eben lediglich idealer Natur sein, genau so, wie dies von öffentlichen Instituten gilt, ohne die 340 heutzutage kein geordnetes Gemeinwesen bestehen kann. Es bedeutet für die Großstadt Berlin doch gewiß einen unwürdigen Zustand, wenn der weitaus größte Theil ihrer Einwohner nur vielleicht alle Jahre einmal ein besseres Theater besuchen kann. Ist es nicht eine Aufgabe, „des Schweißes der Edlen werth“, ge- <?page no="283"?> August Scherl 283 rade jene Kreise den besseren theatralischen Genüssen zuzuführen, in ihnen die 345 Liebe zum Theater, den Sinn und das Empfinden für die wahre Kunst zu wecken, Kreise, die jetzt Vergnügen und Unterhaltung solcher Art suchen, bei der jeder veredelnde Einfluß auf Herz und Gemüth, jede erziehliche und bildende Einwirkung völlig ausgeschlossen ist? Eine echte Volksbühne kann nur die Vertretung der Bürgerschaft begründen und erhalten; dieser Erkenntniß kann und darf man sich in Ber- 350 lin nicht länger verschließen, und darauf baue und hoffe ich, wenn ich meine Vorschläge hier weiter entwickle. Es wird nicht an Stimmen fehlen, die sich gegen die Gründung von städtischen Theatern aussprechen. Mancherlei läßt sich dagegen sagen, in erster Linie, daß die Maschinerie zu schwerfällig und zu theuer arbeite, und vor allem, daß 355 die Einzelnen mit Steuern zu sehr belastet werden würden. Was den ersten Punkt betrifft, so meine ich, daß dem schon so gewaltigen städtischen Apparat ohne Schaden genügend Persönlichkeiten zugesellt werden könnten, die nicht nur Verständniß für die Theater, sondern auch den nöthigen Ernst und Eifer besitzen. Und was den Kostenpunkt betrifft, so kann und darf dieser nicht den Ausschlag 360 geben, wo es sich um eine für große Schichten der Bevölkerung so eminent wichtige Angelegenheit handelt. Die Mehrbelastung an Steuern kann um so weniger eine erhebliche Rolle spielen, als durch Einrichtung von Theatern in der Art und Anzahl, wie weiter unten angeführt wird, der Fremdenverkehr in Berlin sich gewiß bedeutend heben würde, was einem großen Theil seiner Einwohner wieder 365 zu Gute käme. Nach den Worten des Kaisers soll Berlin „die schönste Stadt der Welt“ werden. Nun, die Lösung der Theaterfrage würde mit dazu beitragen, diese Worte in Erfüllung gehen zu lassen. Von anderer Seite wird vielleicht der Einwand erhoben werden, daß wir Hoftheater in Berlin haben, die doch auch nicht ein Unternehmen privaten Spekulati- 370 onsgeistes sind. Zugegeben. Aber die Hoftheater sind keineswegs im Stande, alle diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ich mit den in meinem Sinne organisirten Theatern lösen zu können glaube. Die so große und rühmenswerthe Liberalität unseres kunstsinnigen Monarchen, der aus seiner Privat-Schatulle den Königlichen Kunst-Instituten beisteht, befreit die Intendantur doch nicht von der Ver- 375 pflichtung, bei der Verwaltung der Theater von fiskalischen Erwägungen sich leiten zu lassen. Die Eintrittspreise der Hoftheater werden sich stets auf einer erheblichen Höhe halten. Es wird ferner den Hoftheatern niemals möglich sein, im Repertoir den Bedürfnissen des großen Publikums so entgegenzukommen, wie es in seinem Interesse gefordert werden muß. 380 Auch die bestehenden Privattheater würden unter den geplanten Neuerungen ebenso wenig zu leiden haben, wie etwa die Hoftheater. Einerseits würde eben die Vergrößerung der Berliner Theatergemeinde auch ihnen zu Gute kommen, andererseits würden sie zweifellos dasjenige Publikum, dessen Geschmack und 385 Liebhabereien nicht nach großen, allgemeinen Gesichtspunkten zu befriedigen sind, behalten. Es wird stets ein kleines Publikum geben, das Bühnen besucht, die ganz nach seiner Laune und seinem Geschmack geleitet werden, die den „Premièrentigern“ und den „Habitués“ erlesene Genüsse bieten, die für etwas Aufre- <?page no="284"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 284 gung sorgen und theatralische Darbietungen mit pikantem Beigeschmack wäh- 390 len. III. Für die Verbreitung der Theaterfreudigkeit in den großen Massen der Reichshauptstadt ist es meines Erachtens nothwendig, daß man der Bevölkerung die Theilnahme am Theatergenuß so bequem wie möglich macht. Jedes Stadtviertel 395 muß einen eigenen Kunsttempel erhalten, damit den Besuchern lange Wege, Fahrkosten und Zeit möglichst erspart werden. Zu klein, um für ein Theater das erforderliche Publikum abzugeben, ist im Hinblick auf die Dichtigkeit der Bevölkerung gewiß keiner der Stadtbezirke. Ich meine daher am zweckmäßigsten vier Stadttheater vorschlagen zu sollen, und zwar je eins für den Norden, Süden, Os- 400 ten und Westen der Stadt. Ihre Namen könnten sein: Nördliches Stadttheater Südliches “ Oestliches “ 405 Westliches “ Jedes dieser Theater soll ca. 1800 Plätze enthalten, also ein Theater mittlerer Größe sein. Die Praxis hat ergeben, daß ein gar zu großer Theaterraum für ein künstlerisch fein abgetöntes Spiel von Nachtheil ist, weil die Darsteller, um über- 410 all verständlich zu sein, unnatürlich laut sprechen müssen. Was nun den künstlerischen Charakter der neuen Theater betrifft, so kann nicht stark genug betont werden, daß es durchaus erstklassige Kunstinstitute sein sollen. Trotz geringer Eintrittspreise - von denen weiter unten die Rede sein wird - soll 415 selbst der verwöhnteste großstädtische Theaterbesucher in den neuen Musentempeln nicht Theater erblicken können, die seiner Beachtung zu gering wären. Ein Geist und ein Wille soll diese vier Bühnen leiten. Der Oberleitung des General- Direktors unterstehen als ausführende Organe vier Direktoren, deren Thätigkeit 420 ungefähr derjenigen der sogenannten Oberregisseure an unseren Privatbühnen entspricht. Natürlich müssen zur obersten Leitung nur Persönlichkeiten gewählt werden, die in künstlerischer und organisatorischer Beziehung kraft ihrer Vergangenheit die besten Garantieen bieten. 425 Ein auserlesenes Künstlerpersonal muß an den vier Stadttheatern wirken. Wenn heutzutage ein neues sogenanntes „Volkstheater“ gegründet wird, dann heißt es in Betreff der künstlerischen Kräfte in den beredten Vorankündigungen meist: „Wir wollen kein Star-System, nicht ein Personal, in dem einige ,berühmte’ Namen glänzen, die sich dann in den öffentlichen Aufführungen auf Kosten der 430 Anderen, meist mittelmäßiger Darsteller, hervordrängen. Wir wollen ein gut ge- <?page no="285"?> August Scherl 285 schultes Ensemble einer leistungsfähigen Künstlerschaar, das nicht durch einzelne hervorragende, glänzende Künstler besticht, sondern ein tüchtiges Zusammenspiel guter Schauspieler bietet.“ Das liest sich ganz schön, hat aber in der Praxis nur mittelmäßige Aufführungen gezeitigt, in denen zwar wirklich kein 435 sogenannter „Star“ glänzte, „gute Schauspieler“ aber leider ebensowenig sich angenehm bemerkbar machten. Gleichviel, ob Stars oder nicht, auf die Gewinnung und Erhaltung ausgezeichneter Kräfte muß das Augenmerk gerichtet sein. Die Mittelmäßigkeit ist der Feind jedes großen Erfolges. Möglichst das gesammte Künstlerpersonal soll pensionsberechtigt sein, wie es 440 an einer Reihe von Hof- und Stadttheatern längst der Fall ist. Die Stadttheater nehmen alles in eigene Verwaltung, auch den Betrieb der Restauration, der Garderobe, die Herstellung und Abgabe der Theaterzettel. Für die Theater-Restauration wird ein Oekonom angestellt, wie das vielfach von Vereinigungen, die über eigene Gesellschaftshäuser verfügen, geschieht. Der Oekonom 445 erhält lediglich Prozente vom Umsatz; er hat somit wohl Interesse an der Höhe des Umsatzes, nicht aber daran, einen möglichst hohen Gewinn aus den einzelnen Speisen und Getränken zu erzielen, was häufig nur auf Kosten ihrer Beschaffenheit geschieht. 450 Wenn entsprechend diesen meinen Anregungen die Theater in städtische Verwaltung genommen sein werden, dann erst ist die Erfüllung der eingangs von mir aufgestellten drei Hauptpunkte ohne Schwierigkeiten möglich. In den folgenden Kapiteln soll die Art ihrer Durchführung, wie sie mir vorschwebt, näher behandelt werden. 455 Das Repertoir. IV. Alle sonstigen Umwälzungen des Theaterwesens führen, wie ich schon angedeutet habe, nicht zum Ziele, wenn man nicht auch den Spielplan der Theater einer gründlichen Aenderung unterwirft. Hierbei kommen, meines Erachtens, 460 gemäß den bisherigen Ausführungen folgende Forderungen in Betracht: Abwechselungsreiches Repertoir, strikte Verbannung der Zote und der Pikanterie, Heranziehung solcher älterer und moderner Werke, von denen die Theaterleitung annehmen kann, daß sie dem großen Publikum verständlich sind. Der Spielplan der vier Stadttheater muß nach dem Grundsatze zusammenge- 465 stellt werden, daß er sowohl den besseren Geschmack befriedigt als auch geeignet ist, in dem naiveren Zuschauer, dem das Theater gewissermaßen noch etwas Neues bedeutet, das Interesse dafür zu erwecken und rege zu halten. Alle Gattungen von Stücken sollen daher zu Worte kommen: Oper, Spieloper, klassisches Drama, Lustspiel, Ausstattungsstück, Posse, Volksstück und Schauspiel. 470 Die vier Theater sollen volksthümlich im echten und besten Sinne sein; daher müssen sie in ihren künstlerischen Leistungen vor allem sich freihalten von jedem litterarischen Cliquenwesen. Nichtsdestoweniger sollen Erst-Aufführungen neuer <?page no="286"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 286 Stücke veranstaltet werden, jedoch in einer Weise, die eine gerechte Würdigung des Gebotenen nach Möglichkeit gewährleistet. Die Entscheidung über Tod und 475 Leben eines neuen dramatischen Werkes soll in die Hände eines Publikums gelegt werden, das sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammensetzt, nicht aus Anhängern einer bestimmten Richtung oder Clique. Das wird meiner Ansicht nach in folgender Weise erreicht werden: Zu jeder Première der gedachten Art, die ich gewissermaßen als „Probe-Première“ bezeichnen möchte, weil es erst von 480 ihrem Ausfall abhängt, ob die betreffenden Werke in das ständige Repertoir der vier Stadttheater aufgenommen werden, ist der Zutritt frei, jedoch sollen nur Abonnenten, von denen späterhin die Rede sein wird, als „Premièren-Publikum“ für die Erst-Aufführungen in Frage kommen. Die Reflektanten haben sich einige Tage vor der Aufführung zu melden. Aus der voraussichtlich großen Zahl der 485 Meldungen werden dann durch Ausloosung, entsprechend den zur Verfügung stehenden Plätzen, die Premièrentheilnehmer bestimmt. Aber nicht nur in einem, in allen vier Stadttheatern kommt das neue Stück in gleicher Weise und vor einem auf gleiche Art gewonnenen Publikum auf die Bühne, weil in jedem Stadtviertel anders empfindende Theaterbesucher wohnen. Auf diese Weise wird die kunst- 490 verständige Leitung der Theater (bestehend aus dem General-Direktor, den vier Direktoren und den dramaturgischen Beiräthen), die jeder Erstaufführung vollzählig beiwohnen muß, im Stande sein, sich aus der Gesammtstimmung des Publikums der vier Theater ein Urtheil zu bilden. Sie wird sozusagen nach einem „Volksurtheil“ für die Annahme oder Ablehnung der Stücke sich entscheiden 495 können. Ich bin mir vollkommen der Einwendungen bewußt, denen dieser neue Modus begegnen wird. In erster Linie wird man darauf hinweisen, daß „Freigäste“ stets geneigt sein werden, das Gebotene zu loben, daß ferner der „Unverstand der großen Menge“ in Fragen der Kunst nicht das Richtige zu treffen vermöge. Was 500 den ersten Punkt betrifft, so habe ich die Meinung, daß das große Publikum, wenn es erst einmal die ihm hier zuertheilte Rolle begriffen hat, es als Ehrensache betrachten wird, sein Urtheil durchaus unparteiisch und nach bestem Können abzugeben. Was aber die Verständnißlosigkeit der Menge betrifft, so mag nur daran erinnert sein, daß das Sachverständniß vieler berufsmäßigen Kritiker und 505 das zumeist eingebildete des „Premièrenpublikums“ durch das Ueberwuchern des mehrfach betonten Cliquen- und Richtung-Wesens stark beeinträchtigt wird. Das große Publikum hat ein Recht darauf, gerade das zu erhalten, was ihm konvenirt - es soll und darf nicht von einer verhältnißmäßig kleinen Zahl „Premièrenfexe“, denen das Gefühl für das, was der Menge zusagt, nicht eigen ist, ver- 510 gewaltigt werden. Bei der praktischen Durchführung und Eintheilung des Spielplans ist vor allen Dingen der Umstand zu berücksichtigen, daß - da alle Gattungen von Stücken zur Aufführung gelangen sollen - ein großes Künstlerpersonal nöthig wird. Das ist um so mehr erforderlich, als, wie ich vorschlage, täglich neben den üblichen 515 Abend-Vorstellungen Nachmittags-Vorstellungen gegeben werden. Aus diesem Grunde müssen für jede Hauptrolle zwei gleich gute Kräfte vorhanden sein. <?page no="287"?> August Scherl 287 Für die Nachmittags-Vorstellungen kommt ein breiteres Publikum in Frage, als der Leser vielleicht annimmt. Da ist zuerst das Vorort-Publikum. Abendvorstel- 520 lungen zu besuchen, ist diesem der späten Rückkehr und der mangelhaften Zugverbindungen wegen vielfach nicht möglich. Es giebt ferner eine große Anzahl von Beamten, die bestimmte „freie Tage“ resp. Nachmittage hat, des Abends aber im Dienst sein muß. Eine Kategorie anderer Beamten wieder, die bis spät in den Abend hinein zu arbeiten hat, will nach des Tages Last die Familie am heimischen 525 Herde beisammen sehen; die Frauen und Angehörigen dieser Beamten kommen also nicht dazu, Abends das Theater zu besuchen, Nachmittags dagegen könnten sie es. Außerdem giebt es viele Personen, die nur deshalb kein Theater besuchen mögen, weil es ihnen zu unbequem ist, spät in der Nacht sich nach Hause zu begeben. Alle diese Leute würden für Nachmittags-Vorstellungen, wie ich sie 530 plane, zu gewinnen sein - für die heute üblichen freilich nicht, denn auf diesen lastet das Odium der Minderwerthigkeit, der „zweiten Garnitur“. Die beabsichtigten dagegen sollen den Abend-Vorstellungen in keiner Beziehung nachstehen. Eben deswegen, meine ich, kann man auf einen großen Erfolg der Nachmittags-Vorstellungen rechnen. Als weiteres Publikum für diese Aufführungen kommen 535 übrigens auch Schüler in Betracht, soweit das jeweils Gebotene für sie passend erscheint. Ueberhaupt würde es zweckmäßig sein, von Zeit zu Zeit besondere Schüler- Vorstellungen zu wesentlich erleichterten Bedingungen zu geben. 540 Die nachfolgende Aufstellung zeigt, nach welchem System der Spielplan für die vier Theater betreffs Gattung und Reihenfolge der Aufführungen, sowie Anzahl der Vorstellungen desselben Stückes gedacht ist. Die zu gebenden Stücke sind durch die Buchstaben A, B, C, D, E, F, G, H markirt. 545 Nördliches Stadttheater: Nachmittags-Vorstellung Abend-Vorstellung Vom 1. bis 7. Januar Spieloper A. Große Oper E. “ 8. “ 14. “ Klassisches Drama B. Posse F. “ 15. “ 21. “ Ausstattungsstück C. Schauspiel G. “ 22. “ 28. “ Volksstück D. Lustspiel H. Südliches Stadttheater: Nachmittags-Vorstellung Abend-Vorstellung Vom 1. bis 7. Januar Posse F. Klassisches Drama B. “ 8. “ 14. “ Schauspiel G. Ausstattungsstück C. “ 15. “ 21. “ Lustspiel H. Volksstück D. “ 22. “ 28. “ Große Oper E. Spieloper A. <?page no="288"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 288 Oestliches Stadttheater: 550 Nachmittags-Vorstellung Abend-Vorstellung Vom 1. bis 7. Januar Schauspiel G. Ausstattungsstück C. “ 8. “ 14. “ Lustspiel H. Volksstück D. “ 15. “ 21. “ Große Oper E. Spieloper A. “ 22. “ 28. “ Posse F. Klassisches Drama B. Westliches Stadttheater: Nachmittags-Vorstellung Abend-Vorstellung Vom 1. bis 7. Januar Volksstück D. Lustspiel H. “ 8. “ 14. “ Spieloper A. Große Oper E. “ 15. “ 21. “ Klassisches Drama B. Posse F. “ 22. “ 28. “ Ausstattungsstück C. Schauspiel G. Nach obigem System wird jedes einzelne Stück an jedem der vier Theater sie- 555 benmal hintereinander gegeben. Ferner ist aus dem Entwurf zu erkennen, daß jedes der vier Theater innerhalb vier Wochen abwechselnd immer eine Woche hindurch eine große Oper, eine Spieloper, ein klassisches Drama, ein Lustspiel, ein Ausstattungsstück, eine Posse, ein Volksstück und ein Schauspiel giebt. Das gesammte für die vier Theater engagirte Künstlerpersonal bringt also in einem 560 Turnus von vier Wochen an jedem der vier Stadttheater dieselben acht Stücke zur Aufführung. Die aufgeführten Werke werden an jeder der vier Bühnen möglichst von denselben Künstlern, mit derselben Ausstattung, kurz, in genau derselben Form dargestellt. Da nun jedes Werk 28 Tage hintereinander auf dem Spielplan bleibt, so ergiebt sich 565 für die Leitung und das Personal die Möglichkeit, jede Vorstellung mit größter Sorgfalt, mit der nöthigen Muße und künstlerischen Gewissenhaftigkeit einzustudiren. Auf vier Wochen ist der Theaterleiter betreffs des Repertoirs gesichert. Das Publikum findet die wünschenswerthe Abwechselung im Repertoir, weil 570 an jedem der vier Theater wöchentlich zwei (Nachmittags und Abends) bisher dort nicht gegebene Stücke zur Aufführung gelangen. Besondere Anlässe werden es hin und wieder zweckmäßig erscheinen lassen, bestimmte Vorstellungen einmal oder mehrere Male an allen vier Theatern oder an einem Theater aufzuführen. Das ist selbstverständlich eine zulässige Aus- 575 nahme von dem System des Spielplans; für solche Vorstellungen gelten dann die Abonnements, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, als aufgehoben. Auch die Dauer der Spielsaison wird eine Aenderung erfahren. Die Theater sollen nicht sämmtlich in den Sommer-Monaten geschlossen werden, sondern es wech- 580 seln in der Ferienzeit je zwei Theater miteinander ab. Während also die Hälfte des <?page no="289"?