Ideologien des Verstehens
Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder
1121
2007
978-3-7720-5246-0
978-3-7720-8246-7
A. Francke Verlag
Stefan Scholz
<?page no="0"?> A . F R A N C K E V E R L A G T Ü B I N G E N U N D B A S E L Stefan Scholz Ideologien des Verstehens Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder <?page no="1"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 13 · 2008 Herausgegeben von Friedrich W. Horn, François Vouga, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Stefan Scholz Ideologien des Verstehens Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Dissertation an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, 2006. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1862-2666 ISBN 978-3-7720-8246-7 <?page no="5"?> „Ihr durchschaut mich, ihr seid mir über“, antwortete Hermes ehrerbietig. „Jetzt, da ihr alle wieder im Spiel seid, werde ich euer Bote sein wie früher, und ich verspreche euch: kein bißchen zuverlässiger.“ Sten Nadolny, Ein Gott der Frechheit <?page no="7"?> Inhalt Vorwort ......................................................................................................... 13 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens .............................................................. 15 1.1 Von Heiligen Schriften, der Bibel und ihren DeuterInnen .......... 15 1.2 Verstehenskrisen ................................................................................ 17 1.3 Verstehenswege ................................................................................. 18 1.4 Kontexte des Verstehens ................................................................... 22 1.5 Ideologien des Verstehens ................................................................ 29 Teil A Methodenreflexion .................................................................... 31 2 Einführung in die Gesamtuntersuchung: Allgemeine Textanalyse - Ideologiekritik - Diskursanalyse ... 33 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik ....................................... 37 3.1 Was leistet Ideologiekritik? ............................................................... 37 3.2 Was ist Ideologie? .............................................................................. 37 3.3 Ideologiekritische Positionierungen ............................................... 40 3.3.1 Die Anfänge - Bacon und die Idéologistes ............................................ 40 3.3.2 Ideologiekritik als Entlarvung der Camera obscura - Die Marxsche Ideologiekritik ......................................... 41 3.3.3 Ideologiekritik als Enttarnung der Standortgebundenheit sämtlichen Denkens - Karl Mannheim und die Wissenssoziologie ................ 43 3.3.4 Ideologie und Struktur - Louis Althusser ................................................................ 44 3.3.5 Ideologiekritik als Aufdeckung diskursiver Störungen - Die Textsoziologie von Peter V. Zima .......................... 46 3.4 Die ideologiekritische Methodik dieser Untersuchung ............... 48 3.4.1 Die Ambivalenz von Ideologien ....................................... 48 3.4.2 Die Partikularität von Ideologien ..................................... 49 3.4.3 Ideologien als diskursive Formationen einer Aussageneinheit ............................................................... 50 3.4.4 Ideologiekritik als Aufdeckung diskursiver Strukturen der Ideologie ........................................................................ 50 <?page no="8"?> 8 Inhalt 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse ....................................... 55 4.1 Kontexte des Diskursbegriffs ........................................................... 55 4.2 Das kulturelle Feld der Diskursanalyse Foucaults: Der Poststrukturalismus ................................................................... 56 4.3 Foucaults Diskursanalyse ................................................................. 59 4.4 Applikationsprobleme der Foucaultschen Diskursanalyse ......... 61 4.5 Modifikation des Foucaultschen Themas: Das diskursanalytische Modell von Siegfried Jäger ..................... 63 4.6 Die diskursanalytische und diskurskritische Methodik dieser Untersuchung ..................................................................................... 65 4.6.1 Diskursanalyse und Untersuchungsgegenstand ............ 65 4.6.2 Die diskursanalytische Untersuchung von Aussagen ... 66 4.6.3 Subjekt und Macht im Diskurs ......................................... 67 4.6.4 Diskursanalyse als Ermittlung diskursiver Bezüge und Diskurskritik als vergleichende Interpretation ............... 68 5 Schaubild zu den einzelnen Untersuchungsschritten ............... 71 Teil B Einzelanalyse der vier hermeneutischen Basistexte ........ 73 6 Untersuchungen bei Klaus Berger ................................................ 75 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik ...... 75 6.2 Ideologiekritische Untersuchung .................................................... 89 Ideologie als Erzählstruktur: 6.2.1 Dualismen ............................................................................ 89 6.2.2 Mythische Aktanten ........................................................... 92 6.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken ................................ 94 6.2.4 Monolog ............................................................................... 95 Ideologie als Aussagestruktur: 6.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung ................................................................. 98 6.2.6 Relevanzkriterien ................................................................ 100 6.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte .............................................. 102 6.3 Diskursanalytische Untersuchung .................................................. 106 6.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten ........ 106 6.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen ......................................... 106 6.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten ........ 109 6.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten ......... 111 6.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen ................... 114 6.3.3 Bezüge zum Interdiskurs ................................................... 119 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza .................... 121 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik ...... 121 <?page no="9"?> Inhalt 9 7.2 Ideologiekritische Untersuchung .................................................... 136 Ideologie als Erzählstruktur: 7.2.1 Dualismen ............................................................................ 136 7.2.2 Mythische Aktanten ........................................................... 140 7.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken ................................ 141 7.2.4 Monolog ................................................................................. 142 Ideologie als Aussagestruktur: 7.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung ................................................................. 146 7.2.6 Relevanzkriterien ................................................................ 148 7.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte .............................................. 148 7.3 Diskursanalytische Untersuchung .................................................. 153 7.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten ........ 153 7.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen ......................................... 153 7.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten ........ 155 7.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten ......... 159 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen ................... 161 7.3.3 Bezüge zum Interdiskurs ................................................... 167 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher ....................................... 169 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik ...... 169 8.2 Ideologiekritische Untersuchung .................................................... 186 Ideologie als Erzählstruktur: 8.2.1 Dualismen ............................................................................ 186 8.2.2 Mythische Aktanten ........................................................... 191 8.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken ................................ 194 8.2.4 Monolog ............................................................................... 195 Ideologie als Aussagestruktur: 8.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung ................................................................. 197 8.2.6 Relevanzkriterien ................................................................ 198 8.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte .............................................. 199 8.3 Diskursanalytische Untersuchung .................................................. 202 8.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten ........ 202 8.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen ......................................... 202 8.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten ........ 205 8.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten ......... 209 8.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen ................... 209 8.3.3 Bezüge zum Interdiskurs ................................................... 214 9 Untersuchungen bei Hans Weder .................................................. 217 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik ...... 217 9.2 Ideologiekritische Untersuchung .................................................... 232 <?page no="10"?> 10 Inhalt Ideologie als Erzählstruktur: 9.2.1 Dualismen ............................................................................ 232 9.2.2 Mythische Aktanten ........................................................... 237 9.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken ................................ 239 9.2.4 Monolog ................................................................................. 240 Ideologie als Aussagestruktur: 9.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung ................................................................. 242 9.2.6 Relevanzkriterien ................................................................ 244 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte .............................................. 245 9.3 Diskursanalytische Untersuchung .................................................. 249 9.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten ........ 249 9.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen ......................................... 249 9.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten ........ 252 9.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten ......... 255 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen ................... 255 9.3.3 Bezüge zum Interdiskurs ................................................... 263 Teil C Diskurskritik. Auswertung der Untersuchungen im synoptischen Vergleich ........................................................................................... 265 10 Vergleich des Textaufbaus ............................................................. 267 10.1 Formationen ....................................................................................... 267 10.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen .............................. 267 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse ............................ 269 11.1 Dualismen ........................................................................................... 269 11.1.1 Formation A: Abgrenzungen (Dualismen nach Typ 1) . 269 11.1.2 Formation B: Vermittlungen (Dualismen nach Typ 2) .. 269 11.1.3 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 270 11.2 Mythische Aktanten .......................................................................... 272 11.2.1 Formationen ........................................................................ 272 11.2.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 272 11.3 Naturalismus und Identitätsdenken ............................................... 272 11.3.1 Formationen ........................................................................ 272 11.3.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 273 11.4 Monolog .............................................................................................. 273 11.4.1 Formationen ........................................................................ 273 11.4.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 274 11.5 Schlüsselbegriffe ................................................................................ 274 11.5.1 Formationen ........................................................................ 274 <?page no="11"?> Inhalt 11 11.5.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 275 11.6 Relevanzkriterien .............................................................................. 277 11.6.1 Formationen ........................................................................ 277 11.6.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 278 11.7 Soziolekte ............................................................................................ 278 11.7.1 Formationen ........................................................................ 278 11.7.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 279 12 Vergleich der diskursanalytischen Ergebnisse ........................... 283 12.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten ....................... 283 12.1.1 Formationen ........................................................................ 283 12.1.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 284 12.1.2.1 Zum Gebrauch von Bibelstellen ....................................... 284 12.1.2.2 Zur Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten 285 12.1.2.3 Gegenseitige Bezugnahmen .............................................. 286 12.1.2.4 Zur Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten .. 289 12.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen .................................. 289 12.2.1 Formationen ........................................................................ 289 12.2.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 291 12.3 Bezüge zum Interdiskurs .................................................................. 294 12.3.1 Formationen ........................................................................ 294 12.3.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen ............... 294 13 Diskurskritische Einordnungen: Institutionen - Macht - Selbstanspruch ....................................... 297 13.1 Institutionsbezüge ............................................................................. 297 13.2 Macht ................................................................................................... 299 13.2.1 Machteinwirkung ............................................................... 300 13.2.2 Machtausübung .................................................................. 301 13.3 Selbstanspruch ................................................................................... 306 14 Das spezielle Profil der vier hermeneutischen Ansätze ............ 309 14.1 Die ethisch vermittelnde Hermeneutik - Klaus Berger .................................................................................... 309 14.2 Die feministisch autonome Hermeneutik - Elisabeth Schüssler Fiorenza ......................................................... 310 14.3 Die kirchlich-dogmatisch orientierte Hermeneutik - Peter Stuhlmacher .......................................................................... 312 14.4 Die kerygmatisch selbstreferentielle Hermeneutik - Hans Weder ..................................................................................... 313 <?page no="12"?> 12 Inhalt Teil D Überprüfung der Untersuchungsergebnisse an exemplarischen Texten der vier AutorInnen .............. 315 15 Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums ................................................................. 317 15.1 Überprüfung ...................................................................................... 317 15.2 Fazit der Überprüfung ...................................................................... 324 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung. Vision einer gerechten Welt ........ 327 16.1 Überprüfung ...................................................................................... 327 16.2 Fazit der Überprüfung ...................................................................... 333 17 Peter Stuhlmacher: Der Brief an Philemon ..................................................................... 335 17.1 Überprüfung ...................................................................................... 335 17.2 Fazit der Überprüfung ...................................................................... 340 18 Hans Weder: Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute 343 18.1 Überprüfung ...................................................................................... 343 18.2 Fazit der Überprüfung ...................................................................... 350 Rückblick .................................................................................................... 351 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick 353 19.1 Perspektivität ..................................................................................... 353 19.2 Pluralität ............................................................................................. 357 19.3 Diskursivität ....................................................................................... 362 19.4 Was bleibt? ......................................................................................... 365 Abkürzungen, Literatur und Register ............................................... 371 20 Abkürzungen .................................................................................... 373 21 Literatur .............................................................................................. 375 22 Register ............................................................................................... 393 22.1 Begriffe ................................................................................................ 393 22.2 Personen ............................................................................................. 396 <?page no="13"?> Vorwort Die vorliegende Studie wurde 2006 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen und verknüpft die Fachwissenschaft der (Evangelischen) Theologie mit den methodologischen Ansätzen der Ideologiekritik und der Diskursanalyse in Blick auf die Hermeneutik der Bibel. Wenngleich ich die Thesen und Formulierungen der Ergebnisse selbst zu verantworten habe, konnten Problemstellung, Lösungswege und Schlussfolgerungen freilich nur entstehen, da ich selbst konkreten Ideologien angehöre und von speziellen Diskursen geprägt bin. Mein Dank gilt allen, die auf vielfältige Weise zum Entstehen dieser Arbeit und ihrer Veröffentlichung beigetragen haben. Zuerst meinen Eltern - ihnen verdanke ich weit mehr als ich hier schreiben kann. Ich danke besonders meiner Doktormutter Prof. Dr. Oda Wischmeyer; sie hat engagiert und professionell diese Studie betreut. Durch zahlreiche bereichernde und kritische Gespräche und das Angebot, als Hilfskraft und Assistent an ihrem Lehrstuhl tätig zu sein, hat sie meine Reflexionen zur Bibelhermeneutik entscheidend mitgeprägt. Bedanken möchte ich mich bei Prof. Dr. Walter Sparn für die Erstellung des Zweitgutachtens und seine nützlichen Hinweise vor allem zur Ideologiekritik. Ebenso danke ich Prof. Dr. B. Hamm für die Übernahme der kirchengeschichtlichen Prüfung des Rigorosums. Weiterhin danke ich unterschiedlichen Forschungskolloquien, in denen ich meine Thesen zur Diskussion stellen durfte. Ich nenne hier die Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistenten und Assistentinnen sowie die Doktorandenkolloquien von Prof. Dr. Oda Wischmeyer und Prof. Dr. Peter Pilhofer. Weiter danke ich allen, die in leichten und heiklen Phasen der Promotion die Freizeit mit mir teilten, allen voran meinem Freund Thomas Zeitler; ich danke allen, die dabei interessiert an meinen Thesen waren - oder gerade auch nicht und mir dadurch zeigten, dass eine Promotion nicht das Einzige im Leben ist. Den Weg zur Veröffentlichung vereinfachten mir entscheidend Susanne Luther, die den Text noch einmal Korrektur las, und Andrea Siebert, die die Druckvorlage erstellte. Der Universität Erlangen-Nürnberg sowie der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern bin ich für ihre finanzielle Unterstützung durch Promotionsstipendien zu Dank verpflichtet. Sie ermöglichten mir ein effektives und zeitlich überschaubares Promovieren. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der „Frau Dorothea und Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung“, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sowie der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Schließlich danke ich den Herausgebern der „Neutestamentlichen Entwürfe zur Theologie (NET)“ für die <?page no="14"?> 14 Vorwort Aufnahme in ihre Reihe sowie Frau Pfaller und Frau Fischer vom Francke- Verlag für die zuverlässige und kooperative Zusammenarbeit. Nürnberg, im September 2007 Stefan Scholz <?page no="15"?> 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens 1.1 Von Heiligen Schriften, der Bibel und ihren DeuterInnen Heilige Schriften üben in unterschiedlichen Religionssystemen eine ordnende und identitätsbildende Funktion aus: Sie erzählen die eigene Stiftungsgeschichte und archivieren als kollektives Gedächtnis die maßgebenden Anfänge. Sie fixieren Normen und Werte, die innerhalb der Glaubensgemeinschaft zu gelten haben bzw. nach außen universalisiert werden sollen. Und sie formulieren die Wünsche, Hoffnungen und Träume ihrer Trägergruppen. Damit erhalten Heilige Schriften im sozialen Regulierungsprozess einer Religion eine zentrale Stellung, wenn nicht die höchste Autorität: Sie trennen zwischen wahr und falsch, gut und böse, Gebotenem und Verbotenem. Sie ordnen nicht weniger als die Wirklichkeit in ihrer Relevanz für die Gläubigen. Wer diese Heiligen Schriften zu deuten vermag und hierzu legitimiert ist, partizipiert an der machtvollen Autorität, welche den Heiligen Schriften zuerkannt wird. Und um diese Deutungsmacht besteht mitunter ein Wettstreit, ein Kampf konkurrierender Interessenlagen: ein Ringen um ‚Wahrheit‘. Auch das Christentum hat seine Heilige Schrift, die Bibel aus Altem und Neuem Testament, wenngleich ich das Christentum nicht als Buchreligion bezeichnen möchte. 1 Im strengen Sinn lassen sich als Buchreligionen nur das Judentum und der Islam beschreiben. Denn dort besteht konstitutiv eine Verehrung von Thora bzw. Koran, und die Identität zwischen göttlicher Selbstmitteilung und schriftlicher Fixierung wird in der Regel vorausgesetzt. 2 Zwar kennzeichnet Bibliolatrie auch Teile der christlichen Frömmigkeitskultur 3 , ebenso gibt es auch hier fundamentalistische Strömungen, die 1 Anders A. H OLZEM , Einleitung. Normieren - Tradieren - Inszenieren, 9: „Das Christentum ist durch seine Wurzel im Judentum und durch den früh einsetzenden Prozess der Verschriftlichung seiner Tradition, die das Judentum aufnimmt und sich gleichzeitig von ihm distanziert, bereits in seinen Anfängen eine Religion des Buches und der Schrift. 2 Vgl. L. P RIJS , Die Welt des Judentums, 48-55; A.T. K HOURY , Der Islam, 35-41. 3 Siehe hierzu M. N ICOL , Kult um die Bibel und Kultur des Lesens. Nicol argumentiert für eine Profilierung der Bibel als Kultbuch, die er wie folgt begründet: „Für Christen bilden die beiden Testamente der Bibel die ‚Heilige Schrift‘ […]. Das Epitheton ‚heilig‘ zeigt an, daß dieses Buch aus allen anderen Büchern herausragt. Es ist das Buch der Bücher. Und es ist Medium der Transzendenz. In diesem Buch wird, wie auch immer, <?page no="16"?> 16 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens Gottes Offenbarung mit der Schrift identifizieren 4 - weit charakteristischer ist jedoch innerhalb der heterogenen Vielfalt christlicher Theologien die Vorstellung der Bibel als einer von der personalen Offenbarung Jesus Christus abgeleiteten Größe. Dies trennt das Christentum entscheidend von den herkömmlichen Schriftreligionen. Darauf kann gerade ein Bibelexeget hinweisen. So hält der Alttestamentler Otto Kaiser fest: „Der christliche Glaube ist eine Religion des Geistes und trotz seines basalen Angewiesenseins auf die Bibel keine Buchreligion“. 5 Weiterhin hat die Bibel als Heilige Schrift des Christentums ihre besonderen DeuterInnen. 6 Ich fokussiere den Blick hier sogleich auf die akademische TheologInnenwelt und übergehe weitere institutionsmächtige Deutungsorgane wie Heilige Frauen und Männer, BischöfInnen, PfarrerInnen, Kirchengremien und nicht zuletzt die KirchenjuristInnen. Akademische TheologInnen operieren in den unterschiedlichen Fachdisziplinen aus verschiedenen Perspektiven heraus mit dem christlichen Grundtext: Naheliegend zuerst die BibelwissenschaftlerInnen der exegetischen Fächer des Alten und Neuen Testaments. Sie beanspruchen für sich die professionelle und sachgemäße Auslegung der christlichen Heiligen Schrift nach Vorgabe der gegenwärtigen textwissenschaftlichen Interpretationsparadigmen. Die KirchengeschichtlerInnen zeichnen die Kontinuitäten und Brüche der christlichen Auslegungstradition nach und veranschaulichen die Stimme Gottes vernehmbar“, a.a.O., 2. Zwar anerkennt Nicol die Innovationen der Bibelauslegung unter den Bedingungen der Aufklärung, welche vor allem als Desakralisierungsprozess gedeutet werden können, sein Plädoyer muss m.E. jedoch als Reetablierungsversuch des Christentums als Buchreligion gelesen werden. Die Differenz zwischen der ‚Wort-Gottes-Offenbarung in Jesus Christus‘ und der ‚Bibel als Zeugnis von dieser Offenbarung‘ wird somit zumindest verunklart. 4 So beispielsweise und sehr dezidiert R. S LENCZKA , Geist und Buchstabe. Vgl. zum Fundamentalismusproblem C. S CHWÖBEL , Christlicher Glaube im Pluralismus. Schwöbel formuliert in Rückgriff auf G. Ebeling: „Hat Ebeling recht, daß das für das Christentum Konstitutive, also sein Fundament, nicht in einem Fixierten, Feststehenden, also z.B. in fixierten ‚fundamentals‘, zu sehen ist, und das Fundamentale nicht darum fundamental ist, weil es fixiert ist, so bietet das Anlaß zu der Frage, ob der Fundamentalismus, der das Konstitutive mit etwas Fixiertem identifiziert, im Christentum - und, wie ich denke, auch in anderen Religionen - ein Phänomen deplazierter Fundamentalität ist. Dogmatisch gesprochen ginge es um die Verwechslung der Offenbarung mit dem Zeugnis der Offenbarung“, a.a.O., 35. 5 O. K AISER , Einleitung in das Alte Testament, 10. Ebenso E. L ESSING , Theologischer Anspruch und faktische Geltung des Schriftprinzips, 135. 6 Die besonderen DeuterInnen unterscheiden sich von der allgemeinen Leserschaft der Bibel durch ihre Professionalität, d.h. der berufsmäßigen Ausübung der Schriftinterpretation. Der protestantische Leitgedanke vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen hat an der Institution der besonderen DeuterInnen nichts geändert, vielmehr förderte die Freigabe der Schriftinterpretation aus den Händen des Klerikertums geradewegs die wissenschaftlich-professionalisierte Bibelforschung, vgl. O. W ISCHMEYER , Tolle, lege - intellige. Vom Lesen des Neuen Testaments aus der Sicht einer Neutestamentlerin. <?page no="17"?> 1.2 Verstehenskrisen 17 somit die kulturelle Bedingtheit jeder Auslegungsvariation. Die DogmatikerInnen und EthikerInnen reflektieren die biblische Textwelt in ihrer Bedeutung für theologische und pragmatische Aussagen einer veränderlichen Gegenwart. Und die Praktischen TheologInnen stellen Bezüge zwischen der Bibel und den konkreten Glaubensvollzügen gelebter Religiosität her. Evangelische Theologie lässt sich somit insgesamt als Schriftdeutung verstehen, wenngleich dieses Verständnis die theologische Arbeit freilich nur aspekthaft wiedergibt. 1.2 Verstehenskrisen Nun leidet speziell der gegenwärtige Protestantismus an seiner unaufgearbeiteten Verhältnisbestimmung von christlichem Glauben und biblischem Grundtext. 7 Ich führe dieses Problem vor allem darauf zurück, dass das reformatorische Schriftprinzip nicht überzeugend und nachhaltig 8 in eine säkularisierte, d.h. nachmetaphysische Kultur überführt wurde. Entstanden im Zusammenhang der reformatorischen Emanzipationsbemühungen vom Deutungsmonopol der päpstlichen Amtskirche, geriet das Schriftprinzip deshalb spätestens im Sog der autonomiezentrierten Autoritätenkritik der Aufklärung selbst in den Ruf der Bevormundung. Der Systematische Theologe Falk Wagner beschreibt das daraus resultierende Legitimationsproblem der Bibel wie folgt: „[D]as neuzeitlich-moderne Bewußtsein kann geradewegs durch das Prinzip der theoretisch selbstdenkenden und praktisch autonomen Vernunft so definiert werden, daß dieses Prinzip zugleich die Kritik von Autoritätsansprüchen tradierter Bücher und Institutionen einschließt. […] Dieser ebenso selbständige wie öffentliche Gebrauch der Vernunft verträgt sich nicht mit der Abhängigkeit von überlieferten Autoritäten, so daß die bloße Berufung auf die Bibelautorität ebenso der Kritik verfallen muß wie die Autorität eines monopolisierten kirchlichen Lehramtes“. 9 In Verbindung mit dieser grundsätzlichen Autoritätskritik der Bibel wurde auch das reformatorische Interpretationsmodell sacra scriptura sui ipsius interpres destruiert: Denn der erkenntnistheoretische Weg, von der Schrift als objektiver Größe zu klar bestimmbaren Aussagen und Anleitungen zur gottgefälligen Lebensgestaltung zu kommen, führte in die Aporie. Sukzessive löste sich dabei das Schriftprinzip auf. Dieser Prozess wurde zum einen 7 Zur röm.-katholischen Debattenlage vgl. P. N EUNER , Das Schriftverständnis der katholischen Theologie. 8 Am Gesamtproblem haben auch einzelne, mitunter sehr innovative und wirkmächtige Konzeptionen nichts ändern können. Ich nenne hier beispielhaft das Werk Rudolf Bultmanns und die Gott-ist-tot-Theologie. 9 F. W AGNER , Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 69. Siehe auch U. L UZ , Was heißt ‚Sola Scriptura‘ heute? , 32: „Das protestantische Schriftprinzip trug mit seiner Loslösung der Schrift von der heteronomen Autorität des kirchlichen Lehramtes den Keim seiner Auflösung bereits in sich“. <?page no="18"?> 18 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens durch die divergierenden theologischen Positionen selbst gespeist, die sich in ihrer unvereinbaren Differenz auf die eine Heilige Schrift beriefen, zum anderen durch die Dekanonisierung 10 der Bibel in der historisch-kritischen Forschung 11 . Bereits bei G.W.F. Hegel ist dieses erkenntnistheoretische Problem der Orientierungsfindung durch die Schrift eindrucksvoll formuliert: „Die Kommentare über die Bibel machen uns nicht sowohl mit dem Inhalt der Schrift bekannt, sondern mit der Denkweise einer jeden Zeit. […] Aus der Schrift sind daher die entgegengesetztesten Meinungen exegetisch durch die Theologen bewiesen, und so diese sogenannte heilige Schrift zu einer wächsernen Nase gemacht worden. Alle Ketzereien haben sich gemeinsam mit der Kirche auf die Schrift berufen“. 12 Die Schrift als selbstverständliche Autorität und normierende Kraft ist zum Chamäleon mutiert, wodurch ein Vakuum in der theologischen Positionsbegründung entstanden ist. Folglich ist die Schrift als orientierende Richtschnur und hermeneutisches Prinzip selbst zum hermeneutischen Problem geworden und wird als Krise des Schriftprinzips diskutiert. 13 Dieses ebenso fundamentaltheologische wie kirchenpraktische Problem erfährt überall dort seine Fortschreibung und weitere Verschärfung, wo akademische Theologien, christliche Gruppierungen und der Pragmatik verpflichtete Kirchenleitungen den normativen Schriftgebrauch voraussetzen, faktisch jedoch ein eklektisches Verfahren anwenden, welches in einer konkreten Debatte die Funktion erfüllt, die eigene Position biblisch zu untermauern. 14 Darin zeigt sich die Verbindung zwischen biblischem Referenztext und partikularen Interessenlagen, oder einfacher: Der Zusammenhang von Bibelauslegung und Macht. 1.3 Verstehenswege In dieser Problemlage will Hermeneutik Antworten geben. Hermeneutik wird dort notwendig, wo unmittelbares und eindeutiges Verstehen nicht oder nicht mehr möglich ist. 15 Seit ihren Anfängen in der griechischen Antike bemüht sie sich um ein Verstehen der jeweils kulturellrelevanten Literatur. 16 Sie stellt aber nicht nur Interpretationsverfahren zur 10 Zum Begriff vgl. O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 73-80. 11 Siehe zur Problemgeschichte der historistisch-historischen Lösungsversuche K. N EUMANN , Die Geburt der Interpretation, besonders 83-105. 12 G.W.F. H EGEL , Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 39f. 13 F. W AGNER , Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 70-77. Siehe auch W. P ANNENBERG , Die Krise des Schriftprinzips; siehe insgesamt H.H. S CHMID / J. M EHLHAUSEN (H G .), Sola Scriptura. 14 Dieses Problem ist beispielhaft erkannt bei J. K EGLER , Wie Man(n) mit der feministischen Theologie nicht umgehen sollte. 15 H. S EIFFERT , Einführung in die Hermeneutik, 13. 16 Vgl. G.W. M OST , Art. Hermeneutik. Most benennt für die antike Hermeneutik neben der Allegorese als wichtigste Interpretationsmodi den Biographismus, die Historisierung und den Formalismus. <?page no="19"?> 1.3 Verstehenswege 19 Deutung von Texten und Wirklichkeiten bereit, sondern sie reflektiert auch die Rahmenbedingungen des Verstehens. 17 Der hermeneutische Diskursstrang 18 innerhalb der evangelisch-theologischen Diskussion organisiert sich weitgehend interbzw. transdisziplinär. Dennoch lassen sich folgende disziplinäre Forschungsschwerpunkte beschreiben: Die ‚Biblische Hermeneutik‘, wie sie besonders intensiv im Fach Altes Testament betrieben wird, bearbeitet die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament. 19 Die Neutestamentliche Hermeneutik reflektiert grundsätzlich die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens biblischer Texte. 20 Die Praktische Theologie weitet den Begriff der Hermeneutik als umfassende Suchbewegung nach Deutungsmustern auf das christliche Leben insgesamt aus. 21 Auch die Systematische Theologie bearbeitet die hermeneutische Fragestellung. Sie verknüpft alle drei genannten Forschungsfragen und bedenkt die Normativität biblischer Aussagen. 22 Die Neutestamentliche Hermeneutik beschäftigt sich somit originär und daher an erster Stelle mit der Frage nach den Verstehensmöglichkeiten der biblischen Texte angesichts der seit der Aufklärung bestehenden Geltungsprobleme. Aus diesem Grund möchte ich dieses Forschungsfeld nun näher in Blick nehmen. Ich halte zuvor fest: 17 U.H.J. K ÖRTNER , Der inspirierte Leser, 22: „Die Wissenschaft von der Hermeneutik untersucht, nach welchen Regeln wir schriftliche und mündliche, verbale und nonverbale Lebensäußerungen anderer verstehen und auslegen, von einer Sprache in die andere, von einer Vorstellung in eine andere, aus einer vergangenen Epoche in die Gegenwart übersetzen können“ (im Original kursiv). 18 Ich unterscheide in Anschluss an Siegfried Jäger einzelne Diskursstränge vom Gesamtdiskurs. Siehe zur diesbezüglichen Nomenklatur 4.5 Modifikation des Foucaultschen Themas: Das diskursanalytische Modell von Siegfried Jäger. 19 Vgl. H. G ESE , Der auszulegende Text; C. D OHMEN , Art. Hermeneutik; L. S CHMIDT , Die Einheit zwischen Altem und Neuem Testament. 20 Vgl. die Doppeldefinition zur Neutestamentlichen Hermeneutik von O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 3: „Neutestamentliche Hermeneutik ist die Lehre vom angemessenen Verstehen und der angemessenen Interpretation der neutestamentlichen Texte. Neutestamentliche Hermeneutik ist die Lehre von den Bedingungen und Möglichkeiten angemessenen Verstehens und angemessener Interpretation der neutestamentlichen Texte“. - Ähnlich G. S CHUNACK , Art. Hermeneutik, 1651: „Ntl. H[ermeneutik]. befaßt sich, als Lehre und Reflexion des Verstehens, der Interpretation und verantwortlicher Vermittlung ntl. Texte, mit den hermeneutischen Erfahrungen, die sich dabei einstellen. Hermeneutische Aufgabe ist, die Texte und ihre Sache gegenwärtigem Wirklichkeitsverständnis und Wahrheitsbewusstsein zu vermitteln“. 21 Vgl. M. M AYER -B LANCK , Zweisprachige Hermeneutik christlicher Praxis; A. G RÖZINGER , Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung. 22 Vgl. R. L EONHARD , Grundinformation Dogmatik, vor allem 103-120, ferner 154-164 und 171-187; W.G. J EANROND , Art. Hermeneutik; J. B AUR , Sola Scriptura; W. N ETHÖFEL , Theologische Hermeneutik. <?page no="20"?> 20 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens Die Neutestamentliche Hermeneutik reflektiert metatheoretisch die Methoden, Rahmenbedingungen und aktuellen Probleme des Verstehens der biblischen Texte und konstruiert zugleich Verstehenswege zu den biblischen Texten. Sie tut dies aber nicht standortunabhängig. Die Neutestamentliche Hermeneutik formuliert ihre Analysen, Ergebnisse und Handlungsanweisungen jeweils aus einer spezifischen Perspektive heraus. Denn wer hermeneutisch arbeitet, ist selbst in konkrete Zeit- und Ortskonstellationen, Theologien und Fachdisziplinen, Weltanschauungen und politische Zielvorgaben, Themenpräferenzen, Geschlechtervorstellungen, etc. eingebunden. Diese wirken in den eigenen Ansatz ein und prägen die hermeneutische Argumentation erheblich. Ebenso erfahren sich die VertreterInnen divergierender Entwürfe und Verfahren als KonkurrentInnen im Streit um die bessere Deutung. Kurz: Neutestamentliche Hermeneutik ist immer nur als konkrete, positionelle und kontextuelle Reflexion von Welt- und Textdeutungen ihrer einzelnen ProduzentInnen greifbar. So trivial diese Beobachtung vielleicht erscheinen mag, sie ist keineswegs selbstverständlich. Bisweilen wird der faktische Auslegungspluralismus zur Schriftinterpretation lediglich als rein methodologisches Thema diskutiert: Entscheidend sei die Reflexion über Methoden sowie deren Prämissen, Zielvorgaben und Anwendungen - die Person der Textdeutung sei demgegenüber sekundär. 23 Diese Problembewältigungsstrategie fördert einen essentialistischen Methodenobjektivismus, welcher sich erst allmählich im Abschwung befindet, seitdem das Interesse an der Person wissenschaftlicher Aussagen auch in die Theologie eingedrungen ist. Für den Bereich der deutschsprachigen Neutestamentlichen Wissenschaft hat Eve-Marie Becker 23 So z.B. G. T HEISSEN , Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. - Ebenso X. L ÉON -D UFOUR , Einleitung. „Das alles entscheidende Problem ist schließlich das des Zugangs zur Wahrheit. Welche Methoden ermöglichen es, den Sinn zu erschließen? “, a.a.O., 10f. P. Ricœur, Vom Konflikt zur Konvergenz der exegetischen Methoden, betont zwar in seinem Beitrag des gleichen Sammelbandes die Begrenztheit der hermeneutischen Interpretation: „Die Kette der interpretierenden Zeichen im Dreiecksverhältnis von Objekt, objektbezogenem Zeichen und interpretierendem Zeichen ist virtuell unendlich; von daher ergibt sich ein endloses Verhältnis von Interpretationen eines beliebigen Zeichen-Objekt-Bezugs in einer offenen Folge von Zeichen. Deutlicher kann man die wesenhafte Offenheit einer Interpretation, die die Kehrseite ihrer Perspektivität (und in diesem Sinn ihrer Endlichkeit) ist, kaum hervorheben“. Zugleich will Ricœur die Perspektivität methodisch jedoch kanalisiert sehen: „Die Perspektivität jeder Interpretation schließt methodische Strenge keineswegs aus; sie bestimmt allererst deren Ort mit Schärfe. Gerade weil der Sinn eines Textes zunächst auf gut Glück und vermutungsweise angesetzt werden muß, hat man Methoden nötig, um die Stichhaltigkeit des ersten Sinnentwurfes zu überprüfen, im Rahmen einer Wahrscheinlichkeitslogik, die der Logik der empirischen Verifikation verglichen werden kann“, a.a.O., 36. <?page no="21"?> 1.3 Verstehenswege 21 die Thematisierung der Person des Exegeten/ der Exegetin neu eingeführt. 24 Dadurch konnte das weitreichende Potential der (Auto-)Biografie als heuristischer Zugang zur Rekonstruktion exegetisch-hermeneutischer Aussagen in Blick genommen und zur Erklärung konkreter Standpunkte herangezogen werden. Die Fokussierung auf die Person des Exegeten/ der Exegetin leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Bedingtheit wissenschaftlicher Dispositionen im allgemeinen und exegetisch-hermeneutischer Standorte im speziellen. Allerdings muss die (Auto-)Biografieforschung meines Erachtens noch deutlicher in einen umfassenden sozio-kulturellen Reflexionskontext eingebunden werden: Richtet die (Auto-)Biografie ihr Interesse vorwiegend auf die Person in ihrer Individualität und beschreibt daher wesentlich kontingente Erfahrungen, so weitet eine sozio-kulturelle Analyse diese Perspektive aus, indem sie die Person als Produzentin wissenschaftlicher Aussagen gezielt im Kontext von spezifisch gesellschaftlichen, wissenschaftstheoretischen, theologischen, frömmigkeitlichen und anderen Einwirkungen thematisiert. Dieser Fokus, den die Wissenssoziologie mit Max Weber, Max Scheler und Karl Mannheim inauguriert hat, wird in den Literaturwissenschaften bereits seit mehr als 30 Jahren im Forschungsfeld der Literatursoziologie praktiziert und erfährt in der vorliegenden Studie seinen Import in die Neutestamentliche Wissenschaft. 25 Damit ist der Verstehensweg dieser Untersuchung angesprochen: Ich analysiere ausgewählte Neutestamentliche Hermeneutiken, die ich im folgenden Abschnitt kurz vorstellen werde. Mein Forschungsinteresse richtet sich hierbei auf die Einwirkungen sozio-kultureller Faktoren und auf die Frage, wie diese die vorliegenden Entwürfe strukturieren, determinieren und lenken. Die Rekonstruktion dieser Einwirkungen kann wertvolle Aufschlüsse für das Verstehen dieser Ansätze liefern, indem sie die referentiellen Kontexte freilegt, in denen diese Neutestamentlichen Hermeneutiken entstanden sind. 24 E.-M. B ECKER , Der Exeget und seine Exegese, 208: „Es stellt ein Defizit neutestamentlicher Wissenschaft dar, dass trotz der wahrgenommenen - teils vorangetriebenen, teils kritisch beurteilten[…] - Pluralisierung neutestamentlicher Wissenschaft die Person des Exegeten - außer im Sinne einer teilweise personenbezogenen Historiographie der neutestamentlichen Wissenschaft[…] - nicht eigens behandelt wird[…]. Auch an autobiographischen Reflexionen zur Person und Arbeit des Exegeten herrscht bislang ein Mangel“. Becker gab ebenfalls eine Anthologie autobiografischer Darstellungen Neutestamentlicher WissenschaftlerInnen heraus, dies. (H G .), Neutestamentliche Wissenschaft. - Diese Publikation hat ihre Vorläufer in der Systematischen und Praktischen Theologie: C. H ENNING / K. L EHMKÜHLER (H G .), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen; G. L ÄMMLIN / S. S CHOLPP (H G .), Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. 25 Siehe ausführlich Teil A Methodenreflexion. <?page no="22"?> 22 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens 1.4 Kontexte des Verstehens Die Debatte der evangelisch-theologischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts ist vor allem mit dem Namen des Neutestamentlers Rudolf Bultmanns verbunden. Sein Programm der ‚Entmythologisierung‘ und ‚existentialen Interpretation‘ des Neuen Testaments beherrschte in Zustimmung und Ablehnung die Diskussion um die allgemein-theologische Schriftauslegung für Jahrzehnte und trug wesentlich zu einem Bedeutungsschub der Hermeneutik innerhalb der Theologie bei. 26 Gerhard Ebeling 27 , Ernst Fuchs 28 u.a. formierten in kritischer Abhängigkeit von Bultmann die Neue Hermeneutik, die vor allem die sinnerschließende Funktion der Sprache neu bedachte und somit die Bultmannschen Themenvorgaben überwand, ohne sie erschöpfend bearbeitet zu haben. 29 Die 70-er Jahre stellten einen tiefgreifenden Einschnitt dar. In dieser Zeit kam es zu einer überaus produktiven Vervielfältigung hermeneutischer Themenstellungen, aber auch zu neuen Problemlagen. Ich führe diese Zäsur insbesondere auf die diskursiven Ereignisse der westlichen Kulturrevolution zurück, die im Kontext der Studentenproteste der 68er Demonstrationen entstanden sind. 30 Neben die klassischen Themenfelder der Neutestamentlichen Hermeneutik wie Geschichte, Sprachlichkeit und Theologizität traten nun politische Fragenkreise und verstärkt methodische Innovationen aus den Sozial-, Human- und Literaturwissenschaften hinzu. Die bisherige Übersichtlichkeit und relative Stringenz der Themenfelder wurde dabei von der Komplexität und Segmentarisierung gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und somit auch hermeneutischer Prozesse überrollt. In diesem äußerst spannungsreichen und disparaten Kontext entstand ab dem Ende der 70er Jahre allmählich eine Reihe wichtiger neutestamentlich-hermeneutischer Gesamtdarstellungen, an denen dieser Diversifizierungsprozess deutlich abgelesen werden kann: 1979 publizierte Peter Stuhlmacher seine Hermeneutik ‚Vom Verstehen des Neuen Testaments‘. 31 Sie bemüht sich, die widerstreitenden kirchlichen Parteiungen im Streit um die Schriftauslegung zu versöhnen, indem sie sie auf die Klassiker evangelischer Identität, Bibel und Bekenntnis, zu verpflichten 26 Vgl. E. F UCHS , Zum hermeneutischen Problem in der Theologie; G. B ORNKAMM , Die Theologie Bultmanns. 27 G. E BELING , Einführung in die theologische Sprachlehre. 28 E. F UCHS , Marburger Hermeneutik. 29 Siehe hierzu auch P. R ICŒUR / E. J ÜNGEL , Metapher. 30 Während der Begriff ‚Studentenproteste‘ eng auf die Demonstrationen und politischen Forderungen der späten 60er Jahre einzugrenzen ist, verstehe ich den Terminus westliche Kulturrevolution umfassend als gesellschaftliches Phänomen der 60er und besonders der 70er Jahre, welches in politischer, wissenschaftlicher und kultureller Hinsicht deutliche Umbrüche innerhalb der westlich-kapitalistischen Staaten einleitete, vgl. H. G LASER , Deutsche Kultur, 327-341. 31 P. S TUHLMACHER , Vom Verstehen des Neuen Testaments. <?page no="23"?> 1.4 Kontexte des Verstehens 23 sucht. Damit reagiert Stuhlmachers Hermeneutik auf die innerkirchliche Flügelbildung, die als Nach-68er-Effekt in den 70er Jahren manche Landeskirchen zu zerreißen drohte. 32 1986 erschien Hans Weders ‚Neutestamentliche Hermeneutik‘, die nach eigenen Angaben ein „stetiges implizites Gespräch mit historisch-kritischen, psychologischen, soziologischen und linguistischen Erkenntnisweisen“ führt. 33 Den neuen methodischen Ansätzen begegnet Weder insgesamt skeptisch und lehnt sie aufgrund hermeneutischtheologischer Überlegungen weitgehend ab. 34 Zwei Jahre später veröffentlichte Klaus Berger seine ‚Hermeneutik des Neuen Testaments‘. 35 Sie rezipiert offensiv - aber auch kritisch - die Politisierung der Theologie, wie sie in der Auseinandersetzung mit Bultmanns existentieller Individualhermeneutik in den 70er Jahren vorangetrieben worden ist 36 und besonders in Form der lateinamerikanischen Befreiungstheologie für die kirchliche ‚Linke‘ prägend wurde. 37 Elisabeth Schüssler Fiorenzas feministisch-hermeneutischer Ansatz wurde 1988 durch die Übersetzung ihrer beiden Bücher ‚In Memory of her‘ und ‚Bread not Stone‘ in der deutschsprachigen Theologie wirksam. 38 In ihnen spiegelt sich vor allem die theologische und wissenschaftstheoretische Reflexion der gesellschaftlichen Frauenemanzipation jener Zeit wider. Ich beschränke mich weitgehend auf ‚Brot statt Steine‘, da E. Schüssler Fiorenza hier eine Weiterentwicklung ihres hermeneutischen Ansatzes aus ‚Zu ihrem 32 Die höchst energischen Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Landeskirchen wurden insbesondere von konservativen Protestanten in Analogie zu den Geschehnissen der Kirchen im Nationalsozialismus gesetzt, wie beispielsweise folgende Wortmeldung des Erlanger Dogmatikers W. Künneth während der Frühjahrssynode der ELKiB 1970 dokumentiert: „Liebe Konsynodale, ich weiß wohl - die Aussprache hat es mir wieder bedrückend klar gemacht, dass viele unter uns immer noch nicht verstanden haben, dass wir uns mitten in einem sehr ernsten zweiten Kirchenkampf befinden. Dieser Kirchenkampf ist viel ernster als der erste“, aus: (D ER ) P RÄSIDENT DER L ANDESSYNODE (H G .), Verhandlungen der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 80. Den Hinweis auf W. Künneth verdanke ich Angela Hager. Sie arbeitet zum Thema ‚Reformgruppierungen der bayerischen Landeskirche 1966-76‘. Siehe auch H. B LENDINGER , Aufbruch der Kirche in die Moderne, 119-269, zur Vokabel ‚Kirchenkampf‘ a.a.O., 199f. 33 H. W EDER , Neutestamentliche Hermeneutik, 5. 34 Siehe hierzu besonders H. W EDER , Zu neuen Ufern? , 144. 35 K. B ERGER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 1988. 36 Zur Kritik der Politischen Theologie an Bultmann siehe D. S ÖLLE , Politische Theologie. 37 K. B ERGER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 1988, 18: „Modell des Vorgehens ist nicht ein Ausgehen vom ‚Recht des Wortes Gottes‘ jetzt - vielmehr setzt Theologie ‚von unten her‘ ein bei der Erfahrung von Not, und sie hat ihr Kriterium nicht in vermeintlicher oder wirklicher Adäquatheit zum biblischen Text, sondern in wirksamer, ‚befreiender‘ praktischer Funktion“. 38 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Bread Not Stone : The Challenge of Feminist Biblical Interpretation 1984/ dt: Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, 1988 [1991 2 ]; dies., In Memory of Her : A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins …, 1983/ dt.: Zu ihrem Gedächtnis… Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, 1988 [1993 2 ]. <?page no="24"?> 24 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens Gedächtnis …‘ vorgelegt hat. 39 Klaus Berger legte 1999 noch einmal eine Neufassung seines hermeneutischen Ansatzes vor, der prinzipiell den ersten Entwurf fortführt, darüber hinaus verstärkt an postmoderne Wirklichkeitsmuster inklusive des neureligiösen Spiritualitätspostulats anschließt. 40 Die genannten Entwürfe stehen im Zentrum des Interesses der vorliegenden Untersuchung. Ich habe mich bei der Auswahl auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Ich halte diese Eingrenzung für notwendig, um konkret und quellennah ein übersichtliches Diskursfeld methodisch sinnvoll in Blick nehmen zu können. Der hermeneutische Entwurf von E. Schüssler Fiorenza bildet jedoch einen Sonderfall. Er ist zuerst in Englisch verfasst (s.o.), wird in der deutschsprachigen Hermeneutikdiskussion i.d.R. aber auf Deutsch rezipiert. Aufgrund der Schlüsselrolle Schüssler Fiorenzas für die deutschsprachige feministische Theologie und der entsprechend breiten Rezeption ihrer Übersetzungen kann sie hier nicht unberücksichtigt bleiben. Daher werde ich selbst ihre deutschen - und von ihr autorisierten - Übersetzungen für meine Arbeit als Quellenbasis benutzen. Die Bedeutung dieser vier Entwürfe für die letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht anhand eines einzigen Kriteriums nachzeichnen. Die Neutestamentliche Wissenschaft kennt glücklicherweise keine ‚Charts‘, denen ein zugewiesener Listenplatz zu entnehmen wäre. Daher möchte ich anhand mehrerer Indikatoren, die nur zusammengenommen ein aussagefähiges Bild ergeben können, die Bedeutung dieser vier Entwürfe darstellen. Dies sind Verlag, Reihe, Auflagen, Rezensionen und Rezeption: Verlag Verlage haben in der Regel ein bestimmtes Profil und sind darauf bedacht, ihr eigenes Ansehen durch profilkonforme Publikationen zu verstärken. P. Stuhlmacher publizierte seine Hermeneutik im Vandenhoeck & Ruprecht-Verlag, welcher vor allem geisteswissenschaftliche Publikationen in seinem Programm hat. 41 K. Bergers Hermeneutik von 1988 erschien im Gütersloher Verlagshaus, einer Sektion der Bertelsmann-Gruppe, dessen Angebot ausschließlich theologisch-religiöse Literatur umfasst. 42 Die Verlegung K. Bergers Neukonzeption von 1999 erfolgte im Francke-Verlag, dessen umfangreiches Programm neben Publikationen aus den Geisteswissenschaften (z.B. Literaturwissenschaften, Theologie, Medienwissenschaften) auch die Bereiche Wirtschafts-, Sport- und Rechtswissenschaften bedient. 43 39 Vgl. E. S CHÜSSLER F IORENZA , Zu ihrem Gedächtnis, 70: „Der Ansatz dieses Kapitels ist weiterentwickelt und -ausgearbeitet in: Elisabeth Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, Freiburg (Schweiz) 1988“. 40 K. B ERGER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 1999. 41 http: / / www.v-r.de/ de (28.02.07). 42 http: / / www.gtvh-online.de (28.02.07). 43 http: / / www.narr.de (28.02.07). <?page no="25"?> 1.4 Kontexte des Verstehens 25 H. Weder veröffentlichte seine Hermeneutik im übersichtlichen Theologischen Verlag Zürich (TVZ), dessen Hauptaktionärin die Zürcher Kantonatskirche ist. Der Verlag hat ein reformiert-theologisches und gemeindeorientiertes Profil. 44 Und ‚Brot statt Steine‘, die deutschsprachige Übersetzung der Hermeneutik E. Schüssler Fiorenzas wurde im Exodus-Verlag aufgelegt. Dieser erst 1982 gegründete religiös-politische Verlag ist vor allem auf Publikationen aus den Bereichen Theologie der Befreiung, feministische Theologie und sozialgeschichtliche Bibellektüre spezialisiert. 45 Reihe Auch die etwaige Zugehörigkeit zu einer Reihe kann Aufschluss über die Bedeutung einer Publikation geben. In Reihen aufgenommen sind die Hermeneutiken von P. Stuhlmacher, H. Weder und die Neukonzeption K. Bergers von 1999: P. Stuhlmachers Hermeneutik wurde in der Kommentarreihe Neues Testament Deutsch (NTD) publiziert. 46 H. Weders Hermeneutik erschien in der TVZ-Reihe Zürcher Grundrisse zur Bibel. 47 Und K. Bergers Neukonzeption von 1999 wurde in die UTB-Reihe aufgenommen. 48 Auflagen Alle vier Entwürfe behaupteten sich erfolgreich auf dem Buchmarkt, so dass eine Neuauflage möglich wurde. E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder veröffentlichten ihre Hermeneutiken jeweils in einer zweiten Auflage. 49 K. Berger entschied sich für eine gründliche 44 http: / / www.tvz.ref.ch (28.02.07). 45 http: / / www.kath.ch/ exodus (28.02.07). 46 Vgl. die verlagseigene Kommentierung: „Der vollständige, aktualisierte Überblickskommentar zum Neuen Testament bietet in jedem Band Übersetzungen, Erklärungen, thematisch übergreifende Exkurse sowie Literaturhinweise. Wissenschaftliche Qualität, verständliche Darstellungen und günstiger Preis haben diese Kommentarreihe seit Jahrzehnten zu einem Standardwerk für Pfarrer, Lehrer, Studenten und kirchliche Mitarbeiter/ innen gemacht“, http: / / v-r.de/ de/ reihen/ 516/ (28.02.07.) 47 Diese Reihe ergänzt den Zürcher Bibelkommentar des TVZ mit weitgehend hermeneutisch ausgerichteten Beiträgen. Vgl. die Titel weiterer Publikationen in der Reihe der Zürcher Grundrisse zur Bibel: D. L ÜHRMANN , Auslegung des Neuen Testaments; S. S CHULZ , Neutestamentliche Ethik; H. VON L IPS , Der Neutestamentliche Kanon. 48 UTB (Uni-Taschenbücher) ist ein Zusammenschluss verschiedener Wissenschaftsverlage: „2001 umfasst das UTB-Programm nahezu 1.000 lieferbare Titel aus ca. 30 Fachbereiche [sic! ] - von den Agrarwissenschaften über Geowissenschaften, Literaturwissenschaften, Theologie bis hin zu den Wirtschaftswissenschaften. Für den anhaltenden Erfolg der UTB gibt es mehrere Gründe: die Kontinuität in der Programmqualität, das Bedürfnis der Studierenden nach qualitativ hochwertigen und dennoch erschwinglichen Lehrbüchern und nicht zuletzt die Dialogfähigkeit zwischen den Gesellschaftern mit der Bereitschaft zu Offenheit und Zusammenarbeit“, http: / / www.utb.de/ geschichte_utb.html. (28.02.07). 49 So P. Stuhlmacher 1986 als neubearbeitete und erweiterte Auflage; H. Weder 1989 als zweite und durchgesehene Auflage und E. Schüssler Fiorenza 1991 als zweite und unveränderte Auflage. <?page no="26"?> 26 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens Revision von Konzept und Text, nachdem seine Hermeneutik des Neuen Testaments von 1988 vergriffen war. 50 Rezensionen Rezensionen orientieren in der Publikationsflut über wichtige Neuerscheinungen. „Diese Orientierungsfunktion läuft zunächst über Selektion, indem das Rezensionswesen die Menge der fachspezifisch einschlägigen Bücher in die der rezensierten und jener der (vorerst nur von ihm) ignorierten zerteilt - diese derart als mutmaßlich irrelevant etikettierend. Rezensierte Bücher nämlich haben die Vermutung für sich, in Affirmation oder Kritik rezensionswürdige Bücher zu sein“. 51 Daher gilt: Eine schlechte Rezension ist besser als keine. Die Entwürfe von E. Schüssler Fiorenza 52 , P. Stuhlmacher 53 und H. Weder 54 sind u.a. in der Theologischen Literaturzeitung besprochen worden, dem Standardorgan des evangelisch-theologischen Rezensionswesens im deutschen Sprachraum. Interessanterweise sind K. Bergers beide Hermeneutiken hier nicht aufgeführt. Daher verweise ich auf zwei Rezensionen seines hermeneutischen Ansatzes durch Hans Weder in der Theologischen Rundschau 55 und der Evangelischen Theologie 56 , 50 K. B ERGER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 1999, IX. 51 M. H UBER / P. S TROHSCHNEIDER / H. V ÖGEL , Rezension und Rezensionswesen, 284. 52 J.C. J ANOWSKI , Rez.: Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Bread not Stone. Janowski resümiert nach einigen Anfragen zu Schüssler Fiorenzas Wissenschaftskritik: „Doch haben alle diese Einwände durchaus nicht die Absicht, den patriarchats- und androzentrismuskritischen Impetus dieses Entwurfes samt seines Vorstoßes zu anderen, auch wissenschaftlich ernst zu nehmenden Formen von Interpretation und Kirche abzuwürgen. Auch soll das sachliche und intellektuelle Profil dieses gesamttheologisch bedeutsamen Entwurfs nicht verkleinert werden. Man kann sich an ihm - mindestens! - deutlich und produktiv reiben“, a.a.O., 631. - Vgl. H. F RANKEMÖLLE , Rez.: Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Brot statt Steine und W. S TEGEMANN , Rez.: E. Schüssler Fiorenza. Zu ihrem Gedächtnis. 53 G. H AUFE , Rez.: Stuhlmacher, Peter, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Haufe kritisiert Stuhlmachers Ausführungen zu Schriftinspiration und Sachkritik sowie dessen Konzentration der neutestamentlichen Heilsbotschaft auf die Versöhnung. Dennoch kann Haufe resümieren: „Der Autor hat ein mutiges und ohne Zweifel notwendiges Buch vorgelegt, das zu selbständiger Weiterarbeit einladen sollte“, a.a.O., 39. - Siehe auch die weitgehend ablehnende Rezension von G. H ORNIG , Textinterpretation und Hermeneutik des Einverständnisses. 54 P. S TUHLMACHER , Rez.: Weder, Hans, Neutestamentliche Hermeneutik. „Inmitten der unübersehbaren Flut von buchstäblich ‚überflüssigen‘ theologischen Publikationen hat Weder ein notwendiges Buch geschrieben. Es bereichert und belebt die hermeneutische Diskussion und führt Studenten, Lehrer und Pfarrer in gelungener Art und Weise in ihre Auslegungsarbeit ein“, a.a.O., 679f. - Siehe auch F. M ILDENBERGER , Rez.: Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik und Klaus Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments. 55 H. W EDER , Kritische Hermeneutik? 56 H. W EDER , Mein hermeneutisches Anliegen im Gegenüber zu Klaus Bergers Hermeneutik des Neuen Testaments; ders., Einige Bemerkungen zu Klaus Bergers Aufsatz. <?page no="27"?> 1.4 Kontexte des Verstehens 27 auf die ich in der Diskurskritik näher eingehen werde 57 , sowie eine Besprechung von Friedrich Mildenberger 58 . Rezeption Ich beschränke mich hier auf die Rezeption in neutestamentlichen Lehrbüchern. Da Lehrbücher aus didaktischen Gründen die Stofffülle auf das, was in den Augen der LehrbuchproduzentInnen als wesentlich erscheint, elementarisieren, kann eine dortige Rezeption wichtige Hinweise zur Bedeutung liefern. 59 Nur in einem neutestamentlichen Lehrbuch erscheinen alle vier Ansätze gemeinsam (s.u.). Sie bilden also noch keinen festen ‚Kanon‘ als Hauptentwürfe Neutestamentlicher Hermeneutik des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Aber sie durchziehen insgesamt die hermeneutischen Darstellungen aktueller neutestamentlicher Lehrbücher: Hans Conzelmann/ Andreas Lindemann besprechen knapp Stuhlmachers und Weders Ansätze. 60 Klaus Berger diskutiert in seinem exegetischen Methodenbuch neben seinem eigenen Ansatz Weders Hermeneutik, übergeht jedoch Stuhlmacher und Schüssler Fiorenza. 61 Thomas Söding kommentiert in seinem Literaturteil Berger, Stuhlmacher und Weder. 62 Wolfgang Fenske formuliert in seinem Lehrbuch: „Wichtige Werke hierzu [zur Neutestamentlichen Hermeneutik] sind Weder (Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986) und Berger (Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988)“. 63 Darüber hinaus führt er in den feministisch-hermeneutischen Ansatz - insbesondere von E. Schüssler Fiorenza - ein. 64 Martin Meiser nennt alle vier Entwürfe im Literaturverzeichnis. 65 Und Udo Schnelle geht ausführlich auf Schüssler Fiorenzas Ansatz ein. 66 Ferner erwähnt er P. Stuhlmachers biblisch-theologische Intention. 67 57 Siehe Teil C, Diskurskritik. Auswertung der Untersuchungen, 12.1.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen. Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten. 58 F. M ILDENBERGER , Rez.: Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik und Klaus Berger. Mildenberger kritisiert grundsätzlich Bergers Trennung von Exegese und Applikation: „Ich kann hier nur noch einmal meine Schwierigkeiten notieren, zu einem konsistenten Verständnis zu kommen. Offensichtlich fehlt mir ein Konsens mit der Ethik, auf der Berger immer wieder insistiert“, a.a.O., 43. 59 Vgl. K. S TÜSSEL , Zwischen Kompendium und ›Einführung‹. 60 H. C ONZELMANN / A. L INDEMANN , Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 4. 61 K. B ERGER , Exegese des Neuen Testaments, 242-246. 62 T. S ÖDING , Wege der Schriftauslegung, 336. 63 W. F ENSKE , Arbeitsbuch zur Exegese des Neuen Testaments, 67. 64 A.a.O., 68-70. 65 M. M EISER / U. K ÜHNEWEG u.a., Proseminar II. Neues Testament - Kirchengeschichte, 116- 124. 66 U. S CHNELLE , Einführung in die neutestamentliche Exegese, 195-198. 67 A.a.O., 185. <?page no="28"?> 28 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens 1994 fand in Tübingen eine Ringvorlesung zur Neutestamentlichen Hermeneutik statt. Die Teilnahme von K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder unterstreicht zusätzlich deren Bedeutung für die Neutestamentliche Hermeneutik jener Zeit. 68 Ebenso weist der Beitrag von E. Schüssler Fiorenza zum Themenschwerpunkt ‚Hermeneutik‘ der Berliner Theologischen Zeitschrift auf die Relevanz ihres Ansatzes für die Diskussion zur theologischen Schriftinterpretation hin. 69 Es gibt keine weiteren neutestamentlich-hermeneutischen Ansätze jener Zeit, die mit dieser Bedeutung vergleichbar wären. Ich halte daher fest: Die deutschsprachige Neutestamentliche Hermeneutikdebatte der letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts lässt sich schwerpunktartig mit den Konzeptionen von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder beleuchten. Zugleich konnten die vier Entwürfe insgesamt betrachtet das Problem der Schriftinterpretation in seiner Relevanz für die Theologie und den Glauben der Kirche nicht lösen - unbeschadet ihrer bedeutenden Leistungen für die Theoriebildung zur Bibelauslegung. Vielmehr verschärfte sich infolge deren Heterogenität, Exklusivität und Partialität weiterhin das Problem der Schriftauslegung. So stehen sich exemplarisch P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses und das Programm E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik des Verdachts unversöhnlich und konkurrierend gegenüber (zahlreiche weitere unüberbrückbare Differenzen werden im Verlauf dieser Untersuchung sichtbar werden). Es ist an der Zeit, dieses wichtige und überaus interessante Debattensegment der Neutestamentlichen Hermeneutik kritisch aufzuarbeiten - zumal es sich nun zur Gegenwart hin sinnvoll abgrenzen lässt, seitdem mit den Entwürfen von Eckart Reinmuth und Oda Wischmeyer ein neuer Verstehenstypus der biblischen Schriften vorgelegt wurde, der verstärkt in die übergreifende kulturwissenschaftliche Debattenlage eingebunden ist, wie sie insbesondere im Schnittfeld von Geschichts- und Literaturwissenschaften neue Interpretationsperspektiven hervorbringt. 70 68 Die Beiträge sind abgedruckt in: ZThK (Beiheft 9) 1995: H. W EDER , Die Energie des Evangeliums; K. B ERGER , Loyalität; P. S TUHLMACHER , ‚Aus Glauben zum Glauben‘. 69 E. Schüssler Fiorenza, Gleichheit und Differenz. Christof Gestrich schreibt im Vorwort zu diesem Themenheft: „Heute wurde ‚Hermeineutik [sic! ]‘ aber eine zentrale kulturwissenschaftliche Fragestellung, die auch in der Theologie nicht übergangen werden kann. Einige unserer folgenden Beiträge beleuchten aktuelle theologische, z.B. feministische Hermeneutikfragestellungen und -anwendungen“, C. G ESTRICH , Vorwort. 70 E. R EINMUTH , Hermeneutik des Neuen Testaments. Reinmuth führt knapp in die aktuellen postmodernen Diskurse der Geschichtswissenschaften und der literaturwissenschaftlichen Leseforschung ein. Ausführlich stellt O. Wischmeyer die neutestamentliche Hermeneutik in den Kontext der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten und reflektiert das Verstehen des Neuen Testaments vor allem in seinen historischen, rezeptionsästhetischen, textuellen und intertextuellen Dimensionen, O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments. <?page no="29"?> 1.5 Ideologien des Verstehens 29 1.5 Ideologien des Verstehens Ich fasse zusammen: Die vier hermeneutischen Positionen von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder lassen sich als Hauptentwürfe eines zeitlich, örtlich und fachspezifisch abgrenzbaren Debattensegments zur akademischen Schriftauslegung begreifen. Sie spiegeln in ihrer Verschiedenheit die heterogene Situation wider, wie sie gesellschaftlich, wissenschaftlich und theologisch aus den kulturellen Veränderungen der 70er Jahre hervorgegangen ist. Dabei beziehen die vier Entwürfe deutlich Position, werten, schließen sich gegenseitig aus und suchen das Gespräch untereinander. In ihnen ereignet sich ein Ringen um Wahrheit, d.h. eine Auseinandersetzung um den philologisch, exegetisch und theologisch angemessenen Weg biblischer Textinterpretation. Die jeweilige Argumentationsführung ist hierbei keineswegs interessenlos, sondern von partikular-gesellschaftlichen Interessen, positionelltheologischen Anliegen, parzellierenden Diskursvorgaben etc. geprägt. Diese bestimmen die Ansätze in ihrer Exklusivität maßgeblich, wodurch aus scheinbar harmlos spielenden Positionen des Verstehens widerstreitende Ideologien des Verstehens werden - Argumentationskomplexe, die den Machtbereich ihrer jeweiligen Verweisorgane, d.h. Institutionen, Gruppierungen oder auch nur Einzelpersonen, präsentieren, sichern und erweitern wollen. Die Gesamtuntersuchung gliedert sich in folgende vier Hauptabschnitte: T EIL A stellt die kulturwissenschaftliche Methodik vor, mit der ich die vier Entwürfe betrachte. Es handelt sich dabei um ein Methodenbündel aus allgemeiner Textanalyse, Ideologiekritik und Diskursanalyse. Ich führe knapp in die ideologiekritische und diskursanalytische Forschung ein und entwickle anschließend die konkreten Analyseschritte, mit denen ich die vier Entwürfe untersuchen werde. 71 T EIL B führt die allgemein-textanalytischen, ideologiekritischen und diskursanalytischen Einzeluntersuchungen an den vier Neutestamentlichen Hermeneutiken durch. Bei E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder beschränke ich mich weitgehend auf die jeweiligen Zweitauflagen, da sie den fortgeschrittenen Diskussionsprozess widerspiegeln. Bei K. Berger nehme ich neben der Neufassung von 1999 zusätzlich Abschnitte seiner Hermeneutik von 1988 hinzu, welche in der Konzeption von 1999 aus Platzgründen zwar ausgespart sind, auf die Berger jedoch ausdrücklich verweist. 72 71 Siehe besonders 3.4.4 Ideologie als Aufdeckung diskursiver Strukturen der Ideologie, und 4.6.4 Diskursanalyse als Ermittlung diskursiver Bezüge und Diskurskritik als vergleichende Interpretation. 72 Siehe 6.1 Untersuchungen bei Klaus Berger, Allgemeine Textanalyse. Textinhalt - Wertung - Pragmatik. <?page no="30"?> 30 1 Einleitung. Ideologien des Verstehens T EIL C reflektiert die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen. Dies geschieht erstens anhand eines synoptischen Vergleiches, welcher Gemeinsamkeiten, Differenzen und Leerstellen der vier hermeneutischen Positionen zusammenstellt. Zweitens beleuchte ich die vier Ansätze in ihrer Relation zu beteiligten Institutionen und Machtdimensionen und skizziere den Selbstanspruch der vier Entwürfe. Drittens bündelt eine Charakterisierung des jeweiligen hermeneutischen Profils die Untersuchungsergebnisse. T EIL D überprüft die Ergebnisse der Gesamtuntersuchung. Dazu nehme ich vier exegetische Texte derselben AutorInnen in den Blick und frage, inwiefern sich das jeweilige hermeneutische Profil in deren konkret-exegetischer Tätigkeit widerspiegelt. Dieser Arbeitsschritt dient zum einen der Verifikation der gewonnen Ergebnisse, zum anderen möchte ich damit zeigen, wie der Methodengebrauch, welcher üblicherweise als regelgeleitete Verobjektivierung des Textverständnisses betrachtet wird, eminent von den hermeneutischen Prämissen seiner AnwenderInnen gelenkt wird. Ein Rückblick formuliert im Anschluss an die Untersuchungsresultate Konsequenzen, Aufgaben und Potentiale für eine Neutestamentliche Hermeneutik. <?page no="31"?> Teil A Methodenreflexion <?page no="33"?> 2 Einführung in die Gesamtuntersuchung: Allgemeine Textanalyse - Ideologiekritik - Diskursanalyse Die vier neutestamentlich-hermeneutischen Ansätze von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder werde ich mit einer Methodenkombination aus allgemeiner Textanalyse, Ideologiekritik und Diskursanalyse untersuchen. Die allgemeine Textanalyse hat die Funktion, den Textbestand zu sichten und den Aussagenbestand darzustellen. Dies geschieht anhand der drei Kategorien Inhalt, Wertung und Pragmatik: Inhalt Die Inhaltsangabe soll die „bedeutungsmäßige sinnmäßige begriffliche Seite sprachlicher Einheiten“ erfassen. 1 Sie benennt den thematischen Gehalt der Hermeneutiken. Ich orientiere mich dabei an der Erzählstruktur der vorliegenden Texte. Wertung Die Wertung der einzelnen Aussagen ist in die Inhaltsangabe integriert. Sie beschreibt die Konnotationen, mit welchen die AutorInnen konkrete Inhalte versehen. 2 Pragmatik Die Pragmatik schließt sich daran gesondert an. Sie rekonstruiert die Einstellungen und Dispositionen, welche die AutorInnen bei ihrer Leserschaft bewirken möchten. 3 Mit diesem Dreischritt bereitet die allgemeine Textanalyse die weiteren Untersuchungen vor. Ideologiekritik und Diskursanalyse verbindet die Ausgangsthese, dass Aussagen im allgemeinen und Wissensproduktion im speziellen von kulturellen Faktoren determiniert werden. Beide Theorieansätze sehen die schöpferische Tätigkeit von Individuen, Subjekten oder AutorInnen in ein Netz von Voraussetzungen eingebunden, welche auf die Sprache, den Inhalt und die Anordnung von Aussagen einwirken. Diesen Vorgang nachzuzeichnen, ist gemeinsame Intention von Ideologiekritik und Diskursanalyse. 1 T. L EWANDOWSKI , Art. Inhalt, 448. Siehe vertiefend W. F RÜH , Inhaltsanalyse. 2 Vgl. zum Begriff der Konnotation T. L EWANDOWSKI , Art. Konnotation und ders., Art. Konnotative Bedeutung. 3 Die Pragmatik befragt die zu analysierenden Texte nach Handlungsanweisungen und Leselenkungen und untersucht somit die Wirkabsicht von Texten, siehe vertiefend K.P. M ÜLLER , Art. Pragmatik. <?page no="34"?> 34 2 Einführung in die Gesamtuntersuchung Damit gehören beide Ansätze zur literatursoziologischen Bewegung 4 , die seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die Beziehung zwischen Literatur, Gesellschaft und Kultur reflektiert und neue Fragestellungen und Methoden in die Analyse von Texten eingeführt hat. 5 Die hermeneutische Interpretation als Königsweg wurde dabei entthront und durch das Interesse an der Literaturproduktion in Abhängigkeit von Wissen, Macht und Konstruktion relativiert. Als cultural turn 6 vollzog dieser Blickwechsel eine eminente transdisziplinäre Perspektivenerweiterung. Denn anhand des ebenso integrativen wie differenzierenden Leitbegriffs Kultur konnten nun neue Forschungsstrategien entwickelt werden, welche auf die Hyperspezialisierung in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen reagierten, um die voranschreitende Parzellierung im Bereich der Geisteswissenschaften zu überwinden. 7 Gleichzeitig bewirkte der damit in Gang gesetzte „methodologische Modernisierungsschub“ 8 eine Vielzahl miteinander konkurrierender Verfahren. Diese gesteigerte Pluralität nebeneinander verwendeter Methoden bezieht sich heute sowohl auf die Auswahl geeigneter textanalytischer Verfahren als auch auf die symbiotische Kombination verschiedener Methoden. Ich sehe darin vor allem eine Chance für den praktischen Umgang mit Texten: ein allgemein verbindliches und anerkanntes Instrumentarium - falls es das jemals gab - weicht der Vielfalt unterschiedlicher Fokussierungen auf die Texte und birgt innovatives Potential, durch Relecture und Kombinationswechsel den Blick neu und anders auf Texte zu richten, d.h. Verstehen neu zu konstruieren. Meine Untersuchung vier neutestamentlicher Hermeneutiken ist solch eine Konstruktion neuen Verstehens. Denn sie zeichnet nicht nur deren bloßen Aussagenbestand nach, sondern setzt sich vielmehr zum Ziel, die vier Ansätze einem Verstehen zuzuführen, welches die einzelnen Entwürfe in ihrer Abhängigkeit von sozio-kulturellen Faktoren begreift. Die Methodenreflexion zu Ideologiekritik und Diskursanalyse in den folgenden zwei Kapi- 4 Die Literatursoziologie als eigene Forschungsrichtung der Linguistik zeichnet die Einwirkung von soziologischen Faktoren auf die Textproduktion nach, vgl. A. D ÖRNER / L. V OGT , Literatursoziologie, besonders zu Ideologiekritik und Diskursanalyse a.a.O., 34-39 und 87f; D. H YMES , Soziolinguistik; P. W EINGART , Wissensproduktion und soziale Struktur. 5 Vgl. K.-M. B OGDAL , Einleitung: Von der Methode zur Theorie. Zum Stand der Dinge in den Literaturwissenschaften. Bogdal skizziert den zeitgeschichtlichen Bezugsrahmen vor allem auf dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Umbrüche von 1968, a.a.O., 16-20. 6 Vgl. insgesamt D. B ACHMANN -M EDICK , Cultural Turns. 7 Vgl. einführend H. B ÖHME / P. M ATUSCHEK / L. M ÜLLER , Orientierung Kulturwissenschaft; M. F AUSER , Einführung in die Kulturwissenschaft; R. K ONERSMANN , Cultural Turn: Beweggründe, Ausdrucksformen, Konsequenzen. - Siehe zur Rezeption des cultural turn in der neutestamentlichen Wissenschaft C. S TRECKER , „Turn! Turn! Turn! To Everything There Is a Season“. Die Herausforderungen des cultural turn für die neutestamentliche Exegese. 8 Vgl. K.-M. B OGDAL , Einleitung: Von der Methode zur Theorie. Zum Stand der Dinge in den Literaturwissenschaften, 22. <?page no="35"?> 2 Einführung in die Gesamtuntersuchung 35 teln liegt vor allem in der Befragung dieser Forschungsfelder nach konkreten Umsetzungsmöglichkeiten in Blick auf die Analyse der zu untersuchenden vier hermeneutischen Ansätze. Ich verstehe meine Methodenreflexion nicht als eigenständigen Beitrag zur ideologiekritischen oder diskursanalytischen Theoriediskussion, sondern als Methodentransfer für den wissenschaftlichtheologischen Umgang mit Texten und orientiere mich deshalb am Kriterium der spezifischen Anwendbarkeit. <?page no="37"?> 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik Ideologiekritik ist kein homogenes Methodensystem. Vielmehr vereint sie unter einem Dach eine Vielzahl von Ansätzen und Positionierungen, die sich vor allem aufgrund ihrer eigenen ideologischen Herkunft marxistischer, positivistischer, bürgerlicher, strukturalistischer oder anderer Prägung 1 erheblich voneinander unterscheiden können. Die Differenzen betreffen den jeweils zugrunde gelegten Ideologiebegriff, die Methodenwahl sowie leitende Fragestellungen und Intentionen. 2 3.1 Was leistet Ideologiekritik? Detlev Schöttker bestimmt in seiner knappen Rahmendefinition Ideologiekritik als „Aufdeckung der Standort- und Interessengebundenheit von Ideen, Meinungen und Theorien“. 3 Diese allgemeine Definition leistet die Integration sehr unterschiedlicher ideologiekritischer Ansätze, denn sie ist noch unabhängig von einem konkret-spezifischen Verständnis des Ideologiebegriffs. Daraus folgt in Bezug auf meinen Untersuchungsgegenstand: Die Ideologiekritik hat hier die Funktion, konkrete Standort- und Interessengebundenheiten aufzudecken und nachzuzeichnen, wie diese die Positionierungen in den neutestamentlich-hermeneutischen Entwürfen von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder formieren. 3.2 Was ist Ideologie? Weit schwieriger als die Aufgabenbestimmung der Ideologiekritik gestaltet sich die Definition, Be- oder Umschreibung des Ideologiebegriffs. Denn dieser Terminus ist polysemant wie kaum ein anderer, wodurch er von Kontext zu Kontext von einer Bedeutung zur anderen mutieren kann. Nahezu alle Arbeiten zum Ideologieproblem beginnen daher mit der Feststellung, dass kaum ein anderer Begriff der wissenschaftlichen Diskussion so verschieden 1 Vgl. zur Klassifikation von Ideologien und ideologiekritischen Ansätzen G. M OZETIĆ , Art. Ideologie, -kritik, 288: „Man kann zwischen positiven und negativen, bürgerlichen und sozialistischen, deskriptiven und normativen, und vermutlich noch vielen anderen I[deologie].begriffen unterscheiden“. 2 Diese Methodenreflexion kann es nicht leisten, die Forschungsgeschichte zur Ideologiethematik ausführlich darzustellen. Zur Vertiefung verweise ich auf folgende Einführungsliteratur: K. L ENK , Problemgeschichtliche Einleitung; G. H AUCK , Einführung in die Ideologiekritik; P ROJEKT I DEOLOGIE -T HEORIE , Theorien über Ideologie; D. S CHÖTTKER , Art. Ideologiekritik; H.-J. S ANDKÜHLER , Art. Ideologie. 3 D. S CHÖTTKER , Art. Ideologiekritik, 121. <?page no="38"?> 38 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik und verwirrend unklar besetzt ist. 4 Terry Eagleton hat unterschiedliche Definitionsmöglichkeiten zusammengestellt, die „nur einige der gegenwärtig zirkulierenden Begriffsbestimmungen“ aufzeigen. 5 Ideologie kann demnach verstanden werden als: „a) prozeßhafte Produktion von Bedeutungen, Zeichen und Werten im gesellschaftlichen Leben b) Korpus von Ideen, die für eine bestimmte soziale Gruppe oder Klasse charakteristisch sind c) Vorstellungen, die dazu beitragen, eine herrschende politische Macht zu legitimieren d) falsche Vorstellungen, die dazu beitragen, eine herrschende politische Macht zu legitimieren e) systematisch verzerrte Kommunikation f) etwas, was dem Subjekt erlaubt, Stellung zu beziehen g) gesellschaftlich motivierte Denkweisen h) Identitätsdenken i) sozial notwendige Illusion j) Zusammentreffen von Macht und Diskurs k) Medium, in dem gesellschaftlich handelnde Personen eine sinnvolle Welt gestalten l) handlungsorientierter Komplex von Überzeugungen m) Vermischung sprachlicher und phänomenaler Wirklichkeit n) semiotische Schließung o) Medium, innerhalb dessen Einzelne ihre Beziehung als soziale Struktur erleben p) Vorgang, durch den gesellschaftliches Leben in naturgegebene Wirklichkeit verwandelt wird“. 6 Im allgemeinen Sprachgebrauch hat der Ideologiebegriff eine ausschließlich negative Bedeutung. Umgangssprachlich meint Ideologie eine Deutung von 4 Vgl. H.J. L IEBER , Ideologie, 13; R. B OUDON , Ideologie, 25-33; H.-J. S ANDKÜHLER , Art. Ideologie, 616; G. M OZETIČ , Art. Ideologie, -kritik, 288; E AGLETON , Ideologie, 7; A. G RAMSCI , Philosophie der Praxis, 169; A. G RIEDER , „Ideologie“ - Unbegriffenes an einem abgegriffenen Begriff. Grieder konstatiert, „[f]ällt heutzutage das Wort „Ideologie“, so weiß man ohne weitere Erklärung nur sehr ungenau, was gemeint ist“, a.a.O., 17. 5 T. E AGLETON , Ideologie, 7. 6 A.a.O., 7f. <?page no="39"?> 3.2 Was ist Ideologie? 39 Wirklichkeit, die nicht dem eigenen Standort entspricht, auf jeden Fall falsch, darüber hinaus unbegründet, willkürlich oder durch oppositionelle Interessen verzerrt ist. 7 Innerhalb der wissenschaftlichen Theoriediskussion ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild, das sich auf drei Wertungstypen und zwei Beschreibungsformen zurückführen lässt: So wird Ideologie im akademischen Kontext wie in der Alltagssprache pejorativ verwendet. 8 Ebenso kann Ideologie aber auch als sinnstiftend, Orientierung-vermittelnd und daher notwendig erachtet werden. 9 Schließlich kann Ideologie als ambivalentes Phänomen verstanden werden. 10 Neben der Wertung des Ideologiebegriffs ist ebenso dessen phänomenologische Betrachtung umstritten: Ideologien können stärker inhaltlich 11 oder eher strukturell 12 erfasst werden. Bei der Konstruktion ideologietheoretischer Definitionen und Klassifikationen stellt sich das Problem der ideologischen Selbstreferenz ein: Einteilungen und Zuweisungen erfolgen stets selbst aufgrund ideologischer Vorstellungen, welche Differenzierungen lenken und Modelle prägen. Erich Hahn weist daher darauf hin, dass „die Ideologietheorie selbst ein Moment der Ideologie ist. Es gibt keine Ideologietheorie, die nicht nach ihrem weltanschaulichen Standpunkt, ihrer weltanschaulichen Aussage, nach der Klassenorientierung ihrer Konzeption selbst Ideologie wäre“. 13 Daher soll an dieser Stelle - ähnlich Schöttkers Definition zur Ideologiekritik - eine möglichst generalisierende Umschreibung erfolgen. Hans-Jörg Sandkühler beschreibt Ideologie als einen „Begriff zur Bezeichnung einer systemischen Einheit von ideellen und institutionell objektivierten Vergesellschaftungsformen des Bewußtseins. Der Extension nach umfaßt I[deologie]. Annahmen, Präsuppositionen, Theorien u.a., die als Inhalte epistemischen (rational begründeten) und doxastischen (doxa = Meinung) Wissens vorliegen und an Prinzipien, Dogmen und Idealen orientierte Einstellungen und Wertungen ausdrücken“. 14 Weiter unterscheidet P.V. Zima zwischen Kultur als umfassendem Gesamtsystem von Werten, Symbolen und Codes sowie Ideologie als Partialsystem, welches partikulare Interessen einer Gruppe in der Gesamtgesellschaft zu formulieren und durchzusetzen versucht. 15 Ideologien sind somit nicht nur bloße Ideenbzw. Informationssysteme, sondern auch Instrumentarien einer 7 H.-J. S ANDKÜHLER , Art. Ideologie, 617-619. 8 Vgl. in Eagletons Zusammenstellung die Buchstaben d, e, h, i. 9 Vgl. die Buchstaben a, b, f, k, o. 10 Vgl. die Buchstaben b, g, l, p. 11 Vgl. die Buchstaben b, c, l. 12 Vgl. die Buchstaben e, j, n. 13 E. H AHN , Ideologie, 10. 14 H.-J. S ANDKÜHLER , Art. Ideologie, 616. 15 P.V. Z IMA , Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 24. <?page no="40"?> 40 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik bestimmten Trägergruppe, um bewusst oder unbewusst die eigenen Machtansprüche innerhalb eines Konfliktfeldes zu legitimieren bzw. auszubauen. Ideologie kann somit vor allem in ihrer Differenz und Konkurrenz zu anderen Ideologien verstanden werden, und Ideologiekritik konstituiert sich aufgrund ihrer Selbstreferenz in Differenz und Konkurrenz zu anderen divergierenden ideologiekritischen Ansätzen, wie die folgende Darstellung zeigen soll. 3.3 Ideologiekritische Positionierungen 16 3.3.1 Die Anfänge - Bacon und die Idéologistes Das Ideologieproblem ist viel älter als das Wort Ideologie. Die Konkurrenz unterschiedlicher Partialsysteme innerhalb einer Großgesellschaft mit den daraus resultierenden Interessenkonflikten kann bereits an der antik-römischen Gesellschaft abgelesen werden. 17 Erst der Aufstieg der Naturwissenschaften zu Beginn der Neuzeit brachte jedoch die erkenntnistheoretische Fragestellung hervor, ob angesichts partikular-subjektiver Elemente menschlichen Denkens eine universal-objektive (Natur-)Erkenntnis präzise möglich ist. Mit diesem Problembewusstsein war die ideologiekritische Fragestellung als spezifisch neuzeitliche Aufgabe geboren. 18 An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit entwickelte der englische Philosoph, Politiker und Rechtsgelehrte Francis Bacon 19 eine Theorie des befangenen Denkens - die Idolenlehre. Bacon untersuchte darin Störfaktoren, Idola, welche den menschlichen Intellekt daran hindern, zur richtigen, d.h. naturwissenschaftlich exakten Erkenntnis zu gelangen: „Die Götzenbilder und falschen Begriffe, die von dem menschlichen Geist schon Besitz ergriffen haben und fest in ihm wurzeln, halten den Geist nicht bloß besetzt, daß die Wahrheit nur schwer einen Zugang findet, sondern daß, selbst wenn dieser Zugang gewährt und bewilligt worden ist, sie bei der Erneuerung der Wissenschaft immer wieder kehren und belästigen, solange man sich nicht gegen sie vorsieht und nach Möglichkeit verwahrt“. 20 16 Ich beschränke mich hier auf die Anfänge bei F. Bacon und den Idéologistes um Destutt De Tracy, die Marxsche Ideologiekritik und die wissenssoziologische Erwiderung K. Mannheims, die Verbindung von Ideologie und Struktur bei L. Althusser sowie den textsoziologischen Ansatz P.V. Zimas. Diese wenigen Entwürfe habe ich ausgewählt, da sie elementare Fragestellungen und Lösungsansätze zur Ideologiekritik abbilden und in verschiedenen historischen Kontexten bearbeiten. 17 Vgl. H. K LOFT , Einleitung, 9. 18 K. L ENK , Problemgeschichtliche Einleitung, 13f. 19 Siehe einführend W. K ROHN , Francis Bacon. 20 F. B ACON , Die Idolenlehre, 93. <?page no="41"?> 3.3 Ideologiekritische Positionierungen 41 Bacon spricht von den Idola als Trugbildern und Fehlerquellen und präkonnotiert den späteren Ideologiebegriff damit pejorativ. - Mit entgegengesetzter Wertung zu Bacons Idolen erscheint das Wort Ideologie das erste Mal im Umfeld der französischen Aufklärungsphilosophie des 18. Jh.s bei der Forschungsgruppe um Antoine Destutt de Tracy, den Idéologistes: 21 Sie verstehen die Idéologie - Singular! - als Wissenschaft von den Ideen, eine Art Grundlagenwissenschaft, die sich mit den Bildungsgesetzen von Anschauungen beschäftigt. 22 Die Idéologistes wollten sich aber nicht nur auf die Theorie beschränken, im Erziehungswesen sahen sie ihr praktisches Betätigungsfeld. Dies führte zur Konfrontation mit Napoleon, der zuerst mit dieser Bewegung sympathisierte, umso heftiger jedoch deren öffentliche Diffamierung betrieb, als sich die Idéologistes für republikanisch-demokratische Reformen einsetzten. Aus den Ideo-Logikern wurden somit die Ideologen, und mit Ideologie war nun eine wirklichkeitsfremde und suspekt-oppositionelle Auffassung verbunden, eine falsche Theorie, fern jedes Realitätsbezuges. „Damit erhielt dieses Wort jenen erkenntniskritischen Akzent, der bereits für das Wort Idol bei Bacon kennzeichnend war“. 23 In dieser pejorativen Bedeutung wurde der Ideologiebegriff im 19. Jh. auch in Deutschland und bei Karl Marx gebräuchlich. 3.3.2 Ideologiekritik als Entlarvung der Camera obscura - Die Marxsche Ideologiekritik Die marxistische Theorie 24 versteht sich wesenhaft als Ideologiekritik, auch wenn bei Karl Marx und Friedrich Engels selbst keine systematische Abhandlung des Ideologiebegriffs zu finden ist. 25 Dennoch können vor allem anhand zweier Schriften, Die Deutsche Ideologie (1845/ 46) und Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), zwei Phasen der Marxschen Ideologietheorie unterschieden werden. 26 In der Deutschen Ideologie beschreibt K. Marx die Ideologie anhand des Bildes von der Camera obscura: „Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“. 27 21 Vgl. besonders zu den Idéologistes B. S CHLIEBEN -L ANGE , Idéologie. 22 H.-J. Sandkühler, Art. Ideologie, 622. 23 K. S ALAMUN , Einleitung des Herausgebers, 6. 24 Es ist hier nicht möglich, auch nur eine begrenzte Auswahl der weit differenzierten Literatur zu Marx, Engels und Marxismus einzuführen. Als erste Annäherung empfehle ich die sehr informative und gut verständliche Reihe theorie.org, vgl. http: / / www.theorie.org (28.02.07). 25 E. V OLKER , Ideologische Mächte und ideologische Formen bei Marx und Engels, 7. 26 H.-J. Sandkühler, Art. Ideologie, 627. 27 K. M ARX , Die Deutsche Ideologie, 26. <?page no="42"?> 42 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik Das Bild von der Camera obscura enthält zwei wichtige Gesichtspunkte zur Deutung des Marxschen Ideologiebegriffs: Zum einen erscheinen in ihr die Gegenstände und Vorstellungen verzerrt, weil sie umgekehrt zur Wirklichkeit abgebildet werden. Zum anderen lässt diese konsequente Umkehrung präzise Rückschlüsse auf die eigentliche Wirklichkeit zu. Als Verursacher dieser Verzerrungen, als Ideologen, nennt Marx in dieser Schrift die an Hegels Ontologie orientierten Ansätze, welche die gesellschaftlichen Missstände lediglich auf theoretische Gedankenkomplexe zurückführen, anstatt sie durch die Einheit von Theorie und Praxis kritisch zu überwinden. 28 Während sich K. Marx in der Deutschen Ideologie vorwiegend auf die subjekttheoretische Perspektive konzentriert und Ideologen konkret benennt, ist der Ideologiebegriff im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie verstärkt in das Marxsche ökonomische Rahmenkonzept des historischen Materialismus eingebunden. 29 Ideologie wird nun strukturell beschrieben und in die These von der dialektischen Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau integriert: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. […] Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“. 30 Marx unterscheidet hier zwischen der naturwissenschaftlich verifizierbaren Erkenntnis und dem Bewusstsein in den ideologischen Formen. Das ideologische Denken wird in verschleiernden - weil herrschaftsstabilisierenden - Zusammenhängen des Überbaus gesehen, es ist somit falsch, trughaft und wirklichkeitsfern. 31 Die ökonomisch-kapitalistischen Strukturen dieser Ver- 28 A.a.O., 19f. „Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen”, a.a.O., 20. 29 H.-J. Sandkühler, Art. Ideologie, 627. 30 K. M ARX , Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, 8f. 31 E. Volker, Ideologische Mächte und ideologische Formen bei Marx und Engels, 15. <?page no="43"?> 3.3 Ideologiekritische Positionierungen 43 schleierung aufzudecken, bestimmt wesentlich die Ausrichtung Marxscher/ marxistischer Ideologiekritik. 32 3.3.3 Ideologiekritik als Enttarnung der Standortgebundenheit sämtlichen Denkens - Karl Mannheim und die Wissenssoziologie Karl Mannheim 33 kritisiert an der marxistischen Ideologiekonzeption, dass sie den Ideologievorwurf zwar auf den politischen Gegner, nicht jedoch auf das eigene Denken anwende. 34 Denn insgesamt sprechen sich Gruppierungen unterschiedlicher Systeme gegenseitig den falschen Standpunkt zu, ohne dass sich daraus eine Einsicht in den Wahrheitsgehalt der einen oder anderen Position ergeben kann. Deshalb überführte Mannheim die spezielle Fassung des marxistischen Ideologiebegriffs, welche „bei dieser kritischen Analyse den eigenen Denkstandort als aproblematisch, als absolut“ setzt 35 , in eine allgemeine Fassung, „wonach das menschliche Denken bei allen Parteien und in sämtlichen Epochen ideologisch sei“. 36 Durch die Anerkennung der prinzipiell ideologischen Standortbedingtheit sämtlichen Denkens „entsteht aus der bloßen Ideologielehre die Wissensoziologie“. 37 Sie untersucht verschiedenste Denkansätze in ihrer Partikularität und versucht dabei die Gebundenheit der jeweiligen Positionen in ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen, kulturellen und anderen Faktoren nachzuzeichnen. Damit ersetzt die Wissenssoziologie die marxistisch-positionelle Ideologiekritik durch ein allgemeines Konzept der Aufdeckung von Weltanschauungen. Die wissenssoziologische Umformung des Ideologiethemas ist zum Gegenstand heftiger Kritik geworden, die insbesondere von marxistischen 32 Marx betreibt solche ‚Fetisch‘-Analysen vor allem in seiner wichtigsten Spätschrift Das Kapital (1867): „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“, K. M ARX , Das Kapital I, 85. 33 Einführend zu K. Mannheim empfehle ich P. Z IMMERMANN , Soziologie als Erkenntniskritik. 34 K. M ANNHEIM , Ideologie und Utopie, 68f. - Allgemeiner a.a.O., 37: „Zunächst hatten jene Parteien, die die neuen ‚geistigen Waffen‘, die Enthüllung des Unbewußten, besaßen, einen ungeheuren Vorsprung gegenüber ihren Gegnern. Es war niederschmetternd, wenn ihnen aufgezeigt werden konnte, daß ihre Ideen bloß ihre Lebenssituation verzerrt widerspiegelten, bloß ihre unbewußten Interessen vorwegnahmen“. 35 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 70. 36 Ebd. 37 A.a.O., 70f. Die Wissenssoziologie untersucht die Wissensproduktion in Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Prozessen, in deren Infrastruktur sie entstehen. Siehe ausführlich P. W EINGART , Wissensproduktion und soziale Struktur, 240: „Die Bedeutung des Wissens als sozialer Kategorie erschließt sich nur, wenn es analytisch als sozialstrukturell bedingt und als handlungsbestimmend zugleich aufgefasst und so für die Analyse sozialer Prozesse in Anschlag gebracht wird“. <?page no="44"?> 44 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik und kritisch-rationalistischen Theoretikern formuliert worden ist. 38 Beispielsweise konstatiert Terry Eagleton: „Der post-marxistische Zugriff auf Ideologie kehrt so zu einer prä-marxistischen Sicht der Ideologie als ›gesellschaftlich determiniertem Denken‹ zurück. Und da dies auf jede mögliche Form des Denkens zutrifft, besteht die Gefahr, daß sich der Ideologiebegriff gänzlich auflöst“. 39 Mannheim hat mit seiner Kritik am marxistischen Ideologiebegriff eine multiperspektivische Sichtweise des Ideologiephänomens eingeleitet. Mit seiner Einsicht in die Notwendigkeit der Ideologie als Voraussetzung zur Positionierung und zum Handeln hat er wichtige Einsichten in die Ambivalenz des Ideologiebegriffs formuliert. Allerdings konnte er aufgrund seiner Universalisierung des Ideologiebegriffs dessen kritische Funktion nicht erhalten, sondern löste diese in eine positivistische Analyse auf. 40 3.3.4 Ideologie und Struktur - Louis Althusser Louis Althussers Theoriebildung zur Ideologiethematik 41 führt zwei Linien zusammen. Dies ist zum einen die marxistische Ideologiekritik, zum anderen der besonders in Frankreich etablierte Strukturalismus 42 , durch den Althusser die vulgärmarxistische Vorstellung der Ideologien als Ideengebäude ersetzte, indem er das Ideologiephänomen als eine systemische Vielzahl von Apparaten zur Produktion und Reproduktion der innerlichen Zustimmung zu den staatssichernden Herrschaftsverhältnissen entfaltet. 43 Althusser baut auf der Marxschen Überbauthese auf (s.o.), weitet jedoch den marxistischen Problemhorizont aus. Denn den Zusammenhang zwischen determinierter Basis und aktiver Rückwirkung des Überbaus reduziert er nicht auf eine einfache - ökonomische - Ursprungsform, d.h. auf rein wirtschaftlich-technische Prozesse. Vielmehr erforscht er die in der Gesamtgesellschaft unterschiedlich wirkenden Funktionsweisen einzelner Institutionen in ihrer Eigengesetzlichkeit. Damit fokussiert Althusser die ideologietheoretische Fragestellung auf den Kontext von Macht und orientiert sich nicht mehr an der originär-marxistischen Kategorisierung von Wahrheit und Irrtum. 44 38 Die Diskussion ist ausführlich dokumentiert in V. M EJA / N. S TEHR (H G .), Der Streit um die Wissenssoziologie. 39 T. Eagleton, Ideologie, 129. 40 H.-J. Sandkühler, Art. Ideologie, 633f. 41 L. A LTHUSSERS zentrale Gedanken zur Ideologiethematik finden sich in Ideologie und ideologische Staatsapparate. Zu Althusser vgl. K. T HIEME , Althusser zur Einführung. 42 Zum Strukturalismus siehe 4.2 Das kulturelle Feld der Diskursanalyse Foucaults: Der Poststrukturalismus. 43 H. B OSCH / J.C. R EHMAN , Ideologische Staatsapparate und Subjekteffekt bei Althusser, 106-110. 44 I. C HARIM , Der Althusser-Effekt, 92. Althussers Forschungsinteresse hat daher mehr Bezüge zum Marxschen Ideologieverständnis in Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie und Das Kapital als zur frühen Schrift Die deutsche Ideologie (s.o.). <?page no="45"?> 3.3 Ideologiekritische Positionierungen 45 Die komplex geartete Determiniertheit der Basis durch den Überbau beschreibt Althusser strukturell anhand der repressiven Staatsapparate (RSA) und der ideologischen Staatsapparate (ISA). Während die RSA als Staatsgewalt direkt durch Zwang und Strafe herrschen, üben die ISA ihre Herrschaft subtil durch freiwillige Unterwerfung aus. 45 Althusser zählt zu den ideologischen Staatsapparaten umfassende Systeme wie die Religion, die Schule, die Familie, das Rechtswesen, politische Parteien und außerparlamentarische Interessenvertretungen, das Pressewesen sowie die Literatur, die Kunst und den Sport. 46 Was versteht Althusser nun näher unter der Ideologie? Wiederum geht Althusser nicht inhaltlich vor, sondern beschreibt die Ideologie anhand ihrer gesellschaftlichen Funktion. 47 Seine zentrale These lautet: „Die Ideologie ruft die Individuen zu Subjekten an“. 48 Althusser unterscheidet somit zwischen Individuen und Subjekten, wobei die Individuen real immer schon ideologisch bestimmte Subjekte sind. 49 In der Anrufung rekrutiert die Ideologie die Individuen - sie transformiert sie zu Subjekten, die sich freiwillig dem ideologischen SUBJEKT unterwerfen. 50 Das ideologische SUBJEKT bestimmt Althusser als die Instanz, die sich selbst definiert und die um sich herum zur Herrschaftsausübung eine unendliche Zahl von Individuen sammelt. Althusser veranschaulicht diesen Gedanken am Beispiel der Religion anhand einer Kommentierung zu Exodus 3: „Gott definiert sich also selbst als das SUBJEKT par excellence, das durch sich ist (‚Ich bin, der ich bin‘), und das sein Subjekt ruft, also das Individuum, das ihm durch seinen Anruf selbst unterworfen ist, nämlich das Individuum mit dem Namen Moses. Und der so angerufene und bei seinem Namen genannte Moses, der wiedererkannt hat, daß ‚gerade er‘ es war, den Gott gerufen hat, erkennt damit zugleich (wieder) an, daß er Subjekt ist, Subjekt Gottes, Gott unterworfenes Subjekt, Subjekt 45 L. A LTHUSSER , Ideologie und ideologische Staatsapparate, 124. Althusser denkt das Verhältnis zwischen den repressiven und ideologischen Staatsapparaten nicht oppositionell sondern komplementär: Die repressiven Staatsapparate schaffen die politischen Rahmenbedingungen, unter deren Schutz die ideologischen Staatsapparate ihre Arbeit verrichten können. 46 A.a.O., 119f. 47 Die funktionale Erfassung der Ideologie hat Althusser den Vorwurf eingebracht, sein Ansatz wäre insgesamt von einem starren und unveränderbaren Funktionalismus bestimmt, der nur eine undialektische Interpretation der Wirklichkeit zuließe, so A. S CHMIDT , Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte. Schmidt wirft Althusser vor, er löse „die ökonomische Subjekt-Objekt-Struktur zugunsten eines formalisierten Objektivismus auf“, a.a.O., 208. Althusser selbst jedoch sieht seine Konzeption ausdrücklich in den erkenntnisgeleiteten Bezugsrahmen des dialektischen Klassenkampfes gestellt, L. A LTHUSSER , Ideologie und ideologische Staatsapparate, 154. 48 A.a.O., 140. 49 Ebd. 50 A.a.O., 142. <?page no="46"?> 46 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik durch das SUBJEKT und dem SUBJEKT unterworfen (assujetti). Der Beweis: Er gehorcht ihm und sorgt dafür, daß sein Volk den Geboten Gottes gehorcht“. 51 Die strukturell-funktionale Bestimmung der Ideologie bei Althusser ist m.E. von großer Bedeutung für eine textanalytisch applizierbare Rezeption der Ideologiekritik (s.u.). 3.3.5 Ideologiekritik als Aufdeckung diskursiver Störungen - Die Textsoziologie von Peter V. Zima Peter V. Zimas 52 textsoziologischer Ansatz 53 will sowohl die Aporie der marxistischen Positionslegitimierung überwinden als auch den Panideologismus der Wissenssoziologie vermeiden. 54 Sein Ideologieverständnis beschreibt er in Analogie und Differenz zum Theoriebegriff: 55 Beide versteht er - ähnlich wie Althusser - vor allem als Struktur-Systeme, deren Phänomenologie auf der diskursiven Ebene sichtbar wird, wo Ideologie und Theorie als zwei gegensätzliche Diskurstypen verstanden werden können. 56 Beide sind sprachliche Gebilde, die über die Satzebene hinausreichen (transphrastische Perspektive) und in denen die Bedeutungen der natürlichen Sprache in Übereinstimmung mit Gruppeninteressen zu Fach- und Spezialsprachen umgeformt werden. 57 Beide bilden bestimmte Schlüsselbegriffe aus und klassifizieren diese in wertende Ordnungen, bestehend aus Definitionen, Gegensätzen und Unterscheidungen. 58 Und beide stehen in Zusammenhang mit bestimmten Soziolekten. 59 Im Unterschied zur Theorie jedoch stellt das diskursive 51 A.a.O., 146. 52 Peter V. Zima lehrt vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Schwerpunkte seiner Forschung sind Wissenschaftstheorie, Ideologiekritik und Literatursoziologie, vgl. http: / / www.uni-klu.ac.at/ liwi (28.02.07). 53 Zima versteht die Textsoziologie als textwissenschaftliches Analyseinstrumentarium in soziologischer Perspektive. Sie untersucht die narrativen und semantischen Strukturen von Texten unter der leitenden Fragestellung, wie sich welche partikular-kollektiven Interessen in spezifischen Aussagen durchsetzen, vgl. P.V. Z IMA , Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 218-253. 54 P.V. Z IMA , Ideologie und Theorie. Zum Verhältnis von ideologischen und theoretischen Diskursen, 57. 55 P.V. Z IMA , Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 18. 56 A.a.O., 12. 57 A.a.O., 256. 58 A.a.O., 240. 59 Soziolekte sind Sprachsysteme spezifischer Partikulargruppen, die nicht unbedingt schichtspezifisch generiert werden, sondern auch durch bestimmte Situationskontexte gekennzeichnet sein können. Soziolekte können auf narrativer, lexikalischer und semantischer Ebene aufgezeigt werden, a.a.O., 248-250. Vgl. zur Soziolektforschung folgende Ansätze: E. S TRAßNER , Ideologie - SPRACHE - Politik untersucht die Partikularsprachen ausgewählter politischer Ideologien anhand ihrer Kenn- und Schlagwörter (Liberalismus, 66-78; Konservativismus, 78-97; Sozialismus 97-127; Nationalismus 127-146; Rassismus 146-167; Nationalsozialismus 167-184); G. S CHIWY , Zur Ideologie der Unfehlbarkeitsdiskussion beschreibt sehr differenziert am Textausschnitt H. Küngs 12 <?page no="47"?> 3.3 Ideologiekritische Positionierungen 47 Verfahren der Ideologie den eigenen Standort nicht zur Disposition. Vielmehr entwickelt die Ideologie Mechanismen, welche der Aufrechterhaltung und Expansion der eigenen Position dienen: 60 „Die Ideologie ist ein diskursives, mit einem bestimmten Soziolekt identifizierbares Partialsystem, das von der semantischen Dichotomie und den ihr entsprechenden narrativen Verfahren (Held/ Widersacher) beherrscht wird und dessen Aussagesubjekt entweder nicht bereit oder in der Lage ist, seine semantischen und syntaktischen Verfahren zu reflektieren und zum Gegenstand eines offenen Dialogs zu machen. Statt dessen stellt es seinen Diskurs und seinen Soziolekt als die einzig möglichen (wahren, natürlichen) dar und identifiziert sie mit der Gesamtheit seiner wirklichen und potentiellen Referenten“. 61 In Anschluss an Althusser besteht nach Zima die Funktion der Ideologie darin, Individuen zu handlungsfähigen Subjekten zu machen. 62 Zima benennt verschiedene diskursive Verfahren der Ideologie: Die Monologisierung schützt die eigene Intention vor kritischen Anfragen von außen. 63 Der Dualismus ermöglicht eine auf den ersten Blick einsichtige Einteilung in gut und böse, wahr und falsch. 64 Relevanzkriterien entscheiden darüber, was thematisiert wird und was nicht. Der ideologische Diskurs versucht, die eigenen Relevanzkriterien als alternativlos darzustellen. 65 Eng verbunden mit der Relevanzbestimmung ist die Klassifikation von Begriffen in wertende Zusammenhänge. Weiterhin wird im diskursiven Verfahren der Ideologie das Subjekt einer Aussage durch mythische Aktanten verschleiert. 66 Schließlich legt der Naturalismus die eigenen ideologischen Aussagen als natürlich aus und das Identitätsdenken postuliert die Übereinstimmung der eigenen Position mit dieser konstruierten Wirklichkeit. 67 - Zima lehnt es ab, die Ideologie mit den Kriterien wahr oder falsch zu etikettieren. Vielmehr möchte er mit seinem Ansatz die Strategien und Funktionen der Ideologie rekonstruieren: Soziolekte (48-54, u.a. den pastoral-helfenden, den konziliar-kritischen und den dogmatisch-kritischen Soziolekt), sowie am Textausschnitt der Römischen Glaubenskongregation 8 Soziolekte (60-63, u.a. den pastoral-fordernden, den konziliar-bestätigenden und den dogmatisch-bestätigenden Soziolekt). Schiwys Untersuchung zeigt, wie verschiedene Soziolekte in einem Text vorhanden sein können und dass Soziolekte nicht ausschließlich auf der Makroebene politischer Gesamtdeutungen - wie bei Straßner - beschreibbar sind; P.V. Z IMA , Textsoziologie, 72-75 verknüpft die rein lexikalische Untersuchung der Soziolekte mit der syntaktischen Analyse: „Der Soziolekt erscheint als eine auf lexikalischer und diskursiver (semantischer und syntaktischer) Ebene strukturierte Einheit, deren Strukturen als Ideologeme eine mehr oder weniger zusammenhängende Ideologie ausdrücken”, a.a.O., 73. 60 A.a.O., 56. 61 A.a.O., 256. 62 A.a.O., 261f. 63 A.a.O., 265. 64 A.a.O., 265. 65 A.a.O., 239. 66 A.a.O., 277. 67 A.a.O., 287. <?page no="48"?> 48 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik „Für die Textsoziologie gibt es keine richtigen oder falschen Ideen […], sondern diskursive Verfahren, die den theoretischen Dialog und die Erkenntnis eines Gegenstandes fördern und diskursive Verfahren, die beiden einen Riegel vorschieben“. 68 Fazit Die Darstellung einiger ideologietheoretischer Grundfragen sowie die Skizzierung exemplarischer Positionierungen ideologiekritischer Verfahren haben deutlich gemacht, dass Ideologiedefinitionen und ideologiekritische Ansätze stets selbst durch die Standorte und deren interessengeleitete Forschungsfragen determiniert und definiert werden, von denen aus sie konstruiert werden. Daraus folgt für mich, dass sich die Angemessenheit eines konkreten ideologiekritischen Modells nicht generell verifizieren lässt. Sie kann vielmehr immer nur kontextuell-funktional bestimmt werden, indem eine konkrete Ausgangsfrage (Problemstellung) mit einem spezifischen Lösungsweg (ideologiekritische Operation) zum resultierenden Ergebnis (Problemlösung) in Beziehung gesetzt wird. Deshalb werde ich im folgenden Abschnitt die ideologiekritische Methodik zur Untersuchung der vier neutestamentlich-hermeneutischen Ansätze insbesondere von meinem Untersuchungsziel her entwickeln und dabei die skizzierten ideologietheoretischen Aspekte und ideologiekritischen Ansätze unter funktionalen Aspekten rezipieren. 3.4 Die ideologiekritische Methodik dieser Untersuchung Gegenstand meiner Untersuchung sind die vier neutestamentlich-hermeneutischen Ansätze von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder. 69 Aufgabe der ideologiekritischen Analyse ist es, die Standort- und Interessengebundenheiten dieser Entwürfe aufzudecken und zu beschreiben, wie dadurch die konkreten hermeneutischen Positionierungen formiert werden. Wie lässt sich nun der Ideologiebegriff in Bezug zu dieser Vorgabe angemessen spezifizieren und eine dazu geeignete Methodik formulieren? 3.4.1 Die Ambivalenz von Ideologien Nach Mannheim und Zima bewirken Ideologien die Genese unterschiedlicher Positionalitäten. Ohne sie gäbe es keine divergierenden Standpunkte, keine inhaltlichen Auseinandersetzungen, kein engagiertes politisches Streitgespräch und keine kontroverse akademische Debatte. Ideologielosigkeit führt deshalb zu einem gleichgültigen Relativismus und der qualitati- 68 A.a.O., 154. 69 Vgl. 1.4 Kontexte des Verstehens. <?page no="49"?> 3.4 Die ideologiekritische Methodik dieser Untersuchung 49 ven Indifferenz aller Positionen aus dem Blickwinkel des Individuums. 70 Erst die Ideologien konstituieren die Menschen als Kontrahenten einer Auseinandersetzung, indem sie sie als Subjekte einer bestimmten Anschauung anrufen (Althusser). Ebenso wird die Dynamik des Diskursgeschehens vornehmlich durch die ideologischen Formationen bestimmt (Zima). Ideologien sind daher auch ein notwendiger und fruchtbarer Bestandteil der Neutestamentlichen Hermeneutikdebatte bzw. allgemein der Kontroverse um die Schriftauslegung. Ohne sie gäbe es keine engagierte Auseinandersetzung um den richtigen Leseschlüssel zu den biblischen Texten. Diese konkurrierende Positionalität setzt einen Kampf um Herrschaft frei. Den diskursiven Formationen der Ideologie fällt dabei die Aufgabe zu, den Machtbereich der jeweils eigenen Position aufzubauen, zu verteidigen und zu erweitern (Zima). Die Kehrseite dieser konkurrierenden Positionalitäten zeigt sich im intersubjektiven Austausch, d.h. der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Positionen. Denn der ideologische Diskurs kann seinen Standpunkt nicht zur Disposition stellen. Er entwickelt Immunisierungsstrategien zur Verschleierung der eigenen Voraussetzungen. Bewusst oder unbewusst wirken sich die diskursiven Verfahren der Ideologie kommunikationsstörend auf den Austausch von Informationen aus und verhindern eine transparente Auseinandersetzung. In diesem Sinn sind Ideologien Idola (Bacon) bzw. Verzerrungen der Wirklichkeit (Marx). 3.4.2 Die Partikularität von Ideologien Im Kontext des Wissenschaftsbetriebes decken die vier zu untersuchenden Hermeneutikentwürfe einen spezifischen Ausschnitt möglicher Positionierungen ab, deren jeweiliges Profil bestrebt ist, sich gegen andere partikulare Standpunkte innerhalb der Wissenschaftsdebatte zur Bibelauslegung und darüber hinaus im kirchlichen oder gesellschaftlichen Diskurs durchzusetzen. Partikularinteressen grenze ich hier vom kulturellen Ganzen ab, denn Interessen können niemals wirklich das Ganze im Blick haben. Allerdings unterscheide ich nicht zwischen den Interessen einer partikularen Gruppe und den Interessen des einzelnen Individuums. Demnach werde ich versuchen, Ideologien in den Untersuchungstexten als Interessen von spezifischen Gruppierungen und Institutionen zu bestimmen, die hinter den Texten ste- 70 In diese Richtung zielt die Kritik Zimas an der Habermas’schen Konzeption der idealen Sprechsituation: „Habermas, der von einer relativ homogenen Lebenswelt ausgeht und ideologische Konflikte sowie private Pathologien aus der ‚idealen Sprechsituation‘ ausschalten möchte, überschätzt die Bedeutung des Konsensus und unterschätzt die Fruchtbarkeit der ideologisch bedingten dissensiones“, P.V. Z IMA , Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 120. <?page no="50"?> 50 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik hen. 71 Ebenso können die Interessen jedoch auch als individueller Standort des einzelnen Autors verstanden werden. 3.4.3 Ideologien als diskursive Formationen einer Aussageneinheit Zimas Verständnis der Ideologien als diskursiver Formationen eröffnet die Möglichkeit, Ideologien über den rein-inhaltlichen Aussagenbestand hinaus zu bestimmen, konkrete Mechanismen der Positionsabsicherung methodisch aufzudecken und insgesamt die präsuppositionale Struktur auf der syntaktischen und semantischen Ebene eines Textes freizulegen. Damit können wichtige innere Linien der Argumentationsführung in den Hermeneutiken nachgezeichnet werden, die in der Regel nicht offen artikuliert werden, da sie suggestiv der persuasiven Mitteilung der eigenen Position dienen. Zugleich folgt aus dem Verständnis der Ideologie als diskursiver Formation jedoch, dass ich die Ideologien nicht als kompakte Ideengebäude, bestehend aus einem kohärenten Aussagenfeld, entfalten werde, sondern die Texte schrittweise danach befrage, wie die diskursiven Verfahren der Ideologie bestimmte Aussagen prädisponieren. 72 3.4.4 Ideologiekritik als Aufdeckung diskursiver Strukturen der Ideologie Zima beschreibt die diskursiven Verfahren der Ideologie als eine „semantisch-syntaktische Einheit“. 73 In Anschluss daran unterteile ich meine ideologiekritische Untersuchung in vier diskursive Verfahren, welche deutlicher dem syntaktisch-narrativen Feld (Erzählebene) zugeordnet werden können und in drei diskursive Verfahren, die eher dem semantischen Feld (Aussageebene) zugeordnet werden können. 74 Der erste Teil der ideologiekritischen Operation untersucht die Ideologien auf der syntaktisch-narrativen Ebene: 71 Die Bezüge zwischen Textaussagen und bestimmten Institutionen und Gruppierungen stellt vorwiegend die Soziolektanalyse her. 72 Dieses kombinierende Ideologieverständnis setzt sich aus semantisch-inhaltlichen und syntaktisch-narrativen Elementen zusammen (siehe 3.3.4 Ideologiekritik als Aufdeckung diskursiver Strukturen der Ideologie). Deshalb kann das Untersuchungsziel nicht einfach daraufhin extrahiert werden, welchen Ideologien die vier Hermeneutiken angehören. 73 P.V. Zima, Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 269. 74 Eine zu starre Trennung in Semantik und Syntax überspannt die hier vorausgesetzte Differenzierung, das gilt insbesondere für die Soziolekte. Die diskursiven Verfahren auf der Erzählebene - Dualismus, Mythische Aktanten, Naturalismus und Identitätsdenken sowie Monolog - kommen nach Zima nur im diskursiven Verfahren der Ideologie vor, a.a.O., 269-273 und 277-289. Die diskursiven Verfahren auf der Aussageebene - Schlüsselbegriffe, Relevanzkriterien und Soziolekte - hingegen werden sowohl in den diskursiven Verfahren der Ideologie wie auch der Theorie verwendet, a.a.O., 238-242 und 248-250. <?page no="51"?> 3.4 Die ideologiekritische Methodik dieser Untersuchung 51 Dualismus Die syntaktische Struktur des Dualismus ordnet die Wirklichkeit nach Gegensatzpaaren und betont die Überlegenheit der eigenen Position gegenüber anderen Positionsbestimmungen. Ich differenziere zwischen einem einfachen und einem komplexen Dualismustyp: Der Dualismustyp I teilt direkt in richtig und falsch bzw. gut und böse ein. 75 Der Dualismustyp II konstruiert anhand von zwei als gegeben eingeführten Oppositionsgliedern eine Problemsituation, welche durch den eigenen Lösungsansatz überwunden wird. 76 Ein Text ist um so polarisierender, je deutlicher der erste Typ dominiert, ein Text wirkt um so vermittelnder, je häufiger der zweite Typ verwendet wird. Mythische Aktanten Die syntaktische Struktur der mythischen Aktanten verschleiert den Handlungsträger bzw. das Subjekt einer Aussage, indem die partikulare Sichtweise der eigenen Position generalisiert und universalisiert wird. 77 Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen: Die subjetiv-partikulare Sicht des eigenen Ichs kann durch ein unpersönliches man 78 oder ein vereinnahmendes wir 79 in ein standardisiertes Aussagesubjekt überführt werden. Ebenso können mythische Aktanten konstruiert werden, indem mehrdeutige Termini selbstverständlich mit der Bedeutungszuschreibung des eigenen Aussagesubjektes versehen werden 80 bzw. das Aussagesubjekt eines Satzes überhaupt nicht klar artikuliert wird. 81 75 Beispiele: Verstehen versus Vereinnahmung; Feminismus versus Patriarchalismus; Totale Kontrolle versus freiheitliche Individualität. 76 Beispiel: Wir müssen die Anliegen der Leserschaft auf der einen Seite und die Intention der Texte auf der anderen Seite berücksichtigen. Dies kann nur geschehen, indem wir meiner Position folgen. 77 Zima unterscheidet bei der Bestimmung mythischer Aktanten weiter zwischen den actants de l’énoncé als Handlungsträger eines Satzes und den actants de l’énonciation als Aussagesubjekte eines Satzes, vgl. P.V. Z IMA , Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 277-284. 78 Beispiel: Man soll die Texte von Gott her lesen. Anstatt: Ich finde, wir sollten die Texte von Gott her lesen. 79 Beispiel: Wir haben nun festgestellt, dass der Ansatz des Feminismus wenig überzeugt. Anstatt: Ich bin nun zu der Auffassung gekommen, dass der Ansatz des Feminismus wenig überzeugt. 80 Beispiele: Exegese hat die Aufgabe, die Menschen glücklich zu machen. Anstatt: Exegese hat nach meinem Verständnis die Aufgabe, die Menschen glücklich zu machen. 81 Beispiel: Exegese muss aus einem soliden Glauben heraus betrieben werden. Anstatt: Ich finde, Exegese muss aus einem soliden Glauben heraus betrieben werden. <?page no="52"?> 52 3 Methodenreflexion zur Ideologiekritik Naturalismus und Identitätsdenken Die syntaktische Struktur des Naturalismus und Identitätdenkens gibt die eigene Position als konform mit der universalen Wirklichkeit aus, indem sie die eigene Problemkonstruktion ontologisiert und den eigenen Ansatz als deren alternative Überwindung darstellt. Monolog Die syntaktische Struktur des Monologs schützt als hermetische Stilfigur die eigene Intention vor kritischen Anfragen von außen. Im Gegensatz dazu zeichnen sich Dialoge durch echte Fragen 82 und selbstkritische Auseinandersetzungen mit anderen Positionen aus. 83 Der zweite Teil der ideologiekritischen Operation untersucht die Ideologien auf der semantischen Aussageebene: Schlüsselbegriffe Die semantische Struktur der Schlüsselbegriffe beschreibt den sprachlichen Kode, der als terminologisches Inventar die vier neutestamentlich-hermeneutischen Entwürfe dominiert. Dieser Kode gibt zugleich die Wertung sowie die definierte Kombination der Begriffe zueinander wieder. Relevanzkriterien Die semantische Struktur der Relevanzkriterien organisiert, was thematisiert wird. Umgekehrt gibt sie Aufschlüsse darüber, was nicht thematisiert wird, da es für die eigene Problemkonstruktion und -lösung nicht von Interesse ist. Die ideologische Rede versucht, die eigenen Relevanzkriterien als natürlich darzustellen. Damit besteht ein enger Zusammenhang zwischen Relevanzkriterien und der syntaktischen Struktur des Naturalismus und Identitätsdenkens. Soziolekte Die semantische Struktur der Soziolekte schließlich gibt Hinweise auf die Zugehörigkeit bestimmter Positionierungen zu gesellschaftlichen Gruppen, politischen Parteiungen, Wissenschaftlergruppen, Vereinen, etc. Der Soziolekt steht zwischen dem Ideolekt des Individuums und der Kultursprache einer ethnischen 82 Echte Fragen beinhalten eine rezeptiv zu bearbeitende Leerstelle, rhetorische - d.h. unechte - Fragen hingegen implizieren eine deutlich kanalisierte Antwort. 83 Texte, die der Darstellung eines positionellen Ansatzes dienen, weisen generell eine monologhafte Struktur auf. Deshalb befrage ich die Argumentationsgänge der vier Hermeneutiken nach deutlichen Formationen, welche apologetisch die eigene Position ohne eine erkennbare (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit Anfragen konkurrierender Ansätze stützen. <?page no="53"?> 3.4 Die ideologiekritische Methodik dieser Untersuchung 53 Gruppe. Soziolekte können sich überlappen oder gegenseitig korrigieren, im Gesamttext auch neutralisieren. Deshalb erscheinen Soziolekte isoliert betrachtet schärfer als in ihrer Kombination in einem differenzierten Text. Der Individualität eines Autors/ einer Autorin entspricht es, dass Texte zumeist nicht von einem Soziolekt, sondern der Kombination mehrerer Soziolekte geprägt sind. <?page no="55"?> 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse Die Diskursanalyse ist als Kulturtheorie vornehmlich im Frankreich der 60er Jahre entstanden und wird seit Ende der 70er Jahre auch in Deutschland rezipiert. 1 Sie stellt die Frage nach den diskursiven Kontexten, welche Texte hervorbringen und historisch anordnen. Somit geht sie über die reine Textwissenschaft hinaus, indem sie in sozio-kultureller Perspektive nach den metatextuellen Regeln fragt, welche Anschauungen, Aussagen und Handlungen sowie deren Anordnung lenken. 4.1 Kontexte des Diskursbegriffs Der Begriff Diskurs leitet sich vom lateinischen discursus ab, das entsprechende Verb discurrere bedeutet ‚hierhin und dorthin laufen‘, im französischen discours ist noch die übertragene Bedeutung der freien Konversation, der Erzählung und improvisierten Rede mitenthalten. 2 Vergleichbar dem Ideologiebegriff ist auch das Diskursverständnis eminent vom Kontext seines Gebrauches abhängig. R.K. Sawyer zeigt für unterschiedliche Disziplinen spezifische Bedeutungen auf: So bezeichnet der Diskurs in postkolonialen Theorien ein imperiales Herrschaftssystem, in der Anthropologie wird er im Sinn von Kultur oder Ideologie verwendet, in der Soziolinguistik wird er als Sprechstil oder Register wiedergegeben, und in der Psychologie kann Diskurs eine körperliche Praxis bedeuten. 3 Trotz der vielfältigen Spezifizierungen eint diese Beispiele die gemeinsame analytische Funktion des Diskursbegriffs: Er wird in den unterschiedlichen Fachwissenschaften als heuristisches Modell zur Beschreibung fachrelevanter Phänomene verwendet. Von dieser analytischen Grundausrichtung des Diskursbegriffs lässt sich eine normative Verwendung unterscheiden, wie sie in der kommunikationstheoretischen Konzeptionierung von Jürgen Habermas entwickelt wurde. 4 Habermas versteht unter dem Diskurs idealiter eine öffentliche Debatte, welche zur anvisierten herrschaftsfreien Kommunikation führt, wenn alle Diskursteilnehmenden sich an bestimmte Diskursregeln halten. Diskurs meint bei Habermas folglich eine ideale - nicht existente - Sprechsituation und keine analytische Kategorie. Es handelt sich hier nicht um Diskursanalyse, sondern um Diskursethik, weshalb der Habermas’sche Diskursbegriff nicht von heuristisch-analytischem Wert ist und daher auch nicht zur Untersu- 1 Vgl. C. A LBERT , Diskursanalyse in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik. 2 R. S CHWEICHER , Art. Diskurs, 580. 3 R.K. S AWYER , 48f. Vgl. zur Heterogenität des Diskursbegriffs R. K ELLER u.a., Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, 9-13. 4 J. H ABERMAS , Theorie des kommunikativen Handelns. <?page no="56"?> 56 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse chung der vier Hermeneutiken appliziert werden kann. 5 Deshalb werde ich im Folgenden nur die analytisch-orientierte Linie zur Diskurstheorie weiterverfolgen, wie sie vor allem in Frankreich im Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus entwickelt wurde und besonders mit einem Namen verbunden ist: Michel Foucault. 6 4.2 Das kulturelle Feld der Diskursanalyse Foucaults: Der Poststrukturalismus Einen ‚hermeneutischen‘ Zugang zu Foucaults Diskursanalyse und zugleich deren zentralem Interpretationsproblem ermöglicht ein Blick in den geistesgeschichtlichen Kontext Frankreichs der 60er und 70er Jahre, welcher den prägenden Bezugsrahmen zu Foucaults Denken abgibt. In dieser Zeit trat neben den Strukturalismus 7 als leitendes geisteswissenschaftliches Interpretament eine neue Denkbewegung hinzu, welche zum einen als dessen Fortführung und zugleich als dessen Überwindung bezeichnet werden kann: der Post- oder Neostrukturalismus. Zwar hat Foucault es selbst immer abgelehnt, mit einer bestimmten Denkrichtung identifiziert zu werden, dennoch lassen sich seine Schriften diesen beiden Bezugssystemen wenn nicht ein-, so doch zumindest zuordnen. 8 5 Zur Unterscheidung zwischen dem ethischen Diskursbegriff bei Habermas und dem analytischen Diskursbegriff bei Foucault siehe vertiefend D. J ANICAND , Rationalität und Macht. 6 Weitere französische Ansätze zur Diskurstheorie bleiben hier außer Betracht. Ich verweise auf die sehr klare einführende Kurzdarstellung zu P. Bourdieu bei A. G EISENHANSLÜKE , Einführung in die Literaturtheorie, 133f. Vgl. allgemein zur französischen Literatur- und Kulturtheorie J. B OSSINADE , Poststrukturalistische Literaturtheorie, 152-187. 7 Der Strukturalismus entstand vor allem als Versuch, die Forschungspraxis auf eine rein strukturanalytische Betrachtungsweise festzulegen. Damit reagiert er kritisch auf psychologische und anthropozentrische Konzepte der Nachkriegsphilosophie wie Existentialismus und Personalismus. Im Gegensatz und in Abgrenzung zu diesen Programmen möchte der Strukturalismus nicht mehr die Motivation oder die Impulse der Subjekte zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung machen, sondern mittels einer formalisierenden Beschreibung objektive Voraussetzungen schaffen, vgl. J. S TAD - LINGER , Art. Strukturalismus. - Lesenswert ist ferner die Zusammenschau von Christentum und Strukturalismus bei G. S CHIWY , Neue Aspekte des Strukturalismus, 161-181. 8 Vgl. S. M ÜNKER / A. R OESLER , Poststrukturalismus: Nach Münker/ Roesler legt Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft (frz. 1961/ dt. 1969) eine strukturalistische Geschichtsschreibung vor, indem er den Wahnsinn in seiner Opposition zur Vernunft konstituiere. Diese stabile Struktur in ihrer Gesamtheit nachzuzeichnen, sei Ziel dieses Buches, a.a.O., 16. Auch Die Ordnung der Dinge (frz. 1966/ dt. 1974) weise noch charakteristisch strukturalistische Züge auf. Foucault sehe darin die Welt in ihrem historischen Ablauf durch stabile Episteme organisiert, welche die jeweilige Epoche paradigmatisch bestimmen. An Foucaults Verständnis der Episteme könne somit ebenfalls deutlich strukturalistisches Gedankengut abgelesen werden, a.a.O., 17. Zugleich betone Foucault ebenfalls in Die Ordnung der Dinge die Diskontinuität in der Abfolge der <?page no="57"?> 4.2 Das kulturelle Feld der Diskursanalyse Foucaults 57 Die Anhänger des Poststrukturalismus verbindet die Kritik an der Ontologie der Struktur und so lösen sie den Gedanken der Strukturalität der Struktur zugunsten eines unabschließbaren Systems von Differenzen auf. 9 Stefan Münker und Alexander Roesler beschreiben das Phänomen Poststrukturalismus anhand von fünf Merkmalen: 10 I.) Kritischer Einspruch gegen totalisierende Tendenzen philosophischer Theorien. Diese Kritik trifft naheliegend zuerst den Strukturalismus - aber nicht nur: Geradezu exemplarisch liest sich die Dialektik Hegels in den Augen der Poststrukturalisten als ein fatales Unternehmen, welches nichts mehr kennt, das außerhalb seiner Reichweite liegt und somit den Anspruch hegt, die Totalität der Wirklichkeit zu erfassen. Foucault reflektiert die quasi unausweichliche Zentrifugalkraft des Hegelschen Gedankengebäudes in Die Ordnung des Diskurses: „Ich weiß wohl […] daß unsere gesamte Epoche, sei es in der Logik oder in der Epistemologie, sei es mit Marx oder mit Nietzsche, Hegel zu entkommen trachtet. […] aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen: man muß wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo“. 11 II.) Kritische Reflexion der Moderne. Der Poststrukturalismus reiht sich in Prämissen der Postmoderne ein, vor allem in Hinblick auf deren skeptischer Beurteilung der Moderne. Vorbei ist die Zeit der einheitlichen Rahmentheorien und Universalentwürfe. François Lyotard verkündet in seinem Essay Das postmoderne Wissen 12 das Ende der großen Erzählungen (grands récits), beispielsweise den Gedanken der Emanzipation des vernünftigen Subjektes oder der Entfaltung einer allgemeinen Idee. Mit Blick auf Unstimmigkeiten und Brüche innerhalb der normierenden modernen Gesellschaftstheorie richten die Poststrukturalisten ihr Interesse auf gesellschaftlich marginalisierte Personengruppen. So beschäftigt sich Foucault mit der Konstitutionie- Episteme, worin sich bereits seine poststrukturalistische Weiterentwicklung anzeige, a.a.O., 24. Mit dem Übergang von der Methode der Archäologie - die sich als Beschreibung der in sich stabilen Episteme versteht - hin zur Genealogie, die den Bruch und die Diskontinuität des Übergangs von einer Episteme zur anderen fokussiert, lasse sich schließlich der Übergang Foucaults vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus endgültig verorten, a.a.O., 26. Die Genealogie als poststrukturalistische Konzeption wendet Foucault besonders in Von der Subversion des Wissens (frz. 1971/ dt. 1974) und Die Ordnung des Diskurses (frz. 1972/ dt. 1974) an, a.a.O., 91f. - Anders die Einschätzung bei H.L. D REYFUS / P. R ABINOW , Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 21: „Foucault war niemals im strengen Sinne Strukturalist oder Post- Strukturalist“. 9 G EISENHANSLÜKE , Einführung in die Literaturtheorie, 70. 10 Vgl. M ÜNKER / R OESLER , Poststrukturalismus, X-XIV. 11 M. F OUCAULT , Die Ordnung des Diskurses, 45. 12 F. L YOTARD , Das postmoderne Wissen. <?page no="58"?> 58 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse rung des Wahnsinns 13 , Luce Irigaray und Hélène Cixous bearbeiten feministische Fragestellungen 14 und Lyotard engagiert sich für die linksradikale Zeitschrift Socialisme ou Barbarie 15 . III.) Nietzsche-Adorno-Referenz. Als Pendant zur Ablehnung philosophischer Totalitarismen tritt bei den Poststrukturalisten eine positive Beziehung zu philosophischen Strömungen der Tradition hervor, welche die Betonung der Diskontinuität und des Bruchs ihrer eigenen Entwürfe antizipieren, allen voran Friedrich Nietzsche, der die Frage nach dem Subjekt, nach der Macht und ihrer Genealogie sowie nach der Konstitution von Sinn gestellt hat 16 , ebenso Theodor W. Adorno, dessen Philosophie der negativen Dialektik vom gleichen kritischen Einspruch gegenüber Totalisierungen und theoretischen Absolutierungen gekennzeichnet ist wie der Poststrukturalismus. 17 IV.) Kritik am Logozentrismus. Der Poststrukturalismus lehnt die Erkenntnistheorie des Strukturalismus ab, welche sich vornehmlich an der Sprachanalyse orientiert. Sprache ist in poststrukturalistischer Perspektive nicht nur eine unhintergehbare Struktur, sondern vor allem auch theoretisch uneinholbar, denn sie ist ein offenes System, welches durch das Spiel der Differenzen und dem prinzipiell endlosen Prozess der Bedeutungszuschreibung markiert wird. Aus diesem Grund ist die Erfassung von Sinn und Bedeutung unmöglich geworden. Sinn und Bedeutung kennzeichnen Stillstand innerhalb eines Spiels, das ständig in Bewegung ist. 18 V.) Radikale Dezentrierung des Subjektbegriffs. Mit dem Strukturalismus verbindet den Poststrukturalismus schließlich die Negierung des Subjektes. Dies geschah im Strukturalismus durch die Betonung der Sprache, denn sie wird dort als System verstanden, das „dem einzelnen vorgängig“ ist. 19 Dadurch wird das Subjekt zum Effekt von Strukturen und verfügt über weitaus weniger an Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten, als dies in der humanitätszentrierten Geistesgeschichte - besonders seit der Aufklärung - verstanden wurde. Der Poststrukturalismus radikalisiert diese Auffassung. Die Betonung der Differenz macht es ihm jedoch unmöglich, die Sprache weiterhin als in-sich-stabiles System zu verstehen. Vielmehr sprengt die Möglichkeit der unendlichen Differenzierung innerhalb der Anordnung von Zeichen sowie deren Offen- und Unabgeschlossenheit die Konsistenz auch sprachlicher Strukturen. 20 13 M. F OUCAULT , Wahnsinn und Gesellschaft. 14 Vgl. L. I RIGARAY , Speculum; H. C IXOUS , Weiblichkeit in der Schrift. 15 W. R EESE -S CHÄFER , Lyotard, 13f. 16 Zum französischen Nietzscheanismus vgl. G. D ELEUZE , Nietzsche und die Philosophie; W. H AMACHER (H G .), Nietzsche aus Frankreich; M. F OUCAULT , Nietzsche, die Genealogie. 17 Vgl. U. S CHULENBERG , Adorno in der Postmoderne. - Besonders Lyotard rezipiert intensiv Adorno, vgl. W. R EESE -S CHÄFER , Adorno. Lehrer Lyotards. Eine Zusammenschau von Foucault und Adorno bietet A. H ONNETH , Foucault und Adorno. 18 M ÜNKER / R OESLER , Poststrukturalismus, 30-32. 19 A.a.O., 20. 20 A.a.O., 30. <?page no="59"?> 4.3 Foucaults Diskursanalyse 59 Besonders das fünfte Merkmal zeigt an, dass der Poststrukturalismus nicht einfach als Antistrukturalismus bezeichnet werden kann. Die Differenzen zwischen beiden Anschauungen lassen sich eher als Entwicklungsprozess interpretieren, indem der Poststrukturalismus als Radikalisierung des Strukturalismus verstanden wird: Zum einen geht er traditionsgeschichtlich aus dem Strukturalismus hervor, zum anderen verbindet beide die Fokussierung auf die Sprachlichkeit als grundlegendes Bezugsmodell - auch wenn die Sprache im Poststrukturalismus selbst demontiert und neu zusammengesetzt, eben dekonstruiert wird. 4.3 Foucaults Diskursanalyse Michel Foucault geht ständig „andere Verbindungen“ ein, legt seine Werke als „unterirdische Stollen“ an, modelliert „ein Labyrinth“, in welchem „er umherirrt“, seine Worte „verlagert er“ und „sich verliert er“, um an „anderer Stelle wieder aufzutauchen“. 21 Darin zeigt sich - mindestens seit Ende der 60er Jahre - Foucaults poststrukturalistische Affinität, die sich strukturalistisch beschreibbaren Regelmäßigkeiten weitgehend entzieht. 22 Ich beschränke mich im Folgenden auf Foucaults programmatische Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France vom 2. Dezember 1970. Foucault blickt in diesem Text auf sein bisheriges Werk zurück und stellt einige Überlegungen für sein zukünftiges Arbeiten an. 23 Insofern bildet diese Schrift einen Kristallisationspunkt in Foucaults Denken und ist geeignet, wesentliche Grundzüge des Foucaultschen Diskursverständnisses darzustellen. Die Ordnung des Diskurses Foucault thematisiert in diesem Vortrag den Diskurs als permanent vorhandene Kontrolle des Sagbaren. Dabei bestimmt er die Machtzentren der Kommunikation und löst sie zugleich wieder in nicht greifbare oder mutierende Zusammenhänge auf. Die schwebende Bedeutung des Diskursbegriffs zeigt sich bereits in der Eröffnung des Vortrags: Der Terminus wird als Aus- 21 M. C HLADA / G. D EMBOWSKI , Das Foucaultsche Labyrinth, 8. - Foucault hat nie beansprucht, ein in sich (ab-)geschlossenes Theoriegebäude zu errichten. Gerade darin sah er die Gefahr einer Verfestigung konstruierter Wahrheit. Oft schwanken daher die Bedeutungen verwendeter Begriffe, vgl. C. K AMMLER , Historische Diskursanalyse, 45. 22 Vgl. R.K. Sawyer, Archäologie des Diskursbegriffs, 51: Nach Sawyer besteht einer der grundlegendsten Rezeptionsfehler bei der Bestimmung des Foucaultschen Diskursbegriffs und somit der Foucaultschen Diskursanalyse insgesamt darin, dass Foucaults Umorientierung und Emanzipation vom Strukturalismus zu wenig beachtet wird. 23 T. F UCHS , Die Ordnung der Nation, 28. - Einen hintergründigen Einblick in die Umstände der Wahl Foucaults in das Collège de France sowie die Atmosphäre während der Inauguralvorlesung bietet D. E RIBON , Michel Foucault, 301-317. <?page no="60"?> 60 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse druck für einen Einzelvortrag eingeführt. 24 Diskurse sind jedoch mehr als bloße Sprachhandlungen. Der Diskurs, so die Hauptthese der Inauguralvorlesung, ist geregelt durch eine gefährliche und heteronom vorgegebene Ordnung, die sich der Menschen bedient: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“. 