> August Scherl 289 gesammten Theaterpersonals spielt, geht die andere Hälfte vier bis sechs Wochen in die Ferien. Daß den ganzen Sommer hindurch Theater besucht werden können, scheint mir im Hinblick auf den Fremdenverkehr und denjenigen Theil der Bevölkerung, der keine Zeit und Mittel hat, Ferienreisen zu unternehmen, dringend 585 geboten. Dieser Ferienmodus ist auch insofern von Bedeutung, als er den Theaterdirektoren den Abschluß von Jahreskontrakten mit allen Künstlern erleichtert. Ein Punkt sei hier noch besonders erwähnt: Das ist die vielumstrittene Zwischenakts-Musik. Entgegen der vielfach verbreiteten Meinung, daß die Musik bei Auf- 590 führung klassischer Stücke, ja sämmtlicher gesangsloser Komödien gewissermaßen „unvornehm“ sei - bei den Privat-Theater-Leitern bedeutet allerdings die praktische Ausnutzung dieser Ansicht eine sehr erhebliche Geldersparniß - stehe ich auf dem Standpunkte, daß gerade die Musik für das Empfinden des Volkes ein vom Theater ganz untrennbarer Begriff ist. Nicht nur bereitet die Musik die 595 Seele zum künstlerisch dramatischen Genusse vor, sie schlägt auch von Akt zu Akt gewissermaßen die Brücke aus dem Reiche der brutalen Alltäglichkeit in das Reich der Illusion. Das Räuspern und Schnauben und das Stimmengewirr im Zuschauerraum vor dem Beginn jedes Aktes ist doch wahrlich keine Symphonie, die geeignet wäre, „die richtige Stimmung“ zu erzeugen. Ich schlage also unbe- 600 dingt Zwischenaktsmusik vor und will diese sogar derart erweitert wissen, daß - unter selbstverständlicher Ausnahme der Opernvorstellungen - das Orchester vor der Vorstellung und während einer großen Pause, von der noch die Rede sein wird, auch im Foyer konzertirt. Die Eintrittspreise. 605 Wie aus den bisherigen Ausführungen zu entnehmen war, denke ich nicht daran, „billige Volkstheater“ zu errichten. Die neuen Theater sollen vielmehr, wie bereits betont, erstklassige Kunstinstitute, und doch sollen die Eintrittspreise niedrig sein. Dies glaube ich u.A. auch dadurch zu erreichen, daß die Theater im Wesentlichen als Abonnementstheater gedacht sind, d.h. also, diese Theater rechnen auf solche 610 Besucher, die im Voraus sich verpflichtet haben, für bestimmte Tage der Woche bestimmte Plätze zu nehmen. Um dem Publikum das Abonniren so viel wie möglich zu erleichtern, sollen Abonnements auf kurze Dauer, selbst für nur einen Monat, angenommen werden. Die Abonnements werden stets für den gleichen Tag der Woche ausgegeben, 615 so daß der Inhaber in einem Turnus von sieben Tagen einmal an die Reihe kommt. Man kann, außerordentlich gute Aufführungen vorausgesetzt, infolge dieser Abonnements-Einrichtung, sofern die Eintrittspreise gering, d.h. wesentlich niedriger gestellt sind als die gegenwärtig bestehenden, wohl stets ein volles Haus erwarten. Der Abonnent lernt bei jedem Besuch seines Theaters ein dort 620 bisher nicht gegebenes Stück kennen; er hat stets Abwechslung, wie bereits angeführt wurde. In den gegenwärtigen Theatern werden die Abonnements-Einrichtungen zu nebensächlich behandelt. Als Norm für den Abonnementspreis schlage ich 1 Mark für den Parquetplatz vor. Nichtabonnenten zahlen für alle abonnirbaren Plätze das Doppelte. Auf der 625 <?page no="290"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 290 Galerie kostet jeder Platz - auch dort giebt es nur numerirte Sitzplätze - 50 Pfg; Abonnements für die Galerie werden nicht ausgegeben. Einmal wöchentlich würden Vorstellungen außer Abonnement, also zu doppelten Preisen, stattfinden. Da jedes Theater ca. 1800 Plätze enthalten und da ferner täglich zweimal gespielt werden soll, so wird man auf eine tägliche Einnahme von über 4500 Mark oder 630 auf eine Monatseinnahme von etwa 120,000 Mark für jedes Theater rechnen können; die Ferienzeit ist dabei berücksichtigt. Unter diesen Umständen hätte die Stadt Berlin voraussichtlich nicht gar zu große Opfer zu bringen, denn mit einem Monats-Etat von solcher Höhe ließe sich schon etwas erreichen. Auf die zweckmäßige Vertheilung der nichtabonnirten Plätze unter diejenigen 635 der Abonnenten ist großes Gewicht zu legen. Es darf nicht vorkommen, daß durch die Abonnements z.B. sämmtliche der Bühne nahe liegenden Parquet- Plätze oder alle Logen-Plätze vorweggenommen sind. Ferner muß möglichst vermieden werden, daß die abonnirten und nichtabonnirten Plätze von den Besuchern im Theater unterschieden werden können. 640 Im Uebrigen wird dem Publikum auch in Betreff der Zahlung der Abonnementsbeträge in weitestem Maße entgegengekommen werden. So soll es zulässig sein, daß die Abonnenten auf das Abonnement nur eine kleine Anzahlung leisten und die Billets von Fall zu Fall bezahlen. Zur Bequemlichkeit des Publikums wird innerhalb jedes Stadtviertels in angemessener Entfernung vom Theater eine zweite 645 Tages-Kasse errichtet, die mit derjenigen im Theater durch direkten Draht telephonisch verbunden ist, um über die jeweilig noch verfügbaren Billets sofort Auskunft erhalten zu können. Es sind überdies in dem Bezirk jedes Stadttheaters besondere Abholestellen (etwa in Buchhandlungen) gedacht, woselbst nach vorheriger Vereinbarung bestimmte Abonnements-Billets abgeholt werden können. 650 An diesen Stellen würden auch solche Abonnenten, die an ihrem Abonnementstage am Theaterbesuch verhindert sind, ihre Billets zwecks anderweitigen Verkaufs hinterlegen können; der eventuelle Erlös wird ihnen gutgebracht. Sollten hinterlegte Billets solcher Abonnenten, die noch keine Zahlung dafür geleistet haben, nicht verkauft worden sein, so haben die betreffenden Abonnenten selbst- 655 verständlich den Schaden zu tragen. Den Theaterbesuchern wird durch die Errichtung einer zweiten Tageskasse und der Abholestellen Gelegenheit gegeben, die Billets in der Nähe ihrer Wohnungen zu entnehmen. 660 Eine wichtige Frage will ich nicht unerwähnt lassen - das ist die Frage des Theater-Anfangs. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß ein großer Theil des Publikums dem Theater fern bleibt, weil die Vorstellungen zu einer Stunde beginnen, wo berufliche Pflichten die Leute noch an’s Haus, an’s Büreau oder an’s Geschäft fesseln, Der übliche Anfang um 7½ Uhr ist für diese zu früh; ein um eine halbe 665 Stunde späterer Anfang wäre schon ein Gewinn. Ich schlage deshalb 8 Uhr für die Abend-Vorstellungen vor. Der Anfang der Nachmittags-Vorstellungen würde sich hiernach richten und vielleicht auf 3 Uhr festzusetzen sein. Es sollen keine Nebenabgaben entstehen. Wie die Verabfolgung der Theaterzettel, so soll auch die Aufbewahrung der Garderobe ganz unentgeltlich sein. Die 670 <?page no="291"?> August Scherl 291 Theaterzettel werden gegebenen Falles, etwa bei Opern und schwierigen Dramen, - was an dieser Stelle besonders hervorgehoben sein mag - eine kurze Inhaltsangabe des Stückes und außerdem kurze Notizen über den Verfasser enthalten, damit die Besucher vor Beginn der Vorstellung sich schon orientiren können. Bei Opern kann die Inhaltsangabe so gestaltet sein, daß die Textbücher überflüssig 675 werden. Bau und Organisation. Wurde in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt, wie ich mir „die innere Reform“ der Theater denke, so sollen die nachstehenden Zeilen, insbesondere der dieser Broschüre beigegebene Anhang mit Plänen und Zeichnungen, der „äußeren 680 Reform“ gewidmet sein. In den neuen Theatern werden folgende Hauptpunkte Berücksichtigung finden: I. Der Zuschauerraum. a) Die Form des Zuschauerraumes, die Anordnung der Logen und Sitzplätze ist 685 so gewählt und ausgeführt, daß von jedem einzelnen Platze aus ein unbehindertes Sehen und Hören gewährleistet wird. (Ausführung Seite 37.) b) Die Ein- und Ausgänge des Parquets und der Ränge sind so gestaltet, daß selbst beim eiligsten Verlassen des Theaters - etwa im Falle einer Katastrophe - jedes Gedränge unmöglich wird. (Ausführung Seite 43.) 690 c) Die Regelung der Temperatur im Theater ist gänzlich umgestaltet und in vollkommenster Weise erreicht, so zwar, daß selbst im Hochsommer der Aufenthalt in den Räumen des Theaters angenehm ist. Der Theaterraum wird durch maschinelle Vorrichtungen gewissermaßen in ein Sommer-Theater umgewandelt. (Ausführung Seite 43.) 695 d) Die Einrichtung der Bühne ist so getroffen, daß ein schneller Szenenwechsel ermöglicht wird. (Ausführung Seite 44.) e) Der Verkehr in der Theater-Vorhalle (Vestibule) ist genau geregelt. (Ausführung S. 44.) II. Garderobe, Restauration und sonstige Nebenräume. 700 a) Die Garderobenverhältnisse sind gänzlich umgestaltet nach dem Grundsatze der Unentgeltlichkeit und absoluten Bequemlichkeit. Jedes Gedränge und längere Warten kommt in Wegfall. (Ausführung Seite 45.) b) In den neuen Theatern befinden sich statt des üblichen gänzlich unzureichenden kalten Buffets Restaurationen im vornehmen Stil, in denen man gut und zu 705 geringen Preisen speisen kann. Vorausbestellung aller Speisen soll ermöglicht werden. (Ausführung Seite 48.) <?page no="292"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 292 c) Statt der vielen kleinen Pausen ist eine solche von dreißig Minuten vorgesehen, die namentlich in Rücksicht auf die Inanspruchnahme der Restauration Vielen wünschenswerth erscheinen dürfte. (Ausführung Seite 49.) 710 d) Die Besucher des II. und III. Ranges können dem im Foyer des I. Ranges stattfindenden Zwischenakts-Konzert beiwohnen, ohne daß sie Treppen zu benutzen brauchen, während die Parquetbesucher eine Treppe hinauf sich zu bemühen haben. (Ausführung Seite 49.) III. Die Regelung des Wagen-Verkehrs. 715 Die An- und Abfahrt der Wagen, sowohl der Equipagen und Droschken als auch der Straßenbahnwagen, ist gänzlich neu gestaltet. Alle Fuhrwerke und Straßenbahnwagen fahren unter Bedachung an und ab. Für die letzteren ist ein besonderer „Theater-Bahnhof“ vorhanden. Droschken und Straßenbahnwagen sind stets in genau ausreichender Anzahl beschafft. Das Stauen der Wagen bei der Anfahrt 720 wird vermieden. Es sind besondere Straßenbahn-Anschlüsse und „Theaterwagen“ in Aussicht genommen. (Ausführung Seite 50.) Wie man aus dieser Zusammenstellung der Hauptpunkte erkennen wird, handelt es sich hier um recht erhebliche bautechnische und weitgehende organisatorische Aenderungen. 725 Es wird wahrscheinlich Leute geben, die die geplante und im Anhang zu dieser Schrift weiter beschriebene Fürsorge für die materiellen Bedürfnisse der Theaterbesucher als eine zu weit gehende bezeichnen werden. Aber man muß, um diese Frage vom richtigen Standpunkt zu beurtheilen, immer wieder auf den Aus- 730 gangspunkt aller meiner Betrachtungen und Vorschläge zurückgehen. Wir haben es hier ja nicht mit Kunst-Enthusiasten zu thun, sondern zum größten Theil mit Leuten, die es allmählich erst werden wollen. Es sollen insbesondere die Indifferenten und die Bequemen zum Theaterbesuch herangezogen werden, und da gilt es eben auch, den kleinen Schwächen des Einzelnen entgegenzukommen und 735 alles aus dem Wege zu räumen, was den Genuß und die Annehmlichkeiten eines solchen Theaterabends stören könnte. Daß aber hierbei die Magenfrage eine wichtige Rolle spielt, kann Niemand leugnen. Vor dem Beginn der Abend-Vorstellung können und mögen viele Leute nicht essen; nach Schluß, zu später Stunde und in einem wieder in anderer Gegend liegenden Restaurant ebenfalls 740 nicht; folglich bleibt für einen sehr bedeutenden Bruchtheil des Publikums nur die eine Möglichkeit, in der Theater-Restauration die berechtigten Forderungen des Magens zu erfüllen. Das gilt auch für solche Besucher der Nachmittags-Vorstellung, die etwa um 4 bis 5 Uhr Nachmittags zu speisen gewohnt sind. Eine sehr einleuchtende Erklärung für die allgemeine Beliebtheit der Variété-Theater liegt 745 zweifellos in der Thatsache, daß die Besucher hier die gebotenen Genüsse nicht durch unliebsames Fasten erkaufen müssen, und es ist unbedingt geboten, diese Erkenntniß zu berücksichtigen und praktisch auszunützen! Manche werden im Hinblick auf die vorgeschlagene Reform des Verkehrs und die Erweiterung der Straßenbahn-Anschlüsse vielleicht den Einwand erheben, 750 <?page no="293"?> August Scherl 293 unsere verkehrspolizeilichen Bestimmungen und die traditionell geheiligten Gepflogenheiten der Straßenbahn-Gesellschaft seien so festgelegt, daß man über sie nicht hinweggehen könne. Demgegenüber möchte ich bemerken, daß alle diese Faktoren des öffentlichen Lebens den von mir geplanten Neuerungen nothgedrungen genau ebenso sich anpassen werden, wie sie dies gegenüber vie- 755 len anderen Forderungen des modernen Verkehrslebens haben thun müssen. Es werden vielleicht auch Bedenken wegen der Platzfrage auftauchen, weil es den Anschein hat, als ob namentlich im Hinblick auf die geplanten „Theaterbahnhöfe“ ein außerordentlich großer Platz für jedes Theater erforderlich sei. Demgegenüber betone ich, daß die von mir vorgeschlagenen Theater nicht mehr 760 Raum benöthigen als solche der gegenwärtigen, die Gartenanlagen haben. Gärten kommen aus den Seite 44 entwickelten Gründen für die neuen Theater nicht in Frage. Die Gartenanlagen der vorhandenen Theater nehmen mindestens so viel Raum in Anspruch wie die gedachten Bahnhöfe. Im Uebrigen können die letzteren außerhalb der Gebrauchszeit andern Zwecken des öffentlichen Verkehrs 765 dienstbar gemacht und so entsprechend ausgenutzt werden. In dem nachstehenden Anhang soll erläutert werden, in welcher Weise ich mir die Ausführung der angegebenen einzelnen Punkte, betreffend Bau und Organisation der Theater, denke. Dieser Theil meiner Broschüre wird in erster Linie den Thea- 770 terfachmann interessiren; doch auch der Laie wird wenigstens das Eine daraus entnehmen, daß ich es mir angelegen sein ließ, bezüglich des Baues und der Organisation nicht blos Wünsche auszusprechen und das Bestehende zu kritisiren, sondern auch Wege zur Abänderung anzugeben. 775 Anhang. Ausführungen zu I. Der Zuschauerraum. a) Die oftmals betonte und niemals recht durchgeführte Forderung, von allen Plät- 780 zen gut zu sehen, wird hier durch die nachstehend beschriebenen Anordnungen erreicht werden. Zunächst das Parquet. Es hat die Form des Saales, d.h. die beiden Seiten des Parquets stoßen im rechten Winkel auf die Bühne. In meinem Bestreben, eine solche Form zu schaffen, daß jeder Parquet-Besucher unbehindert die ganze Bühne überblicken kann, habe ich dem Parquet-Raum auch eine ganz er- 785 hebliche Steigung gegeben, wie folgende Skizze zeigt: <?page no="294"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 294 Diese Steigung ist so bedeutend, daß die letzten Sitzreihen bis zur Höhe des l. 790 Ranges reichen. Jeder Besucher kann von jedem Platze aus über den Kopf des Vordermanns hinwegsehen, auch dann noch, wenn die Größe des letzteren die normale überschreitet. Die gedachte Anordnung der Sitzreihen nach der skizzirten Kurve hat sich in dem von dem Architekten Ernst Schmid-Charlottenburg erbauten Langenbeck- 795 Haus sehr bewährt, namentlich auch betreffs der Akustik. Der genannte Architekt hat mir übrigens bei meinen bautechnischen Vorschlägen als Sachverständiger insofern zur Seite gestanden, als er sie auf ihre Ausführbarkeit und richtige Darstellung hin prüfte. Neben dem Parquet giebt es keine Logen. Neben dem Orchester hingegen be- 800 finden sich die üblichen Orchester-Logen, darüber die Hofloge (mit besonderem Zugang) und die Proszeniumslogen. 805 <?page no="295"?> August Scherl 295 In den neuen Theatern befinden sich drei Ränge, die alle in Logen eingetheilt sind, und ein vierter Rang ohne Logen, der für die Galerie bestimmt ist. Die Besucher der Ränge und Galerie werden ebenfalls einen durch nichts be- 810 hinderten Ausblick auf die Bühne haben. In den gegenwärtigen Theatern haben die Seiten meist eine hufeisenförmige Ausladung, oder sie stoßen im stumpfen Winkel auf die Bühne gemäß folgenden Skizzen: 815 <?page no="296"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 296 Es leuchtet ein, daß eine derartige Anordnung der Plätze unzweckmäßig ist, denn sobald der näher zur Bühne sitzende Nachbar nur im Geringsten sich vorneigt, versperrt er die Aussicht auf die Bühne. Das gilt auch für solche Ränge, deren Seiten die Bühne im rechten Winkel treffen. Deshalb schlage ich vor, daß die bei- 820 den Langseiten der Ränge in einem spitzen Winkel zur Bühne stehen, also folgendermaßen: 825 Alle Ränge haben dieselbe, von derjenigen des Parquets abweichende, Form. (S. Grundriß Seite 39 B.) Bei einer, der Lage dieser Langseiten entsprechenden, Anordnung der Rangplätze kann kein Besucher dem weiter von der Bühne entfernt sitzenden im Wege sein; sie vermögen sämmtlich die Bühne frei zu überblicken. Durch diese ver- 830 schiedenartige Form des Parquets und der Ränge wird die Akustik noch mehr gehoben. Jede Loge enthält zwei Sitzreihen, aber die Plätze der hinteren Reihe sind, entsprechend denjenigen im Parquet, so aufsteigend angeordnet, daß auch hier der Ausblick nie durch den „Vordermann“ behindert werden kann. 835 Auch die Sitzreihen der Galerie weisen erhebliche Steigungen auf, so daß hier ebenfalls die Besucher der hinteren Reihen bequem über die Besucher der vorderen Reihen hinwegsehen können. Die Ränge sind übrigens nicht so hoch wie die in den derzeitigen Theatern, damit auch die Besucher der oberen Ränge einen guten Ausblick auf die Bühne 840 haben. <?page no="297"?