25 In jedem Einzeldiskurs oder Einzelvortrag spiegelt sich somit ein labyrinthhaftes Regelwerk vorgegebener Strukturen wider, das sich der kommunizierenden Subjekte bedient. Foucault beschreibt Zwangssysteme, Regularien und Mechanismen, welche von der Gesellschaft errichtet werden, um das „große Rauschen des Diskurses“ 26 zu befriedigen, die aber zugleich selbst die Macht in der Gesellschaft ausüben. Diese Kontrollmechanismen beschreibt Foucault als Ausschließung 27 , Einschränkung 28 und Regeln der praktischen Umsetzung 29 . Wahrheit als konstruierte Wissensproduktion und Machtausübung sind im Diskurs für Foucault identisch: Macht strukturiert die Diskurse und ordnet Wissen an. Macht lässt manche Diskurse wahrscheinlicher sein als andere. Und Macht entscheidet darüber, was Wahrheit ist und was nicht. 30 Anders als bei Marx, bei dem die Macht vorwiegend als Instrument der Herrschenden verstanden wird 31 , erscheint sie bei Foucault allgegenwärtig. Sie wirkt in sämtlichen Relationen und setzt sich im Diskurs uneingeschränkt durch. 32 24 „[I]n den Diskurs, den ich heute zu halten habe, und in die Diskurse, die ich vielleicht […] werde halten müssen, hätte ich mich gerne verstohlen eingeschlichen“, M. F OUCAULT , Die Ordnung des Diskurses, 9. 25 A.a.O., 10f. 26 A.a.O., 33. 27 A.a.O., 11-17. Die Ausschließung wiederum differenziert sich in Verbote, Grenzziehungen und den Gegensatz von wahr und falsch, bzw. gut und böse. 28 A.a.O., 17-25. Die Einschränkung erfolgt durch die Gattung des Kommentars, die Konstruktion des Autors und die Disziplin. 29 A.a.O., 25-30. Die Regeln konstituieren sog. Diskursgesellschaften, die bestimmte Diskurse produzieren und bewahren, zirkulieren lassen und verteilen. 30 A.a.O., 12. - Vgl. M. F OUCAULT , Dispositive der Macht, 53: Wahrheit konstituiert sich als „Ensemble von Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden wird“. 31 Siehe 3.3.2 Ideologiekritik als Entlarvung der Camera obscura - Die Marxsche Ideologiekritik. 32 Vgl. zum Foucaultschen Machtbegriff M. F OUCAULT , Der Wille zum Wissen, 122: „[D]ie Welt des Diskurses ist nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. […] Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt <?page no="61"?> 4.4 Applikationsprobleme der Foucaultschen Diskursanalyse 61 4.4 Applikationsprobleme der Foucaultschen Diskursanalyse Die Darstellung zentraler Aspekte Foucaults Diskurstheorie führt zu der Fragestellung, welche Möglichkeiten einer konkreten textanalytischen Anwendbarkeit sich daraus ergeben. Jürgen Fohrmann stellte im Jahr 2000 dazu lapidar fest: „Arbeiten, die sich nicht (nur) an der Diskussion über Diskurstheorie und an ihrer Weiterentwicklung beteiligen, sondern sie im Sinne Foucaults zur Methode und zum Gegenstand der Untersuchung machen, gibt es noch nicht“. 33 Bereits zwölf Jahre zuvor jedoch gab Fohrmann einen Aufsatzband zu genau dieser Fragestellung heraus 34 , in welchem Jürgen Link den Beitrag Literaturanalyse als Interdiskursanalyse am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik schrieb. 35 Link setzt sich darin nachdrücklich für eine methodische Überführung der Foucaultschen Diskurstheorie ein. Links Beitrag und Fohrmanns Skepsis stehen für die kontroverse Einschätzung einer textanalytischen Anwendbarkeit der Foucaultschen Diskursanalyse. Die Ursache hierfür liegt m.E. im Verhältnis von Poststrukturalismus und Methode: Während der Strukturalismus scholastisch als methodisches Analyseinstrumentarium verstanden werden kann, um Ausdrucksweisen menschlichen Denkens und Handelns als Manifestationen allgemeiner Strukturen auszuweisen, bildet der Poststrukturalismus stärker eine philosophische Grundströmung oder gar ein Lebensgefühl ab, welches jeden Ansatz einer positiven Erkenntnistheorie hinterfragt und spielerisch negiert. 36 Somit ist im Poststrukturalismus bereits selbst das Problem der Umsetzung von Theorien in geeignete Methoden grundgelegt. Daraus erklärt sich die kontroverse Debatte um die Applikationspotentiale der Foucaultschen Diskursanalyse: sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam. Desgleichen sichern das Schweigen und das Geheimnis die Macht und ihre Untersagungen“. 33 J. F OHRMANN , Art. Diskurstheorie(n), 374. 34 J. F OHRMANN (H G .), Diskurstheorien in der Literaturwissenschaft. 35 A.a.O., 284-307. 36 Als Beispiel für eine solche Entgegnung zur strukturalistischen Erkenntnistheorie zitiere ich folgende Textpassage von Jacques Derrida: „Es gibt somit zwei Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind und erlebt die Notwendigkeit einer Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik […] hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat“, J. D ERRIDA , Struktur, Zeichen, Spiel, 441. <?page no="62"?> 62 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse Matthias Fricke 37 sieht das Applikationsproblem der Foucaultschen Diskursanalyse durch die vorläufigen Terminologien in Foucaults Schriften verursacht, die eine definitorische Festlegung unmöglich machten. Fricke weist dies anhand der Begriffe Aussage, Ereignis, Äußerlichkeit und Häufung nach 38 und kommt zu dem Ergebnis, dass rationales Argumentieren bei Foucault selbst ein Spiel ist, das keinerlei Geltungskriterien für eine Diskursanalyse bereitstellt. 39 Ähnlich argumentiert Dominik Schrage. 40 Er versteht Foucaults Überlegungen zum Diskursbegriff nicht als „Perspektiven methodischer Durchführung“ 41 , sondern als Kritik an „der Kontinuität stiftenden Funktion solcher methodischer Aprioris“ 42 . Daraus schlussfolgert Schrage, dass der Diskurs aufgrund seiner Diskontinuität nicht methodisierbar ist, sondern in seinen Brüchen stehen gelassen werden muss. Eine systematisierbare Methodenentfaltung verbietet sich somit gerade vom Foucaultschen Diskursbegriff her. Vorstellbar ist für Schrage jedoch eine „methodische Funktion“ der Diskursanalyse 43 , indem sie als dekonstruierendes Artikulationswerkzeug die Ideengeschichte, den Strukturalismus, die Hermeneutik etc. demaskiert, statt interpretierend und formalisierend neue Sinnstiftungen vorzunehmen. Würde die Diskursanalyse auf der bedeutungsproduzierenden Ebene wie die zu entlarvenden Konzepte agieren, würde sie nur diese ersetzen bzw. mit ihnen im Konflikt der Deutungen konkurrieren. Schrages und Frickes Position spiegeln die verbreitete Einschätzung wider, dass Foucaults Denkgebäude „nicht als Verfahren zur Beschreibung oder gar Deutung literarischer Texte konzipiert“ ist. 44 Daraus folgt zum einen eine Einschränkung in Blick auf die Frage nach der Operationalisierbarkeit, gleichzeitig aber auch eine Öffnung, die zum Weiterdenken auffordert. Eine konkrete Ausarbeitung der Diskursanalyse sieht sich gezwungen, „über Foucault hinauszugehen“. 45 Damit verschließt sich der Weg einer Foucault-Orthodoxie, d.h. einer autorisierten Fortschreibung seiner Ideenwelt. Zugleich öffnen sich die Möglichkeiten für kreative Anknüpfungen. Foucault liefert selbst dazu die Aufforderung mit dem Bild der Werkzeugkiste: Der Wert eines Buches ermisst sich für Foucault darin, dass es Lust 37 M. F RICKE , Empirische Diskursanalyse nach Foucault. 38 A.a.O., 39f. 39 A.a.O., 47. 40 D. S CHRAGE , Was ist ein Diskurs? 41 A.a.O., 65. 42 Ebd. 43 A.a.O., 66. 44 C. K AMMLER , Historische Diskursanalyse, 32. - So sucht man auch vergeblich im Aufsatzband J. A NGERMÜLLER U . A . (H G .), Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, der in Verbindung mit der Dritten Erlanger Graduiertenkonferenz (2000) zum Thema „PostModerne: text - macht - wissen“ herausgeben wurde, trotz seines Titels (! ) nach literaturwissenschaftlich konkret applizierbaren Forschungsbeiträgen. 45 A. G EISENHANSLÜKE , Einführung in die Literaturtheorie, 129. <?page no="63"?> 4.5 Modifikation des Foucaultschen Themas 63 macht, mit ihm zu hantieren, als „kleine Werkzeugkiste“, die man bei Bedarf öffnet und derer Ideen, Sätze und Ergebnisse man sich bedient wie eines Schraubenziehers. 46 Ansätze solch einer kreativ-applikationsorientierten Diskursanalyse finden sich im deutschsprachigen Kontext u.a. bei Utz Maas 47 , Jürgen Link 48 , Siegfried Jäger 49 und der Wiener kritischen Schule. 50 Ich konzentriere mich im Folgenden auf Siegfried Jäger, der ein offenes Schema zur Analyse konkreter Diskurse entwickelt hat. 4.5 Modifikation des Foucaultschen Themas: Das diskursanalytische Modell von Siegfried Jäger Siegfried Jäger 51 legt eine Methodik vor, die das große Wuchern der Diskurse analysierbar machen soll. 52 Diskursanalyse erscheint bei ihm daher nicht nur als Rahmentheorie, sondern auch als methodisches Instrumentarium im interdisziplinären Schnittfeld von Literaturwissenschaft und Soziologie. Jäger rezipiert ausführlich die Diskurstheorie Foucaults und baut auf Überlegungen von Link und Maas auf. 53 Ziel seiner Diskursanalyse ist es, das diskursive Gewimmel des Diskurses zu entflechten, welches durch eine Vielzahl unterschiedlicher und miteinander kommunizierender Diskursteile gebildet wird. 54 In dieser analytischen Zielorientierung geht er über eine reine Diskurstheorie hinaus. S. Jäger zerlegt den Diskurs in verschiedene analysierbare Diskursteile, Spezialdiskurs und Interdiskurs, Diskursfragment und Diskursstrang: Im Anschluss an Link 55 unterscheidet Jäger zunächst zwischen Spezialdiskursen und dem Interdiskurs. Spezialdiskurse können in der modernen Gesellschaft in drei Kategorien eingeteilt werden, den naturwissenschaftlichen, den humanwissenschaftlichen und den interdiskursiv dominierten 46 M. F OUCAULT , Von den Matern zu den Zellen, 53. - Der Begriff des Werkzeugs taucht ebenso in einem Gespräch mit Ducio Trombadori auf: „Was ich geschrieben habe, sind keine Rezepte, weder für mich noch für sonst jemand. Es sind bestenfalls Werkzeuge - Träume“, ders., Gespräch mit D. Trombadori, 25. 47 U. M AAS , „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand“. 48 J. L INK , Elementare Literatur und generative Diskursanalyse; ders., Noch einmal: Diskurs. Interdiskurs. Macht. 49 Siehe die Darstellung des folgenden Abschnitts. 50 R. W ODAK / P. N OWAK / J. P ELIKAN u.a., „Wir sind alle unschuldige Täter“; R. W ODAK / B. M ATOUSCHEK / F. J ANUSCHEK , Österreichs Einstellung zu seinen ostmitteldeutschen Nachbarn. 51 S. Jäger ist Leiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziolinguistik, Psycholinguistik, Rassismusforschung und Diskurstheorie, vgl. http: / / www.diss-duisburg.de (28.02.07). 52 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse. Vgl. als komprimierte Darstellung seines Ansatzes ders., Diskurs und Wissen. 53 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 120-158. 54 A.a.O., 133. 55 J. L INK , Noch einmal: Diskurs. Interdiskurs. Macht, 5f. <?page no="64"?> 64 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse Spezialdiskursen 56 . Interdiskursiv dominierte Spezialdiskurse gibt es vor allem in der Philosophie und Theologie, die sich mit der Integration und Totalisierung der einzelnen Spezialdiskurse beschäftigen. 57 Der Interdiskurs hingegen stellt ein stark selektives, kulturell-geprägtes Allgemeinwissen dar. Er umfasst die Zwischenräume der einzelnen Spezialdiskurse, die sich als Meinungen, Haltungen, Strömungen und Vorstellungen in den diskursiven Prozess einklinken. Damit organisiert der Interdiskurs das Allgemeine in den Spezialdiskursen und redefiniert diese. 58 Diskursfragmente sind einzelne Texte oder auch nur Teile davon, die ein bestimmtes Thema behandeln. 59 Texte, die stringent ein einziges Thema aufweisen, sind mit Diskursfragmenten identisch. Ein Text kann jedoch auch aufgrund von Themenüberlagerungen Diskursfragment verschiedener Diskursstränge (s.u.) sein. Die Schnittstellen verschiedener Themen innerhalb eines Textes bezeichnet Jäger als diskursive Verschränkungen. 60 Mehrere Diskursfragmente werden durch einen gemeinsamen Diskursstrang zusammengehalten. Diskursstränge können mit anderen Diskurssträngen verschlungen sein und sich dadurch gegenseitig beeinflussen. 61 Die Diskursstränge verlaufen auf verschiedenen diskursiven Ebenen, etwa auf der Ebene der Wissenschaft, der Politik, den Medien, der Erziehung, des Alltags, des Geschäftslebens und der Verwaltung. 62 Alle Diskursstränge zusammen bilden schließlich den gesamtgesellschaftlichen Diskurs 63 , den S. Jäger knapp als „Fluß von ›Wissen‹ durch die Zeit“ bestimmt. 64 S. Jäger beginnt bei der Diskursanalyse mit den einzelnen Diskursfragmenten. Er befragt die betreffenden Texte nach ihrem Aussagegehalt, der Leselenkung, dem institutionellen Kontext sowie der sprachlichen Charakte- 56 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 131. 57 Beispiel für solch eine Integration bildet im Bereich der Theologie die theologisch geführte Säkularisierungsdebatte. Die Debatte um die Aufnahme der Gottes-Vokabel in die Europäische Verfassung kann als Beispiel für die Totalisierung im Bereich der Theologie gelten. 58 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 131f und 159. - U. G ERHARD / J. L INK / R. P ARR , Art. Interdiskurs, reintegrierender unterscheiden drei Ebenen der Interdiskursivität. Erstens: Die interdiskursive Konstellation, welche verschiedene Diskurse aufgrund ihrer analogen Aussageverfahren zusammenführt. Zweitens: Die Konstitution diskursübergreifender Dispositive wie Vernunft, Sexualität und Normalität. Drittens: Die reintegrierende Funktion, welche Aussagen, die ursprünglich in den Spezialdiskursen entstanden sind, wieder anhand von Metaphern, Mythen etc. in die Spezialdiskurse einspeist. - Der Begriff ‚Interdiskurs‘ selbst geht ursprünglich auf Michel Pêcheux zurück: M. P ÊCHEUX , Metapher und Interdiskurs. 59 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 159. 60 A.a.O., 166-168. 61 A.a.O., 160. 62 A.a.O., 162-164. 63 A.a.O., 166. 64 A.a.O., 129. <?page no="65"?> 4.6 Die diskursanalytische und diskurskritische Methodik 65 ristik. 65 Daraufhin lenkt Jäger den Blick auf den Diskursstrang und schließlich den Diskurs im Ganzen. 66 4.6 Die diskursanalytische und diskurskritische Methodik dieser Untersuchung Die Diskursanalyse hat innerhalb der Untersuchung der hermeneutischen Ansätze von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder die Aufgabe, deren intertextuelle und interdiskursive Beziehungen freizulegen. 67 Wie kann nun in Anschluss an die Diskurstheorie Foucaults und die Diskursanalyse Jägers ein praktikables 68 Instrumentarium erstellt werden? 4.6.1 Diskursanalyse und Untersuchungsgegenstand Jäger konzipierte sein diskursanalytisches Programm am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Sein Untersuchungsgegenstand setzt sich daher vor allem aus gesellschaftspolitischen Themen wie Rassismus 69 , Rechtsextremismus 70 und Pädagogik 71 zusammen. Dies sind typische Themenkreise diskursanalytischer Forschung 72 - vergleichbar Foucaults Interesse an der gesellschaftlichen Konstitution von Wahnsinn, Ausgren- 65 A.a.O., 171-187. 66 A.a.O., 199-214. 67 Das Theorem der Intertextualiät betont die literaturtheoretische Anschauung, dass Texte nicht für sich alleine bestehen, sondern sowohl synchron wie auch diachron in intensiver Beziehung zu anderen vor- oder nachher produzierten Texten stehen. Texte verarbeiten somit immer - sei es implizit oder explizit - andere Texte, indem sie diese aufnehmen, auf sie reagieren oder sie durch Negation neutralisieren, vgl. A. G EI - SENHANSLÜKE , Einführung in die Literaturtheorie, 102-105. - Julia Kristeva radikalisiert diese Anschauung, indem sie Texte ausschließlich als Mosaik ihnen vorangegangener Elemente versteht, J. K RISTEVA , Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. - J. Link erweitert die Intertextualität zur Interdiskursivität: Nicht nur Texte, sondern ganze Diskursstränge stehen in Beziehung zu anderen Diskurssträngen und können sich in einem spezifischen Text überlappen, J. L INK , Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. 68 Die Praktikabilität muss sich zum einen am Untersuchungsgegenstand und am Untersuchungsziel orientieren, zum anderen muss sie den Umfang der Untersuchungstexte berücksichtigen. Jägers feinmaschiges Untersuchungsverfahren, insbesondere die Mikro-Analyse des Diskursfragments (vgl. S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 172-187) eignet sich in dieser Form vor allem für kleinere Texte, nicht jedoch zur Analyse von umfangreichen Monographien. 69 Vgl. S. J ÄGER , Alltäglicher Rassismus; ders., BrandSätze. Rassismus im Alltag. 70 Vgl. S. J ÄGER (H G .), Rechtsdruck. Die Presse der Neuen Rechten. 71 Vgl. S. J ÄGER U . A . (H G .), „Warum weint die Giraffe? “ Ergebnisse des Forschungsprojektes „Schichtspezifischer Sprachgebrauch von Schülern“. 72 Vgl. R. W ODAK U . A . (H G .), „Wir sind alle unschuldige Täter“; J. L INK , Schönhuber in der Nationalelf: Halbrechts, rechtsaußen oder im Abseits? ; M. D IETZSCH , Der Rassismus heute: Der Diskurs der Elite und seine Funktion für die Reproduktion des Rassismus; W. S CHNEIDER , ‚So tot wie nötig - so lebendig wie möglich! ‘. <?page no="66"?> 66 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse zung und Normierung 73 . Mein Untersuchungsgegenstand - vier neutestamentliche Hermeneutiken - unterscheidet sich davon erheblich. Er umfasst keine gesamtgesellschaftliche Debatte, sondern muss vielmehr als Detail- Segment innerhalb eines spezifisch wissenschaftlich-kirchlichen Diskussionsfeldes beschrieben werden. Dennoch ist auch die Hermeneutikdebatte mit zahlreichen weiteren Spezialdiskursen vernetzt, wird durch den Interdiskurs prädisponiert 74 und partizipiert insgesamt an den diskursiven Mechanismen der Macht. Darin ist sie m.E. den großen gesellschaftspolitischen Debatten vergleichbar. Ein wesentlicher Unterschied bleibt jedoch in der perspektivischen Ausrichtung: Jäger geht bei seiner Analyse vom einzelnen Diskursfragment aus und will durch eine möglichst umfassende Zusammenschau mehrerer Diskursfragmente weithin zur Rekonstruktion des Gesamtdiskurses gelangen (s.o.). Der Fokus meiner Analyse liegt hingegen nicht primär in der Rekonstruktion eines Gesamtüberblicks zur Hermeneutikdebatte, sondern behält seinen Schwerpunkt in der Untersuchung von Einzeltexten, wenngleich in ihrer diskursiven Vernetzung. 4.6.2 Die diskursanalytische Untersuchung von Aussagen Jäger grenzt sich kritisch von strukturalistisch-poststrukturalistischen Theoremen ab, nach welchen Sprach-Untersuchungen wesentlich Sprach-System- Untersuchungen sind. 75 Vielmehr soll die Sprachwissenschaft sprachliche Äußerungen in ihrer diskursiven Wirkung untersuchen. 76 Ich greife diesen Ansatz auf und frage in der Diskursanalyse vor allem nach dem Zusammenhang zwischen den vier hermeneutischen Ansätzen und anderen Diskursfragmenten sowie weiteren Diskurssträngen. Dadurch sollen die theologischen, gesellschaftlichen und politischen Referenzpunkte ermittelt werden, welche für die Positionierungen dieser vier Hermeneutiken leitend sind. Diskursanalyse und Ideologiekritik komplementieren sich hierbei gegenseitig: Die Ideologiekritik ermittelt die diskursiven Verfahren der Ideologie auf der strukturell-syntaktischen Erzählebene und auf der semantischen Inhaltsebene (s.o.). Ebenso analysiert die Diskursanalyse den Aussagegehalt in seiner interdiskursiven Relation zu weiteren Diskursfragmenten sowie Diskurssträngen und beschreibt die Einwirkung des Interdiskurses. Die 73 Vgl. M. F OUCAULT , Wahnsinn und Gesellschaft; ders., Der Wille zum Wissen; ders., Der Gebrauch der Lüste; ders., Die Sorge um sich. 74 Die Einwirkungen des Interdiskurses zeichne ich anhand der beiden Antipoden ‚Konservativismus‘ und ‚Progressivität‘ nach (s.u.). 75 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 113. Jäger bezieht sich insbesondere auf die (Sprech-) Tätigkeitstheorie von A.N. L EONTJEW , Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit und integriert somit die Wirkung von Aussagen in die Diskursforschung, vgl. S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 78ff. 76 Vgl. a.a.O., 10-20. <?page no="67"?> 4.6 Die diskursanalytische und diskurskritische Methodik 67 Bedeutungsebene und die Relationsebene werden also in beiden Untersuchungsschritten miteinander verschränkt. 4.6.3 Subjekt und Macht im Diskurs Die Frage nach dem Subjekt möchte ich hier im diskursanalytischen Zusammenhang folgendermaßen stellen: Wie frei oder unfrei sind die AutorInnen der vier Hermeneutiken in der Produktion ihrer Aussagen? Foucaults Antwort ist eindeutig, und hier folgt er der eigenen Tradition, der französischen Philosophie, namentlich Althusser 77 . Das Subjekt als autonome Instanz gibt es nicht (mehr) 78 : „Man muß sich vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, das heißt zu einer Gesellschaftsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag“. 79 Die Diskursanalyse untersucht aus diesem Grund die Bezugnahmen und Abhängigkeiten als intertextuelle bzw. interdiskursive Relationen. Gibt es dennoch innerhalb des diskursanalytischen Paradigmas so etwas wie Eigenleistungen? Ich verstehe unter Eigenleistungen hier nicht Ideen, die es vorher nicht gab - solche Eigenleistungen sind ziemlich selten -, sondern Tätigkeiten in Blick auf die Formation, d.h. die Anordnung und Verknüpfung von Ideen, die es in dieser Kombination so vorher nicht gab. Diese Frage lässt sich nun m.E. nur unter Berücksichtigung des Machtaspektes beantworten. Macht im Diskurs wird zum einen durch die Kontrollmechanismen und Regelwerke auf die im Diskurs agierenden Personen ausgeübt - ich bezeichne dies als Machteinwirkung (auf eine im Diskurs agierende Person). Zum anderen kann Macht auch als Machtausübung beschrieben werden, wie sie durch die im Diskurs agierenden Personen formiert wird. Beide Seiten werde ich im letzten Teil der Diskursanalyse, der Diskurskritik, im Hinblick auf die vier Hermeneutiken und deren Autoren thematisieren. 80 77 Siehe 3.3.4 Ideologie und Struktur - Louis Althusser. Zur Verbindung von Althusser und Foucault vgl. I. C HARIM , Der Althusser-Effekt, 91-136. Zur transdisziplinären Debatte um den Subjektbegriff zwischen Autonomie und Determination vgl. die Literaturangaben bei 6.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen / Diskursstrang zum Stellenwert des Subjektes. 78 „Die Doktrin bindet die Individuen an bestimmte Aussagetypen und verbietet ihnen folglich alle anderen; aber sie bedient sich auch gewisser Aussagetypen, um die Individuen miteinander zu verbinden und sie dadurch von allen anderen abzugrenzen. Die Doktrin führt eine zweifache Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen“, M. F OUCAULT , Die Ordnung des Diskurses, 29. - Die Ordnung der Dinge beendet Foucault mit dem skeptischen Ausblick, „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, M. F OUCAULT , Die Ordnung der Dinge, 462. 79 M. F OUCAULT , Wahrheit und Macht, 32. 80 Siehe 13.2 Macht. <?page no="68"?> 68 4 Methodenreflexion zur Diskursanalyse 4.6.4 Diskursanalyse als Ermittlung diskursiver Bezüge und Diskurskritik als vergleichende Interpretation Ich unterteile die diskursanalytische Untersuchung in zwei Makroeinheiten, Diskursanalyse und Diskurskritik. 81 Die Diskursanalyse untersucht die textuellen und diskursiven Bezüge der vier Hermeneutiken in drei Schritten: Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten Im ersten Schritt befrage ich die Hermeneutiken nach Überschneidungen mit anderen Diskursfragmenten. In diesem Zusammenhang gelten als Diskursfragmente Texte, welche die Hermeneutik im allgemeinen und die Neutestamentliche Hermeneutik im speziellen thematisieren und somit dem gleichen Diskursstrang angehören. Ich differenziere zwischen biblischen Diskursfragmenten, weiteren hermeneutischen Texten sowie Selbstbezügen der vier AutorInnen. Überlappung mit anderen Diskurssträngen Im zweiten Schritt untersuche ich die Überlappungen mit anderen Diskurssträngen. Hier werden die wesentlichen diskursiven Verschränkungen beschrieben, durch die Verbindungen zu weiteren Themenstellungen über die Hermeneutik hinaus hergestellt werden. Bezüge zum Interdiskurs In einem dritten Schritt stelle ich Bezüge zum Interdiskurs dar. Ich beschränke mich auf die Einwirkung der beiden Grundhaltungen ‚Konservativismus‘ und ‚Progressivität‘. 82 Die Diskurskritik verarbeitet und interpretiert im synoptischen Vergleich 83 die Ergebnisse der allgemeinen Textanalyse, der Ideologiekritik und der Diskursanalyse: 81 Den Begriff Diskurskritik verwende ich in Abgrenzung zur Diskursanalyse als Terminus für den zweiten diskursanalytischen Schritt. Diese Differenzierung ist arbiträr, sie stützt sich auf keine semantisch-inhaltliche Begründung, sondern soll lediglich formal die beiden diskursanalytischen Abschnitte unterscheiden. 82 Die Klassifizierung in Konservativismus und Progressivität muss im Kontext meiner Untersuchung unbedingt von parlamentarisch-politischen Einteilungen wie rechtskonservativ und links-progressiv unterschieden werden. Die konservative Grundhaltung verstehe ich hier als generelle Einwirkung bewahrender Diskurskräfte, welche einen definitiven status quo zu erhalten und gegen progressive Angriffe zu verteidigen suchen. Die progressive Grundhaltung hingegen zielt auf eine moderate Transformation bis radikale Revolutionierung des als unbefriedigend codierten status quo. Die bipolare Spannung dieser beiden interdiskursiven Grundhaltungen erklärt die Dynamik, den Konflikt und den Kampf innerhalb diskursiver Prozesse in ihrer allgemeinsten Form. 83 Die Methode des Vergleichs zur Untersuchung der vier hermeneutischen Positionierungen entlehne ich dem Forschungsgebiet der Komparatistik. Zima stellt eine Ver- <?page no="69"?> 4.6 Die diskursanalytische und diskurskritische Methodik 69 Vergleich der Untersuchungsergebnisse Zuerst fasse ich die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsschritte als Formationen zusammen und interpretiere deren Gemeinsamkeiten, Differenzen und Leerstellen 84 . Diskurskritische Einordnungen Anschließend beleuchte ich drei diskursrelevante Einstellungen: Zu welchen Institutionen bestehen in Zustimmung und Abwehr besondere Verbindungen? Wie lässt sich die Dimension der Macht, verstanden als Machteinwirkung und Machtausübung, in Bezug auf diese vier Hermeneutiken beschreiben? Wie läst sich der jeweilige Selbstanspruch dieser vier Hermeneutiken charakterisieren? Charakterisierung der vier Hermeneutiken Abschließend skizziere ich auf der Basis aller Untersuchungsergebnisse das hermeneutische Profil der vier Ansätze. Dabei beschreibe ich zum einen die jeweilige Textreferenz, d.h. das Verhältnis zwischen hermeneutischem Entwurf und biblischem Bezugstext und zum anderen pointiere ich das spezifische Proprium der vier neutestamentlich-hermeneutischen Ansätze. Eine hier eingefügte Kritik der vier Entwürfe schließt die Untersuchungen insgesamt ab. bindung zwischen Komparatistik und Ideologiekritik her: „Eine der Hauptaufgaben der Komparatistik besteht nun darin, sprachliche Situationen als Entstehungszusammenhänge von ideologischen und fachsprachlichen Diskursen zu rekonstruieren und zu zeigen, wie ideologische Sprachen, Fachsprachen und literarische Texte intertextuell aufeinander einwirken, einander wechselseitig bedingen“, P.V. Z IMA , Komparatistik, 81. Ich verorte den Methodenschritt des Vergleichs allerdings nicht direkt innerhalb meiner ideologiekritischen Analyse, sondern erst in der Diskurskritik, um die Ergebnisse aus Diskursanalyse und Ideologiekritik insgesamt nutzen zu können. 84 Der Begriff der Leerstelle wird vor allem innerhalb der leseforschungsorientierten Rezeptionsästhetik verwendet. Wolfgang Iser gebraucht ihn als zentralen Terminus zur Bezeichnung der aktiven Sinnkonstruktion eines Textes durch die Rezipienten, vgl. W. W OLF , Art. Leerstelle. Innerhalb meines synoptischen Vergleichs benutze ich den Begriff hingegen produktionsästhetisch. Die Leerstelle bezeichnet hier die Absenz eines Themas bei einem oder mehreren Entwürfen im Vergleich zu den anderen untersuchten hermeneutischen Ansätzen. <?page no="71"?> 5 Schaubild zu den einzelnen Untersuchungsschritten Allgemeine Textanalyse Inhalt Wertung Pragmatik Ideologiekritik Ideologie als Erzählstruktur: Ideologie als Aussagestruktur: Dualismen Schlüsselbegriffe Mythische Aktanten Relevanzkriterien Naturalismus und Identitätsdenken Soziolekte Monolog Diskursanalyse Überschneidung Überlappung Bezüge mit anderen mit anderen zum Diskursfragmenten Diskurssträngen Interdiskurs Diskurskritik Vergleich der Charakterisierung Untersuchungs- Diskurskritische der vier ergebnisse: Einordnungen: Hermeneutiken: Formation Institutionsbezüge Das spezielle Gemeinsamkeiten und Macht hermeneutische Differenzen Selbstanspruch Profil Leerstellen <?page no="73"?> Teil B Einzelanalyse der vier hermeneutischen Basistexte <?page no="75"?> 6 Untersuchungen bei Klaus Berger 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik T ITEL - W IDMUNG - A UFBAU K. Bergers beide Hermeneutiken tragen den knappen Titel ‚Neutestamentliche Hermeneutik‘. Die apodiktische Titelformulierung intendiert einen exklusiven Anspruch dieses Ansatzes. 1 Die Hermeneutik von 1999 trägt keine eigene Widmung. Allerdings verweist K. Berger in seinem Vorwort auf die bewährte Widmung der Hermeneutik von 1988: „Meinen Hörerinnen und Hörern in Heidelberg seit 1974“. 2 Der Aufbau des Textbestandes weist folgende Struktur auf: Die Hermeneutik von 1999 gliedert sich in drei Hauptteile. - Teil I: Wichtige Positionen der Forschungsgeschichte (5-53). - Teil II: Entwurf einer Hermeneutik des Neuen Testaments (55-128). - Teil III: Zur Praxis der Applikation (129-206). Dem ersten Teil ist ein Vorwort und eine Einführung vorgeschaltet (IX-X und 1-4). An den dritten Teil schließt sich ein Ausblick an (207-211). Aus der Hermeneutik von 1988 nehme ich zwei Abschnitte des Kapitels Hermeneutik und Ästhetik hinzu. 3 - 1. Abschnitt: § 20: Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik (289-293). § 21: Offenbarung und Ästhetik (293-319). 4 - 2. Abschnitt: § 23: Wirkungsanalyse (333-341). § 24: Die hermeneutische Bedeutung der Metapher (342-357). § 25: Inszenierte Vermittlung (358-363). 1 Der exklusiven Intention entspricht die polarisierende Struktur der ermittelten Dualismuskonstruktionen in der ideologiekritischen Untersuchung. Dort wird jeweils K. Bergers eigene Position als alternativlose Option dargestellt, vgl. 6.2.1 Dualismen. 2 KBe (=K. B ERGER , Hermeneutik des Neuen Testaments 1988 / 1999) IX. 3 Ich fasse die beiden Abschnitte aus der Hermeneutik von 1988 als Anhänge zur Neukonzeption von 1999 auf und folge damit K. Bergers eigenem Hinweis zur Vernetzung der beiden Werke: „Für ausführliche theoretische Einzelbegründungen zu den Themen ‚Situation‘, ‚Ethik‘ und ‚Ästhetik‘ muß man weiterhin im ersten Buch nachsehen“, ebd. 4 Der § 22 ‚Emotionalität‘ entspricht weitgehend dem Abschnitt ‚Applikation und Emotionalität‘ in K. Bergers Hermeneutik von 1999, KBe 179-190. <?page no="76"?> 76 6 Untersuchungen bei Klaus Berger V ORWORT UND E INFÜHRUNG 5 Auf den ersten sechs Seiten des Vorwortes und der Einführung 6 erscheinen bereits wichtige Positionierungen und Grundfragestellungen, die K. Berger im weiteren Verlauf seiner Hermeneutik bearbeitet. So formuliert er im Vorwort sein Grundanliegen, die „Trennung von Exegese und Applikation, eine Hermeneutik der Fremdheit zugunsten des großen spirituellen Reichtums der Texte und dessen, was sie bezeugen“ 7 . K. Berger begründet dieses Vorgehen mit dem desolaten Zustand der Kirchen, zu dem auch die Exegese in ihrer Langweiligkeit einen Beitrag leiste. 8 Die Aufgabe der Hermeneutik sieht K. Berger darin, in den Kirchen eine faszinierende Kraft freizusetzen, die dem Potential der biblischen Texte gerecht wird. Die Einführung benennt drei hermeneutische Grundprobleme, erstens den Umgang mit ethisch oder vorstellungsweltlich schwierigen Texten 9 , zweitens die Krise des faktisch geltenden und allerorten unterwanderten Schriftprinzips 10 und drittens die daraus resultierende Verlegenheitslösung, die Bibel durch Harmonisierungsstrategien retten zu wollen. 11 Auf diesem Hintergrund plädiert er für seinen dritten Weg jenseits von Rationalismus und Supranaturalismus, d.h. jenseits eines evangelikalen und linken Biblizismus und für eine Hermeneutik der Fremdheit, die Versuche einer „doktrinärüberzeitliche[n] Antwort“ hinter sich lässt. 12 P RAGMATIK - Der krisenhafte Zustand der Kirche hängt wesentlich mit der Krise im Umgang mit den biblischen Texten zusammen. Die Lösung kann nur in einer Hermeneutik liegen, die sowohl den evangelikalen Litteralismus wie auch den Rationalismus sowie jede Art von geschlossenem Doktrinarismus hinter sich lässt. - K. Bergers Hermeneutik widmet sich der Lösung dieser Probleme. T EIL I: W ICHTIGE P OSITIONEN DER F ORSCHUNGSGESCHICHTE 13 Der erste Hauptteil setzt sich mit „wichtige[n] Positionen der Forschungsgeschichte“ auseinander. 14 K. Berger versteht seine Hermeneutik selbst als „studentenfreundliches Studienbuch“, welches „die Einzelpositionen der 5 KBe IX-X und 1-4. 6 KBe IX-4. 7 KBe IX. 8 KBe X. 9 KBe 1. 10 KBe 2. 11 KBe 2ff. 12 KBe 4. 13 KBe 5-53. 14 KBe 5. <?page no="77"?> 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 77 Forschung […] darstellen und besprechen“ möchte. 15 Nach diesem Selbstanspruch will dieser erste Hauptteil über geschichtliche Hauptstationen der Hermeneutik informieren und durch kritische Anregungen ein eigenes Urteil ermöglichen. Dabei ist auffällig, dass der Besprechung bisweilen mehr Raum als der Darstellung der ausgewählten Konzepte gewidmet wird. Dies gilt für die Position der Mitte der Schrift 16 , für die Auseinandersetzung mit Hans-Georg Gadamer 17 und insbesondere für die Diskussion mit Dietrich Ritschl und dessen impliziten Axiomen 18 . Einen Sonderfall bilden die Abhandlung zu Rudolf Bultmann und der Befreiungstheologie: So sind in die Darstellung des Ansatzes Bultmanns 19 weitaus stärker als bei den anderen Positionen Bergers negative Wertungen integriert, ohne dass auf eine anschließende - ebenso kritische - Besprechung verzichtet wird. 20 Umgekehrt verhält es sich bei der Befreiungstheologie: Hier wird in der Darstellung bereits K. Bergers Sympathie für diesen Ansatz deutlich, ohne dass er in einem weiteren Schritt auf die positive Würdigung verzichtete. 21 Überraschend wirkt im Anschluss an die Theologie der Befreiung K. Bergers kritische Positionierung zur feministischen Hermeneutik. 22 Die übrigen Ansätze fallen - mit Ausnahme Schleiermachers - knapp und eklektisch aus. Dies wird vor allem in der Darstellung Martin Luthers deutlich 23 , die sich streiflichtartig auf die Themen Auslegung als Werk des Heiligen Geistes und Scriptura sui ipsius interpres beschränkt. Besonders die Auseinandersetzung mit den beiden anderen wichtigsten deutschsprachigen Vertretern zeitgenössi- 15 KBe IX. 16 KBe 11-14. K. Berger kritisiert an dieser Konzeption vor allem den Primat der Dogmatik vor der Exegese. 17 KBe 24-28. An Gadamers Ansatz kritisiert K. Berger besonders dessen Vernachlässigung des Subjektthemas: Bei Gadamer werde das Subjekt völlig unter einen totalisierenden Geschichtsprozess subsumiert. K. Berger plädiert demgegenüber in Anspielung auf die Gadamer-Habermas-Debatte um die Rehabilitierung des Vorurteils für eine Rehabilitierung des Subjektes. 18 KBe 28-40. K. Berger widmet der Auseinandersetzung mit Ritschl ca. 1/ 4 des ersten Hauptteils. Er kritisiert an Ritschls Konzept der impliziten Axiome, dass es als starre Rahmentheorie die Auseinandersetzung mit Texten von außen oktroyiere. 19 KBe 17-21. 20 Ähnlich wie bei Gadamer und Ritschl zielt die Kritik an Bultmann auf dessen generalisierenden Überbau, den K. Berger als Existentialismus, Idealismus und Entmythologisierung skizziert. 21 KBe 41-50. Die Theologie der Befreiung würdigt K. Berger positiv, weil sie die konkrete geschichtliche Situation berücksichtigt, sich den Situationsbezug jeder Anwendung bewusst macht und die bedeutende Dimension der Ethik betont. 22 KBe 50-53. K. Berger kritisiert am Feminismus die fehlende Trennung von Exegese und Applikation, die Eigendynamik einer Hermeneutik des Verdachts, die mitunter zu einer Verurteilungsmentalität bereits aus Verdachtsgründen neige, sowie ein Defizit im Bestreben, den Texten gerecht zu werden. Allerdings würdigt Berger am Feminismus ebenso dessen Thematisierung der soziologischen Funktion der Sprache und der Bedeutung des Kontextes. 23 KBe 8f. <?page no="78"?> 78 6 Untersuchungen bei Klaus Berger scher neutestamentlich-hermeneutischer Programme, Peter Stuhlmacher und Hans Weder, ist aufschlussreich: Stuhlmacher wird lapidar in acht Zeilen verhandelt 24 und Weder auf zwei Seiten fundamental kritisiert. 25 Die bisherigen Beobachtungen möchte ich folgendermaßen zusammenfassen: I.) K. Berger konzipiert die forschungsgeschichtliche Abhandlung planvoll, um seine eigene Position vorzubereiten. Dies erklärt den auffällig großen Anteil an Bewertungen in und nach den Darstellungen. Somit hat dieser erste Hauptteil insbesondere für die ideologiekritische Analyse eine wichtige Funktion. II.) K. Bergers Abgrenzungen beziehen sich sowohl auf bestimmte konfessionelle wie auch liberale Hermeneutiken, die Argumentation ist jeweils ähnlich: Er kritisiert starre Rahmentheorien, seien sie dogmatischer oder philosophischer Art, die einer beweglichen Interaktion zwischen Text und Rezipient nicht gerecht werden können, weil sie bereits manipulativ und kanalisierend auf diesen Prozess einwirken. III.) K. Berger betont im ersten Hauptteil bereits an mehreren Stellen die Relevanz der Ethik, z.B. in der Darstellung des mehrfachen Schriftsinns 26 , der Auseinandersetzung mit Bultmann 27 und besonders im Abschnitt zur Befreiungstheologie 28 . IV.) In seiner Distanzierung vom Rationalismus ist K. Berger an Phänomenen und Problemstellungen interessiert, die liberal-theologisch mit dem Schlüsselbegriff Supranaturalismus zusammengefasst werden. So betont er das Thema ‚Heiliger Geist‘ in den biblischen und reformatorischen Ausführungen 29 sowie in seiner Auseinandersetzung mit Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Ebenso würdigt Berger schwarzafrikanische Religionen als der Welt des Neuen Testamentes in vielem näher stehend als die philosophischen Traditionen des 19. Jahrhunderts, aus denen auch Bultmann seinen Ansatz entwickelte. 30 24 KBe 11. K. Berger bemängelt an Stuhlmacher, dass dessen Ansatz keine Chance für Innovation biete und gegenüber seiner eigenen Position den entscheidenden Nachteil habe, der Komplexität von Wirklichkeit nicht gerecht zu werden. 25 KBe 23f. K. Berger lehnt H. Weders Hermeneutikmodell rundweg ab, da dessen dogmatische Selbstvergewisserung keinerlei Relevanz für die alltägliche praktische Anwendung des Evangeliums habe. „Sätze wie ‚Gott ist die Liebe. Dieser Satz ist einfach wahr zur Zeit des Neuen Testaments wie heute‘ [H. Weder 1986, sinngemäß 284f.] machen deutlich, dass hier jeder Sinn für sprachliche oder kulturelle Differenz der Dogmatik geopfert wird“, KBe 24. 26 „Die drei letztgenannten ‚Sinne‘ [Allegorie, Anagogie, Eschatologie] konnte man mit der Trias Glaube, Liebe und Hoffnung verbinden“, KBe 8. 27 „Geschichte wird bei Bultmann aufgehoben zugunsten einer bloßen Illustration menschlicher Möglichkeiten […]. Auch aus diesem Grund unterbleibt die Ethik“, KBe 22. 28 „Applikation ist nicht ein akademisches Sichverständlichmachen der Botschaft […], sondern ein auf Handeln bezogenes Verstehen. Applikation selbst ist dabei ein höchst verantwortliches Handeln“, KBe 41. 29 KBe 6 und 8f. 30 KBe 21. <?page no="79"?> 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 79 P RAGMATIK - Das Neue Testament richtet sich gegen anthropologische Systematisierungen und fordert eine kairologisch-kontextuelle Hermeneutik. - Deshalb muss sich eine neutestamentliche Hermeneutik gegen geschlossene Systembildungen jeder Art wenden. Um eine kontextuelle Auslegung zu ermöglichen, müssen die beiden Arbeitsschritte Exegese und Applikation voneinander getrennt werden. 31 - Gegenüber dem Rationalismus hat eine neutestamentliche Hermeneutik das Gespür für Heiligkeit neu zu entdecken, d.h. für Phänomene jenseits des naturwissenschaftlichen Schemas. - Schließlich muss eine neutestamentliche Hermeneutik die ethische Dimension intensiv berücksichtigen. T EIL II: E NTWURF EINER H ERMENEUTIK DES N EUEN T ESTAMENTS 32 K. Berger bearbeitet im zweiten Hauptteil Fragestellungen, die er im ersten Hauptteil eingeführt hat, um sich auf dieser Basis im dritten Hauptteil der Konkretisierung der Applikation zuwenden zu können. Folgende Hauptthemenfelder weist dieser Abschnitt auf: Die Wahrheitsfrage Parallel zur Darstellung der Positionen der Forschungsgeschichte wählt K. Berger die Bibel auch hier zum Ausgangspunkt seiner Entfaltung des Wahrheitsverständnisses. Dieser Rekurs hat die Funktion, einem personalen und ethischen Wahrheitsbegriff den Vorzug vor einer dogmatischen Konzeptionalisierung von Wahrheit zu geben. 33 Er bezieht sich vor allem auf die johanneischen Aussagen Ich bin die Wahrheit und Bleiben, bzw. Tun der Wahrheit. Solche - in K. Bergers Terminologie - genuine Wahrheiten sind nicht wissenschaftlich erweisbar, aber religiös erfahrbar. 34 Demgegenüber bilden dogmatische Lehrwahrheiten nur abgeleitete Wahrheiten, 35 denn sie sind vom Primat der Liebe aus geurteilt sekundär. 36 Dieses personale Wahrheitsverständnis eröffnet eine kritische Haltung gegenüber objektivistischen Textinterpretationen 37 , eurozentrischem Wahrheitsdenken 38 , der Konstruk- 31 Die fehlende Trennung von Exegese und Applikation kritisiert K. Berger bei der Position der Biblischen Hermeneutik, bei Gadamer, sowie beim Feminismus, indirekt auch bei der evangelikalen Position und der Position der Mitte der Schrift. 32 KBe 55-128. 33 KBe 55f. 34 KBe 56. 35 KBe 57. 36 K. Berger verweist in diesem Zusammenhang auf die Praxis zwischen Rom und den unierten Ostkirchen, wo „eine Priorität der Gemeinschaft der Liebe […] vor der strikten Identität des Bekenntnisses“ praktiziert werde, KBe 57. 37 K. Berger plädiert an dieser Stelle mit S. Fish für die Interpretationsgemeinschaft, KBe 59. 38 K. Berger bezieht sich hier auf den lateinamerikanischen Befreiungstheologen J. Miguez-Bonino, KBe 60. <?page no="80"?> 80 6 Untersuchungen bei Klaus Berger tion einer übergeschichtlichen Sache 39 und metaphysischen Abstraktionen, welche das Individuum unter universale Allgemeinheiten subsumieren. 40 Die Frage nach dem Subjekt K. Bergers Sicht des Subjekts ist eng mit der oben skizzierten Konzeption von Wahrheit verbunden. So wertet er den Begriff der menschlichen Identität anhand seiner Kritik an unmenschlichen totalisierenden Systemen auf und erhebt den Subjektgedanken zu einer Schlüsselstelle seines Ansatzes. Dem Konformismus der Universalansätze wirft er vor, dass deren Subjektverlust auch zum Verlust der Leidensfähigkeit führe. 41 Die Kategorie der Individualität hingegen ermögliche konkrete Geschichtlichkeit und die Wiederaufwertung der Ethik. 42 Deshalb fordert er programmatisch die „Rehabilitierung des Subjektes“. 43 Die Ablehnung abstrakter Systeme K. Bergers Kritik an geschlossen-systemischen Denkschemata steht ebenfalls in deutlicher Nähe zu den Themen Wahrheit und Subjekt, denn totalisierende Systembildungen können sowohl das biblische Wahrheitsverständnis als auch die Subjektwertigkeit unterminieren. So kontrastiert K. Berger den ewigen Gott mit der zeitlich fixierten und daher begrenzten Wahrheit der Dogmatik. 44 Gegen die Totalität der Lehrwahrheit setzt er das cusanische Prinzip der unitas in diversitate 45 , und gegen eine objektivistische Textinterpretation argumentiert er mit S. Fish’ Interpretationsgemeinschaft 46 . Alle abstrakten Systeme, sowohl die konfessionellen Ansätze, die Biblische Hermeneutik als auch die Rahmentheorien Gadamers, Ritschls oder die Theorien Barthscher und Bultmannscher Prägung haben nach Ansicht K. Bergers gemein, dass sie verkürzen und harmonisieren müssen, um der Sperrigkeit biblischer Texte begegnen zu können. Damit ist die notwendige Problemkonstruktion für K. Bergers Lösungsmodell grundgelegt. 39 Nach K. Berger fordert gerade die Personalität der Wahrheit eine „radikale[…] Geschichtlichkeit von Wahrheit“, KBe 61. 40 KBe 62f. 41 KBe 74f. 42 KBe 75. 43 In Abgrenzung zu Gadamer geht es K. Berger nicht um ein Eintauchen in den Geschichtszusammenhang, sondern um die Dialektik von Erinnerung und Freiheit, KBe 90. Daher fordert er die Rehabilitierung der Subjekte von Autor und Ausleger/ Leser. Verstehen wird somit als Verstehen von Subjekt zu Subjekt ermöglicht, KBe 90-93. 44 Dies ist „notwendig, um nicht die Illusion entstehen zu lassen, nicht Gott, sondern die Dogmatik sei ewig, und Ewigkeit im Sinne der Bibel meine unbewegliche Starrheit“, KBe 57. 45 KBe 58. 46 KBe 59. <?page no="81"?> 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 81 Die Hermeneutik der Fremdheit Die Schärfe biblischer Aussagen wird nach K. Berger sowohl durch Distanz wie auch durch naiven Glauben beeinträchtigt. 47 Darauf antwortet seine Hermeneutik der Fremdheit: Sie bietet die Chance für Innovation. Denn Innovation ist von zentraler Bedeutung für K. Bergers Wahrheitsverständnis, da Wahrheit geschichtlich immer wieder neu konkretisiert werden muss 48 . Aus dem Ansatz einer Hermeneutik der Fremdheit ergibt sich für K. Berger notwendigerweise die Trennung von Exegese und Applikation. 49 K. Berger stützt die Kategorie der Fremdheit, indem er sie als explizit biblische Denkfigur einführt. 50 Der hermeneutische Zirkel und die Wirkungsgeschichte Am hermeneutischen Zirkel interessiert K. Berger insbesondere, wie dieser durch Veränderungen erweitert werden kann, um Gewohntes zu durchbrechen. 51 Produktive Veränderungen geschehen nach K. Berger durch Sensibilität, Wahrnehmung der Fremdheit des Textes, den Austausch innerhalb der Forschergemeinschaft, biografische Katastrophen, Mut, Sachkenntnis und schließlich Fantasie. 52 Diese Veränderungsprozesse zerstören erst einmal das vertraute und vorgeformte. „Es werden in der Tat religiöse Geborgenheitserfahrungen zerstört“. 53 Die Rede von der Wirkung eines Textes lässt gegenüber der Rede von der Sache eines Textes Raum für Individualität und Partikularität. Damit ist der Begriff der Wirkung eingebunden in K. Bergers Kritik an totalisierenden Systemen und Entsubjektivierungsprozessen. 54 Die Spannung zwischen Loyalität und Freiheit K. Berger unterscheidet deutlich zwischen zwei Subjekten, dem Autor und dem Leser. Hierzu führt er das Begriffspaar Loyalität (zum Autor) und Freiheit (für die Applikation) ein. Der Konflikt zwischen Loyalität und Freiheit ist konstitutiv, weil sich immer zwei Bewegungsrichtungen bei der Auslegung gegenüber stehen: Die Meinung des Autors und der Konsum des Textes. 55 47 KBe 76. 48 „Fremdheit ist die Bedingung von Wirkung. Denn eine in ihrer Fremdheit wieder erschlossene Schrift kann selbst auch neue Erfahrung vermitteln“, KBe 81. 49 KBe 80. 50 K. Berger verweist auf Gottes unbegreifliches Handeln in Bezug auf Israel (Röm 9,19- 22) oder auf „erschreckende Forderungen“ bei Vergehen wie Mt 5,27-30, KBe 80. 51 KBe 83. 52 KBe 84-86. 53 KBe 90. 54 „Die abstrakten und absoluten Zielvorstellungen sind die wahrhaft unmenschlichen“, KBe 94. 55 KBe 96f. <?page no="82"?> 82 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Loyalität ist nach K. Berger als Orientierung an der Schrift nötig, „weil wir uns am Ende nicht selbst helfen können“. 56 Außerdem schützt Loyalität vor der Verfügung über die Schrift zum Eigenbedarf der Selbstbestätigung. 57 Zugleich entgegnet Berger dem Missverständnis, Loyalität impliziere Gesetzlichkeit, denn Loyalität schließe die Freiheit mit ein. 58 Zwei Grenzen kennt die Loyalität: „Die Untergrenze […] ist verletzt, wenn der Übersetzer völlig aus dem Auge verliert, […] daß es sich um einen Text fremden Ursprungs handelt“, die Obergrenze ist „überschritten, wenn der Leser das Gebotene nicht mehr versteht“. 59 Auch die Loyalität hat Anteil an der Ethik: Sie dient als Interessenausgleich der „Herstellung eines Stückchens lebendigen Friedens“. 60 Die Trennung von Exegese und Applikation Alle vorausgegangenen Überlegungen münden schließlich in das Kernstück von K. Bergers Ansatz, die Aufteilung der Hermeneutik in die beiden getrennten Operationen von Exegese und Applikation. Exegese ist „der wissenschaftlich-beschreibende Zugang zum Text. […] Applikation ist das Anwenden eines Textes auf die jeweilige Gegenwart“. 61 K. Berger begründet die Notwendigkeit dieser Trennung anhand der mulier-taceat-Stelle aus 1Kor 14,33b-36: Während die evangelikale Apologetik diesen Text als Beleg gegen die Frauenordination verwendet, sieht die Apologetik interessierter Progressiver in dieser Passage eine Glosse, da sie nicht zum eigenen Paulus-Bild passen will. Ähnliches gilt nach K. Berger für 1Thess 2,15f im Kontext der Debatte um Antijudaismus im Neuen Testament. Die einzige Möglichkeit zur Überwindung solch interessengesteuerter und letztlich aporetischer Rezeptionsweisen liegt nach K. Berger in einer klaren Trennung von Exegese und Applikation: Nur so sei ehrliche Exegese überhaupt möglich. 62 Die Exegese dürfe nicht die Applikation ersetzen, bilde aber ein ideologiekritisches Korrektiv zur Applikation. 63 Die Applikation hingegen „geschieht aus dem Bestreben, konkrete Not zu wenden“. 64 Im Übergang zum dritten Hauptteil bereitet K. Berger das zentrale Applikationskriterium der Auferbauung der Gemeinde vor, indem er die Theologie funktional an die Jüngerschaft der Kirche bindet. 65 56 KBe 94. 57 KBe 95. 58 „Das Schlagwort ‚Loyalität‘ umschreibt dabei eine, wie ich meine, sehr komplexe Haltung, bei der es um Freiheit und Bindung, um Äquivalenz der Wiedergabe und um Vermeidung eines sinnlosen Biblizismus geht“, KBe 96. 59 KBe 108. 60 KBe 110. 61 KBe 110. 62 KBe 111f. 63 KBe 112-116. 64 KBe 116. Darin zeigt sich wiederum die Betonung der Ethik in K. Bergers Ansatz. 65 KBe 125-127. <?page no="83"?> 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 83 P RAGMATIK - Jede Lehrwahrheit ist von der genuinen personalen Wahrheit abhängig, die sich je neu in der Geschichte konkretisiert und kritisch gegenüber allen überzeitlichen Sachwahrheiten verhält. Deshalb bedarf es einer Kritik am Dogmatismus und der Totalisierung überzeitlicher Systembildungen. - Wahrheit und Ethik sind biblisch eng aufeinander bezogen. Das Primat des Tuns der Wahrheit geht dem kognitiven Bekenntnis zur Wahrheit voraus. - Die Rehabilitierung des Subjektes ermöglicht die Abwehr unmenschlicher Totalisierungen und die Überwindung von Denkanschauungen überzeitlicher Strukturen, die mit dem biblischen Wahrheitsbegriff nicht kompatibel sind. - Hermeneutik darf die biblischen Texte nicht vereinnahmen, sondern muss der Spannung zwischen Autor und Leser sowie deren unterschiedlichen Interessen gerecht werden. Dazu ist die Hermeneutik der Fremdheit notwendig. - Der Zirkel des Verstehens kann niemals überwunden, aber durch Haltungen wie Mut, Fantasie und Sensibilität sowie Erfahrungen wie biographische Katastrophen erweitert werden. - Die Rede von der Sache eines Textes als immer schon feststehender Größe muss durch den Begriff der Wirkung ersetzt werden, weil nur so Individualität und Partikularität möglich werden. - Loyalität gegenüber dem Autor ist notwendig, weil Verstehen sonst ungeschichtlich wird und die Gefahr wächst, dass Texte vereinnahmt werden. Gleichzeitig muss der Loyalitätskonflikt zwischen den unterschiedlichen Interessen von Autor und Rezipient ernstgenommen werden. - Nur eine Trennung von Exegese und Applikation ermöglicht eine ehrliche Exegese und eine wirkungsvolle Applikation in der Kirche. T EIL III: Z UR P RAXIS DER A PPLIKATION 66 Anwendung der Schrift zur Auferbauung der Gemeinde - in diesem Leitmotiv lässt sich der dritte Hauptteil zusammenfassen. 67 In einer Hinführung zur Kriteriologie der Applikation wendet sich Berger „dogmatische[n] Topoi“ zu 68 , die er näher als Inspiration, Anwendung des Wortes Gottes und bleibende Rolle der Schrift ausführt. 69 K. Berger betont hier wiederum die Personalität 66 KBe 129-206. 67 K. Berger bezeichnet die Kirche als „Horizont der Applikation“, KBe 129. 68 Ebd. 69 Die Schriftinspiration modifiziert K. Berger in Konsequenz seiner Präferenz für personale Geschehen zugunsten einer Personalinspiration, KBe 131. ‚Anwendung‘ präzisiert Berger als „Wiedererkennung des eigenen Glaubens in der Auslegung“, KBe 136. Und die bleibende Rolle der Schrift sieht Berger darin, dass sie als kritische Instanz der Kir- <?page no="84"?> 84 6 Untersuchungen bei Klaus Berger vor der Priorität von Sachgegenständen. Die Kriterien der Applikation sind dem Ziel der Applikation zugeordnet, Hilfe, Rat und Trost zu spenden. 70 Sie orientieren sich insgesamt am zentralen Leitgedanken der Auferbauung der Gemeinde. 71 Die Kriterien „korrigieren sich […] gegenseitig“ 72 und werden im einzelnen als Auferbauung der Gemeinde 73 , Heiligkeit 74 , Radikalität 75 , Ehrfurcht 76 und Freude 77 beschrieben. Diese orientierenden Kriterien bedürfen nach K. Berger je nach geschichtlicher Situation spezieller Konkretisierungen. Die notwendige Normfindung hierzu muss innerhalb der Glaubensgemeinschaft austariert werden. K. Berger wendet sich dabei gegen individualistische Tendenzen, die er sowohl bei Luther als auch bei Bultmann sieht. 78 Anhand des Begriffs Modell stellt K. Berger einen Nexus zwischen Bibel und gegenwärtiger Situation her. Damit soll vermieden werden, dass die Schrift als „anzuwendendes Allgemeines“ auf die konkrete Situation bezogen wird. Denn das Modell des Neuen Testaments ermöglicht nach K. Berger das „vergleichbare Konkrete“ und gewährleistet die Freiheit der Applikation. 79 Bei der konkreten Normfindung sind Kompromisse nötig, die Applikation soll aber soweit wie möglich den Spielraum in Richtung Radikalität nutzen. 80 Konkrete Kasuistik ist ebenso notwendig 81 wie Kritik an falschen Zielvorstellungen. 82 Der Verführung durch scheinbare Sachzwänge ist zu widerstehen. 83 Diese verschiedenen Komponenten führen schließlich zu dem - von Dietrich Ritschl - übernommenen Stuhlbeinmodell. K. Berger che gegenüber tritt, gleichzeitig aber auf das Leben des Organismus ‚Volk Gottes‘ bezogen ist, KBe 138. 70 KBe 139. 71 KBe 140. 72 KBe 145. 73 Die Auferbauung der Gemeinde orientiert sich am Leitbild der Gemeinschaft und schützt diese sowohl vor der Gefahr der Spiritualisierung als auch der Überforderung, KBe 147. 74 Die Heiligkeit wehrt menschlichen Allmachtsfantasien, indem sie menschliche Freiheit beschneidet und die Theozentrik betont, KBe 148f. 75 Radikalität vereint religiöse und ethische Komponenten und richtet sich kritisch gegen eine bürgerliche Anpassungsethik, KBe 149f. 76 Auch die Ehrfurcht vereint Religion und Ethik, indem K. Berger sie vor allem auf den Umgang mit der Schöpfung bezieht, KBe 151f. 77 Freude als Applikationskriterium schließlich betont die Leichtigkeit als soteriologische Konsequenz der Befreiung, die sich kritisch gegen den Gegensatz von Sein und Sollen richtet, KBe 153. 78 KBe 154f. 79 KBe 156. 80 KBe 158-160. 81 K. Berger stellt sich damit kritisch gegen die evangelisch etablierte Verbindung von Kasuistik und Gesetzlichkeit, KBe 161. 82 Falsche Zielsetzungen sieht K. Berger z.B. in der Orientierung an herrschaftsstabilisierenden Metaphern der Bibel oder an sog. ‚Schlaraffenland-Idealen‘, KBe 161f. 83 KBe 163f. <?page no="85"?> 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 85 möchte mit diesem Bild verdeutlichen, dass theologische Ethik als konkrete Normfindung für die Applikation multipel begründet werden muss. 84 Ort der Applikation ist die Kirche, denn Applikation ist immer ein Vorgang von ekklesiologischer Dimension. 85 K. Berger charakterisiert diesen Ort näher als Kommunikationsgemeinschaft durch Dialog, Diskussion, Gremien, Synoden, Konzilien und gruppenspezifische Verbindlichkeiten. Besonders die Opfer sollen hier eine privilegierte Stellung haben. 86 Mit dem Stichwort Vergleichen im sechsten Kapitel des dritten Hauptteiles 87 knüpft K. Berger an seine Besprechung F.D.E. Schleiermachers und seine Überlegungen zum Neuen Testament als Modell an. Die Methode des Vergleichens richtet sich wiederum gegen eine „Stück-um-Stück-Applikation“ biblischer Texte und sichert die Freiheit des Auslegers. 88 Sitz im Leben der Auslegung ist für K. Berger im weitesten Sinn der Gottesdienst. 89 Um die Applikation vor kognitiven Engführungen zu schützen, verbindet K. Berger Applikation mit Emotionalität. 90 Die Emotionalität nimmt in einer ganzheitlichen Weise Kleidung, Gestik, Stimmlage, Verwendung von Fremdworten, Satzpausen, Semantik und Überraschungen in die Kommunikationsreflexion mit hinein 91 und ermöglicht somit eine Steigerung an Freiheit gegenüber der eindimensionalen Rationalität. 92 Am Beispiel der Idyllik der Weihnachtsgeschichte veranschaulicht K. Berger diesen Gedanken. Mit Reflexionen zur Auslegung mythischer Texte 93 schließt K. Berger seine Konkretisierungen zur Applikation ab. 94 K. Berger kritisiert nochmals das Wirklichkeitsverständnis des Rationalismus und knüpft - nach eigenem Verständnis - am biblischen Wirklichkeitsmodell an, wonach die Welt nicht in Innen und Außen getrennt sei, sondern ein Außen I, die sichtbare Wirklichkeit, und ein Außen II, die unsichtbare Wirklichkeit unterschieden werden müssten. 95 In Kontrast zum rationalistischen und fundamentalistischen Wirklichkeitspositivismus entwirft er mit dem Bild vom Haus der vier Zimmertüren eine Wirklichkeitsauffassung, die jedes monokausale Prinzip in 84 Das Bild vom Stuhlbeinmodell soll einsichtig machen, dass ebenso wie bei einem Stuhl dessen Standfestigkeit i.d.R. nicht durch ein einziges Bein erreicht wird, auch eine ethische Begründung mehrere verschiedene Argumente umfassen muss. 85 KBe 165f. 86 KBe 166-168. 87 KBe 169-178. 88 KBe 173. 89 KBe 178. 90 KBe 179-190. 91 KBe 180. 92 KBe 181. 93 Mythische Texte umfassen nach K. Berger das, was ab dem 19. Jahrhundert als supranaturalistische Erzählungen bezeichnet wurde, also schriftliche Schilderungen von Wundern, Visionen, Exorzismen, apokalyptisch-eschatologische Szenen und Figuren wie Engel, Dämonen und Teufel, KBe 190. 94 KBe 190-206. 95 KBe 193-196. <?page no="86"?> 86 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Frage stellt: Die erste Tür führt zur wissenschaftlich-technischen Welt, die zweite Tür zur Welt der Weisheit, die dritte Tür zur Welt der Kunst und die vierte Tür zur Welt des Religiösen/ Spirituellen. 96 Mit diesem Bild möchte K. Berger den spirituellen Bereich vom Anspruch des rationalen Erklärungspostulates befreien, denn „Wirklichkeit [ist] hier nicht durch Kausalität bestimmt“. 97 Und gerade dieser spirituelle Bereich ist nach K. Berger „für die Zukunft des Christentums als Religion entscheidend“. 98 P RAGMATIK - Zentrale Bedeutung für die Applikation hat die Kirche. Das wichtigste Kriterium der Applikation ist die Auferbauung der Gemeinde. - Verstehen und Handeln, Religion und Ethik, sind untrennbar miteinander verbunden. - Der Modellbegriff ermöglicht den konkreten Vergleich zwischen biblischem Autor und heutigem Leser. - Die Wirklichkeit ist komplexer, als es Fundamentalismus und Rationalismus vorgeben. Das Bild vom Haus mit den vier Zimmertüren ermöglicht eine tiefere Vorstellung von Wirklichkeit. Somit ist auch wieder das Potential mythischer Texte erschließbar. A USBLICK 99 K. Berger formuliert abschließend Themenfelder, Fragen zur Weiterarbeit und Hinweise zur Vertiefung. Er bemängelt an neueren Literaturtheorien wie J. Derridas Dekonstruktion die „Beliebigkeit der Anwendung als eine säkularisierte Form des Individualismus“ sowie die Vernachlässigung der Kategorie des Autors. 100 Die kanonische Schriftauslegung ignoriere die außerkanonischen Quellen. 101 Nochmals knüpft Berger an sein Bild vom Haus mit den vier Türen zur Wirklichkeit an und verteidigt es gegen die zu erwartende Kritik, dies „sei nur apologetisches Ablenkungsmanöver“. 102 Erneut betont er, wie wichtig es sei, religiöse Erfahrungen ernst zu nehmen. Gegenüber C. Landmessers Untersuchung zum biblischen Wahrheitsbegriff, dem K. Berger eine dogmatische Zentrierung auf Kreuz und Auferstehung vorwirft, wiederholt er seine eigene Konzeption der personalisierten Wahrheit. 103 K. Berger beschließt den Ausblick mit der Hervorhebung der Mystik 96 KBe 198f. 97 KBe 200. 98 KBe 199. 99 KBe 207-211. 100 KBe 207. 101 KBe 208. 102 KBe 208. 103 KBe 209f. <?page no="87"?> 6.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 87 als christlicher Lebenspraxis, die kein totes Prinzip zum Ziel hat, sondern den lebendigen Gott. 104 P RAGMATIK - Die erwähnten neueren Ansätze bilden einen Rückfall hinter K. Bergers hermeneutisches Konzept. - Die komplexe Wirklichkeit und Evidenz religiöser Erfahrung lässt sich nur in einem erweiterten Wirklichkeitsverständnis erfassen, und die Mystik ist dazu die adäquate christliche Lebenspraxis. D IE ERGÄNZENDEN A BSCHNITTE AUS K. B ERGERS H ERMENEUTIK VON 1988 § 20: Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik 105 K. Berger stellt einen engen Zusammenhang zwischen Religion, Ethik und Ästhetik her. Während in der Fassung von 1999 vor allem Religion und Ethik miteinander verbunden sind 106 , tritt hier die Trias Religion, Ethik und Ästhetik deutlicher hervor. K. Berger codiert mit Adorno und der Rezeptionsästhetik gegenüber Hegel, Kierkegaard und Nietzsche den Ästhetikbegriff positiv. 107 § 21: Offenbarung und Ästhetik 108 In ästhetischer (wahrnehmungstheoretischer) Perspektive umschreibt K. Berger die Offenbarung als Inbegriff für Religion 109 anhand der Kategorien Erfahrung und Sinnlichkeit und grenzt sich von systemischen und spekulativen Offenbarungskonzeptionen ab. Daran schließen sich semiotische Überlegung zur Bedeutung des Bildes als speziellen Zeichens und zum Verhältnis von Urbild und Abbild an. K. Berger klassifiziert die biblischen Bilder als Urbild und subsumiert unter dem Begriff des Abbildes die Notwendigkeit neuer Metaphern für die Applikation. 110 Er resümiert: „Dem Wunsch, nicht vereinnahmt zu werden, entspricht gerade die Freiheit, die das Ästhetische gegenüber dem Ideologischen, Lehrhaften oder Dogmati- 104 KBe 210f. 105 KBe 289-293. 106 Besonders KBe 141-145. 107 KBe 290. 108 KBe 293-319. 109 Vgl. die Ausführungen zur Religion, KBe 297-304: K. Berger wendet sich gegen objektivistische Aussagen von Descartes und der Dialektischen Theologie, KBe 289, ebenso gegen Ethizismus und Kognitivismus, KBe 303. Demgegenüber plädiert er für eine menschliche - subjektive - Rede von Gott, KBe 299f, und für ein umfassendes Verständnis der Religion, KBe 303. 110 KBe 304-319. <?page no="88"?> 88 6 Untersuchungen bei Klaus Berger schen gewährt. Denn Zeichen und Symbole lassen ausreichend Freiheit, Individuelles und Persönliches zu assoziieren“. 111 § 23: Wirkungsanalyse 112 Die Wirkungsanalyse richtet den Blick vom Text weg und hin zu den Lesern. Sie beschreibt die Rekonstruktion wahrscheinlicher Leserreaktionen. K. Berger führt die Wirkungsanalyse an zwei Textbeispielen durch, indem er sowohl die Wirkung auf den antiken Leser als auch den heutigen Leser nachzuzeichnen versucht. § 24: Die hermeneutische Bedeutung der Metapher 113 Dieser Abschnitt knüpft an vorherige semiotische Überlegungen 114 an. Die Metapher ermöglicht die Rehabilitierung des Vergleichs 115 , ersetzt objektive Wahrheiten durch „jeweils zwei Bezugssysteme“ 116 und bietet das Potential, „ein (für den Hörenden/ Lesenden) kohärentes Stück Wirklichkeit“ zu erschließen 117 . Gerade für den Raum des Unsichtbaren sind nach K. Berger die Metaphern von hoher Bedeutung. 118 Der Vorgang einer erfolgreichen Applikation macht die Schaffung neuer Metaphern notwendig. 119 § 25: Inszenierte Vermittlung 120 Die Applikation muss insgesamt neben den wirkungsästhetischen Gesichtspunkten auch gestaltästhetische Aspekte der Inszenierung durch Kunst, Musik, Poesie, Dramaturgik stärker als bisher in den Blick nehmen. K. Berger betont die aktive Rolle des Lesers/ Hörers im gottesdienstlichen Kontext. Dort ist er nicht nur Zuschauer, sondern auch Mitspieler. P RAGMATIK - Die Einbeziehung der Ästhetik liefert wertvolle Potentiale zur Erschließung hermeneutisch schwieriger Texte. Denn sie nimmt die Dimension der Leiblichkeit in den Blick und überwindet kognitive Rationalisierungen wie auch spekulative Deduktionen, worunter der Offenbarungs- und Religionsbegriff im Protestantismus besonders leidet. 111 KBe 319. 112 KBe 333-341. 113 KBe 342-357. 114 KBe 304-319. 115 KBe 342. Auch an dieser Stelle betont K. Berger das Vergleichen als geeignete Methode der Textinterpretation. K. Berger bezieht sich hier nicht auf Schleiermacher, sondern auf Nikolaus von Kues, KBe 342. 116 KBe 343. 117 KBe 345. 118 KBe 351f. 119 KBe 356f. 120 KBe 358-363. <?page no="89"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 89 - Die Einbeziehung der Ästhetik knüpft an der modernen Literaturwissenschaft an und macht die neutestamentliche Hermeneutik interdisziplinär dialogfähig. - Religion, Ethik und Ästhetik bilden eine untrennbare Einheit. 6.2 Ideologiekritische Untersuchung I DEOLOGIE ALS E RZÄHLSTRUKTUR : 6.2.1 Dualismen Erster Dualismus: K. Bergers eigener Ansatz versus Fundamentalismus und Rationalismus (Dualismustyp 1) Im Vorwort stellt K. Berger die beiden Alternativen ‚Fundamentalismus‘ und ‚Rationalismus‘ gegenüber, und in der Einführung beschreibt er die Aporie, die sich aus der Anwendung dieser Modelle ergibt: Beide versteht er als Harmonisierungsstrategien bzw. als Versuche, die Sperrigkeit biblischer Aussagen zu negieren oder abzuschwächen. 121 Dies verbindet den linken und den evangelikalen Biblizismus. 122 K. Berger kontrastiert diesen beiden Modellen seinen eigenen Ansatz als sog. dritten Weg 123 , den er nicht als Kompromiss zwischen Rationalismus und Fundamentalismus, sondern als deren Überwindung versteht. Zweiter Dualismus: Totalitäten / Harmonie / Unmenschlichkeit versus Verzicht auf Systembildung / Disparität / Aufwertung des Subjekts (Dualismustyp 1) Diese Dualismengruppe untergliedert sich in drei einzelne Dualismenpaare, die eng miteinander verflochten sind 124 , so dass ich sie als ein Dualismenensemble zusammenfasse: 121 KBe 2f. 122 KBe 4. 123 KBe IX und 197ff. 124 Die Dualismen ‚Totalität versus Verzicht auf Systembildung‘ und ‚Harmonie versus Disparität‘ sind dadurch verbunden, dass ein starres und totales Denksystem bestrebt ist, sperrige Aussagen zu harmonisieren und umgekehrt der Verzicht auf Systembildungen auch die Unterschiedlichkeit von Aussagen stehen lassen kann. Die Gegensätze ‚Harmonie versus Disparität‘ und ‚Unmenschlichkeit versus Aufwertung des Subjekts‘ sind dadurch miteinander verbunden, dass die Disparität der verschiedenen textlichen Aussagen deren Autoren als Subjekte zu ihrem Recht kommen lässt. Schließlich sind die Dualismen ‚Totalität versus Verzicht auf Systembildung‘ und ‚Unmenschlichkeit versus Aufwertung des Subjekts‘ dadurch verbunden, dass die Geschlossenheit eines Gesamtsystems der menschlichen Individualität keine Freiheit lässt und somit das Subjekt ausgeschlossen wird. <?page no="90"?> 90 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Totalität versus Verzicht auf Systembildung Die Schrift enthält nach K. Berger keine doktrinär-intellektuelle Wahrheit, sondern verschiedene Lebensbilder. 125 Deshalb kritisiert er die Position der Mitte der Schrift: „Für viele Theologen ist es sehr schwer anzuerkennen, daß das Neue Testament unterschiedliche Theologien enthält“. 126 Gegenüber Ritschl gibt K. Berger zu bedenken: „Warum hat das Judentum keine Dogmatik entwickelt? […] Warum gilt hier nur eines: Leben mit und in diesem Volk auf seinem Weg“. 127 K. Berger folgert daraus eine klare Differenz zwischen Exegese und Dogmatik: „Der Dogmatiker wird mit der ‚simplicitas Dei‘ und mit der ‚perspicuitas scriptura [sic]‘ hantieren, der Exeget wird gerade als Historiker einwenden, daß dieses weder der Philologie noch der Vielschichtigkeit gelebter Frömmigkeit entspricht“. 128 Gegen den systemischen Totalitätsgedanken führt er auch die lateinamerikanische Kritik am eurozentrisch-holistischen Weltbild an. 129 K. Berger kritisiert besonders deutlich geschlossene Systeme des Dogmatismus 130 und der sog. Reflexionsphilosophie wie Idealismus, Neukantianismus und Existentialismus. 131 Harmonie versus Disparität Gegenüber Harmonisierungsstrategien im Umgang mit der Bibel betont K. Berger deren provozierenden Charakter: „All unsere Bekenntnisse sind zu brav angesichts der provozierenden Botschaft Jesu“. 132 Gegenüber Gadamer postuliert er: „Nicht Kontinuität, nur Andersheit wird helfen und weiterbringen können“. 133 Harmonisierungsstrategien im Umgang mit der Bibel kritisiert K. Berger vor allem beim evangelikalen Fundamentalismus, 134 dem linken Biblizismus, 135 sowie dem Feminismus, der „stets eher zur Verurteilung neigt, eben aus Verdachtsgründen“. 136 Unmenschlichkeit versus Aufwertung des Subjekts K. Berger stellt der Unmenschlichkeit totalitärer Systeme sein Programm einer Aufwertung des Subjektes gegenüber: „Identität im Sinne gewordener Unverwechselbarkeit ist durch keine Art von Allgemeinheit ‚aufzuheben‘ oder zu überspielen“. 137 Denn es „existiert ein Zusammenhang zwischen der 125 KBe 3. 126 KBe 12. 127 KBe 30. 128 KBe 35. 129 KBe 41. 130 KBe 13 und 209f. 131 KBe 70-72. 132 KBe 4. 133 KBe 28. 134 KBe 9f. 135 KBe 3f. 136 KBe 51. 137 KBe 64. <?page no="91"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 91 Negation der Subjekthaftigkeit des einzelnen und der Unterdrückung von Menschen in herrschenden Systemen einerseits und zwischen Subjektsein und ‚Kirchenfähigkeit‘ andererseits“. 138 Die Gegenüberstellung von Unmenschlichkeit und Aufwertung des Subjekts bestimmt auch sein Geschichtsverständnis 139 . So formuliert er gegenüber Gadamer: „Aber das historische Gegenüber wird […] nicht zum Allgemeinen erklärt, es bleibt Individualität […]. So geht es nicht um allgemeingültige Wahrheit, sondern um Übereinkünfte in Konsens und Kompromiß“. 140 Und Ritschl entgegnet er: „Was für ein Geschichtsbild steht hinter der Illusion, etwas in Axiomen einfangen zu können? “. 141 Dritter Dualismus: Verengender Rationalismus versus umfassende Ganzheitlichkeit (Dualismustyp 1) Eine rationalistische Verengung des Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisses zeigt sich für K. Berger in den Ansätzen, die unter dem Vorzeichen der Aufklärung stehen. So dominiert von Lessing bis Bultmann ein lehrhaftes Verständnis 142 bzw. eine Verobjektivierung von Wahrheit. 143 Hingegen würdigt er den Vitalismus Diltheys: „Christliche Religion wird [bei Dilthey] nicht nur auf die Rationalität des Menschen bezogen, sondern auf den gesamten Bereich seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen“. 144 K. Berger schließt daran an, indem er einem einseitig intellektualistisch ausgerichteten Rationalismus sein Programm einer ganzheitlichen Orientierung gegenüberstellt, das neben einer erfahrungsbezogenen Religion sowohl die Ethik als auch die Ästhetik angemessen berücksichtigen will. Der eindimensionalen Sicht der technisch-naturwissenschaftlichen Wirklichkeit kontrastiert er sein Bild des Hauses mit den vier Türen zur Wirklichkeit 145 , und von Clodovis Boff übernimmt K. Berger die „zwei Elemente […], die […] Erfahren strukturieren: sinnliche Wahrnehmung (‚Erleben‘) und Analyse (Rationalität)“. 146 138 KBe 93. 139 Die Geschichte nimmt in K. Bergers Hermeneutik eine zentrale Stellung ein: „Geschichte steht deshalb immer wieder im Blickpunkt dieser Hermeneutik, weil es in der Geschichte um Ergehen und Tangierbarkeit (Leiden und Befreiung) geht, um Einwirkung von außen und um Erfahrung von unten her (nicht um Deduzierbarkeit)“, KBe 63. 140 KBe 26. 141 KBe 38. 142 KBe 66-68. 143 KBe 343. 144 KBe 17. 145 KBe 198ff und 208f. 146 KBe 42. <?page no="92"?> 92 6 Untersuchungen bei Klaus Berger 6.2.2 Mythische Aktanten 147 K. Berger umgibt seine Reflexionen zum Exegeseverständnis mit mythischen Aktanten: - „Aufgabe von E XEGESE und Hermeneutik ist es nicht, diese unmögliche und schlechthin ärgerliche Botschaft verständlicher zu machen“. 148 - „Es ist Aufgabe der E XEGESE , die Felder dieser Unmöglichkeit herauszuarbeiten“. 149 - Daraus ergibt sich eine kritische Relation zur Systematischen Theologie: „E XEGESE heißt nicht Texte beurteilen und auf dogmatische Leerformeln reduzieren, sondern: das Fremde mit Liebe gelten lassen“. 150 - Besonders viele mythische Aktanten innerhalb der Reflexionen zur Exegese finden sich auf den Seiten 112-114 mit der Funktion, K. Bergers eigene Position in eine Generalisierung zu überführen: „E XEGESE kann keine für christliche Gruppen verbindlichen Aussagen machen“ 151 . Und: „E XEGESE faßt theologische Sätze der Vergangenheit nicht im Sinne unumstößlicher Wahrheiten auf“. 152 Ebenso formuliert K. Berger sein Theologieverständnis mit mythischen Aktanten: - „T HEOLOGIE IST Beschreibung religiöser Erfahrung und religiöser Praxis“. 153 Aufschlussreich ist der Einsatz eines mythischen Aktanten in der Einleitung des Abschnitts zur Befreiungstheologie: - „Hier KANN ES NICHT UM eine Gesamtdarstellung der Befreiungstheologie GEHEN , sondern nur um einige besonders charakteristische hermeneutische Thesen“. 154 Berger hat zuvor nicht minder komplexe Ansätze auf weniger Seiten dargestellt. Offenbar hat die umschreibende Formulierung die Funktion, eine scheinbar allgemeine Überzeugung über das weitreichende Potential der Befreiungstheologie zu stützen bzw. bei den LeserInnen einzuführen. K. Berger umgibt auch seine Grundüberzeugung, Totalperspektiven als unmenschlich zu codieren, mit mythischen Aktanten: - „Gegenüber allen rationalistischen Gesamtsystemen LÄßT SICH ein Ideologieverdacht ERHEBEN “. 155 147 In den Zitaten dieses Abschnitts sind die mythischen Aktanten durch Kapitälchen hervorgehoben. 148 KBe 3. 149 KBe 4. Ebenso: „Ziel der Exegese ist es zunächst, fremde Erfahrungen zu rekonstruieren“, KBe 317. 150 KBe 88. Ebenso: „Das Spiel von Reduktion und Deduktion will DEM E XEGETEN als die Versuchung des Systematikers schlechthin erscheinen“, KBe 39. 151 KBe 112. 152 KBe 114. 153 KBe 120. 154 KBe 41. 155 KBe 73. <?page no="93"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 93 - „E S IST DIE E VIDENZ der Vergewaltigung der einzelnen durch jedes System, ‚das an der Macht ist‘“. 156 Mythische Aktanten haben in K. Bergers Entwurf auch die Funktion, von einem formulierten Konsens Konsequenzen abzuleiten: - „W ER dagegen für die Rehabilitierung der Subjekte von Autor und Ausleger plädiert, SOLLTE vom Ansatz Schleiermachers her Anregungen aufnehmen“. 157 - „W ER die ‚begrenzte‘ Allgemeinheit ernst nimmt, KANN auch die Option für das Vorletzte verstehen“. 158 Mit der gleichen Stilfigur führt K. Berger auch die Kriterien für die Applikation ein: - „Wenn V ERSTEHEN UND A USLEGEN eine Art von Handeln IST , dann SIND für dieses wie für jedes Handeln Kriterien ZU NENNEN “. 159 K. Berger führt den zentralen Stellenwert des Begriffs Freiheit mit einem mythischen Aktanten ein: - „Die Reflexion über die Grenzen der Loyalität MACHT ES NOTWENDIG , die gesamte Thematik noch einmal unter dem Aspekt ZU BEHANDELN , daß Freiheit das ‚heimliche Zentralthema‘ jeder Hermeneutik ist“. 160 Die Bezogenheit der Applikation auf die Kirche als zentraler Gesichtspunkt K. Bergers Ansatz wird ebenfalls mit einem mythischen Aktanten eingeführt: - „Wenn also die Auslegung und Anwendung der Schrift angesprochen ist, DANN IST ZU FRAGEN , was diese Schrift für die Kirche bedeutet“. 161 Fazit K. Berger sichert durch mythische Aktanten wichtige Positionierungen seines Ansatzes ab, die somit in eine Generalisierung überführt werden sollen. Dies sind im Einzelnen: - Das Exegeseverständnis, - das Theologieverständnis, - die Präferenz für die Theologie der Befreiung, - die Ablehnung totalisierender Gesamtsysteme, - die Betonung der Freiheit für die Hermeneutik - und die Kirche als Zielpunkt der Applikation. 156 KBe 75. 157 KBe 92. 158 KBe 94. 159 KBe 140. 160 KBe 108. 161 KBe 129. <?page no="94"?> 94 6 Untersuchungen bei Klaus Berger 6.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken K. Berger bereitet seine Konzeptionalisierung von Wirklichkeit 162 vor, indem er der neuzeitlichen Dichotomie von Innen und Außen das seiner Ansicht nach biblische Verständnis von Außen I und Außen II kontrastiert. 163 Phänomenologisch begründet er seine Wirklichkeitskonstruktion durch den Verweis auf Geistheiler, Segenskräfte, mysterientheologische Aspekte des Abendmahls und heilige Zeiten. 164 Dieses Wirklichkeitsverständnis wendet sich gegen rationalistische Reduktionen, welche aus der Dominanz des naturwissenschaftlichen Denkens resultieren. 165 Wirklichkeit lässt sich nach K. Berger nicht technisch-eindimensional beschreiben, sondern nur mehrschichtig, differenziert und heterogen erfahren. Diesen Gedanken veranschaulicht er in seinem Bild vom Haus mit den vier Türen zur Wirklichkeit: Vernunft, Weisheit, Kunst und Religion/ Spiritualität bilden demnach unterschiedliche Portale zu der einen Wirklichkeit. 166 Die Komplexität der Wirklichkeit bestimmt auch seine Geschichtskonzeption: So versteht er Geschichte immer als konkrete Geschichte, die nicht wiederholbar ist 167 und deshalb vereinfachenden Reduktionsbemühungen widerstrebt 168 . K. Berger lässt nicht erkennen, dass es auch andere legitime Beschreibungen der Wirklichkeit geben könnte 169 und monopolisiert somit seine eigene Position 170 . Daraus ergibt sich der naturalistische Anspruch seines hermeneutischen Ansatzes: Nur eine Hermeneutik der Fremdheit 171 , die weder die 162 Vgl. zum Themenfeld Wahrheit/ Wirklichkeit bei K. Berger vor allem folgende Passagen: K. Bergers Überlegungen zum Wahrheitsproblem, KBe 55-76; das sog. Stuhlbeinmodell, KBe 164f; das Kapitel: Die Auslegung mythischer Texte, KBe 190-206; sowie die Replik auf C. Landmesser, KBe 209f. Ferner K. Bergers Kritik an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, KBe 21f, an Gadamers Konzeption von Geschichte als das vorstehende Allgemeine, KBe 26 und an Ritschls impliziten Axiomen als Sehnsucht nach „regelhafter Greifbarkeit“, KBe 33. 163 KBe 193-196. 164 KBe 199f. Vgl. dazu auch folgende Bemerkungen: „Mit Th. Sundermeier ist zu konstatieren: Schwarzafrikanische Religionen stehen biblischem Denken um vieles näher als die philosophische Tradition des 19. Jahrhunderts“, KBe 22. Vgl. zur afrikanischen Religiosität H. C HRISTOPH / K.E. M ÜLLER / U. R ITZ -M ÜLLER , Soul of Africa. Magie eines Kontinents, besonders 122-137. 165 KBe 192f. 166 KBe 198-200. 167 KBe 78f. 168 „Wer eine prästabilierte Harmonie zwischen den interpretativ gebildeten (angenommen) Axiomen und den im Text wirklich realisierten postuliert, überschreitet unzulässig den Raum geschichtlicher Gebundenheit“, KBe 34. 169 K. Berger lehnt ebenso Bultmanns Entmythologisierung als uniformes Weltbild ab, KBe 21, wie Gadamers „zeitlos Allgemeine[s]“, KBe 27, oder Ritschls Axiome als „Naturgesetze im Feld des Geistigen“, KBe 40. 170 Allerdings wird diese Monopolisierung durch K. Bergers Referenz auf Schleiermacher, KBe 16 und 40, die Befreiungstheologie, KBe 41ff, und die Rezeption kritischer Stimmen zur Reflexionsphilosophie, KBe 72-74, relativiert. 171 KBe 76-79. <?page no="95"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 95 Texte noch die Rezipienten vereinnahmt, wird der komplexen Wirklichkeit gerecht und verhindert, dass der Reichtum der Texte beschnitten wird. K. Bergers Wirklichkeitsverständnis bildet einen zentralen Stützpfeiler seiner gesamten Argumentation. 172 Ähnliches gilt für K. Bergers Wahrheitsverständnis, allerdings sind dort die Frontstellung wie auch die Argumentationsführung anders: Wiederum grenzt er sich von dogmatisch orientierten Wahrheitskonzepten ab, die seiner Auffassung nach besonders in konfessionell-orientierten Entwürfen zu finden sind. „Der qualitative Vorrang der Wahrheit, die in der Person Jesu und in der engen Verbindung mit ihm besteht, bedingt einen Vorrang der gelebten und vollzogenen Wahrheit der Kirche vor jeder Lehrwahrheit“. 173 Mit dieser Prioritätensetzung wird C. Landmessers dogmatische Wahrheitskonzeption abgelehnt, nach der „[a]llein das rettende Wort vom Kreuz […] das wahre inhaltliche Kriterium der Wahrheit“ ist. 174 In der Begründung seiner Wahrheitsvorstellung geht K. Berger nicht phänomenologisch wie beim Wirklichkeitsverständnis vor, sondern bezieht sich vor allem auf biblische Aussagen: „Dieses [biblische] Wahrheitsverständnis sollte auch für eine Hermeneutik des Neuen Testaments der Ausgangspunkt und der Maßstab sein“. 175 Aus den johanneischen Formationen Ich bin die Wahrheit und Tun der Wahrheit 176 deduziert er einerseits einen personorientierten Wahrheitsbegriff, der von zentraler Bedeutung für sein Programm einer Aufwertung des Subjektes ist und andererseits eine ethische Orientierung der Wahrheit, die besonders für sein leitendes Applikationskriterium der Auferbauung der Gemeinde relevant ist. 6.2.4 Monolog Insgesamt bestimmt ein monologartiger Grundcharakter K. Bergers Argumentationsführung. So formiert er ausführliche Aussageabschnitte häufig durch Nummerierungen 177 , wodurch komplexe Gedankengänge strukturiert werden sollen. Ich skizziere im folgenden neun signifikante monologartige Passagen: Erstens: 178 K. Berger kritisiert an dieser Stelle die Position der Mitte der Schrift und stellt programmatisch seine Präferenz für Kirche, Jüngerschaft, 172 Ohne dieses Wirklichkeitsverständnis müssten insbesondere K. Bergers Ausführungen zur Auslegung mythischer Texte, vgl. KBe 190-206, durch andere Begründungszusammenhänge gestützt werden. 173 KBe 13. 174 C. L ANDMESSER , Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, 371 - zitiert bei KBe 209. 175 KBe 55. 176 KBe 55 und 210. 177 Vgl. KBe 29-40. 178 KBe 13: „Das heißt […] verselbständigte Lehren“. <?page no="96"?> 96 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Auferbauung der Gemeinde, Wahrheit als Person Jesu und Gottesdienst monologisierend dar. Zweitens: 179 Hier zieht K. Berger ein Fazit zur Gadamerdarstellung, das weniger resümiert als seine eigene Programmatik formuliert, indem dessen zentrale Terme ‚Trennung von Exegese und Applikation‘, ‚Freiheit für Exegese und Applikation‘ sowie ‚provokative Fremdheit‘ thematisiert werden. Drittens: 180 Dieser lange Abschnitt führt die Bedeutung der Kontextualität und den notwendigen Aktualitätsbezug der Applikation ein. K. Berger monologisiert hier mit folgenden einleitenden Formulierungen, die die eigene Position stützen sollen: - „Dabei geht es genaugenommen um zwei Punkte […]“. 181 - „Wichtig ist jedenfalls […] Es kommt darauf an […] Mit bloßer ‚Sensibilität‘ ist es nicht getan“. 182 - „An dieser Stelle wird deutlich […] Daher kann man sagen […]“. 183 - „Es käme daher nicht darauf an […] Gerade durch die Verbindung […] Es geht daher um […] Notwendig sind vielmehr […]“. 184 Viertens: 185 K. Bergers Argumentationsgang zur Darstellung seiner Wahrheitskonzeption ist insgesamt monologisch formuliert. 186 Fünftens: 187 Als Anschluss an die Reflexionen zur Hermeneutik der Fremdheit reiht K. Berger insgesamt 12 Postulate monologartig aneinander, welche eine Verbindung zwischen der hermeneutischen Kategorie der Fremdheit und der Ethik herstellen. Sechstens: 188 K. Bergers Bestimmung der Exegese innerhalb des Abschnitts zur Trennung von Exegese und Applikation weist deutlich monologisierende Züge auf. So formuliert er hier postulat-artige Überschriften, an die sich postulat-bestätigende Ausführungen anschließen. Siebtens: 189 Ebenfalls beginnen K. Bergers Ausführungen zum Heiligkeitsbegriff jeweils mit einer Behauptung, die im Anschluss monologartig ausgeführt wird. Auch die rhetorischen Anfragen 190 können diesen monologisierenden Eindruck nicht aufheben. 179 KBe 27f: „1. Der Betonung der Individualität […] mit Wahrheit“. 180 KBe 46-49: „Fingerspitzengefühl und […] zustimmen können“. 181 KBe 46. 182 KBe 47. 183 KBe 48. 184 KBe 49. 185 KBe 56-58: „Genuine Wahrheit […] Gewalt antut“. 186 Dieser ausführliche Gedankengang ist monologisch strukturiert, obwohl K. Berger innerhalb dieses Abschnitts formuliert: „Es ist in der Folge zu diskutieren […]“, KBe 57. 187 KBe 80-82: „Folgerungen 1. […] Gelehrsamkeit produziert“. 188 KBe 112-120: „Was bleibt für die Exegese? […] Menschen in der Kirche“. 189 KBe 148f: „1. Heiligkeit bedeutet […] zu limitieren“. 190 KBe 149. <?page no="97"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 97 Achtens: 191 In diesem Abschnitt stellt K. Berger rezeptartig Regeln auf, welche die Gefahr von Sachzwängen in Blick auf die Applikation verhindern sollen. Neuntens: 192 K. Berger verknüpft hier den Begriff der Offenbarung mit der Kategorie der Erfahrung und formuliert sein daraus resultierendes Offenbarungsverständnis monologisch. 193 Fazit Monologartige Passagen sind über den gesamten Text verteilt. Sie dienen der persuasiven Mitteilung K. Bergers spezifischer Positionierung. Folgende zentrale Inhalte werden monologisch formuliert: - Die Kirche als Bezugsgröße der Hermeneutik, - das Leitkriterium der Auferbauung der Gemeinde, - der Gottesdienst als Zentrum der Kirche, - die Personwahrheit Jesus Christus, - die Bedeutung des konkreten Situationsbezugs, - die Trennung von Exegese und Applikation, - die Hermeneutik der Fremdheit, - das Verständnis von Exegese - und die ästhetische Dimension von Offenbarung und Religion. 191 KBe 163f: „1. Ausnutzen des Vorfeldes […] glaubwürdiger Gallionsfiguren“. 192 KBe 298-300: „2.1.2 Offenbarung als qualifizierte Erfahrung […] Hermeneutik an Geschichte“. 193 Ähnliches gilt für den Folgeabschnitt 2.2 Exegese als Rekonstruktion religiöser Erfahrung, KBe 300-303, und die Ausführungen zur Metapherntheorie, KBe 344-346 in Verbindung mit 348-350 und 351-353. <?page no="98"?> 98 6 Untersuchungen bei Klaus Berger I DEOLOGIE ALS A USSAGESTRUKTUR : 6.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung Schaubild Hermeneutik der F REMDHEIT I. II. Verzicht auf Wiederentdeckung einer H ARMONISIERUNG und MEHRDIMENSIONALEN U NIFORMITÄT W IRKLICHKEIT contra: contra: pro: L INKER UND S UPRANATURALISMUS SPIRITUELLE EVANGELIKALER B IBLIZISMUS E RFAHRUNG D OGMATISMUS / DIE S ACHE R ATIONALISMUS E NTMYTHOLOGISIERUNG T OTALITÄT DER G ESCHICHTE I MPLIZITE A XIOME Überwindung der K IRCHENKRISE III. Vermeidung von V EREINNAHMUNGEN L OYALITÄT F REIHEIT zum für den I NNOVATION A UTOR R EZIPIENTEN und KONKRETE Ä STHETIK G ESCHICHTE W IRKUNG T RENNUNG VON E XEGESE UND W AHRHEIT A PPLIKATION und A UFWERTUNG DES S UBJEKTS E THIK V ERSTANDENE F REMDHEIT zur A UFERBAUUNG DER G EMEINDE <?page no="99"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 99 Bemerkungen zum Schaubild F REMDHEIT ist m.E. der zentrale Begriff im Ansatz K. Bergers. Durch sein hermeneutisches Programm will er die biblische Fremdheit in eine VER - STANDENE F REMDHEIT überführen, ohne die Texte zu vereinnahmen. 194 I. Aus der Forderung, die biblischen Texte in ihrer Fremdheit gelten zu lassen, folgt K. Bergers Verzicht auf H ARMONISIERUNGSBESTREBUNGEN und U NIFORMITÄTSBILDUNGEN 195 . II. Die Fremdheit spielt auch eine wichtige Rolle in Bezug auf K. Bergers MEHRDIMENSIONALE W IRKLICHKEITSKONZEPTION 196 , der er RATIONALISTISCHE und FUNDAMENTALISTISCHE Engführungen gegenüberstellt. K. Berger will anhand dieser Wirklichkeitskonzeption RELIGIÖSE / SPIRITUELLE E RFAHRUNG 197 in die Theologie (re-)integrieren und die A UFERBAUUNG DER G EMEINDE fördern, indem er aufzeigt, dass die biblischen Texte existentiell interessant sind 198 und mit diesen Texten die K IRCHENKRISE ÜBERWUNDEN werden kann. 199 III. Die Kategorie der Fremdheit hat außerdem eine wichtige Funktion für die Vermeidung von V EREINNAHMUNGEN 200 , sowohl in Bezug auf A UTOR wie R EZIPIENT : Durch das Wechselspiel von L OYALITÄT und F REIHEIT 201 soll zum einen der Autor mit seiner Botschaft und zum anderen der Rezipient mit seinen Bedürfnissen zu seinem Recht kommen. Freiheit bildet die Grundlage für die notwendende I NNOVATION , welche gegenüber geschichtlichen Totalitäten KONKRETE G ESCHICHTLICHKEIT erst ermöglicht. 202 Den Rezipienten nimmt K. Berger durch die REZEPTIONSÄSTHETISCHE Perspektive verstärkt in Blick 203 . Daraus folgt die T RENNUNG VON E XEGESE UND A PPLIKATION als eine zentrale Operationalisierung in Bergers Hermeneutik sowie die A UF - WERTUNG DES S UBJEKTES . Der personale W AHRHEITSBEGRIFF stützt K. Bergers Subjektkonzeption. Dies mündet insgesamt in die VERSTANDENE F REMD - 194 Vgl. KBe 291: „Wenn es um biblisch vermittelte Botschaft geht, kann auch eine relative Unverständlichkeit […] eine wichtige Funktion haben - Verständlichkeit ist nicht mehr […] das einzige Leitbild der Hermeneutik“. 195 Im Schaubild sind hierzu die wesentlichen Termini aufgelistet: Mit dem Stichwort Entmythologisierung ist der Name Bultmanns, mit Totalität der Geschichte der Name Gadamers und mit den Impliziten Axiomen der Name Ritschls verbunden. 196 KBe 192-203. 197 Der Begriff der Erfahrung bestimmt wesentlich K. Bergers Offenbarungsverständnis, KBe 297-300. 198 KBe 199. 199 Dies entspricht K. Bergers Ziel, mit Hilfe der Hermeneutik die „Herzen der Menschen“, KBe X, wiederzugewinnen, die gelangweilt durch die Exegese, KBe 52, die Kirchen verlassen haben. 200 K. Berger reflektiert den Begriff der Vereinnahmung im Zusammenhang seiner Kritik an Gadamer, KBe 26. 201 KBe 94-110. 202 KBe 47. 203 Siehe hierzu die wirkungsanalytischen Studien K. Bergers zu 2Kor 3,1-3 und Röm 13,1-7, KBe 337-341. <?page no="100"?> 100 6 Untersuchungen bei Klaus Berger HEIT 204 zur A UFERBAUUNG DER G EMEINDE als Ziel jeder hermeneutischen Bemühung. 6.2.6 Relevanzkriterien K. Bergers hermeneutischer Ansatz orientiert sich am Verstehen der biblischen Texte angesichts der Verständnisschwierigkeiten, die sich unter dem Vorzeichen von Aufklärung und Moderne ergeben 205 und zum derzeitigen Krisenzustand der Kirchen geführt haben 206 . Damit sind die beiden wichtigsten Relevanzkriterien seiner Hermeneutik vorgegeben: Die Überwindung der Probleme der Moderne in der neutestamentlichen Hermeneutik und die Auferbauung der Gemeinde. Das erste Relevanzkriterium: Die Überwindung der Probleme der Moderne Mit dem Vorstellungskomplex Moderne/ Neuzeit verbindet K. Berger zwei wirkungsgeschichtlich bedeutsame Positionen, zum einen Bultmanns Programm der Entmythologisierung und zum anderen Gadamers Konzept des Verstehens durch Einrückung in den Traditionszusammenhang. Ferner können darunter noch allgemeiner Entwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts zusammengefasst werden, denen nach K. Berger ein zentrifugales System zugrunde liegt, worunter die biblischen Texte subsumiert werden und somit ihre Ausstrahlungskraft verlieren. 207 K. Bergers Überwindungsstrategie zu diesem Verständnis der Moderne verläuft vor allem über die Thematisierung von Geschichte und Wirklichkeit: So kritisiert er bei Bultmann eine Tendenz zur Geschichtslosigkeit 208 und bei Gadamer dessen Betonung des Überlieferungszusammenhangs, der die Geschichte als homogenen Block dem einzelnen vorstelle und in den der einzelne einzurücken habe. 209 Dagegen besteht K. Berger auf die je konkrete Geschichte 210 , betont die einzelne Situation 211 und plädiert für die Chancen der Innovation 212 . Allgemeingültige Wahrheiten 213 als Kontinuum von Geschichte werden durch den Begriff 204 „Die Fremdheit ist verstanden, wenn es gelingt, sie so attraktiv darzustellen, daß sie das darstellt, was dem Hörer der Botschaft fehlt, wenn die Botschaft das zugehörige andere sein kann. - Das geschieht zum Beispiel dadurch, daß biblische Texte in der Rolle von Bildern oder Modellen einwirken können“, KBe 80. 205 „Die Wahrheit der Bibel besteht nicht darin, daß sie modern ist“, KBe 4. 206 Vgl. hierzu K. Bergers Vorwort, KBe IX-X. 207 Daher zähle ich auch die Entwürfe, die nach K. Berger als Dogmatismus aktuell wirksam sind, zur Moderne hinzu wie z.B. die Position der Biblischen Hermeneutik, KBe 11. 208 KBe 18 und 20. 209 KBe 25f, 90. 210 KBe 61 und 74f. 211 KBe 41f, 45f, 58f, 170. 212 KBe 11, 47, 77, 83-85, 165. 213 K. Berger lässt nur begrenzte Allgemeinheiten gelten, über die ein „Konsens für eine Gemeinschaft in einer begrenzten Phase der Geschichte“ erzielt worden ist, KBe 61. <?page no="101"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 101 der Wirkungsgeschichte ersetzt 214 . Insgesamt plädiert K. Berger deshalb für die verschiedenen beweglichen Module Autor - biblischer Text - applikativer Text - Rezipient 215 , wodurch er den Herrschaftsanspruch starrer Universalkonzepte ersetzt sieht. Diese Argumentationsfigur erinnert deutlich an François Lyotards Beschreibung der Postmoderne als Ende der großen Erzählungen. 216 Manfred Frank, den K. Berger neben dessen Schleiermacherrezeption auch wegen dessen Kritik an Totalitätskonzeptionen positiv aufgreift 217 , zeichnet Lyotards Wertschätzung des Begriffs der Innovation nach, 218 der ebenso bei K. Berger eine große Rolle spielt. K. Bergers Geschichtskonzeption als wichtiger Baustein seiner Hermeneutik befindet sich daher in deutlicher Affinität zu postmodernem 219 Gedankengut. 220 Eine Präferenz postmoderner Ansätze zeigt sich auch bei Bergers Wirklichkeitskonzeption: „Die Weltsicht der Postmoderne eröffnet meines Erachtens dagegen die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Zugängen zur Wirklichkeit zu rechnen“. 221 Dadurch soll der Positivismus sowohl des Fundamentalismus als auch des Rationalismus überwunden und fruchtbare Anknüpfungspunkte für die Applikation mythischer Texte gefunden werden. 222 Das zweite Relevanzkriterium: Die Auferbauung der Gemeinde „Die Zuwendung zum Text der Schrift zum Zwecke der Applikation (! ) erfolgt nicht aus reiner Neugier […], sondern weil man vom Text ‚Hilfe‘ erwartet“. 223 K. Berger bezieht diesen Gedanken jedoch nicht vorrangig auf 214 KBe 93. 215 KBe 169-178 und 360-365. 216 F. L YOTARD , Das postmoderne Wissen. 217 KBe 61, 63f, 70f, 73f, 76f, 90, 92f. 218 M. F RANK , Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, 20: „Lyotard sagt nämlich, daß eine als uniform (sei’s als System, sei’s als Universal-Konsens oder klassenlose Gesellschaft) gedachte Struktur ganz und gar auf den Gedanken der Innovation verzichten würde“. 219 Ich bin mir der unscharfen Bedeutung des Begriffs Postmoderne bewusst. - Vgl. zum Problem des Begriffs W. R EESE -S CHÄFER , Lyotard, besonders 43-50: Herkunft des Begriffs und ‚Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? ‘; M. S CHNELL , Die Herausforderung der Postmoderne-Diskussion für die Theologie der Gegenwart. Schnell weist darauf hin, dass W. W ELSCH in seiner Einführung zur Postmoderne - Unsere postmoderne Moderne - nur die Denker rezipiert, die weitgehend dem Strom der Dekonstruktion zuzurechnen sind. So ist bei Welsch der ganze Bereich des Holismus, z.B. die Konzeptionen von Peter Koslowski und Robert Spaemann, ausgeblendet. Der Holismus allerdings steht mit seinem Theorem der Ganzheitlichkeit dem Pluralismus unversöhnlich gegenüber. M. Schnell folgert: „Diese beiden Konzepte von Postmoderne schließen sich gegenseitig aus“, a.a.O., 157. 220 So auch die Einschätzung von G. T HEIßEN , Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt, 137: „die postmoderne duale Hermeneutik K. Bergers“. 221 KBe 193. 222 KBe 197-200. 223 KBe 139. <?page no="102"?> 102 6 Untersuchungen bei Klaus Berger den Einzelnen sondern auf die Kirche im Ganzen, denn „Applikation ist immer ein Vorgang von ekklesiologischer Dimension“. 224 Das Metakriterium der Auferbauung der Gemeinde 225 begründet die handlungsorientierte Ausrichtung K. Bergers Hermeneutik. Bedeutsam sind für K. Berger deshalb konkrete Wegbeschreibungen wie Normfindungen 226 , „Dialog, Diskussion, Gremien, Synoden und Konzilien“ 227 und eine interessenaustarierende Vermittlung zwischen dem Autor eines biblischen Textes und der Gemeinde. 6.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte Der postmoderne Soziolekt K. Berger partizipiert an diesem Soziolekt in seiner Auseinandersetzung mit Konzeptionen der Moderne/ Neuzeit, wie ich sie oben im Zusammenhang des ersten Relevanzkriteriums beschrieben habe. Da dieser Soziolekt die zentralen Argumentationsgänge K. Bergers Hermeneutik wesentlich mitbestimmt, nimmt er eine hervorgehobene Stellung in der Kombination der verschiedenen Soziolekte ein. Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Moderne von einem Totalitätsdenken bestimmt ist, welches Züge eines gefährlichen Despotismus in sich trägt und autoritäre Uniformitäten hervorbringt. An die Stelle der Totalität der Moderne tritt in der Anschauung der Postmoderne eine bejahte Vielzahl kontextueller Haltungen und Denkansätze. 228 Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft Uneingeschränkt liest K. Berger die neutestamentlichen Texte als Zeugnisse vergangener Menschen und optiert daher für „eine grundsätzlich historische Betrachtungsweise“. 229 Ebenso betont er gegenüber der Vorstellung überzeitlicher Wahrheiten die konkrete geschichtliche Situation, von der eine Wahrheit jeweils abhängig ist. 230 Zugleich schränkt er aufgrund seiner Trennung von Exegese und Applikation die Bedeutung der historisch-kritischen Exegese ein: Sie darf keine Verbindlichkeiten für die Applikation formulieren, sie kann auch kein Ersatz für die notwendende Applikation sein. Vielmehr ist die historisch-kritische Exegese darauf beschränkt, Aussagen über Gott 224 KBe 165f. 225 KBe 139f. 226 KBe 154-165. 227 KBe 166. 228 Horst Schwebel weist in Bezug auf die bildende Kunst darauf hin, dass die Postmoderne nicht unbedingt mit einem Subjektverlust einhergeht, sondern durchaus das Subjekt zum Gegenstand der künstlerischen Gestaltung macht, H. S CHWEBEL , Die Kunst und das Christentum, 174. Daher ist auch K. Bergers Subjektpräferenz mit dem Postmoderne-Soziolekt vereinbar. 229 KBe 100. 230 KBe 61. <?page no="103"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 103 zu rekonstruieren. Nicht aber kann sie Aussagen über Gottes Wirklichkeit selbst formulieren. Als wissenschaftlich transparente Methodik deckt die historisch-kritische Exegese Formen instrumenteller und ideologiegeleiteter Applikationsformen auf. 231 K. Berger kritisiert besonders diejenigen historisch-kritischen Verfahren, die der Weltanschauung des Rationalismus verhaftet bleiben und daher die Dimensionen mythischer Texte nicht erfassen können. 232 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass für eine intersubjektiv nachprüfbare und damit wissenschaftlich kommunizierbare Texterforschung die historisch-kritische Methode von zentraler Bedeutung ist. Der befreiungstheologische Soziolekt K. Bergers Ansatz partizipiert nach eigenen Angaben wesentlich an befreiungstheologischen Grundüberzeugungen. 233 Dies zeigt sich bereits in der Grundarchitektonik seines Ansatzes, nach dem „[n]icht vom Evangelium her die Welt zu interpretieren [ist, …] sondern das Evangelium von der Situation her […] zu erschließen ist“. 234 Dabei kommt den Marginalisierten, den Opfern und Schwachen, eine besondere Funktion zu. 235 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass das Evangelium eine politische Dimension hat und wesentlich Befreiung der Unterdrückten bedeutet. Der praktisch-theologische Soziolekt Dieser Soziolekt erscheint in K. Bergers Interesse an kirchenpraktischen Themen, die vor allem im Zusammenhang mit dem Leitkriterium der Auferbauung der Gemeinde stehen. K. Berger reflektiert den allgemeinen Zustand der Kirche 236 , den Prozess der Normenfindung innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft 237 sowie ästhetische Fragestellungen der Gottesdienstgestaltung 238 . Der Stellenwert der Poimenik zeigt sich in der Funktionsbestimmung der Applikation: Das „Ratsuchen oder Trostsuchen erfolgt bei der Schrift“ und die Applikation leistet „Hilfe oder Kritik, jedenfalls soll sie ‚Not wenden‘“. 239 231 KBe 112ff. 232 KBe 191f. 233 KBe 41. 234 KBe 42. 235 So spricht K. Berger vom „Konzil der Opfer“, KBe 167. 236 KBe X, 52. 237 KBe 154ff. 238 KBe 289ff. 239 KBe 139. <?page no="104"?> 104 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass besonders praktisch-theologische Reflexionen für eine umfassende Vermittlung des Evangeliums notwendig sind. Der spirituelle Soziolekt K. Berger betont gegenüber einem theorielastigen Dogmatismus und einer Aufspaltung zwischen Alltagsleben und frommen Glaubensakten die Integrität der christlichen Existenz, für deren Gestaltung er eine ‚postmonastische Spiritualität‘ anvisiert. 240 Diese Spiritualität beschreibt er als konsumkritische Lebenshaltung, welche durch Arbeit und Leiden bestimmt ist. „Die Grundregel des Spirituellen heißt Konzentration“ 241 , wodurch sich der Blick/ Eintritt in eine erweiterte Wirklichkeit ergeben kann, die nicht durch kausale Grenzziehungen determiniert wird. 242 Das hermeneutische Prinzip zur Erfassung der Einheit dieser Wirklichkeit liegt nach K. Berger in der Mystik. 243 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass sich die verborgenen und wertvolleren Dimensionen der Wirklichkeit nur durch einen konzentrierten religiösen Lebensstil erschließen lassen, wodurch die Nähe Gottes erfahrbar wird. Der aktuell-lebensweltliche Soziolekt K. Berger nimmt in seinen Entwurf häufig Bezug zu aktuell-lebensweltlichen und allgemein-politischen Themen, wodurch die praktische Relevanz seines handlungsorientierten Ansatzes betont wird. So thematisiert er beispielsweise die eingeschränkte Wahrnehmung des westlichen Eurozentrismus 244 , die ethische Einschätzung der Schleyer- und Hitler-Attentate 245 , den schöpfungsfeindlichen Lebensstil der modernen Zivilisation 246 , das Lebensideal ewiger Jugend 247 , den normierten Kunstgeschmack, der Anormales als Kitsch denunziert 248 , die heutige spirituelle Erfahrung von Geistheilern 249 sowie die Situation der Christen in der DDR 250 . Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass aktuelle Themen den lebensweltlichen Hintergrund für Theoriebildungen abzugeben haben. 240 KBe 50. 241 KBe 199. 242 KBe 199-201. 243 KBe 210. 244 KBe 22 und 41. 245 KBe 46. 246 KBe 149. 247 KBe 162. 248 KBe 182f. 249 KBe 199. 250 KBe 341. <?page no="105"?> 6.2 Ideologiekritische Untersuchung 105 Der Soziolekt des jüdisch-christlichen Dialogs Besonders im ersten und zweiten Hauptteil integriert K. Berger die jüdische Perspektive in seinen Ansatz. Dort stützt er seine Auseinandersetzung mit totalisierenden Konzeptionen durch jüdische Denkansätze: „Mit besonderem Blick auf jüdische Hermeneutik werden wir versuchen, dieser kritischen Linie weiter zu folgen“. 251 Berger zählt hierzu den Verzicht des Judentums auf die Entwicklung einer Dogmatik 252 und die kritischen Ansätze gegenüber idealistischen Gesamtperspektiven. 253 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass aufgrund der engen traditionsgeschichtlichen Vernetzung und besonderen geschichtlichen Erfahrung christliche Theologie in einen fruchtbaren Austausch mit dem zeitgenössischen Judentum zu geschehen habe. Der biblisch-bestätigende Soziolekt Zwar versucht K. Berger es zu vermeiden, direkt aus der Schrift Aussagen für heute zu deduzieren 254 , faktisch folgt er jedoch an einigen Stellen einer solchen Übertragung: So leitet er sein Wahrheitsverständnis direkt von exegetischen Einsichten ab: „Dieses [d.h. das biblische] Wahrheitsverständnis sollte auch für eine Hermeneutik des Neuen Testaments der Ausgangspunkt und der Maßstab sein“. 255 Ebenso wird die Hermeneutik der Fremdheit biblisch fundiert. 256 Die Kriterien der Applikation entnimmt K. Berger zwar nicht direkt der Schrift, entwickelt sie jedoch „aus der Funktion der Schrift im ganzen“ 257 und legitimiert sie durch Schriftzitate. Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Schrift eine normierende und wegweisende Funktion für heute hat. Der vermittlungstheologische Soziolekt Dieser Soziolekt begegnet bereits in der würdigenden Darstellung Schleiermachers 258 , vor allem aber in K. Bergers Programmatik, Exegese und Applikation zu trennen, um damit ein Vergleichen der je aktuellen Situation mit dem Modell des Neuen Testaments zu ermöglichen. 259 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Darstellung des Evangeliums weder ausschließlich durch eine reine Auslegung der biblischen Botschaft noch durch eine rein zeitbedingte Anpas- 251 KBe 22. 252 KBe 30. 253 In diesem Zusammenhang rezipiert K. Berger insbesondere Franz Rosenzweig, KBe 62, 72, 293 und Hans Jonas, KBe 73. 254 Vgl. hierzu die Rolle der Exegese, KBe 112ff, das Stichwort ‚Vergleichen‘, KBe 169ff und K. Bergers Selbstdistanzierung vom Ansatz Weders, KBe 317. 255 KBe 55. 256 KBe 80. 257 KBe 139. 258 KBe 14-16. 259 KBe 156f und 169-178. <?page no="106"?> 106 6 Untersuchungen bei Klaus Berger sung religiöser Aussagen möglich ist. Stattdessen soll eine differenzierte Korrelation zwischen Text/ Autor und Ausleger/ Rezipient eine wirkliche Kommunikation der beiden getrennten Größen Botschaft und Situation ermöglichen. 260 Der sprachphilosophische Soziolekt K. Berger partizipiert an diesem Soziolekt durch die breite Rezeption linguistischer Themenstellungen, wie der Wirkungsanalyse 261 , der Metaphernforschung 262 und der übersetzungstheoretischen Diskussion 263 . Ebenso setzt er sich mit literaturtheoretischen Modellen auseinander, wie dem Strukturalismus 264 , dem Theorem der Interpretationsgemeinschaft von Stanley Fish 265 , Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik 266 und der Semiotik Paul Ricœurs 267 . Ferner würdigt K. Berger am Feminismus, er habe „auf die Rolle der Rhetorik bei der Übersetzung und Verkündigung aufmerksam gemacht“. 268 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass Verstehensprobleme auf der linguistischen Ebene gelöst werden müssen. 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 6.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 6.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen K. Berger zitiert etwa 144 mal die Bibel, davon nur 17 mal das Alte Testament. Fast die Hälfte, 61 Zitate entfallen auf Paulus 269 . Nimmt man die Korintherkorrespondenz zusammen, so entfallen darauf 39 Belege, davon 22 auf den 1. Korintherbrief und 17 auf den 2. Korintherbrief. Der Römerbrief wird 12 mal zitiert, der 1. Thessalonicherbrief 5 mal, der Philipperbrief 3 mal und der Galaterbrief 2 mal. 33 Zitate entfallen auf die Evangelien, davon 17 auf Markus, 10 auf Johannes, 7 auf Matthäus und 6 auf Lukas. Die Johannesoffenbarung wird 13 mal zitiert. Die übrigen 20 Zitate verteilen sich auf die Apostelgeschichte, die Pastoralbriefe, den Hebräerbrief, den 1. Petrusbrief, den Kolosserbrief, den Epheserbrief und den Judasbrief. 260 Der vermittlungstheologische Soziolekt ist besonders durch die Theologie Schleiermachers und Tillichs geprägt worden. 261 KBe 333-341. 262 KBe 242-357. 263 KBe 99-110. 264 KBe 31 und 35f. 265 KBe 59 und 63. 266 KBe 290. 267 KBe 61 und 73. 268 KBe 51. 269 Die Paulusbriefe bilden nach dem lukanischen Doppelwerk das zweitgrößte Corpus im Neuen Testament. <?page no="107"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 107 Mit Ausnahme des ersten Hauptteiles sind die Bibelzitate relativ gleichmäßig über den gesamten Text verteilt. Dennoch lassen sich - außerhalb exegetischer Mikrountersuchungen 270 - vier Orte ausloten, die eine besondere Dichte an biblischen Zitaten aufweisen: - Die erste Häufung findet sich in der Einführung zu K. Bergers Hermeneutik. 271 - Die zweite Häufung schließt sich daran an und beschreibt die Hermeneutik, wie sie das Neue Testament selbst versteht. 272 - Die dritte Häufung findet sich in Bergers Reflexion zur Inspiration. 273 - Und die vierte Häufung findet sich in der Entfaltung der einzelnen Kriterien für die Applikation. 274 Die Zitate erfüllen folgende Funktionen: Illustration des Schriftgebrauchs im Neuen Testament K. Berger führt Schriftzitate an, um den neutestamentlichen Umgang mit (alttestamentlichen) Schriftstellen zu beschreiben: - Das Neue Testament legt die Schrift wie eine Urkunde aus. 275 - Ebenso kann die Autorität der Schrift nicht von der personalen Institution Gott getrennt werden. 276 - Ferner übernimmt das Neue Testament alttestamentliche Texte als Vorlage sowie zur Typologienbildung. 277 - Daraus folgt textpragmatisch, dass es bei der Auslegung der Schrift nicht um „schöngeistige Assoziationen, sondern um Legitimität“ geht. 278 Aufweis der Fremdheit der biblischen Texte K. Berger verwendet häufig Schriftzitate, um die neutestamentliche Kultur in ihren Anschauungen als eine uns fremde Welt darzustellen. 279 Dies hat textpragmatisch die Funktion, K. Bergers Konzeption einer Hermeneutik der Fremdheit zu stützen. 270 Z.B. KBe 309 und 339. 271 KBe 1-4. 272 KBe 5-7. 273 KBe 129-133. 274 KBe 145-154. 275 KBe 5. 276 KBe 129ff. 277 KBe 313 und 309. 278 KBe 5. 279 Z.B. Mk 11,12, KBe 2. Hebr 3,2; Mk 3,21; Joh 10,34, KBe 109. 1Kor 14,33b-36; Röm 13,1-7; 1Thess 2,15f, KBe 111. Mk 9,2-8, KBe 114. Röm 9,18; 10,21, KBe 117. <?page no="108"?> 108 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Textbeispiele zur Veranschaulichung der eigenen Methodik K. Berger ordnet die Hermeneutik in die Reihe seiner Methodenbücher ein 280 und zur Veranschaulichung seiner hermeneutischen Methodik wählt er Textbeispiele aus: - So konkretisiert er die Methode des Vergleichens am Beispiel der Apokalypse 281 und die Wirkungsanalyse anhand von 2Kor 3,1-3 und Röm 13,1- 7 282 . - Die Notwendigkeit von Idyllik begründet er mit einer Analyse zur Rezeption der Weihnachtsgeschichte Lk 2,4-20. 283 Unterstützung der eigenen Position Bibelstellen dienen darüber hinaus generell als Referenztexte der eigenen Positionierung. K. Berger sieht zwar seinen eigenen Ansatz im Vergleich zu H. Weders Konzeption „stärker philosophisch begründet“ 284 , dies führt jedoch nicht dazu, dass er auf die Stützung der eigenen Argumentation durch Bibelstellen verzichtet: - Die Hermeneutik der Fremdheit stützt er u.a. mit Röm 9-11. 285 - Den zentralen Stellenwert der Auferbauung der Gemeinde begründet er mit 1Kor 3,17 286 , ebenso autorisiert er die weiteren Kriterien zur Applikation Heiligkeit, Radikalität und Freude durch biblische Bezüge. 287 - Die Notwendigkeit von Kompromissen führt er mit 1Kor allgemein ein. 288 - Das Bild der Gemeinde als Diskussionsrunde bezieht er auf Röm 12,2; Eph 5,10 und Phil 1,19. 289 - Die Kommunikationsschwierigkeiten von Heilungen belegt er mit Mk 6,5. 290 - Und sein Konzept des dritten Weges jenseits von Rationalismus und Fundamentalismus stützt er mit Joh 20 und Lk 24. 291 280 KBe IX. 281 KBe 176f. 282 KBe 337f und 339ff. 283 KBe 183ff. 284 KBe 317. 285 KBe 80. 286 KBe 140. 287 KBe 148-154. Einzige Ausnahme bildet das Applikationskriterium Ehrfurcht, welches K. Berger ohne direkte biblische Bezüge einführt. 288 KBe 158. 289 KBe 166. 290 KBe 200. 291 KBe 201. <?page no="109"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 109 6.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten Weitere Diskursfragmente zur akademischen Auslegungstheorie der Bibel finden sich vor allem im ersten Hauptteil. Dort setzt sich K. Berger mit anderen hermeneutischen Positionen auseinander. Unter Berücksichtigung der textanalytischen Vorarbeiten und der ideologiekritischen Untersuchung teile ich diese Positionen in drei Gruppen auf: Die erste Gruppe umfasst die Positionen, die K. Berger weitgehend kritisiert. Zu ihr gehören folgende acht Ansätze: Die evangelikale Position, die Biblische Hermeneutik, die Position der Mitte der Schrift, R. Bultmann, H. Weder, H.-G. Gadamer, die impliziten Axiome D. Ritschls und der Feminismus. 292 Die zweite Gruppe umfasst die Positionen, die K. Berger vorwiegend positiv würdigt. Zu ihr gehören folgende vier Ansätze: J.J. Rambach 293 , F.D.E. Schleiermacher, W. Dilthey 294 und die Befreiungstheologie. Die dritte Gruppe umfasst zum einen Positionen, die K. Berger relativ neutral darstellt und zum anderen Ansätze, bei denen sich positive und negative Kommentierungen in etwa die Waage halten. Ich ordne folgende zwei Ansätze hier zu: die Mittelalterliche Hermeneutik 295 und die Reformatorischen Grundsätze 296 . K. Bergers formale Klassifizierung in konfessionelle, liberale und emanzipatorische Hermeneutiken hat keine Auswirkung auf die Bewertung der einzelnen Ansätze 297 . Der übrige Untersuchungstext weist Überschneidungen mit folgenden anderen Diskursfragmenten auf: F.D.E. Schleiermacher rezipiert K. Berger in seiner Darstellung des Wahrheitsverständnisses positiv. 298 Ebenso leitet er seine Hermeneutik der Fremdheit von Schleiermacher her 299 und sieht in dessen Theologie wichtige Anknüpfungspunkte zur Rehabilitierung der 292 K. Berger würdigt zwar am Feminismus die Sensibilität für Sprache und die generelle kritische Wachsamkeit in Bezug auf Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen, im ganzen jedoch überwiegt die Kritik. 293 Rambach selbst wird zwar ohne jegliche Wertung dargestellt, dessen Unterscheidung von subtilitas explicandi und subtilitas applicandi hat allerdings eine immense - positive - Bedeutung für K. Bergers eigenen Ansatz, so dass ich unter der Perspektive der Leselenkung Rambach zur zweiten und nicht zur dritten Gruppe zähle. 294 Die eher randläufige Kritik K. Bergers an Dilthey, „[d]ie Eigenart religiöser Erfahrung kommt Dilthey unterwegs abhanden“, KBe 17, schmälert nicht Diltheys Bedeutung nach Ansicht Bergers: „Doch von außen her hat Dilthey Wichtiges beobachtet“, ebd. 295 Die Tendenz in der Darstellung der mittelalterlichen Hermeneutik ist positiv, da die Trias Glaube - Liebe - Hoffnung des mehrfachen Schriftsinns K. Bergers Engagement für die Einheit von Religion und Ethik vorbereitet, KBe 8. 296 Die Tendenz in der Darstellung der Reformatorischen Grundsätze ist negativ, da bei Luther der Heilige Geist nach K. Bergers Ansicht dogmatische Theorie bleibt, KBe 8. 297 Aus dem Bereich der Konfessionellen Hermeneutiken werden drei Ansätze kritisiert, einer positiv bewertet und einer neutral beschrieben, aus dem Bereich der Liberalen Hermeneutiken werden vier Ansätze kritisiert und zwei positiv bewertet, und aus dem Bereich der Emanzipatorischen Hermeneutiken wird eine Position positiv und eine negativ bewertet. 298 „Wahrheit [ist] für Schleiermacher ein individuelles Allgemeines“, KBe 61. 299 KBe 76. <?page no="110"?> 110 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Subjekte ‚Autor‘ und ‚Ausleger‘. 300 H.-G. Gadamer führt K. Berger als Gegenposition zu seiner eigenen Wahrheitskonzeption an 301 , ebenso kritisiert er in seiner Reflexion zum Zirkel des Verstehens dessen Vorstellung, dass bereits „am Anfang die Beziehung zur Sache eines Textes [vorhanden sei], in der man als Leser schon stehe“ 302 . Weiterhin bemängelt K. Berger hier die Preisgabe des Subjektes 303 und die Vernachlässigung des gesamten emotionalen Bereichs. 304 Auch R. Bultmanns Wahrheitsvorstellung kontrastiert K. Berger seinem eigenen Wahrheitsverständnis. 305 R. Bultmanns texttheoretischen Ansatz, wonach sich die Botschaft eines Textes nach dessen Entstehung verselbständige, teilt K. Berger aufgrund der Loyalität zum Autor nicht. 306 Weiterhin lehnt er das heteronome Regelverständnis R. Bultmanns ab 307 und argumentiert hingegen für den Wert von Normen, Konventionen und Regeln. R. Bultmanns pejorative Verwendung des Adjektivs ‚mythisch‘ wird im Rahmen der Wunderhermeneutik kritisiert. 308 Gegen den Vorwurf der Bultmann-Schule, sein eigener Ansatz sei fundamentalistisch, argumentiert K. Berger ausführlich anhand der Entfaltung seines Wirklichkeitsverständnisses. 309 Und den Begriff der Erfahrung sieht er in R. Bultmanns Offenbarungs- und Religionsverständnis nicht hinreichend berücksichtigt. 310 P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses kann K. Berger in Blick auf den emotionalen Bereich der Kommunikation einen Sinn abgewinnen, allerdings blende Stuhlmacher gerade diesen Aspekt aus. 311 H. Weders Position formiert K. Berger im Kontext der Rehabilitierung des Subjekts als Antimodell zu seinem eigenen Ansatz, da es H. Weder „keineswegs um die Meinung eines Autors“ gehe. 312 Ebenso kritisiert er an H. Weder dessen weitgehend paulinische Reduktion des biblischen Textspektrums. 313 Seinen eigenen Ansatz versteht K. Berger im Kontrast zur neutestamentlichen Normierung der Hermeneutik bei H. Weder stärker philosophisch. 314 Die reformatorische Schriftauslegung greift K. Berger als ambivalenten Beleg für das Wagnis einer verfremdenden Exegese auf. 315 Die politisch-theologische Position als innovative Politisierung der Frömmigkeit rezipiert K. Berger in seiner Dar- 300 KBe 92f. 301 KBe 64f und 75. 302 KBe 82. 303 KBe 92. 304 KBe 182. 305 KBe 66-68 und 75f. 306 KBe 100f. 307 KBe 155 und 161. 308 KBe 198. 309 KBe 201. 310 KBe 297 und 317. 311 KBe 181f. 312 KBe 92. 313 KBe 208. 314 KBe 317. 315 KBe 140. <?page no="111"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 111 stellung des Begriffs Heiligkeit. 316 Und mit D. Ritschl teilt K. Berger die Kritik an falschen Zielvorstellungen, insbesondere den Vollkommenheitsidealen. 317 Ebenso übernimmt K. Berger auch Ritschls Stuhlbeinmodell als Verweis auf die Notwendigkeit einer multiperspektivischen Begründung der Ethik. 318 6.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten K. Berger rezipiert besonders häufig eigene Publikationen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit stelle ich sie unter gattungsspezifischen Gesichtspunkten zusammen: Erstens: Die sog. Fragezeichenbücher Berger erwähnt im Vorwort allgemein seine Fragezeichenbücher, deren „hermeneutischer Ertrag“ in der Neufassung „berücksichtigt“ sein wollte. 319 Folgende Titel werden direkt genannt bzw. zitiert: - Darf man an Wunder glauben? , Stuttgart 1996. K. Berger bezieht sich erstens mit der Bemerkung darauf, dass der Mythos nicht nur eine heidnische Angelegenheit ist 320 , zweitens mit der Intention, sich vom Fundamentalismus abzugrenzen 321 und drittens, um auf eine vertiefende Darstellung seines Wirklichkeitsverständnisses hinzuweisen. 322 - Ist Christsein der einzige Weg? , Stuttgart 1997. Er verweist darauf zur Frage nach der Wahrheit verschiedener Religionen. 323 - Wie kann Gott Leid und Katastrophen zulassen? , Stuttgart 1996. In diesem Titel vertieft K. Berger seine Kritik an Allmachtstheologien. 324 - Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben? , Stuttgart 1998. Ein Predigtausschnitt dieses Buches zeigt nach Ansicht K. Bergers eine gelungene Verbindung von Prophetie und Seelsorge. 325 - Wer war Jesus wirklich? Stuttgart 1995. Dieses Buch dient als Quelle K. Bergers Einteilung der Wirklichkeit in ein Außen I und ein Außen II. 326 - Wozu ist der Teufel da? , Stuttgart 1998. Diese Publikation stellt ausführlicher K. Bergers Sichtweise zu Engeln, Dämonen und dem Teufel dar. 327 - Wie kommt das Ende der Welt? , Stuttgart 1999. Er vertieft dort Gedanken zur theologischen Erkenntnistheorie und Mystik. 328 316 KBe 149. 317 KBe 162. 318 KBe 164f. 319 KBe IX. 320 KBe 152. 321 KBe 201. 322 KBe 208. 323 KBe 67. 324 KBe 115. 325 KBe 136. 326 KBe 197. 327 KBe 206. 328 KBe 210. <?page no="112"?> 112 6 Untersuchungen bei Klaus Berger Zweitens: Die Methoden- und Arbeitsbücher - Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. K. Berger weist auf eigene exegetische Untersuchungen in diesem Buch hin, wonach die neutestamentlichen - Haustafeln die Tradition nicht zum alleinigen Maßstab machen 329 , Normen oft als Reihenbildung erscheinen 330 , den Mahnreden zu entnehmen ist, dass die ganze Gemeinde erforschen soll, was Gottes Wille ist 331 , die Struktur der Gleichnisse die Kontextmit der Bildebene verzahnt 332 , Metaphern in Zusammenhang mit der Kategorie der Erfahrung gesehen werden müssen 333 und sich die Pointe eines Textes nur aus dessen Kontext ergibt. 334 - Exegese und Philosophie, Stuttgart 1986 (Stuttgarter Bibelstudien 123/ 124). K. Berger bezieht sich darauf im Zusammenhang der Frage nach dem Verständnis von Geschichte 335 , seiner Kritik an R. Bultmanns Verschmelzung der beiden Arbeitsgänge Exegese und Applikation 336 , dessen Existenzanalyse 337 und allgemein dem rationalistischen Wissenschaftsverständnis der Theologie 338 . Weiterhin verweist er darauf zur Vertiefung der Metapherntheorie. 339 - Einführung in die Formgeschichte, Tübingen 1987 (UTB 1444). K. Berger verweist auf seine Ausführungen zum Verhältnis von Inhalt und Form 340 , seine Differenzierung der Metapherntheorie 341 , seine exegetischen Untersuchungen der Ich-bin-Worte 342 und die Herleitung des Begriffs der postkonventionellen Mahnrede 343 . - Exegese des Neuen Testaments, Heidelberg 1984 2 (UTB 658). K. Berger vertieft dort seine Hinweise zur Pointe von Gleichnistexten 344 und zum Phänomen der Ungleichzeitigkeit beim Zitieren von Textstellen. 345 - Ders./ C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1987 (TNT 1). K. Berger verweist mit diesem Titel insgesamt auf das Arbeitsfeld der historischen Religionsphänomenologie 346 und weiterhin auf die Theoriereflexion zum religionsgeschichtlichen Vergleich. 347 Konkret stützt er sich auf diese Publikation mit der Feststellung, dass bestimmte Motiv-Stoffe in der Antike allgemein verbreitet waren. 348 329 KBe 143. 330 KBe 158. 331 KBe 166. 332 KBe 170. 333 KBe 172. 334 KBe 173. 335 KBe 43 und 76. 336 KBe 53. 337 KBe 66. 338 KBe 124. 339 KBe 172. 340 KBe 296. 341 KBe 344. 342 KBe 345. 343 KBe 355. 344 KBe 173. 345 KBe 305. 346 KBe 114. 347 KBe 169. 348 KBe 335. <?page no="113"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 113 Drittens: Einführungs- und Gesamtdarstellungen - Bibelkunde des Neuen Testaments, Heidelberg 1984 3 (UTB 972). K. Berger verweist hiermit auf seine vertiefende Darstellung zu Wunderberichten mit symbolischer Funktion. 349 - Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen/ Basel 1995 2 (UTB 8082). Damit stützt K. Berger seine Wahrnehmung des Christentums als mystischer Bewegung. 350 - Einleitung zu: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt 1999. Dort finden sich nach K. Berger grundsätzliche Erwägungen zur Kanonfrage. 351 Viertens: Monographien, Artikel und Aufsätze - Die Auferstehung der Propheten und die Erhöhung des Menschensohnes. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Deutung des Geschickes Jesu in frühchristlichen Texten, Göttingen 1976 (StUNT 13). K. Berger betont damit den Wert der Erfahrung in Bezug auf die Offenbarungsthematik 352 und vertieft die beiden Auffassungen, der Auferstandene führe zum einen in die Schrift ein und die Schriftauslegung sei zum anderen ein nachösterliches Geschenk. 353 - Loccumer Kompromiß 354 . Mit diesem Verweis stützt er seine Kritik an den Vereinseitigungen des Feminismus. 355 - „Der Kosmos ist der heiligste Tempel“ … Zur unterschiedlichen Wertung des Kosmos in der paganen und der christlich-gnostischen Antike, in: G. Rau/ A.M. Ritter/ H. Timm (Hg.), Frieden in der Schöpfung. Das Naturverständnis protestantischer Theologie, Gütersloh 1987, 58-72. K. Berger liefert damit antike Begründungen des Kriteriums Ehrfurcht. 356 - Gleichnisse als Texte, in: K.-H. Bender u.a. (Hg.), Imago Linguae. Beiträge zu Sprache, Deutung und Übersetzen (FS F. Paepcke), München 1977, 61-74. K. Berger verweist damit auf entwickelte Ansätze einer Hirtenchristologie, die für die Bedeutung der Weihnachtsidyllik wichtig sind. 357 - Wie ein Vogel ist das Wort. Wirklichkeit des Menschen und Parteilichkeit des Herzens nach Texten der Bibel, Stuttgart 1987. Ebenfalls innerhalb des Abschnitts zur Weihnachtsidyllik verweist K. Berger auf einen Predigtabschnitt dieses Titels, um ein homiletisches Beispiel zur Verbindung von Idyllik und Machtverzicht zu liefern. 358 - Art. chairo und Art. chara in: EWNT III, Stuttgart u.a. 1983, 1079-1083. Er verweist darauf zur Vertiefung des Applikationskriteriums der Freude. 359 349 KBe 311. 350 KBe 99. 351 KBe 207f. 352 KBe 297. 353 KBe 7. 354 Der Loccumer Kompromiß ist abgedruckt in K. B ERGER , Hermeneutik des Fremden angesichts des Bekannten, 135-145. 355 KBe 52. 356 KBe 150. 357 KBe 183. 358 KBe 188. 359 KBe 153. <?page no="114"?> 114 6 Untersuchungen bei Klaus Berger 6.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen Diskursstrang zum Verständnis von Kirche 360 K. Berger interessiert sich besonders für organisatorische Aspekte des Kirche-Seins: Wie und aufgrund welcher Kriteriologie sollen innerhalb der Kirche Entscheidungen, Regelungen und Normen zustande kommen? Er betont die grundsätzliche Notwendigkeit von Regelungen für die Glaubensgemeinschaft 361 sowie die Schriftauslegung 362 , ohne den Wert des offenen Diskussionsprozesses außer Acht zu lassen. 363 Die Kirche hat nach K. Berger ihren zentralen Ort im Gottesdienst. 364 K. Bergers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, Kirche als einen komplexen Organismus zu beschreiben, dessen Lebendigkeit nur eine hermeneutische Trennung von Exegese und Applikation gerecht werden kann. Ich schließe an diesen Diskursstrang K. Bergers Gedanken an, die sich dem Kontext der Spiritualitätsdebatte 365 als spezifisch innerkirchliche Diskussion um die frömmigkeitliche Lebensgestaltung zuordnen lassen. K. Berger beteiligt sich an dieser Debatte in seiner Darstellung der befreiungstheologischen Hermeneutik, fordert eine Verbindung von Kontemplation und Aktion und votiert für eine „postmonastische[…] Spiritualität“. 366 Die Mystik bildet hierzu die anzuvisierende Lebenspraxis. 367 Der hohe Stellenwert der Spiritualität in K. Bergers Entwurf zeigt sich auch in dessen Bild vom Haus mit den vier Türen als Abbild der Wirklichkeit: Der vierte Raum ist allein dem Spirituellen gewidmet. 368 Bergers Aufnahme des Spiritualitätsthemas und seine Positionierung in der Spiritualitätsdebatte haben die Funktion, seine ganzheitliche - kognitive, ästhetische und ethische - Dimension des Glaubens zu unterstreichen. 360 Die weit differenzierten Diskursbereiche zum Thema ‚Kirche‘ verdeutlicht die Übersicht zum Artikel ‚Kirche‘ in RGG 4 IV, Tübingen 2001, 998-1033 mit 11 Abschnitten. Siehe auch M. K UMLEHN , Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion; H. L INDNER , Kirche am Ort. Lit. zum Diskursstrang ‚Kirche als Auslegungsgemeinschaft‘: U.H.J. K ÖRTNER , Art. Schriftauslegung; H. S CHRÖER , Art. Schriftauslegung. 361 KBe 100. 362 KBe 139f und 145ff. 363 KBe 97 und 166. 364 KBe 178. 365 Lit. zur Spiritualitätsdebatte: (D IE ) ‚B EAULIEU -G RUPPE ‘, Aufbruch von innen. Manifest für eine Ethik der Zukunft; S. B ÖHLAU / R. M ERTEN , Auf der Suche nach der verlorenen Dimension; M. VON B RÜCK , Wie können wir leben? ; J.E. S CHNORRENBERG , Spiritualität. Zur Verbindung von Spiritualität und Befreiungstheologie: C. B OFF , Mit den Füßen am Boden. K. Berger selbst hat das Thema Spiritualität in der Reihe seiner Fragezeichenbücher vertieft: Was ist biblische Spiritualität? . 366 KBe 50. 367 KBe 211. 368 KBe 199-201. <?page no="115"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 115 Diskursstrang zur Hermeneutik der Bekenntnisschriften 369 K. Berger verweist in seiner Einführung - mit Bezug auf E. Jüngel 370 - knapp darauf, dass die Probleme, die für die Auslegung der biblischen Texte als normierende Geltungstexte auftreten, auch bei der Auslegung der Bekenntnisschriften existieren. 371 Das Problem der Bekenntnishermeneutik schneidet K. Berger nur an und weitet damit die Frage nach den Grundlagen der christlichen Glaubensgemeinschaft aus. 372 Diskursstrang zum Verständnis von Offenbarung 373 In die Diskussion zum Offenbarungsverständnis tritt K. Berger ausführlich innerhalb seines Ästhetik-Kapitels ein. 374 Er grenzt sich gegen ein supranaturalistisches Verständnis ab 375 und betont die Dimension der Erfahrung für die Rezeption von Offenbarung. Bergers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die Basis für seine ästhetische Perspektive (s.u.) vorzubereiten. Denn nur als wahrnehmbare und erfahrbare Größe kann Offenbarung zum Gegenstand der Ästhetik werden. 376 Diskursstrang zum Verhältnis von Exegese und Psychologie 377 K. Berger grenzt sich von Psychologisierungen neutestamentlicher Aussagen ab, wie er sie vor allem E. Drewermann zuschreibt. 378 Er erkennt darin deutlich Harmonisierungsstrategien, die seiner Konzeption einer Hermeneutik der Fremdheit widersprechen. Zum anderen sieht er sein eigenes Vorgehen selbst „in besondere[r] Nähe zur Psychologie“, unterscheidet es davon jedoch durch eine „offene (religions-)phänomenologische Betrachtungsweise“, welche die „antiken Äußerungen“ in Blick nimmt. 379 K. Bergers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, eine psychologisierende Vereinnahmung der neutestamentlichen Texte zurück- 369 Lit. zu diesem Diskursstrang: M. O HST , Art. Bekenntnis; W. H ÄRLE , Art. Bekenntnis. 370 EK 1998, 457. 371 KBe 2. 372 Eine Perspektivenerweiterung in Richtung Hermeneutik des Lebens ist an dieser Stelle noch nicht in Blick. Dies geschieht erst im dritten Hauptteil, wo „die Bedeutung des sozialen und ethischen Kontextes in der Hermeneutik zum Thema gemacht“ wird, KBe 165. 373 Lit. zu diesem Diskursstrang: G. W ENZ , Offenbarung; S.W. S YKES , Art. Offenbarung. 374 KBe 293-304. 375 Abgrenzungen erfolgen an dieser Stelle zu Bultmann, KBe 297, Plato, KBe 298, Descartes, KBe 300, sowie der Dialektischen Theologie, ebd. 376 KBe 294. 377 Lit. zu diesem Diskursstrang: A. B UCHER , Bibel-Psychologie; E. D REWERMANN , Tiefenpsychologie und Exegese; M. L EINER , Psychologie und Exegese. 378 KBe 3, 77, 79 , 310, 312. 379 Alle Zitate KBe 180. <?page no="116"?> 116 6 Untersuchungen bei Klaus Berger zuweisen und zugleich seinen Ansatz als reflektierte Rezeption psychologischer Erkenntnisse darzustellen. Diskursstrang zum Verständnis der Theologie 380 K. Berger grenzt sich von idealistischen, existentialtheologischen und dialektisch-theologischen Auffassungen zum Theologieverständnis ab 381 und beschreibt seine eigene Position als „historisch-phänomenologische[n] Ansatz“ 382 . Dieser betone die Differenz zwischen Theologie und Glaube, bekenne sich zu wissenschaftlich-etablierten Methoden (insbesondere der Phänomenologie), unterscheide jedoch die Theologie von anderen Wissenschaften, indem er die Theologie als Akt der Selbstbesinnung der Kirche auffasse. 383 K. Bergers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, religiöse Phänomene einer wissenschaftlich-phänomenologischen Beschreibung zugänglich zu machen und gleichzeitig die Verbindung von Theologie und Kirche zu intensivieren. Diskursstrang zum Wahrheitsverständnis 384 K. Berger partizipiert durch seine Fokussierung auf das biblische Wahrheitsverständnis weniger am allgemein-philosophischen Diskurs zur Wahrheit 385 als an der Bestimmung dessen, was christliche Wahrheit sei. Er konzeptualisiert sie als Person-Wahrheit Jesus Christus, welche als genuine Wahrheit allen Lehrwahrheiten als abgeleiteten Wahrheiten vorausgeht. 386 Weiterhin grenzt er sich von Christof Landmesser ab, dessen Wahrheitsverständnis er von dogmatischen Vorgaben deduziert sieht, die nach K. Berger nur sekundäre Lehrwahrheiten sein können. 387 K. Bergers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, das Wahrheitsthema von der philosophisch-erkenntnistheoretischen Fragestellung hin zur theologischen Benennung eines personalen Wahrheitsver- 380 Lit. zu diesem Diskursstrang: W. H UBER (H G .), Was ist gute Theologie? Die Edition dokumentiert in abgewandelter Form die kontrovers geführte Debatte um das gegenwärtige protestantische Theologieverständnis in der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘ von 2002/ 2003. Siehe weiter K. H UBER U . A . (H G .), Zukunft der Theologie - Theologie der Zukunft. 381 KBe 124. 382 KBe 125. 383 KBe 125f. 384 Lit. zu diesem Diskursstrang: C. L ANDMESSER , Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft; L. B AZINEK , Das Problem der Erkenntnis von Wahrheit; A. K REINER , Ende der Wahrheit? 385 KBe 56. - Zwar rezipiert K. Berger im Zusammenhang der Wahrheitsfrage W. Benjamin, KBe 63, und setzt sich mit der Reflexionsphilosophie auseinander, KBe 70-74, sein Fokus richtet sich jedoch weniger auf die erkenntnistheoretische Fragestellung als auf die praktische Perspektive der religiösen Dimension von Wahrheit. 386 KBe 56ff. 387 KBe 209f. <?page no="117"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 117 ständnisses zu verlagern, welches das gemeinschaftliche Leben in der Kirche zu orientieren vermag. Diskursstrang zum Geschichtsverständnis 388 K. Berger unterstreicht mit Nachdruck die geschichtliche Konkretheit, denn nur so ist die Begegnung zwischen den geschichtlichen Subjekten ‚Autor‘ und ‚Rezipient‘ möglich. 389 Dabei grenzt er sich nach zwei Seiten ab. Zum einen distanziert er sich von Tendenzen zur Geschichtslosigkeit 390 , zum anderen vom Verständnis der Geschichte als totalitärem Geschehen, in das sich der einzelne einzureihen habe. 391 K. Berger stützt mit seiner Geschichtskonzeption sein Programm einer Rehabilitierung des Subjekts, seine Kritik an konformistischen Universalansätzen sowie sein Plädoyer für Innovation. Diskursstrang zum Stellenwert des Subjektes 392 K. Berger betont - nahezu über den ganzen Text verteilt - den Wert des Subjektes als Individuum mit eigener Identität 393 und kritisiert deshalb subjektnegierende Totalanschauungen der Moderne. 394 K. Bergers Positionierung stützt vor allem sein Verständnis von Kirche als gelebter Vielfalt von Individuen. Diskursstrang zur Literaturtheorie 395 K. Berger partizipiert an diesem Diskursstrang durch seine Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus 396 sowie seiner Rezeption der literaturtheoretischen Ansätze von S. Fish 397 , P. Ricœur 398 und W. Iser 399 . Insgesamt 388 Lit. zu diesem Diskursstrang: J. E IBACH / G. L OTTES (H G .), Kompass der Geschichtswissenschaft; C. R OWLAND , Art. Geschichte; G. Z ENKERT , Art. Geschichte. 389 KBe 90ff. 390 KBe 20, 22, 38. 391 KBe 26 und 90. 392 Lit. zu diesem Diskursstrang: W. M ESCH , Art. Subjekt (Lit! ); J. B IARD , Art. Subjekt; C. K OLF - VAN M ELIS , Tod des Subjekts? ; P.V. Z IMA , Theorie des Subjekts; S. A RTMANN , Theorie des strukturalistischen Subjekts. Zur Rehabilitierung des Subjekts in Bezug auf den Autor siehe F. J ANNIDIS U . A . (H G .), Rückkehr des Autors. 393 Z.B. KBe 27, 32, 64f, 68ff, 74ff, 90ff, 145, 207. 394 Vgl. 6.2.1. Dualismen, Zweiter Dualismus. 395 Lit. zu diesem Diskursstrang: W. O ELMÜLLER U . A ., Diskurs: Sprache; A. G EISENHANSLÜKE , Einführung in die Literaturtheorie; P.V. Z IMA , Art. Literaturtheorie; M. K LARER , Einführung in die neuere Literaturwissenschaft. Mit der Übersetzungswissenschaftlerin C. Nord legte K. Berger 1999 eine eigene Übersetzung des Neuen Testamentes und frühchristlicher Schriften vor, die „den neueren Einsichten der modernen ›funktionalen‹ Übersetzungstheorie“ folgt, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, 11. 396 KBe 31, 35f, 92, 207. 397 KBe 59 und 333. 398 KBe 61. 399 KBe 157. <?page no="118"?> 118 6 Untersuchungen bei Klaus Berger grenzt er sich von Textkonzeptionen ab, welche die Texte in einen universalen Strukturrahmen einzubinden versuchen und den Stellenwert der Subjekte Autor und Leser reduzieren. Hingegen rezipiert er Modelle, welche die interpretatorische Dynamik von produktionsästhetischen und rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten berücksichtigen 400 und damit sein Programm einer hermeneutischen Trennung von Exegese und Applikation unterstützen. Diskursstrang zur Ästhetik 401 Nach K. Berger beginnt die Erkenntnis „in konkreter und unabweisbarer Erfahrung“ 402 . Deshalb plädiert er im Anschluss an die Theologie der Befreiung für den Zweitakt von Wahrnehmung als Erleben und Analyse als Rationalität. 