> August Scherl 297 b) Um jede Gefahr bei einem etwaigen Brande nach Möglichkeit zu igen [sic! ], denke ich mir folgende Konstruktion der Parquet-Ausgänge und angtreppen [sic! ]: Für je zwei Parquetreihen besteht (natürlich auf jeder Seite [des] Hauses) eine 845 besondere Eingangsthür, von der aus, je nach der Lage Parquetreihe [sic! ], wenige Stufen zu den Plätzen führen. Da jede halbe [sic! ] 18 bezw. 20 Plätze aufweist (s. Grundriß Seite 41), so erhellt aus dieser Eintheilung, daß nur höchstens 38 Personen eine Thür zu passiren haben. Im Falle einer Gefahr vermögen nun die Parquetbesucher „rechts“ und „links“ ohne jeden Aufenthalt das Haus zu verlassen. Es sind 850 nämlich auf jeder Seite zwölf Parquet-Thüren und diesen Thüren gegenüber acht breite Nothausgänge vorhanden, die direkt in’s Freie führen. <?page no="298"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 298 855 Was die große Anzahl der Parquetthüren in der Praxis bedeutet, wird sofort klar werden, wenn man sich daran erinnert, daß die heutigen Theater gewöhnlich nur zwei Ausgänge auf jeder Seite des Parquets haben. Diese geringe Thürenanzahl hat beim Betreten und Verlassen des Parquets stets ein mehr oder weniger großes Gedränge und längeres Warten vor den Parqueteingängen zur Folge. Der in allen 860 jetzigen Theatern vorhandene Gang neben den Sitzreihen im Parquet kommt wegen seiner Unbequemlichkeit und Platzverschwendung bei den neu geplanten Theatern in Wegfall, da die Sitzreihen des Parquets bis an die Parquetthüren reichen. Die Rangbesucher können sich ebenfalls dem Gefühl der Sicherheit hingeben. 865 Für sie besteht die Möglichkeit, schnell und ohne Gedränge das Haus zu verlassen, darin, daß jeder der vier Ränge zwei eigene Treppen hat. Es sind also insgesammt <?page no="299"?> August Scherl 299 acht Rangtreppen vorhanden. Von diesen führen sechs (vom I., II. und III. Rang), und zwar jede für sich, bis an die Straßenausgänge der Vorhalle (Vestibule), die zwei der Galerie bis an die Straße. Bei den meisten der bestehenden Theater 870 vereinigen sich die Rangbesucher auf gemeinsamen Treppen, ein Uebelstand, der häufig bei Eintritt von Brandkatastrophen ein lebensgefährliches Gedränge zur Folge gehabt hat. Auf den von mir vorgeschlagenen acht Treppen kann ein Gedränge nicht entstehen, da für jede einzelne Treppe stets nur eine verhältnißmäßig geringe Anzahl Personen in Betracht kommt. Diese Art der An- 875 lage gestattet auch vielen gebrechlichen Leuten, denen das sonst kaum möglich wäre, die billigen in den oberen Rängen liegenden Plätze zu besuchen. c) Die Regelung der Temperatur im Theater ist eine für das Wohlbefinden des Publikums außerordentlich wichtige Aufgabe. Ich sah einst in einem Londoner Kon- 880 zertsaal diese Frage auf die einfachste Art gelöst. Diese Lösung schwebt mir vor, wenn ich Folgendes anrege: Man mache eine in der Mitte theilbare Decke (Dach), die nach Bedarf geöffnet und geschlossen werden kann. Beide Theile sind mittels elektrisch oder hydraulisch zu betreibender Vorrichtungen schnell und ohne Geräusch horizontal auszufahren und wieder aneinanderzufügen. Eventuell, wenn 885 anders die Witterung es gestattet, bleibt im Sommer die Decke überhaupt während der Vorstellung geöffnet. Die Theaterbesucher haben dann den freien Himmel über sich, während sie den Vorgängen auf der Bühne zuschauen, unbelästigt von Hitze und Dunst. Auf diese Weise ist nicht nur die Ventilationsfrage gelöst, auch die Gefahr des Erstickens durch Rauch bei einem etwaigen Brande ist vollstän- 890 dig behoben, da dem Rauch unbehinderter Abzug verschafft wird. In den drei Rangstockwerken stehen offene Wandelgänge zur Verfügung; für die Galerie-Besucher ist ein offener Balkon vorhanden. Die offenen Wandelgänge und der Galerie-Balkon (s. Grundriß Seite 42n.) ) liegen über den großen Seitensälen des Parquets. (S. Seite 45 und 48.) Auf der perspektivischen Ansicht, Seite 895 38, sieht man rechts über der Bedachung des seitlichen Theater-Eingangs in den Balkon der Galerie und die Wandelgänge der drei Ränge hinein. Diese im Freien liegenden Räume in Verbindung mit der ausfahrbaren Decke ermöglichen es, das Theater gewissermaßen in ein offenes Sommertheater zu verwandeln. 900 d) Die Bühne und ihre Einrichtung soll natürlich unter Berücksichtigung der neuesten Erfahrungen und unter Anwendung aller technischen Hilfsmittel der Neuzeit geschaffen werden. Um ein schnelles und exaktes Funktioniren aller Bühnenvorrichtungen zu erzielen, soll die Elektrizität mehr als bisher in Anwendung kommen. Dies gilt besonders für die gesammte Bühnenmaschinerie. Hauptwerth 905 lege ich darauf, daß ein schneller Szenenwechsel ermöglicht wird. Vor allen Dingen scheint mir daher eine zweistöckige Bühne (Senkbühne) nothwendig, denn diese gestattet es, die nächste Verwandlung fertig herzustellen, während gespielt wird; man spart also die Zeit der vielen Pausen. Für diejenigen, die von einer Senk- Es wird hierbei bemerkt, daß alle für die Ausführung der Bauten nöthigen Säulen in den Grundrissen nicht verzeichnet sind. <?page no="300"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 300 bühne noch nichts erfahren haben, sei bemerkt, daß die versenkbare, mehr- 910 stöckige Bühne im Wesentlichen nichts Anderes ist als ein großer Fahrstuhl mit mehreren Etagen. Ihre Brauchbarkeit wurde in einigen ausländischen Theatern bereits erprobt. „Mehr Licht“ muß auch für diese neuen Bühnen das Losungswort sein. Die meisten der bestehenden Bühnen sind noch immer nicht genügend erleuchtet. Bei 915 Anbringung der Rampen- und Seitenlichter und der Beleuchtungskörper im Zuschauerraum ist darauf Bedacht zu nehmen, daß das Licht nicht, wie jetzt in vielen Theatern, die Augen des Publikums blendet und belästigt. Der übliche große Kronleuchter kommt ganz in Wegfall. 920 e) Der Verkehr in der Vorhalle des Theaters soll streng geregelt werden. Beim Eintritt in die Vorhalle muß man auf den ersten Blick nur die Eingänge bezw. Aufgänge zu den verschiedenartigen Plätzen, beim Verlassen des Theaters nur die Ausgänge zu den verschiedenartigen Wagen vor sich haben. Das wird dadurch erreicht, daß zuerst nur die Eingangs-Thüren durch eine Einfassung von Glühlampen hervor- 925 ragend beleuchtet sind, während die Ausgangs-Thüren dunkel bleiben; nachher ist es umgekehrt. Zudem werden die Aufschriften über den Thüren, sobald letztere nicht in Betracht kommen, unsichtbar gemacht. In dieser Vorhalle befinden sich zwei Theaterkassen, je eine für Rang- und für Parquetbillets. (S. Grundriß Seite 41d.) Die Kassen für die Galerie sind außerhalb 930 der Vorhalle an den Eingängen zu den Galerietreppen angebracht. Ausführungen zu II. Garderobe, Restauration und sonstige Nebenräume. a) Die von mir gedachte Art der Neu-Gestaltung der Garderoben-Verhältnisse hängt mit der geschilderten Platzeintheilung des Parquets eng zusammen. Auf 935 jeder Seite des Zuschauerraumes neben dem Parquet befindet sich ein großer freier Raum. (S. Grundriß Seite 41 C.) Mitten darin erblickt man zwölf Garderobezellen, und zwar genau gegenüber den zwölf Parquetthüren. (S. Grundriß Seite 41.) Die einzelnen Garderobezellen liegen parallel nebeneinander. An den beiden Innenseiten jeder Garderobezelle befinden sich die Haken für die beiden Parquetreihen, 940 zu welchen die gegenüberliegende Parquetthür führt. Parquetthüren und Garderobezellen haben die gleiche Nummer; die Nummern der Sitze im Parquet sind wiederum gleich den Nummern der Haken in der betreffenden Garderobezelle, so daß also das Eintrittsbillet zugleich für die Garderobe Geltung hat, eine besondere Garderobemarke daher in Wegfall kommt. Auf den Billets sind auch die 945 Nummern der Parquetthüren angegeben. Der Theaterbesucher braucht also nur einen Blick auf sein Billet zu werfen, um sofort genau zu wissen, nicht nur welche Reihe und welchen Platz er hat, sondern auch, an welcher Garderobezelle er seine Kleider abgeben muß. Er findet sofort „seinen“ Garderobier, da auch diese Beamten die gleiche Nummer tragen wie die auf den Billets angegebenen Par- 950 quetthüren. <?page no="301"?> August Scherl 301 Auf sehr einfache und bequeme Art gelangt man nach Schluß der Vorstellung 955 wieder in den Besitz seiner Sachen. Die Besucher gehen geradeswegs in die Garderobezelle hinein. Die langen Tische, die vor den Garderobezellen standen und zum Ablegen der Garderobe gedient hatten, sind entfernt worden. Jeder nimmt sich selbst seine Garderobe vom Haken, ohne daß er ein Billet oder eine Garderobemarke vorzuzeigen braucht. Man durchschreitet alsdann die Zelle, tritt in den dahinter 960 befindlichen großen Raum, wo Tische stehen, um die Garderobe aus der Hand zu legen. Ist auf diese Art alle Garderobe den Zellen entnommen - was kaum 2 Minuten in Anspruch nehmen kann -, so erfolgt ein Glockenzeichen, gleich darauf ein zweites und drittes. Dann öffnen sich (was zu dieser Neueinrichtung gehört) die Theaterausgänge auf einmal. Die sonst übliche sehr umständliche und zeitrau- 965 bende Verabfolgung der Garderobe nur gegen Vorzeigung der Marke ist deshalb nicht erforderlich, weil durch die geplante Einrichtung ein Garderobediebstahl vollkommen ausgeschlossen ist; denn vor dem Ertönen des letzten Glockenzeichens würde das Fehlen eines Garderobestückes unzweifelhaft bemerkt werden. Eine Revision könnte in dem alsdann noch geschlossenen Raum natürlich leicht 970 bewerkstelligt werden. Daß die Thüren geschlossen bleiben müssen, bis jeder Besucher seine Garderobe in Händen (wenn auch noch nicht angelegt) hat, wird also begreiflich erscheinen. Deshalb wird sich das Publikum die kaum merkliche Freiheitsberaubung gern gefallen lassen, um so eher, als durch die Neueinrichtung trotzdem eine erhebliche Zeitersparniß herbeigeführt wird. In den heutigen 975 Theatern muß man meist längere Zeit Versuche machen, um einer der wenigen <?page no="302"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 302 Garderobenfrauen seine Nummer in die Hand zu drücken, und dann erst erfolgt, mit Kleidern bepackt, das „Rückwärtsarbeiten“ durch das dichtgedrängte, ungeduldige Publikum. Nur wer ein Trinkgeld entrichtet, kann es heute erreichen, daß seine Garderobe beim Schluß der Vorstellung für ihn bereit liegt. Auch das un- 980 gemein störende zu frühe Verlassen des Zuschauerraums zwecks vorzeitiger Entnahme der Garderobe dürfte durch die vorgeschlagene Einrichtung gänzlich in Wegfall kommen. 985 Will Jemand das Theater vor der Zeit verlassen, so erhält er in diesem Falle seine Garderobe gegen Vorzeigung seines Theaterbillets, das, wie oben gesagt, gleichzeitig als Garderobemarke dient. Alles bisher Angeführte bezieht sich auf die Garderoben des Parquets. Für die 990 Ränge ist die Garderobenfrage auf die einfachste Weise gelöst. In jeder der kleinen Logen befindet sich hinter einer Wand ein Raum mit einer Anzahl Haken, an die die Kleidungsstücke der Logen-Insassen gehängt werden. Die Wand ist so angebracht, daß die Kleider vom Zuschauerraum aus nicht gesehen werden können. (S. Grundriß Seite 42q.) 995 Den Galeriebesuchern stehen Garderoben zur Verfügung, die hinter den betreffenden Platzabtheilungen liegen. b) Das Theater-Restaurant. Neben der „Garderobenfrage“ spielt die Frage der Restauration zweifellos eine erhebliche Rolle. Denn in Hinblick auf die verschiede- 1000 nen Zeiten, zu denen die einzelnen Besucher ihre Hauptmahlzeiten einnehmen, <?page no="303"?> August Scherl 303 muß sowohl bei den Nachmittagsals auch bei den Abend-Vorstellungen für eine „gute“ Mahlzeit gesorgt sein. Wenn die Besucher im großen Zwischenakt aus dem Parquet in das Seitenfoyer treten, so präsentirt sich dieses als ein breiter, mit Tischen, Stühlen etc. besetzter 1005 Speisesaal. Die Garderobezellen mit ihrem Inhalt sind verschwunden. Die Handhabung einer einfachen dafür bestimmten Vorrichtung hat die ganze Reihe der Garderoben in das Erdgeschoß befördert. Wo beim Eintritt in’s Theater nichts zu bemerken war als die Garderobezellen, sieht der Besucher jetzt die Einrichtung eines feineren Restaurants. Die beigefügten Bilder (Seite 46 u. 47) zeigen diese 1010 Veränderung sehr augenfällig. Das eine illustrirt den Saal vor Beginn des Theaters als Garderobenraum. Das zweite zeigt denselben Raum als Speiseraum während der großen Pause. Aus dem letzteren Bilde ersieht der Leser auch, wo die Garderobe mit ihrem Inhalt geblieben ist. Man erblickt die Zellen im Erdgeschoß, unter dem Speisesaal; die technischen Einrichtungen thun dem Beschauer kund, 1015 daß die Garderoben nach dem Prinzip der Fahrstühle gebaut sind und deshalb so schnell nach unten befördert werden konnten. Die Einrichtung ist an sich sehr einfach und allgemein bekannt, nur gelangte sie bisher in der gedachten Weise niemals zur Anwendung. Kommen noch Nachzügler, die ihre Kleider abgeben wollen, nachdem die 1020 Zellen mit ihrem Inhalt bereits in’s Erdgeschoß gelangt sind, so begeben sich diese über die dafür vorhandene Treppe hinab. Sie finden hier einige Beamte vor, die die Garderobe in Empfang nehmen und an den richtigen Platz befördern. Die gesammte Garderobe ist völlig eingeschlossen; nur die erwähnten Beamten haben den Schlüssel zu sämmtlichen Thüren. Will Jemand etwa in der Pause seine Gar- 1025 derobe zurücknehmen, so hat er sich ebenfalls an den Garderobe-Beamten im Erdgeschoß zu wenden. Nach Schluß der Pause vollzieht sich, während die Vorstellung ruhig ihren Gang geht, ebenso schnell die Umwandlung des Speisesaales in den Garderobenraum, wie vorher das Umgekehrte. In jenen Speisesälen nun findet man in der großen Pause (s. folg. Seite unter c) 1030 genau abgegrenzte numerirte Plätze mit den bestellten Speisen und Getränken vor. Die Bestellungen darauf werden - immer gegen Aushändigung eines numerirten Bons - vor Beginn der Vorstellung in den zum Theater führenden Theaterwagen (eine Neueinrichtung, die ich später in dem Kapitel über die Verkehrsverhältnisse (Seite 50) ausführlich erörtern werde) oder beim Eintritt in’s Theater von 1035 den dort zahlreich vorhandenen uniformirten Jungen entgegengenommen. Der Besucher sieht aus der Nummer des Bons, welcher Platz im Speisesaal für ihn reservirt ist. Es empfiehlt sich, kalte Speisen und Getränke, gleichgiltig welcher Art, ebenfalls im Voraus zu bestellen, damit man das Gewünschte auch richtig erhält. Für diejenigen Besucher, die keine Vorausbestellungen gemacht haben, 1040 sind besondere Buffets und kleine Tische in genügender Zahl vorhanden, so daß die Gäste die Speisen aus der Hand stellen und essen können, ohne hin- und hergestoßen zu werden. Den Besuchern der drei Ränge, sowie der Galerie stehen in gleicher Weise besondere Speiseräume zur Verfügung, die hinter den seitlichen Logen liegen. (S. 1045 Grundriß Seite 42m.) Auch hier können Speisen vorausbestellt werden. Hinter <?page no="304"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 304 den Logenspeiseräumen sind, wie schon angegeben, die offenen Wandelgänge vorgesehen, wo man promeniren kann. c) Wie der Leser gefunden haben wird, sind alle Einrichtungen so geplant, daß 1050 das Speisen bequem und ohne Zeitverlust vor sich gehen kann. Dennoch würde die Zeit der üblichen Pausen dazu nicht ausreichend sein. Ich habe deshalb folgende Neuerung in Aussicht genommen: Die sogenannten kleinen Zwischenakte werden unter Heranziehung sämmtlicher technischer Hilfsmittel, insbesondere der bereits erwähnten Senkbühne, nach Möglichkeit beschränkt, und dafür wird, 1055 ungefähr in der Mitte jeder Nachmittags- oder Abend-Vorstellung, nur eine, dafür aber große, etwa dreißig Minuten währende Pause geschaffen. Diese Pause dürfte zur Befriedigung der Speisebedürfnisse genügen, zumal Vorausbestellung vorgesehen ist. 1060 d) Im Foyer des I. Ranges findet während der halbstündigen Pause Zwischenakt- Konzert statt. Im II. und III. Rang befindet sich je ein Foyer wie im I. Rang, jedoch hat der Fußboden dieser Ränge einen mit einem Geländer umgebenen Ausschnitt, durch den man nach unten in das Foyer des I. Ranges blicken kann. Die Musik des Zwischenakt-Konzertes ist also auch auf den oberen Rängen zu ver- 1065 nehmen. Die Besucher des II. und III. Ranges genießen mithin den Vorzug des Konzerts, ohne daß sie Treppen zu benutzen brauchen. Die Parquetbesucher hingegen müssen sich eine Treppe hinauf, zum Foyer des l. Ranges, bemühen. Ausführungen zu III. Die Regelung des Wagenverkehrs. 