403 Dadurch kommt dem Bereich der Ästhetik, welchem er ein eigenes Kapitel widmet 404 , zentrale Bedeutung für den Vorgang der Erkenntnis zu. Die Thematisierung der Ästhetik hat vor allem die Funktion, Potentiale für die Erschließung ‚schwieriger‘ Texte aufzuzeigen. 405 K. Bergers Positionierung hat die Funktion, ein Defizit an Sinnlichkeit in der protestantischen Theologie 406 bzw. eine Vernachlässigung der Emotionalität 407 aufzudecken und zu überwinden, um hermeneutisch anspruchsvolle Texte einem Verstehen zuführen zu können. Diskursstrang zum Zusammenleben innerhalb eines Gesellschaftssystems 408 Über die kirchliche Perspektive hinaus greift K. Berger allgemeinpolitische Themen gesellschaftlicher Lebensregelungen auf. „Verbindlichkeiten [können] nur in einem dauernden Streit zwischen Autorität und kritischer Minorität ausgefochten werden“. 409 K. Berger bekennt sich zur Notwendigkeit von Normen für jedes Gesellschaftsgefüge. 410 Die gesellschaftsintern-binnen- 400 Zur ideologiekritischen Verortung der Begriffe Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik vgl. P.V. Z IMA , Kritik der Literatursoziologie, dort: ‚Rezeption‘ und ‚Produktion‘ als ideologische Begriffe, 72-112. 401 Lit. zu diesem Diskursstrang: W. W ELSCH , Grenzgänge der Ästhetik; W. O ELMÜLLER U . A ., Diskurs: Kunst und Schönes; B. R ECKI , Art. Ästhetik; W. S CHOBERTH , Art. Ästhetik; H. S CHRÖER , Art. Ästhetik. - Zur frühen Verbindung von Homiletik (Applikation) und Ästhetik siehe: R. B OHREN , Predigtlehre. 402 KBe 74. 403 KBe 42. 404 KBe 289ff. 405 KBe 289. 406 KBe 295. 407 KBe 179ff. 408 Lit. zu diesem Diskursstrang: W. O ELMÜLLER U . A ., Diskurs: Sittliche Lebensformen; G. Z ENKERT , Art. Gemeinschaft und Individuum; C. F REY , Art. Gemeinschaft und Individuum. 409 KBe 33 und 87. 410 KBe 155. <?page no="119"?> 6.3 Diskursanalytische Untersuchung 119 staatliche Perspektive wird durch seine Reflexionen zum globalen Zusammenleben erweitert. 411 K. Bergers allgemein-sozialethische Reflexionen haben die Funktion, sein Bild kirchlicher Konvivenz auf dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Handlungsperspektiven darzustellen. Diskursstrang zur Frauenemanzipation 412 K. Berger partizipiert an diesem Diskursstrang im wesentlichen durch seine Kommentierung der feministischen Hermeneutik. 413 Zwar äußert er deutliche Kritik am Vorgehen feministischer Bibelinterpretation, würdigt jedoch auch die feministische Sensibilisierung für Sprache als Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeit. 414 Weiterreichende Konkretisierungen hierzu, die über den verwandten Ansatz der Befreiungstheologie hinausreichen, wie die gemeinsame Minoritätenoption, finden sich in K. Bergers Hermeneutik nur in wenigen Formulierungen. 415 K. Bergers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, seiner Ansicht nach berechtigte Anliegen des feministischen Projektes zu artikulieren, zugleich jedoch feministische Positionen, die seinem Ansatz widersprechen, zurückzuweisen. 6.3.3 Bezüge zum Interdiskurs Progressivität K. Bergers Wertschätzung, Neues als Chance zu begreifen, wird besonders in der kritischen Kommentierung der Ansätze von Stuhlmacher 416 und Gadamer 417 deutlich. Denn gegenüber einer Durchsetzung der geschichtlichen Klassiker als fortwährender Stärkung des Traditionellen besteht K. Berger darauf, dass die „ersehnte Innovation“ 418 hermeneutisch gestützt wird, wofür seine Hermeneutik der Fremdheit die Grundlage bildet. Eine progressive Grundhaltung zeigt sich auch in der Förderung einer pluralisti- 411 KBe 149 und 150f. 412 Lit. zu diesem Diskursstrang: S. R OSENBERGER , Geschlecht - Gleichheiten - Differenzen; E. K REISKY / B. S AUER (H G .), Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation; R. K ROLL (H G .), Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. 413 KBe 50-53. 414 KBe 51. 415 Vgl.: „Die Mütter und Väter der Kirche um 200 n. Chr.“, KBe 133. Anders: KBe 135: „den Zugang zu den Vätern und Propheten des Gottesvolks Israel“. K. Berger weist auch auf die Problematik der Androzentrik christlicher Metaphern hin, KBe 356. - Die Anwendung integrativer Sprachformen erfolgt konsequent in der Neuübersetzung des Neuen Testaments von K. B ERGER / C. N ORD , Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, vgl. dort 31. 416 KBe 11. 417 KBe 24-28. 418 KBe 77. <?page no="120"?> 120 6 Untersuchungen bei Klaus Berger schen Gesellschaft, deren Freiheitsbedürfnis nach K. Berger nur eine Hermeneutik, die mit Leerstellen und Zwischentexten arbeitet, gerecht werden kann. 419 Ebenso wird Progressivität in seinem Plädoyer für die Bildung neuer Metaphern im Rahmen der Applikation erkennbar. 420 Allerdings kritisiert er den Gedanken der Progressivität dort, wo er durch Denkvoraussetzungen der totalisierenden Moderne bestimmt wird. 421 Konservativismus Zugleich lassen sich Argumentationsgänge benennen, die einer konservativen, d.h. bewahrenden, Strömung zuzuordnen sind. So kritisiert er die progressiven Gottesdienstreformen im Zuge der Umsetzung des zweiten Vatikanischen Konzils. 422 Als Beispiel für den Schutz der Schwachen nennt er die „gefährdete ‚Frömmigkeit‘ randständiger Laien“, 423 wobei stärker an volkskirchlich distanzierte - weltanschaulich konservative - Gruppierungen charismatisch-evangelikaler Prägung als an liberal-emanzipatorische Bewegungen zu denken ist. 424 Eine Verknüpfung der beiden Grundhaltungen Progressivität und Konservativismus lässt sich an der Konzeption von Loyalität und Freiheit 425 ablesen. Für Progressivität steht K. Bergers Haltung der Freiheit 426 gegenüber dem biblischen Text in Bezug auf die konkrete Applikation. 427 Für Konservativismus steht K. Bergers Loyalität zum biblischen Autor/ Text: „Verstehen wird auch durch Arbeit an der eigenen Tradition (des Rezipienten) möglich“. 428 Die Spannung dieser beiden Grundhaltungen wird als Loyalitätskonflikt thematisiert. 429 419 KBe 107 und 110. 420 KBe 356f. 421 „Kurzum, es gibt nicht nur eine Apologetik der interessiert Konservativen, sondern auch eine der interessiert Progressiven. […] Apologetisches Handeln dieser Art ist deshalb viel ‚gefährlicher‘, weil Progressivität sich mit dem Mantel der Vernunft zu umhüllen pflegt“, KBe 111. 422 KBe 294 und 319. 423 KBe 176. 424 Vgl. K. B ERGER , Praktizierte Homosexualität bei Amtsträgern in der christlichen Gemeinde aus der Sicht des Neutestamentlers. Berger bemüht sich in seiner Stellungnahme zur kirchlichen Homosexualitätsdebatte um eine Parallelisierung zwischen Speiseregelungen nach 1Kor 8 und dem Kasus ‚Homosexualität in der Gemeinde‘ und plädiert von dort für eine Zurückhaltung öffentlicher homosexueller Praxis bei kirchlichen Amtsträgern angesichts der Schwachen in den Gemeinden. 425 KBe 94-110. 426 Berger versteht in diesem Kontext Freiheit als „freie Treue“ gegenüber dem Bibeltext, KBe 95. Dies soll Gesetzlichkeit vermeiden und die Chancen einer innovativen Applikation freilegen. 427 KBe 95 und 108. 428 KBe 105. 429 KBe 95, 97f, 109. <?page no="121"?> 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik T ITEL - W IDMUNG - A UFBAU Der programmatische Titel ‚Brot statt Steine‘ formuliert das Ziel einer Bibelinterpretation nach dem Lektüreschlüssel E. Schüssler Fiorenzas: Lebensbestärkend wie Brot soll eine Interpretation der Bibel sein, nicht beschwerend wie Steine. Der Untertitel benennt den Fokus dieses Ansatzes und deutet Kontroversen an, die sich daraus ergeben: „Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel“. Auf dem Titelbild ist ein Ausschnitt des Polyptychons der Schutzmantelmadonna von Piero della Francese zu sehen. Das schweigende bis mahnende Gesicht lässt sich in Verbindung mit dem Untertitel und in Vorgriff auf die Entwurfsausführung folgendermaßen deuten: Eine feministische Interpretation hat die Aufgabe, die Frauen der christlichen Anfänge wieder lebendig zu machen, ihr Schweigen zu durchbrechen, ihnen ihre Geschichte zurückzugeben und insgesamt zum Befreiungskampf der Frauen und aller Menschen beizutragen. Das Buch trägt die Widmung „Für feministische Dichterinnen, Mitarbeiterinnen in der Kirche, Theologinnen, meine Schwestern im Kampf, meine Freundinnen, die mich inspirieren“. 1 Der Aufbau des Buches gliedert sich in sechs Kapitel mit einer vorgeschalteten Einführung: - Die Einführung skizziert die Problem- und Themenstellungen der vorliegenden Hermeneutik. - Das erste Kapitel formuliert die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels innerhalb der Bibelwissenschaft. - Das zweite Kapitel beleuchtet die Notwendigkeit dieses Paradigmenwechsels aus der gemeindlichen Perspektive. - Das dritte Kapitel vergleicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede der allgemeinen lateinamerikanischen und der spezifisch feministischen Befreiungstheologie. - Im vierten Kapitel thematisiert E. Schüssler Fiorenza die Verdrängung der Frau aus der Geschichte des Urchristentums anhand der neutestamentlichen Haustafeln, diskutiert die heutigen wissenschaftlichen Legitimierungsstrategien dieses Vorgangs und plädiert auf diesem Hintergrund für eine feministisch-bewertende Hermeneutik. 1 ESF (= E. S CHÜSSLER F IORENZA , Brot statt Steine) 5. <?page no="122"?> 122 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza - Das fünfte Kapitel beschreibt den Wechsel von einer wertfreien, objektiven Forschung hin zu einer parteilichen Forschung anhand des Verständnisses von Geschichte. - Das sechste Kapitel schließt den Kreis zu Kapitel eins, indem es den Beitrag einer feministisch-kritischen Hermeneutik zur Umgestaltung des Selbstverständnisses der Bibelwissenschaft entfaltet. E. Schüssler Fiorenzas Argumentation ist nicht nach einem linearen Aufbau konzipiert, vielmehr befassen sich alle Kapitel „von verschiedenen Gesichtspunkten aus mit ein und demselben Problem“. 2 Ich halte in meiner Inhaltserfassung an dieser Erzählstruktur fest und stelle jedes Kapitel einzeln dar. E INFÜHRUNG : B ROT STATT S TEINE 3 Zu Beginn der Einführung nimmt E. Schüssler Fiorenza dreifach Bezug zur Brotmetaphorik des Buchtitels: Mt 7,9 benennt den Brot-Stein-Kontrast, Lk 13,21 vergleicht das Reich Gottes mit einem Sauerteig, der von einer Frau geknetet wird und ein Zitat von Alla Bozarth Campbell 4 skizziert Gott als die starke Bäckerin. 5 Mit der jüdisch-feministischen Theologin Judith Plaskow kritisiert E. Schüssler Fiorenza die These von Cynthia Ozick, wonach für die Aufwertung der sozialen Stellung der Frau in der jüdischen Religion an „ihrem jüdischen Glaubensstatus kein Jota geändert“ werden müsse. 6 E. Schüssler Fiorenza führt damit ihre grundlegende These ein, dass gesellschaftliche und religiös-theologische Problemlagen nicht voneinander zu trennen sind. 7 Der Bibel kommt dabei eine ambivalente Rolle zu: denn sie ist „Waffe gegen uns“, zum anderen „auch gleichzeitig für uns eine Quelle der Ermutigung und des Engagements“. 8 Aufgabe einer feministischen Hermeneutik muss es daher sein, einerseits die Unterdrückungsmechanismen der Bibel und ihrer Auslegung zu benennen, andererseits das biblische Befreiungspotential herauszuarbeiten. 2 ESF 25. 3 ESF 9-29. 4 A. B OZARTH C AMPBELL , Womanpriest, 217f. 5 ESF 9. Die Bilder vom Sauerteig und von Gott als Bäckerin greift E. Schüssler Fiorenza wieder in Bezug auf die Frauen-Kirche auf: „Mir scheint die heute in der Frauen-Kirche lebendige religiöse Kreativität und feministische Vollmacht zur Ritualisierung der feministische ‚Sauerteig‘ zu sein, mit dem die große Bäckerin Gott arbeitet, um die patriarchale biblische Religion zu verändern“, ESF 58. 6 ESF 9. 7 Daraus ergibt sich die Interdependenz aller Reformen, denn „keine Reform in einem Bereich der Gesellschaft gelingt, wenn sie nicht auch in anderen Bereichen der Gesellschaft vorangetrieben wird. Frau/ man kann nicht die Gesetze und andere kulturelle Institutionen reformieren, wenn frau/ man nicht gleichzeitig auch die biblische Religion zu reformieren sucht. Da ‚alle Reformen interdependent sind‘, ist eine kritischfeministische Bibelinterpretation notwendigerweise ein politisches Unterfangen“, ESF 100. 8 ESF 10. <?page no="123"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 123 Die Unterdrückung der Frauen beschreibt E. Schüssler Fiorenza anhand der Schlüsselbegriffe Patriarchat und Patriarchalismus. 9 Patriarchale Mechanismen sind in der Bibel selbst angelegt 10 und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit fest verankert. E. Schüssler Fiorenza kritisiert deshalb christliche Feministinnen, die apologetisch patriarchal-biblische Texte frauenfreundlich auslegen möchten: „Gewisse Schrifttexte können gegen die Frauen verwendet werden, weil sie ursprünglich in patriarchaler Absicht geschrieben wurden und patriarchalen Zwecken dienten“. 11 Eine kritisch-feministische Interpretation der Bibel stellt daher unweigerlich einen Angriff auf die tragenden Fundamente der herrschenden Kultur dar. Gleichzeitig aber wendet sich E. Schüssler Fiorenza auch gegen postbiblische Feministinnen, welche die Bibel und das Christentum als patriarchales System insgesamt zu überwinden suchen. Sie argumentiert hier strategisch: „Ich möchte […] zeigen, daß wir [d.h. die Frauen] uns dies nicht leisten können“: Es geht um die Teilhabe am Erbe, „denn ‚unser Erbe ist unsere Macht‘“. 12 Eine geeignete Antwort auf die Ambivalenz der Bibel kann daher nur ein „dialektischer Prozeß kritischer Lektüre und feministischer Bewertung“ 13 sein: die Texte müssen am „entscheidende[n] Kriterium [… gemessen werden], ob und inwieweit der betreffende Text sich gegen patriarchale Strukturen von Herrschaft und Ausbeutung wendet und sie abzubauen sucht“. 14 Dieser hermeneutische Lektüreschlüssel lehnt sowohl eine Hermeneutik des Einverständnisses als auch eine Korrelationshermeneutik ab 15 und plädiert für das Verständnis der Bibel als Prototypus im Kontrast zu einem archetypischen Bibel-Modell. 16 Den sozial zentralen Ort einer feministischen Bibelinterpretation skizziert E. Schüssler Fiorenza als „ekklesia gynaikon, die Frauen-Kirche“. 17 Die Teilhabe an dieser Gemeinschaft bleibt nicht nur Frauen vorbehalten, sondern steht auch Männern offen, „die sich mit diesem Frauenkampf identifizie- 9 ESF 11. 10 E. Schüssler Fiorenza verweist in diesem Zusammenhang auf die dominant männliche Metaphorik im biblischen Gottesbild sowie auf patriarchale Terminologien, die wirkungsgeschichtlich männliche Macht legitimierten und legitimieren, ESF 11. 11 ESF 13. 12 Ebd. 13 ESF 14. 14 ESF 14. Diesen programmatisch-zentralen externen Bewertungsmaßstab biblischer Texte formuliert E. Schüssler Fiorenza mehrmals in ihrer Argumentationsführung: ESF 14, 18, 47f, 81f, 104-106, 143, 206. Ebenso weitet sie ihn auch auf nicht-biblisches Material aus: „Ähnliches gilt auch für die kirchliche Tradition“, ESF 14. 15 ESF 18. 16 ESF 19. Während das Archetypus-Modell zeitlos normativ ist, eröffnet das Prototypus- Modell nach E. Schüssler Fiorenza durch ein weitergehendes Verständnis von Geschichte einen gestalterischen Umgang mit der Bibel, ermöglicht neue Erfahrungen und ist offen für kritische Transformationen. 17 ESF 15. E. Schüssler Fiorenza betont am Begriff der ekklesia besonders deren politischöffentliche Dimension, ESF 16. <?page no="124"?> 124 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza ren“. 18 In Kontrast zum Patriarchat orientiert sich die Frauen-Kirche am Leitbild der Egalität, sie ist eine „Gemeinschaft des Dialogs unter Gleichgestellten“. 19 Als Ort der Offenbarung und Gnade Gottes ersetzt sie die traditionellen Größen ‚Bibel und Tradition‘. 20 Die patriarchale Durchdringung biblischer Texte sowie die Entscheidung für die Frauen-Kirche als sozial/ kommunikatives und hermeneutisches Zentrum macht eine Veränderung der Methodik gegenüber der herrschenden Forschung des konventionell patriarchalen Wissenschaftsbetriebs notwendig. E. Schüssler Fiorenza formuliert hierzu zwei Probleme: Zum einen seien viele Frauen an wissenschaftlichen Fragen desinteressiert 21 und zum anderen verstünden „etablierte Universitätsmänner“ 22 feministische Fragestellungen höchstens als ein untergeordnetes Nebenthema, akzeptierten die feministische Haltung aber nicht als neue Perspektive genereller Forschung. Mit Verweis auf Richard Bernstein 23 skizziert E. Schüssler Fiorenza zum Abschluss der Einleitung ihren Lösungsweg zur Überwindung des Objektivismus und des Relativismus als hermeneutische Leitkategorien. 24 Mit Bernstein betont sie, dass Objektivität nicht möglich ist: Denn ForscherInnen sind stets interessengeleitet und sollten ihre Positionalität klar darlegen. An die Stelle der Objektivität kann als methodisches Vorgehen näherungsweise die Intersubjektivität treten, etwa in Form von Forschungsgemeinschaften, was allerdings „schon ansatzweise Formen eines solchen Gemeinschaftsleben“ voraussetze. 25 Während Bernstein solche Dialoggemeinschaften nur als anzuvisierendes Idealziel versteht, sieht E. Schüssler Fiorenza dieses Ideal bereits in der Frauen-Kirche ansatzweise verwirklicht. 26 Die Einführung endet poetisch mit Worten von Renny Golden 27 , welche die Macht der Frauen-Gemeinschaft hervorheben. 28 P RAGMATIK - Eine Bibel-Hermeneutik hat das Ziel, lebensstärkend und nicht bedrückend zu sein. 18 ESF 15. Für Frauen bedeutet dies eine „Theologie der Selbstbejahung“, für Männer eine „Theologie der Aufgabe von Vorrechten“, ESF 17. 19 ESF 16. 20 ESF 17. 21 ESF 20f. Deshalb sieht es E. Schüssler Fiorenza innerhalb ihrer Lehrtätigkeit als besonders wichtig an, Frauen durch eine „‚Befähigung zur theologischen Benennung‘ (power of theological naming)“ mündig zu machen, ESF 21. 22 ESF 21. 23 R.J. B ERNSTEIN , Beyond Objectivism and Relativism. 24 ESF 26-28. 25 ESF 26. 26 ESF 28. Deshalb ist die Frauen-Kirche der Ort, dem sich eine kritisch-feministische Hermeneutik zuerst verpflichtet sieht und nicht der allgemeine Wissenschafts- und Lehrbetrieb. 27 R. G OLDEN / S. C OLLINS , Struggle Is a Name For Hope, 20. 28 ESF 28f. <?page no="125"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 125 - Feministische Hermeneutik will Männer nicht ausschließen, außer jene, die sich der Solidarisierung mit den Frauen im Kampf für Emanzipation entziehen. - Feministische Hermeneutik muss eine radikale Destruktion bestehender patriarchaler Denkschemata sowohl in Politik, Gesellschaft als auch Religion betreiben. - Die Bibel muss ambivalent sowohl als Waffe zur Unterdrückung von Frauen wie auch als Quelle der Ermutigung und Hoffnung von Frauen wahrgenommen werden. Deshalb darf sie weder einseitig apologetisch verteidigt noch pauschal eliminiert werden. Stattdessen müssen die einzelnen biblischen Texte nach dem externen Kriterium bewertet werden, ob sie patriarchaler Unterdrückung dienen oder dem feministischen Befreiungskampf helfen. - Das soziale, kommunikative und hermeneutische Zentrum einer feministischen Hermeneutik muss die Frauen-Kirche sein. - Statt dem veralteten Prinzip scheinbarer Objektivität der etablierten Wissenschaft zu folgen oder den Aporien des Relativismus zu verfallen, muss eine feministische Hermeneutik die neuere Forschung rezipieren und daher für eine geklärte und transparente Positionalität plädieren. E RSTES K APITEL : F RAUEN -K IRCHE . D AS HERMENEUTISCHE Z ENTRUM EINER FEMINISTISCHEN B IBELINTERPRETATION 29 E. Schüssler Fiorenza versteht die feministische Bibelinterpretation als einen Prozess, der „verlorene Traditionen wiederentdeckt, falsche Interpretationen korrigiert, dicke Schichten androzentrischer Wissenschaft abschält, unbekannte Dimensionen biblischer Symbole wiederfindet sowie auf ungeahnte theologische Einsichten stößt“. 30 Für diese Unternehmung ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Während das androzentrische herrschende Paradigma der etablierten Wissenschaft den Menschen ausschließlich als Mann versteht, Frauen unsichtbar und deren Erfahrung „weniger wertvoll, nützlich oder bedeutend“ macht 31 , möchte feministische Frauenforschung hingegen die Gesamtheit menschlicher Erfahrung 32 zur Sprache bringen sowie die „Interaktion von Sprache und Gesellschaft, geschlechtsbezogenen Vorurteilen und Kultur, Geschlecht und Rasse“ aufdecken. 33 E. Schüssler Fiorenza wendet sich hierbei gegen die Vorstellung einer naturbedingten Geschlechterdifferenz, ebenso lehnt sie 29 ESF 31-58. 30 ESF 31. 31 ESF 33. 32 Feminismus schließt nach diesem Verständnis auch die Männerwelt mit ein. 33 ESF 33. <?page no="126"?> 126 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza separatistische Strategien ab, welche Männer ausschließen. 34 Das feministische Wissenschaftsparadigma selbst ist keinesfalls homogen, sondern partizipiert unter neuer Perspektive an gängigen Forschungsgruppierungen 35 . Gemeinsamer Nenner ist bei aller Unterschiedlichkeit aber das Ziel, „Frauen dazu [zu] befähigen, die strukturelle Sünde des patriarchalen Sexismus theologisch zu verstehen und in einer feministischen Umkehr jede geistige Verinnerlichung dieses Sexismus zurückzuweisen, um so ekklesia, Frauen- Kirche zu werden“. 36 E. Schüssler Fiorenza lehnt die gängigen Ansätze des dogmatischen, historischen und dialogisch-pluralistischen Modells ab, da sie insgesamt die Bibel archetypisch interpretieren. Ebenso lehnt sie die Suche nach einem Kanon im Kanon ab 37 , da „alle Bibeltraditionen patriarchal geprägt sind“. 38 Stattdessen setzt sie bei der Erfahrung der Frauen im Kampf der Befreiung an und unterwirft alle biblischen Texte dem externen Kriterium, inwieweit sie zur Befreiung oder Unterdrückung beitragen. 39 Diese Überlegungen münden schließlich in E. Schüssler Fiorenzas hermeneutischen Viererschritt einer Hermeneutik des Verdachts 40 , der Verkündigung 41 , des Erinnerns 42 und der kreativen Aktualisierung 43 . 34 E. Schüssler Fiorenza versteht die Frauen-Kirche als Partikular-Kirche der einen Universal-Kirche, ESF 39. 35 E. Schüssler Fiorenza nennt als Beispiele die liberal orientierte Forschung, die existentialistische oder wissenssoziologische Forschung, die sozialistische Forschung sowie die Forschung unter der Perspektive der Dritten Welt. Weiterhin lassen sich im feministischen Paradigma neoorthodoxe, evangelikale, befreiungs- oder prozessorientierte sowie konfessionelle Gruppierungen/ Strömungen unterscheiden, ESF 33f. 36 ESF 38f. 37 E. Schüssler Fiorenza lehnt in diesem Zusammenhang R. Radford Ruethers Korrelationsmethode einer Unterscheidung in befreiende prophetische Kritik und kulturelle Deformation ab, ebenso L. Russels Differenzierung in bleibend gültige und veränderbare Traditionen, ESF 46. 38 ESF 47. 39 ESF 48. 40 Die Hermeneutik des Verdachts deckt in der Konzeption E. Schüssler Fiorenzas patriarchale Mechanismen in den Texten und deren Rezeption auf, ESF 50-54. E. Schüssler Fiorenza rückbezieht die hermeneutische Kategorie des Verdachts auf J.L. S EGUNDO , The Liberation of Theology; vgl. ESF 94, Anm. 17/ 221. Der Ausdruck selbst stammt von P. Ricœur: „‚Eine Hermeneutik des Verdachts‘ gehört heute als interpretierender Teil zu jeder Aneignung des Sinnes. Mit ihr geht der ‚Abbau‘ der Vorurteile fort, die es verhindern, die Welt des Textes sein zu lassen“, P. R ICŒUR , Philosophische und theologische Hermeneutik, 44. 41 Die Hermeneutik der Verkündigung wendet sich gegen eine Hermeneutik historischer Faktizität. Sie sucht für die Frauen-Kirche die theologische Bedeutung der Texte zu entdecken. Dabei fordert sie die Eliminierung patriarchaler und sexistischer Texte aus Lektionaren und strebt eine Auslegung an, die „Heilsein und Wohlergehen von Menschen zum Ausdruck“ bringt, ESF 54. 42 Die Hermeneutik des Erinnerns wehrt der Reduktion auf Traditionen, die sich im Patriarchat durchgesetzt haben. Sie sucht die überlagerten Schichten biblischer Traditionen mit einzubeziehen und schafft dadurch eine solidarische Verbindung zwischen den Frauen von damals und heute, ESF 55-57. <?page no="127"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 127 P RAGMATIK - Für die Beteiligung der Frauen am christlichen Erbe ist ein Wechsel vom androzentrischen zum feministischen Paradigma notwendig. - Feministische Forschung ist kein monolithischer Block, sondern partizipiert an der Vielfalt diverser wissenschaftlicher Richtungen. - Der Maßstab zur Bibelinterpretation kann nicht aus der Bibel selbst gewonnen werden, da alle Texte patriarchal durchsetzt sind. Stattdessen ist das externe Kriterium an die biblischen Texte anzulegen, ob sie der Befreiung oder der Unterdrückung von Frauen und allen Menschen dienen. - Der methodische Viererschritt einer Hermeneutik des Verdachts, der Verkündigung, des Erinnerns und der kreativen Aktualisierung ermöglicht es Frauen, am biblisch-christlichen Erbe teilzuhaben. Z WEITES K APITEL : ‚U M UNSERES H EILS WILLEN ‘. B IBELINTERPRETATION UND DIE G EMEINDE DER G LÄUBIGEN 44 Auch das zweite Kapitel ist dem Wechsel von einer gängig konventionellen Bibelinterpretation hin zu einem neuen Umgang mit der Bibel gewidmet, diesmal deutlicher unter dem Aspekt des Gemeindelebens. Die Gemeinden sind „an den heutigen Fragen christlichen Glaubens und christlichen Lebens interessiert […] Im Gegensatz dazu unterstreicht das historisch-kritische Vorgehen der Bibelwissenschaft den besonderen historischen Charakter der Bibeltexte“. 45 Mit Thomas S. Kuhns Begriff des Paradigmenwechsels 46 orientiert E. Schüssler Fiorenza die folgende Darstellung dreier Paradigmen der Bibelinterpretation: Am dogmatischen Paradigma 47 kritisiert sie, dass es ahistorisch ist und die Exegese vereinnahmt. Das historische Paradigma 48 missversteht die Bibel einseitig als Buch der Vergangenheit und hält am Leitbild einer objektivistischen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung fest. Das neue pastoraltheologische, bzw. praktisch-theologische Paradigma 49 hingegen setzt bei den Erfahrungen sehr verschiedener Männer und Frauen an und muss 43 Die Hermeneutik der kreativen Aktualisierung inszeniert biblische Geschichten aus der feministischen Perspektive neu. Dies geschieht durch Imagination, künstlerische Ausgestaltung, liturgische Realisierung, Tanz, Musik usw., ESF 57f. 44 ESF 59-84. 45 ESF 59. 46 T.S. K UHN , Die Entstehung des Neuen. Nach Kuhn kommt es dann zu einem Paradigmenwechsel, wenn die Anzahl der Probleme, die mit dem herkömmlichen Paradigma gelöst werden sollen, zu groß wird. In der Regel konstituiert sich das neue Paradigma nicht durch eine Modifikation des alten Paradigmas, sondern erscheint als etwas völlig neues und die Wissenschaft revolutionierendes. E. Schüssler Fiorenza rezipiert den Begriff des Paradigmenwechsels, um die historische Bedingtheit wissenschaftlicher Positionen aufzuzeigen und somit die scheinbare Objektivität wissenschaftlicher Forschung als Konstrukt zu entlarven, ESF 60f. 47 ESF 61-66. 48 ESF 66-70. 49 ESF 71-84. <?page no="128"?> 128 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza daher seinen Kanon oder sein eigenes Kriterium „aus christlichen Gemeinden heraus formulieren, zu denen diese Texte heute reden“. 50 Mit der Formel „Offenbarung ‚um unseres Heils willen‘“ 51 zielt dieses neue Paradigma auf die Überwindung gesellschaftlicher und politischer Unterdrückung. Es befragt die Bibel daraufhin hin, „inwieweit der einzelne Text zum Heilsein oder zur Unterdrückung von Frauen beiträgt“. 52 Positive Grundintentionen der anderen beiden Paradigmen können in das neue Paradigma integriert werden: Das historische Anliegen bedingt eine genaue Analyse des historischen Kontextes, wehrt einer „bloße[n] Wiederholung und Anwendung von biblischen Texten, sondern fordert eine Übertragung ihrer Bedeutung und ihres Kontextes in unsere heutige Situation hinein“. 53 Vom dogmatischen Paradigma übernimmt sie den Gedanken des Bewertungsmaßstabes. Um das neue Paradigma der Bibelinterpretation erfolgreich zu etablieren, ist es notwendig, dass eine Trägerschaft und eine Infrastruktur hierzu gebildet werden. E. Schüssler Fiorenza denkt an die Einrichtung von Zentren, in denen Menschen unterschiedlicher Rassen, Kirchen und Ausbildungen sowie verschiedenen Geschlechts, Alters etc., sich als wissenschaftliche Gemeinschaft sammeln und den Fragen und Bedürfnissen der gläubigen Gemeinde widmen. 54 P RAGMATIK - Um der Bibel wieder mehr Bedeutung für das aktuelle Leben der christlichen Gemeinden zu geben, ist ein Paradigmenwechsel innerhalb der Bibelinterpretation notwendig. Dazu müssen sowohl die Einseitigkeiten des dogmatischen wie des historischen Paradigmas überwunden werden. Das neue pastoraltheologische Paradigma entwickelt hierzu seine Kriterien aus der Erfahrung der christlichen Gemeinden. Bewertungsmaßstab muss hierbei sein, inwieweit der einzelne Text zum Heilsein oder zur Unterdrückung von Frauen beiträgt. - Für die Durchsetzung des neuen Paradigmas ist die Schaffung geeigneter Institutionen notwendig. 50 ESF 81. E. Schüssler Fiorenza hat hierbei insbesondere die Frauen-Kirche als hermeneutisches Zentrum im Blick. 51 ESF 79. 52 ESF 82. 53 ESF 75. 54 ESF 83f. - „Die Anfänge einer neuen Wissenschaftsgemeinde des praktisch-theologischen Paradigmas finden sich schon überall dort, wo sich Studiengruppen und Tagungen der Aufgabe einer praktisch-theologischen Interpretation der Bibel widmen“, ESF 84. <?page no="129"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 129 D RITTES K APITEL : D IE F UNKTION DER S CHRIFT IM B EFREIUNGSKAMPF . E INE KRITISCH - FEMINISTISCHE H ERMENEUTIK UND DIE B EFREIUNGSTHEOLOGIE 55 Eine feministisch-kritische Bibelinterpretation wird sowohl von Seiten der konventionellen Wissenschaft wie auch der allg. (lateinamerikanischen) Befreiungstheologien kritisiert 56 , dennoch klassifiziert E. Schüssler Fiorenza ihren Ansatz selbst als befreiungstheologische Variante. Von dort übernimmt sie neben dem Schlüsselbegriff der Befreiung das Prinzip der Parteilichkeit (advocancy stance). 57 Mit Schubert Ogden 58 sieht E. Schüssler Fiorenza die Notwendigkeit, den jeweils eigenen Standpunkt kritisch zu reflektieren, damit die stets interessengeleitete wissenschaftliche Betätigung nicht die eigene Position lediglich rationalisiert. 59 Zur Selbstreflexion des eigenen Ansatzes zieht sie im folgenden eine vergleichende Analyse 60 der Ansätze von Juan L. Segundo 61 und Elizabeth Cady Stanton 62 heran: Mit dem Befreiungstheologen Segundo eint E. Schüssler Fiorenza der Standort einer Hermeneutik der Unterdrückten. E. Schüssler Fiorenza kritisiert jedoch dessen neoorthodoxen Ansatz einer Hermeneutik der Zustimmung. 63 Außerdem bemängelt sie Segundos wissenssoziologischen Ideologiebegriff, der eine kritische Benennung biblischer Traditionen als falsche Ideologien unmöglich mache. 64 E. Schüssler Fiorenza würdigt Cady Stantons Position, die Bibel nicht als neutrales Buch zu lesen, sondern deren Funktion im Kampf gegen die Frauen deutlich zu benennen. 65 Zwar sieht sie die Methodik von Cady Stanton der höheren Kritik heute als überholt an, hält jedoch an deren politischen Argumenten und Zielen fest. 66 Schließlich kommt E. Schüssler Fiorenza auch gegen Ende dieses Kapitels wieder auf die Kriterienbestimmung einer kritisch-feministischen Herme- 55 ESF 85-109. 56 Der Dissens zwischen der konventionellen Wissenschaft und den Befreiungstheologien liegt in der unterschiedlichen Beurteilung parteilicher Forschung, ESF 85. Der Dissens zwischen allgemeinen Befreiungstheologien und den feministischen Hermeneutiken liegt in der unterschiedlichen Gewichtung der Unterdrückung von Frauen, ESF 86. 57 Die Parteilichkeit konkretisiert sich in E. Schüssler Fiorenzas Ansatz als Engagement für die Befreiung von Frauen und allen Menschen aus der patriarchalen Unterdrückung. 58 S.M. O GDEN , Faith and Freedom. 59 ESF 89f. 60 ESF 93-103. 61 J.L. S EGUNDO , The Liberation of Theology. 62 E. C ADY S TANTON , The Original Feminist Attack on the Bible. 63 ESF 95. 64 ESF 96. E. Schüssler Fiorenza votiert daher für einen an der marxistischen Philosophie orientierten Ideologiebegriff. 65 ESF 98. 66 Die Methodik der höheren Kritik widmet sich einer frauengerechten Analyse der spezifischen Bibelstellen, die sich auf Frauen beziehen, ESF 98f. E. Schüssler Fiorenza hingegen votiert für eine Untersuchung aller biblischen Texte und nicht nur derer, die explizit von Frauen handeln. <?page no="130"?> 130 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza neutik zurück: Der Kanon kann nur aus der spezifischen und „konkreten Erfahrung von Unterdrückung und Befreiung abgeleitet sein“ 67 , wobei jede spezifische Konkretisierung der Vernetzung mit anderen unterdrückten Gruppierungen bedarf. 68 P RAGMATIK - Die feministische Befreiungstheologie ist noch wenig etabliert und stößt daher auf Widerstände sowohl im konventionellen Wissenschaftsbetrieb wie auch bei den allgemeinen Befreiungstheologien. - Neutralität und Objektivität sind nicht möglich. Deshalb müssen alle WissenschaftlerInnen ihre eigenen Voraussetzungen kritisch reflektieren und ihre Interessen offen legen. - Die allgemeinen Befreiungstheologien formulieren die notwendige Hermeneutik der Unterdrückten, allerdings ignorieren sie, dass in der Bibel selbst Unterdrückungsmechanismen gegen Frauen angelegt sind. Somit kann der Kanon einer feministisch-kritischen Hermeneutik nicht aus der Bibel selbst abgeleitet werden, sondern nur aus der spezifischen Erfahrung von Unterdrückung und Befreiung. - Unterdrückung und Befreiung dürfen nicht zu Allgemeinformeln werden, sondern müssen einer konkreten Situation entstammen. V IERTES K APITEL : N ACHFOLGE UND P ATRIARCHAT . A UF DEM W EG ZU EINER FEMINISTISCH - BEWERTENDEN H ERMENEUTIK 69 Am Beispiel der neutestamentlichen Haustafeln 70 zeichnet E. Schüssler Fiorenza die patriarchale Unterdrückung von urchristlichen Frauentraditionen sowie die Fortschreibung dieser Unterdrückung durch die neutestamentliche Wissenschaft nach und reflektiert bewertend diesen Vorgang aus kritischfeministischer Perspektive. Das zentrale Anliegen der Haustafeln bestimmt E. Schüssler Fiorenza als „Konsolidierung der Unterordnung und […] Festigung des Gehorsams der gesellschaftlich schwächeren Gruppen - der freigeborenen Frauen, SklavInnen und Kinder - sowie umgekehrt die Betonung der Autorität des Hausvaters, des pater familias“. 71 Die hierarchisierende Funktion der Haustafeln deutet E. Schüssler Fiorenza genealogisch durch 67 ESF 106. 68 „Andererseits verhindert eine allzu partikuläre Auffassung von Befreiung und Unterdrückung die Solidarität zwischen den unterdrückten Gruppen, da diese dann durch herrschende Systeme gegeneinander ausgespielt werden können“, ESF 109. 69 ESF 111-144. 70 Neben Gen 2-3 gehören nach E. Schüssler Fiorenza die neutestamentlichen Haustafeln „zu den Schlüsseltexten, welche die patriarchale Begrenzung und Verhinderung der Führungsaufgaben und Leitungsrollen von Frauen in Kirche und Gesellschaft legitimieren“, ESF 115. 71 ESF 118f. <?page no="131"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 131 die aristotelische Philosophie. 72 Demnach hatten die Haustafeln die Aufgabe, subversiv-egalitären Bestrebungen entgegenzutreten und die Jesus-Bewegung in die antike patriarchale Gesellschaftsstruktur einzufügen. 73 Die Wirkungsgeschichte dieser Texte setzte die Patriarchalisierung des Christentums fort. 74 E. Schüssler Fiorenza plädiert aufgrund solch patriarchaler Legitimationsstrategien für eine kritisch-bewertende Hermeneutik, welche die androzentrischen Formationen der biblischen Texte auf der sprachlichen Ebene untersucht, das Ethos der ersten ChristInnen in der Auseinandersetzung mit der patriarchalen antiken Umwelt beleuchtet und befreiende bzw. unterdrückende Traditionen kritisch bewertet. 75 P RAGMATIK - Anhand der neutestamentlichen Haustafeln kann rekonstruiert werden, dass Frauen bei der Integration des Christentums in die patriarchale Gesellschaftsstruktur der Antike aus dem religiös-öffentlichen Leben verdrängt wurden. - Dies macht eine kritisch-bewertende Hermeneutik nötig. Diese muss dem ambivalenten Charakter biblischer Texte gerecht werden und deren Wirkungsgeschichte nach der Funktion im Befreiungskampf von Frauen kritisch reflektieren. F ÜNFTES K APITEL : D IE E RINNERUNG AN DIE V ERGANGENHEIT BEI DER G E - STALTUNG DER Z UKUNFT . H ISTORISCH - KRITISCHE W ISSENSCHAFT UND KRITISCH - FEMINISTISCHE I NTERPRETATION 76 E. Schüssler Fiorenza reflektiert in diesem Kapitel die Textinterpretation unter dem Aspekt des Verständnisses von Geschichte. Als Gegenposition zu ihrem eigenen Ansatz kontrastiert sie das historistische Geschichtsverständnis des Leopold von Ranke 77 , welches nach E. Schüssler Fiorenza heutiges historisch-kritisches Forschen, auch innerhalb 72 ESF 120. Das Motiv der patriarchalen Unterordnung nimmt nach E. Schüssler Fiorenza bei Aristoteles eine zentrale Stellung ein: „Daher bestand er darauf, daß die Diskussion über politische Ethik und Führung des Großhaushalts mit der Ehe anfangen muß, die von ihm als Vereinigung der ‚von Natur aus Herrschenden und der von Natur aus Beherrschten‘ definiert wird (Politeia I 1252 a 24-28)“, ESF 121, vgl. ESF 15. 73 ESF 123-127. Demnach hatten die Haustafeln keinen deskriptiven Charakter, also eine Beschreibung des status quo, sondern waren mit einer präskriptiv-pragmatischen Funktion ausgestattet, ESF 125. 74 ESF 128-133. 75 ESF 135. 76 ESF 145-172. 77 E. Schüssler Fiorenza bezieht sich vor allem auf Rezeptionen dessen Geschichtsverständnisses. Folgende Schriften Rankes werden erwähnt: L. VON R ANKE , Geschichte der romanischen und germanischen Völker; ders., The Theory and Practice of History, vgl. ESF 150, Anm. 9/ 227. <?page no="132"?> 132 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza der biblischen Exegese, weitgehend bestimmt: Geschichtsschreibung meint demnach die objektive Wiedergabe historischer Ereignisse, wobei vorausgesetzt wird, dass der „Geschichtswissenschaftler ‚aus seiner eigenen Zeit heraustreten‘ kann, um die Geschichte ‚unter ihren eigenen Voraussetzungen‘ zu studieren“. 78 Geschichte sei „das, was tatsächlich geschehen ist“. 79 E. Schüssler Fiorenza kritisiert an diesem Ansatz vor allem die Annahme, die Texte selbst könnten die Wirklichkeit widerspiegeln 80 . Vielmehr konstruiert nach E. Schüssler Fiorenza der Exeget/ die Exegetin selbst die Wirklichkeit. Eine androzentrisch orientierte Wissenschaft kann die Beteiligung von Frauen am Urchristentum nicht erforschen, weil sie ihre androzentrischen Quellen für objektiv hält und damit „ihrer eigenen ‚Subjektivität‘ und ‚Kulturgebundenheit‘ sowie ihrer ‚eigenen heutigen Interessen‘ nicht bewußt ist“. 81 E. Schüssler Fiorenza versteht hingegen Geschichte als Information und Interpretation und setzt daher solch einem objektiv-realistischen Verständnis von Geschichte eine konstruktionistische historische Wissenschaftstheorie gegenüber, wonach Geschichte ausdrücklich positionell für eine bestimmte Gruppierung und mit einem bestimmten ideologischen Ziel verfasst wird. 82 Die Konzeption einer parteilichen Geschichte für bestimmte Gruppen 83 führt zu einer historisch-kritischen Forschung, welche Frauen vor allem für die Frauen-Kirche ausüben, die sich dabei der Methoden der historischen Forschung bedienen, gleichzeitig aber deren „androzentrische[…] philosophische[…] und theologische[…] Voraussetzungen, Standpunkte und Zielsetzungen in Frage stellen“. 84 Dieses Vorgehen bewegt sich innerhalb des geforderten Paradigmenwechsels, der „von einer androzentrischen - auf den Mann und das Männliche zentrierten - Weltanschauung und von einem entsprechenden intellektuellen Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses 78 ESF 149. 79 Ebd. 80 In Bezug auf die Geschichte der Frauen im Urchristentum würde dies zur Folge haben, Frauen hätten - historisch betrachtet - fast nichts zur Ausbreitung des Christentums beigetragen. Besonders diese Schlussfolgerung widerspricht E. Schüssler Fiorenzas eigener Forschungsposition. Denn „Geschichte wurde und wird von den ‚Siegreichen‘ gemacht und geschrieben: Die Unterdrückten und Besiegten der Vergangenheit haben keine ‚geschriebene‘ Geschichte“, ESF 156. Deshalb müssen die Texte kritisch analysiert werden: „Statt die Texte als eine angemessene Wiedergabe der Wirklichkeit zu verstehen, von der sie reden, müssen wir nach rhetorischen Anhaltspunkten und Anspielungen suchen, die uns noch einen Blick auf diejenige Wirklichkeit gewähren, über die die Texte schweigen“, ESF 168. 81 ESF 151. 82 ESF 154. 83 „Geschichte ist ‚Geschichte für‘, insofern sie einerseits mit einem bestimmten ideologischen Ziel verfaßt und andererseits für eine bestimmte Gruppe von Menschen geschrieben wird“, ESF 154. 84 ESF 161. <?page no="133"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 133 hin zu einem feministischen Verständnis von Welt, menschlicher Kultur und Geschichte“ führt. 85 E. Schüssler Fiorenza lehnt außerdem eine Trennung von distanzierender Geschichte und partizipatorischer Erinnerung 86 ab, denn die geschichtlichen Erfahrungen der Frauendiskriminierung gehören nicht einer verlorenen Vergangenheit an, vielmehr fordert die Solidarisierung mit den damaligen Frauen die Fortführung deren Befreiungskampfes. „[D]as kritische Verstehen historischer Forschung [muss] weiter vertieft werden […], indem Geschichtsschreibung als Erinnerung und Überlieferung für Menschen von heute und morgen verstanden wird“. 87 P RAGMATIK - Das dominierende positivistisch-historische Geschichtsverständnis muss durch einen Paradigmenwechsel überwunden werden, weil es unkritisch die historische Wirklichkeit mit den Aussagen der Untersuchungsquellen identifiziert. - Solch ein Paradigmenwechsel muss zur Überwindung scheinbarer Objektivität androzentrischer Forschung führen. Dies kann nur eine parteiliche Geschichtsschreibung erreichen, wie sie hier methodisch als feministisch-kritische Forschung dargestellt wurde. S ECHSTES K APITEL : A UF DEM W EG ZU EINEM KRITISCH - THEOLOGISCHEN S ELBSTVERSTÄNDNIS DER B IBELWISSENSCHAFT 88 Dieses Kapitel beleuchtet abschließend die wissenschaftstheoretische Debatte zum Selbstverständnis der Bibelwissenschaft 89 aus feministischer Perspektive. Im ersten Teil dieses Kapitels 90 geht E. Schüssler Fiorenza auf das Verhältnis zwischen exegetischer und dogmatischer Bibelinterpretation ein. Sie entkräftet den Einwand des historischen Wissenschaftsparadigmas, „[d]er 85 ESF 161. Dabei werden die herrschenden Denkkategorien destruiert und eine scheinbar wertfreie und objektive Forschung durch eine gewollte parteiliche Perspektive abgelöst. 86 Diese Unterscheidung geht auf den Historiker Pierre Vidal-Naquet zurück, der dem Erinnern die existentielle Beteiligung etwa durch familiäre Partizipation etc. zuschreibt und Geschichte als distanzierte Ereignisse vergangener Zeiten auffasst, P. V IDAL -N AQUET , A Paper Eichmann? . 87 ESF 171. 88 ESF 173-212. 89 Mit dem Bild der Pfarrhaushälterin, die ein Gericht zum wiederholten Male aufkocht, vergleicht E. Schüssler Fiorenza die sich ständig wiederholende Diskussionen um das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft. Trotzdem hält sie diese Diskussionen für notwendig, damit die Bibelwissenschaft selbstkritischer und zugleich theologischer werden kann, ESF 173. 90 ESF 174-186. <?page no="134"?> 134 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza Bibelwissenschaftler […] sei Exeget und Historiker, nicht Theologe oder Prediger“. 91 E. Schüssler Fiorenza entgegnet, „[d]ieses Argument zugunsten einer Arbeitsteilung […] übersieht, daß biblische Wissenschaft […] nicht nur einen historisch-literarischen Anspruch erhebt, sondern auch ein theologisches Selbstverständnis zum Ausdruck bringt“. 92 Weiterhin thematisiert sie die Gefahr einer Relativierung der historischen Perspektive durch den strukturalistischen New criticism, welcher inzwischen jedoch als wertvolle Ergänzung in die Textwissenschaft integriert werden konnte. E. Schüssler Fiorenza sieht die Trennung zwischen exegetischer und theologischer Bibelinterpretation, welche sich als Dichotomie zwischen wissenschaftlicher Exegese und kirchlicher Anwendung konkretisiert, „durch die heutigen Diskussionen über die hermeneutische Frage und die Methoden der Bibelinterpretation in Frage gestellt“. 93 Im zweiten Teil dieses Kapitels 94 entwickelt sie eine Aufgabenzuschreibung der Hermeneutik, welche die skizzierte Dichotomie überwinden soll: An Stelle der dichotomischen Unterscheidung muss nun eine Bibelhermeneutik versuchen „zu klären, wie ‚das, was der Text ursprünglich bedeutet hat‘, im Akt der Interpretation und Verkündigung in das, ‚was er heute bedeutet‘, übersetzt und übertragen wird“. 95 Dadurch werden die BibelwissenschaftlerInnen zu „KulturkritikerInnen […], die einerseits die historisch-kritischen Bibelinterpretationen ihrer KollegInnen, andererseits diejenigen der ‚gewöhnlichen‘ Gläubigen und PredigerInnen einer kritischen Bewertung und Hermeneutik der Befreiung unterziehen“. 96 Im dritten Abschnitt dieses Kapitels 97 formuliert E. Schüssler Fiorenza die Herausforderungen der Befreiungstheologien an die Bibelwissenschaft: Gegenüber einer strikt hermeneutischen Theologie sind diese nicht nur am Verstehen interessiert, sondern vor allem an der Veränderung der Praxis. Ihre Kriterien leiten sie „aus dem eigenen praktischen und theoretischen Engagement im Befreiungskampf der Gegenwart ab“. 98 E. Schüssler Fiorenza kritisiert an dieser Stelle nochmals die objektive Ausrichtung der akademischen Wissenschaft und plädiert für die Anerkennung einer subjektiven Engagiertheit: „Es handelt sich immer, ob die Betreffenden sich dessen bewußt sind oder nicht, um eine Theologie oder Interpretation ‚für‘“. 99 Eine kritische Hermeneutik muss deshalb drei Einsichten aus der Diskussion der Geschichtsschreibung und Literaturkritik berücksichtigen: Erstens den rhe- 91 ESF 174. 92 ESF 175. 93 ESF 186. 94 ESF 187-196. 95 ESF 190. 96 ESF 194. 97 ESF 196-212. 98 ESF 197. 99 ESF 198. <?page no="135"?> 7.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 135 torischen Charakter jeder Geschichtsschreibung, zweitens die Definition der literarischen Kritik als einer Kritik für bestimmte Gruppen und drittens das Verständnis von Geschichte als das, was geschehen ist und erinnert werden soll. 100 E. Schüssler Fiorenza beschließt ihren Entwurf mit einem Resümee ihres Viererschritts einer Hermeneutik des Verdachts, einer Hermeneutik des Erinnerns, einer Hermeneutik der Verkündigung und einer Hermeneutik der Aktualisierung: Dieses Programm ermöglicht ein erneuertes Selbstverständnis biblischer Wissenschaft, welches „nicht mehr zu einer hermeneutischen Identifikation mit biblischen Texten und ihrer geschichtlichen Praxis“ beiträgt, sondern zu „historischer Solidarität mit dem Volk Gottes in biblischer Geschichte“ aufruft und „zur kritischen Erinnerung und theologischprophetischen Herausforderung an die etablierte Gesellschaft und Kirche“ hinführt. 101 P RAGMATIK - Die etablierte Bibelwissenschaft muss überwunden werden, weil sie sowohl die patriarchalen Strukturen biblischer Texte als auch ihre eigenen Voraussetzungen nicht kritisch genug reflektieren und bewerten kann. Nur eine kritische Hermeneutik kann einen Dialog zwischen vergangenem Text und heutiger Anwendung herstellen. Das Instrumentarium der historisch-kritischen Methode bleibt dafür unumgänglich. - Den BibelwissenschaftlerInnen muss dabei die Rolle zukommen, als umfassende KulturkritikerInnen sowohl die eigene Deutung als auch die Interpretationen anderer zu bewerten und gleichzeitig die gemeindliche Bibellektüre hin zu einer Hermeneutik der Befreiung zu führen. - Eine Hermeneutik des Verdachts, der Verkündigung, des Erinnerns und der Aktualisierung kann dies angemessen leisten und somit eine bewusst politisierte Rolle der biblischen Wissenschaft profilieren. 100 ESF 202. 101 ESF 211. Deshalb kann nach E. Schüssler Fiorenza Inspiration nicht an Texten oder Büchern festgemacht werden: „Dagegen ist es aber wohl möglich, den Inspirationsprozeß in der Glaubensgemeinschaft und ihrer Geschichte als ‚Volk Gottes‘ zu entdecken. Eine feministische Befreiungstheologin wird diesen Satz noch weiter qualifizieren, indem sie darauf besteht, daß der Inspirationsprozeß als Inspiration jener Menschen - vor allem armer Frauen - zu verstehen ist, die um die Anerkennung ihrer Menschenwürde und um die Befreiung von den Mächten der Unterdrückung kämpfen“, ESF 201. <?page no="136"?> 136 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza 7.2 Ideologiekritische Untersuchung I DEOLOGIE ALS E RZÄHLSTRUKTUR : 7.2.1 Dualismen Erster Dualismus: Feminismus versus Patriarchalismus und Androzentrismus (Dualismustyp 1) Die Struktur des Gesamttextes wird wesentlich durch diese Gegenüberstellung gebildet, ebenso sind der zweite, dritte und vierte Dualismus von diesem Grunddualismus abhängig. Der Patriarchalismus 102 bringt Unterdrückung sowie die Legitimation von Unterdrückung 103 hervor, sein wesentliches Merkmal ist der Androzentrismus, nach dessen Anschauung „der Mann als der Mensch schlechthin gilt und die Frauen nur noch das ‚Andere‘, eine Art Ausnahme des Menschseins, nicht aber die Regel sind“. 104 Zwischen dem patriarchalen Machtsystem und dem androzentrischen Theoriesystem ist daher zwar zu differenzieren, allerdings sind beide in einer untrennbaren Verbindung miteinander verschmolzen. 105 Der Feminismus bildet im Untersuchungstext den Konterpart und potentiellen Überwinder der Patriarchalismus-Androzentrismus-Konstruktion: „Feminismus meint nicht nur eine theoretische Weltanschauung oder Perspektive, sondern er ist eine praktische Befreiungsbewegung von Frauen, die für die Veränderung der Kirche und Gesellschaft kämpfen“. 106 Diese Veränderung impliziert auf theoretischer Ebene einen grundlegenden Wechsel von der androzentrischen Wahrnehmung der Wirklichkeit hin zu einer feministischen Betrachtungsweise und in der Praxis eine prinzipielle Umgestaltung der patriarchal-gesellschaftlichen und patriarchal-kirchlichen Verhältnisse: „Ziel ist nicht einfach die Respektierung und Verwirklichung des ‚Menschseins‘ der Frau, da Menschsein männlich bestimmt ist. […] Ziel ist die (auch religiöse) Selbstbehauptung, Stärkung und Befreiung von Frauen aus aller patriarchaler Entfremdung, Marginalisierung und Ausbeutung“. 107 Die alternative Gesellschaftsform zum hierarchischen Patriarchat 102 E. Schüssler Fiorenza gebraucht den Begriff „in seiner klassischen aristotelischen Bedeutung“, ESF 15. Daher liegt der Schwerpunkt im Verständnis nicht auf einer allgemeinen Herrschaft der Männer über die Frauen, vielmehr beschreibt dieser Begriff ein komplexes, alle Bereiche menschlichen Lebens umfassendes Wertgefüge, das prinzipiell und von Natur aus auf Unterwerfung, Unterordnung, Herrschaft und Ausbeutung angelegt ist. 103 ESF 13. 104 ESF 51. 105 ESF 36. 106 Ebd. 107 ESF 16. <?page no="137"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 137 entsteht in der Frauen-Kirche als konkretes Modell einer christlich-feministischen Verwirklichung. 108 Zweiter Dualismus: Geschlecht als Konstruktion versus ontologische Polarität von männlich und weiblich (Dualismustyp 1) Die vorgegebene Naturhaftigkeit einer scharfen Trennung von Frau- oder Mann-Sein beruht nach E. Schüssler Fiorenza auf einer herrschaftsstabilisierenden Klassifikation, welche „dazu dient, die patriarchale Ausbeutung und Unterdrückung aller Frauen aufrechtzuerhalten“. 109 Ebenso lehnt sie weitere Schemata der Geschlechterpolarisierung ab, wie die Vorstellung einer „Komplementarität der Geschlechter“ und die Annahme einer „Überlegenheit von Frauen“. 110 Stattdessen versteht E. Schüssler Fiorenza Frau- und Christinsein als einen gesellschaftlichen, geschichtlichen und kulturellkirchlichen Prozess. 111 Feministische Identität beruht demnach nicht zuerst auf einer biologischen Disposition, sondern auf der „gemeinsamen historischen Erfahrung von Frauen als einer unterdrückten Gruppe“. 112 Dies hat Konsequenzen für den feministischen Erkenntnisweg: „Wir müssen deshalb heuristische Kategorien wie ‚biologische Kaste‘ oder ‚Frauenerfahrung‘ als wesentlich von Männererfahrung verschiedene Erfahrung zurückweisen, da diese Kategorien Frauen aufgrund von biologischen Geschlechtsunterschieden oder von Männerherrschaft zu passiven Objekten machen“. 113 Dritter Dualismus: Feministisches Paradigma versus androzentrisches Paradigma (Dualismustyp 1) Der Patriarchalismus etablierte eine androzentrische Wissenschaft, deren Paradigma anhand der Leitbilder Objektivität, Neutralität und Wertfreiheit beschrieben werden kann. 114 E. Schüssler Fiorenza sieht allerdings in diesem Paradigma lediglich die Verschleierung der wahren nicht artikulierten Interessen männlicher Wissenschaft. 115 Denn dieses Paradigma versteht beispielsweise „androzentrische Texte der Bibel als objektive Berichte“, statt „nach den rhetorischen Anhaltspunkten und Anspielungen zu suchen, die uns noch einen Blick auf diejenige Wirklichkeit gewähren, über die die Texte 108 „Wenn ich hier als Christin von einer Frauen-Kirche spreche, will ich damit […] eine Gemeinschaft benennen, die in einem klaren politischen Gegensatz zum Patriarchat steht“, ESF 15. 109 ESF 38. 110 Ebd. 111 ESF 136. 112 Ebd. 113 ESF 164f. 114 ESF 88, 91f, 147, 197f. 115 ESF 162. <?page no="138"?> 138 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza schweigen“. 116 E. Schüssler Fiorenza beschreibt mit Hilfe des Schlüsselbegriffs Paradigmenwechsel 117 den feministischen Wissenschaftsansatz als Gegenpol zum androzentrischen Paradigma. Dieses neue Paradigma zeichnet sich vor allem durch Parteilichkeit 118 und Transparenz 119 aus und ist insbesondere für die Geschichtsschreibung von Bedeutung: Diese kann nicht als historische Tatsachenschilderung betrieben werden 120 , sondern ist „als Geschichte für bestimmte Gemeinschaften und bestimmte Menschen zu verstehen“. 121 E. Schüssler Fiorenza plädiert deshalb für eine kritisch-bewertende Hermeneutik. Diese „unterwirft die biblischen Texte der Erfahrungsautorität von Frauen“. 122 Die Opposition beider Wissenschaftsparadigmen ist insgesamt grundsätzlicher Art: „Zwischen einem feministischen historisch-kritischen und einem positivistisch-historischen Verständnis von Bibelinterpretation scheint daher keine Annäherung möglich zu sein“. 123 Vierter Dualismus: Bibel als historischer Prototypus versus Bibel als mythischer Archetypus 124 (Dualismustyp 1) Der mythische Archetypus ist in der konventionellen Bibelwissenschaft des alten Paradigmas etabliert. Er „schreibt eindeutig situationsbedingten historischen Texten und kulturellen Umständen universale Bedeutung zu und verwandelt sie in ein Ideal für alle Zeiten […]. Werden so biblische Texte, die in androzentrischer Sprache formuliert sind, als Wort Gottes betrachtet, dann beanspruchen das patriarchale System und die androzentrische Sicht der Welt, die sich in diesen Texten niederschlagen, eine Gültigkeit für alle Zeiten“. 125 Eine kritisch-feministische Hermeneutik kann daher „nicht die normative Autorität des biblischen Archetypus als ihren Ausgangspunkt wählen“ 126 , sondern versteht die Bibel als Prototypus: „Wenn Frauen-Kirche die Bibel als historischen Prototypus und nicht als mythischen Archetypus versteht, wird es möglich, Zusammenhänge mit unseren eigenen Erfahrungen als Frauen heute, mit unseren historischen Kämpfen und unseren feministischen Optionen herzustellen“. 127 Der Prototypus ist im Gegensatz zum 116 ESF 168. 117 ESF 91. 118 ESF 16, 87ff, 158ff. 119 ESF 86, 158, 197f. 120 ESF 149. 121 ESF 160. 122 ESF 48. 123 ESF 150. 124 In Blick auf diese Unterscheidung verweist E. Schüssler Fiorenza auf R. B LAU D U P LESSIS , The Critique of Consciousness and Myth. 125 ESF 43. 126 ESF 47. 127 ESF 48. <?page no="139"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 139 zeitlosen Archetypus seiner eigenen Umgestaltung gegenüber offen. 128 Dazu dient die Hermeneutik der kreativen Aktualisierung, „welche die Kirche der Frauen in eine imaginationsreiche und schöpferische Artikulation von biblischer Frauengeschichte sowie die Fortdauer dieser Geschichte in der Gemeinde miteinbezieht“. 129 Während das archetypische Bibelverständnis in enger Beziehung zu einer Hermeneutik des Einverständnisses steht, ermöglicht das prototypische Verständnis der Bibel eine Hermeneutik des Verdachts. 130 Fünfter Dualismus: Kritisch-christlicher Feminismus versus feministisch-christliche Apologetik und postbiblischer Feminismus (Dualismustyp 1) In Blick auf die Heterogenität der feministischen Bewegung nimmt der Untersuchungstext eine doppelte Grenzziehung vor: Zum einen distanziert sich E. Schüssler Fiorenza von feministischen Versuchen, die Bibel ausschließlich frauenfreundlich zu interpretieren: „Die genannte Hermeneutik ist […] in Gefahr, eine feministische Apologetik für die Autorität der Bibel zu erarbeiten, anstatt die unterdrückenden Funktionen, die patriarchale Bibeltexte in der Vergangenheit hatten und heute noch haben, genügend anzuerkennen und zu analysieren“. 131 Zum anderen argumentiert sie gegenüber dem postchristlichen Feminismus, dass Feministinnen es sich nicht leisten können, die biblische Religion aufzugeben. Denn als politisches Buch wirkt die Bibel weiterhin auf das gesellschaftliche Wertgefüge ein, „daher hat eine feministische kritische Interpretation der Schrift nicht nur für Frauen, die einer biblischen Religion angehören, sondern für alle Frauen der westlichen Gesellschaften eine kritische politische Bedeutung“. 132 128 ESF 107. 129 ESF 50. Ein anschauliches Beispiel solch historischer Imagination findet sich in: E. S CHÜSSLER F IORENZA , Zu ihrem Gedächtnis, 100-103. Dabei handelt es sich um einen „‚apokryphe[n]‘ Brief der Apostelin Phoebe“, den die Seminarteilnehmerin Sr. E. Davis verfasst hat, a.a.O., 99. 130 ESF 196. 131 ESF 137. 132 ESF 11. Vgl. L. S CHOTTROFF / S. S CHROER / M.-T. W ACKER , Feministische Exegese, 34-46: Dort werden fünf Typen feministisch-theologischer Hermeneutik, die sich z.T. überlappen, unterschieden: 1.) Die Hermeneutik der Loyalität sieht „das Problem biblisch legitimierter Frauendiskriminierung nicht mit der Bibel, sondern allein mit deren Auslegung gegeben“, a.a.O., 35. 2.) Die Hermeneutik der Ablehnung kritisiert hingegen nicht nur die Wirkungsgeschichte, sondern die Bibel selbst, da die „in ihr behauptete Offenbarung Gottes als unrettbar sexistisch“ angesehen wird, a.a.O., 36f. 3.) Die Hermeneutik der Revision unterscheidet zwischen patriarchaler Schale und nicht-patriarchalem Kern und hat zu zeigen, „daß die biblische Welt nicht restlos patriarchal determiniert ist“, a.a.O., 38. 4.) Die Hermeneutik des „Ewig Weiblichen“ forscht nach matriarchalen Weltanschauungen in den biblischen Texten. 5.) Die Hermeneutik der Befreiung schließlich <?page no="140"?> 140 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza 7.2.2 Mythische Aktanten E. Schüssler Fiorenzas Ansatz ist vom Interesse geprägt, die eigene Positionalität offen zu legen. Daher sind persönliche und die eigene Partikularität betonende Formulierungen auffällig, woraus sich eine Vermeidung mythischer Aktanten ergibt, wie folgende drei Beispiele zeigen: - E. Schüssler Fiorenza führt den Dualismus von Archetypus und Prototypus in Bezug auf das Bibelverständnis mit folgenden Worten ein: „Ich habe daher vorgeschlagen, wir sollten die Bibel eher als einen strukturierten Prototypus der Frauen-Kirche denn als einen zeitlosen Archetypus verstehen“. 133 - Ebenso drückt sie ihr Verständnis von Feminismus und patriarchaler Unterdrückung als partikulare Spezifizierung aus: „Hier sollte ich deutlich machen, was ich unter Feminismus und patriarchaler Unterdrückung verstehe […]“. 134 - Auch ihren eigenen Ansatz feministischer Hermeneutik bringt sie so zum Ausdruck: „Im Kontext dieser feministischen Theologie habe ich feministische Bibelhermeneutik als kritisch-bewertende Hermeneutik zu erarbeiten gesucht“. 135 E. Schüssler Fiorenza verwendet hingegen dort mythische Aktanten, wo sie einen generalisierenden Nexus zwischen Positionen allgemeiner feministischer Theologie und ihrem Ansatz herstellen möchte: - „E INE FEMINISTISCHE H ERMENEUTIK kann nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß Schrift und Tradition sich einfach mit Gottes Offenbarung decken“. 136 E. Schüssler Fiorenza übergeht an dieser Stelle, dass es auch andere Positionen innerhalb der feministischen Theologie gibt. - „A M A NFANG FEMINISTISCHER B IBELINTERPRETATION steht daher eine ‚Hermeneutik des Verdachts‘“. 137 Diese Aussage bezieht sich zuerst auf ihren eigenen Ansatz, dessen Kernstück hiermit generalisiert wird. Auch in Blick auf die Bibelinterpretation insgesamt positioniert sich E. Schüssler Fiorenza teilweise durch die Verwendung mythischer Aktanten: - So formuliert sie im Kontext der Einführung des favorisierten pastoraltheologischen Paradigmas apodiktisch mittels eines mythischen Aktanten: „B IBELAUSLEGUNG kann und darf sich nicht darauf beschränken, nur zu erarbeiten, was der Autor ursprünglich gemeint und der Text bedeuzielt als emanzipatorische Bewegung auf die vollgültige Subjektwerdung der Frauen. E. Schüssler Fiorenzas Ansatz lässt sich dem letztgenannten Klassifikationsmodell zuordnen. 133 ESF 19. 134 ESF 36. 135 ESF 135. 136 ESF 10. 137 ESF 13. <?page no="141"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 141 tet hat“. 138 Ein spezielles Verständnis von Bibelauslegung wird somit normiert. - Ebenso im gleichen Zusammenhang: „E S REICHT NICHT AUS , biblische Texte im Sinne einer religiös-theologischen Begrifflichkeit zu verstehen. Es müssen auch ihre gesellschaftspolitischen Kontexte und Ausdrucksformen analysiert werden“. 139 - Und in Blick auf die Standortgebundenheit jedes Forschens argumentiert sie: „B IBELWISSENSCHAFTLER I NNEN können und dürfen nicht länger behaupten, daß sie in dem, was sie tun, distanziert, unvoreingenommen und frei von allen politischen Interessen vorgehen“. 140 Fazit Der Untersuchungstext operiert vorzugsweise mit klar definierten Aktanten. Allerdings lässt sich besonders dort die Einbeziehung mythischer Aktanten feststellen, wo die eigene partielle Position in eine generelle Anschauung überführt werden soll. Dies geschieht zum einen innerfeministisch in Blick auf den christlich-theologischen Feminismus, der sich somit dem Ansatz E. Schüssler Fiorenzas anschließen soll. Dies geschieht zum anderen innerwissenschaftlich in Blick auf die Bibelwissenschaft, die sich den Ansatz E. Schüssler Fiorenzas zu eigen machen soll. 7.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken E. Schüssler Fiorenza reflektiert intensiv die Positionalität von Wirklichkeits- und Wahrheitsauffassungen und bestimmt dabei den androzentrischen bzw. feministischen Standort als jeweiligen Hauptfaktor für die Wahrnehmung von Wirklichkeit und Wahrheit. Die verzerrte androzentrische Sichtweise nimmt den Menschen ausschließlich als Mann wahr 141 und fundiert diese Sichtweise theoretisch durch die herrschaftsstabilisierenden Grundsätze von Objektivität und Wertfreiheit. Durch diese Form von Wissenschaftlichkeit sind sowohl die historischen Quellen, wie auch das, was als wahr gilt, androzentrisch festgelegt: „Geschichte wurde und wird von den ‚Siegreichen‘ gemacht und geschrieben: Die Unterdrückten und Besiegten der Vergangenheit haben keine ‚geschriebene‘ Geschichte“. 142 Die präferierte feministische Sichtweise der Wirklichkeit hingegen nimmt ihren Ausgangspunkt bei der „Erfahrung von Frauen, ausgeschlossen und unsichtbar gemacht worden zu sein“. 143 Feministische Wissenschaft will 138 ESF 71. 139 ESF 73f. 140 ESF 108. 141 ESF 32 und 51. 142 ESF 156. 143 ESF 27f. <?page no="142"?> 142 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza dabei „einen neuen Rahmen, veränderte Bedingungen und Ansätze für unser intellektuelles Erkennen schaffen, so daß dieses wirklich die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zur Sprache bringt und dadurch deutlich wird, daß männliche Erfahrung der Wahrheit nur eine partikuläre Form der Erfahrung und Wahrnehmung von Wirklichkeit ist“. 144 Das feministische Paradigma beansprucht, der Wirklichkeit nicht nur die Sicht der Frauen als Komplement hinzuzufügen, sondern die Wirklichkeit in ihrer Vollständigkeit zu erfassen. 145 Auf diese Sichtweise der Wirklichkeit ist E. Schüssler Fiorenzas methodischer Viererschritt als Identitätsdenken abgestimmt: Die Hermeneutik des Verdachts analysiert kritisch sowohl die historischen Quellen wie auch deren androzentrische Interpretationen. 146 Die Hermeneutik der Verkündigung legt das Potential für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse frei. 147 Die Hermeneutik des Erinnerns hält das Bewusstsein an die verschollene Vergangenheit aufrecht. 148 Und die Hermeneutik der kreativen Aktualisierung schreibt wirkmächtig die gestalterische Konstruktion von feministischer Wirklichkeit weiter. 149 7.2.4 Monolog Den zentralen Ort der Einübung in die kritisch-feministische Hermeneutik bildet die Frauen-Kirche, „eine Gemeinschaft des Dialogs unter Gleichgestellten“. 150 Dieses Dialog-Ideal spiegelt sich vor allem im dritten, fünften und sechsten Kapitel wider, hingegen sind die Einführung, das erste, zweite und teilweise vierte Kapitel des Untersuchungstextes als durchkomponierte monologische Programmrede konstruiert: In der Einführung stellt E. Schüssler Fiorenza komprimiert ihren eigenen Ansatz und ihr Vorgehen des weiteren Textes dar. Der monologhafte Charakter dieses Abschnittes wird insbesondere durch programmatische Formeln konstituiert: - „[V]on Macht reden heißt von politischen Wirklichkeiten und Kämpfen reden“. 151 144 ESF 32f. 145 Denn nach Ansicht E. Schüssler Fiorenzas konzentriert sich der Feminismus nicht nur auf die Befreiung der Frauen aus patriarchaler Unterdrückung, sondern versteht sich darüber hinaus als theoretische und praktische Bewegung, in der sich Männer mit den Frauen gegen die einseitig-patriarchale Kultur solidarisieren und diese zu überwinden suchen, ESF 16f und 36-39. 146 ESF 50-53. 147 ESF 53-55. 148 ESF 55-57. 149 ESF 57-58. 150 ESF 16. 151 ESF 11. <?page no="143"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 143 - „Als Christinnen müssen wir die biblische Religion beanspruchen als unser Erbe“. 152 - „Da Wissen bekanntlich Macht ist, müssen wir Frauen uns an der Produktion und Verbreitung von Wissen beteiligen“. 153 Nur an wenigen Stellen wird dieser Monolog durchbrochen. 154 Das erste Kapitel führt diesen Stil fort. Auch hier sind es vor allem thetische Leitsätze, die den monologischen Charakter stützen: - „Dagegen deckt feministische Forschung die Interaktion von Sprache und Gesellschaft, geschlechtsbezogenen Vorurteilen und Kultur, Geschlecht und Rasse auf“. 155 - „Will frau sie [die Unterdrückung] verstehen, muß über die Kategorien Rasse und Klasse hinaus auch der spezifische Status von Frauen in der Ehe und in ihrem Verhältnis zum Mann, dem sie gesetzlich untergeordnet sind, berücksichtigt werden“. 156 - „Als Frauen-Kirche sind wir nicht dazu berufen, biblische Traditionen und Texte zu reproduzieren, sondern uns an unser biblisches Erbe zu erinnern und es zu verwandeln“. 157 Durchbrochen wird die monologartige Struktur durch Bezüge zu weiteren Mitarbeiterinnen am feministischen Projekt. 158 Das zweite Kapitel referiert ebenfalls monologisch E. Schüssler Fiorenzas Positionierung zu den drei Paradigmen des Umgangs mit der Bibel. Wenige dialogisierende Einfügungen haben innerhalb der durchgängigen Argumentation lediglich illustrativen Charakter. 159 Das dritte Kapitel ist deutlicher von dialogischen Elementen geprägt, insbesondere innerhalb der Diskussion mit Schubert Ogden und James Cone um das Phänomen der Parteilichkeit 160 , dann vor allem in der Darstellung 152 ESF 13. 153 ESF 20. 154 Der Monolog wird in der Rezeption der Kontroverse von C. Ozick und J. Plaskow um die Verhältnisbestimmung von jüdischer Religion und politischer Frauenemanzipation durchbrochen, ESF 9f, ebenso durch die Einfügung der abwertenden Bemerkung von J.J. Kilpatrick zur Installation der inklusiven Sprache, ESF 12, und besonders durch die Diskussion der Überlegungen J. Bernsteins zum Problem der Überwindung des Gegensatzes von Objektivismus und Relativismus, ESF 26-28. 