1070 Einer der für die Theaterorganisation wichtigsten Faktoren ist die Regelung der Verkehrsverhältnisse, der Ab- und Zufahrt der Equipagen, Droschken und Straßenbahnen. Die gegenwärtig geübte Beförderung des Theaterpublikums giebt zu fortgesetzten Klagen Anlaß. Gestaut in Reihen, deren letzter Wagen viele hundert Meter weit vom Eingange des Theaters entfernt steht, wartet das geduldige oder 1075 auch ungeduldige Publikum viertelstundenlang auf das endliche Freiwerden der Zufahrt. Die Pferdebahn-Haltestellen befinden sich meist so weit vom Theater entfernt, daß mitunter ein nicht unerheblicher Weg zu Fuß zurückgelegt werden muß. Ist das Theater aus, dann beginnt der obligate Kampf um die Fahrgelegenheit. Im Nu sind die Straßenbahnen überfüllt, und übrig bleibt meist nur die 1080 theuere Droschke oder der Weg zu Fuß. Auf diese Uebelstände muß bei der Anlage und Organisation der neuen Theater Rücksicht genommen werden, und zwar denke ich mir die Ausführung wie folgt: <?page no="305"?> August Scherl 305 Anfahrt. 1085 1. Straßenbahnwagen. Alle im Bezirk des Theaters liegenden Strecken sollen Anschlußgeleise zum Theater erhalten. Eine Stunde vor Beginn der Nachmittags- und Abend-Vorstellung verkehren in allen vier Bezirken von verschiedenen Abfahrtsstellen aus nach dem Theater besondere Wagen. Die Wagen erhalten große Schilder mit der Bezeichnung „Theaterwagen“. In den Wagen befinden sich stets, 1090 wie bereits angegeben, einige „Theaterjungen“, die auch Bestellungen auf Speisen und Getränke, die das Publikum in der großen Pause servirt haben will, entgegennehmen. Außerdem haben diese Jungen schon im Wagen den Fahrgästen die Theaterzettel unentgeltlich auszuhändigen. Sämmtliche Theaterwagen fahren in einen unmittelbar an der Frontseite des Theaters liegenden überdachten „Thea- 1095 terbahnhof“, dessen Uebergang zum Theater ebenfalls überdacht ist. (S. Zeichnung Seite 51.) Der Fahrpreis beträgt zehn Pfennig pro Person von allen Abfahrtstellen aus. Wer die Straßenbahn benutzen muß, um erst nach der Abfahrtstelle eines Theaterwagens zu gelangen, erhält innerhalb der Stunde vor Beginn der Vorstellung, sofern er im Besitze eines Theaterbillets ist, ein Umsteige-Billet. 1100 1105 <?page no="306"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 306 2. Equipagen und Droschken. Diese Wagen müssen an den Seiten des Theaters anfahren, und zwar „links“ oder „rechts“, entsprechend den Theaterbillets der Insassen. An jeder Seite des Theaterbaus befindet sich ein langer, bis zum Theater 1110 überdachter Inselperron, in der Weise angelegt, daß eine Einfahrtshalle zwischen diesem und dem Theater und eine zweite neben der anderen Seite des Inselperrons entsteht. (S. Zeichnung Seite 52 und Grundriß Seite 39.) In die zuerst bezeichnete Einfahrtshalle können zwei Wagenreihen nebeneinander einfahren. Die Insassen dieser Wagen steigen direkt an der Seite zum Theater oder am Inselper- 1115 ron aus. In die außerhalb des letzteren befindliche Einfahrthalle kann nur eine Wagenreihe einfahren, deren Insassen an dem Inselperron aussteigen, von wo zwei kurze Tunnels, wie auf dem Grundriß ersichtlich, direkt ins Theater führen. Auf diese Weise können sechs lange Wagenreihen (links und rechts) zu gleicher Zeit unter Dach anfahren, deren Fahrgäste nicht zu warten brauchen. 1120 Abfahrt. 1. Straßenbahnwagen. Es ist erforderlich, daß nach Schluß der Vorstellung genügend Wagen für jede in Betracht kommende Richtung vorhanden sind. Zu diesem Zweck müssen die Fahrkarten vorher, am besten in der großen Pause, gelöst werden. Das nimmt weder merkliche Zeit, noch Mühe in Anspruch; man braucht 1125 nicht etwa an einen Schalter zu treten, sondern die überall zu treffenden uniformirten Jungen bieten die Fahrkarten an; auch sind Automaten dafür aufgestellt. Während der letzten Akte wird der Billetverkauf der Jungen und Automaten durch einen Beamten revidirt und hiernach die Anzahl der Wagen bestimmt, ebenso für welche Richtungen sie nöthig sind. 1130 Die so ermittelte Anzahl Wagen wird hierauf zusammengestellt und jede Richtung für das das Theater verlassende Publikum durch große, gut erleuchtete Schilder genau angegeben. Wer kein Fahrbillet im Voraus gelöst hat, kann diese <?page no="307"?> August Scherl 307 Theaterwagen nicht benutzen, es sei denn, daß noch Platz übrig bleibt, nachdem alle mit Billets versehenen Personen eingestiegen sind. 1135 2. Equipagen und Droschken. Die letzteren werden vor Schluß der Vorstellung in der erforderlichen Anzahl herangeschafft und zusammengestellt. Der Bedarf an Droschken wird dadurch ermittelt, daß ebenfalls vorher, in der großen Pause, für die verschiedenen Arten von Droschken (erster oder zweiter Klasse, offene oder 1140 geschlossene Wagen) Marken zum Preise von 50 Pfennig entnommen werden, und zwar von den Theaterjungen oder aus den Automaten. Die Anzahl wird, wie oben bei den Straßenbahnen angegeben, festgestellt. Die Marke giebt man dem Kutscher in Zahlung. Die Kutscher dürfen nur Fahrgäste annehmen, die mit solchen Marken versehen sind. Die Equipagen und die verschiedenen Arten 1145 Droschken haben ihre Abfahrtstelle unter den Bedachungen der Inselperrons. Der Standplatz und die Art der verschiedenen Wagen werden durch große, gut beleuchtete Schilder sichtbar gemacht. Vom Dunkelwerden an, insbesondere bei der An- und Abfahrt, wird für genügendes Licht durch Bogenlampen und, vom Dache aus, durch Scheinwerfer ge- 1150 sorgt sein. Schlußwort. Wohl bin ich mir bewußt, daß meine Schrift Angriffe erfahren und Meinungsverschiedenheiten über die von mir angeregte Frage, wie man das Theater in Berlin populär machen kann, zeitigen wird. Einem Einwande möchte ich aber von 1155 vornherein die Spitze abbrechen, nämlich dem Einwande: „Das wäre alles sehr schön, aber es geht nicht! “ Mit voller Ueberzeugung rufe ich demgegenüber aus: „Es geht! “ Es geht, wie so vieles Andere, das zunächst auch undurchführbar schien, dann aber verwirklicht wurde, als den vermeintlichen Unmöglichkeiten die Nothwendigkeit der Ausführung und ein eiserner, unbeugsamer Wille entge- 1160 gentrat. Jeder, der ohne Voreingenommenheit sich die Mühe giebt, meine Vorschläge eingehend und mit Ernst zu prüfen, wird finden, daß sie sogar ohne größere Schwierigkeit ausgeführt werden können. Zudem werden, wie ich annehme, alle diejenigen, die sich mit meinem Thema beschäftigen, darin mit mir übereinstimmen, daß die Theater in der Reichshaupt- 1165 stadt dem Mittelstande, insbesondere aber dem „kleinen Mann“, fast fremd sind, und daß in kultureller Beziehung viel gewonnen wäre, wenn es gelänge, Theater mit wirklich künstlerischen Darbietungen auch diesen Kreisen zugänglich zu machen. Durch die Darlegung und die weitestgehende Verbreitung meiner Pläne habe 1170 ich zunächst das Meinige gethan, um die Uebelstände im Theaterwesen zu beheben. Nun haben Berufenere das Wort! Meine Anregungen zu prüfen, zu bessern, zu ergänzen und sie dann der praktischen Verwirklichung entgegenzuführen, das soll, meine ich, Sache eines Comités sein, gebildet aus Berliner Stadtvertretern, Theaterfachleuten, Architekten, aus Männern von weitem Blick, Thatkraft und 1175 <?page no="308"?> Berlin hat kein Theaterpublikum! (1898) 308 gemeinnütziger Gesinnung, Männern, die eine Ehre und eine Pflicht darin sehen, an einem Werke von weittragender Bedeutung mitzuhelfen. Sollte aber selbst ein solches Comité nicht zu Stande kommen, so habe ich gleichwohl die sichere Hoffnung, daß meine Anregungen früher oder später befruchtend einwirken werden auf neue Ideen und zielbewußte Bewegungen im Gebiete der Theater- 1180 Reformen; auf diesem Wege werden dann meine Vorschläge in hoffentlich noch weit vollkommener Form zur Verwirklichung gebracht werden. <?page no="309"?> 7. Heinrich Stümcke: Berliner Theater (1907) Einführung Heinrich Stümckes (1872-1923) Schrift „Berliner Theater“, die, wie aus dem Vorwort hervorgeht, im Jahr 1906 zur Veröffentlichung in einer ausländischen Zeitschrift verfasst und ein Jahr später auch in Deutschland herausgegeben wurde, steht ganz unter dem Vorzeichen der Entwicklung Berlins zur (Theater-) Metropole. Sie soll, so betont es der Autor in jenem Vorwort in aller Bescheidenheit, „lediglich als Bilanz und als Momentphotographie des immer bunter werdenden Bildes der Reichshauptstadt als deutsche Metropole gelten“ (Stümcke, 9ff.). Dabei stellt Stümcke in seiner Momentaufnahme die kulturelle Institution Theater in ihrem gesamten Spektrum dar - vom Hoftheater über die „anspruchsvolle“ Privatbühne bis hin zum künstlerisch „wertlosen“ Sommertheater finden alle Bühnen der Reichshauptstadt mehr oder weniger umfangreiche Erwähnung. Gleichzeitig setzt er die Entwicklung des Theaters in Berlin ins Verhältnis zum Metropolisierungsprozess. So zeichnet der Autor ein interessantes und kulturhistorisch aufschlussreiches Zeitbild - nicht nur - der Theatersituation Berlins. Heinrich Stümcke kann man unbestritten als Theaterkenner bezeichnen. Bereits seit 1891 literarisch tätig, war er seit 1894 Herausgeber der Neuen literarischen Blätter sowie der Westöstlichen Rundschau. 1898 begründete er die Theaterzeitschrift Bühne und Welt, welche er bis zum Jahr 1913, also bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg, herausgab. In dieser Zeitschrift, die noch heute als eine der wichtigsten Quellen zur Theatergeschichte des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts gilt, erweist sich Stümcke in seiner regelmäßig erscheinenden Reihe mit dem Titel „Von den Berliner Theatern“ als Kenner seines Faches wie vor allem der Berliner Theatersituation, die er analytisch aber nicht ohne Witz dem Leser präsentiert. Wie sehr sich Stümcke dem Theater und seiner Entwicklung verschrieben hatte und wie sehr er stets eine über das feuilletonistische hinausgehende Perspektive auf das Theater pflegte, zeigt sich auch darin, dass er im Jahr 1902 die bis heute bestehende Gesellschaft für Theatergeschichte mitgründete. Auch in seiner Veröffentlichung Die Frau als Schauspielerin von 1905, die eine Mischung aus Ratgeber für angehende Schauspielerinnen und soziologisch-theoretischer Abhandlung zur Geschichte der Bühnenkünstlerin ist, wird Stümckes genaue Kenntnis der Theatersituation wie ein sozialhistorisches Interesse an der Theorie des Theaters sehr deutlich. Dies zeigt sich auch in seiner Schrift „Berliner Theater“. Stümcke weist dem Theater in diesem Text eine nicht unerhebliche Rolle in der Stadtentwicklung zu, er stellt sogar eine direkte Kausalkette zwischen der Funktion des Theaters und der Internationalisierung Berlins her: Die im Zuge der Umstrukturierung ansteigende Bevölkerungszahl im 19. Jahrhundert führt zu einem ökonomischen Aufschwung zumindest für einen Teil der Einwohner Berlins. Solcher Reichtum verursacht dann ein steigendes Bedürfnis nach Luxus, welcher wiederum gespeist wird durch Tendenzen der Internationalisierung bzw. der Orientierung <?page no="310"?> 7. Stümcke: Berliner Theater (1907) 310 an anderen Metropolen. Beide Faktoren - Luxus und Metropolisierung - werden durch das Theater grundlegend bedient, weswegen es ihm gelingt, sich in seiner kulturellen, wirtschaftlichen wie sozialen Funktion immer mehr zu etablieren. Ein Nebeneffekt ist die Entwicklung des Theaters zum Geschäft, die sich in den künstlerischen Produkten niederschlägt, welche die unterschiedlichen Bühnenunternehmen und Theaterformen hervorbringen. Von einer Bewertung dieser Entwicklung sieht Stümcke allerdings - im Gegensatz zu sehr vielen anderen Kulturkritikern seiner Zeit - weitgehend ab. Vielmehr ist es ihm wichtig, das Berliner Theater als einerseits einen Spiegel der modernen Entwicklung darzustellen und andererseits seine katalysierende Wirkung auf dieselbe herauszuarbeiten. Als einzigen Wermutstropfen dieser Entwicklung, die Theatergrößen wie den von Stümcke hoch verehrten Max Reinhardt hervorgebracht hat, empfindet der Autor die Situation der Berliner Hofbühne. Im Gegensatz zu den den Metropolisierungsprozess abbildenden Privattheatern, wie etwa Reinhardts Deutsches Theater, Otto Brahms Lessing-Theater oder selbst noch die kleinen Berliner Bühnen, die die französische Salonkomödie „hoch- und runterspielen“, kommt das Hoftheater der Reichshauptstadt als einziges in den Genuss der Subvention und fällt somit aus dem wirtschaftlichen Kreislauf heraus. Nicht nur ökonomisch, sondern auch künstlerisch spiegelt es damit, nach Stümcke, einen Konservatismus wider, welcher vom Autor als unzeitgemäß und auch der Metropolisierung Berlins entgegenstrebend empfunden wird. In diesem Zusammenhang äußert Stümcke auch direkte Kritik am regierenden Kaiser Wilhelm II. und seiner ostentativen Abneigung gegenüber dem „modernen“ Drama des Naturalismus und Symbolismus im Kontrast zu seiner ebenso offensichtlichen Zuneigung etwa zum Theater Ferdinand Bonns. Die Unmutsäußerung Stümckes über die von Konservatismus und Subvention geprägten Hoftheaterverhältnisse der Metropole erstaunt doppelt: einerseits wegen ihrer fehlenden unbedingten Kaisertreue, die in so vielen zeitgenössischen Streitschriften so deutlich zum Vorschein kommt; andererseits wegen der darin implizierten Akzeptanz des wirtschaftlichen Systems mit all seinen Vor- und Nachteilen, dem das Theater unterstellt ist. Stümcke bildet somit unter den Autoren dieses Bandes auf zwei Ebenen eine Ausnahme: Erstens setzt er stärker als alle anderen Autoren die theaterhistorische Entwicklung in Berlin in einen direkten Zusammenhang mit der Entwicklung Berlins zur Metropole; zweitens verteufelt er die ökonomisch orientierte, von der Metropolisierung Berlins geprägte Theatersituation nicht grundlegend (auch wenn er an mehreren Stellen Kritik äußert), sondern nimmt diese eher als Eröffnung von Möglichkeiten wahr - für das Publikum wie auch für die Kunstschaffenden. Stefanie Watzka <?page no="311"?> Heinrich Stümcke Berliner Theater (1907) Vorbemerkung. Die nachfolgenden Ausführungen sind ursprünglich in einer ausländischen Monatsschrift erschienen und mit der vorliegenden Veröffentlichung in Broschüren- 5 form entspreche ich einem von Freunden wie von mir persönlich fremden Lesern mehrfach an mich gerichteten Wunsche, in der Hoffnung, daß diese dem Orientierungsbedürfnis weiterer Kreise des Theater liebenden Publikums dienenden Zeilen, die lediglich als Bilanz und als Momentphotographie des immer bunter werdenden Bildes der Reichshauptstadt als deutsche Theatermetropole gelten 10 wollen, in der Tat auch in dieser Form deutschen und ausländischen Freunden der Schaubühne willkommen sein werden. Karersee, im Juli 1907. (Tirol) 15 Heinrich Stümcke. Anno 1827, im sogenannten Jubeljahr des Gesanges, als das Berliner Publikum um die Wette der Catalani, der Sontag, der Schechner und der Heinefetter im 20 Theater und auf den Straßen vor den Wohnungen der Künstlerinnen Ovationen bereitete, die in ihrer Maßlosigkeit den Stempel der Lächerlichkeit trugen, schrieb der ernste, pietistisch angehauchte Freiherr Josias von Bunsen an seine Frau: „Es ist entsetzlich zu sehen, wie sich mit wenigen Ausnahmen die Bildung Berlins um das Theater dreht.“ Ein künftiger Chronist unserer Tage wird in Briefwechseln 25 und Memoiren vielleicht den gleichen oder ähnlichen Stoßseufzer auffinden und feststellen, daß auch 1906 der Enthusiasmus wenigstens gewisser Gesellschaftskreise in der Reichshauptstadt bei besonderen Anlässen wie dem Abschiedskonzert der anmutigen Sängerin Geraldine Farrar wunderliche Blüten getrieben hat. Aber wenn wir auch von derartigen Einzelfällen, die mehr in das Gebiet des Sen- 30 sationellen als des Künstlerischen schlagen, absehen, so müssen wir feststellen, daß das Theater zurzeit weitaus im Mittelpunkt der künstlerischen Interessen steht. Die Beachtung, welche die Berliner Presse den Darbietungen der Schaubühnen aller Art zuteil werden läßt, ist, auch rein räumlich bemessen, eine immer umfangreichere geworden. Auch die bescheidenste Nachmittagsvorstellung der 35 ersten besten neugegründeten Versuchs- und Sonderbühne wird mit liebevoller Ausführlichkeit besprochen, die Persönlichkeit jedes einigermaßen erfolgreichen Bühnenautors in kleinen Notizen und ausführlichen Premierenglossen geschildert und das gedruckte Wort durch ein oder mehrere Bilder unterstützt, auch <?page no="312"?