155 ESF 33. 156 ESF 37. 157 ESF 48. 158 „Diejenigen unter uns […]“, ESF 34 und 35. - „Ihrerseits haben jüdische Feministinnen darauf hingewiesen […]“, ESF 35. - „Die engagierte schwarze Vorkämpferin Anna Cooper hat schon im Jahr 1892 die feministische Befreiung als einen Kampf zur Überwindung dieser Unterdrückung bestimmt“, ESF 37. 159 Z.B.: „Ein Gespräch zwischen zwei Predigern mag dieses Dilemma veranschaulichen […]“, ESF 65. „So anerkennt zum Beispiel die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum […]“, ESF 81. 160 ESF 87-92. Vgl.: „Während Ogden die Befreiungstheologien eines ‚allzu provinziellen Verständnisses von Unterdrückung‘ beschuldigt, betont J. Cone im Gegenteil, daß die <?page no="144"?> 144 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza und Bewertung der Ansätze Juan L. Segundos 161 und Elisabeth Cady Stantons. 162 Das Resümee dieser Diskussionen, die Notwendigkeit eines (feministischen) externen Bewertungsmaßstabes biblischer Texte, ist wieder monologartig formuliert. 163 Das vierte Kapitel, welches die feministisch-bewertende Hermeneutik begründet, ist weitgehend monologartig formuliert. Allerdings wird diese Argumentationsform durch Einfügungen weiterer Forschungspositionen durchbrochen, die E. Schüssler Fiorenzas Ansatz stützen. 164 Dialogische Züge tragen ferner die Auseinandersetzungen mit heutigen Legitimierungsstrategien zur damaligen Funktion der Haustafeln. 165 Das Ergebnis dieser Argumentation, die Notwendigkeit einer feministischen Bewertung biblischer Texte, ist im Anschluss wieder monologartig formuliert. 166 Das fünfte und das sechste Kapitel weisen insgesamt einen dialogischen Charakter 167 auf. Monologartig sind lediglich innerhalb dieser beiden Kapitel jene Passagen gehalten, die E. Schüssler Fiorenzas eigene Positionierung entfalten. Dies sind vor allem im fünften Kapitel die Ausführungen zur historisch-kritischen feministischen Bibelinterpretation 168 und im sechsten Kapitel die grundsätzliche Verteidigung der historisch-kritischen Methode 169 sowie die Darstellung der befreiungstheologischen Herausforderung für die etablierte Wissenschaftskultur. 170 Option für die Unterdrückten zum Ausgangspunkt jeder Theologie werden sollte“, ESF 90. 161 ESF 93-96. 162 ESF 96-103. 163 ESF 103-109. 164 So argumentiert E. Schüssler Fiorenza mit L. Balch und J.H. Elliott für die aristotelische Herleitung der Haustafeln, ESF 120-123, sowie mit R. Nisbet und E.A. Judge für die Existenz einer emanzipatorischen Frauen-Bewegung im Urchristentum, welche im weiteren Verlauf durch präskriptive Texte wie die neutestamentlichen Haustafeln unterdrückt wurde, ESF 124f. 165 ESF 128-133. 166 ESF 133-144. 167 Zu Beginn des fünften Kapitels leitet E. Schüssler Fiorenza eine dialogische Situation durch (Selbst-)Anfragen aufgrund eines Gesprächsbeitrages einer Studentin an ihre eigene Position ein, ESF 145f. 168 ESF 160-170. Am Schluss dieses Abschnitts führt E. Schüssler Fiorenza eine knappe dialogische Auseinandersetzung mit P. Vidal-Naquet um die Differenzierung von Erinnern und Geschichte, ESF 170-172. 169 ESF 187-196. 170 ESF 196-212. <?page no="145"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 145 Fazit E. Schüssler Fiorenza formuliert vor allem dort monologartig, wo sie ihre eigene Position für die feministische Strategiefindung darstellt. Dialogischen Charakter weisen hingegen stärker die Abschnitte auf, die andere Positionen analysieren. Dies erklärt sich m.E. durch die bewusst-reflektierte Positionalität ihres Entwurfes. <?page no="146"?> 146 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza I DEOLOGIE ALS A USSAGESTRUKTUR : 7.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung Schaubild F EMINISMUS Patriarchalismus/ Androzentrismus POSTBIBL . APOLOGETISCHER F EM . KRITISCH - CHRISTL . F EM . F EM . fem. Solidarität durch G ESCHLECHTERDIFFERENZ E RFAHRUNG von durch Unterdrückung und biologische Hoffnung Disposition M ACHT und E RBE in B EFREIUNG , Kirche U NTERDRÜCKUNG , herausfordernde und herrschaftsstabilisierende Interpretation, Gesellschaft Interpretation, Frauen-Kirche Männer-Kirche P ARTEILICHKEIT Wissenschaft O BJEKTIVITÄT (Positionalität) (Wertfreiheit) RHETORISCHES G ESCHICHTSBILD NEUTRALES G ESCHICHTSBILD P ARADIGMENWECHSEL FEMINISTISCHES ANDROZENTRISCHES P ARADIGMA P ARADIGMA P ROTOTYPUS Bibel als A RCHETYPUS (kritisch-bewertende Hermeneutik) (verstehende Hermeneutik) H ERMENEUTIK H ERMENEUTIK H ERMENEUTIK DES V ERDACHTS DER V ERKÜNDIGUNG DES E INVERSTÄNDNISSES H ERMENEUTIK H ERMENEUTIK DER DES E RINNERNS KREATIVEN A KTUALISIERUNG - B ROT - statt - S TEINE - <?page no="147"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 147 Bemerkungen zum Schaubild Der Grunddualismus F EMINISMUS versus P ATRIARCHALISMUS / A NDROZENTRIS - MUS bestimmt die Kombination und Klassifizierung der Schlüsselbegriffe. Vom ersten Terminus ist weitgehend die linke Hälfte des Schaubildes, vom zweiten Begriffspaar die rechte Hälfte abhängig. 171 E. Schüssler Fiorenza unterteilt den Leitbegriff Feminismus in drei Kategorien. Dabei grenzt sie ihre eigene Position eines KRITISCH - CHRISTLICHEN F EMINISMUS als differenzierte Reaktion auf die biblisch-christlichen Traditionen zum einem vom POSTBIBLISCHEN F EMINISMUS , zum anderen vom APOLOGETISCHEN F EMINISMUS ab. Als kritischer Feminismus basiert ihr Entwurf auf einer doppelten E R - FAHRUNG : Dies ist zum einen die Erfahrung von Unterdrückung und Verdrängung durch das Patriarchat, zum anderen die Erfahrung von Hoffnung und Bestärkung innerhalb der solidarischen Gemeinschaft von Frauen sowie Männern, die sich den Zielen der Frauenbewegung anschließen. Der Patriarchalismus/ Androzentrismus basiert hingegen auf der konstruierten G ESCHLECHTERDIFFERENZ von männlich und weiblich, welche sich als BIOLOGISCHE D ISPOSITION kulturell, familiär, gesellschaftlich und religiös in den unterschiedlichen Rollenzuschreibungen niederschlägt. Sowohl Feminismus wie auch Patriarchalismus/ Androzentrismus kämpfen um das geschichtliche E RBE und damit um die Teilhabe an der M ACHT in Gesellschaft, Wissenschaft und Kirche. Der kritisch-christliche Feminismus intendiert die B EFREIUNG der Frauen und aller Menschen aus der Unterdrückung des Patriarchats. Dies soll mittels einer HERAUSFORDERNDEN I NTERPRETATION der Bibel gelingen, welche kritisch auf die herrschaftsstabilisierende Rezeption der Bibel in Kirche und Gesellschaft reagiert. Hermeneutisches Zentrum dieser neuen Interpretation ist die F RAUEN -K IRCHE . Demgegenüber hält der Patriarchalismus/ Androzentrismus an der U NTERDRÜCKUNG fest. Dem dient die HERRSCHAFTSSTABI - LISIERENDE I NTERPRETATION der Bibel, welche die hierarchisierende Soziologie der M ÄNNER -K IRCHE sowie die patriarchal-zivilreligiöse Gesellschaftsstruktur schützt. Innerhalb des wissenschaftstheoretischen Methodendiskurses partizipiert E. Schüssler Fiorenza am Leitbild von P ARTEILICHKEIT und P OSITIONALITÄT sowie der Betonung des RHETORISCHEN C HARAKTERS JEDER G ESCHICHTS - SCHREIBUNG . Hingegen pflegt der Patriarchalismus/ Androzentrismus das Ideal von O BJEKTIVITÄT und W ERTFREIHEIT und besteht auf einer TAT - SACHENORIENTIERTEN G ESCHICHTSSCHREIBUNG . E. Schüssler Fiorenza argumentiert für einen P ARADIGMENWECHSEL , weg vom androzentrischen hin zum feministischen Paradigma. Dieser Veränderungsprozess schließt den 171 Eine Ausnahme bildet die innerfeministische Differenzierung. <?page no="148"?> 148 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza Wechsel von einer VERSTEHENDEN H ERMENEUTIK hin zu einer KRITISCH - BEWERTENDEN H ERMENEUTIK mit ein. 172 Ihrem Verständnis der Bibel als Prototypus entspricht der Ansatz einer Hermeneutik des Verdachts, einer Hermeneutik der Verkündigung, einer Hermeneutik des Erinnerns 173 und einer Hermeneutik der kreativen Aktualisierung. Der Konzeption der Bibel als Archetypus hingegen entspricht eine Hermeneutik des Einverständnisses. Während das androzentrische Paradigma mit seiner Form der Bibelinterpretation die unterdrückenden Dimensionen der biblischen Texte fortschreibt (S TEINE ), besteht das Ziel einer Bibelinterpretation nach dem feministischen Paradigma darin, die befreienden Bibel-Traditionen freizulegen und die negativen Traditionen als solche zu codieren (B ROT ). 7.2.6 Relevanzkriterien Die Ablösung des Patriarchalismus/ Androzentrismus durch den Feminismus ist von zentraler Relevanz für den hermeneutischen Ansatz des Untersuchungstextes. Da der Patriarchalismus/ Androzentrismus auf alle Gebiete gesellschaftlicher Interaktion einwirkt, erstreckt sich das feministische Projekt ebenfalls auf sämtliche Bereiche der Wirklichkeit. 174 E. Schüssler Fiorenza konzentriert sich als feministische Theologin auf die Sektion der biblischen Religion, welche aber in die gesamtfeministische Bewegung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft eingebunden bleibt. Die feministische Bearbeitung der biblisch-religiösen Tradition ist von eminent strategischer Wichtigkeit: „Entweder gelingt es uns, biblische Geschichte und Religion in eine neue befreiende Kraft zu verwandeln, oder wir werden weiterhin ihrer patriarchalen Tyrannei unterworfen sein“. 175 Die feministische Reform innerhalb der biblischen Religion zielt nach E. Schüssler Fiorenza vor allem auf die (Wieder-)Erlangung des eigenen biblischen Erbes und der Teilhabe der Frauen an der Macht im religiösen Bereich 176 . 7.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte E. Schüssler Fiorenza betont die Positionalität des eigenen Ansatzes und fordert dazu auf, die Standortgebundenheit jedes wissenschaftlichen For- 172 „Im Gegensatz zur hermeneutischen Theologie ist für die Befreiungstheologie das Ziel von Bibelinterpretation nicht nur ein besseres Verständnis der Bibel, sondern letztlich eine neue, veränderte Praxis“, ESF 196. 173 Der amerikanische Originalausdruck ‚Hermeneutic of Remembrance‘ wird in der deutschen Übersetzung i.d.R. mit ‚Hermeneutik des Erinnerns‘ wiedergegeben, selten auch mit ‚Hermeneutik der Erinnerung‘, vgl. ESF 163. 174 ESF 32-36. 175 ESF 134. 176 „[W]ir werden uns immer mehr der Tatsache bewußt, daß dieses Erbe Teil unserer Macht heute ist“, ESF 31, ebenso 13, 48, 50, 56, 134, 170. <?page no="149"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 149 schens gegenüber scheinbarer Neutralität und Unvoreingenommenheit transparent zu machen. Deshalb gibt sie selbst explizit Auskunft über die verschiedenen Faktoren, die ihren wissenschaftlichen Ansatz konstituieren: „Meine Erfahrung als Katholikin ist der Ausgangspunkt bei der Erarbeitung meines eigenen feministischen theologischen Standpunktes, wobei dieser auch von der historisch-kritischen Wissenschaft, der kritischen Theorie, der politischen Theologie sowie der Theologie der Befreiung geprägt ist“. 177 M.E. lassen sich mit dieser Selbsteinordnung die wesentlichen Soziolektzugehörigkeiten E. Schüssler Fiorenzas beschreiben: Der kritisch-katholische Soziolekt An wenigen Stellen im Untersuchungstext wird E. Schüssler Fiorenzas katholische Sozialisation deutlich. Ich unterscheide hier allgemeine Formulierungen, die an den katholischen Soziolekt gebunden sind, von kritischen Repliken auf den status quo der römisch-katholischen Amtskirche, die sie als Idealtypus patriarchaler Herrschaft darstellt. Allgemeine Formulierungen: - Der besondere Stellenwert von Liturgie und Lehre in der römisch-katholischen Kirche spiegelt sich in folgender Formulierung wider: Texte mit emanzipatorischem Potential sollen „eine zentrale Stelle in der Liturgie und in der Lehre der Kirche erhalten“. 178 - Zur Stützung externer Kriterien im Gebrauch von Bibeltexten argumentiert sie mit der Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils. 179 - E. Schüssler Fiorenza verwendet die in der katholischen Theologie üblichen Terminologien ‚Moraltheologie‘ 180 und ‚Pastoraltheologie‘ 181 , denen auf evangelischer Seite die Begriffe ‚Ethik‘ und ‚Praktische Theologie‘ entsprechen. Generell kann die Debatte um das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft zwischen Eigenständigkeit und lehramtlicher Kontrolle als spezifisch röm.-katholische Debatte betrachtet werden. 182 - Das katholische Milieu spiegelt sich auch in der Anekdote über einen Priester und dessen Pfarrhaushälterin wider. 183 Kritische Repliken: - E. Schüssler Fiorenza charakterisiert allgemein die patriarchale Kirche dadurch, dass in ihr die „öffentliche Beteiligung und Mitbestimmung auf 177 ESF 36. 178 ESF 54f. 179 ESF 81. 180 ESF 23, 112, 117. 181 ESF 23 und 71. 182 ESF 174-186. 183 ESF 173. <?page no="150"?> 150 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza ordinierte Männer eingeschränkt“ ist. 184 Patriarchale Strukturen in Kirchen mit Frauenordination bleiben hier unberücksichtigt. - Der zentralistische Aufbau des römischen Katholizismus bildet m.E. den Hintergrund für die Definition des Patriarchalismus „als ein pyramidales System bzw. eine hierarchische Struktur von Gesellschaft und Kirche“. 185 - Besonders deutlich fällt die Kritik gegenüber der katholischen Amtskirche in Bezug auf die Erklärung des Vatikans zur Frage der Frauenordination aus: „Ein krasses Beispiel für eine Argumentation, bei der die Exegese mißbraucht wird, ist die Erklärung des Vatikans gegen die Ordination von Frauen“. 186 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Erfahrung einer biographischen Verwurzelung innerhalb der katholischen Kirche. Bei E. Schüssler Fiorenza allerdings wird diese Erfahrung von einer kritischen Distanzierung zu dieser par excellence patriarchal gezeichneten Religionsstruktur durch den feministischen Soziolekt überlagert. Der feministische Soziolekt Dieser Soziolekt dominiert den Untersuchungstext. Er teilt die Wirklichkeit in die oppositionellen Kategorien Patriarchalismus/ Androzentrismus und Feminismus ein und beschreibt Analysen und Lösungsansätze gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und religiöser Themen aus feministischer Perspektive. Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die patriarchale Unterdrückung alle Bereiche menschlicher Interaktion beherrscht und durch einen grundlegenden Wandel, bewirkt durch das feministische Projekt 187 , überwunden werden muss. Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft Trotz ihrer Kritik an der androzentrischen Wissenschaft hält E. Schüssler Fiorenza an der grundsätzlichen Bedeutung der historisch-kritischen Methodik fest. In der Nachstellung eines Dialogs zwischen einer Studentin und sich selbst 188 nimmt sie zwar die feministische Skepsis gegenüber der historisch-kritischen Wissenschaft ernst, argumentiert jedoch biographisch für sie: „Ich dagegen hatte die historisch-kritische Wissenschaft als befreiend erfahren, denn sie hatte es mir ermöglicht, mich von dogmatischen Denk- 184 ESF 16. 185 ESF 37. 186 ESF 63. 187 Zum feministischen Projekt gehört aus christlicher Perspektive innerhalb der Sektion der biblischen Religion auch die Zusammenarbeit mit jüdischen Feministinnen. Dadurch ist der christliche Feminismus mit dem christlich-jüdischen Dialog verbunden, ohne dass der Untersuchungstext insbesondere vom jüdisch-christlichen Soziolekt geprägt ist, vgl. ESF 9f, 35f, 171. 188 ESF 145f. <?page no="151"?> 7.2 Ideologiekritische Untersuchung 151 mustern und buchstäblichem Biblizismus zu lösen“. 189 Dieses Befreiungspotential gilt es in das feministische Paradigma zu integrieren, wozu die historisch-kritische Wissenschaft transformiert werden muss, indem zwischen „Methode und ihren theoretischen Annahmen und Voraussetzungen“ zu unterscheiden ist. 190 Eine historisch-kritische Interpretation kann davor schützen, dass die biblischen Texte (kirchlich-)dogmatisch oder durch eine enge Frömmigkeit vereinnahmt werden, sie „hält die ‚Irritation‘ des ursprünglichen Textes lebendig“ und beschränkt die Anzahl möglicher Interpretationen. 191 Nur so können geschichtliche Urteile von anderen WissenschaftlerInnen überprüft werden. 192 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass für eine intersubjektiv nachprüfbare und damit wissenschaftlich kommunizierbare Texterforschung die historisch-kritische Methode von zentraler Bedeutung ist. Der Soziolekt der Kritischen Theorie 193 Dieser Soziolekt wird vor allem in E. Schüssler Fiorenzas Kritik an der etablierten androzentrischen Wissenschaft deutlich 194 : Die Infragestellung des androzentrischen Paradigmas erfolgt in ideologiekritischer Form, einer zentralen Methodik der Kritischen Theorie, welche auch in der feministischen Theoriebildung rezipiert wird. 195 E. Schüssler Fiorenza fordert in diesem Zusammenhang von der akademischen Wissenschaft, darauf zu „achten, 189 ESF 146. 190 Ebd. 191 ESF 190. 192 Zur Überprüfung historischer Forschung formuliert E. Schüssler Fiorenza folgende drei Kriterien: „Erstens: Inwieweit sind die einschlägigen Quellen benutzt und der allgemeine Stand der Forschung berücksichtigt worden? Zweitens: Inwieweit ist es der betreffenden Darstellung gelungen, alle zur Verfügung stehenden historischen Informationen so plausibel wie möglich zu verwerten und miteinander zu verbinden? Drittens: Mit welcher logischen Strenge, Konsistenz und Kohärenz werden heuristische Erklärungsmodelle herangezogen, und inwieweit ist die betreffende Darstellung von Widersprüchen frei? Schließlich müssen die Erklärungsmodelle dem erforschten historischen Gegenstand ‚angemessen‘ sein“, ESF 158f. 193 Vgl. zur Verbindung von Kritischer Theorie und Feminismus: U. K ITTSTEIN , Art. Kritische Theorie. Nach Kittstein knüpft die feministische Theoriebildung vor allem an der Rationalitäts- und Herrschaftskritik der Dialektik der Aufklärung an, a.a.O., 218. 194 E. Schüssler Fiorenzas androzentrische Wissenschaftskritik artikuliert die allgemeinfeministische Wissenschaftskritik, vgl. H. K AHLERT , Art. Wissenschaft. „So erweist sich die vermeintlich wissenschaftliche Objektivität aus feministischer Sicht als fragwürdig, da auch die besten wissenschaftlichen Instrumente und Erkenntnisse nicht alle subjektiven Einflüsse und Eigenschaften aus dem Forschungsprozeß ausgrenzen können“, a.a.O., 404f. 195 Vgl. zur Bedeutung der Ideologiekritik für die feministische Theoriebildung L. S CHERZBERG , Grundkurs Feministische Theologie, 35: „Die hermeneutische Diskussion innerhalb feministischen Denkens zeigt uns also, daß eine wichtige, wenn nicht die wichtigste ›Waffe‹ in feministischen Händen die Ideologiekritik ist“. <?page no="152"?> 152 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza wie und inwieweit ihre eigenen Voraussetzungen, ihr eigenes Engagement und ihre eigenen Interessen patriarchale Unterdrückung und Unmenschlichkeit fortschreiben“. 196 Auch die biblischen Texte selbst werden ideologiekritisch beleuchtet. So begründet E. Schüssler Fiorenza den Übergang vom dogmatischen und historischen zum pastoraltheologischen Paradigma im Bibelgebrauch damit, „daß es nicht genügt, nur die ursprüngliche historische Bedeutung von Bibeltexten zu verstehen. Es ist auch notwendig, ihre ideologische Funktion in Kirche und Gesellschaft kritisch zu bewerten“. 197 Ebenso kann E. Schüssler Fiorenzas Autoritätskritik an Bibel, Tradition und kirchlichen Institutionen mit der Konsequenz einer externen Kriteriologie in Zusammenhang mit diesem Soziolekt gesehen werden. 198 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass Wissenschaft eine gesellschaftliche Tätigkeit ist, welche von den WissenschaftlerInnen selbst meist jedoch als individuelle Tätigkeit verstanden wird. Dies macht es notwendig, die Produktionsverhältnisse von Theorie und Wissenschaft sowie die Zusammenhänge von Information und Macht transparent zu machen. Der Soziolekt der Politischen Theologie 199 Traditionsgeschichtlich geht die Politische Theologie den Befreiungstheologien und somit auch den feministischen Entwürfen voraus. Der allgemeine Soziolekt der politischen Theologie zeigt sich vor allem in E. Schüssler Fiorenzas Grundinteresse an der Verbindung von Religion und Politik 200 sowie den Bezügen zu gesellschaftspolitischen Themen. 201 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass das Evangelium vor allem eine politische Dimension hat und gestalterisch auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einwirken muss. Der befreiungstheologische Soziolekt Die Überwindung des Patriarchalismus/ Androzentrismus innerhalb des Christentums beschreibt E. Schüssler Fiorenza als spezielle befreiungstheologische Variante der allg. Befreiungstheologien 202 . Mit der Theologie der Befreiung eint sie der Grundsatz der Parteilichkeit, die gemeinsame Kritik am Objektivitätsdenken akademischer Wissenschaft, das Interesse an der Verbindung von Religion und Politik sowie die besondere Relevanz der Praxis. Allgemeine und feministische Befreiungstheologien unterscheiden sich in der Konkretisierung der Option für die Marginalisierten: „Unsere 196 ESF 174. 197 ESF 71. 198 Vgl. hierzu folgende Stellen: ESF 14, 48, 63, 104-106, 190. 199 Siehe J.B. M ETZ , Zum Begriff der neuen politischen Theologie. 200 Vgl. hierzu folgende Stellen: ESF 9ff, 40f, 71, 81f, 85f, 99, 108, 114-117, 137, 196f, 200. 201 Vgl. hierzu folgende Stellen: ESF 11, 13, 116, 136, 140f, 156f, 165, 204. 202 Vgl.: „Eine kritisch-feministische Befreiungshermeneutik […]“, ESF 14. <?page no="153"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 153 Option für die Unterdrückten muß zu allererst eine Option für uns selbst als Frauen sein“. 203 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass das Evangelium eine politische Dimension hat und wesentlich Befreiung der Unterdrückten bedeutet. 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 7.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 7.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen „Ihren ‚Kanon‘ leitet eine kritisch-feministische Hermeneutik nicht zuerst von biblischen Texten ab“. 204 Als Effekt dieser Hermeneutikkonzeption folgt, dass E. Schüssler Fiorenza nur an wenigen Stellen mit Bibelzitaten operiert. So zitiert der Untersuchungstext lediglich 31 direkte biblische Belege: einmal das Alte Testament 205 , sechsmal die synoptischen Evangelien (dreimal Mk 206 , jeweils zweimal Mt 207 und Lk 208 ), zwölfmal die Paulusbriefe 209 , zehnmal nachpaulinische Briefe (Eph, Kol, 1Tim, Tit, 1Petr) 210 , sowie einmal den 2. Johannesbrief 211 . Daneben erscheinen wenige indirekte biblische Anspielungen. 212 Insgesamt zehn biblische Belege befinden sich auf einer einzigen Seite, wovon acht Textstellen zu einer Zusammenstellung der neutestamentlichen Haustafeltexte gehören. 213 Die übrigen biblischen Belege verteilen sich relativ gleichmäßig auf die Einführung und die ersten vier Kapitel. Die wissenschaftstheoretischen Erörterungen des fünften und sechsten Kapitels kommen fast ganz ohne Bibelverweise aus. 214 Obwohl E. Schüssler Fiorenzas Argumentationsführung nicht auf einer speziellen Kombination bestimmter Bibelstellen oder Motive basiert, kann sie formulieren: „Da feministische Theologie als eine christliche Theologie an die Schrift als ihre Gründungsurkunde gebunden ist, muß sie bei der Formulierung dieses Problems die Schrift und die biblische Offenbarung in 203 ESF 16. 204 ESF 48. 205 ESF 115. 206 ESF 48, 64, 123. 207 ESF 9 und 74. 208 ESF 9 und 208. 209 ESF 72, 75, 107, 115, 119, 123, 131, 137. 210 ESF 119 und 122. 211 ESF 31. 212 Dies sind: die Reisen der Missionarin Prisca, die Geschichten der Apostelin Junia, der Tanz der Sara, ESF 58, die Geschichte vom barmherzigen Samariter, ESF 64, und die Frage nach dem wichtigsten Gebot, ESF 72f. 213 ESF 119. 214 Eine Ausnahme bildet ESF 208. <?page no="154"?> 154 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza Betracht ziehen“. 215 Insofern möchte ich die wenigen Bibelstellen trotz der mangelnden statistischen Aussagekraft nach ihrer Funktion im Untersuchungstext befragen: Textbeispiele zur Veranschaulichung E. Schüssler Fiorenzas Methodik Am Beispiel von Mk 5,1-13 veranschaulicht E. Schüssler Fiorenza die gesellschaftsbedingte Interpretation von Wundererzählungen. 216 Die notwendige Reflexion des Kontextes im Rahmen der Verkündigung zeigt sie anhand des Textbeispiels von Röm 9-11 auf. 217 Die Auswirkungen einer parteilichen Exegese macht sie am Beispiel der Predigt Jesu in Nazareth mit Lk 4,16-30 deutlich. 218 Direkte Unterstützung der eigenen Position Das Motiv des Buchtitels wird auf Seite 9 biblisch mit Mt 7,9 und Lk 13,21 gestützt. ‚Spuren von Frauen der christlichen Anfänge‘ belegt E. Schüssler Fiorenza mit 2 Joh 1,2 219 und dem Adressatenkreis des Philemonbriefs. 220 Die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion über den Sinn religiöser Traditionen sieht sie in Analogie zum Jesuswort in Mk 2,27. 221 Um zu zeigen, dass die neutestamentlichen Verfasser selbst recht frei mit ihrem Traditionsmaterial umgegangen sind, argumentiert sie redaktionsgeschichtlich anhand des synoptischen Vergleichs zur Frage nach dem wichtigsten Gebot mit Mk 12,28-34, Mt 22,34-40 und Lk 10,25ff. 222 Die Ambivalenz der Bibel, die zur Ablösung des Archetypus-Modell durch das Prototypus-Modell führt, belegt E. Schüssler Fiorenza u.a. mit Gal 3,28 auf der einen Seite und 1Kor 14 und 1Tim 2 auf der anderen Seite. 223 Das Ideal der Egalität als Konvivenzmodell der Frauen-Kirche findet seine Entsprechung in E. Schüssler Fiorenzas Skizzierung der markinischen 215 ESF 97f. Im Kontext dieses Zitates geht es um die Fragestellung, ob zwischen Christentum und Frau-Sein ein grundsätzlicher Widerspruch besteht. 216 ESF 74. 217 ESF 75. 218 ESF 208. 219 ESF 31. 220 ESF 123. Ferner: „Wir erzählen uns nicht nur die Geschichten über die Reisen der Missionarin Prisca oder über die Apostelin Junia, sondern wir tanzen den Tanz von Sara und erfahren prophetische Inspiration“, ESF 58. 221 ESF 48. 222 E. Schüssler Fiorenza schließt daraus: „An diesem Beispiel wird deutlich, daß die Evangelisten sich nicht darauf beschränkt haben, bestimmte Formeln und Geschichten zu wiederholen, bloß deshalb, weil sie zur Tradition gehören. Statt dessen formulierten sie diese Formeln und Geschichten neu, damit sie den Bedürfnissen von Christen [sic! ] ihrer eigenen Zeit entsprachen“, ESF 73. Mit dieser Argumentation wird biblisch die Basis für eine Hermeneutik der kreativen Aktualisierung geschaffen. 223 ESF 107. <?page no="155"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 155 „Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten [… als] Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die aber keinen ‚Vater‘ haben“. 224 Ihren eigenen Ansatz einer bewertenden Hermeneutik versteht E. Schüssler Fiorenza als Methode, „so daß das ‚Evangelium‘ wieder als ‚die Kraft Gottes, die rettet‘ (Röm 1,16) erkennbar wird“. 225 Die wenigen biblischen Belege, die im Untersuchungstext aufgeführt werden, erfüllen textpragmatisch die Funktion, E. Schüssler Fiorenzas eigene Position zu stützen. Dies geschieht durch exemplarische Veranschaulichungen zu E. Schüssler Fiorenzas Methodik oder direkt durch die Unterstützung der eigenen Position mit Hilfe von Bibelstellen. 7.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten Aus Gründen der Übersichtlichkeit ordne ich die verschiedenen Diskursfragmente zur akademischen Auslegungstheorie der Bibel nach drei Kategorien an: allgemeine Bibelauslegung, allgemein-befreiungstheologische Bibelauslegung und feministische Bibelauslegung. Allgemeine Bibelauslegung Auf den Seiten 61-84 klassifiziert E. Schüssler Fiorenza Ansätze zur Bibelinterpretation nach drei Grundmodellen: dem dogmatischen Paradigma, dem historischen Paradigma und dem pastoraltheologischen Paradigma. Dem dogmatischen Paradigma, welches durch seine normativ-kirchliche Funktion charakterisiert wird, rechnet E. Schüssler Fiorenza in seiner strengsten Form den Fundamentalismus zu. 226 Polemisch schließt sie aus dem buchstäblichen Gebrauch der Bibel eine „Konsum-Mentalität. Wie wir löslichen Kaffee haben wollen, bei dem wir die Bohnen nicht mehr zu malen und uns nicht mehr mit Kaffeefiltern aufzuhalten brauchen, so erwarten wir auch unmittelbar und sofort, ohne daß wir uns mit den Schwierigkeiten des Verständnisses des Textes abquälen müssen, Inspiration und Orientierung aus der Bibel“. 227 Im gleichen Kontext einer verkürzenden Urteilsfindung sieht sie auch die Erklärung des Vatikans gegen die Frauenordination 228 , die allegorische Schriftauslegung 229 , die psychologische Schriftauslegung 230 sowie z.T. die liturgische Verwendung der Bibel. 231 Dem historischen Paradigma 224 ESF 123. 225 ESF 137. 226 ESF 62, Anm. 4/ 217. Dies geschieht allerdings nicht mit direktem Bezug auf einen fundamentalistisch-hermeneutischen Ansatz, sondern mit Verweis auf die Untersuchung von J. B ARR , Fundamentalism. 227 ESF 62. 228 ESF 63. 229 ESF 63f. Als Beispiel nennt E. Schüssler Fiorenza Augustins Interpretation des barmherzigen Samariters, „Quaest. Ev. II.19“, ESF 64. 230 ESF 64. E. Schüssler Fiorenza verweist auf W. W INK , Bibelauslegung als Interaktion. 231 ESF 64f. <?page no="156"?> 156 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza ordnet E. Schüssler Fiorenza keine einzelnen Ansätze zu. Sie hält die historisch-kritische Forschung zwar für notwendig, kritisiert aber dessen objektiv-faktisches Geschichtsverständnis sowie ein Defizit an Gemeindeorientierung. 232 Das pastoraltheologische Paradigma entspricht im wesentlichen E. Schüssler Fiorenzas eigenem Ansatz, integriert die praxisrelevante Intention des dogmatischen Paradigmas sowie die wissenschaftliche Intention des historischen Paradigmas und versteht die Bibel insgesamt als „Modell christlichen Glaubens und Lebens“. 233 Den Grundsatz objektiv-wissenschaftlicher Wertneutralität sieht E. Schüssler Fiorenza mit dem allgemeinen Verweis auf „die hermeneutische Diskussion“ widerlegt. 234 Ihre Kritik am Leitbild objektiven Forschens vertieft sie anhand der Thematisierung der hermeneutischen Kategorie des Vorverständnisses 235 und rezipiert zur eigenen Argumentationsstützung in diesem Zusammenhang Bultmann 236 und Gadamer. 237 Dennoch bleibt es nach E. Schüssler Fiorenza bei einem grundsätzlichen Dissens in der Frage nach der hermeneutischen Ausrichtung zwischen den Ansätzen Bultmanns, Gadamers und allgemein der Neuen Hermeneutik 238 auf der einen Seite und der kritisch-feministischen Hermeneutik auf der anderen Seite: Während die erste Gruppe insgesamt die Rechte des Textes betont, gehe es einer feministischen Hermeneutik zuerst um die Erfahrung und die Rechte von Frauen. 239 Neuere textlinguistische Methoden erwähnt E. Schüssler Fiorenza nur beiläufig. 240 Gegenüber der Gefahr einer Dominanz ahistorischer Methoden des Strukturalismus und der Dekonstruktion argumentiert sie für die bleibende Rolle der historischen Kritik: „Da nun zudem viele historische Texte, vor allem auch die der Bibel, weniger ästhetische als vielmehr gesellschaftliche Kommunikationsfunktionen besitzen, muß ihr gesellschaftlich-historischer ‚Sitz im Leben‘ erforscht werden, um zu verstehen, was sie bedeuten“. 241 Hermeneutische Kriterien verschiedener Interpretationsmodelle zählt E. Schüssler Fiorenza im Zusammenhang der Begründung einer feministischen 232 ESF 68-70. 233 ESF 71. 234 ESF 77. E. Schüssler Fiorenza verweist mit Anm. 27/ 218 auf folgende zwei Titel: R. M ACKENZIE , Das Selbstverständnis des Exegeten und R.L. R OHRBAUGH , The Biblical Interpreter. 235 ESF 77 und 93. 236 ESF 151 und 191. 237 ESF 191f. 238 Die Neue Hermeneutik ist „noch […] stärker auf die ‚Sprachlichkeit‘ des Textes und die ‚Rechte des Textes‘ als Text bedacht, so daß der Text sowohl Illumination als auch Infragestellung heutiger Erfahrung sein kann“, ESF 193. 239 ESF 201. 240 ESF 187-189. 241 ESF 187. <?page no="157"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 157 Kriteriologie auf. Sie erwähnt hierbei die Glaubensregel des dogmatischen Paradigmas und die historische Objektivität als Wahrheitskriterium des historischen Paradigmas. Darüber hinaus benennt sie als weitere Kriterienbildungen die Unterscheidungen zwischen zeitloser Wahrheit und kulturell bedingter Sprache, zwischen bleibend-gültiger und veränderbarer Tradition, zwischen Jesus und Paulus, zwischen paulinischer Theologie und dem Frühkatholizismus, zwischen dem historischen und dem kerygmatischen Jesus und schließlich zwischen hebräischem und griechischem Denken. 242 Mit dieser Auflistung soll gezeigt werden, wie kontextgebunden Bewertungskriterien insgesamt sind und eine feministische Kriteriologie somit nur transparent macht, was andere Interpretationsmodelle verschweigen oder als sog. biblische Bewertungskriterien tarnen. Daher leitet sie ihr Bewertungskriterium nicht aus der Bibel, sondern den „Frauenbefreiungskämpfen und aus den Kämpfen aller anderen Unterdrückten“ ab. 243 Von den übrigen drei untersuchten hermeneutischen Ansätzen wird nur P. Stuhlmacher ausführlich diskutiert, dessen Hermeneutik des Einverständnisses als Gegenentwurf grundlegend kritisiert wird. 244 K. Bergers Exegese des Neuen Testaments erwähnt E. Schüssler Fiorenza knapp als Referenzbezug für die hermeneutische Kategorie der Solidarität 245 sowie als Überblicksliteratur zur Methodenlehre der Bibelwissenschaft. 246 H. Weder wird im gesamten Untersuchungstext nicht erwähnt. Allgemein-befreiungstheologische Bibelauslegung E. Schüssler Fiorenza rezipiert vor allem den lateinamerikanisch-befreiungstheologischen Ansatz zur Bibelinterpretation von Juan L. Segundo 247 . Positiv wertet sie dessen Grundsatz der Parteilichkeit 248 und übernimmt von ihm die hermeneutische Kategorie des Verdachts. 249 Jedoch kritisiert sie, dass Segundo prinzipiell eine Hermeneutik der Zustimmung verlange. 250 Die hermeneutische Differenz zu den lateinamerikanischen Befreiungstheologien besteht weiterhin in der Konkretisierung der parteilichen Minoritätenoption: So verdeutlicht sie anhand eines Zitats von Gustavo Gutiérrez, dass sich die Parteinahme lateinamerikanischer Theologen als Zuwendung 242 ESF 104. 243 ESF 106. 244 Zur Auseinandersetzung E. Schüssler Fiorenzas mit P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses vgl. folgende Stellen: ESF 18, 50, 79f, 92, 95, 102f, 192, 196, 202, 209. 245 ESF 171, Anm. 44/ 230 und ESF 211, Anm. 92/ 237. 246 ESF 187, Anm. 36/ 233. 247 ESF 93ff und 198ff. - J.L. S EGUNDO , The Liberation of Theology. 248 ESF 93f. 249 ESF 94. 250 ESF 95f. <?page no="158"?> 158 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza zu den Unterdrückten von der Selbstparteinahme feministischer Frauen unterscheide. 251 Die schwarze Befreiungstheologie von James Cones und dessen Konzeption eines schwarzen Christus führt E. Schüssler Fiorenza als Argumentationsstützung für eine externe Kriteriologie an. Zugleich kritisiert sie an Cones Entwurf, dass er die Probleme eines patriarchalen Effekts durch die Nachfolge des Mannes Jesus außer Acht lasse. 252 Weiterhin teilt E. Schüssler Fiorenza die befreiungstheologische Überzeugung, dass eine Bibelauslegung vor allem durch die Fragestellungen und Interessen der Gemeinden bestimmt werden muss. 253 Ähnlich argumentiert sie mit Ernesto Cardenal, eine Predigtvorbereitung könne nicht in der Abgeschlossenheit eines Arbeitszimmers erfolgen. 254 Feministische Bibelauslegung E. Schüssler Fiorenzas Positionierung innerhalb der innerfeministischen Kontroverse um die Interpretation der Bibel spiegelt sich in der Rezeption verschiedener feministischer Ansätze zur Schriftauslegung wider: So werden Positionen einer feministischen Korrelationshermeneutik sowie apologetische Strategien, welche die Schrift insgesamt zu retten versuchen, kritisiert. 255 Positiv rezipiert E. Schüssler Fiorenza vor allem Elizabeth Cady Stanton, da sie als erste Theologin deutlich die Ambivalenz der Bibel aus feministischer Perspektive benannt hat. 256 Zugleich unterscheiden sich nach E. Schüssler Fiorenzas Darstellung die beiden Ansätze auch voneinander. 257 251 ESF 86, Anm. 3/ 220: „Eine Spiritualität der Befreiung wird ihr Zentrum in der Bekehrung zum Nächsten finden müssen, zum unterdrückten Menschen, zur ausgebeuteten sozialen Klasse, zur verachteten Rasse und zum beherrschten Land. Unsere Bekehrung zum Herrn geht durch diese Bewegung hindurch“, G. G UTIÉRREZ , Theologie der Befreiung, 192. 252 ESF 105: J. C ONE , A Black Theology of Liberation. 253 ESF 79, Anm. 31/ 219: L. C ORMIE , The Hermeneutical Privilege of the Opressed; J.A. K IRK , The Bible in Latin American Liberation Theology. 254 ESF 79, Anm. 32/ 219: E. C ARDENAL , Das Evangelium der Bauern von Solentiname. 255 E. Schüssler Fiorenza nennt als Vertreterinnen der Korrelationsmethode A. Carr und R. Radford Ruether, ESF 18, Anm. 20/ 214f. Apologetische Ansätze leiten ihren Kanon von der Bibel ab und vertreten somit im Gegensatz zu E. Schüssler Fiorenza keine externe Kriteriologie. Diesem Hermeneutik-Typ ordnet sie die feministischen Ansätze von L. Russel, ESF 137, Anm. 48/ 226, P. Trible ESF 137, Anm. 49/ 226, und wiederum R. Radford Ruether ESF 137, Anm. 50/ 226 zu. 256 E. Schüssler Fiorenza nimmt an folgenden Stellen Bezug auf E. Cady Stanton: ESF 12, 40, 96ff, 114. 257 E. Cady Stantons Ansatz der höheren Kritik konzentriert sich auf die biblischen Frauen-Stellen und sucht deren Wahrheitsanspruch für heute zu bewerten, während E. Schüssler Fiorenzas Methodik einer feministischen Rekonstruktion frühchristlicher Geschichte in allen Texten das Erbe der Frauen wiederzugewinnen sucht. „Beide Ansätze sind aufeinanderbezogen, sind aber deutlich unterschieden“, ESF Anm. 37/ 222. <?page no="159"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 159 7.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten E. Schüssler Fiorenza verweist intensiv, allerdings fast ausschließlich in Fußnoten, auf weitere Publikationen von sich selbst. Die Texte lassen sich nicht sinnvoll nach verschiedenen Gattungen aufteilen, da es sich hauptsächlich um feministisch-hermeneutische Themen handelt, in die teilweise exegetische Einzeluntersuchungen integriert sind. Deshalb stelle ich die Titel nach der Reihenfolge ihrer Nennung im Untersuchungstext dar: Einführung - E. Schüssler Fiorenza verweist auf ihre Untersuchungen zu apologetischen Verteidigungsstrategien paulinischer Aussagen in In Memory of her … A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1983. 258 Erstes Kapitel - Dieser Abschnitt weist keine Selbstbezüge E. Schüssler Fiorenzas auf. Zweites Kapitel - Um die Aussagen der Erklärung des Vatikans gegen die Frauenordination zu entkräften, bezieht sie sich auf Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse, Münster 1972 (NTA, Neue Folge 7). 259 - Zur ideologiekritischen Funktion der Hermeneutik verweist sie auf Feminist Theology as a Critical Theology of Liberation, in: Theological Studies (36) 1975, 605-626. 260 - Die Kontextgebundenheit und Kontextabgrenzung der urchristlichen Gemeinden vertieft sie in Aspects of Religious Propaganda in Judaism and Early Christianity, Notre Dame 1976 (Center for the Study of Judaism and Christianity in Antiquity 2). 261 - Im Zusammenhang der Begründung einer kritisch bewertenden Hermeneutik bezieht sie sich auf die Schriften Understanding God’s Revealed Word, in: Catholic Charismatic (1) 1977, 4-10 und Interpreting Patriarchal Traditions of the Bible, in: L. Russel (Ed.), The Liberating Word. A Guide to a Nonsexist Interpretation of the Bible, Philadelphia 1976, 39-61. 262 Drittes Kapitel - Die Probleme einer feministischen Theologie innerhalb des Wissenschaftsbetriebs vertiefen folgende zwei Texte: Für eine befreite und befreiende Theologie in den USA, Concilium (14) 1978, 287-294 263 ; Women in Early Christianity. Methodological Considerations, in: T.J. Ryan (Ed.), Critical History and Biblical Faith in New Testament Perspectives, Villanova 1979 (The College Theology Society annual publication series), 30- 58. 264 - Zur Klärung der Vereinbarkeit von Feminismus und Christentum verweist sie auf Feminist Spirituality, Christian Identity, and the Catholic Vision, in: C.P. Christ/ J. 258 ESF 13, Anm. 13/ 214. 259 ESF 63, Anm. 6/ 217. 260 ESF 71, Anm. 19/ 218. 261 ESF 73, Anm. 22/ 218. 262 ESF 82, Anm. 39/ 219. 263 ESF 85, Anm. 1/ 219. 264 ESF 88, Anm. 6/ 220. <?page no="160"?> 160 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza Plaskow (Ed.), Womanspirit Rising. A Feminist Reader in Religion, New York 1979 (Harper forum books 275), 136-148. 265 - Die Frage nach der speziellen Option der Unterdrückten vertieft Feminist Theology as a Critical Theology of Liberation, in: W. Burkhardt S.J. (Ed.), Woman. New Dimensions, New York 1977, 19-50. 266 - E. Schüssler Fiorenzas Rekonstruktion der christlichen Anfänge zeigt exemplarisch Word, Spirit, and Power. Women in Early Christian Communities, in: R. Radford Ruether/ E. McLaughlin (Ed.), Women of Spirit. Female leadership in the Jewish and Christian traditions, New York 1979, 29-70. 267 Viertes Kapitel - Die historische Wirkung bestimmter Bibelabschnitte auf die Stellung der Frau führt E. Schüssler Fiorenza näher aus in You Are Not to Be Called Father. Early Christian History in a Feminist Perspective, in: Cross Currents (39) 1979, 301-323. 268 - Zur frühchristlichen Sozialstruktur vor der Einwirkung der Haustafeln verweist sie auf Word, Spirit, and Power (s.o. Drittes Kapitel). 269 - Die positive Wirkung der Bibel auf Frauen vertieft sie in Feminist Theology as a critical Theology of Liberation (s.o. Drittes Kapitel). 270 - Als frühen Beleg ihrer kritisch-bewertenden Hermeneutik nennt sie Interpreting Patriarchal Traditions of the Bible (s.o. Zweites Kapitel). 271 - Die Notwendigkeit des Erinnerns an das Leiden und Hoffen der biblischen Frauen und anderer Untergeordneter vertieft sie in Sexism and Conversion, in: Network (9) 1981, 12-22. 272 Fünftes Kapitel - Im Rahmen ihrer Kritik am heuristischen Modell ‚Die Stellung der Frau in der Bibel‘ verweist sie auf In Memory of Her …, (s.o. Einführung), 3-95. 273 Ebenso führt sie die Kapitel 4-8 desselben Buches als durchgeführte Untersuchungen zur Rekonstruktion christlicher Anfänge an. 274 Sechstes Kapitel - Als Beispiele einer kritisch bewertenden Bibelwissenschaft sowohl vergangener wie auch gegenwärtiger Interpretationen nennt sie folgende eigene Aufsätze: Feminist Theology as a Critical Theology of Liberation (s.o. Zweites Kapitel); Für eine befreite und befreiende Theologie. Frauen in der Theologie und feministische Theologie in den USA, in: Concilium (14) 1978, 287-294 und Claiming the Center. A Critical Feminist 265 ESF 97, Anm. 22/ 221. 266 ESF 103, Anm. 31/ 221. 267 ESF 107, Anm. 38/ 222. 268 ESF 115, Anm. 12/ 223. 269 ESF 123, Anm. 28/ 224. 270 ESF 134, Anm. 45/ 226. 271 ESF 135, Anm. 46/ 226. 272 ESF 137, Anm. 51/ 226. 273 ESF 147, Anm. 2/ 227. 274 ESF 167, Anm. 37/ 229. <?page no="161"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 161 Theology of Liberation, in: M.I. Buckley/ J. Kalven (Ed.), Womanspirit Bonding, New York 1984. 275 - Als vertiefende Auseinandersetzung mit dem Leitideal ‚Objektivität‘ androzentrischer Wissenschaft benennt sie wiederum In Memory of Her …, (s.o. Einführung), 41-96. 276 Ebenso verweist sie auf die Seiten 68-95 desselben Buches als Versuch einer (selbst-)solidarischen Geschichtsschreibung. 277 Und schließlich benennt sie dieses Buch als Konzeption einer kritisch-feministischen Bibelinterpretation, welche die Bibelwissenschaft insgesamt stärken kann. 278 Fazit Wesentliche Themengebiete E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik werden durch eigene Referenzbezüge bereits als vorbereitet bzw. vertiefend dargestellt. - Dies sind erstens als hermeneutische Aspekte die Kritik an der feministischen Bibel-Apologetik und die Begründung einer kritisch-bewertenden Hermeneutik. - Dies sind zweitens als historische Aspekte die Notwendigkeit des Erinnerns an das Hoffen und Leiden der Frauen der christlichen Anfänge und die daraus folgende Rekonstruktion der christlichen Anfänge. - Und dies sind drittens als wissenschaftstheoretische Aspekte die Situation der feministischen Wissenschaft innerhalb des Universitätsbetriebs und deren Funktion in Blick auf die etablierte Wissenschaft. 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen Diskursstrang zum Verständnis von Kirche 279 E. Schüssler Fiorenzas Partizipation an diesem Diskursstrang wird wesentlich durch die Kontrastierung der Frauen-Kirche zur patriarchal-androzentrischen (Amts-)Kirche bestimmt. 280 Die ideale Kirche sieht sie als Gemeinschaftsverband von Gleichberechtigten, „in der es keine klerikalen Väter und geistlichen Meister mehr gibt und die nicht mehr dem Modell der patriarchalen Familie nachgebildet ist“. 281 Auch die Frauen-Kirche bleibt jedoch immer „eine ecclesia reformanda […], eine Kirche auf dem Wege zur Bekehrung, die immer Umkehr und ‚revolutionäre Geduld‘ braucht“. 282 Besonders betont sie an der ekklesia deren politische Dimension. 283 Die 275 ESF 196, Anm. 58/ 234. 276 ESF 198, Anm. 67/ 235. 277 ESF 208, Anm. 88/ 237. 278 ESF 209. 279 Überblicksliteratur zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 280 ESF 18. 281 ESF 142. 282 ESF 39. 283 ESF 16. <?page no="162"?> 162 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza Frauen-Kirche ist für E. Schüssler Fiorenza der zentrale hermeneutische Orientierungspunkt für die Bibelinterpretation. 284 E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, der patriarchalen Amtskirche eine konkrete Alternative gegenüberzustellen. Diskursstrang zum Selbstverständnis der Bibelwissenschaft 285 Im sechsten Kapitel vernetzt E. Schüssler Fiorenza ihren eigenen Ansatz mit der Diskussion um das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft. E. Schüssler Fiorenza interessiert hierbei vor allem das Verhältnis von Exegese, Moraltheologie und (röm.-kath.) Lehramt. Sie kritisiert sowohl ExegetInnen, die sich dieser Fragestellung generell entziehen 286 , als auch ExegetInnen, welche strikt zwischen Exegese und kirchlicher Verkündigung unterscheiden, um ihre Freiheit gegenüber dem Lehramt zu bewahren. 287 Stattdessen votiert sie für eine stärkere theologische Durchdringung der Bibelwissenschaft 288 und für eine bessere Vernetzung zwischen akademischer Wissenschaft und gemeindlichen Fragestellungen 289 . Weitergehend plädiert sie für ein transdisziplinäres Verständnis der Bibelwissenschaft, wonach ExegetInnen als KulturkritikerInnen eine erweiterte ideologiekritische Funktion innerhalb der Textinterpretation wahrnehmen sollten. 290 Insgesamt muss sich die Bibelwissenschaft von den patriarchalen Abhängigkeitsverhältnissen zur Amtskirche lösen und den Übertritt zu einer kritischen und bewertenden Wissenschaft vollziehen. 291 E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, ihren eigenen Ansatz als Lösungsmodell gegenwärtiger Schwierigkeiten im Selbstverständnis der Bibelwissenschaft darzustellen und somit den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel innerhalb der Bibelwissenschaft voranzutreiben. Diskursstrang zum Verständnis von Offenbarung 292 E. Schüssler Fiorenza unterscheidet den Offenbarungsbegriff von den ambivalenten Größen ‚Schrift und Tradition‘. 293 Als Ort der Gottesoffenbarung 284 „Die hermeneutische Mitte einer solch feministischen Bibelinterpretation, so möchte ich hier weiterargumentieren, ist die ekklesia gynaikon, die Frauen-Kirche“, ESF 15. 285 Lit. zu diesem Diskursstrang: K. H UBER , Von Pianisten und Musikern; E. O TTO , Art. Bibelwissenschaft; H. W EDER , Art. Bibelwissenschaft; O. W ISCHMEYER , Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland. Bestandsaufnahme. 286 ESF 175. 287 ESF 174, 177f, 184f. 288 ESF 174. 289 ESF 79. 290 ESF 194f. 291 ESF 196. 292 Überblicksliteratur zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 293 ESF 48 und 53. <?page no="163"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 163 beschreibt sie die Emanzipationsbewegung der Frauen: „Gottes Macht ‚offenbart‘ sich durch deren stärkende Gegenwart in den Kämpfen aller Frauen, die in patriarchaler Gesellschaft und patriarchalen Kirchen ‚die Option für sich selbst als Frauen‘ zu leben suchen“. 294 Damit wird der Offenbarungsbegriff auch auf außerkirchliche Zusammenschlüsse ausgeweitet. E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, den Kampf der Frauen gegen patriarchale Unterdrückung in Gesellschaft und Kirche mit Hilfe des Offenbarungsbegriffs theologisch zu qualifizieren. Diskursstrang zur Stellung der Frau in den christlichen Anfängen 295 Nach E. Schüssler Fiorenza können Christinnen nur dann an der biblischen Religion partizipieren, wenn diese als deren Erbe beschrieben werden kann, denn „unser Erbe ist unsere Macht“. 296 Daher hat eine Hermeneutik des Erinnerns dieses Erbe zu rekonstruieren und „zu der Geschichte von Frauen in der Bibel und biblischer Religion vorzudringen“. 297 Methodisch verbindet E. Schüssler Fiorenza diese Rekonstruktionsarbeit mit der Hermeneutik des Verdachts, da das Frauenerbe patriarchal unterdrückt worden ist. 298 Sie lehnt heuristische Kategorien wie biologische Kaste oder Frauenerfahrung für die Rekonstruktionsarbeit ab und ersetzt sie durch Modelle, „welche die historische Beteiligung von Frauen an der Entwicklung des gesellschaftlichöffentlichen Lebens sowie ihre Versuche, die gesellschaftlichen Strukturen zu verstehen und zu verändern, aufhellen können“. 299 Damit gelangt sie zu einem völlig anderen Geschichtsbild der urchristlichen Anfänge als die Anhängerschaft des androzentrischen Wissenschaftsparadigmas: 300 Sie benennt emanzipatorische Tendenzen innerhalb der frühen christlichen Bewegung, auf die patriarchal-aristotelische Effekte einwirkten und somit das Frauenerbe unterdrückt haben. 301 Allerdings deuten „spärliche Textstellen über Frauen sowie die Widersprüche in den neutestamentlichen Quellen […] immer noch an, daß Frauen der urchristlichen Bewegung angehörten und führend in dieser Bewegung waren“. 302 Dennoch geht E. Schüssler Fiorenza nicht von einem Zustand einstiger Egalität aus, der anschließend einfach durch die Patriarchalisierung ausgelöscht wurde. Vielmehr sieht sie in den 294 ESF 17. 295 Lit. zu diesem Diskursstrang: S. H EINE , Frauen der frühen Christenheit; M. F ANDER , Die Stellung der Frau im Markusevangelium; F. J OHANNSEN , „… da ist nicht Mann und Frau“. 296 ESF 13. 297 ESF 55. 298 „Eine Hermeneutik des Verdachts muß zu einer feministischen Hermeneutik der Erinnerung führen“, ESF 163. 299 ESF 165. 300 ESF 147. E. Schüssler Fiorenza nennt hierfür als Beispiel G. D AUTZENBERG / H. M ERKLEIN / K.H. M ÜLLER (H G .), Die Frau im Urchristentum. 301 ESF 123-127. 302 ESF 167. <?page no="164"?> 164 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza christlichen Anfängen ein Potential an Emanzipationsdynamik, welches sich letztendlich nicht durchsetzen konnte, aber im Untergrund vorhanden blieb. 303 E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, das biblische Erbe als Geschichte für Frauen zu rekonstruieren und anhand des ambivalenten Status der urchristlichen Frauen zwischen Hoffen und Leiden die Ansätze einer Hermeneutik des Verdachts und einer Hermeneutik des Erinnerns zu verdeutlichen. Diskursstrang zum Geschichtsverständnis 304 E. Schüssler Fiorenza lehnt die androzentrische Wissenschaft ab, welche positivistisch Geschichte als Darstellung objektiver Tatsachen betreibt. 305 Solch ein Geschichtsbild diene lediglich der Stabilisierung patriarchaler Herrschaftsstrukturen, indem patriarchale Texte androzentrisch interpretiert und somit Frauen aus der Geschichte ausgeblendet werden. 306 Demgegenüber vertritt sie eine Geschichtsschreibung, welche auf der konstruktionistischen Wissenstheorie basiert und Geschichte nicht objektiv, sondern subjektiv als Geschichte für bestimmte Menschengruppen versteht. Geschichtsschreibung ist somit immer parteilich und interessengeleitet, hat stets rhetorischen Charakter 307 und partizipiert unweigerlich am Machtaspekt 308 . Dies hat jede Geschichtsschreibung transparent zu machen. E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, Frauen wieder in die Geschichte einzuschreiben, die Geschichte zum Erbe von Frauen werden zu lassen und zur Teilhabe der Frauen an der Macht beizutragen. Diskursstrang zur feministischen Wissenschaftskritik 309 Die feministische Frauenforschung versteht sich nicht als partikulare Ergänzung, sondern als umfassende Umgestaltung herkömmlich androzentrischer Anschauungen in Kultur, Gesellschaft, Religion und Wissenschaft. E. Schüssler Fiorenza versteht ihr eigenes Forschen als Teilbereich dieser Bewegung: 310 Die feministische Frauenforschung hat „eine wissenschaftliche Revolution eingeleitet, die einen Paradigmenwechsel von einem androzentrischen, auf die Männer und das Männliche ausgerichteten Weltbild hin 303 ESF 20, Anm. 21/ 215. 304 Überblicksliteratur zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 305 ESF 149. 306 ESF 160. 307 ESF 202. 308 ESF 134. 309 Lit. zu diesem Diskursstrang: S. H ARDING , Feministische Wissenschaftstheorie; K. H AU - SEN / H. N OWOTNY (H G .): Wie männlich ist die Wissenschaft? ; H. K AHLERT , Art. Wissenschaft, feministische; L. S CHERZBERG , Grundkurs Feministische Theologie. 310 „Damit habe ich mich vor allem auf die Probleme konzentriert, die mit der Bibel und der Interpretation der Bibel in Kirche und Wissenschaft zu tun haben“, ESF 10. <?page no="165"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 165 zu einem feministischen Begreifen der Welt, des menschlichen Lebens und der Geschichte herbeizuführen sucht“. 311 Deshalb thematisiert E. Schüssler Fiorenza besonders ausführlich den generellen Konstruktionscharakter von Wirklichkeit und Geschichte und kritisiert damit die Illusion wertneutraler Objektivität androzentrischer Forschung. E. Schüssler Fiorenzas Partizipation an der feministischen Wissenschaftskritik hat im Untersuchungstext die Funktion, die etablierte Dominanz patriarchaler Herrschaftsmuster in der historisch-kritischen Forschung und Bibelinterpretation zu überwinden und die Parteilichkeit feministischer Wissenschaft gegen androzentrische Vorwürfe theoretisch fundiert zu verteidigen. Diskursstrang zur Macht 312 E. Schüssler Fiorenza verknüpft den Machtbegriff vor allem mit dem Gedanken des biblischen Erbes und der Geschichte (s.o.). 313 Nur durch die Rekonstruktion biblischer Frauenidentitäten kann die Partizipation von Frauen an der Macht gelingen. Macht ermöglicht Einflussnahmen und die Nutzung von Gestaltungsspielräumen. 314 Damit wird der Machtfaktor zum Dreh- und Angelpunkt einer feministischen Umgestaltung aller gesellschaftlichen/ politischen/ wissenschaftlichen/ religiösen Verhältnisse. Innerfeministisch kritisiert E. Schüssler Fiorenza postbiblische Feministinnen, die den Zusammenhang von religiösem Erbe und Macht ausblenden. Denn die Verbindung von Erbe und Macht hat nicht nur Auswirkungen auf den religiösen, sondern auch den zivilen Bereich von heute. 315 E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die Bedeutung des christlichen Erbes als Machtfaktor hervorzuheben. Dies soll ihren Ansatz einer kritisch-feministischen Bibelhermeneutik innerhalb der innerfeministischen Diskussion um die richtige Emanzipationsstrategie stützen (s.u.). Diskursstrang zur Frauenemanzipation 316 E. Schüssler Fiorenza argumentiert zum einen als Vordenkerin der feministischen Bewegung gegen die patriarchal-androzentrischen Kräfte in den miteinander vernetzten Bereichen von Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Kul- 311 ESF 32. 312 Lit. zu diesem Diskursstrang: M. F OUCAULT , Dispositive der Macht; N. F RASER , Widerspenstige Praktiken; E. H ERMS , Art. Macht; H. K LENNER , Art. Macht/ Herrschaft/ Gewalt; H. K AHLERT , Art. Macht; J. M ÜNTKEM , Keine Macht für Niemand. 313 E. Schüssler Fiorenza spricht von der „subversive[n] Macht der ‚erinnerten Vergangenheit‘“, ESF 55. 314 „Ob wir uns dessen bewußt sind, wenn wir von der Macht des Wortes reden, oder nicht: von Macht reden heißt von politischen Wirklichkeiten und Kämpfen reden“, ESF 11. 315 ESF 134. 316 Überblicksliteratur zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. <?page no="166"?> 166 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza tur und Religion (s.o.), zum anderen positioniert sie sich als feministische Theologin innerhalb der Diskussion um die richtige Strategie zur Durchsetzung der emanzipatorischen Interessen. Dem Vorwurf, wichtigere Menschenrechtsthemen als die Frauenemanzipation seien der Kampf gegen Hunger und Folter, entgegnet sie, „daß mehr als die Hälfte der Armen und Hungernden dieser Welt Frauen oder von Frauen abhängige Kinder sind“. 317 Die geschlechtliche Klassifikation beruht nach E. Schüssler Fiorenza auf der patriarchalen Herrschaftsausübung. Einen antiemanzipatorischen Effekt sieht sie daher auch in der Position des Differenzfeminismus, der ebenfalls eine kategoriale Verschiedenheit von Frauen und Männern postuliert. 318 E. Schüssler Fiorenza kämpft für die Frauenemanzipation innerhalb des theologischen Feminismus, der allerdings in die gesamtfeministische Bewegung aufgrund der Interdependenz aller Reformen eingebunden ist. Gerade in der Beschäftigung mit religiösen Fragestellungen sieht sie ein immens relevantes Feld für das feministische Projekt. 319 So thematisiert sie den Zusammenhang des Verhältnisses von Politik und Religion exemplarisch anhand der Wirkungsgeschichte der Bibel auf konservative Kreise in den USA, etwa den kulturellen Bewegungen The Total Woman Movement und The Moral Majority Movement 320 : „Diese rechts anzusiedelnden politischen Bewegungen, welche die amerikanische Familie im Namen des Christentums zu verteidigen behaupten, zögern nicht, etwa in ihrem Kampf gegen Frauenhäuser, Schwangerschaftsunterbrechung (auch im Falle von Vergewaltigung und bei der Schwangerschaft Minderjähriger) oder auch bei ihrer Verteidi- 317 ESF 86. 318 ESF 38. - Vgl. L. S CHERZBERG , Grundkurs Feministische Theologie, 21-27: Scherzberg unterteilt die feministische Kontroverse um das Geschlechterverständnis in zwei Grundströmungen: Die eine Gruppe, der auch E. Schüssler Fiorenzas Position zuzurechnen ist, vertritt einen Gleichheitsfeminismus, welcher „‚Weiblichkeit‘ historisch und kulturell produziert sieht“, a.a.O., 21. Die andere Gruppe vertritt als gynozentrischer Feminismus ein Differenzdenken und begreift Weiblichkeit in der Unterscheidung zur Männlichkeit als „einen eigenen Wert, etwas, das in den Beziehungen von Frauen untereinander erst gewonnen wird“, ebd. 319 „Wenn Feministinnen meinten, sie könnten die Revision der Bibel vernachlässigen, weil es andere, dringlichere politische Aufgaben gebe, dann übersehen sie, welch große politische Wirkung von der Schrift auf Kirche und Gesellschaft und so auch auf das Leben der Frauen immer noch ausgeht“, ESF 100. 320 Führungsperson des Total-Woman-Movement ist M ARABEL M ORGAN mit ihrem Bestseller Die totale Frau. Diese antifeministische Bewegung kämpft für den Erhalt der traditionellen Geschlechterrollen und sieht die Hauptfunktion der Frau darin, ihren Ehemann glücklich zu machen. Das Moral-Majority-Movement war eine politische Aktionsgruppe in den Vereinigten Staaten, die sich 1979 um den evangelikalen Rev. Jerry Falwell sammelte und ihren Einfluss bei konservativen Politikern geltend zu machen versuchte. Diese Bewegung kämpfte für das Schulgebet, einem antisowjetischen Kurs in der amerikanischen Außenpolitik sowie gegen Feminismus und Homosexualität. 1989 löste sich die Bewegung auf, vgl. J. F ALWELL , The fundamentalist phenomenon. Eine kritische Darstellung bietet S. H ARDING , The Book of Jerry Falwell. <?page no="167"?> 7.3 Diskursanalytische Untersuchung 167 gung der Körperstrafe für Kinder sich auf die Bibel zu berufen“. 321 So konstatiert E. Schüssler Fiorenza mit Susan Moller Okin 322 , „daß die aristotelische politische Ethik der Haustafeltexte auch noch heute in der demokratischen Gesellschaft Amerikas sehr lebendig ist“. 323 Weiterhin thematisiert E. Schüssler Fiorenza die Erfahrung der kollektiven Unterdrückung und Befreiung als Basis emanzipatorischer Praxis 324 sowie die Rolle der Sprache im Kampf um Emanzipation 325 . E. Schüssler Fiorenzas Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, zum einen die Dringlichkeit einer feministischen Überwindung patriarchal-androzentrischer Strukturen als Befreiung für alle Menschen zu schildern und diese voranzutreiben, zum anderen die Bedeutung der Religion als Machtfaktor für das feministische Projekt hervorzuheben. 7.3.3 Bezüge zum Interdiskurs Progressivität Als feministischer Entwurf partizipiert E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik am Programm einer grundlegenden Umgestaltung gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und kirchlicher Verhältnisse. Dieser Prozess wird im Untersuchungstext als „Befreiungskampf“ 326 , „Widerstand gegen patriarchale Unterdrückung“ 327 , „Revolutionierung“ 328 oder schlicht „Veränderung“ 329 beschrieben. Deshalb basiert E. Schüssler Fiorenzas Position deutlich auf einer progressiven - d.h. einer auf Fortentwicklung des status quo ausgerichteten - Grundhaltung. Im wissenschaftlichen Bereich wird diese programmatische Umgestaltung durch das Stichwort Paradigmenwechsel benannt, welchen E. Schüssler Fiorenza als Angriff auf die systemstabilisierende Ideologie des etablierten patriarchalen Wissenschaftsbetriebs formiert. Aufgrund der Totalität des Patriarchalismus muss eine feministische Reform innerhalb des theologischen Bereichs „kritisch über die politischen Voraussetzungen und Implikationen der Werke der ‚Klassiker‘ der Theologie und der verschiedenen dogmatischen und theologischen Systeme reflektieren. Mit anderen Worten: wir haben nicht nur den Inhalt und den Tradierungsprozeß in der Bibel, sondern die gesamte christliche Tradition zu erforschen, damit bestimmt werden 321 ESF 114. 322 S. M OLLER O KIN , Women in Western Political Thought. 323 ESF 140. 324 Vgl. hierzu folgende Stellen: ESF 18, 33, 42, 47f, 86f, 136, 165, 106. 325 ESF 11f und 51-53. 326 ESF 13. 327 ESF 18. 328 ESF 32. 329 ESF 36. <?page no="168"?> 168 7 Untersuchungen bei Elisabeth Schüssler Fiorenza kann, ob und inwieweit sie zur Unterdrückung oder zur Befreiung von Menschen beiträgt“. 330 Diesem progressiven Ansatz stehen konservative Gegenkräfte in (theologischer) Wissenschaft, Kirche und ganz generell der Gesellschaft entgegen: Innerhalb der theologischen Wissenschaft wird der feministische Standpunkt durch etablierte TheologInnen und ExegetInnen mit dem Hinweis abgelehnt, er sei „unwissenschaftlich, mit Vorurteilen befrachtet, allzu sehr von heutigen Fragen bestimmt und daher geschichtswissenschaftlich inakzeptabel“. 331 Als exemplarischer Beleg konservativ-kirchlicher Gegenkräfte dient die Vatikanerklärung gegen die Frauenordination 332 sowie der Verweis auf die weit verbreitete Haltung „bei konservativen ChristInnen, daß Frauen nur dann glücklich sein können, wenn sie der Weisung der Schrift gehorchen, sich den Männern unterzuordnen“. 333 Ebenso weist E. Schüssler Fiorenza auf antifeministische Gruppierungen des gesellschaftlich-zivilreligiösen Bereichs hin, wie die beiden kulturellen Bewegungen The Total Woman Movement und The Moral Majority Movement. Konservativismus In Hinblick auf die innerfeministische Strategie tritt bei E. Schüssler Fiorenza auch eine konservative Argumentationsform auf: So kritisiert sie postbiblische Feministinnen, die das feministisch-biblische Frauenerbe zu leichtfertig aufgeben. 334 Dieses Erbe gilt es zu bewahren, bzw. zu rekonstruieren, denn „unser Erbe ist unsere Macht“. 335 330 ESF 108. 331 ESF 85. 332 ESF 63. 333 ESF 41. 334 ESF 134. 335 ESF 13. <?page no="169"?> 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik T ITEL - W IDMUNG - A UFBAU Der unspezifische Titel ‚Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik‘ deutet auf den Angebotscharakter dieses Entwurfs hin 1 und setzt bewusst die Existenz anderer Entwürfe voraus. Das Buch trägt die Widmung „Herrn Bischof i.R. D. Helmut Claß“. 2 P. Stuhlmacher würdigt dessen Engagement für den Zusammenhalt der Kirche durch „biblisch-theologische Arbeit“ und versteht ihn als Vorbild zur Befriedung der kirchlichen Lagerkämpfe. 3 Der Aufbau des Buches weist folgende dreigliedrige Makrostruktur auf: - Die §§ 1 und 2 führen in den gegenwärtigen Schriftgebrauch ein. - Die §§ 3 bis 13 zeichnen den langen geschichtlichen Auslegungsweg von den biblischen Anfängen bis zur Gegenwart nach und machen knapp 78 % des Gesamttextes aus. - § 14 formuliert daraufhin P. Stuhlmachers eigenen hermeneutischen Ansatz. P. Stuhlmachers eigene Position äußert sich also explizit erst im § 14. Darüber hinaus müssen Kommentierungen und Wertungen seines historischen Abrisses sowie die Problemkonstruktion der beiden Eingangsparagrafen als Orte impliziter Positionierungen ebenso wie die vorgeschalteten Abschnitte Vorwort und Einführung für die Analyse seines Entwurfes mitberücksichtigt werden. V ORWORT UND E INFÜHRUNG 4 Im Vorwort zur zweiten Auflage konstatiert P. Stuhlmacher den bis dato ausgebliebenen Erfolg seines hermeneutischen Bemühens, den Gegensatz zwischen evangelikaler und wissenschaftlicher Schriftauslegung zu überwinden. Dennoch hält er an diesem Ziel weiterhin mit seiner Hermeneutik des Einverständnisses fest 5 - einer Hermeneutik, wie sie sich nach P. Stuhlma- 1 Stuhlmacher selbst betrachtet seine Hermeneutik als „Vorschlag“, PSt (=P. S TUHL - MACHER , Vom Verstehen des Neuen Testaments) 7. Dennoch zielt die Argumentation des Untersuchungstextes darauf, diesen Vorschlag gegenüber anderen Ansätzen als einzig sinnvollen Auslegungsweg angesichts der gegenwärtigen hermeneutischen Probleme darzustellen, vgl. 8.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken. 2 PSt 5. 3 PSt 8. 4 PSt 7f und 17f. 5 „Ich gebe trotz dieser enttäuschenden Reaktionen die Hoffnung auf eine für die Kirche dienliche Verständigung beider Seiten nicht auf“, PSt 7. <?page no="170"?> 170 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher cher „von der Schrift her aufdrängt und die ich deshalb für schriftgemäß halte“ 6 . In der Einführung formuliert er die Zielvorgabe seiner Hermeneutik: „Sie möchte einen heute einleuchtenden, der Bibel angemessenen und vor unserer kirchlichen Tradition ebenso wie vor dem Forum der Wissenschaft vertretbaren Weg der Schriftauslegung und des Schriftverständnisses aufzeigen“. 7 Damit sind die Orientierungsgrößen seiner Hermeneutik - Schrift, Tradition, Kirche und Wissenschaft - benannt. Die Spannung zwischen der Tradition als Basis von Frömmigkeit und der Wissenschaft als Ort traditionskritischer Kommentierung orientiert P. Stuhlmacher durch die Einfügung eines Lutherzitats, welches vor der Hybris der Vernunft in Blick auf die Schriftauslegung warnt. 8 Die Schriftinterpretation kann in Rekurs auf Hans-Georg Gadamer nur dann sachgemäß sein, wenn sie von einer Verstehens- und Auslegungsweise geprägt ist, die sich um ein Einverständnis mit den biblischen Texten bemüht, welches zu „einem kirchlich und wissenschaftlich verantwortbare[n] Gespräch mit den Texten“ befähigt. 9 P RAGMATIK - Eine neutestamentliche Hermeneutik muss vor allem schriftgemäß sein. Weiterhin hat sie sich vor der Tradition und der Wissenschaft zu verantworten. Auf diesen Grundsatz sollten sich unterschiedliche theologische Strömungen einigen. - Die Vernunft hat diese Kriterien zu stützen. Nicht darf sich die Vernunft über die Schrift erheben. § 1 D IE B EGEGNUNG MIT DEM N EUEN T ESTAMENT HEUTE 10 P. Stuhlmacher bespricht in diesem Paragrafen unterschiedliche Bibeleditionen aus dem evangelischen und katholischen Bereich. Er beginnt mit der Feststellung, dass im Katholizismus seit dem II. Vatikanischen Konzil das Interesse an der Bibellektüre gewachsen ist, während es im Protestantismus eine „recht unterschiedliche Tendenz und Stoßrichtung“ zu beobachten gilt. 11 Die katholischen Editionen sind durch die Einheitsübersetzung und die Jerusalemer Studienbibel mitrepräsentiert. Erstere würdigt er aufgrund ihrer sprachlichen Verständlichkeit, zweitere aufgrund des „wissenschaftlich 6 Ebd. 7 PSt 17. 8 Mit dieser Relativierung der Vernunft wird folgender Argumentationsgang vorbereitet: „Biblische Hermeneutik kann nicht Emanzipation von der Schrift […] sein wollen […]. Die Texte laden uns ein, in den Lobpreis des einzigen Gottes einzustimmen […]. Die Auslegung der Bibel kommt dort zum Ziel, wo das Evangelium gehorsam nachgedacht und die Einladung zum Gotteslob angenommen wird“, PSt 18. 9 Ebd. 10 PSt 19-23. 11 PSt 19. <?page no="171"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 171 wohlfundierte[n] Urteils über Aussage und Entstehung der ganzen hl. Schrift“. 12 Aus dem protestantischen Bereich werden zuerst die Lutherbibel und die Zürcher Bibel kommentiert. Während die Leserschaft über P. Stuhlmachers Urteil zur Zürcher Bibel fast nichts erfährt 13 , lobt er an der revidierten Lutherübersetzung von 1984 das hermeneutische Programm, „den biblischen Urtext nach Maßgabe des unserem Gegenwartsdeutsch sehr behutsam angeglichenen klassischen Luthertextes […] kirchlich angemessen zu verdolmetschen“. 14 Die Gute-Nachricht-Übersetzung bleibt nach Ansicht P. Stuhlmachers hinter der Jerusalemer Studienbibel an wissenschaftlicher Qualität zurück, die ‚Lutherbibel erklärt‘ zeigt das heterogene Verhältnis des Protestantismus zur Bibelwissenschaft. 15 Die Herrnhuter Losungen nimmt er vor einer Abqualifizierung als „christliches Orakel“ in Schutz 16 , kritisiert jedoch, dass „die einzelne Losung, losgelöst von ihrem biblischen Kontext und damit ihrer Geschichte, als Gottes aktuelle Weisung für den Tag, ermittelt wird“. 17 Als kritische Bibelausgabe würdigt er die Übersetzung des Neuen Testaments von Ulrich Wilckens als „eine großartige, ökumenisch inspirierte Leistung“. 18 Die Besprechung der Übersetzung des Matthäusevangeliums von Walter Jens bleibt unscharf. Zum einen lobt er sie als ein faszinierendes Buch, das rhetorisch und sprachlich erstklassig ist. Zum anderen spart er eine klare Bewertung aus und verweist lediglich darauf, dass zur umfassenden Beurteilung dieser Ausgabe differenzierungsfähige Leser vorausgesetzt werden müssen. - Damit ist die Notwendigkeit der Hermeneutik begründet. P RAGMATIK - Es gibt unterschiedliche und unterschiedlich gute Bibeleditionen. Die katholischen Ausgaben stehen den evangelischen an Qualität in nichts (mehr) nach. - Die schwer überschaubare Vielseitigkeit der Übersetzungen macht es nötig, den modernen Leser zu informieren, hermeneutisch aufzuklären und somit zum eigenen Urteil zu befähigen. 12 PSt 20. 13 Lediglich durch die Positionierung neben der Lutherbibel und folgender einführender Formulierung kann ein positives Urteil abgeleitet werden: „Die tragende Mitte der neuen protestantischen Bibelausgaben wird gebildet von der […] Zürcher Bibel und von der Lutherbibel“, ebd. 14 Ebd. 15 P. Stuhlmacher kritisiert die mangelnde Stringenz des Gesamtkonzeptes: Die einzelnen Kommentare werden von den unterschiedlichen Autoren selbst verantwortet, manche fußen auf der Methode der historischen Kritik, andere wiederum lehnen sie ab, PSt 21f. 16 PSt 22. 17 Ebd. 18 PSt 23. <?page no="172"?> 172 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher § 2 D ER GEGENWÄRTIGE S TREIT UM DIE S CHRIFTAUSLEGUNG 19 Im Kern geht es P. Stuhlmacher um die Frage, wie die historische Kritik als dienende Funktion der Kirche beschrieben werden kann. Den diesbezüglichen Konflikt zwischen kirchlicher Tradition und Wissenschaft sieht er bei Ernst Troeltsch grundgelegt, der die Merkmale historischer Forschung als Kritik, Analogie, Korrelation und Persönlichkeit (Subjektivität) festsetzte. Die geltende Tradition wird dabei durch das wissenschaftliche Urteil des einzelnen Forschers ersetzt und somit die Autorität der Tradition der Subjektivität der Forschung unterworfen. Die katholische Position hat heute zu einer Verhältnisbestimmung zwischen Tradition und Wissenschaft gefunden, die es ihr ermöglicht hat, ein Niveau zu erreichen, „mit der die protestantische Seite kaum mehr Schritt halten kann“. 20 In den orthodoxen Kirchen ist die Verhältnisbestimmung strukturverwandt zur röm.-katholischen Position. Im evangelischen Bereich lassen sich drei unterschiedliche Grundansätze nachzeichnen: - Die radikale Kritik versteht die historische Kritik als legitime Konsequenz des reformatorischen Programms. Dabei werde allerdings - trotz evidenter Leistungen - die kirchliche Dimension zu stark vernachlässigt. - Die Kritik an der Kritik versteht die historische Kritik nicht mehr ausschließlich als reformatorisches Proprium, sondern als etablierte ökumenische Gemeinsamkeit. Neben der historischen Kritik berücksichtigt diese Position auch die Bedeutung der Texte für das Leben der Kirche. - Die dritte Verhältnisbestimmung, Das Nein zur Bibelkritik 21 , ist dem bibelgläubigen Pietismus verpflichtet, der sich „stets mit der wissenschaftlichen Verpflichtung der Theologie schwergetan“ hat und somit in Gefahr ist, „aus der Verantwortung der geistigen Zeitgenossenschaft in den Separatismus und ein kirchliches Konventikeltum auszubrechen“ 22 . P. Stuhlmacher beendet diesen Paragrafen mit einer Überleitung zum nächsten Abschnitt: „Die biblische Hermeneutik muß sich vor allem anderen an den durch die Bibel selbst gesetzten hermeneutischen Maßstäben orientieren“. 23 19 PSt 24-35. 20 PSt 27. 21 PSt 32. 22 PSt 33. Dieses deutliche Urteil wird jedoch modifiziert: Neben der fundamentalistischen Missouri-Synode erwähnt er als Dialogpartner G. Maier, der mit seiner historisch-biblischen Auslegungsmethode das wissenschaftliche Gespräch nicht abbricht. P. Stuhlmacher würdigt an Maiers Ansatz den hohen Stellenwert der Inspirationsvorstellung, kritisiert jedoch dessen mangelnde Berücksichtigung der kirchlichen Auslegungstradition sowie eine fehlende Auseinandersetzung mit dem aktuellen kritischen Wahrheitsbewusstsein. 23 PSt 35. <?page no="173"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 173 P RAGMATIK - Die Bestimmung der historischen Kritik durch die Merkmale von Troeltsch bildet den Kernpunkt des heutigen Streits um die Schriftauslegung. - Die Verhältnisbestimmung von Tradition und Wissenschaft hat im Katholizismus (und der Orthodoxie) zu einem stringenten und befriedigenden Lösungsmodell geführt. Hingegen ist das Bild im Protestantismus disparat. Es gibt zum einen Radikalismen, die die kirchliche Tradition völlig ausblenden, es gibt zum andern Radikalismen, die sich der wissenschaftlichen Diskussion entziehen. Beides ist für die protestantische Schriftauslegung schädlich. - Eine sachgemäße Schriftauslegung hat sich zuerst an die hermeneutischen Maßstäbe der Bibel selbst zu halten, die kirchliche Tradition zu berücksichtigen und am wissenschaftlichen Diskussionsprozess zu partizipieren. § 3 D AS N EUE T ESTAMENT UND DER BIBLISCHE K ANON 24 P. Stuhlmacher erklärt in diesem Abschnitt die Herausbildung des christlichen Bibelkanons als notwendige Antwort auf den Tod der apostolischen Leitfiguren. Nur so konnte die Identitätssicherung der frühchristlichen Kirche und die Abwehr häretischer Strömungen ermöglicht werden. Eine Schlüsselstellung kam dabei der Glaubensregel als Orientierungsgröße und den Bischöfen als Garanten der apostolischen Kontinuität zu. Der Zusammenhalt von Altem und Neuem Testament wurde durch die Lehre vom präexistenten Logos gewährleistet. P RAGMATIK - Dem Kanon gebührt eine hohe Wertschätzung, weil er wesentlich zur Überlebenssicherung der Kirche und ihrer Einheit beigetragen hat. Deshalb sind die biblischen Texte kanonisch und in Zusammenhang mit der Kirche zu interpretieren. - Christus bildet das einende Band zwischen Altem und Neuem Testament. § 4 A UTORITÄT , I NSPIRATION UND A USLEGUNG DER HEILIGEN S CHRIFT 25 Ein sachgerechtes Verstehen der biblischen Texte ist nach P. Stuhlmacher nur möglich, wenn die „hl. Schrift […] als ein geschichtliches Zeugniswerk“ verstanden wird. 26 Die Autorität der Bibel ergibt sich durch ihre Verhältnis- 24 PSt 35-47. 25 PSt 47-63. 26 PSt 47. Die Formulierung geschichtliches Zeugniswerk intendiert zum einen die historische Untersuchung, zum anderen die Berücksichtigung der kirchlich-dogmatischen Tradition. <?page no="174"?> 174 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher bestimmung zum Wort Gottes, welches sich in das geschehene Wort Jesus Christus, das bezeugte Wort der Jünger und das verkündigte Wort der Bibel ausdifferenziert. 27 Das Schriftverständnis lässt sich dabei nicht auf die verstandesmäßige Ebene reduzieren, vielmehr lehrt die biblische Erkenntnistheorie die Verschränkung von intellektueller Erkenntnis und willentlicher Anerkenntnis. 28 Die Inspirationsvorstellung ist vor allem in 2Tim 3,16 und 2Petr 1,16-21 als hermeneutische Instruktion greifbar: Rechtgläubige Schriftauslegung meint demnach die Deutung der inspiriert verstandenen Schrift im Geist der durch die Apostel überlieferten Tradition. Die im Frühjudentum existente Auffassung der Inspiration als Inbesitznahme eines Menschen durch den Geist weist P. Stuhlmacher als unbiblisch zurück, da sie der Geschichtlichkeit der biblischen Figuren nicht gerecht werde. Inspiration versteht er vielmehr als Erwählung bzw. besondere Bevollmächtigung von Personen oder Schriften. 29 Die Verhältnisbestimmung von inspirierter Schrift, Schriftauslegung und kirchlicher Glaubenstradition in den drei Systemen Katholizismus, reformatorische Theologie und Rationalismus führt P. Stuhlmacher schließlich zu folgenden Beobachtungen: Der Katholizismus hat mit dem Papst als lehramtlicher Institution an der Spitze eine stabile Verhältnisbestimmung gefunden, die es ihm ermöglicht, deutlicher und selbstbewusster Stellung zu beziehen als dies der Protestantismus derzeit vermag. Die reformatorische Position änderte im Geviert Schrift, Schriftauslegung, Tradition, Kirche lediglich deren Gewichtung durch den Schriftprimat. Daran will P. Stuhlmacher anknüpfen. 30 Der Rationalismus hingegen löste die Schriftauslegung aus dem Geviert heraus und blendete somit die Dimensionen Kirche und Tradition, einschließlich der Inspirationslehre, aus. P RAGMATIK - Ein sachgerechtes Verstehen biblischer Texte ist nur dann möglich, wenn sowohl der geschichtliche Charakter wie auch die Inspiration der Bibel anerkannt werden. Verstehen der Bibel ist außerdem nur möglich, wenn neben die kognitive Kenntnis eine emotionale Anerkenntnis hinzutritt. - Das klassisch gewordene Geviert aus Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche darf nicht aufgegeben werden, und eine für uns heute tragfähige Hermeneutik hat am reformatorischen Ansatz anzuknüpfen. 27 P. Stuhlmacher schließt sich damit an A. Schlatter, O. Weber und vor allem K. Barth an, PSt 49f. 28 PSt 50-52. 29 Mit diesem Interpretationsmodell und der Abgrenzung von einer dualistisch-spiritualistischen Inspirationsauffassung versucht P. Stuhlmacher den Inspirationsgedanken für die Gegenwart fruchtbar zu machen, PSt 57f. 30 „Wenn wir auf eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten hinarbeiten, geht es uns darum, einen heute angemessenen Anschluß an dieses Interpretationsmodell zu finden“, PSt 61. <?page no="175"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 175 § 5 A UFBRUCH UND G RUNDLEGUNG CHRISTLICHEN S ELBSTVERSTÄNDNISSES 31 P. Stuhlmacher bindet in diesem Paragrafen die christliche Schriftinterpretation an biblische Textaussagen, die er als hermeneutisch relevant deklariert: Demnach beschreibt das Neue Testament selbst Jesus als hermeneutischen Akt. Seine Antithesen der Bergpredigt stellen den Bezug der Schrift zu ihm selbst her. Die neutestamentlichen Erfüllungszitate legen den Grundstein für eine insgesamt christologische Interpretation des Alten Testamentes. Ebenso schafft die paulinische Auslegungspraxis der Unterscheidung von Schrift und Buchstabe, der eschatologischen Vergegenwärtigung der Schrift, der Typologie sowie der Allegorese den innerlich notwendigen Zusammenhalt von Altem und Neuem Testament. Die johanneische Konzeption des präexistenten Logos vertieft den gesamtbiblischen Bezug. P. Stuhlmacher erkennt bereits in den Spätschriften des Neuen Testaments das Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche. P RAGMATIK - Eine sachgemäße Hermeneutik der biblischen Schriften muss sich vorrangig an den hermeneutischen Setzungen des Neuen Testamentes selbst orientieren. - Durch die Typologie, die Allegorese, die Unterscheidung von Buchstabe und Schrift, die Erfüllungszitate sowie die Konzeption des präexistenten Logos bilden Altes und Neues Testament eine innere Einheit, deren hermeneutisches Zentrum Jesus Christus ist. - Das wirkungsgeschichtlich bedeutsame Geviert Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche ist in den Spätschriften des Neuen Testaments bereits angelegt. § 6 G RUNDPROBLEME UND L EITLINIEN KIRCHLICHER S CHRIFTINTERPRETATION BIS ZUR R EFORMATIONSZEIT 32 Die Anfänge der christlichen Schriftauslegung sieht P. Stuhlmacher vor allem durch die kirchliche Identitätsbildung in Abgrenzung zum Judentum, die aktuellen Gemeinde- und Missionsbedürfnisse sowie den nötigen Schutz vor häretischer Überfremdung bestimmt. Origenes „ist darin kirchlicher Theologe, daß er „nur das als Wahrheit zu glauben“ rät, „was mit der kirchlichen und apostolischen Tradition in keinem Widerspruch steht“. 33 Die Fokussierung der Antiochener auf die Erhellung des historischen Wortsinns konnte sich gegenüber der Allegorese Alexandriens noch nicht durchsetzen. Tertullian bindet die Schriftauslegung an die Glaubensregel und das kirchli- 31 PSt 63-76. 32 PSt 76-93. 33 PSt 79. Außerdem hebt P. Stuhlmacher Origenes Verknüpfung von Wissenschaftlichkeit und Mission hervor, ebenso dessen Grundsatz, dass nur Menschen, die am Glauben der Kirche teilhaben, die Schrift auslegen können. <?page no="176"?> 176 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher che Lehramt. Das Aufkommen der Katenen-Kommentare zeigt die Verschiebung der hermeneutischen Produktivität vom Osten in den Westen. Die Leistungen des Hieronymus sieht P. Stuhlmacher in dessen Übersetzung des Alten Testaments aus dem hebräischen Urtext. Ambrosius erschloss mit der allegorischen Deutung neue Zugänge zum Alten Testament. Augustins Bedeutung für die Schriftauslegung liegt in dessen Verknüpfung der Schriftauslegung mit dem Methodenstand der damaligen antiken Auslegungspraxis. Schließlich zeigt die Ausbildung des vierfachen Schriftsinns bei Cassian die Entfaltung des „Offenbarungsgehalt[s] der Schrift auf alle denkbaren Erfahrungs- und Lebensbereiche“. 34 Zurückblickend sind für P. Stuhlmacher der Rahmen und die Grundmöglichkeiten der christlichen Schriftauslegung in jenem Zeitabschnitt ausgebildet worden. Dies sind die Inspirationslehre, das Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche sowie die Wissenschaftlichkeit der Bibelauslegung. 35 P RAGMATIK - Die Hauptkoordinaten der christlichen Schriftauslegung wurden bis zum Anbruch der Reformation in Grundzügen fertiggestellt. Die Geschichte der Schriftinterpretation bis 1500 n. Chr. lässt sich weniger als Ablösung kontradiktorischer Positionen denn als sukzessive Kumulation der verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zur Präzision der Schriftauslegung verstehen. - Origenes, Alexandria und Antiochia, Tertullian, Hieronymus, Ambrosius, Augustin u.a. sind wichtige Wegstationen dieses Entwicklungsprozesses. § 7 S CHRIFTVERSTÄNDNIS UND S CHRIFTAUSLEGUNG ZUR Z EIT DES H UMANISMUS UND DER R EFORMATION 36 Die Leistungen des Humanismus liegen nach P. Stuhlmacher vor allem in der Text- und Sprachforschung. Insgesamt fügt sich die humanistische Schriftauslegung in die bisherige Auslegungspraxis ein. 37 Das Schriftverständnis Martin Luthers skizziert Stuhlmacher durch die Grundsätze der ‚Selbstauslegung und Klarheit der Schrift‘ sowie der ‚Unterscheidung von 34 PSt 90. 35 P. Stuhlmacher betont dies vor allem auf dem Hintergrund einer „im gegenwärtigen Protestantismus eingerissenen Unterschätzung der kirchlichen Tradition und der ihr entsprechenden hermeneutischen Versuchung, Schriftauslegung in biblizistischer oder historistischer Traditionsvergessenheit zu betreiben“, PSt 91f. 36 PSt 93-109. 37 So formuliert P. Stuhlmacher zu Erasmus von Rotterdam: „Es ist ihm eine Selbstverständlichkeit, daß die hl. Schrift, und zumal das Neue Testament, in der kirchlichen Glaubenslehre gipfeln“, PSt 96. <?page no="177"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 177 Gesetz und Evangelium‘. Dies impliziert eine notwendige Modifikation innerhalb des Gevierts von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche: Die Schrift erhält ihre reformatorische Vorrangstellung, darüber hinaus wird das Geviert aber prinzipiell beibehalten. 38 Mit Erasmus von Rotterdam verbindet Luther das Interesse an einer wissenschaftlichen Schriftauslegung und die Konzentration auf den Literalsinn. Luthers Bibelkritik als christologische Sachkritik einzelner Texte oder Textstücke ist nach P. Stuhlmacher notwendig, um sowohl der These von der Unfehlbarkeit der Schrift wie auch der Institution eines verbindlichen Lehramtes entgehen zu können. Johannes Calvin führte den Ansatz Luthers konsequent fort. Darüber hinaus gelang es ihm nach Ansicht P. Stuhlmachers, die reformatorische Konzentration auf die Rechtfertigung zur Würdigung der ganzen Schrift zu erweitern, wodurch eine bessere Integration des Alten Testaments möglich wurde. P RAGMATIK - Humanismus und Reformation stehen in der Auslegungstradition der biblisch-christlichen Interpretationsgeschichte. Beide konzentrierten sich auf die Erforschung des Wortsinns und trugen damit zu einem Entwicklungsschub der wissenschaftlichen Methodik bei. - Auch die Reformation hielt am Geviert Schrift, Schriftauslegung, (Bekenntnis-)Tradition und Kirche fest, wenngleich die Schrift eine Vorrangstellung erhielt. - Luthers Bibelkritik, verstanden als christologische Sachkritik, ist theologisch notwendig. § 8 S CHRIFTAUSLEGUNG UND S CHRIFTVERSTÄNDNIS IM Z EITALTER DER G E - GENREFORMATION 39 Die dogmatischen Entscheidungen des Konzils von Trient führten nach P. Stuhlmacher dazu, dass „die katholische Exegese und die Fortentwicklung der Hermeneutik im Katholizismus […] für Jahrhunderte gelähmt“ wurden. 40 Ebenso skeptisch kommentiert er die evangelische Situation jener Zeit: die altprotestantische Verbalinspirationslehre, die Verkümmerung der historischen Forschung und die Lebensferne der konfessionellen Dogmatik „beraubte sie [die Bibelinterpretation] des Einflusses auf die nunmehr in Gang kommenden hermeneutischen Entwicklungen“. 41 Erst der Pietismus Philipp 38 P. Stuhlmacher beschreibt das reformatorisch-modifizierte Geviert nun als Schrift, Schriftauslegung, Bekenntnistradition und Kirche. Die Tradition wird also im Bekenntnis zusammengefasst, PSt 99f. 39 PSt 109-123. 40 PSt 109. 41 PSt 118. P. Stuhlmacher erwähnt als Vorboten dieser nunmehr in Gang kommenden hermeneutischen Entwicklungen das rationalistische Verständnis der Sozinianer, die <?page no="178"?> 178 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Jakob Speners gab nach P. Stuhlmacher die Bibelauslegung wieder zurück an „eine Lebensdimension, wie sie uns zuletzt bei Luther selbst und zuvor bei Augustin begegnet ist“. 42 P RAGMATIK - Sowohl die Entwicklungen im gegenreformatorischen Katholizismus wie auch der zeitgleichen altprotestantischen Orthodoxie führten zu einer Erstarrung der Hermeneutik, indem die Dimensionen der Geschichte und der aktuellen Lebens- und Glaubenswirklichkeit ausgeblendet wurden. - Speners Programmentwurf setzte gegenüber konfessionalistischen Verengungen auf eine wünschenswert praktische, geistliche und gemeinschaftsbezogene Schriftauslegung. § 9 A USEINANDERSETZUNGEN UM DIE NEUE H ERMENEUTIK IM 18. J AHRHUN - DERT 43 In Gestalt von Pietismus und Rationalismus stehen sich die beiden führenden Richtungen des 18. Jh.s gegenüber: Die Leistungen des Rationalismus sieht P. Stuhlmacher vor allem in der textkritischen Forschung und der Bearbeitung der historischen Dimension biblischer Texte. Allerdings lieferte er dabei die Schriftinterpretation der Vernunft aus, verlor die Einheit der Schrift und die Bedeutung des Alten Testaments aus den Augen und ignorierte insgesamt den Stellenwert der Bibel als Lehr- und Lebensbuch der Kirche. Der Pietismus hingegen favorisierte eine glaubensgemeinschaftliche Schriftinterpretation und wurde damit „zum eigentlichen Platzhalter jener reichen kirchlichen Auslegungstradition, die mit dem Rationalismus zu versinken drohte“. 44 Allerdings vermochte der Pietismus nicht vielmehr zu bieten „als eine vorläufige, in vielem ungeklärte Synthese von orthodoxen hermeneutischen Prinzipien und neuzeitlichen Denk- und Glaubensbedürfnissen“, daher „kann seine Hermeneutik noch nicht als die für die Zukunft eigentlich wegweisende Auslegungslehre der Kirche verstanden werden; dies gilt sowohl für das 18. Jahrhundert als auch für die Gegenwart“. 45 Kritisiert wird die pietistische Methodisierung der Wiedergeburt und die Aufspaltung in eine historische und eine unkritische Schriftbetrachtung. Positiv würdigt P. Stuhlmacher die pietistische Verbindung von Schriftinterpretation und Glaube, das Engagement zur Bibelverbreitung sowie den Beitrag zur kritischen Textforschung. historische Bibelerklärung von Grotius, die historisch-kritische Forschung Spinozas und die Bibelkritik Simons. 42 PSt 123. 43 PSt 123-143. 44 PSt 132. 45 PSt 133. <?page no="179"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 179 P RAGMATIK - Sowohl der kirchenkritische Rationalismus als auch der wissenschaftskritische Pietismus verschärften im 18. Jahrhundert das Problem der Verbindung von Glaube, Schriftauslegung und Geschichte. Daraus resultiert in erheblichem Maß der Konflikt um die aktuelle Schrifthermeneutik. § 10 D IE S UCHE NACH DER HERMENEUTISCHEN S YNTHESE IM 19. J AHRHUNDERT 46 Die historische Betrachtungsweise hatte sich zu Beginn des 19. Jh.s durchgesetzt, es fehlte aber ein hermeneutisches Gesamtsystem, welches einer sachgerechten Bibelinterpretation als Synthese von Wissenschaftlichkeit und theologischem Verständnis gerecht werden konnte. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher erreichte zum ersten Mal seit der Reformation wieder solch eine Synthese von Wissenschaft und Kirchlichkeit. Kritisch sieht P. Stuhlmacher jedoch dessen Vernachlässigung der Inspirationslehre und die Abwertung des Alten Testamentes. 47 Bereits Friedrich Lücke antwortete darauf mit der Forderung einer christlichen Philologie. Die Mythenkritik von David Friedrich Strauß erwirkte endgültig die Wissenschaftsfeindlichkeit des Pietismus und führte zu einem Dilemma zwischen theologischer Forschung und Gemeindetheologie. 48 Ferdinand Christian Baur gelang mit seiner Doppelbewegung zwischen Theologie und Exegese ein Syntheseansatz, indem die Exegese „ihr historisch-kritisches Geschäft bewußt theologisch“ betreiben sollte. 49 Albrecht Ritschls Aufarbeitung einiger Einzelfragen des Baurschen Entwurfs blieb „teilweise unerledigt liegen“. 50 Johann Tobias Becks biblizistischen Ansatz kritisiert P. Stuhlmacher, weil dessen Stringenz nur durch die Verschlossenheit gegenüber den geschichtlichen Erkenntnisprozessen seiner Zeit erreicht wurde. Die gleiche Kritik trifft auch Johann Christian Konrad von Hofmann. Martin Kählers Brückenschlag zwischen kirchlicher Glaubenstradition und historischer Forschung als Synthese von Wissenschaft und Kanon bedarf nach P. Stuhlmacher „noch der genaueren Entfaltung und Bewährung“. 51 46 PSt 143-161. 47 „Die allgemeine Hermeneutik saugt bei Schleiermacher das spezifische Problem des Verständnisses des Evangeliums in sich auf“, PSt 148. 48 „Dem Pfarrer rät er [D.F. Strauß], das Dilemma als das geistige Geschick der Stunde durchzustehen und so lange als möglich zu versuchen, sich den Glaubensvorstellungen der Gemeinde anzupassen und trotzdem bemüht zu bleiben, das Volk zur Höhe des religiösen Begriffs zu erheben“, PSt 151. 49 PSt 153. 50 PSt 155. 51 PSt 160. <?page no="180"?> 180 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher P RAGMATIK - Die Suche nach einer Synthese zwischen Wissenschaft und Kirchlichkeit konnte im 19. Jh. noch nicht gefunden werden. Bei Strauß einerseits und Beck und Hofmann andererseits lässt sich die Divergenz dieser beiden Pole in ihrer ganzen Breite fassen. - Die von Schleiermacher, Baur und Kähler begonnenen Syntheseversuche müssen weiter präzisiert werden. § 11 H ERMENEUTISCHE T ENDENZEN UND D IVERGENZEN ZU B EGINN DES 20. J AHRHUNDERTS 52 Die Zeit von 1900 bis zum ersten Weltkrieg sieht P. Stuhlmacher durch eine „Reduplikation der divergierenden Tendenzen des 19. Jahrhunderts“ bestimmt 53 , obwohl die Erkenntnisse der religionsgeschichtlichen Forschung von Hermann Gunkel, Johannes Weiß und Adolf Deißmann durchaus zu einer neuen biblischen Hermeneutik hätten führen können. 54 Hingegen trieben Franz Overbeck und William Wrede den radikalen Bruch zwischen Theologie und Kirche weiter voran und fügten sich somit in die breite geistige Strömung des Historismus ein, der in Ernst Troeltschs Prinzipien von Kritik, Analogie, Korrelation und Subjektivität als Säulen historisch-kritischen Forschens eine prägende Formel erhielt. 55 Wilhelm Dilthey knüpfte an Schleiermacher an und weitete die Hermeneutik zur grundlegenden Interpretationslehre der Geisteswissenschaften aus. Schließlich beleuchtet P. Stuhlmacher den Außenseiter Adolf Schlatter, der mit „bewundernswertem Scharfblick“ 56 zur Selbstkritik der historischen Kritik mahnte. Er kommt nach P. Stuhlmacher der gesuchten Synthese am Nähesten 57 , da er sowohl die historische Wahrnehmung der Schrift forderte wie auch die hermeneutischen Kategorien der Inspiration und der Mitte der Schrift neubelebte. P RAGMATIK - Eine kirchenkritische und -distanzierte Forschung beherrschte die Schriftauslegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 52 PSt 161-175. 53 PSt 161. 54 Gunkel entdeckte, dass das idealistische Konzept vom Geist als anthropologischer Größe dem biblischen Verständnis vom Geist als Geist Gottes diametral widerspricht, PSt 161. Weiß erkannte die konsequent eschatologische Dimension der Predigt Jesu, welche die immanente Reich-Gottes-Konzeption des 19. Jh.s kritisch anfragt, PSt 162. Und Deißmann fand heraus, dass das Bibel-Griechisch wesentlich der spätgriechischen Umgangssprache entsprach, PSt 163. 55 P. Stuhlmacher erwähnt an dieser Stelle auch den Kirchenhistoriker Adolf von Harnack, um das geistige Umfeld jener Zeit zu illustrieren, PSt 167f. 56 PSt 170. 57 PSt 174. <?page no="181"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 181 - Der wegweisende Ansatz Schlatters, der den Blick für die Bibel als Wort Gottes bei gleichzeitiger Forderung einer historischen Untersuchung wieder freilegen wollte, konnte sich damals nicht durchsetzen. § 12 D ER HERMENEUTISCHE N EUANSATZ DER DIALEKTISCHEN T HEOLOGIE 58 Auf dem Hintergrund der im § 11 gezeichneten Situation erwächst P. Stuhlmachers Würdigung des dialektisch-theologischen Neuansatzes von Karl Barth. Barths Interesse galt der Überwindung der Praxisferne in der Theologie und einer kritischen Prüfung der historischen Kritik. Nur so konnte die Schriftauslegung wieder sachgemäß werden, d.h. dem Wort Gottes als Offenbarung in Jesus Christus entsprechen. Die entscheidende Grenze Barths Ansatzes sieht P. Stuhlmacher in der Konfliktstellung zum modernen Wahrheitsbewusstsein. Rudolf Bultmann hingegen fand zu einer wohldurchdachten Synthese von Wissenschaftlichkeit und theologischen Fragestellungen. Weit schwerer wiegt allerdings P. Stuhlmachers Kritik 59 : Bultmann reduziere die biblische Botschaft auf den Kerygmasatz, dass der Mensch sich unter dem Aufruf des Kergymas als ein von Gott geliebter Mensch verstehen solle. Ebenso erhebe er sein Interpretationsmodell zum modernen protestantischen Auslegungsprinzip schlechthin und immunisiere es dadurch gegen Kritik. P. Stuhlmacher schließt sich Barths Kritik an, Bultmann wandle das spezifisch christliche Verstehen in ein allgemeines Verstehensprinzip um. P RAGMATIK - Die Entstehung des dialektisch-theologischen Neuansatzes war auf dem Hintergrund der Aporien zu Beginn des 20. Jahrhunderts notwendig. Barths Verdienst ist es, die Kirchlichkeit der Theologie wieder zurückgewonnen zu haben. Bultmanns Verdienst ist es, die Anschlussfähigkeit der Theologie zu den übrigen Geisteswissenschaften verfestigt zu haben. Beide jedoch werden in ihrer Ausschließlichkeit den biblischen Schriften insgesamt nicht gerecht. § 13 B ULTMANNREZEPTION UND B ULTMANNKRITIK - DIE NEUE H ERMENEUTIK 60 Im Kern der Bultmann-Aufarbeitung geht es nach P. Stuhlmacher um die Fragestellung, ob und wie die historische Kritik dem Christuszeugnis gerecht werden kann. Er greift hierzu nochmals auf seine Problemkonstruktion im § 2 zurück: Der imponierenden katholischen Bibelwissenschaft mit ihrer zuvor ungeahnten Intensität stehen sich auf evangelischer Seite disparat die radikalen Bibelkritiker und die Gegner der historischen Kritik gegenüber. 58 PSt 175-198. 59 Zu P. Stuhlmachers Bultmannkritik s.u. auch die Darstellung des § 13. 60 PSt 198-221. <?page no="182"?> 182 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Dazwischen gibt es unterschiedliche Modifizierungsansätze. P. Stuhlmacher selbst lehnt die biblizistische Position als anachronistisch ab und plädiert dafür, den Weg einer Synthesebildung weiterzugehen. Dazu wiederum ist eine Auseinandersetzung mit Bultmann unumgänglich, insbesondere mit Bultmanns Wort-Gottes-Konzeption, dem Bibel-, Mythos- und Geschichtsverständnis. Besonders die Neue Hermeneutik 61 ermöglicht nach P. Stuhlmacher eine Wegweisung über Bultmanns Aporien hinaus: Ernst Fuchs vollzog den bedeutsamen Rollentausch, nach welchem nicht der Interpret den Text auslegt, sondern der Interpret vom Bibeltext bestimmt werde. Dies fordert eine Treue zum Text. Gerhard Ebelings Beitrag besteht vor allem in der hermeneutischen Aufwertung der Kirchengeschichte als Erfahrungsschatz, „der eine über alle begrifflichen Abstraktionen weit hinausgehende Anschauung dessen gewährt, was Kirche und Glaube waren und sind“. 62 Die Bedeutung der (Wirkungs-)Geschichte für das Verstehen untermauert P. Stuhlmacher aber vor allem mit Hans-Georg Gadamer, spezifiziert jedoch dessen kulturellen Geschichtsbegriff in Blick auf die theologische Hermeneutik als kirchliche Tradition. Zur Horizontverschmelzung zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann es nur kommen, wenn wir uns in ein Einverständnis mit der Tradition begeben. Denn durch den Nexus der Tradition findet die Horizontverschmelzung zwischen Vergangenheit und Gegenwart statt. P. Stuhlmacher bezieht diese Gedanken auf die Schriftauslegung und sieht in Gadamers Ansatz ein Modell, „versunkene Dimensionen kirchlichen Textverständnisses neu zu reflektieren“. 63 Auch Paul Ricœurs Bultmannkritik befindet sich nach P. Stuhlmacher weitgehend in Einklang mit der Neuen Hermeneutik: Da Texte nach ihrer Abfassung selbständige, vom Autor gelöste Produkte sind, gehe es darum, sich den Texten unterzuordnen und ihren Vorsprung an Sinnhaftigkeit anzuerkennen. 64 Schließlich streift P. Stuhlmacher die Entwicklungen der Textlinguistik. Die strukturalistische Betrachtungsweise expliziert eine synchrone Interpretation, wodurch die biblischen Texte ihre ursprüngliche hermeneutische Bedeutung zurückerlangen, wenngleich die diachrone Interpretation weiterhin notwendig bleibt. Die Herausforderung der Rezeptionsästhetik 65 nötigt P. Stuhlmacher zu dem Hinweis, dass es für die Kirche unerlässlich bleibe, allgemeinver- 61 Zur Neuen Hermeneutik rechnet P. Stuhlmacher die beiden Theologen E. Fuchs, G. Ebeling und den Philosophen H.-G. Gadamer. 62 PSt 209. 63 PSt 214. 64 PSt 218. 65 Das Problem der Rezeptionsästhetik besteht nach P. Stuhlmacher darin, dass die individuelle Autonomie des Lesers bei der Sinnkonstruktion des Lesevorgangs zu einem Konflikt mit der allgemein kirchlichen Wertung von sachgemäßer bzw. unsachgemäßer Bibelinterpretation führen kann. <?page no="183"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 183 bindliche Interpretationsregeln aufzustellen, um eine Unterscheidung in sachgemäße und unsachgemäße Bibelinterpretationen zu ermöglichen. 66 P RAGMATIK - Die kritische Aufarbeitung des hermeneutischen Entwurfs Bultmanns führte zu folgenden Einsichten: Sachgemäßes Verstehen biblischer Texte kann nur gelingen, wenn der Vorsprung der Texte an Sinnhaftigkeit anerkannt wird und die Interpretation vom Diktat des Interpreten und seines Zeitgeistes befreit wird. Dazu ist ein Treueverhältnis zu den Texten nötig. Durch die neu gewonnene Beachtung der kirchlichen Auslegungstradition konnte wieder mehr Raum für eine theologisch engagierte, textbezogene und dogmatisch reflektierte Schriftauslegung gefunden werden. - Die Rezeption der Neuen Hermeneutik und der strukturalistischen Textinterpretation kann innerhalb der Schriftauslegung zu der erwünschten Synthese von Kirchlichkeit und Wissenschaft führen. § 14 D IE H ERMENEUTIK DES E INVERSTÄNDNISSES MIT DEN BIBLISCHEN T EXTEN 67 Der pragmatische Ertrag des § 13 mündet unmittelbar in P. Stuhlmachers eigenen Ansatz: Das biblische Wahrheitszeugnis im Dienst der kirchlichen Wahrheitsverantwortung kann vor dem Forum kritischer Zeitgenossenschaft am besten durch eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten erzielt werden. Unter dem Stichwort Einwände und Anfragen geht P. Stuhlmacher auf verschiedene Verfahren der Schriftinterpretation ein: Die katholische Position argumentiert angesichts der unterschiedlichen Aussagen der Schrift für die Institution des Lehramtes. P. Stuhlmacher nutzt dieses Argument, um für eine engere Verzahnung von Exegese und kirchlicher Dogmatik als Wiederbeachtung des Gevierts aus Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche zu plädieren. Die psychologische Interpretation der Bibel unterteilt er in zwei Richtungen. Während die perspektivische Vertiefung exegetischer Einsichten bei Gerd Theißen und Kurt Niederwimmer hermeneutisch sachgemäß vorgeht, lehnt P. Stuhlmacher Eugen Drewermanns Auslegungsverfahren ab, da es die Texte vereinnahmt und umdeutet. Die materialistische und politische Hermeneutik reagiert vor allem auf die individualistische Hermeneutik Bultmanns. P. Stuhlmacher kritisiert deren linkshegelianische Geschichtskonzeption, in welche die biblischen Traditionen lediglich eingetragen werden. Somit geschehe auch hier eine Vereinnahmung der biblischen Texte. Die feministische Hermeneutik verfolge die notwendige Aufarbeitung der Unterdrückung von Frauen im Christentum. 66 PSt 220f. 67 PSt 222-256. <?page no="184"?> 184 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Scharf kritisiert wird jedoch der Ansatz E. Schüssler Fiorenzas als „Musterfall von Tendenzkritik im Dienste eines feministischen Befreiungskonzeptes, dessen Gehalte theologisch gar nicht mehr ausdrücklich vor der Schrift und ihrem Zentrum, dem Evangelium von Kreuz und Auferweckung Jesus Christi [sic], verantwortet werden“. 68 Die kontextuelle Interpretation, wie sie heute z.B. in der Minjung-Theologie Südkoreas oder der lateinamerikanischen Befreiungstheologie anzutreffen ist, kommentiert er anhand einer Analogisierung zur Theologie der Deutschen Christen: Hermeneutische Ungeduld führe zu vorschneller Kontextualisierung und einer Respektlosigkeit vor der geschichtlich vorgegebenen Offenbarung im biblischen Wort. Schließlich geht P. Stuhlmacher auch auf neupietistische Einwände ein. Unhaltbar ist es für ihn, dass diese Strömung weiterhin der historischen Kritik ihre Anerkennung verweigert. Damit erweist sich das Bibelverständnis des Neupietismus sowohl als ungeschichtlich wie auch als unevangelisch. Denn mit 2Tim 3,16 ist die historische Kritik zum Nutzen der Kirche sinnvoll einsetzbar. 69 Wie sieht nun Stuhlmachers Durchführung dieses hermeneutischen Programms konkret aus? Ausgangspunkt ist die sich selbst auslegende und in der Kirche gepredigte Schrift, die von sich aus Autorität besitzt. Durch die auf Christus bezogenen Verheißungen bilden Altes und Neues Testament einen untrennbaren Zusammenhang. Christus ist die Mitte der Schrift, wie er von den Aposteln überliefert wurde. Die Auslegung muss durch das Sachinteresse orientiert werden, Zeugnis zu geben und philologisch sauber zu arbeiten. Mit der hermeneutischen Kategorie des Vernehmens werden die Möglichkeiten und Grenzen der historischen Kritik ausgelotet. Sie ist nur unter dem Vorbehalt einsetzbar, dass Kritik, Analogie, Korrelation und Subjektivität in Einklang mit dem Vernehmen stehen. Den Methodenschritt der Sachkritik verteilt er auf drei grundlegende Auslegungsschritte: - Im ersten Auslegungsschritt, der Interpretation auf der Ursprungsebene, sollte Sachkritik möglichst lange zurückgehalten werden, bis ein Verstehen der Textbotschaft gewährleistet ist. Sachkritik ist hier nur „aus der Beteiligung an der von den Texten selbst vertretenen Sache“ möglich. 70 - Im zweiten Auslegungsschritt, der Interpretation im Gesamtzusammenhang des biblischen Kanons, erfolgt vom Maßstab der Mitte der Schrift aus eine Neubewertung der biblischen Texte. 71 - Im dritten Auslegungsschritt schließlich, der wirkungsgeschichtlich reflektierten Interpretation im Lichte des Dogmas, ist der Text in Bezug auf die Glaubenstradition auszulegen. Parallel zur katholischen Lehramtsinstitution erscheint hier das Bekenntnis als Wegmarkierung, freilich als norma 68 PSt 236. 69 Vgl. PSt 225-240. 70 PSt 248. 71 PSt 249. <?page no="185"?> 8.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 185 normata. 72 Vor allem für eine Sachkritik auf der dritten Ebene bedarf es nach P. Stuhlmacher der intensiven Zusammenarbeit zwischen Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik und Ethik. Abschließend lenkt P. Stuhlmacher den Blick auf die Kirche als Ort der Bewährung der Auslegungspraxis. Durch die Textmeditation im Stil der Hauskreis-Arbeit 73 soll der Wahrheitsvorsprung der biblischen Texte anhand der drei obigen Auslegungsschritte nachgedacht werden. Außerdem will die Hermeneutik des Einverständnisses eine Anleitung sein, das biblische Wahrheitsverständnis öffentlich und zugleich aktuell auszulegen. Beides zusammen, Textmeditation und öffentliche Verkündigung ermöglichen ein Leben mit der Bibel aus dem gewünschten Gehorsam des Glaubens heraus, ein Leben aus und für die Versöhnung. Damit kehrt P. Stuhlmacher zur Ausgangssituation seiner Hermeneutik zurück, dem Wunsch, einen Versöhnungsbeitrag zwischen wissenschaftlicher und evangelikaler Schriftauslegung zu leisten. 74 P RAGMATIK - Eine Hermeneutik des Einverständnisses ist am besten geeignet, dem Auftrag einer kirchlichen Auslegung biblischer Texte sowie der wissenschaftlichen Verpflichtung der Schriftauslegung gerecht zu werden. - Die katholischen Anfragen zur evangelischen Schriftauslegung sind ernst zu nehmen, das Vakuum interpretatorischer Unverbindlichkeit muss durch die Orientierung am Bekenntnis als Kurzfassung bewährter Glaubenstradition überwunden werden. - Die Schwäche der politischen, feministischen, kontextuellen und z.T. der psychologischen Schriftauslegung liegt in der Vereinnahmung und Umdeutung der biblischen Texte. Dies kann nicht sachgerecht sein. Die Verweigerung des Neupietismus, die historische Kritik als sachgemäße Methode anzuerkennen, erwächst aus einem unevangelischen und ungeschichtlichen Bibelverständnis. - Die Kategorie des Vernehmens muss den Maßstab für die Anwendbarkeit der historischen Kritik bilden. Sachkritik ist nur von der Sache, d.h. der Mitte der Schrift selbst möglich. Sonst verfällt die Interpretation der Willkür des Zeitgeistes. - Die Kirche ist der zentrale Ort, an dem sich die Auslegungspraxis zu bewähren hat. - Aus der Beschäftigung mit der hl. Schrift in Meditation und Verkündigung erwächst die Freiheit, von und für die Versöhnung zu leben. 72 Mit dieser Präzisierung konzentriert sich die allgemeine Tradition auf das kirchliche Bekenntnis als Kurzzusammenfassung bewährter Glaubenstraditionen, PSt 251. 73 Die Textmeditation soll mit einer Zeit der Stille und Raum für das Gebet beginnen, PSt 254. 74 Vgl. das Vorwort zur zweiten Auflage, PSt 7. <?page no="186"?> 186 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher 8.2 Ideologiekritische Untersuchung I DEOLOGIE ALS E RZÄHLSTRUKTUR : 8.2.1 Dualismen Erster Dualismus: Wissenschaft versus Kirchlichkeit (Dualismustyp 2) P. Stuhlmacher zeichnet die Geschichte der Bibelinterpretation vor allem als Problemgeschichte zwischen Synthese und Bruch von Wissenschaft und Kirchlichkeit nach. Dabei versteht er unter Wissenschaft weniger die akademische Verortung als die Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen des jeweiligen Zeit- und Wahrheitsbewusstseins. Bis einschließlich der Reformation konnte die Synthese von Wissenschaft und Kirchlichkeit im Ganzen gewahrt bleiben, mit der Konfessionalisierung und besonders dem Rationalismus zerbrach sie. Dieser Bruch steigerte sich bis zur Diastase gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und soll mit seinem eigenen Ansatz nun überwunden werden, der auf der Neuen Hermeneutik, Ricœur und der vom Strukturalismus geprägten synchronen Interpretation aufbaut. 75 P. Stuhlmacher stützt seine Argumentation mit dem Verweis auf zentrale Positionen der Theologiegeschichte. 76 Ebenso benennt er Ansätze, die dem Maßstab einer Synthese von Wissenschaft und Kirchlichkeit nicht entsprechen. 77 Zweiter Dualismus: Wissenschaftlichkeit als historische Kritik versus dogmatische Orientierung (Dualismustyp 2) In Verbindung mit dem ersten Dualismus beschreibt P. Stuhlmacher den Konflikt um die Schriftinterpretation in der Spannung von Wissenschaftlichkeit als historisch-kritisches Vorgehen und der Subsumierung der Bibelauslegung unter die Dogmatik. Vorbereitet durch die Sozinianer, Grotius und Spinoza emanzipierte sich zunehmend die Exegese mittels der historischen Kritik von der Dogmatik. Bei Semler, Strauß, Overbeck, Wrede und Troeltsch stehen sich exegetische Forschung und dogmatische Tradition unversöhnlich gegenüber. Bultmanns Programm der existentialen Interpre- 75 PSt 222. 76 Dies sind Origenes, Augustin, Erasmus, Luther, Calvin, Schleiermacher, Baur, Schlatter, die katholische Exegese seit dem II. Vatikanischen Konzil sowie Fuchs und Ebeling. 77 Den Aspekt der Kirchlichkeit sieht er vernachlässigt bei den Sozinianern, Spinoza, Wettstein und insbesondere bei Semler, Strauß, Overbeck, Wrede, Troeltsch sowie Bultmann. Den Aspekt der Wissenschaftlichkeit sieht er vernachlässigt innerhalb der Lehrentscheidungen des Tridentinums, bei Flacius, z.T. im Pietismus, bei Beck und von Hofmann sowie Barth. <?page no="187"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 187 tation, die dogmatisch-kirchliche Formeln in allgemein-anthropologische Aussagen überführt, partizipiert nach P. Stuhlmacher an dieser Linie. 78 Die entgegengesetzte Position ist durch Flacius vorbereitet, dessen Darstellung durch die Erwähnung pointiert wird, er kritisierte die bereits im 2. Jh. entstandene Vermischung biblischer und philosophischer Auslegungsprinzipien. Vor allem die altprotestantische Orthodoxie und die konfessionelle Theologie des 19. Jh.s - Beck und von Hofmann - entzogen sich einer intensiven Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen ihrer Zeit und führten somit die Theologie in die Isolation. Barths Ansatz einer nachkritischen Schriftauslegung nimmt nach Stuhlmacher diese Linie auf. 79 P. Stuhlmacher möchte diese beiden Linien durch seine Hermeneutik des Einverständnisses wieder zusammenführen. Dritter Dualismus: Wissenschaftliche Schriftauslegung versus evangelikale Schriftauslegung (Dualismustyp 2) Der dritte Widerpart der Wissenschaft wird im Untersuchungstext als die evangelikale Schriftauslegung beschrieben. Sie unterscheidet sich von der Dogmatik des zweiten Dualismus dadurch, dass sie ihre Auslegungsweise nicht vor der kirchlichen Glaubenstradition verantwortet. 80 P. Stuhlmacher sieht in den Radikalismen des Rationalismus und der liberalen Theologie Ursachen für die Wissenschaftsfeindlichkeit dieses Auslegungstypus. 81 Mit seiner Hermeneutik des Einverständnisses sucht P. Stuhlmacher einen Weg zu beschreiben, der „sowohl von den sog. Evangelikalen als auch von den stärker der herkömmlichen wissenschaftlichen Kritik Verpflichteten beschritten werden“ kann. 82 Allerdings blieb der Erfolg dieses Bemühens nach P. Stuhlmacher selbst bis dato aus. Vierter Dualismus: Eindeutige Einstimmigkeit versus widersprüchliche Mehrstimmigkeit (Dualismustyp 1) P. Stuhlmachers Interesse an homogen-harmonisierter Klarheit äußert sich deutlich in seiner Wertung der katholischen Bibelauslegung: Sie hat „von je her die Kraft und Beweglichkeit gehabt, den Umbrüchen in der Geschichte 78 Bultmanns existentiale Interpretation steht zwar im deutlichen Gegensatz zum exegetischen Programm des Historismus, PSt 202, seine Intention einer allg. anthropologischen Verstehenslehre verbindet ihn jedoch mit der Emanzipation von der dogmatischen Bestimmung biblischer Textaussagen, PSt 195. 79 PSt 185f. 80 PSt 34. 81 PSt 149. Vgl.: „Der bibelgläubige Pietismus hat sich seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert stets mit der wissenschaftlichen Verpflichtung der Theologie schwergetan und war immer in Gefahr, aus der Verantwortung der geistigen Zeitgenossenschaft in den Separatismus und ein kirchliches Konventikeltum auszubrechen“, PSt 33. 82 PSt 7. <?page no="188"?> 188 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher zu folgen, ohne aus dem von der Inspirationslehre markierten Zirkel des Verstehens und Hörens ausbrechen zu müssen. Mit seinem insgesamt kühnen bewährten Interpretationsmodell fordert der Katholizismus die Protestanten noch heute in die Schranken, und zwar um so entschlossener und selbstbewußter, je hypothetischer die exegetische und hermeneutische Thesenbildung auf protestantischer Seite in den letzten Jahren geworden ist“. 83 P. Stuhlmachers Durchgang durch die Auslegungsgeschichte der Schrift zeigt die Vorzüge klarer Eindeutigkeit und Einheitlichkeit auf. Beispielsweise schützte die kanonische Definition des Schriftumfangs die Kirche vor Häresien und Identitätszerfall. Tertullians Verdienst um die Einheit und Kontinuität der Kirche fußte auf der Einsicht, „daß eine dogmatisch unkontrollierte Schriftauslegung sich im Verlaufe ihrer Arbeit an ihre eigenen partiellen oder ganz unreflektierten Interessen verlieren kann“. 84 Hingegen führt eine unübersichtliche Pluralität stets zu Unglaubwürdigkeit, Spaltung und Schwächung: So konnte der kritische Richard Simon seine Ablehnung der evangelischen Position mit den „schreienden Differenzen der protestantischen Bibelauslegung“ untermauern. 85 Die Missachtung der gemeinsamen und verbindenden Tradition durch einige theologische Richtungen des 18. Jh.s und 19. Jh.s trug maßgeblich dazu bei, dass der Pietismus nur sehr fragmentarisch in den Wissenschaftsprozess integriert werden konnte. 86 Auch heute setze die Kirche des Wortes ihren Titel durch tiefgreifende interne Differenzen aufs Spiel. 87 P. Stuhlmacher ist bestrebt, die beschriebene katholische Stringenz und Homogenität evangelisch einzuholen: Die evangelische Tradition in der verbindlichen Form des Bekenntnisses muss wieder zur gemeinsamen und einheitsstiftenden Basis protestantischer Identität erhoben werden, freilich mit dem evangelischen Vorbehalt als norma normata. 88 Fünfter Dualismus: Unterordnung der Interpretation versus Vorrang des Interpreten (Dualismustyp 1) P. Stuhlmacher versteht seinen Ansatz als eine Hermeneutik, „die sich […] von der Schrift her aufdrängt“. 89 Diese Grundorientierung impliziert eine kritische Wertung hermeneutischer Zugänge, die die emanzipatorische Autonomie der InterpretInnen fördern: So entstand mit Troeltsch und des- 83 PSt 59. 84 PSt 85. 85 PSt 121. 86 PSt 149. 87 PSt 20. P. Stuhlmacher belegt diese Behauptung anhand der Lutherbibel erklärt: „Die kommentierenden Beigaben zum Luthertext sind von recht unterschiedlicher Tendenz und weisen das eine Mal bibelwissenschaftliche Erkenntnisse als inkompetent ab, während im nächsten Beitrag eben solche Erkenntnisse sorgsam registriert und verarbeitet werden“, PSt 21. 88 PSt 251. 89 PSt 7. <?page no="189"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 189 sen Formung der historischen Kritik ein tödlicher Konflikt zwischen Wissenschaft und kirchlicher Tradition, indem er die biblischen Texte als Zeugnis der Geschichte dem Vernunfturteil des Forschers unterwarf. 90 Ebenfalls kritisch, wenngleich vorsichtiger in der Wortwahl, betrachtet P. Stuhlmacher die rezeptionsästhetische Perspektive, da sie die Wertung einer Interpretation beim Leser verortet und die theologisch notwendige Einbindung in die biblische und kirchliche Tradition ignoriert. 91 Die Gefahr der Vereinnahmung bzw. eine faktische Unterwerfung der Texte unter die Interpretation kritisiert P. Stuhlmacher an der psychologischen Bibelauslegung und verschiedenen kontextuellen Interpretationen. 92 Mit Verweis auf Luther wird hingegen der Anspruch der Vernunftautonomie in Bezug auf die Schriftauslegung relativiert. 93 P. Stuhlmacher fordert die Ausrichtung der Interpretation am Maßstab der Bibel sowie der kirchlichen Tradition. Bestätigt sieht er sich durch ausgewählte neuere hermeneutische Entwicklungen, namentlich E. Fuchs, G. Ebeling, P. Ricœur und H.-G. Gadamer. P. Stuhlmacher resümiert: „Die biblische Exegese verurteilt sich selbst zur kirchlichen Wirkungslosigkeit, wenn sie meint, sich ihre hermeneutischen Maßstäbe aus eigener Autorität geben zu sollen; sie tut viel besser daran, sorgsam auf die Tradition zu achten, in der sie steht“. 94 Sechster Dualismus: Christologische Integration des Alten Testaments versus Verdrängung des Alten Testaments (Dualismustyp 1) P. Stuhlmachers Intention einer Wahrnehmung der gesamtbiblischen Tradition wendet sich kritisch gegen Tendenzen, das Alte Testament aus der kirchlichen Schriftinterpretation zu verdrängen. Deshalb verwirft er die „Fehldeutung des Alten Testaments und seine Ablehnung durch Markion“ 95 sowie die Abwertung im Rationalismus 96 , bei Schleiermacher 97 und Bultmann. 98 Nach dem Selbstverständnis des Neuen Testaments bilden Altes und Neues Testament eine unauflösliche Einheit: 99 Die Erscheinung Christi kann erst im Licht des Alten Testaments richtig verstanden werden, umgekehrt wird erst in Jesus Realität, was im Alten Testament als Erlösung be- 90 PSt 25. 91 PSt 220. 92 Siehe unten Siebter Dualismus. 93 PSt 17. 94 PSt 224. 95 PSt 39 (Überschrift! ). 96 PSt 132. 97 PSt 148. 98 PSt 201. 99 PSt 35. <?page no="190"?> 190 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher schrieben wird. 100 P. Stuhlmacher verweist besonders auf die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament bei Ambrosius, Reuchlin, Luther und Calvin 101 , von Hofmann sowie Schlatter. Das reformatorische Prinzip der Mitte der Schrift reformuliert P. Stuhlmacher daher unter besonderer Berücksichtigung des Alten Testamentes. 102 Siebter Dualismus: Sachgemäße Schriftauslegung versus unsachgemäße Schriftauslegung (Dualismustyp 1) Die Positionierung P. Stuhlmachers innerhalb der skizzierten Dualismen führt schließlich zum entscheidenden Dualismus, der Aufspaltung in sachgemäße und unsachgemäße Formen der Schriftauslegung. Bereits mit dem ersten Satz der Einführung führt er den elementaren Stellenwert des Kriteriums sachgemäß ein. 103 Eine Bibelinterpretation kann nur dann sachgemäß sein, wenn zwei Hauptkriterien erfüllt sind: Sie muss zum einen vor der kirchlichen Tradition verantwortet werden und zum anderen vor dem Forum der Wissenschaft vertretbar sein. Im Kern geht es also um die Frage nach der richtigen Verhältnisbestimmung innerhalb des Gevierts aus Schrift - Schriftauslegung - Tradition - Kirche. Der offizielle röm. Katholizismus hat im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils zu einem bewährten Interpretationsmodell gefunden, wenngleich der lehrenden Kirche tendenziell immer noch ein Vorrang vor der Schrift eingeräumt wird. 104 Dieser Weg ist zwar nach P. Stuhlmacher für den Protestantismus theologisch nicht gangbar, dennoch fordern die katholischen Anfragen an die evangelische Schriftauslegung eine stärkere Berücksichtigung der Dogmatik sowie der evangelisch-kirchlichen Tradition. 105 P. Stuhlmacher begegnet diesen Anfragen mit seiner „[w]irkungsgeschichtlich reflektierten Interpretation im Lichte des Dogmas“. 106 Innerhalb der Darstellung seines eigenen Ansatzes kritisiert Stuhlmacher gegenwärtige Positionen der Schriftauslegung, die er für unsachgemäß hält: So wird die psychologische Schriftauslegung dort unsachgemäß, 100 P. Stuhlmacher formuliert diese christologische Interpretation des Alten Testamentes im Bewusstsein des Dissenses zwischen Juden und Christen, weshalb sie „im kritischen Gespräch mit dem Judentum immer neu bewährt werden muß“, PSt 47. 101 Stärker noch als Luther hob Calvin nach P. Stuhlmacher in seiner Föderaltheologie die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament hervor, PSt 105. 102 Die Mitte der Schrift beschreibt P. Stuhlmacher als „Zeugnis der ganzen Schrift aus Altem und Neuem Testament […] von dem einen Gott, der als Schöpfer der Welt Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt, und durch seinen Sohn, den Messias Jesus von Nazareth, in verheißungsvoller Endgültigkeit zum Heil aller Sünder aus Juden und Heiden gehandelt hat“, PSt 249. 103 „Kein evangelischer Christ und vor allem kein Theologe kann darauf verzichten, sich über den sachgemäßen Umgang mit der hl. Schrift Rechenschaft abzulegen“, PSt 17. 104 PSt 59. 105 PSt 227. 106 PSt 250 (Überschrift! ). <?page no="191"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 191 wo die biblischen „Texte nicht mehr hinreichend vor dem Zugriff eigenmächtiger religiöser Interessen und Illusionen geschützt werden“. 107 Der Vorwurf der Vereinnahmung trifft ebenso die politische bzw. materialistische Hermeneutik 108 , den feministischen Ansatz E. Schüssler Fiorenzas 109 und insgesamt die kontextuelle Bibelinterpretation 110 . Für ebenso unsachgemäß hält er aber auch die neupietistische Position, weil sie sich einer möglichst unbestechlichen Methoden- und Gegenstandskritik verweigert, wie sie die historische Kritik bereitstellt. 111 P. Stuhlmachers eigener Ansatz erscheint daraufhin als die sachgemäße Bibelinterpretation, welche sowohl die kirchliche Tradition in den Auslegungsvorgang angemessen integriert, dem von der Sache her gebotenen Zusammenhalt von Altem und Neuem Testament gerecht zu werden versucht und sich schließlich ihrer wissenschaftlichen Verpflichtung bewusst ist. 112 8.2.2 Mythische Aktanten P. Stuhlmachers grundsätzliches Interesse, die Hermeneutik biblischer Texte als kirchliche Hermeneutik zu orientieren, drückt sich durch mythische Aktanten aus: - „D ER NATÜRLICHE O RT für solche Schriftauslegung ist das Leben der Kirche“. 113 - „[V]or einer Verschränkung historischer und dogmatischer Urteile darf DIE KIRCHLICHE A USLEGUNG der Schrift allerdings nicht zurückschrecken“. 114 107 Diese Kritik zielt vor allem auf Drewermanns methodischen Ansatz, nicht jedoch auf Theißen und Niederwimmer, PSt 227-231 (Zitat: 230). 108 „Indem die politische Hermeneutik ihr (linkshegelianisches) Theorie-Praxis-Modell exegetisch zur Anwendung bringt, wird nur eine neue Spielart jener Hermeneutik praktiziert, die sich die biblische Tradition eklektisch anverwandelt, um sich von dem inaktuell und rückständig erscheinenden ‚Rest‘ zu emanzipieren“, PSt 233. 109 Während P. Stuhlmacher das allgemein-feministische Anliegen, die Geschichte der christlichen Frauenunterdrückung aufzuarbeiten, akzeptiert, lehnt sein Programm einer Hermeneutik des Einverständnisses deutlich feministische Hermeneutiken ab, die mit externen Kriterien arbeiten: „Man kann nur hoffen, daß sich die an der Frauenfrage positiv Interessierten nicht auf dieses im Grund schon wieder unkritische Verfahren einlassen“, PSt 236. 110 Die kontextuelle Interpretation löst nach P. Stuhlmacher die Schriftaussagen aus ihrem ursprünglichen Kontext, verfremdet sie durch neue Bezugsrahmen und wertet sie schließlich „ungehemmt positiv oder auch negativ“, PSt 237. 111 P. Stuhlmacher resümiert in Blick auf die Ablehnung der historischen Kritik durch den Neupietismus: „Wer den biblischen Texten diese Durch- und Übersicht [bezüglich der hist. Kritik] verweigert, gibt der Bibel nicht, was ihr gebührt, nämlich das Recht auf ihren geschichtlichen Standort und ihre geschichtliche Eigenart“, PSt 239. 112 Vgl. unten 8.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken. 113 PSt 8. 114 Ebd. <?page no="192"?> 192 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Ebenso führt P. Stuhlmacher zentrale Aspekte seiner Argumentation mit mythischen Aktanten ein: - So formuliert er die Notwendigkeit hermeneutischer Reflexion mit mythischen Aktanten: „K EIN EVANGELISCHER C HRIST und vor allem KEIN T HEOLOGE kann darauf verzichten, sich über den sachgemäßen Umgang mit der hl. Schrift Rechenschaft abzulegen“. 115 - Ebenso benennt er durch mythische Aktanten maßgebliche Vorraussetzungen einer sachgemäßen Auslegung: „D IE BIBLISCHE H ERMENEUTIK muß sich vor allem anderen an den durch die Bibel selbst gesetzten hermeneutischen Maßstäben orientieren“. 116 - Unumgänglich ist hierfür die biblische Vorstellung von Inspiration: „Wieder steht die T RADITION DER S CHRIFTINSPIRATION also im Dienste der Hermeneutik des Glaubens“. 117 - Die notwendige Synthese von Wissenschaft und Tradition formuliert er mittels der Leserintegration in die eigene Position: „Wollen WIR bei der Bemühung um ein sachgerechtes Verständnis der hl. Schrift weiterkommen, müssen wir fortan von einer doppelten Einsicht ausgehen: [Stuhlmacher beschreibt im folgenden die Bibel unter geschichtlicher und kanonischer Perspektive]“. 118 - Seine eigene Suche nach einer gelingenden Synthese reiht er in den christlichen Traditionszusammenhang ein: „D IE T HEOLOGIE ist vielmehr in allen Lagern immer wieder um eine vor dem Wahrheitsgewissen und vor der christlichen Tradition verantwortbaren Synthese von kritischer Schriftauslegung und aktueller Glaubensbezeugung bemüht gewesen“. 119 Weiterhin stützt P. Stuhlmacher seinen biblisch-theologischen und wirkungsgeschichtlichen Ansatz durch mythische Aktanten: - „D AS N EUE T ESTAMENT LÄßT SICH vom Alten nicht isolieren, und das Alte Testament findet kirchlich sein entscheidendes Ziel und seinen Verstehensschlüssel im Neuen Testament“. 120 Mit mythischen Aktanten stellt P. Stuhlmacher ebenso ökumenische Bezüge her: - „E S HANDELT SICH um heute ökumenisch unausweichlich zur Lösung anstehende Probleme“. 121 115 PSt 17. Ebenso: „E S IST NICHT RATSAM , den noch immer ungeschlichteten Streit um die sachgemäße Auslegung der hl. Schrift auf die leichte Schulter zu nehmen“, PSt 24. 116 PSt 35. 117 PSt 55. 118 PSt 47. 119 PSt 222. 120 PSt 17. Ebenso: „Die (überlieferungs-)geschichtliche Betrachtungsweise biblischer Texte und der neutestamentliche Christusglaube LASSEN SICH auf ganz organische Weise miteinander VERBINDEN “, PSt 47. 121 PSt 24. <?page no="193"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 193 Besonders bedeutsam für die Argumentationsführung ist schließlich P. Stuhlmachers Darstellung der Auslegungsgeschichte zur Bibel, welche durch mythische Aktanten gelenkt wird: - Demnach erscheint die Zeit bis 1500 n. Chr. als Orientierungsgröße: „Was zunächst die Leistungen anbelangt, IST ES NOTWENDIG FESTZUSTELLEN , daß in den Jahrhunderten, die wir überflogen haben, der Rahmen und die Grundmöglichkeiten kirchlicher Schriftauslegung ausgebildet und zugleich lehrreich erprobt worden sind“. 122 - Dem schließt er Luthers Ansatz in dessen Klarheit an: „Berücksichtigt MAN , daß Luther ausgeht von einer ihn im Gewissen befreienden, ermutigenden Begegnung mit dem aus sich selbst heraus einleuchtenden Schriftwort, verstehen sich die Hauptakzente seines Schriftverständnisses ganz von selbst“. 123 - Es folgt die Zeit des Bruchs von Wissenschaft und Kirchlichkeit 124 sowie die gescheiterten Syntheseversuche des 19. Jh.s und des beginnenden 20. Jh.s 125 . - Diese Krise sowie die Leistungen der Neuen Hermeneutik bilden den Ausgangspunkt für seinen eigenen Ansatz: „W ERTEN WIR DIESE E RKENNTNISSE AUS , und zwar in Hinsicht auf den Methodenweg der Interpretation, dann stehen wir vor einer erstaunlichen Einsicht. Durch die hermeneutische Diskussion der letzten Jahre haben wir wieder Raum gewonnen für eine theologisch engagierte, textbezogene und dogmatisch reflektierte Schriftauslegung“. 126 Fazit Der Untersuchungstext weist mythische Aktanten innerhalb aller Themenbereiche auf, die für die Positionsbegründung P. Stuhlmachers wichtig sind: - Die Notwendigkeit hermeneutischer Reflexion, - die kirchliche Bindung der Hermeneutik, - die Synthese von Wissenschaft und kirchlicher Tradition, - die Einheit von Altem und Neuem Testament, 122 PSt 91. 123 PSt 98. 124 „W IR KOMMEN VON DER E RKENNTNIS HER , daß sich im 18. Jahrhundert zwar die historische Betrachtungsweise der hl. Schrift durchgesetzt hat, aber noch keine überzeugende und weiterweisende Synthese von historisch-wissenschaftlichem und theologischem Verständnis der Bibel gefunden wurde“, PSt 143. 125 Vgl. zum 19. Jahrhundert: „Die Erkenntnis, VOR DER WIR NUNMEHR INSGESAMT STEHEN , ist aufschlußreich: Die Suche nach der wegweisenden hermeneutischen Synthese von historischer Kritik und protestantischem Schriftprinzip endet bei D.F. Strauß und Hofmann in einem gleichermaßen unerträglichen Dilemma“, PSt 160. Vgl. zum Beginn des 20. Jahrhunderts: „V ERSUCHT MAN SICH DIE A USGANGSLAGE ZU VERGEGEN - WÄRTIGEN , die sich für die hermeneutische Debatte in unserem Jahrhundert ergab, stößt man um die Jahrhundertwende und in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf eine genaue Reduplikation der divergierenden Tendenzen des 19. Jahrhunderts“, PSt 161. 126 PSt 221. <?page no="194"?> 194 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher - die wirkungsgeschichtliche Betrachtungsweise, - die Betonung des ökumenischen Dialogs - und die Vorbereitung des eigenen Ansatzes durch die Auslegungsgeschichte. Insgesamt stützen mythische Aktanten somit P. Stuhlmachers Argumentationsführung, wodurch die Partikularität seines Ansatzes in eine Generalisierung überführt werden soll. 8.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken Stuhlmachers Wirklichkeitsverständnis kann m.E. auf der Basis des Untersuchungstextes nur in Verbindung mit der Auslegungsgeschichte der Bibel entfaltet werden, denn Wirklichkeit und Geschichte bilden hier eine Einheit. P. Stuhlmacher beschreibt eine zusammenhängende Entwicklungslinie anhand folgender Stationen: Am Anfang der christlichen Schriftinterpretation steht die Bibel, die selbst die entscheidenden hermeneutischen Grundsätze vorgibt. - Bis zur Reformation werden die Rahmenmöglichkeiten der Schrifthermeneutik geformt, weitgehend in produktiver Synthese von zeitgenössischer Auslegungstheorie und gläubiger Kirchlichkeit. - Die Reformation bricht keineswegs mit diesem Traditionsfluss, betont jedoch den Primat der Schrift. - In den folgenden Jahrhunderten scheren die wissenschaftliche und die kirchlich-dogmatische Schriftinterpretation zunehmend auseinander. Dies schwächte die evangelische Position, blickt man vergleichend auf die Geschlossenheit und Klarheit des röm. Katholizismus. - Erst die Errungenschaften der Neuen Hermeneutik ermöglichten es dem Protestantismus, wissenschaftlich fundiert zu einem positiven Umgang mit seiner eigenen Tradition zurückzufinden und die divergierenden Ansätze zu einer evangelischen Identität zusammenzuführen. P. Stuhlmacher formiert somit Geschichte als einen kontinuierlichen Traditionsfluss. Wo mit dieser Kontinuität gebrochen wird, bilden sich Krisenerscheinungen aus, die erst wieder in Anerkenntnis der Tradition behoben werden können. Wahrheit wird im Untersuchungstext einerseits in seiner aristotelischen Prägung logozentrisch verstanden. P. Stuhlmacher spricht in diesem Zusammenhang vom kritischen Wahrheitsbewusstsein und verknüpft dieses Wahrheitsverständnis mit dem Begriff der Wissenschaftlichkeit als notwendiger Konstante der Theologie. Von qualitativ größerer Bedeutung ist allerdings ein anderes, religiöses Wahrheitsverständnis, die „zentrale Wahrheit, die Jesus Christus heißt“. 127 Durch die apostolische Tradierung und schriftliche Fixierung impliziert dies einen Wahrheitsvorsprung der biblischen Texte. 128 127 PSt 256. 128 „Das von den Aposteln überlieferte und bezeugte Evangelium ist von sich selber her die maßgebliche Mitte der Schrift, auf die hin und von der her sich alle biblischen Aussagen messen lassen“, PSt 241. <?page no="195"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 195 P. Stuhlmachers eigener Lösungsansatz ist auf dieses Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis zugeschnitten. Damit ergibt sich ein Identitätsdenken der eigenen Position zur Wirklichkeitskonstruktion: 129 Die Gesamtformation des Untersuchungstextes führt die Auslegungsgeschichte der Bibel auf P. Stuhlmachers Ansatz hin. 130 Denn der Hermeneutik des Einverständnisses gelingt die verlorene und gesuchte Synthese von Kirchlichkeit und Wissenschaftlichkeit. Somit wird der geschichtlichen Gesamtwirklichkeit der Schriftinterpretation mit diesem Entwurf Rechnung getragen. 8.2.4 Monolog P. Stuhlmacher verortet seine eigene Position selbst „in der Kontinuität des abendländischen hermeneutischen Denkens“. 131 Deshalb ist der Untersuchungstext intensiv durch Rezeptionen und Zitate mit der biblischen Auslegungsgeschichte verwoben. Dadurch entsteht insbesondere in den §§ 2 und 6-13 ein dialogischer Grundcharakter. Dialogische Züge weisen hierbei vor allem die Einleitungen zu den jeweiligen geschichtlichen Positionen auf. Die Leserschaft wird durch wir-Formulierungen mit einbezogen 132 , und die Ansätze werden diskursiv - gegebenenfalls mit ihren Leistungen und Schwächen - dargestellt 133 . Monologartige Passagen finden sich insbesondere in der Einführung, in den §§ 3-5 sowie im § 14: So beleuchtet die Einführung in monologischer Form die Hauptakzente Stuhlmachers Position. Dies sind: - die Notwendigkeit der hermeneutischen Reflexion, - die Relativierung der Vernunftautonomie in Bezug auf die Schriftinterpretation, - das Zentralkriterium des biblisch sachgemäßen Umgangs mit der Schrift, 129 „Wir werden unserer Verpflichtung gegenüber den biblischen Texten angesichts der Tradition, in der wir stehen, und inmitten des Wahrheitsbewußtseins der Gegenwart dann am besten gerecht, wenn wir uns bemühen, eine methodologisch und wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten zu praktizieren“, PSt 222. 130 P. Stuhlmacher ordnet seine Hermeneutik ein in die „Kontinuität des abendländischen hermeneutischen Denkens und speziell in der durch die Reformation präzisierten und erneuerten Tradition der ur- und frühchristlichen Schriftauslegung […] Diese Kontinuität ist für uns kein Hemmnis, sondern eine Bestätigung“, PSt 256. 131 Ebd. 132 Z.B. die Einleitung zum § 10: „Wir kommen von der Erkenntnis her, daß sich im 18. Jahrhundert […]“, PSt 143. 