> Berliner Theater (1907) 312 wohl Namen und Stand der in der Premiere anwesenden sogenannten Spitzen 40 der Literatur, Behörden und Gesellschaft getreulich vermerkt. Endlich fehlen auch nicht gelegentliche Hinweise auf die fünf- oder gar sechsstelligen Ziffern, die den Tantiemenertrag eines besonders zugkräftigen Stückes ausdrücken, und auf die wachsende Zahl ausverkaufter Häuser, was natürlich nicht wenig dazu beiträgt, die Zahl derer, Bühnenleiter wie Bühnenschriftsteller, die nach dramati- 45 schen Lorbeeren und gefüllten Kassenschränken trachten, zu vermehren und den Ehrgeiz der Konkurrenten anzuspornen. Immer bunter und mannigfaltiger hat sich in den letzten Jahren das Bild des Berliner Theaterlebens gestaltet, und es verging fast kein Monat, in dem nicht die Zeitungen von einem neuen Bühnenprojekt, der Bildung eines Komitees oder 50 einer G.m.b.H., die der Berliner Volkswitz gern als „Gesellschaft mit besonderen Hintergedanken“ interpretiert, zu berichten gewußt hätten. In der Tat scheint die Zeit nicht mehr fern zu sein, da Berlin als die Theaterhauptstadt der Welt wird bezeichnet werden müssen. Was die Qualität der Leistungen und die Zahl der literarisch ernst zu nehmenden Bühnen anlangt, hat es Paris, London und 55 Newyork bereits überflügelt und auch die Zahl der der heiteren Muse gewidmeten Stätten ist in ständiger Vermehrung begriffen. Der alljährlich stärker in die deutsche Reichshauptstadt flutende Fremdenstrom und die langsam, aber beständig wachsende Bevölkerungszahl von Großberlin in Verbindung mit dem steigenden Wohlstand und dem steigenden Kunst- und Luxusbedürfnis immer 60 breiterer Volksschichten geben wagelustigen Geldleuten und Pächtern Mut und scheinbare moralische Berechtigung zu immer neuen Unternehmungen. Der letzte Winter hat uns die Eröffnung dreier neuer Musentempel beschert, zwei weitere sind im Bau begriffen, die Ausführung von noch zwei anderen wird als gesichert gemeldet. Und dabei sind erst 83 Jahre verflossen, seitdem Berlin in 65 dem Königstädtischen Theater seine erste Privatbühne erhalten hat, und 1908 wird erst ein Vierteljahrhundert verflossen sein seit der Eröffnung des Deutschen Theaters, der ersten ernst zu nehmenden Privattheatergründung großen Stils auf Berliner Boden. Der nach Berlin kommende Fremde, der nicht nur für die Heimstätten leich- 70 tester Unterhaltung Interesse hat, pflegt immer noch aus Pietät und Tradition seine Schritte zuerst in die Königlichen Häuser zu lenken, in das Opernhaus Unter den Linden und in das Schauspielhaus, Schinkels neuerdings völlig und nach der Meinung ernsthafter Kunstfreunde nicht eben glücklich umgestalteter Prachtbau am Gensdarmenmarkt. Beide haben auch nach dem Erlöschen ihres einstigen 75 Monopols äußerlich ihre Stellung als die ersten subventionierten Bühnen des Reiches behauptet. Daß sie in künstlerischer Hinsicht an der Spitze marschieren, wird man höchstens mit sehr erheblichen Einschränkungen und Klauseln heute noch behaupten dürfen. Nicht der Mangel an Mitteln oder an hervorragenden Kräften, sondern der Mangel an Wagemut und Initiative infolge der durch Wün- 80 sche und Kunstanschauungen der höchsten Stelle beschränkten Bewegungsfreiheit der leitenden Persönlichkeiten sind daran schuld, daß die Berliner Theaterfreunde oft mit Neid nicht nur nach Wien, sondern auch nach Dresden und Stuttgart schauen, wenn ein bedeutsames Ereignis auf den Brettern der dortigen <?page no="313"?> Heinrich Stümcke 313 Hofbühnen sich abspielt. Am stärksten machen sich Rückständigkeit und be- 85 queme Selbstzufriedenheit im künstlerischen Betriebe des Schauspielhauses bemerkbar. Die königliche Bühne fand mit Recht ihre erste und wichtigste Aufgabe darin, das Repertoire der Klassiker und ihrer unmittelbaren Nachfolger zu pflegen. Eine ernsthafte Konkurrenz auf diesem Gebiete erwuchs ihr zum erstenmal in dem Deutschen Theater Adolf L’Arronges, das behender und klüger als die Hof- 90 bühne dem von Herzog Georg von Meiningen in solcher Vollendung aufgestellten Vorbilde nachstrebte, und das Prinzip der ausgeglichenen Ensemblekunst und der historischen Treue und Stilechtheit in der Inszenierung sich zu eigen machte. Dank der langjährigen Wirksamkeit eines alten Meiningers, Max Grube, in der Stellung des Oberregisseurs holte dann auch das königliche Schauspielhaus 95 das Versäumte nach und zwar so gründlich, daß die Kritik manchen Aufführungen infolge Übertreibung des an sich nicht genug zu würdigenden Prinzips den Vorwurf der Meiningerei machen mußte. Während einer Reihe von Jahren, als die Hochflut des naturalistischen Sturmes und Dranges die deutsche Bühne mit den sogenannten Armeleute-Stücken und Milieudramen überschwemmte und einige 100 Heißsporne unter den Direktoren, Kritikern und Schauspielern das allein selig machende Kunstprinzip bei Ibsen und seinen deutschen Jüngern und Nachahmern erblicken wollten und die Aufführung der Dramen Schillers und Goethes als verlorene Liebesmüh und als Aufgabe, gut genug für billige Nachmittagsvorstellungen der Theater zweiter und dritter Ordnung galt, hatte die Hofbühne, von 105 einigen erfolgreichen Klassikeraufführungen in Ludwig Barnays Berliner Theater und gelegentlichen Gastspielen von Stars auf Vorstadtbühnen wie das Ostendtheater abgesehen, wieder fast ein Monopol auf seinem Sondergebiet. Der Hauptträger seiner Erfolge hieß und heißt Adalbert Matkowsky, den Freunde wie Gegner als eine der stärksten Individualitäten der gegenwärtigen Schauspielergeneration 110 anerkennen, einer der letzten stürmischen Genialitätsmenschen vom Stamme Ludwig Devrients. Es gibt kluge und kenntnisreiche Beurteiler des Theaters, die offen erklären, daß Matkowsky ihnen eine Enttäuschung bereitet habe, als sie ihn zum erstenmal oder nach langer Pause spielen sahen, die ihn nicht frei von Manier und mit den Fehlern des alten Kulissenreißertums behaftet finden. Der alte 115 Fontane z.B. wollte Matkowsky nicht als großen Schauspieler gelten lassen, er fand ihn zu hitzig, zu stürmisch, zu laut und ungleichmäßig. Unzweifelhaft haben allzu häufige strapaziöse Gastspiele zumal auf Bühnen geringen Ranges, die der Künstler, hauptsächlich um seiner ins Grandiose gesteigerten Sammlerleidenschaft frönen zu können, bis in die jüngste Zeit nicht verschmäht hat, in mancher 120 seiner Leistungen bemerkbare Spuren hinterlassen. Er hat ferner wie Kainz und Mitterwurzer stimmungslose und verstimmende Abende, an denen er nicht die Rolle, sondern mit der Rolle spielt, und endlich kommt es vor, daß er selbst da, wo er ganz bei der Sache, mit Kopf und Herz dabei ist, daneben haut. Wo aber Individualität und Rolle sich decken, wo er eine große lockende Aufgabe, die die 125 ganze Kunst des Menschendarstellers erfordert, trifft, da fördert er aus der Tiefe seiner reichen starken Individualität überwältigend Schönes und Starkes zu Tage. Den Übergang vom Liebhaber und Heldendarsteller zum Charakterspieler, diesen Rubikon so manches Großen in unserer Theatergeschichte, hat Matkowsky <?page no="314"?> Berliner Theater (1907) 314 siegreich wie Cäsar bewerkstelligt. Sein Macbeth und Götz waren nicht Grenz- 130 steine seines Talents, sondern Zukunftsweiser, die uns von seinem Wallenstein und König Lear Großes erwarten lassen. In manchen Rollen, beispielsweise als Hebbels Siegfried, Herodes und Candaules, hat Matkowsky in der in letzter Zeit stark in den Hintergrund getretenen Rosa Poppe eine ebenbürtige Partnerin gehabt. Von den männlichen Kräften des Schauspielhauses ist als gleichsam eine 135 Klasse für sich bildend neben Matkowsky an erster Stelle Arthur Vollmer, der vielseitige kluge diskrete Charakterkomiker, zu nennen, sodann als bewährte Sprecher und Charakteristiker Max Pohl und Arthur Kraußneck. In Waldemar Staegemann reift ein vielversprechender jugendlicher Heldendarsteller heran. Von den weiblichen Mitgliedern ist neben Anna Schramm, der durch die humor- 140 volle Kraft ihrer gutmütigen Komik noch immer bezwingenden junggebliebenen Alten, die jetzt endgültig im Mütterfach tätige Nuscha Butze die stärkste Individualität. Unzweifelhaft würden auch manche andere Mitglieder mit ihren Leistungen sich stärker unserem Gedächtnis einprägen, wenn die Kunst des Regisseurs die klassischen Vorstellungen auf einen einheitlicheren Ton abzustimmen 145 wüßte, und wenn sie Gelegenheit erhielten, ihr Können auch an würdigen Aufgaben des modernen Repertoires zu erproben. Damit sind wir zu dem wundesten Punkt in dem künstlerischen Betriebe des königlichen Schauspielhauses gekommen. Was in den letzten Jahren von Werken zeitgenössischer Autoren auf die Bretter der Hofbühne gelangt ist, gehörte fast ausnahmslos der seichtesten Gattung der 150 Verslustspiele und Kostümstücke, der Sensationsmache à la Philippi oder der veralteten unwahren, hohlen und dabei äußerlich bombastischen Epigonendramatik an. Die Namen Ibsen und Hauptmann sind im Schauspielhause verpönt, seitdem der vor 14 Jahren unternommene kecke Versuch, der „Frau vom Meere“ und „Hannele“ am Gensdarmenmarkt das Bürgerrecht zu erwerben, in höfischen 155 Kreisen unzweideutige Zurückweisung erfahren hat. Die Abneigung des Kaisers gegen die vermeintlich extreme moderne Kunst hat zur Begründung dieser krassen Einseitigkeit des Repertoires herhalten müssen. Leider hat sich in der nächsten Umgebung des Monarchen niemand gefunden, der die Appellation „de rege male informato ad regem melius informandum“ gewagt hätte. Wilhelm II. hat 160 über die moderne Richtung im Drama ein Verdikt gefällt, ohne diese Werke jemals auf der Bühne kennen gelernt zu haben, und daß er durch systematisch betriebene Lektüre wenigstens der Hauptwerke sich mit den Dramen Ibsens und seiner Nachfolger vertraut gemacht hat, darf man bei der Vielseitigkeit der Aufgaben und Interessen des Monarchen, und da irgendwelche darauf hindeutende 165 Äußerungen nie bekannt geworden sind, billig bezweifeln. Der Kaiser ist, wie sein Interesse für die Wiesbadener Maifestspiele, sein Besuch des Russengastspiels und leider neuerdings auch des dramatisierten Hintertreppenromans „Sherlock Holmes“ in Ferdinand Bonns Berliner Theater beweist, Theatereindrücken sehr zugänglich. Würde er die moderne Produktion in ihren Achtung 170 gebietenden Vertretern nur erst auf der Bühne kennen lernen und sich durch eigenen Augenschein überzeugen, daß sie weder staatsnoch sittengefährlich ist, so würden vermutlich sowohl Ibsen wie den Dichtern der Neuromantik die ängstlich behüteten Pforten der Hofbühne sich erschließen. <?page no="315"?> Heinrich Stümcke 315 Die Aufführung von Richard Strauß’ Musikdrama „Salome“ darf vielleicht als 175 günstiges Zeichen und erster Schritt auf neuem Wege gelten. Daß der Text, dessen Wiedergabe in einem Privattheater vor nicht allzu langer Zeit nur mit Not und Mühe von der Zensur vor geladenen Gästen gestattet wurde, jetzt in der Vertonung Straußens, die den Gesamteindruck und die krassen Einzelheiten der Vorgänge wahrhaftig nicht mildert und vertuscht, auf der Hofbühne erklingen 180 darf, ist hoffentlich nicht bloß Erwägungen rein äußerlicher Natur, Rücksichten auf die Kasse und auf den berühmten, schwer zu ersetzenden Kapellmeister und Autor zuzuschreiben. Im allgemeinen zeichnet sich auch das Repertoire des Opernhauses nicht durch eine Fülle von Novitäten aus. Sein Schwerpunkt liegt vielmehr schon seit Jahren in den Wagnervorstellungen, die namentlich seitens 185 der in Berlin weilenden Engländer, Amerikaner und Franzosen mit so leidenschaftlicher Teilnahme besucht werden, daß ausverkaufte Vorstellungen des „Tristan“, „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ nicht zu den Ausnahmen gehören. Die Zahl der mit dem Bayreuther Stil aufs innigste vertrauten Sänger und Sängerinnen, die sich mit Recht als Interpreten der Wagnerschen Tondramen 190 zum Teil eines internationalen Rufes erfreuen, ist denn auch eine sehr stattliche. Die drei ersten Kapellmeister Strauß, Muck und Weingartner sind gleichfalls als „Bayreuther Dirigenten“ männiglich bekannt. In der stilgerechten Pflege der Mozart-Opern kann das Berliner Opernhaus dagegen den Vergleich mit der Wiener Hofoper nicht aushalten, und was Entdeckerfreude und Wagemut bei der Einfüh- 195 rung neuer Leute und Werke anlangt, so haben ihm nicht nur Dresden, sondern auch Privatbühnen wie die von Köln und Elberfeld den Rang abgelaufen. Seinen Ruf als die bedeutendste Privatbühne Berlins, ja des Reiches hat sich das Deutsche Theater in der Schumannstraße länger als 20 Jahre hindurch bewahrt. Unter seinem Begründer Adolf L’Arronge die erste scharfe und zeitgemäße Kon- 200 kurrenz der Hofbühne, war es während der zehnjährigen Leitung Otto Brahms die Hochburg des naturalistischen Dramas, das spezifische Hauptmann- und Ibsen-Theater und die Heimstätte der oft zu absoluter Vollkommenheit ausgeglichenen modernen Ensemblekunst. Nach einem kurzen nicht eben rühmlichen Interregnum Paul Lindaus zog im Oktober 1905 mit Max Reinhardt eine der inte- 205 ressantesten und vielversprechendsten Persönlichkeiten unter den gegenwärtigen Bühnenleitern ein. Mit ihm beginnt ein neues und merkwürdiges Kapitel in der Berliner Theatergeschichte, das noch lange nicht zum Abschluß gediehen ist. Aus einem viel verwendbaren, durch scharfe Eigenart hervortretenden Mitgliede des Brahmschen Ensembles wurde auf dem Umwege über das Brettl, auf dem des 210 trockenen Tones satte junge Mimen beiderlei Geschlechts erst ganz unter sich, dann vor dem zahlungsfähigsten und verwöhntesten Berlin von Mitternacht bis zu später Morgenstunde parodistische und symbolistische Scherze und im Grunde oft sehr ernsthafte satirische Possen trieben, der erfolgreiche Bahnbrecher einer neuen szenischen Kunst und der meistgenannte und tatenreichste Bühnen- 215 leiter der Reichshauptstadt. Im Bunde mit gleichstrebenden jungen Darstellern, Regisseuren, Malern, Schriftstellern und Musikern hat Reinhardt wieder einmal die Wahrheit des Wortes bestätigt, daß der Jugend die Zukunft gehört. Er hat die Sehnsucht nach einer neuen Romantik, die sich von dem naturalistischen Milieu- <?page no="316"?> Berliner Theater (1907) 316 stück nicht befriedigt fühlte, die Sehnsucht nach einer Reform der Schaubühne 220 durch das Prinzip der höchstgesteigerten Illusion, durch den vollkommenen Einklang von Farbe, Wort und Geberde unter Zuhilfenahme der Schwesterkünste empfunden und zu erfüllen versucht, und zugleich der Lust am vielseitigen Experiment, am kecken szenischen Wagnis, willig und erfindungsreich gedient. Natürlich hat auch er empfinden müssen, daß hart im Raume sich die Sachen 225 stoßen, daß der aus dem Vollen schöpfenden Phantasie und Schaffenslust Grenzen durch den unerbittlichen und untrüglichen Ausweis des Kassierers gezogen sind, und er hat, um seinem Unternehmen die Dauer zu sichern, sich auf manche Konzession und Beschränkung seiner hochfliegenden Pläne einlassen müssen. Auch wer mit vielen Einzelheiten von Reinhardts Tun nicht einverstanden ist, 230 wird zugestehen müssen, daß er sich das große Verdienst erworben hat, die tief eingewurzelte irrige Auffassung von der Undankbarkeit und Aussichtslosigkeit der Aufführung klassischer Werke durch seine Vorstellungen des „Sommernachtstraums“, „Kabale und Liebe“, „Minna von Barnhelm“, „Der Kaufmann von Venedig“ und „Wintermärchen“ aufs schlagendste widerlegt zu haben. Daß in- 235 folge der ungeheuren Zahl der Wiederholungen die Aufführungen schließlich viel an Glanz und Frische verloren, daß zum Teil recht minderwertiges Darstellermaterial allmählich auch in erste Rollen einrückte, daß ein Zuviel an szenischem Aufwand, insbesondere an plastischen Dekorationen, sich stellenweise störend bemerkbar machte, kann und soll nicht geleugnet werden. Aber hundert 240 Wiederholungen eines Shakespeareschen oder Schillerschen Dramas sind immer noch besser als hundert Abende Kadelburg und Blumenthal. Da das Theater in unserer kapitalistischen Ära nun einmal keine Kulthandlung sein kann, sondern ein Geschäftsunternehmen, das nach Soll und Haben geregelt wird, ist, so muß man die geschäftliche Fruktifizierung solcher mit ungeheuren Kosten in Szene 245 gesetzten Klassikeraufführungen, zu denen sich allabendlich neue schaulustige Scharen drängen, als etwas Unvermeidliches hinnehmen. Um so mehr als Direktor Reinhardt in allerjüngster Zeit durch die Schöpfung der sogenannten Kammerspiele in den völlig umgebauten Räumen eines ehemaligen Ballhauses selber für ein Korrektiv und ein Gegengewicht zu den endlosen Serien der erfolgreichen 250 Klassikerwerke gesorgt hat. Seine Lust am Experimentieren und an der Verfeinerung der darstellerischen Mittel hat jetzt wieder ein Feld zu ergiebiger Betätigung gefunden. Die erste Darbietung des intimen Theaters, das auf die denkbar höchste Konzentration der künstlerischen Stimmung und die ideale Einheit zwischen Bühne und Zuschauerraum hinarbeitet, bedeutete nicht nur einen Mark- 255 stein, sondern einen Schlußstein auf dem Gebiete der zur größten Vollendung gediehenen einheitlichen Darstellung der dramatischen Gesellschaftskritik Ibsens, und bei der Aufführung von Frank Wedekinds stürmisch-gärendem genialisch unreifem Erstlingsdrama „Frühlings Erwachen“ hatte man die Empfindung, daß dies Werk nur auf dieser Bühne und in dieser Darstellung, die den Ton der Wirk- 260 lichkeit wie den der andeutenden Symbolik zu treffen weiß, möglich ist. In Reinhardts Künstlertruppe ist das schwächere Geschlecht künstlerisch das stärkere. Dem Quartett Agnes Sorma, Gertrud Eysoldt, Lucie Höflich, Hedwig Wangel verdankt der Direktor in erster Linie seine Bühnensiege. Unter den männlichen <?page no="317"?> Heinrich Stümcke 317 Darstellern überwiegen die Utilités. Eine alles überragende Kraft fehlt bis heute 265 und läßt sich auch durch noch so selbstbewußtes, ja eigensinniges Herausstellen von Kräften zweiten und dritten Ranges in führenden Rollen nicht vortäuschen. Manchen schwer ersetzlichen Helfer wie Emanuel Reicher, Rosa Bertens, Richard Vallentin und Georg Engels hat Reinhardt wohl zu leichten Herzens ziehen lassen. 270 Direktor Brahm hat, als er von der Schumannstraße ins Lessingtheater zog, nur die Lokalität, nicht den Standpunkt gewechselt. Der genius loci der 1889 von Oscar Blumenthal erbauten und bis in die ersten Jahre dieses Säkulums von seinem Geist erfüllten Bühne hat auf Brahms Repertoire nicht abgefärbt. Denn die dem Geschmack des großen Publikums und dem Bedürfnis des Kassierers ge- 275 machte Konzession des Freundes Hauptmanns und Ibsens, auch das jeweilige jüngste Kind der Muse Sudermanns und Fuldas auf seinen Brettern aus der Taufe zu heben, hat Brahm schon im Deutschen Theater sich geleistet. Das Beispiel Brahms beweist noch mehr als das Reinhardts, daß ein Theater mit ausgesprochen künstlerischen Tendenzen doch zugleich Geschäftstheater sein, d.h. auch in 280 finanzieller Hinsicht sich wohl befinden kann. Nicht daß Brahm es verstanden hätte, als einziger unter den Berliner Direktoren alle wahrhaften Kunstfreude und Kunstverständigen in seinem Zuschauerraum zu vereinigen. Die gewohnheitsmäßigen bloßen Mitläufer, die Snobs beiderlei Geschlechts, die überall dabei gewesen sein müssen, bilden auch unter seinen Premieren- und Stammgästen die 285 Maiorität und gehen mit demselben oder größerem Vergnügen, mit dem sie heute die Neueinstudierung von „Rosmersholm“ oder „Hedda Gabler“ mit ihrer Gegenwart beehrten, morgen zur neuesten Ausstattungsrevue ins Metropol und übermorgen zur Erstaufführung der neuen Pantomime in den Zirkus Busch. Aber mancher Eindruck bleibt doch kleben und haften, mancher Zuschauer wird doch 290 nachdenklich und erlebt in seiner Anschauung von Kunstdingen schließlich seinen Tag von Damaskus, und auf jeden Fall sichert der Mode gewordene Besuch der Novitäten und Neueinstudierungen des Lessingtheaters dem Direktor die Möglichkeit, der kleinen Gemeinde der wirklichen Kunstverständigen durch das beste Schauspiel-Ensemble, das augenblicklich an einer deutschen Bühne verei- 295 nigt ist, die dichterischen Offenbarungen zu vermitteln. Nächst den königlichen Bühnen hat das Lessingtheater den höchsten Gagenetat und die Opfer werden wahrlich nicht zwecklos dargebracht. Bassermann, Rittner, Oscar Sauer, Emanuel Reicher, Else Lehmann und Irene Triesch werden, wo man die besten Namen der modernen Schauspielkunst nennt, mit Recht stets an erster Stelle genannt. Mit 300 ihrer Hilfe hat Brahm nicht nur den endgültigen Theatersieg der Ibsenschen Dramen durchgesetzt, sondern auch manche Niederlage, die an anderer Stelle dem Werke eines seiner Schützlinge unfehlbar beschieden gewesen wäre, in einen wenigstens äußerlichen Achtungserfolg gewandelt. Auf dem Gebiete der modernen Wirklichkeitsdichtung holen diese Künstler die letzten Feinheiten her- 305 aus, bringen sie die zarteste Nuance, die unter der Schwelle des Bewußtseins schlummernden Gefühle zum Ausdruck. Vor die Aufgaben des großen Stildramas, Klassiker oder Neuromantiker, wurden sie allerdings selten oder nie gestellt. Nur wie um einer lästigen Pflicht zu genügen, entschloß sich Brahm im <?page no="318"?> Berliner Theater (1907) 318 Schillermonat 1905 kurz vor der Abreise zum Wiener Gastspiel zu ein paar Auf- 310 führungen des Demetrius-Torsos. Die Aufführung hätte in Spiel und Inszenierung der reichsten Hofbühne Ehre gemacht, man hatte den Eindruck, der Direktor wolle zeigen: Seht, wir können auch hier an der Spitze marschieren, aber wir wollen nicht! Und in der Tat, das Hauptcharakteristikum Brahms ist die Zähigkeit, mit der er an seinen alten Lieblingen und seinem alten Programm hängt. Am 315 ehesten macht er noch eine Konzession in der Ausstattung seiner Novitäten. Der Vorgang Max Reinhardts ist auch für das Lessingtheater bahnbrechend geworden. Auch hier tauchte die plastische Dekoration, die impressionistische und stilisierte Malerei der reformlustigen jüngsten Schule auf. In der Inszenierung des jüngsten und stärksten Mißerfolges der Lessingbühne, Herbert Eulenburgs Märchenko- 320 mödie „Ritter Blaubart“, war die Konkurrenz nach dieser Richtung hin fast überboten. Aber der Ausgang des Abends, der mit einem Theaterskandal in optima forma endete, war nicht danach angetan, dem Direktor zu neuen Versuchen und Opfern Lust zu machen. 325 In seiner neuesten Kritikensammlung „Glossen“ wies Hermann Bahr, der eine Weile in engste Beziehungen zu den Bühnen Max Reinhardts als Dichter, Dramaturg und Regisseur getreten war, nach, daß die Vorherrschaft des Deutschen und Lessingtheaters und die von beiden geübte Beschränkung, die bloßen Stückelieferanten und Bühnenhandwerker, die auf die sogenannten Geschäftstheater 330 angewiesen seien, in ihren Aussichten und Erfolgen auf Berliner Boden erheblich beschränkt habe. In der Tat blieben wir in der vorletzten Spielzeit von der Aufführung einer ganzen Reihe zwar äußerlich erfolgreicher, aber in künstlerischer Hinsicht minderwertiger oder gänzlich wertloser Produkte, die die Provinzbühnen in rascher Folge sich eroberten, verschont. Indessen ist dem wirklichen oder 335 vermeintlichen tiefgefühlten Bedürfnis weiterer Kreise in der Spielzeit 1906/ 07 durch zwei Neugründungen wieder abgeholfen worden. Im vornehmsten Westen, wo Berlin, Schöneberg und Charlottenburg sich schwesterlich die steinernen Arme reichen, erhebt sich der mit amerikanischer Schnelligkeit emporgediehene monumentale Bau des Neuen Schauspielhauses, das von dem früheren Mitdirektor 340 des Berliner Theaters, Alfred Halm, geleitet wird. Und in das auf eine recht wechselvolle Vergangenheit zurückblickende, als Schmuckkästchen unter den Berliner Musentempeln viel gefeierte Neue Theater, in dem sich einst Nuscha Butze als moderne Neuberin versuchte und Max Reinhardt zuerst die Flügel zu höherem Fluge regte, ist mit Alfred Schmieden ein neuer Herr eingezogen. Er sowohl wie 345 Alfred Halm verzichten nicht auf ein literarisches Programm und wollen beileibe nicht als Leiter bloßer Geschäftstheater gelten. Aber sie müssen wohl oder übel ihre Pforten einer Reihe von Autoren und Stücken öffnen, die bei Brahm und Reinhardt keine Gegenliebe gefunden haben, denn die Zahl der literarisch wertvollen Produkte hat mit der Vermehrung der Musentempel leider nicht Schritt 350 gehalten. Da auch die altakkreditierten Schauspielkräfte ersten Ranges in festen Händen sind oder nur gegen unerschwingliche Gagen fortzulocken wären, so beschränkt sich die Konkurrenz der neuen Männer im wesentlichen auf das Gebiet der Ausstattung und die Ausbildung ihrer Leute zu einem wohlgeschulten <?page no="319"?> Heinrich Stümcke 319 Ensemble. Ein glücklicher Zufall, die Entdeckung eines homo novus, der sich als 355 dramatischer Messias entpuppt, oder eines von der Konkurrenz vorschnell zurückgewiesenen Werkes, das sich als dichterische Großtat erweist, kann die Konstellation natürlich ändern und das Neue Theater oder das Neue Schauspielhaus zu einer ebenbürtigen Rivalin der Musentempel Brahms und Reinhardts machen. Als solche will das Kleine Theater, der ehemals Schall und Rauch getaufte Saal 360 Unter den Linden, auch unter Reinhardts Nachfolger Victor Barnowsky gelten. In dem grotesk stilisierten Raume haben wir Gorkis „Nachtasyl“, Wildes „Salome“, Hofmannsthals „Electra“ und Wedekinds „Erdgeist“ zum erstenmal auf der Bühne kennen gelernt und starke, ja unvergeßliche Eindrücke empfangen. Das Kleine Theater hat sein besonderes Cachet; nur für stärkste Nervenreize empfindli- 365 che blasierte Zuschauer würden es am liebsten zu einer Heim- und Pflegestätte alles Dekadenten, Morbiden und Hysterischen, von allem, was müden und kranken Sinnen schmeichelt und erschlaffte Nerven aufpeitscht, gemacht wissen. Beseht die Gönner in der Nähe! möchte man dem neuen Direktor zurufen, der sich bislang als Verehrer der Hauspatrone Wilde und Gorki bekannt und des Englän- 370 ders schwächlicher Gesellschaftskomödie vom „Idealen Gatten“ zu endlosen Wiederholungen verholfen und zwischendurch bei der Verlebendigung des neuesten dramatischen Wechselbalgs des russischen Agitators eine ehrenvolle Niederlage erlitten hat. Wedekind, Hofmannsthal und Bahr sind mit Reinhardt von den Linden in die Schumannstraße gezogen. Direktor Barnowsky hat es nicht 375 leicht, neue Namen, die wie diese für das Kleine Theater ein Programm bedeuteten, unter den dichtenden Zeitgenossen aufzufinden. Der Literatur, der er einst auf Vorstadt- und Sonderbühnen in ihren gewagtesten und modernsten Vertretern gern zum Rampenlicht verhalf, abgeschworen und mit Haut und Haaren der Lachlust und dem Kassenerfolg sich verschrieben 380 hat Martin Zickel, der Direktor des neuen eleganten Lustspielhauses in der Hauptverkehrsstraße Berlins, in finanzieller Hinsicht nicht zu seinem Schaden, wie die endlosen Serien der Kadelburgschen Produkte „Familientag“, „Weg zur Hölle“, „Husarenfieber“ und die schon im voraus auf 8 bis 14 Tage ausverkauften Häuser beweisen. Die Darstellung dieser harmlos witzigen Nichtigkeiten läßt im Lust- 385 spielhaus nichts zu wünschen übrig. Bewährte Bonvivants wie Hermann Schönfeld und Albert Paul und rassige Vertreterinnen lustiger Backfische und eleganter Modedamen wie Marie Wendt und Tilli Waldegg spielen hier die Hauptrolle. - Mit der Erwähnung des Lustspielhauses sind wir schon zu den Stätten des bloßen Amüsements gekommen, die kaum noch den Ehrgeiz haben, eine literarische 390 Maske vorzutäuschen. Am ältesten und berühmtesten von ihnen ist das im Osten Berlins gelegene Residenztheater, das freilich auch manchen starken literarischen Erfolg und manche dichterische Großtat in seinen Mauern gesehen hat. Ist doch Henrik Ibsen den Berlinern mit den reifen Schöpfungen seines Mannesalters zuerst an dieser Stätte bekannt geworden und hat doch Max Halbes „Jugend“ von 395 der Bühne des Residenztheaters aus ihren Siegeszug angetreten. Siegmund Lautenburg, unter dessen langjährigen Leitung die Bühne in der Blumenstraße ihre Blütezeit erlebte, hatte zeitweilig literarische Anwandlungen und Ambitionen. Sein Nachfolger Richard Alexander, seit Jahren die festeste Säule des Hauses und <?page no="320"?> Berliner Theater (1907) 320 nach dem Tode von Helmerding und Emil Thomas der populärste Komiker Ber- 400 lins, vermeidet dagegen jeden Schritt vom Wege, d.h. nicht der Moral, die in Pariser Schwänken bekanntlich niemals triumphiert, sondern des traditionellen Hausprogramms. Besaß doch das Residenztheater lange Zeit als einzige unter den Bühnen der Reichshauptstadt den polizeilich abgestempelten Freibrief, auf seinen Brettern vor mehr oder minder keuschen Ohren alles das sagen zu dürfen, was 405 keusche Herzen nicht entbehren können. Die Zahl seiner Schwankerfolge hat dazu beigetragen, den meist in Kompagnie dichtenden Herren am Seinestrande einen hübschen Teil von den anno 1871 an Deutschland gezahlten Milliarden in Form fetter Pauschalsummen und Tantiemen zurückzuerstatten. Ausstattung und Spiel haben im Residenztheater niemals zu wünschen übrig gelassen, nament- 410 lich beherrscht die Truppe jenes unbändige Allegrissimo-Tempo, das diese gallischen Possen mit ihren Unwahrscheinlichkeiten und Gewagtheiten allein genießbar macht, stets meisterlich. Die jeunesse dorée und die Lebegreise sind in der Blumenstraße mit und ohne Operngläser noch stets auf ihre Kosten gekommen, da der Reigen der auf diesen Brettern heimischen Weiblichkeit von Mutter Natur 415 nicht stiefmütterlich bedacht ist und die Anführerinnen in der Regel nicht nur schön und elegant, sondern auch, wenigstens auf ihrem Spezialgebiete, talentvolle Schauspielerinnen sind. Ein Gegenstück und zugleich eine Ergänzung hat das Residenztheater vor einigen Jahren in dem unter einem Stadtbahnbogen untergebrachten gemütlichen Trianon-Theater erhalten, das für die Pflege des modernen 420 französischen Lustspiels und Konversationsstückes durch die Intimität seines Raumes wie geschaffen ist und dank dem vortrefflich abgetönten Zusammenspiel und geschmackvoller Inszenierung auf eine lange Reihe hübscher Erfolge zurückblicken darf. Leider ist die Ausbeute an wirklich guten und witzigen Lustspielen auf dem Pariser Markte nicht größer als bei uns und so hat denn mehr als 425 einmal der unverfälschte zotengespickte Schwank und die derbe Posse ihre graziösere Schwester auch im Trianon-Theater auf Wochen und Monate ablösen müssen. Ausgeschieden aus der Reihe der ernst zu nehmenden Theater und sogar aus der vom Standpunkte des bloßen Amüsements erfreulich wirkenden ist das auf 430 eine zum Teil nicht unrühmliche Vergangenheit zurückblickende und einst mit großen Hoffnungen begrüßte Berliner Theater, das unter der Leitung seines Begründers Ludwig Barnay sowohl der Gunst des Kaisers wie des besonderen Interesses des wohlhabenden Mittelstandes sich erfreute und unter Paul Lindau, als Max Reinhardt seine Reformpläne noch im Busen bergen mußte, eine Spezialität 435 aus literarisch interessanten Sondervorstellungen und „Ausgrabungen“ machte. Björnsons „Kraft“-Tragödie, Grillparzers „Libussa“ haben wir damals an dieser Stätte zuerst kennen gelernt. Dann folgten Jahre des offenen und versteckten Siechtums, endlich zog mit Ferdinand Bonn ein neuer Herr mit Pauken und Trompeten, mit großen Worten und Versprechungen ein. Als Schauspieler viel- 440 seitig, hochbegabt und anregend, ist Bonn als Direktor geradezu das Muster eines Bühnenleiters, wie er nicht sein soll. Seine Willkürherrschaft und seine lächerlichen Ukase, seine kaum minder komischen eigenen dichterischen Versuche, die Zähigkeit, mit der er seine niemals von den Musen auf die Stirn geküßte Gattin <?page no="321"?> Heinrich Stümcke 321 als Primadonna dem Publikum und der Presse aufzudrängen versucht, und seine 445 Neigung für amerikanische Reklame, dazu ein selbst für Berlin beispielloses monatelanges Ableiern seiner aus Connan Doyles Detektivbüchern zusammengeschusterten Schauerdramen, haben ihm das Interesse aller literarisch empfindenden Kreise entfremdet, was auch in der völligen Nichtbeachtung der Aufführungen des Berliner Theaters seitens der tonangebenden Presse zum Aus- 450 druck gelangt. Die Mission, die das Berliner Theater nach der Absicht seines Begründers erfüllen sollte und früher auch wenigstens teilweise erfüllt hat, ist dem Schillertheater, das jetzt seine dritte Heimstätte im Charlottenburger Westen eröffnet hat, zugefallen. Aus bescheidenen Anfängen heraus, von der Gunst weitester Bevöl- 455 kerungskreise getragen und von verständigen Beratern gefördert, hat die auf den Namen unseres Nationaldichters getaufte populäre Bühne unter der zielbewußten Leitung ihres Begründers Raphael Löwenfeld geräuschlos, aber sicher ihren nicht mehr wegzuleugnenden Platz im Berliner Theater- und Kunstleben sich errungen und gesichert. Wenn eine Theatergründung einem Bedürfnis entsprach, 460 so war es die des Schillertheaters, dessen beste Plätze, namentlich zu den spottwohlfeilen Abonnementspreisen, auch dem unbemittelten kindergesegneten Beamten, Lehrer, Kaufmann und Gewerbetreibenden zugänglich sind, während die sprunghafte Steigerung der Billettpreise in den Kunsttheatern - in den Kammerspielen ist, wenigstens an den Premierenabenden, für die vorderen Sitzreihen der 465 Bayreuther 20 Mark-Preis eingeführt - nur wohlgespickten Börsen, sofern es sich um regelmäßige Teilnahme an den Aufführungen handeln soll, den Besuch gestattet. Dabei lautet die Devise des Leiters der Schillerbühne nicht etwa: billig und schlecht, sondern die Vorstellungen werden mit anerkennenswerter Sorgfalt herausgebracht, die Inszenierung kann, was Opulenz und Stiltreue der Dekorati- 470 onen, Kostüme und Requisiten anlangt, den Vergleich mit den besten deutschen Stadttheatern wagen und unter dem darstellenden Personal fanden und finden sich stets einige Kräfte, deren Namen guten Klang in der Berliner Theaterwelt haben. Naturgemäß kann das Schillertheater bei seinen billigen Preisen in punkto Gagenzahlung mit den großen hauptstädtischen Bühnen nicht den Wettbewerb 475 aufnehmen, obgleich auch sein Etat im Laufe der Jahre bedeutend gestiegen und beispielsweise von ihm die Forderung, auch dem weiblichen Personal wenigstens die historischen Kostüme zu liefern, schon von jeher erfüllt worden ist. So betrachten begabte und beliebte Kräfte ihre Tätigkeit an der Schillerbühne nur als eine Art von Durchgangsstation, und man könnte eine stattliche Liste von Mit- 480 gliedern aufstellen, die von dort aus zum Wiener Burgtheater und an andere Hofbühnen oder große Stadt- und Privattheater gelangt sind. Die Gründung eines neuen modern eingerichteten Musentempels an der Grenze von Charlottenburg und Westend im Zuge der neuen größten Prachtstraße Berlins bedeutete für die Schillertheater-Gesellschaft kein Wagnis. Schon vor Eröffnung des neuen Hauses 485 war das Abonnement zum Teil überzeichnet, gedenken doch in dem nach Bayreuther Muster eingerichteten stimmungsvollen Raume nicht nur der kleine Mann, sondern auch hohe Beamte mit Kind und Kegel ihr Bedürfnis nach Theatergenüssen zu befriedigen. Und dem Bedürfnis nach Abwechslung und vielseiti- <?page no="322"?> Berliner Theater (1907) 322 ger Kost genügt das Schillertheater von allen Berliner Bühnen am meisten, indem 490 es das einzige war und ist, das im Laube’schen Sinne ein Repertoire hat und infolge seines Abonnementssystems, selbst wenn die leitenden Männer es wollten, keine Serienspielerei pflegen kann. Von den übrigen, den Zuschnitt des Volkstheaters tragenden Bühnen im Norden, Süden und Osten kann sich keine der Leistungen und des fröhlichen Gedeihens des Schillertheaters rühmen, obgleich bei- 495 spielsweise manche Leiter des Luisentheaters und des Bellealliance-Theaters es an Eifer und Opferwilligkeit nicht haben fehlen lassen. Das älteste von ihnen, das Ostend-Theater, ist immer wieder zur Aufführung amerikanischer Schauerstücke und dramatisierter Zeitungsromane, als der von seinen Stammgästen am liebsten genossenen grobkörnigen Kost, zurückgekehrt. 500 Eine zweite ständige Oper erhielt Berlin erst Mitte der 90er Jahre in dem Prachtbau des Theaters des Westens in der Charlottenburger Kantstraße. Die Schwierigkeiten, die für eine Privatoper gerade in Berlin bestehen, sind nicht zu unterschätzen, denn die Wagner’schen Musikdramen und eine Reihe anderer der bedeutsamsten Produkte zeitgenössischer Komponisten sind noch für eine Reihe 505 von Jahren Monopol der Hofbühne, mit deren Stars, Orchester und Kapellmeistern in Wettbewerb zu treten, einem Privatunternehmen naturgemäß geradezu unmöglich fällt. Die Ära Prasch, während welcher unter häufiger Zuhilfenahme berühmter auswärtiger Gäste die klassische und Spieloper deutscher, italienischer und französischer Komponisten sowie die Operette gepflegt wurde und auch 510 einige Ur- und Erstaufführungen gewagt wurden, hat mit dem völligen finanziellen Zusammenbruch des Direktors geendet, und sein kapitalkräftigerer Nachfolger hielt es für vorteilhafter, auf Beweise künstlerischen Ehrgeizes zu verzichten. Unter einem freundlicheren Stern hat bislang die [K]omische Oper gestanden, die Direktor Hans Gregor, der langjährige erfolgreiche Leiter der Elberfelder 515 Bühne, 1905 ins Leben gerufen hat. Die günstige Lage des Gebäudes im Zentrum des großstädtischen Verkehrs und die nicht nur pompöse, sondern auch stimmungsvolle Ausstattung der ersten Darbietung „Hoffmanns Erzählungen“ sowie zum Teil sehr beliebte oder rasch beliebt gewordene Sänger und Sängerinnen sicherten dem neuen Unternehmen von vornherein Anziehungskraft und Teil- 520 nahme des heimischen und Fremdenpublikums. In jüngster Zeit hat Direktor Gregor durch seine naturgetreue realistische Carmeninszenierung viel von sich reden gemacht. Wenn es mit der komischen Oper allein nicht geht, so dürfte die Operette die Retterin in der Not werden, denn ihre jetzige Hauptpflegestädte im alten Zentraltheater kann keine übermäßige Anziehungskraft ausüben, namentlich 525 wenn Mia Werber, die berühmteste aller Geishas, nicht auf den Brettern steht. - Ein Jahr vor Eröffnung der Komischen Oper hatte man den Norden Berlins unter dem Titel Nationaltheater mit einer neuen Musikbühne zu beglücken versucht. Sie war nie lebenskräftig und fristet als Variétébühne zweiten Ranges unter dem Namen Walhalla-Theater jetzt ein wenig beachtetes Dasein. 530 Auch der im letzten Winter unternommene Versuch, im alten Bellealliance-Theater im Süden Berlins eine Lortzingoper zu etablieren, kann nicht als gelungen bezeichnet werden, denn der Begründer und erste Direktor mußte bald einem Nachfolger Platz machen, nachdem er durch zahlreiche Kündigungen und Ga- <?page no="323"?> Heinrich Stümcke 323 genkürzungen in den Zeitungen und in der Tagung des Schauspielerparlaments 535 unliebsam von sich hatte reden machen. Die Notwendigkeit, neben den Solisten Orchester und Chor zu verpflichten, deren die Schauspielbühnen in der Regel entraten können, vermehrt die Existenzschwierigkeiten der Privatopern von vornherein in bedenklichem Maße, ganz abgesehen davon, daß wirklich tüchtige Sänger und Sängerinnen noch weit ge- 540 suchter, schwerer zu finden und teurer sind, als gute Schauspielkräfte. In wolkenloser Bläue lacht dagegen namentlich in den letzten Jahren der Himmel den Leitern des Thalia- und Metropol-Theaters, die heute als die populärsten Ausstattungsbühnen Deutschlands bezeichnet werden dürfen. Dem Metropol-Theater, das in den ersten Jahren nach seiner Begründung als Operettenbühne und Variété 545 zwischen Leben und Sterben schwankte, fließt jetzt ein unversieglicher Goldstrom in die Kasse, seitdem Direktor Richard Schultz nach Pariser Muster die aktuelle satirisch parodistische Jahresrevue als Spezialität pflegt und in der Regel mit einem Werke das Repertoire des ganzen Jahres bestreitet. Julius Freund und Victor Holländer sind seine Hausdichter und Hauskomponisten, die nach be- 550 währtem Muster mit ihren Versen und Melodien die Lachmuskeln anregen und den Ohren schmeicheln, indes der Direktor durch mehr oder minder gefällig entkleidete Frauenschönheiten und die oft groteske Pracht der szenischen Bilder und Ballettaufzüge insbesondere das internationale Fremdenpublikum in den Zuschauerraum zu locken weiß. Die Spitzen des Personals im Metropol-Theater 555 zählen zu den höchstbezahlten Kräften der Residenz und erfreuen sich in weiten Volkskreisen einer Popularität, die viele Kollegen vom ernsteren Genre mit Neid erfüllen könnte. Der leichtgeschürzten Muse und den oft nahezu an Blödsinn streifenden Kundgebungen ausgelassenen Humors ist mit gleichem Erfolge das Thalia-Theater, das ehemalige Adolf Ernst-Theater, gewidmet, das gleichfalls über 560 seine populären Stars verfügt und mit Trikotbeinen und gewagten Dekollettierungen, Lichteffekten, Rührszenen im Berliner Volksjargon, Massenaufzügen und Zirkusspäßen auf die gedankenlose Lebewelt ebensoviel Anziehungskraft ausübt wie vom Standpunkte des ernsten Kunst- und Volksfreundes betrachtet schädlich und geschmackverderbend wirkt. Spezialitäten Berlins, die die Anlegung eines 565 literarischen Maßstabes beileibe nicht vertragen, aber namentlich seitens des Fremdenpublikums mehr Beachtung finden als viele ernsthaft strebende Bühnen, sind auch das deutsch-ungarische Theater der Gebrüder Herrnfeld, das auch in dem neu errichteten Prachtbau ausschließlich satirische Bilder aus dem jüdischen Familienleben vorführen will, und das (in allerjüngster Zeit verkrachte) Deutsch- 570 amerikanische Theater , das in dem einst von Baron Wolzogen erbauten Bunten Theater im Südosten das Leben jenseits des großen Teichs in meist mehr bunten als klaren Bildern possenhaft abzuschildern versuchte. Endlich sorgt eine große Anzahl kleiner, die Besitzer und Leiter oft wechselnder Saal- und Gartentheater in anspruchslosester Weise für die Unterhaltung der Nachbarschaft in den betref- 575 fenden Stadtvierteln, wobei auch während der Vorstellungen an Bier und Stullen Während diese Zeilen in Druck gehen, hat das Bunte Theater als Theater an der Spree seine Pforten wieder aufgetan. <?page no="324"?> Berliner Theater (1907) 324 Erkleckliches konsumiert wird. Diese zum Teil noch mit den alten Mängeln der Schmieren und Wanderbühnen behafteten Absteigequartiere Thalias eingerechnet, beläuft sich die Gesamtzahl der Berliner Theaterunternehmungen augenblicklich auf 44! Wie man sieht, gehört eine gute Portion Zeit, Genußfreudigkeit 580 und Ausdauer dazu, durch das Bühnenprogramm der Reichshauptstadt sich durchzuarbeiten und mancher Fremde, der nur auf kurze Zeit nach Berlin kommt, mag sich wie der Däumling in der Fabel vor dem Pfannkuchenberg vorkommen. Und alle diese Bühnen rechnen allabendlich auf schaulustige, zahlungsfähige Gäste, müssen mit wenigstens einem Drittel verkaufter Plätze allabendlich 585 rechnen, wenn das in siebenstelligen Ziffern ausgedrückte Anlagekapital eine leidliche Verzinsung finden soll. Entspricht doch der Tagesetat der ersten Berliner Bühnen heute dem Verbrauch einer Hofbühne zur Göthe-Zeit während eines ganzen Monats! Andauernder Mißerfolg schädigt nicht nur den Direktor, sondern zieht auch zahlreiche Existenzen in Mitleidenschaft. So ist es begreiflich, daß 590 der Kasse machende Schlager, sei er nun das Produkt eines Modernen oder ein neueingekleideter alter Klassiker, als Gnadenbringer heiß ersehnt wird. Aber je mehr die Zahl der Bühnen in den letzten Jahren gewachsen ist, desto schwerer wird es infolge der sich zersplitternden Kräfte und der Zersplitterung des Interesses des Publikums, daß alle beteiligten Faktoren auf ihre Rechnung kommen. 595 Man hört noch immer von neuen Projekten, und doch muß der besonnene Beobachter und Kenner der Verhältnisse sich sagen, daß für eine Reihe von Jahren Stillstand geboten ist, da diese fieberhafte Unternehmungslust den Bedürfnissen vorauseilt und einer etwaigen allgemeinen wirtschaftlichen Krise schwerlich wird trotzen können. Was alles dazu gehört, um eine Bühne lebensfähig zu erhalten, 600 hat schon der alte Theaterpraktikus Göthe mit wünschenswerter Deutlichkeit verkündet, und seine Worte haben heute nicht weniger Geltung als damals: „Will ein Theater nicht bloß zu seinen Kosten kommen, sondern obendrein noch Geld erübrigen und Geld verdienen, so muß eben alles durchaus vortrefflich sein; es muß die beste Leitung an der Spitze haben, die Schauspieler müssen durchweg 605 zu den besten gehören und man muß fortwährend so gute Stücke geben, daß nie die Anziehungskraft ausgeht, welche dazu gehört, um jeden Abend ein volles Haus zu machen.“ <?page no="325"?> 7. Heinrich Stümcke: Berliner Theater (1907) Kommentar 20 Angelica Catalani (1780-1849), italienische Sängerin, Theaterleiterin; Leitung der Italienischen Oper in Paris; rege internationale Gastspieltätigkeit; 1827 Gastspiel in Berlin, gleichzeitig mit Henriette Sontag, Sabine Heinefetter und Nanette Schechner; im selben Jahr Rückzug von der Opernbühne. Henriette Sontag (1803/ 1806-1854), Sängerin; Hof- und Kammersängerin am Königstädtischen Theater in Berlin; rege internationale Gastspieltätigkeit; 1830 Rückzug von der Opernbühne. Nanette Schechner (1806-1860), Sängerin; ab 1825 Engagement an der Wiener Hofoper; rege internationale Gastspieltätigkeit; 1835 Rückzug von der Opernbühne. Sabine Heinefetter (1809-1872), Sängerin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Frankfurt/ M., Kassel; rege internationale Gastspieltätigkeit; 1852 Rückzug von der Opernbühne. 23 Christian Karl Josias von Bunsen (1791-1860), preußischer Botschafter; bekannt u.a. durch sein 1844-1857 verfasstes Werk „Ägyptens Stellung in der Weltgeschichte" (sechs Bände). 29 Geraldine Farrar (1882-1967), US-amerikanische Sängerin; 1901-1906 Engagement an der Berliner Hofoper; rege internationale Gastspieltätigkeit; sang 1906 an der Berliner Hofoper an der Seite von Enrico Caruso (1873- 1921). 122 Friedrich Mitterwurzer (1842/ 1844-1897), Schauspieler; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Meissen, Hamburg, Leipzig; 1871-1874 und 1875-1880 Engagement am Wiener Burgtheater; 1880-1892 Engagement am Stadttheater in Wien; 1894-1896 Rückkehr ans Wiener Burgtheater. 133 Candaules, Figur aus Friedrich Hebbels „Gyges und sein Ring“. 138 Arthur Kraußneck (1856-1941), Schauspieler; 1884-1889 Engagement am Deutschen Theater (Berlin); 1889-1894 Engagement am Berliner Theater; 1894 Rückkehr ans Deutsche Theater; 1897-1932 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin. 138/ 39 Waldemar Staegemann (1879-1958), Sänger, Schauspieler, Schauspiellehrer; 1902-1912 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; 1912-1936 Mitglied der Hofoper in Dresden. 140 Anna Schramm (1835-1916), Sängerin, Schauspielerin; 1861 Engagement am Wallnertheater Berlin; 1867-1870 Engagement am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin; danach rege Gastspieltätigkeit; 1888 erneutes Engagement am Wallnertheater Berlin. 151 Felix Philippi (1851-1921), Schriftsteller; Dramatiker; seit 1891 freie Schriftstellertätigkeit in Berlin. 155 am Gensdarmenmarkt, gemeint ist das Königliche Schauspielhaus, das am Gendarmenmarkt lag. 167 Wiesbadener Maifestspiele, 1896 gegründet vom damaligen Intendanten des Wiesbadener Hoftheaters, Georg von Hülsen-Haeseler (1858-1922), nach <?page no="326"?> 7. Stümcke: Berliner Theater (1907) 326 der Idee der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele und zu Ehren Kaiser Wilhelms II. 175 Richard Strauss (1864-1949), Komponist, Dirigent, Theaterleiter; Kapellmeister am Meininger Hof; 1886 Kapellmeister am Münchner Hoftheater; 1889 Großherzoglicher Kapellmeister in Weimar; ab 1898 Tätigkeit an der Berliner Hofoper Unter den Linden; eigene Kompositionen: „Salome“ (UA 1905), „Elektra“ (UA 1909); ab 1918 Leitung der Wiener Hofoper; Mitinitiator der Salzburger Festspiele. „Salome“ (1905), Oper von Richard Strauss; umstritten wegen ihrer für die Zeit recht freizügigen Sexualmoral. 192 Carl Muck (1859-1940), Dirigent; Kapellmeister an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Zürich, Salzburg, Prag; 1922-1933 Kapellmeister an der Staatsoper Hamburg; 1901-1930 Dirigent bei den Bayreuther Festspielen. Felix Weingartner (1863-1942), Dirigent, Komponist, Schriftsteller; Anstellungen in Mannheim, Berlin, München, 1876-96 unterschiedliche Tätigkeiten bei den Bayreuther Festspielen. 197 Elberfelder Bühne, 1806 Eröffnung des Theaters an der Hofaue, eines als AG gegründeten Stadttheaters im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld; ab 1835 Leitung durch Carl Leberecht Immermann (1776-1840); 1888-1893 Bau eines neuen Stadttheaters unter der Leitung Ernst Gettkes (1841-1912); Zusammenschluss der Bühnen in Elberfeld und Barmen; ab 1898-1905 Leitung durch Hans Gregor (1866-1945). 205 Max Reinhardt (eigentlich Maximilian Goldmann) (1873-1943), Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter; 1894-1902 Engagement am Deutschen Theater Berlin unter Otto Brahm (1856-1912); 1901 Gründung der Kabarettbühne Schall und Rauch; ab 1903 Leitung des Kleinen Theaters und des Neuen Theaters in Berlin; ab 1905 Leitung des Deutschen Theaters in Berlin; 1906 Eröffnung der Kammerspiele; ab 1919 Leitung des Großen Schauspielhauses in Berlin; Mitinitiator der Salzburger Festspiele; intensive internationale Gastspieltätigkeit, u.a. in New York und London; einer der Begründer des modernen Regietheaters. 210 Umwege über das Brettl, Anspielung auf Reinhardts Gründung der Kleinkunstbühne Schall und Rauch (1901). 248/ 49 Kammerspiele (Berlin), 1906 Eröffnung unter der Leitung von Max Reinhardt (1873-1943) in einem umgebauten Ballsaal im Nebengebäude des Deutschen Theaters; aufgrund der kleinen Größe des Theaterraums und der Bühne, der geringen Anzahl zur Verfügung stehender Sitze sowie des geringen Abstands zwischen Bühne und Zuschauern sollte eine private, geradezu intime Atmosphäre geschaffen werden. 263 Gertrud Eysoldt (1870-1955), Schauspielerin, Theaterleiterin, Schauspiellehrerin; ab 1890 Engagement an der Münchner Hofbühne; ab 1902 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; 1920-1922 Leitung des Kleinen Schauspielhauses in Berlin. Lucie Höflich (eigentlich Helene Lucie von Holwede) (1883-1956), Schauspielerin, Schauspiellehrerin; 1903-1932 Engagement am Deutschen Theater in Berlin (mit kurzen Unterbrechungen); 1933-1936 Leitung der Staatlichen Schauspielsschule in Berlin. <?page no="327"?> Kommentar 327 Hedwig Wangel (1875-1961), Schauspielerin; 1894-1903 Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Riga, Berlin, Hamburg; rege Gastspieltätigkeit, u.a. in England und den Niederlanden; ab 1903 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; 1909 Rückzug von der Bühne; ab 1924 Rückkehr an die Bühne. 268 Rosa Bertens (eigentlich Rosa Török) (1860-1934), Schauspielerin; seit 1879 Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Nürnberg, Köln, Sankt Petersburg; 1887 Engagement am Residenztheater in Berlin, 1894-1902 Engagements am Deutschen Theater, Residenztheater und Lessing-Theater in Berlin; ab 1902 erneutes Engagement am Deutschen Theater. 268/ 69 Richard Vallentin (1874-1908), Schauspieler, Regisseur; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in St. Gallen, Hanau. St. Elbing; 1896-1901 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1901 Mitglied des Lessing- Theaters in Berlin. 277 Ludwig Fulda (1862-1939), Schriftsteller, Dramatiker; 1889 Mitgründung und Leitung der Freien Bühne Berlin; Übersetzertätigkeit u.a. von Molière; Werke: „Der Talisman“ (1893), „Das verlorene Paradies“ (1899). 288 Metropoltheater (Berlin), 1898 Eröffnung als Revue- und Operettentheater; 1898-1919 Leitung durch Richard Schultz (1863-1928); Auftritte von bekannten Sängern und Sängerinnen, u.a. Richard Tauber (1891.1948), Fritzi Massary (1882-1969); bekannte Komponisten für das Programm: u.a. Paul Lincke (1866-1946), Victor Holländer (1866-1940). 298 Albert Bassermann (1867-1952), Schauspieler; 1887-1895 Engagement in Mannheim; 1891-1895 Engagement am Meininger Hoftheater; 1895-1900 Engagement am Berliner Theater; seit 1900 Mitglied des Deutschen Theaters in Berlin; 1904-1915 Engagement am Lessing-Theater in Berlin. 299 Irene Triesch (1877-1964) Schauspielerin; 1894 kurzes Engagement am Residenztheater Berlin; 1896 Mitglied des Deutschen Theaters in München; dort erlangt sie den Ruf als „deutsche Duse“; rege Gastspieltätigkeit; ab 1901 Engagement am Deutschen Theater in Berlin; ab 1905 Engagement am Lessing-Theater in Berlin. 320 Herbert Eulenburg (1876-1949) Dramaturg und Schriftsteller; Dramaturg am Berliner Theater; 1905-1909 Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus; danach freier Schriftsteller. 321 „Ritter Blaubart“ (UA 1906), Märchenstück von Herbert Eulenberg. 326 Hermann Bahr (1863-1934), Schriftsteller, Dramatiker, Theater- und Literaturkritiker; ab 1890 journalistische Tätigkeit als Literatur- und Kunstkritiker, u.a. bei der Zeitschrift „Freie Bühne“ in Berlin; 1894-1899 Kulturredakteur bei der Wiener Zeitschrift „Die Zeit“; 1906-1907 Regisseur bei Max Reinhardt (1873-1943) in Berlin; weitere Tätigkeiten als Dramaturg, u.a. am Wiener Burgtheater. 340 Neues Schauspielhaus (Berlin), 1905/ 06 Eröffnung unter der Leitung durch Alfred Halm (1861/ 63-1951); auch Theater am Nollendorfplatz genannt. 341 Alfred Halm (1861/ 63-1951), Schriftsteller, Schauspieler, Theaterleiter; Regisseur am Lobe-Theater in Breslau; 1899 Gründung des Breslauer Sommertheaters; 1906-1912 Leitung des Neuen Schauspielhauses/ Theaters am Nollendorfplatz. <?page no="328"?> 7. Stümcke: Berliner Theater (1907) 328 345 Alfred Schmieden (eigentlich Alfred Schmidtgen) (1874-1914), Schauspieler, Theaterleiter, Schriftsteller; Engagement am Meininger Hoftheater; Leiter des Neuen Theaters Berlin; ab 1914 Leiter des Schweriner Hoftheaters; Werke: „Mein erlauchter Ahnherr“ (1911), „Der Schlump-Schütze“ (1912). 355 homo novus, Emporkömmling. 360 Kleines Theater Unter den Linden (Berlin), 1901 Eröffnung als Schall und Rauch; 1902 Umbenennung in Kleines Theater; 1902-1905 Leitung durch Max Reinhardt (1873-1943); ab 1905 Leitung durch Viktor Barnowsky (1875- 1952). 361 Viktor Barnowsky (1875-1952), Schauspieler, Theaterleiter, Schauspiellehrer; ab 1893 Mitglied des Königlichen Schauspielhauses in Berlin; ab 1905 Leitung des Kleinen Theaters in Berlin; ab 1913 Leitung des Lessing-Theaters in Berlin; 1915 zusätzlich Leitung des Deutschen Künstlertheaters; ab 1925 Leitung des Theaters in der Königgrätzer Straße in Berlin. 381 Martin Zickel (1876-1932), Schauspieler, Theaterleiter; Mitbegründer der kabarettistischen Gruppen Die Brille und Schall und Rauch; 1899 Gründer der Sezessionsbühne im Alexanderplatz-Theater in Berlin; Leitung des Lustspielhauses in Berlin; Leitung der Komischen Oper Berlin. Lustspielhaus (Berlin), 1904 Eröffnung durch Martin Zickel (1876-1932). 383 „Der Familientag“ (UA 1904), Lustspiel von Gustav Kadelburg (1851-1925). „Weg zur Hölle“, Lustspiel von Gustav Kadelburg (1851-1925). 384 „Husarenfieber“ (UA 1906), Lustspiel von Gustav Kadelburg (1851-1925). 386/ 87 Hermann Schönfeld, wahrscheinlich gemeint: Franz Schönfeld (1851- 1923), Schauspieler; 1876-1877 Engagement am Dresdner Hoftheater; 1877- 1879 Engagement am Wallnertheater in Berlin; 1879-1880 Mitglied des Thalia Theaters in Hamburg; 1880-1884 Engagement am Mannheimer Hoftheater; Engagements am Deutschen Theater sowie am Königlichen Schauspielhaus Berlin; 1888-1904 Mitglied des Lessing-Theaters, des Lustspielhauses und des Trianontheaters; vor allem bekannt durch seine Bonvivants und komischen Charakterrollen. 387 Albert Paul (1856-1928), Schauspieler, Schriftsteller; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Meiningen; 1877 Engagement am Nationaltheater in Berlin; 1879 Engagement am Stadttheater Mainz und am Residenztheater Berlin; rege Gastspieltätigkeit; ab 1901 Mitglied des Thalia Theaters in Hamburg; Engagement am Lustspielhaus in Berlin. 388 Marie Wendt (~1870-? ), Schauspielerin. Tilli Waldegg, 1892 Engagement in Köln, 1894 Mitglied des Lessing-Theaters (Berlin); 1896 kurzes Engagement am Deutschen Theater Berlin; nach einem kurzen Engagement am Deutschen Volkstheater in Wien Rückkehr an das Lessing-Theater Berlin, ab 1901 Engagement am Neuen Theater Berlin und am Lustspielhaus Berlin. 395 Max Halbe (1865-1944), Schriftsteller, Dramatiker; sein 1893 erschienenes Bühnenstück „Jugend“ zählt neben den Werken Gerhart Hauptmanns zu den erfolgreichsten naturalistischen Dramen; 1895 Gründung des Intimen Theater für dramatische Experimente sowie Mitbegründung der Münchner Volksbühne. Werke: „Jugend“ (1893), „Der Strom“ (1904). <?page no="329"?> Kommentar 329 400 Karl Helmerding (1822-1899), Schauspieler, Theaterleiter; 1848 Engagement am Theater am Halleschen Tor Berlin; Engagements an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Berlin, Erfurt, Köln; ab 1855 Leitung des Königstädtischen Theaters (später Wallnertheater) in Berlin; galt als Prototyp des Berliners. 408 1871 an Deutschland gezahlten Milliarden, Anspielung auf die hohen Reparationszahlungen Frankreichs an Deutschland nach dem Deutsch- Französischen Krieg 1870/ 71. 420 Trianontheater (Berlin), 1902 Eröffnung; diente als Verlagstheater für den Bühnenverlag Felix-Bloch-Erben; auf dem Spielplan standen vor allem französische Salonkomödien. 444 Maria Bonn (eigentlich Katharina Sundl) (1871-1909), Schauspielerin. 496 Luisentheater (Berlin), 1896 Eröffnung als Volks-Theater unter der Leitung von Richard Anger (1846-1901); 1897 Umbenennung in Luisentheater; stand unter wechselnden Leitungen. 514 Komische Oper (Berlin), 1905 Eröffnung; 1905-1911 Leitung durch Hans Gregor. 515 Hans Gregor (1866-1945), Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter; 1898-1905 Leitung des Theaters in Barmen-Elberfeld; 1905 Gründung der ersten Komischen Oper in Berlin in der Friedrichstraße an der Weidendammer Brücke; 1905-1911 Theaterleitung in Berlin; 1911-1918 Theaterleitung in Wien. 518 „Hoffmanns Erzählungen“, Operette von Jacques Offenbach (1819-1880). 526 Mia Werber (eigentlich Mia Tachauer) (1876-1943), Schauspielerin; ab 1897 Engagement am Berliner Thalia-Theater; 1897-98 Engagement am Carl- Schultze-Theater Hamburg. 528 Nationaltheater (Berlin), 1904 Eröffnung; 1904/ 05 Leitung durch Hugo Becker. 548 Jahresrevue, durch Richard Schultz (1863-1928) am Metropoltheater in Berlin nach Pariser Vorbild etablierte Form der Revue, in der herausragende Ereignisse eines Jahres aus Politik, Wirtschaft und Kutur satirisch-parodistisch aufgearbeitet und mit den künstlerischen Mitteln der Revue dargestellt werden. 550 Victor Holländer (1866-1940), Pianist, Dirigent, Komponist; seit 1886 Engagements als Theater- und Konzertdirigent an unterschiedlichen Bühnen, u.a. in Hamburg, Berlin, Chicago, London; 1896 Engagement beim Zirkus Barnum und Baily; seit 1901 Kompositionen für das Überbrettl; ab 1901 Hauskomponist am Metropoltheater in Berlin; Werke: „Neuestes, Allerneuestes“ (1904), „Auf ins Metropol! “ (1905). 560 Adolph-Ernst-Theater (Berlin), Name des späteren Thalia-Theaters in Berlin; 1888-1895 Leitung durch Adolph Ernst (1846-1927); Spezialität des Theaters war die so genannte „Adolph-Ernst-Posse“. 568 Deutsch-ungarisches Theater (= Gebrüder-Herrnfeld-Theaters) (Berlin), 1906 Eröffnung durch die Brüder Donat (1868-1916) und Anton Herrnfeld (1865-1929); 1917 Wiedereröffnung nach dem Tod Donat Herrnfelds (1916); 1918 Verkauf des Theaters. 570/ 71 Deutsch-amerikanisches Theater (Berlin), ehemaliges Buntes Theater; 1903- 1907 Umbenennung und Leitung durch Paul Philipp. <?page no="330"?> 7. Stümcke: Berliner Theater (1907) 330 571/ 72 Buntes Theater (Berlin), 1901 Eröffnung durch Ernst von Wolzogen (1855- 1934) im Berliner Alexanderplatz-Theaters, dann in einem eigenen Theater in der Köpenicker Straße nach dem Muster der französischen Kabaretts; 1902- 1903 Leitung durch Martin Zickel (1877-1932); wechselnde Leitungen und Umbenennungen des Theaters. <?page no="331"?> 8. Karl Strecker: Der Niedergang Berlins als Theaterstadt (1911) Einführung „[J]ede Stadt hat schließlich die Theater, die sie verdient […]“ (Strecker, 123/ 24). Dieses die 1911 erschienene Streitschrift „Der Niedergang Berlins als Theaterstadt“ umrahmende Diktum markiert prägnant die generelle Haltung Karl Streckers (1862-1933). Die mit ironisch-satirischem Ton, Zitaten und Wortspielen gespickte Streitschrift des Schriftstellers und Journalisten Strecker, der vor allem als Theaterkritiker, u.a. in der Berliner Täglichen Rundschau, tätig war, ist eine Kompilation einer bereits veröffentlichten Aufsatzreihe. Damit erklärt sich auch die episodische Dramaturgie des Textes: In acht, inhaltlich aufeinander Bezug nehmenden Kapiteln steht das Berliner Theater im Mittelpunkt der Debatte. Ausgehend von Überlegungen zum Berliner Publikum, welches Strecker als Hauptschuldigen für die festgestellte Theatermisere ausmacht, betrachtet er mehrere Gesichtspunkte, die zu der schlechten Theatersituation geführt haben und diese weiterhin verfestigen. So sieht er etwa einen Mangel in der unbedachten Auswahl der Dramen, die von den meist nur am Profit orientierten Theaterdirektoren auf den Berliner Spielplan gesetzt werden. Die aus Frankreich importierten Salonstücke, die nach ca. 50 Jahren erneut in Mode kommende Berliner Posse à la David Kalisch oder Emil Pohl oder auch die genauso alten Rührstücke von Autoren wie Roderich Benedix oder Charlotte Birch-Pfeiffer verdrängen neue und fortschrittlichere, sprich „moderne“ Dramen. Das vom Autor als bestes zeitgenössisches Stück empfundene und daher mit - dem Leser nicht unbedingt verständlicher - Vehemenz immer wieder als Vorbild genannte Schauspiel „Glaube und Heimat“ von Karl Schönherr werde durch die Übermacht der oben genannten verdrängt - wie auch durch Dramen des „Dauerbrenners“ Gerhart Hauptmann, dessen Stück „Die Ratten“ Strecker als unabsichtliche Satire seiner selbst darstellt. Neben der Auswahl von schlechten und veralteten Stücken sieht er ein Manko in der nur geringen Zahl an wirklich guten Theatern, welche Berlin aufzuweisen habe. So macht Strecker, außer der Neuen freien Volksbühne, die eine nicht allen zugängliche Vereinsbühne war, nur sehr wenige Theater und Bühnenleiter aus, die sein Lob verdienten, nämlich eigentlich nur das Schillertheater sowie die Bühnen von Otto Brahm und Max Reinhardt. Dieser Theatermacher, dem Strecker allerdings auch nicht ganz unkritisch gegenübersteht, stellt für den Autor trotz aller Vorbehalte einen Lichtblick in der düster-trüben Berliner Theaterwelt dar. Reinhardts Ideenreichtum, sein hoher künstlerischer Anspruch und der sich in den Inszenierungen vieler verschiedener Stücke aus unterschiedlichen Epochen bemerkbar machende Wille zur Innovation imponieren Strecker und so ärgert es ihn umso mehr, dass die Berliner Theaterkritik und vor allem das Hauptstadtpublikum in Reinhardt nicht die Zukunft des Theaters sehen, sondern permanent kritisch betrachten. <?page no="332"?> 8. Strecker: Der Niedergang Berlins als Theaterstadt (1911) 332 Gerade das minder gebildete, dafür umso reichere, nur Zerstreuung suchende Großbürgertum Berlins, welches Theater weder als Kulturinstitution und Bildungsanstalt noch als ästhetische und intellektuelle Bereicherung des Lebens, sondern ausschließlich als einen weiteren Ort zum puren Vergnügen verstünde, bildet für den Autor die Ursache allen Berliner Theaterübels. Streckers Argumentation fügt sich fast nahtlos in die Leitmotive des Theaterlamentos, die sich seit dem letzen Drittel des 19. Jahrhunderts herausbildeten: Ob Hart/ Hart, Harden, Scherl oder Laverrenz - sie alle führten, zehn bis zwanzig Jahre vor Strecker, die schlechte Situation mitunter auf das fehlende Interesse des Publikums an dem im 18. Jahrhundert von Lessing und Schiller entworfenen Ideal eines (National-) Theaters als moralische Bildungsanstalt zurück und verurteilten, wie auch Strecker, die zerstreuungswütigen reichen Berliner, die den „wahren“ Sinn des Theaters im Rausch der Zerstreuung übersehen. Genau diese Wiederkehr der Argumente ist es, die Streckers Text interessant macht. Zwar nicht auf der inhaltlichen Ebene - schließlich wirken sowohl Streckers Beschreibung seines Schillertheater-Erlebnisses am Ende des Textes wie auch die damit zusammenhängende Kontrastierung vom reichen, den Markt bestimmenden, die Kunst unterdrückenden Publikum und dem armen Möchtegern-Zuschauer, der seine Bildungswut aufgrund fehlender Marktmacht nicht durchsetzen kann, äußerst schwach. Vielmehr ist Streckers Text auf der Ebene einer kulturhistorischen Betrachtung interessant: Einerseits wird in seiner Verhandlung der Kulturinstitution „Theater“ immer noch der Erhalt einer der Moderne entgegenstrebenden Illusion eines antiquierten (Bildungs-) Ideals postuliert; andererseits scheint er sich sehr wohl der Aufgabe des Theaters als konstituierendes Moment der Moderne bewusst sein. Diese Zwiespältigkeit der Perspektive auf das Berliner Theater, welche seit dem 18. Jahrhundert bis in die Zehner-Jahre des 20. Jahrhunderts eine lange Tradition bildet, wird in Streckers Text nur allzu deutlich: So finden sich hier die vom Autor vorgenommenen Rekurse auf eine veraltete Ästhetik neben typischen Zeitbegriffen der Moderne, wie „Hast des heutigen Lebens“ (Strecker, 186), „Zeitsymptom“ (Strecker, 475) oder „Nerven“ (Strecker, 196) - ohne sich scheinbar gegenseitig auszuschließen. Im Gegenteil, denn zusammen geben sie ein Bild davon, inwiefern die „Stadt [Berlin] schließlich die Theater [hat], die sie verdient“: nämlich solche, die auf dem Weg in die Moderne den Ansprüchen einer vergangenen Epoche erst allmählich entwachsen können. Stefanie Watzka <?page no="333"?> Karl Strecker Der Niedergang Berlins als Theaterstadt (1911) Inhalts-Verzeichnis I. Zu Lessings Geburtstag II. Ohne „Glaube und Heimat“.Berliner Publikum 5 III. Schuld des Dramas IV. Von besseren Bühnen Berlins V. Ratten-Intermezzo VI. Auf dem Hexentanzplatz der Zeit VII. Max Reinhardt und die Berliner 10 VIII Direktoren und Publikum I. Zu Lessings Geburtstag. Am Vorabend von Lessings Geburtstag gab es in Berlin diesmal drei Premieren: „Das kleine Schokoladenmädchen“ im Neuen Schauspielhause, „Pariser Menu“ (wie bezeichnend! ) im Residenztheater und „Hippolytes Abenteuer“ im Tria- 15 nontheater. Da im Residenztheater das „Menu“ aus drei Gängen bestand, waren es fünf Pariser Schwänke, mit denen des Deutschen Reiches Hauptstadt zur Gedenkfeier Lessings gleichzeitig beglückt wurde. Ein Zufall? Nun, die darauf folgende Woche brachte uns als „Novitäten“: ein Trauerspiel Heinrich Laubes, ein Lustspiel Ernst Wicherts, eine Posse Rod. Benedix’ und abermals eine Pariser Ober- 20 flächlichkeit: „Der unbekannte Tänzer“. Diese einfache Tatsache spricht Bände, lacht Satiren, summt ein altes Trauerlied, in dessen sehr wundersame Melodei die Uferbäume am Kleinen Wannsee rauschend einstimmen… Vivos voco! Obwohl unser liebes Spree-Athen so viele Bühnenhäuser hat, daß 25 man sie nicht zählen kann - man müßte sie denn, wie der Pleitegeier, aus der Vogelschau im Auge haben - hat sich doch keins unter ihnen gefunden, das uns das bedeutendste deutsche Drama der letzten Jahre, Karl Schönherrs tiefmenschlich-ergreifendes Trauerspiel „Glaube und Heimat“ zu bringen der Mühe für wert hält. Ja, während es im Tanz der Wochen siegreich alle bedeutenden Bühnen 30 Deutschlands beschreitet, wird die „Stadt der Intelligenz“ ihm bestenfalls - im nächsten Winter die Tore öffnen, wenn es abgespielt ist. So war es im Lessingtheater bestimmt, als diese Aufsatzreihe in einer Berliner Zeitung erschien. Nachträglich, in letzter Stunde, hat sich Direktor Otto Brahm zu dem Entschluß bequemt, das Stück doch noch vor Toresschluß, am 15. März, herauszubringen. Wir wollen mit unserer Meinung zurückhalten: ob und wie weit der Druck der Öffentlichkeit auf diesen <?page no="334"?> Der Niedergang Berlins als Theaterstadt (1911) 334 Ja, diese Stadt der Intelligenz: wer von uns liebte sie nicht und wem schiene sie nicht oft abscheulich! Wen überredete sie nicht durch ihre unbändige Arbeitskraft, ihr unermüdliches Kampfstreben und eine naseweise Munterkeit, die sich 35 sogar in dem immer bunten Kaleidoskop ihres Straßenlebens zeigt. Die Größe und Sauberkeit ihrer Verwaltung, die Fülle organisatorischer Talente, die auf jedem Gebiet auftaucht (wo es etwas zu verdienen gibt), sind ebenso der Bewunderung wert, wie die kaufmännische Fähigkeit, gute Ware billig zu liefern und auch dem weniger Bemittelten eine angenehm-behagliche Existenz zu verschaf- 40 fen. Und doch! „Hier“, so klagte einst ein Weiser, „werden große Gedanken lebendig gesotten und klein gekocht ... Sie sind alle siech und süchtig an öffentlichen Meinungen ... Alles bei ihnen redet, niemand weiß mehr zu verstehen. Alles fällt ins Wasser, nichts mehr fällt in tiefe Brunnen ... Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier brüten.“ 45 Weniger bildlich ausgedrückt: Der in immer klareren Linien hervortretende Amerikanismus des Berliners kann wohl eine gewisse äußerliche Zivilisation, aber nimmermehr große Kulturwerte schaffen. Er ist Massenmensch, der vor allem verdienen und - „anständig auftreten“ will; schnellfertig, schnellzüngig, mokant und an Äußerlichkeiten hangend, will er alles mit dem Kopf erfassen, und darum 50 fehlt ihm die rechte Urbanität. Jeder Individualismus widerstrebt seinen Masseninstinkten. Aber nur „aus der schöpferischen Kraft individuellen Geisteslebens können Kulturwerte von reichem Inhalt entstehen“ - das hat Wundt in seiner „Ethik“ nicht als der Erste und nicht als der Letzte gesagt. Berlin bekundet eine besondere Hochachtung vor Lessing, der ja auch zeit- 55 weise Berliner war und es übrigens