133 Beispielsweise führt P. Stuhlmacher in den Ansatz von Strauß ein, indem er dessen Intention positiv hervorhebt: „Strauß ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts derjenige Theologe gewesen, der im Blick auf das Neue Testament den Gegensatz von historisch-wissenschaftlicher Kritik und orthodoxem Supranaturalismus am tiefsten empfunden hat“, PSt 149. Obwohl P. Stuhlmacher keineswegs an Strauß anknüpft, resümiert er: „Was Strauß jedoch bewirkt hat, ist neben der nachhaltigen Negativwirkung auf Pietismus und Erweckung die unwiderrufliche Stimulierung des wissenschaftlich-theologischen Wahrheitsbewußtseins“, PSt 152. <?page no="196"?> 196 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher - die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament - und das Verstehen auf der Basis eines Einverständnisses. 134 Innerhalb der §§ 3-5 befinden sich große monologartige Erzählblöcke, die für P. Stuhlmachers Ansatz wichtige Aussagen formulieren: - In § 3 beschreibt solch eine Erzähleinheit 135 die Notwendigkeit der kanonischen Eingrenzung des Schriftumfangs, die Kontinuitätsgarantie der Trias Bischöfe - Apostolizität - Glaubensregel sowie die Logoslehre als Verbindungsglied zwischen Altem und Neuem Testament. - In § 4 beschreibt ein Erzählblock 136 die Bibel als geschichtliches Zeugniswerk im Zusammenhang der Inspirationsvorstellung. - Der gesamte § 5 stellt den hermeneutischen Verstehensschlüssel der Bibel monologisch dar. 137 - Und innerhalb des § 14 formuliert P. Stuhlmacher seine Darstellung zur Sachkritik sowie die Bewährung der Auslegung in der Praxis monologisch. 138 Fazit Der Untersuchungstext ist weitgehend dialogisch angelegt. Monologisch formuliert P. Stuhlmacher innerhalb seiner biblischen Grundlegung, der Darstellung der Sachkritik und der notwendigen Bewährung der Bibelinterpretation im Leben der Kirche. 134 PSt 17f. 135 PSt 36-47. 136 PSt 47-58. 137 PSt 63-76. 138 PSt 246-256. <?page no="197"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 197 I DEOLOGIE ALS A USSAGESTRUKTUR : 8.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung Schaubild H ERMENEUTIK DES E INVERSTÄNDNISSES S CHRIFT KIRCHLICHE T RADITION Leitkriterien: contra: SCHRIFTGEMÄSS V EREINNAHMUNG SACHGEMÄSS und E INHEIT VON AT UND NT U MDEUTUNG G EVIERT S YNTHESE contra: von RADIKAL - WISSENSCHAFTLICHE und W ISSENSCHAFT K IRCHLICHKEIT FUNDAMENTALISTISCHE E NTKIRCHLICHUNG HIST . K RITIK B EKENNTNIS D OGMATIK G ESCHICHTLICHKEIT und I NSPIRATION E RKENNTNIS und A NERKENNTNIS V ERNEHMEN S ELBSTAUSLEGUNG DER S CHRIFT M ITTE DER S CHRIFT S CHRIFTAUSLEGUNG IM R AUM DER K IRCHE V ERSÖHNUNG <?page no="198"?> 198 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Bemerkungen zum Schaubild P. Stuhlmachers Hermeneutik basiert auf der Notwendigkeit eines doppelten E INVERSTÄNDNISSES , der Zustimmung zur S CHRIFT und der Anerkennung der KIRCHLICHEN T RADITION als wirkungsgeschichtlicher Zugang zur Bibel. Daraus ergibt sich notwendigerweise eine SCHRIFTGEMÄSSE und SACHGEMÄSSE Auslegung. Ebenso muss sich die Interpretation an der kirchlichen Definition des Kanons orientieren, wonach das A LTE und N EUE T ESTAMENT eine E INHEIT bilden. 139 Aus der Anerkennung der kirchlichen Tradition folgt insgesamt die Beachtung des G EVIERTS aus Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche. Diese Kriteriologie dient dem Schutz der biblischen Texte vor V EREIN - NAHMUNGEN und U MDEUTUNGEN , wie es z.T. durch psychologische, kontextuelle u.a. Ansätze der Fall ist. Gegenüber einer E NTKIRCHLICHUNG der Schriftauslegung durch die RA - DIKAL - WISSENSCHAFTLICHE P OSITION auf der einen Seite und der FUNDA - MENTALISTISCHEN P OSITION auf der anderen Seite kann die sachgemäße Bibelauslegung nur durch eine S YNTHESE VON W ISSENSCHAFT UND K IRCHLICHKEIT betrieben werden. Die Wissenschaft stellt mit der Methodik der HISTORISCHEN K RITIK ein effektives Untersuchungsinstrumentarium bereit, das jedoch durch ein expliziertes Sachinteresse orientiert werden muss: Denn die biblischen Texte müssen als Zeugnistexte gelesen werden, wozu insbesondere die D OGMATIK und die bewährte Zusammenfassung der Glaubenstradition des Be- KENNTNISSES aufrufen. Die skizzierte Synthese bringt die G ESCHICHTLICHKEIT der Bibel als Grundlage der historischen Kritik in Einklang mit der biblisch und kirchlich unaufgebbaren Lehre von der I NSPIRATION . Ebenso entspricht die Verbindung von intellektueller Bibel-E RKENNTNIS und willentlicher Bibel-A NERKENNTNIS dem V ERNEHMEN dessen, was die Texte bezeugen. In Wahrung der kirchlichen Tradition spricht P. Stuhlmacher von der S ELBSTAUSLEGUNG DER S CHRIFT und DER M ITTE DER S CHRIFT als ihrem hermeneutischen Zentrum. Der natürliche Ort der Schriftauslegung ist der R AUM DER K IRCHE . Das Leben aus und mit der Schrift konkretisiert sich schließlich als Leben aus und für die V ERSÖHNUNG in allen Bereichen des Lebens. 140 8.2.6 Relevanzkriterien Die Widmung 141 , die Beschreibung des Ist-Zustandes im Vorwort 142 und die Schlussreflexionen zum Thema Versöhnung 143 führen zu P. Stuhlmachers 139 Diese Einheit sieht P. Stuhlmacher durch die christologische Schriftauslegung gewährleistet. 140 PSt 255. 141 H. Claß steht nach P. Stuhlmacher für die Bemühung, ein „Zerbrechen unserer Kirche in mehrere einander befehdete Lager“ zu verhindern, PSt 8. 142 PSt 7. 143 PSt 255f. <?page no="199"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 199 zentralem Relevanzkriterium: Die Erstellung gemeinhin akzeptabler und der Versöhnung dienender Regeln zur Schriftauslegung. Deshalb bemüht er sich, sowohl Anliegen der universitären wie auch der evangelikalen Schriftauslegung miteinander auszusöhnen. 144 Mit der universitären Position betont er die notwendige Auseinandersetzung mit dem jeweils zeitgenössischen Wahrheitsbewusstsein und die Sachgemäßheit der historischen Kritik. Mit der evangelikalen Position betont Stuhlmacher das Kriterium schriftgemäß 145 , die theoretische Unterordnung des Interpreten unter den Bibeltext 146 und die bleibende Bedeutung der Inspirationslehre 147 . Die Vermittlung, die P. Stuhlmacher anstrebt, gelingt seiner Ansicht nach nur durch eine Rückbesinnung auf die gemeinsame Basis der Tradition, d.h. die Auslegungsgeschichte der Bibel. 8.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft P. Stuhlmacher fordert einen Umgang mit der Bibel, welcher neben der Tradition vor allem der Wissenschaft verpflichtet ist - d.h., vor der kritischen Zeitgenossenschaft verantwortet werden kann. 148 Für P. Stuhlmacher gibt es „keine bessere und leistungsfähigere Auslegungsmethode für die Interpretation von sprachlichen Geschichtszeugnissen als die historische Methode“. 149 Zwar gibt er gegenüber neupietistischen Einwänden zu, dass die historische Kritik auch für Fehlleistungen der Schriftauslegung verantwortlich ist, hält dennoch eine Ablehnung der kritischen Schriftauslegung für „ungeschichtlich wie unevangelisch“, denn sie ist „eine kirchlich-missionarische Aufgabe ersten Ranges“. 150 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass für eine intersubjektiv nachprüfbare und damit wissenschaftlich kommunizier- 144 P. Stuhlmachers Engagement hierfür muss auf dem Hintergrund der Verhältnisse in der württembergischen ev.-luth. Landeskirche gesehen werden: Deren Frömmigkeitskultur ist besonders stark durch den Pietismus geprägt, der sich selbstbewusst in den kirchlichen Diskurs einbringt. Mit seinem hermeneutischen Ansatz versucht P. Stuhlmacher eine gemeinsame Gesprächsbasis für die unterschiedlichen theologischen Strömungen zu offerieren, die versöhnend auf die emotional aufgeladenen Debatten einwirken kann, PSt 7, 255f. Zur Spannung zwischen Wissenschaft und evangelikaler Schriftauslegung siehe oben 8.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus. 145 Siehe oben 8.2.5 Schlüsselbegriffe. 146 Siehe oben 8.2.1 Dualismen, Fünfter Dualismus. 147 P. Stuhlmacher grenzt sich jedoch von einer spiritistischen Inspirationsvorstellung ab, die er für unvereinbar mit der historisch-kritischen Forschung hält, PSt 56f. 148 PSt 222. 149 PSt 223. 150 PSt 240. <?page no="200"?> 200 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher bare Texterforschung die historisch-kritische Methode von zentraler Bedeutung ist. Der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik Mit Gadamer betont P. Stuhlmacher, dass Verstehen als „wirkliches Verständnis von Überlieferung [sich] nur einstellen kann auf der Basis eines Einverständnisses mit der Tradition“. 151 P. Stuhlmacher spezifiziert Gadamers kulturellen Traditionsbegriff als kirchliche Glaubenstradition in ihrer reformatorischen Ausformung. 152 Deshalb fordert er als letzten Schritt der biblischen Interpretation die Einbettung der Auslegung in den Kontext des evangelischen Bekenntnisses. 153 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die reformatorische Theologie den christlichen Glauben in seinem wesensmäßigen Kern am besten widerspiegelt und deshalb die Schriftauslegung an den dogmatischen Grundsätzen dieser Position ausgerichtet werden muss. Der pietistische Soziolekt 154 Dieser Soziolekt wird in P. Stuhlmachers Programmatik einer Hermeneutik des Einverständnisses sichtbar, wenn man diesen Terminus weniger auf die kirchliche Tradition (s.o.), sondern auf die biblischen Texte bezieht. 155 Das Motiv der pietistischen Bibelfrömmigkeit erscheint weiterhin in P. Stuhlmachers „Verständnis des (biblischen) Zeugniswortes“ 156 , das nicht nur ein intellektuelles Verstehen, sondern auch eine willentliche Bejahung fordert. 157 Dem dient ebenso die ausführliche Behauptung der Inspirationslehre, welche die Autorität der Bibel abstützt. 158 Vor allem aber äußert sich dieser Soziolekt in P. Stuhlmachers praktischer Konkretisierung der Schriftauslegung - der persönlichen und gemeinschaftlichen Meditation von Bibeltexten nach Gebet und Stille. Diese Betrachtungspraxis bezeichnet P. Stuhlmacher selbst als das „alte pietistische Desiderium“. 159 151 PSt 213. 152 „Wenn wir auf eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten hinarbeiten, geht es darum, einen heute angemessen Anschluß an dieses [reformatorische] Interpretationsmodell zu finden“, PSt 61. 153 Die Bekenntnistexte lassen sich „als kirchlich bewährte Kurzfassungen der Auslegungsgeschichte der Schrift in die Interpretation einbringen, und zwar im Sinne von hermeneutischen und dogmatischen Entscheidungshilfen“, PSt 251. 154 Die Zuweisung P. Stuhlmachers Ansatz zu diesem Soziolekt ist nicht unproblematisch: Denn P. Stuhlmacher attestiert dem Pietismus Wissenschaftsfeindlichkeit, PSt 149, und beurteilt die pietistische Verweigerung gegenüber der historischen Kritik als unevangelisch, PSt 240. Dennoch lassen sich pietistische Motive im Untersuchungstext ausmachen (s.o. Volltext). 155 Vgl. PSt 222 (Überschrift). 156 PSt 50 (Überschrift). 157 PSt 225. 158 PSt 47ff. 159 PSt 254. <?page no="201"?> 8.2 Ideologiekritische Untersuchung 201 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die praxis pietatis - das kontinuierliche Leben aus, mit und unter der Schrift nach dem Vorbild der pietistischen Frömmigkeitskultur - die adäquate Glaubenshaltung als Antwort auf Gottes Heilshandeln in Jesus Christus darstellt. Der Soziolekt der Biblischen Theologie 160 Dieser Soziolekt erscheint vor allem in der Betonung des gesamtkanonischen Verständnisses der Schrift. 161 Innerhalb P. Stuhlmachers Konkretisierung der Bibelinterpretation bedient der zweite Auslegungsschritt, die Auslegung der Texte auf der Ebene des gesamtbiblischen Kanons 162 , diesen Soziolekt. Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Bibel als hl. Schrift in ihrer Gesamtheit aus Altem und Neuem Testament Zeugnis des Handeln Gottes ist und nach christlicher Auffassung in einer christologischen Hermeneutik ihre integrierende Mitte findet. Der biblisch-bestätigende Soziolekt 163 Dieser Soziolekt resultiert aus den Prämissen des pietistischen Soziolektes (s.o.) sowie der Vorgabe des Soziolekts der reformatorischen Dogmatik, das klassische Geviert aus Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche durch den Primat der Schrift neu zu orientieren. 164 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Schrift eine normierende und wegweisende Funktion für heute hat. Der Soziolekt des ökumenischen Dialogs P. Stuhlmacher führt im Untersuchungstext einen intensiven Dialog mit der röm.-katholischen Position. 165 Die Relevanz dieser bilateralen Beziehung zeigt sich bereits in der Formation des ersten Paragrafen, welcher der Besprechung der protestantischen Bibeleditionen die Präsentation röm.-katholischer Ausgaben voranstellt. 166 Die katholische Exegese hat nach P. Stuhlmacher ein Niveau erreicht, mit dem die protestantische Exegese kaum noch mithalten kann. 167 Die Stärke des katholischen Systems sieht er vor allem in 160 Vgl. B. J ANOWSKI , Art. Biblische Theologie; M. W ELKER , Art. Biblische Theologie. Besonders lesenswert ist der Werkstattbericht von H. G RAF R EVENTLOW , Die Arbeit der Projektgruppe ‚Biblische Theologie‘ in den Jahren 1976-1981. 161 Siehe oben 8.2.1 Dualismen, Sechster Dualismus. 162 PSt 247ff. 163 Zum Stellenwert der Verwendung von Bibelstellen im Untersuchungstext siehe 8.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten. 164 PSt 60. 165 Andere Denominationen werden nicht berücksichtigt, eine Ausnahme bildet eine knappe Bemerkung zu den orthodoxen Ost-Kirchen, PSt 27. 166 Dies erfolgt mit durchweg positiven Wertungen zur Einheitsübersetzung und zur Jerusalemer Studienbibel, PSt 19f. 167 PSt 27. <?page no="202"?> 202 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher der geklärten Verhältnisbestimmung von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche begründet, wenngleich eine bloße Adaption dieses Lösungsmodells dem Protestantismus aus theologischen Gründen verwehrt bleibt. 168 Die Einsicht in die Gründe der katholischen Effektivität führt aber zu P. Stuhlmachers Forderung einer kirchlich orientierten Schriftauslegung. 169 Dabei wird die katholische Anfrage an ein evangelisches Traditionsdefizit in P. Stuhlmachers hermeneutischen Ansatz integriert, indem die eigene Position als Aufwertung der Tradition beschrieben wird. 170 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass der eigene konfessionelle Standpunkt durch die Wahrnehmung weiterer konfessioneller Positionen bereichert werden kann und die Beziehungspflege zu anderen Konfessionen dem Versöhnungsgedanken des Evangeliums entspricht. 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 8.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 8.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen P. Stuhlmacher zitiert ca. 331 mal die Bibel 171 , davon 74 mal das Alte Testament und 257 mal das Neue Testament. Von den alttestamentlichen Büchern werden am häufigsten die Psalmen zitiert, gefolgt von Jesaja, dem Deuteronomium und dem Sprüchebuch. 172 103 Belege - ca. 40% der neutestamentlichen Zitate - entfallen auf Paulus: Der 1. Korintherbrief wird 36 mal zitiert, der 2. Korintherbrief und der Römerbrief jeweils 18 mal, der Galaterbrief 16 mal, der 1. Thessalonicherbrief acht mal und der Philipperbrief fünf mal. 74 Zitate entfallen auf die Evangelien, davon 29 auf Matthäus, 18 auf Lukas, 17 auf Johannes und zehn auf Markus. 173 60 Belege beziehen sich auf deuterobzw. nebenpaulinische Schriften 174 , davon insgesamt 19 auf die Pastoralbriefe. 78% aller Bibelverweise konzentrieren sich auf folgende drei Paragrafen: 168 PSt 60. 169 Siehe oben 8.2.1 Dualismen, Vierter Dualismus. 170 P. Stuhlmacher argumentiert gegen die „Unterschätzung der kirchlichen Tradition“ und die „historistische[…] Traditionsvergessenheit“ mit J. Ratzinger, dass die Ausblendung der Tradition zu einer Betrachtung führe, die ausschließlich dem eigenen Denken verhaftet bleibe, PSt 92. 171 Bei der Zählung sind Bibelstellen innerhalb von Zitaten nicht berücksichtigt. 172 Psalter: 14 Belege; Jesaja: 13 Belege; Deuteronomium: 10 Belege und Sprüche: 7 Belege. Die übrigen 30 Stellen erstrecken sich auf insgesamt 14 alttestamentliche Bücher. 173 Von den 29 Matthäusbelegen entfallen 12 Zitate auf den Abschnitt Die Erfüllungszitate bei Matthäus, PSt 74. 174 Zur Gruppe der nebenpaulinischen Schriften rechne ich die Pastoralbriefe, die Petrusbriefe, den Kolosser- und Epheserbrief, den Hebräerbrief und den Jakobusbrief. <?page no="203"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 203 - § 5 Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses enthält 113 Zitate. - § 4 Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift deckt 99 Zitate ab. - § 14 Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten, P. Stuhlmachers Darstellung des eigenen Ansatzes, nennt 45 Zitate - darunter kein einziger alttestamentlicher Beleg. 175 Die restlichen Bibelzitate verteilen sich relativ gleichmäßig über den übrigen Gesamttext. P. Stuhlmachers Hermeneutik orientiert sich an dem Leitkriterium bibelgemäß. 176 Deshalb fungieren biblische Texte als besonderer Referenzpool zur Konstruktion seines Ansatzes. Die Zitate erfüllen folgende Funktionen: Die Deduktion hermeneutischer Grundregeln Wegweisend für die Ausarbeitung einer biblischen Hermeneutik sind für P. Stuhlmacher vor allem drei Grundtexte: 1Kor 1,18-2,16; 2Tim 3,14-17 und 2Petr 1,16-21: 177 Das Wort vom Kreuz, 1Kor 1,18-2,16, stützt P. Stuhlmachers Argumentation, die biblischen Texte nicht unter das Vernunfturteil des Interpreten zu stellen. 178 Dies fördert maßgeblich seinen Ansatz einer Hermeneutik des Einverständnisses. 2Tim 3,14-17 und 2Petr 1,16-21 bilden die Basis für P. Stuhlmachers Verständnis der Inspirationslehre, die für den Brückenschlag zwischen universitärer und evangelikaler Schriftauslegung nötig ist. 179 Illustration des Schriftgebrauchs im Neuen Testament Besonders in den §§ 3-5 definiert P. Stuhlmacher den hermeneutischen Rahmen, der sich seiner Ansicht nach von der Bibel her ergibt: Das Neue Testament beschäftigt sich selbst mit dem Phänomen von Fehldeutungen. 180 Die Schrift fordert neben einer intellektuellen Durchdringung eine willentli- 175 Die Konzentration auf neutestamentliche Bibelstellen erklärt sich aus dem Titel des Untersuchungstextes Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik. Dennoch überrascht dies angesichts P. Stuhlmachers Partizipation am Soziolekt der Biblischen Theologie, vgl. 8.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte. 176 Siehe 8.2.5 Schlüsselbegriffe. 177 P. Stuhlmacher nennt diese drei Bibelstellen als eine Einheit sowohl in seinem Vorwort zur zweiten Auflage, PSt 7, wie auch in den Ausführungen zur Hermeneutik des Einverständnisses zu Beginn des § 14, PSt 223. Im gesamten Untersuchungstext wird 1Kor 1,18-2,16 siebenmal erwähnt, 2Tim 3,16 elfmal und 2Petr 1,16-21 zehnmal. 178 Siehe 8.2.1 Dualismen, Fünfter Dualismus. 179 Siehe 8.2.5 Schlüsselbegriffe. 180 PSt 39f. Damit stützt P. Stuhlmacher seine eigene Wertung biblischer Interpretationen, die er für nicht sachgemäß hält. <?page no="204"?> 204 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher che Anerkennung. 181 Die Autorität der Schrift, aber auch die Legitimation zur historischen Erforschung sichert das richtige Verständnis der biblischen Inspirationslehre. 182 Die Sicht auf Jesus als hermeneutischen Akt erschließt Christus als Mitte der Schrift. 183 Textbeispiele zur Veranschaulichung der eigenen Methodik Innerhalb der Darstellung seines eigenen hermeneutischen Programms zeigt P. Stuhlmacher anhand von Beispielstexten, wie Sachkritik sachgerecht zu üben ist. 184 Biblische Argumentation gegenüber anderen Positionen P. Stuhlmacher wirbt für die Legitimierung der historischen Kritik gegenüber dem Neupietismus mit 1Thess 5,21 und 1Kor 14,29-31. 185 Der biblische Beleg dient auch der Kritik hinsichtlich anderer hermeneutischer Ansätze: So unterläuft Schleiermacher mit seinen Aussagen zur Inspirationslehre das „von Paulus in 1.Kor 1,18-2,16 aufgeworfene Fundamentalproblem des sachgemäßen Verstehens des aller Auslegung vorgegebenen Evangeliums“. 186 Ebenso argumentiert P. Stuhlmacher gegenüber Bultmann: „Im Blick auf 1.Kor 1,18-2,16; 2.Tim 3,16 und 2.Petr 1,20f von Grundzügen einer biblischen Hermeneutik zu sprechen, die für alle weitere Schriftauslegung der Kirche maßgeblich sein könnte, liegt Bultmann ganz fern“. 187 Fazit Die intensive Zitation biblischer Belege dient der Argumentationsstützung P. Stuhlmachers eigener Position. Dies geschieht ausführlich durch dessen Deutung des neutestamentlichen Schriftverständnisses, welches als Basis der Hermeneutik des Einverständnisses fungiert. Zentral für P. Stuhlmacher sind insbesondere 1Kor 1,18-2,16; 2Tim 3,14-17 und 2Petr 1,16-21. 181 Diesen zentralen Gesichtspunkt bezüglich seines Argumentationsziels - der Zustimmung zu seiner Hermeneutik des Einverständnisses - belegt P. Stuhlmacher mit insgesamt 65 Bibelzitaten, PSt 50ff. 182 P. Stuhlmacher argumentiert für das biblische Phänomen der Inspiration mit ca. 35 Bibelbelegen, PSt 53ff. 183 18 Belege, PSt 64f. 184 Theologische Sachkritik ist für P. Stuhlmacher an Texten wie 1Tim 2,11-15 beispielsweise möglich, wenn sie wohldurchdacht und vom Evangelium her begründet ist. Hingegen lehnt P. Stuhlmacher die feministische Hermeneutik E. Schüssler Fiorenzas eines prinzipiellen Verdachts ab, PSt 236. Ebenso kann von der Mitte der Schrift her eine theologische Sachkritik an Texten wie Hebr 6,4-8 oder 10,26-31 erfolgen, PSt 249. 185 PSt 239. 186 PSt 148. 187 PSt 201. <?page no="205"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 205 8.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten Weitere Diskursfragmente zur akademischen Auslegungstheorie der Bibel sind über den gesamten Untersuchungstext verteilt. P. Stuhlmacher diskutiert sie zusammenhängend in den §§ 6-13, seiner Darstellung der Geschichte der Schriftauslegung. 188 Die einzelnen Diskursfragmente werden hier qualitativ an P. Stuhlmachers Konzeptionierung des neutestamentlichen Schriftverständnisses sowie der Dialogfähigkeit in Bezug auf das jeweils dominierende Wahrheitsbewusstsein ausgerichtet. 189 In der maßgeblichen Vorschaltung zu dieser Geschichtsdarstellung 190 werden - gleichsam als hermeneutische Grundkoordinaten - verschiedene Ansätze rezipiert, systematisiert und z.T. diskutiert. So nennt die Einführung vier für P. Stuhlmacher relevante Orientierungsbezüge: Der erste Bezug referiert Luthers Kritik an der Vernunft als oberster Instanz der Schriftauslegung sowie dessen glaubensfundierte Frömmigkeit als Ermöglichung des Schriftverstehens. 191 - Luther repräsentiert als reformatorischer Theologe die kontinuierliche Tradition der abendländischen Bibelinterpretation und zugleich die Neuausrichtung der Schriftauslegung an der Schrift selbst. 192 Schleiermacher und Dilthey stehen für die Ausformung der Hermeneutik als wissenschaftliche Institution 193 und Gadamer, der Stichwortgeber zu P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses, verdeutlicht neben Schleiermacher und Dilthey die wissenschaftliche Verpflichtung P. Stuhlmachers Ansatzes. 194 Im § 2 stellt P. Stuhlmacher die Ausformung der historischen Kritik von Troeltsch als das eigentliche Ausgangsproblem des Streits um die Schriftauslegung dar: „Troeltschs Analyse hat der historischen Kritik den Anschein gegeben, als sei sie ein Verfahren, das zu einem prinzipiellen, u.U. sogar tödlichen Konflikt zwischen traditionellem Glauben und wissenschaftlicher Einsicht in die Quellen des Christentums führt“. 195 Nach P. Stuhlmacher ergeben sich folgende Lösungsstrategien dieses Problems: A) Die katholische Auslegungstheorie findet ihre eigene, in sich kohärente und effektive Verhältnisbestimmung von Tradition und Wissenschaft, wenngleich die Stellung des Lehramtes auch zu neuen Problemen führt. 196 Im Protestantismus lässt sich der Streit um die Schriftauslegung zu drei miteinander konkurrierenden Positionen bündeln: B 1) Rudolf Bultmann, Ernst Käsemann und Herbert Braun stehen in 188 Dieser Komplex macht ca. 57% des Gesamttextes aus. 189 Siehe 8.1 Allgemeine Textanalyse sowie 8.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken. 190 PSt 7-76. 191 PSt 17. 192 PSt 60f. 193 PSt 17. 194 PSt 18. 195 PSt 25. 196 PSt 29. <?page no="206"?> 206 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher unterschiedlicher Intensität nach Stuhlmacher für eine radikale Anwendung der historischen Kritik, welche weder der kirchlichen Tradition noch der Selbstbezeugung der Schrift gerecht wird. 197 B 2) Auf der Gegenseite benennt Stuhlmacher das evangelikale Verdikt über die historische Kritik, explizit Gerhard Bergmann und Gerhard Maier. Deren Standpunkt ignoriere jedoch die Geschichtlichkeit der biblischen Texte. 198 B 3) Die Vermittlungsposition schließlich bemüht sich um eine Einbindung der historischen Kritik in die kirchliche Schriftauslegung, indem die historische Kritik primär den Selbstaussagen der Texte dienen soll. P. Stuhlmacher nennt als Vertreter dieser Position Leonhard Goppelt, Werner Georg Kümmel und Hans Weder. In der Formation der vier Lösungsstrategien erscheint nur diese Vermittlungsposition den Schwächen der anderen drei Modelle entgehen zu können. 199 Im § 3 findet sich eine leicht modifizierte Systematisierung der Modellbildung aus § 2 wieder: 200 Ebenso wie in § 2 erscheint die katholische Position. Die protestantischen Ansätze werden jedoch nun zu zwei Richtungen zusammen gefasst: Dies ist zum einen die reformatorische Position, beschrieben durch Luther und Calvin, zum anderen die rationalistische Position, vertreten durch den Ansatz Johann Salomo Semlers. Die Reduktion der vier Ansätze aus § 2 zu den drei Grundmodellen in § 3 bewahrt zum einen die ökumenische Perspektive und konzentriert zugleich die innerprotestantische Diskussion auf das Problem der Vereinbarkeit von kirchlicher Tradition und Wissenschaft. - Die evangelikalen Anfragen werden also zurückgestellt. 201 Eine Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten findet sich schließlich im § 14, P. Stuhlmachers Darstellung der Hermeneutik des Einverständnisses. Der Eingangsteil dieses Abschnitts zählt nochmals einige - nachkanonische - hermeneutische Stationen auf, deren Potential P. Stuhlmacher für seine Hermeneutik des Einverständnisses nutzen möchte: Dies sind Origenes 202 , Reformation und Bekenntnischriften 203 , Adolf Schlatter - Karl Barth - Ernst Fuchs 204 , Rudolf Bultmann 205 , Einsichten der (Text-)Linguistik 206 , Paul Ricœur und 197 PSt 28-30. 198 PSt 32-35. 199 PSt 30-32. Als Vorläufer dieser Vermittlungsposition erscheint im Untersuchungstext A. Schlatter, PSt 49, 56, 169-174. 200 PSt 59-63. 201 Sie werden erst wieder im Schlusskapitel § 14 thematisiert, PSt 238-240. 202 Origenes repräsentiert die wissenschaftliche Verpflichtung der Bibelauslegung. 203 Sie bündeln die abendländische Auslegungstradition und akzentuieren zugleich den Schriftprimat. 204 Sie stehen für die Betonung einer bibelgemäßen Schriftauslegung. 205 Zwar wird Bultmanns hermeneutisches Programm von P. Stuhlmacher insgesamt als gescheitert angesehen, dennoch kann P. Stuhlmacher „von Bultmann her zu größtmöglicher methodischer und theologischer Genauigkeit“ aufrufen, PSt 222. 206 P. Stuhlmacher steht der Rezeptionsästhetik skeptisch gegenüber, sieht aber in der synchronen Interpretation des Strukturalismus eine wichtige Argumentationsstütze für die kanonische Schriftauslegung. <?page no="207"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 207 die Neue Hermeneutik 207 . Nach der Skizzierung seines Ansatzes diskutiert P. Stuhlmacher andere, z.T. konkurrierende 208 Positionen: Die Anfragen der katholischen Exegese 209 werden als vorweggenommene Bestätigung P. Stuhlmachers Position formiert: Sie zeigen die Unübersichtlichkeit und voranschreitende Nivellierung der protestantischen Exegese auf und drängen auf eine kirchlich ausgerichtete Methodenreflexion sowie eine dogmatisch orientierte Bibelinterpretation der evangelischen Schriftauslegung. Die psychologische Bibelinterpretation 210 kann dem Verständnis der Bibeltexte dienen, wenn sie nicht absolut gesetzt wird und die biblischen Texte nicht verzerrt, sondern sich um ein ergänzendes Verstehen bemüht. Die politische und materialistische Hermeneutik 211 sieht P. Stuhlmacher als Verkürzung der biblischen Texte. Alternativ hierzu versteht er die sozialgeschichtliche Untersuchungsmethode. 212 Allerdings warnt er auch hier zur Vorsicht angesichts seiner Ansicht nach tendenziöser Begriffe wie ‚Wanderradikalismus‘, ‚Jesusbewegung‘ und ‚Liebespatriarchat‘. Das emanzipatorische Anliegen der feministischen Hermeneutik akzeptiert P. Stuhlmacher, kritisiert aber insbesondere Elisabeth Schüssler Fiorenzas Hermeneutik des Verdachts als eine illegitime Instrumentalisierung der biblischen Texte und lehnt sie daher vom Standpunkt seiner Hermeneutik des Einverständnisses als unbiblisch und unsachgemäß ab. - Hingegen würdigt er Maria-Sybilla Heisters Engagement für die Frauenordination „als Muster“ für ein unvoreingenommenes historisches Arbeiten, deren Sachkritik vom Evangelium her begründet wird. 213 Die 207 Ricœur und die Neue Hermeneutik stehen nach P. Stuhlmacher für die wissenschaftliche Fundierung einer schriftgemäßen Bibelauslegung. Einen guten Überblick zur Neuen Hermeneutik liefern die Beiträge des Bandes J.M. Robinson/ J.B. Cobb (H G .), Die Neue Hermeneutik. Robinson charakterisiert die Neue Hermeneutik wie folgt: „Diese [die Neue Hermeneutik] umfaßt das ganze Unternehmen der Theologie als eine Sprachbewegung, vom in der Bibel bezeugten Wort Gottes bis hin zur Predigt, in der Gott erneut spricht, und sie ist keineswegs auf eine Unterabteilung der Bibelwissenschaft begrenzt, in der es um die Theorie der Exegese geht“, ders., Die Hermeneutik seit Karl Barth, 16. 208 In bereits terminologischer Konkurrenz zu P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses erscheint die Hermeneutik des Verdachts E. Schüssler Fiorenzas. Ebenso werden weitere kontextuelle Hermeneutiken, differenzierter die psychologische Interpretation und die evangelikale Hermeneutik kritisiert. 209 P. Stuhlmacher bezieht sich hierbei auf O. Kuss, R.E. Brown und K. Rahner, PSt 225f. 210 Siehe unten 8.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verhältnis von Exegese und Psychologie. 211 P. Stuhlmacher gesteht diesen Ansätzen eine gewisse Breitenwirkung und Faszination angesichts der ökonomischen Verhältnisse zu, hält sie aber - vor allem aufgrund ihres seiner Ansicht nach unbiblisch marxistischen Geschichtsbegriffs - für nicht sachgerecht. Stuhlmacher verweist auf J. Moltmann, F. Belo und M. Clévenot, ferner D. Sölle, PSt 231-234. 212 P. Stuhlmacher bezieht sich auf E. Lohmeyer und F.C. Grant sowie M. Hengel, G. Theißen, W. Scoggs, W.A. Meek und H. Kee, PSt 233f. 213 M.-S. H EISTER , Frauen in der biblischen Glaubensgeschichte, vgl. PSt 236. <?page no="208"?> 208 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher kontextuelle Hermeneutik 214 kritisiert P. Stuhlmacher besonders scharf als Verfälschung des Evangeliums, indem er sie mit den Kontextualisierungsbestrebungen der Deutschen Christen vergleicht. Schließlich wendet er sich nochmals der evangelikalen Position und deren Einwänden gegen die historische Kritik zu. P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses will die neupietistische Texttreue ernst nehmen, fordert aber zugleich die Anerkennung der historischen Kritik. P. Stuhlmacher selbst gesteht im Vorwort zur Zweitauflage das Scheitern dieses Brückenschlages ein. So erklärt sich folgende deutliche Kommentierung der neupietistischen Verweigerung bezüglich der historischen Kritik, die in der ersten Auflage noch fehlte: „Hinter diesem Grundsatz [der neupietistischen Verweigerung] steht eine Auffassung von der Schrift als Wort Gottes, die im Kern ebenso ungeschichtlich wie unevangelisch ist“. 215 Die Durchführung seines hermeneutischen Programms 216 stützt P. Stuhlmacher durch die Einbindung folgender Diskursfragmente: Von Rudolf Bultmann übernimmt er den Begriff des Vorverständnisses, spezifiziert ihn jedoch - anders als Bultmann - als kirchlich orientierte Gesinnungshaltung. 217 Mit Martin Bubers Kategorie des Vernehmens stützt er sein Programm des Einverständnisses mit den biblischen Texten. 218 Der methodischen Präzisierung dieses Begriffs dient der Rekurs auf Edgar V. McKnight, Hans Weder und Ben F. Meyer. 219 Zur Vertiefung der Methodenkritik verweist P. Stuhlmacher auf Klaus Berger. 220 Die Interpretation auf der Ursprungsebene der Texte soll mit Werner Georg Kümmel von kritischer Sympathie geleitet sein. 221 Die Interpretation auf der Ebene des biblischen Kanons stützt P. Stuhlmacher mit Heinz Schürmann. 222 Die wirkungsgeschichtlich reflektierte Interpretation im Lichte des Dogmas stützt Stuhlmacher mit Friedrich Mildenberger 223 und Adolf Schlatter 224 . Schließlich verweist er auf Anregungen 214 Stuhlmacher nennt hier E. Cardenal, J. Moltmann und allg. feministische Positionen, PSt 236-238. 215 PSt 240. 216 PSt 240-256. 217 PSt 242f. 218 PSt 244. 219 B.F. M AYER , The Aims of Jesus; E.V. M C K NIGHT , The Bible and the Reader; H. W EDER , Das Kreuz Jesu bei Paulus, vgl. PSt 244f. 220 K. B ERGER , Exegese des Neuen Testaments, vgl. PSt 249. 221 PSt 247 (ohne bibliographischen Hinweis). 222 PSt 248. Die Enthistorisierung und Verobjektivierung der Einzelaussagen durch die Einbettung in die Gesamtschrift ist nach Schürmann notwendig, damit die Schrift für jede Zeit der Kirche verbindlich gemacht werden kann, H. S CHÜRMANN , Thesen zur kirchlichen Schriftauslegung. 223 PSt 250. P. Stuhlmacher rezipiert Mildenbergers Verständnis der Bekenntnisse als Konsensformulierungen, die über die Wahrheit des Evangeliums in einer bestimmten Zeit entschieden haben, F. M ILDENBERGER , Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, 185. 224 Mit A. Schlatter insistiert P. Stuhlmacher darauf, dass eine Interpretation verdeutlichen muss, was gilt, bzw. warum etwas nicht gilt, A. S CHLATTER , Das christliche Dogma. <?page no="209"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 209 zur Umsetzung persönlicher und gemeinschaftlicher Bibelmeditation bei Ignatius von Loyola, Martin Luther, Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, Johann Jakob Rambach, Johann Georg Hamann, Johann Tobias Beck, Adolf Schlatter, Hermann Diem, Hermann Barth und Tim Schramm. 225 8.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten P. Stuhlmacher nennt im Untersuchungstext nur einmal eine eigene Publikation: Nachdem das 15. Kapitel der ersten Auflage seiner Hermeneutik in der zweiten Auflage weggefallen ist, verweist er auf eine erweiterte Fassung dieses Textes in: ders./ H. C LAß , Das Evangelium von der Versöhnung in Christus, Calw 1979 (Calwer Paperback), 13-54. Acht eigene Schriften führt P. Stuhlmacher im Literaturverzeichnis an. In ihnen spiegelt sich sein Forschungsinteresse an einer biblisch und kirchlich orientierten Schriftauslegung. 226 8.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen Diskursstrang zum Verständnis von Kirche 227 Die Kirche ist für P. Stuhlmacher der primäre Ort der Bibelinterpretation - dem hat die akademische Schriftauslegung zu dienen. 228 Dieser Aufgabe wird die evangelische Kirche besser gerecht, wenn sie von ihrer röm.-katholischen Schwesterkirche lernt: Klare und eindeutige kirchliche Strukturen begünstigen die Verkündigung der biblischen Botschaft. Somit muss die Beratung der Exegese durch die kirchliche Dogmatik intensiviert werden. 229 Die Kirche ist für P. Stuhlmacher ebenso Ort der praktischen Schriftlektüre, veranschaulicht durch die private sowie gemeinschaftliche Bibelmeditation und die Predigt. Die Schriftlektüre soll zur Einübung in den bibelgemäßen - versöhnungszentrierten - Lebensvollzug anleiten. 230 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, einen engen Zusammenhang zwischen Kirche, Schriftinterpretation und Schriftlektüre zu betonen, um somit seine Hermeneutik des Einverständnisses als angemessenen Leseschlüssel darzustellen. 225 PSt 253-255 (Lit. siehe PSt 264f). 226 PSt 258-262 und 264f. 227 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 228 „Die kirchliche Exegese [steht] in der Verpflichtung, das biblische Wahrheitszeugnis im Dienste der kirchlichen Wahrheitsverantwortung auszulegen“, PSt 222. Vgl. unten: Diskursstrang über das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft. 229 PSt 127. 230 PSt 253ff. <?page no="210"?> 210 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Diskursstrang zum Inspirationsverständnis 231 P. Stuhlmacher macht die Inspirationslehre zu einer zentralen Schaltstelle seines hermeneutischen Ansatzes: Deshalb verteidigt er die Inspirationsvorstellung gegen die Kritik rationalistischer Theologien und erfüllt damit ein wichtiges Anliegen der pietistischen Bibelfrömmigkeit. Gleichzeitig lehnt er ein spiritualistisches Inspirationsverständnis ab, da es „das Wirken Gottes und die menschliche Geschichte der biblischen Zeugen“ voneinander trennt. 232 Die Personalinspiration hingegen stützt die biblischen geschichtlichen Personen und ist für P. Stuhlmacher deshalb eine entscheidende Legitimation der historischen Kritik. 233 Diese Konzeptionalisierung der Inspirationsvorstellung dient der Integration der universitären und evangelikalen Position in P. Stuhlmachers Ansatz. Diskursstrang zum Verständnis von Offenbarung 234 Die Offenbarungsthematik bearbeitet P. Stuhlmacher weniger anhand erkenntnistheoretischer Fragestellungen 235 als durch die Klärung des Zusammenhangs von Offenbarung und Bibel: Die Schrift enthält nach P. Stuhlmacher die Offenbarung 236 , die formal und inhaltlich als das „wesentlich Ganze“ bestimmt wird. 237 Die Verortung der Offenbarung in der Schrift bildet eine wesentliche Voraussetzung für P. Stuhlmachers Ansatz einer Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten. Diskursstrang zum Verständnis der Theologie 238 Gegenüber dem Pietismus/ Neupietismus hält P. Stuhlmacher an der wissenschaftlichen Verpflichtung der Theologie fest. 239 Die Theologie muss demnach eine intensive Auseinandersetzung mit dem jeweils kritischen Wahrheitsbewusstsein ihrer Zeit führen. Allerdings orientiert P. Stuhlma- 231 Lit. zu diesem Diskursstrang: B. B EINHAUER -K ÖHLER / D.A. K OCH / W. B RÄNDLE , Art. Inspiration/ Theopneustie. Weiterhin: U.H.J. K ÖRTNER , Der inspirierte Leser. Körtner reformuliert die klassische Inspirationslehre, indem er vom rezeptionsästhetischen Ansatz her die Inspiration nicht im Text oder den Textautoren, sondern den Lesern verortet. 232 PSt 57. 233 PSt 47-63. 234 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 235 Zwar zeichnet P. Stuhlmacher in seiner Darstellung der Auslegungsgeschichte die rationalistische Diskussion der Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft nach, führt dies in seinem eigenen Ansatz jedoch nicht weiter aus. Stattdessen bearbeitet er das Spannungsverhältnis von Inspiration und Wissenschaft, vgl. oben Diskursstrang zum Inspirationsverständnis. 236 PSt 24. 237 PSt 58. 238 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 239 Siehe 8.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus. <?page no="211"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 211 cher die Wissenschaftlichkeit der Theologie an der kirchlichen Tradition, insbesondere durch die Betonung der Geltung des Gevierts aus Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche. 240 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die Theologie deutlich an die Kirche zu binden, um somit einen klaren Nenner zu benennen, auf den sich die akademische und die evangelikale Theologie zu beziehen haben. Diskursstrang zum Geschichtsverständnis 241 P. Stuhlmacher kritisiert den historistischen Ansatz von Troeltsch, der die Geschichte dem Vernunfturteil des Historikers unterwirft. 242 Mit Goppelt, Kümmel und Weder votiert er für die Überwindung eines historischen „Kritizismus, der die biblischen Texte nicht mehr sagen läßt, was sie von sich selbst her sagen wollen“. 243 Mit Gadamer will er Geschichte als Wirkungsgeschichte von Aussagen hermeneutisch in Blick nehmen, spezifiziert allerdings dessen allgemeines Geschichtsverständnis durch die kirchliche Tradition. 244 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, Geschichte als nicht-subjektive Größe zu verteidigen. Damit stützt er seine wirkungsgeschichtliche Interpretation der biblischen Texte und insbesondere die Bindung an das Bekenntnis. Diskursstrang über das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft 245 In diesen Diskursstrang ist der Untersuchungstext durch P. Stuhlmachers Reflexion des Zusammenhangs von Exegese und Dogmatik miteingebunden. Die Bibelwissenschaft hat nach P. Stuhlmacher eine dienende Funktion für die kirchliche Schriftauslegung. Deshalb muss sie einen intensiven Dialog mit den kirchengeschichtlichen und dogmatischen Disziplinen führen. 246 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang erklärt sich aus seinem Gesamtverständnis von Theologie (s.o.) und erfüllt damit die gleiche Funktion, einen engen Zusammenhang zur Kirche herzustellen. 240 Siehe 8.2.1 Dualismen, Erster und zweiter Dualismus. 241 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 242 PSt 31. 243 PSt 32. 244 PSt 214. 245 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 7.3.2. 246 „Um sachkritische Schriftauslegung […] zu betreiben, ist der Exeget (des Alten und) des Neuen Testaments auf die Beratung der auslegungsgeschichtlich erfahrenen Kirchenhistoriker ebenso angewiesen wie auf das kritische Urteil des Dogmatikers“, PSt 252. <?page no="212"?> 212 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher Diskursstrang zu Bibeleditionen 247 Der erste Paragraf des Untersuchungstextes diskutiert einige relevante Bibeleditionen. 248 P. Stuhlmachers Aufmerksamkeit bei der Bewertung der unterschiedlichen Ausgaben liegt auf der (übersetzungs-)wissenschaftlichen Präzision 249 , der Berücksichtigung der kirchlichen Tradition 250 und der Benutzungsfreundlichkeit 251 . Die besprochenen Ausgaben erfahren insgesamt eine positive Wertung - eingeschränkt die ‚Lutherbibel erklärt‘, an deren Beispiel P. Stuhlmacher das gebrochene Verhältnis des Protestantismus zur historischen Kritik veranschaulicht. Ferner wendet er sich gegen eine unüberschaubare Vielzahl von Bibeleditionen im protestantischen Bibelgebrauch. 252 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, den katholischen Bibelgebrauch positiv zu würdigen und Probleme des evangelischen Bibelgebrauchs aufzuzeigen. Diskursstrang zum Verhältnis von Exegese und Psychologie 253 P. Stuhlmacher anerkennt zwar das interpretatorische Potential, das in einer psychologischen Schriftauslegung liegen kann, 254 betont aber, dass eine psychologische Bibelinterpretation unsachgemäß wird, wenn deren Methodik verabsolutiert und somit der Textsinn verzerrt wird. 255 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, vereinnahmende Auslegungsstile zurückzuweisen und gleichzeitig seinen eigenen Ansatz als nichtvereinnahmende Methodik auszugeben. Diskursstrang zur Frauenemanzipation 256 Die Notwendigkeit der Gleichberechtigung in der Kirche ergibt sich nach P. Stuhlmacher durch die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse. Ebenso 247 Lit. zu diesem Diskursstrang: J.D. H ARJUNG , Die genaueste und zuverlässigste deutsche Bibel; H. H AUG , Deutsche Bibelübersetzungen; W. G ROß , Bibelübersetzung heute. 248 Siehe 8.1 Allgemeine Textanalyse. 249 Dieser Aspekt wird besonders bei der Einheitsübersetzung, der Jerusalemer Bibel, der Lutherbibel und Zürcher Bibel sowie Wilckens Übersetzung des Neuen Testaments betont. 250 Dies wird besonders bei der Lutherbibel und der Zürcher Bibel hervorgehoben. 251 Als besonders benutzungsfreundlich stellt P. Stuhlmacher die Einheitsübersetzung, die Jerusalemer Bibel und auf ihre Weise die Losungen der Brüdergemeine dar. 252 „Ob die revidierte Lutherbibel der mittlerweile in vielen (evangelischen) Kirchen eingerissenen, katechetisch unverantwortlichen Anarchie von Bibelübersetzungen noch einmal Einhalt zu gebieten vermag, steht noch dahin; zu hoffen ist es sehr! “, PSt 20. 253 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 254 P. Stuhlmacher würdigt in diesem Zusammenhang vor allem die Arbeiten von G. Theißen, K. Niederwimmer, H. Barth und T. Schramm. Die Kritik wird hauptsächlich am Entwurf E. Drewermanns konkretisiert, PSt 228-231. 255 Vgl. 8.2.1 Dualismen, Siebter Dualismus. 256 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 7.3.2. <?page no="213"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 213 sieht er die Frauenemanzipation grundsätzlich durch Gal 3,28 gestützt. Allerdings unterscheidet P. Stuhlmacher zwischen berechtigten emanzipatorischen Forderungen 257 und scheinbar unberechtigten feministischen Auslegungsstrategien, welche die Bibel emanzipatorischen Zielen unterwerfen. 258 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, seinen Ansatz als kompatibel mit den Anliegen der Frauenemanzipation auszugeben und gleichzeitig feministische Konzeptionen auszuschließen, die seiner Hermeneutik des Einverständnisses widersprechen. Diskursstrang zur Literaturtheorie 259 Im Untersuchungstext werden ausgewählte neuere Literaturtheorien thematisiert - insbesondere Gedanken von Paul Ricœur, die synchrone Interpretation des Strukturalismus sowie die rezeptionsästhetische Perspektive. Während P. Stuhlmacher seine Hermeneutik des Einverständnisses mit Ricœur und dem Strukturalismus stützt, kritisiert er die Rezeptionsästhetik, da sie die Konstruktion des Textsinns dem einzelnen Leser überlasse und damit die kirchliche Einheit gefährde. 260 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, literaturtheoretische Modelle zur eigenen Argumentationsstützung zu nutzen und gleichzeitig Lektürearten abzuwehren, die seiner eigenen Hermeneutik des Einverständnisses entgegenstehen. Diskursstrang zum Verhältnis von Religion und Politik 261 P. Stuhlmachers Aussagen zu diesem Diskursstrang sind weitgehend von einer Zurückhaltung gegenüber Politisierungen des christlichen Glaubens geprägt: So stimmt er der katholischen Kritik von Raymond E. Brown insgesamt zu, der Protestantismus drohe sich im sozial-liberalen Engagement zu verlieren, anstatt sich auf die ökumenische Gemeinsamkeit der Wertschätzung der Sakramente und der kirchlichen Lehre zu besinnen. 262 Dennoch betrachtet er seinen eigenen Ansatz keineswegs als unpolitisch: „Wir haben oben gezögert, unseren Auslegungsweg als ‚politische‘ Hermeneutik zu bezeichnen und haben uns gleichzeitig gegen ideologische Verengungen unserer Wirklichkeitshorizonte gewehrt. Diese Gegenwehr ist aber nur dann 257 „Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich dieser Forderung zu widersetzen“, PSt 235. 258 P. Stuhlmacher hat hierbei insbesondere den Ansatz E. Schüssler Fiorenzas im Blick. 259 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 260 Mit Ricœur sieht P. Stuhlmacher die Unterordnung der Interpretation unter den Text gestützt sowie die besondere Qualität der Texte durch deren Vorsprung an Sinnhaftigkeit formuliert, PSt 215 und 217. Die synchrone Interpretation des Strukturalismus ermöglicht eine Textauslegung im Kontext des gesamtbiblischen Zeugnisses, PSt 219. Zur Kritik an der Rezeptionsästhetik siehe 8.2.1 Dualismen, Fünfter Dualismus. 261 Lit. zu diesem Diskursstrang: J.B. M ÜLLER , Religion und Politik. Eine aktuelle Zeitdiagnostik liefert die Untersuchung von J.C. K OECKE / M. S ACHS , Religion - Politik - Gesellschaft. 262 PSt 226f. <?page no="214"?> 214 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher biblisch legitimiert, wenn wir jetzt ausdrücklich betonen, daß Jesu messianisches Versöhnungswerk und das Leben im Zeichen dieses Werkes alle Dimensionen des Lebens betrifft, die wir kennen“. 263 Der politische Horizont des christlichen Glaubens besteht nach P. Stuhlmacher daher im biblisch orientierten Einsatz für die Versöhnung: „Im Leben aus der Versöhnung für die Versöhnung hat die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten ihren umfassenden Bewährungshorizont“. 264 P. Stuhlmachers Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, seinen eigenen Ansatz als politisch-relevant auszugeben und gleichzeitig dezidiert politische Hermeneutiken als vereinnahmende Lektüreformen zu disqualifizieren. 8.3.3 Bezüge zum Interdiskurs Konservativismus Der Untersuchungstext vermittelt insgesamt eine konservativ geprägte Grundhaltung, die aus P. Stuhlmachers Ansatz einer Hermeneutik des Einverständnisses resultiert: Das Einverständnis bezieht sich zuerst auf die biblischen Texte, denn kirchliche Textauslegung bedeutet für P. Stuhlmacher primär die Bewahrung 265 und willentliche Anerkenntnis 266 deren Aussagegehaltes. Zugleich reflektiert P. Stuhlmacher die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der biblischen Texte 267 , der auf katholischer Seite das Lehramt antwortet, evangelisch-kohärent jedoch nur durch die Besinnung auf die reformatorischen Interpretationsleitlinien begegnet werden kann. Durch diesen wirkungsgeschichtlichen Zugang bildet das Einverständnis mit der evangelischen Glaubenstradition den hermeneutischen Schlüssel zum Einverständnis mit den biblischen Texten. 268 Somit konkretisiert sich die konservative Grundhaltung als Bewahrung der biblischen Textaussagen und als Bewahrung der reformatorisch-evangelischen Identität. Dieser doppelten Bewahrungsstrategie dienen insbesondere folgende Aussageformationen: P. Stuhlmacher beharrt auf der Geltung der Inspirationslehre, welche die Schriftautorität absichert. 269 Die Kanonbildung wird insgesamt als ein äußerst erfolgreicher 263 PSt 255. 264 PSt 256. 265 PSt 18: „sondern es gilt zusätzlich (und m.E. sogar vorrangig), den heute von mancherlei Miß- und Vorverständnissen verstellten Texten der Bibel wieder zu ihrem geschichtlich urtümlichen eigenen Wort zu verhelfen“. 266 P. Stuhlmacher referiert zu diesem Zweck die biblische Erkenntnistheorie, nach der intellektuelle Erkenntnis und willentliche Anerkenntnis biblisch nicht zu trennen sind, PSt 50ff. Durch sein Axiom, biblische Texte so auszulegen, „wie es den Texten entspricht“, wird die Interpretation zugleich an diese Erkenntnistheorie gebunden, PSt 7. 267 PSt 240: „dieses Zeugnis aber [ist] in sich geschichtlich vielfältig, z.T. widersprüchlich und seit den Tagen des Neuen Testaments kontrovers“. 268 PSt 250-253. 269 PSt 52ff. „Wir dürfen deshalb die Inspirationslehre heute weder preisgeben noch dem Fundamentalismus mit seinem dualistischen Interpretationsbegriff überlassen, son- <?page no="215"?> 8.3 Diskursanalytische Untersuchung 215 und gelungener Prozess dargestellt, in welchem die Kirche mit Bedacht sich ihr bewährtes Schriftcorpus gegeben hat. Daraus folgt die besondere Qualität der kanonischen Schriften. Die Glaubensgemeinde hat darauf mit besonderer Achtung, Wertschätzung und Verbindlichkeit zu antworten. 270 Die Legitimierung der kirchlichen Tradition erfolgt durch die Konstruktion ihres Haftpunktes in den (Spät-)Schriften des Neuen Testaments. 271 P. Stuhlmachers Wertschätzung der kirchlichen Tradition ist an mehreren Stellen ausgeführt. 272 Allgemein-wissenschaftlich versucht P. Stuhlmacher diese Wertschätzung durch seine Gadamer-Rezeption zu fundieren. 273 Ferner zeigt sich P. Stuhlmachers Bewahrungsstrategie in seiner Kritik an Kontextualisierungsströmungen, die nach seiner Ansicht eine Gefährdung der kirchlichen Schrift- und Glaubenstradition darstellen. 274 Schließlich konkretisiert P. Stuhlmacher die Tradition als reformatorisch orientierte Glaubenstradition mit der Konzeption des evangelischen Bekenntnisses als bewährte Kurzfassung des christlichen Glaubens. 275 Progressivität An wenigen Stellen des Untersuchungstextes lässt sich ebenfalls eine progressive Grundhaltung ablesen. Progressive Elemente werden wesentlich durch P. Stuhlmachers Konzeption der dreifachen Sachkritik ermöglicht, die den Weg zu einer Korrektur von biblischen Textaussagen oder deren wirdern sollten sie als hermeneutische Rahmenrichtlinie neu begreifen und schätzen lernen“, PSt 58. 270 Vgl. folgende Aussagen: „Für seine Festlegung hat sich die Alte Kirche viel Zeit gelassen“, PSt 44; „die Kirche hat sich diesen Kanon nicht einfach aus freien Stücken geschaffen, sondern sie hat ihn nur in einem langen Traditionsprozeß ab- und eingegrenzt. - Der Hauptschriftenbestand des Alten und Neuen Testaments hat sich bei der Suche der Kirche nach ihrem Kanon selbst durchgesetzt“, PSt 46; „Die Bibel […] ist der Kanon, den sich die Kirche aus Gehorsam gegenüber dem Evangelium gegeben hat und aus dem heraus sie bis heute Gottes Stimme und seines Christus vernimmt“, PSt 222. 271 „Damit ist den Spätschriften des Neuen Testaments bereits jenes hermeneutische Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Glaubenstradition und Kirche (in Gestalt von ordinierten Amtsträgern) aufweisbar, von dem die Alte Kirche ausgeht […]. Wenn die Gewichte in diesem Geviert eindeutig zugunsten der Schrift bestimmt sind, hat auch der Protestantismus keinen Grund, dieses Gewicht zu mißachten“, PSt 76. 272 P. Stuhlmacher postuliert „die Pflicht zur Beachtung der Glaubenstradition der Kirche“, PSt 32, kritisiert die „im gegenwärtigen Protestantismus eingerissene Unterschätzung der kirchlichen Tradition“, PSt 92 und plädiert - mit Ebeling - dafür, „die gesamte Kirchengeschichte als ein[en] Erfahrungsschatz [zu] begreifen, der eine über alle begrifflichen Abstraktionen weit hinausgehende Anschauung dessen gewährt, was Kirche und Glaube waren und sind“, PSt 209. 273 PSt 210-215. 274 Mit dem Stichwort Agonie belegt P. Stuhlmacher kritische Forschungsfragen, die seines Erachtens „historisch und dogmatisch gleich unerträglich“ sind, d.h. quer zum Kanon der kirchlichen Glaubenstradition stehen, PSt 226f. 275 PSt 250f. <?page no="216"?> 216 8 Untersuchungen bei Peter Stuhlmacher kungsgeschichlicher Bedeutungszuschreibung ebnet. Allerdings kann eine theologisch verantwortete Sachkritik nach P. Stuhlmacher nur innerhalb der klar definierten Grenzen des kanonischen, christologischen und bekenntnisgemäßen Begründungszusammenhangs erfolgen: 276 So votiert P. Stuhlmacher in seiner Diskussion der feministischen Hermeneutik uneingeschränkt für die Gleichstellung von Männern und Frauen in Kirche und Gesellschaft. Diese Position steht in zu Kontrast vielen Bibelstellen sowie der kirchlichen Tradition. 277 Ebenso traditionskritisch benennt Stuhlmacher die kirchliche Mitschuld an den Judenpogromen, die christliche Rechtfertigung der Sklaverei sowie den teilweise auch kirchlich forcierten Untertanengeist. 278 276 PSt 252. 277 P. Stuhlmacher unterlegt seine Position innerhalb dieses Abschnitts mit Gal 3,28 und in der Reflexion zur Sachkritik mit der ersten These der Theologischen Erklärung von Barmen, die er auf Joh 1,1-18; 14,6; 1Joh 1,1-4; 1Kor 1,23; Apg 10,36 und Hebr 1,1-4 bezieht, PSt 252. 278 PSt 252. <?page no="217"?> 9 Untersuchungen bei Hans Weder 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik T ITEL - W IDMUNG - A UFBAU H. Weders Entwurf trägt den knappen Titel Neutestamentliche Hermeneutik. Diese Formulierung intendiert einen exklusiven Anspruch. 1 Das Buch ist dem Theologen Walter Mostert gewidmet. 2 H. Weder dankt seinem Zürcher Kollegen im Vorwort für dessen kritische Begleitung bei der Entstehung des Buches. „Die Verläßlichkeit des Denkens, die in Walter Mosterts Arbeiten zum Ausdruck kommt, war mir oft eine große Hilfe“. 3 Der Aufbau weist folgende Struktur auf: - Nach einem knappen Vorwort (5f) entwirft die ausführliche Vorrede H. Weders Hermeneutikverständnis und entfaltet die Rahmenbedingungen neutestamentlicher Hermeneutik (11-152). - Die eigentliche Hermeneutik gliedert sich in drei Hauptteile, die gemeinsam das hermeneutische Potential neutestamentlicher Sprachformen in Blick nehmen: Der erste Hauptteil widmet sich der Beschreibung der metaphorischen Sprache, vor allem der Gleichnisrede (155-285). Der zweite Hauptteil wendet sich weiteren neutestamentlichen Sprachformen zu. Dies sind das Gebet, das Gebot, das Evangelium, der Brief und die Bitte (286-330). Der dritte Hauptteil thematisiert die geschichtliche Dimension der neutestamentlichen Texte (331-425). - Ein Epilog schließt die Hermeneutik ab (427-435). H. Weder führt im Untersuchungstext zwar „ein stetiges implizites Gespräch mit historisch-kritischen, psychologischen, soziologischen und linguistischen Erkenntnisweisen“ 4 , verzichtet aber weitgehend auf die explizite Darstellung anderer Positionen. 5 Aus diesem Grund können sämtliche Ab- 1 Diese Exklusivität entspricht der Zielvorgabe seines Ansatzes, „das hermeneutische Potential des Neuen Testaments zu entdecken und fruchtbar zu machen“, HWe (=H. W EDER , Neutestamentliche Hermeneutik) 5. Vgl. die Einleitung zum Hauptteil: „Im folgenden Hauptteil wird es darum gehen, die Hermeneutik neutestamentlich durchzuführen“, HWe 154. 2 HWe 4. Der systematische Theologe W. Mostert († 1995) und H. Weder lehrten gemeinsam an der Theologischen Fakultät Zürich. Dort hielten sie auch gemeinsam neutestamentlich-dogmatische Hauptseminare. Einen guten Einblick in das Denken von W. Mostert vermittelt der Aufsatzband, W. M OSTERT , Glaube und Hermeneutik. Zum Einfluss Mosterts Theologie auf H. Weders Hermeneutik siehe auch 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik. 3 HWe 6. 4 HWe 5. 5 Ausnahmen hierzu bilden vor allem Rekurse auf den Ansatz R. Bultmanns, vgl. 9.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten. <?page no="218"?> 218 9 Untersuchungen bei Hans Weder schnitte des Untersuchungstextes als H. Weders direkte Positionsentfaltung zur neutestamentlichen Hermeneutik verstanden werden. V ORWORT 6 Im Vorwort artikuliert H. Weder die Grundintention seines Ansatzes: Die neutestamentliche Hermeneutik hat die Aufgabe, das Potential der neutestamentlichen Texte zu entdecken und fruchtbar zu machen. Diesem Ziel steht die Weltlichkeit der Auslegungsmethoden gegenüber. 7 Die Bearbeitung dieser zentralen Problembestimmung führt dazu, dass H. Weder seine Hermeneutik nicht als Methodenlehre konzipiert. E INE AUSFÜHRLICHE V ORREDE 8 Diese Vorschaltung zur eigentlichen Hermeneutik gliedert sich in zwei Abschnitte. Der erste Teil 9 entfaltet den zugrunde gelegten Hermeneutikbegriff, der zweite Teil 10 thematisiert das Verhältnis von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Weltbzw. Wirklichkeitsverständnis. 1. Teil H. Weder stellt zu Beginn seiner ausführlichen Vorrede den Götterboten Hermes vor, wenngleich nur dessen positive Seiten. 11 Daraus deduziert er die Grundfunktion der Hermeneutik: „Eben dieses sein Wesen erschließt auch das Wesen der Hermeneutik“. 12 Hermeneutik wird dort notwendig, wo sich durch Beziehungslosigkeit Verstehensprobleme ergeben. Eine Hermeneutik muss vor allem Verstehensstörungen rekonstruieren - im Fall der neutestamentlichen Hermeneutik also das Problem des Verhältnisses von Neuem Testament und neuzeitlichem Menschen. Die Aufgabe der neutestamentlichen Hermeneutik ist es, Wege zu bahnen und zu schützen, Beziehungen zwischen Gott und Mensch herzustellen, sowie eine Übersetzungsart anzustreben, die das Fremde 13 nicht verfälscht. 6 HWe 5f. 7 Die Thematisierung der Spannung von neuzeitlicher Weltlichkeit und neutestamentlicher Sprache ist daher von wesentlichem Interesse für H. Weders Hermeneutik. 8 HWe 11-152. 9 HWe 11-46. 10 HWe 47-152. 11 HWe 14: „Auffällig an der hellenistischen Hermesvorstellung ist insbesondere die Menschenfreundlichkeit und Liebenswürdigkeit dieses Gottes“. Vgl. in Kontrast dazu die kritische Darstellung des Gottes Hermes bei J. H ÖRISCH , Die Wut des Verstehens, 13- 20, 13: „Unseriöser ist unter ihnen [den olympischen Göttern] keiner als ausgerechnet der Gott, dessen Aufgabe es ist, gesicherte Informationsübermittlung und verständigen Umgang miteinander zu gewährleisten: Hermes. Keine Schandtat, die ihm nicht zuzutrauen wäre. Was nicht ausschließt, ihn als Genie des Betrugs und der systematischen Desinformation auch zu bewundern“. 12 HWe 14. 13 Das Fremde als theologische Metapher für Gottes Wort pointiert H. Weder im abschließenden Epilog Der fremde Gast, HWe 427-435. <?page no="219"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 219 Sie macht nicht nur Sprachliches verständlich, sondern deckt ebenso die hermeneutische Dimension der Sprache selbst auf. 14 Der moderne Begriff der Hermeneutik umfasst weiterhin die Bearbeitung der Wahrheitsfrage. 15 H. Weder weist angesichts der neuzeitlichen Verstehensbedingungen darauf hin, dass die biblische Hermeneutik aus dem modernen Verstehenszusammenhang in die Isolation und Wirkungslosigkeit auszuwandern drohe. Dann aber ist das hermeneutische Potential der Bibel nicht mehr für das moderne Verstehen erschließbar. Ziel der neutestamentlichen Hermeneutik muss es daher sein, zwischen dem neuzeitlichen Menschen und den antiken Texten zu vermitteln, ohne deren Differenz zu übergehen. 16 Die neutestamentliche Hermeneutik unterscheidet sich nach H. Weder von der allgemeinen Hermeneutik nicht nur durch ihren Gegenstand, sondern auch im Verfahren: Sie muss die hermeneutische Funktion der neutestamentlichen Texte selbst berücksichtigen, ohne dabei biblizistisch zu werden. 17 Neutestamentliche Hermeneutik kann nach H. Weder deshalb keine Methodenlehre sein, sondern muss theologisch-orientiert die exegetischen Methoden, deren Möglichkeiten, aber auch deren Grenzen kritisch reflektieren. Da die historische Kritik notwendigerweise atheistisch ist, hat die neutestamentliche Hermeneutik die Aufgabe, das Verhältnis von profaner Methodik und theologischer Intention zu klären - d.h. zu fragen, in welchem Sinn die biblischen Texte Wort Gottes sind. 18 H. Weder schließt seine Begriffs- und Aufgabenbestimmung der Hermeneutik mit einer Reflexion zu 1Kor 12 und 14 ab: Die hermeneia kann im Gegensatz zur Glossolalie die Wirkung des göttlichen Geistes in verständliche Sprache überführen. Somit schafft sie die Vorraussetzungen, dass sich die Inkarnation Gottes im Verstehensprozess wiederholt. 19 Darüber hinaus sorgt die hermeneia dafür, dass auch Außenstehende mit einbezogen werden und verstehen können. 20 Deshalb wird durch die hermeneia nicht nur die Verhältnislosigkeit zwischen Gott und Mensch, sondern auch zwischen Mensch und Mensch überwunden, wodurch die hermeneia auch der Auferbauung der Gemeinde dient. „Die Auferbauung aber ist geboten, weil die Liebe sie ge- 14 HWe 14-18. 15 HWe 19. 16 HWe 21. 17 H. Weder wendet sich wegen der Gefahr der Isolation gegen eine hermeneutica sacra, die dem profanen Verstehen nicht mehr zugänglich ist, HWe 19 und 24. Zugleich warnt er davor, die neutestamentliche Hermeneutik dem Diktat zeitgenössischer Verstehenstheorien zu unterwerfen, HWe 26. 18 HWe 28. Vgl. 9.2.5 Schlüsselbegriffe. 19 „Gottes Fleischwerdung wiederholt sich, wenn vom Geist des Fleischgewordenen gelernt wird“, HWe 33. 20 HWe 37f. H. Weder betont, dass an den Außenstehenden, idiotes, keine Forderungen gestellt werden. <?page no="220"?> 220 9 Untersuchungen bei Hans Weder bietet. Insofern ist die Liebe das eigentliche Kriterium aller Fähigkeiten und Erfahrungen, sei es der Zungenrede, sei es der Übersetzung“. 21 P RAGMATIK - Die neutestamentliche Hermeneutik hat die Aufgabe, unverständliches in verständlicher Sprache auszusprechen, ohne dabei das Fremde zu tilgen. Sie erschafft somit ein Verhältnis zwischen Text und Mensch, Mensch und Mensch sowie Gott und Mensch. - Die neutestamentliche Hermeneutik kann keine in sich abgeschlossene Methodenlehre sein. Ebenso ist sie nicht aus einer allgemeinen Verstehenslehre ableitbar, sondern am hermeneutischen Potential und der theologischen Intention der neutestamentlichen Texte selbst ausgerichtet. 2. Teil H. Weder führt hier die konstitutiven Merkmale ein, welche die Relation zwischen redendem Gott und vernehmendem Mensch bestimmen. Dies ist die Welt des Neuen Testaments auf der einen Seite und der neuzeitliche Mensch mit seinem Weltverständnis auf der anderen Seite. 22 Erstens rezipiert H. Weder hierzu Rudolf Bultmanns Darstellung des mythologischen neutestamentlichen Weltbildes. H. Weder hebt hervor, dass das Neue Testament nirgends das Weltbild selbst zum Thema mache. Vielmehr konzentriere sich das Neue Testament - trotz der Durchlässigkeit der unterschiedlichen Sphären - vornehmlich auf die irdische Welt. Daher bilde die Inkarnation Gottes die zentrale theologische Denkfigur. 23 Der neuzeitliche Mensch hingegen setzt „die Welt selbstverständlich als einen lückenlosen Zusammenhang von im Prinzip erklärbaren Größen“ voraus. 24 Worin besteht nun die Wahrheit neutestamentlichen Redens? H. Weder negiert den Lösungsansatz des Rationalismus, die Gotteserkenntnis mit dem jeweils höchsten Denken zu identifizieren. Denn diese Gottesvorstellung führe zu Deismus bzw. Atheismus. 25 Ebenso kritisiert er den psychologischen Lösungsansatz, der Gott in die Innerlichkeit verlegt. Dadurch werde der Glaube privatisiert. 26 Auch die Verlegung Gottes Gegenwart in die Zukunft führe zur Belanglosigkeit Gottes bzw. zur Gesetzlichkeit des Glaubens. 27 Mit Bultmann sieht H. Weder keine Möglichkeit, die Mythologeme des Neuen Testaments zu streichen, alles im Neuen Testament ist mythologisch - wie alles bei uns neuzeitlich ist. 28 Da die Wahrheit des Neuen Testaments aller- 21 HWe 39. 22 HWe 48. 23 HWe 50f. 24 HWe 58. 25 HWe 61. 26 HWe 62. 27 HWe 63. 28 HWe 64. <?page no="221"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 221 dings unabhängig vom mythischen Weltbild ist, lässt sich an Bultmanns Entmythologisierungsprogramm modifiziert anknüpfen: Das neutestamentliche - im Mythos ausgedrückte - Selbstverständnis des Menschen muss herausgearbeitet und an den heutigen neuzeitlichen Menschen gerichtet werden. Dies führt zur an den heutigen Menschen gerichteten Entscheidungsfrage, „ob er sich selbst als Produkt seiner eigenen Möglichkeiten verstehen will […] oder aber ob er sich als Geschöpf des ihn liebenden Gottes verstehen will, der ihn befreit von seiner Fixierung auf die eigene Handlungsmacht“. 29 Zweitens reflektiert H. Weder die Spannung zwischen der Weltlichkeit der textanalytischen Methode und der Heiligkeit des Glaubens. H. Weder stellt die Weltlichkeit, d.h. die neuzeitliche Bestimmtheit, historischer Erkenntnis als uneingeschränkt positiv dar. Denn durch die Errungenschaften der historischen Kritik konnte das Christentum aus seiner Selbstverständlichkeit entlassen werden. Urteile historischen Erkennens treffen den Glauben direkt. Dies ermöglicht es dem Glauben, an seine Freiheit zu glauben, die zu der echten Entscheidungsfrage (s.o.) führt. 30 Der Glaube an das Christusgeschehen darf aber nicht als Konkurrenz oder Ersatz für methodisches Wissen angesehen werden, sondern muss als eine bestimmte Art des Umgangs mit Wissen verstanden werden. Zwar kann die historische Kritik irgendwann von anderen Methoden abgelöst werden, derzeit aber verkörpere sie das angemessene Instrumentarium, das vernünftige Denken mit der Heiligen Schrift zu konfrontieren. Dies schmälert nicht, sondern steigert die biblische Wahrheit, da den biblischen Texten die Absolutheit wieder durch ihren Inhalt anstelle ihrer Kanonizität zurückgegeben werden kann. 31 Drittens beschreibt H. Weder hermeneutische Irrwege unter der Überschrift „Die Sünde im Verstehen“. 32 Erneut knüpft er an Bultmann an und definiert die Sünde „als Eigenmächtigkeit des Menschen, als seine Verfallenheit an das Selbst“. 33 Sündenerkenntnis kann nur dort geschehen, wo die Befreiung des Selbst von der Sünde bereits geschehen ist - „dort, wo die Liebestat Christi mich trifft“. 34 Dies geschieht nach H. Weder in der Begegnung mit dem Wort Gottes. Anhand des neuzeitlichen Umgangs mit dem Wort Gottes illustriert H. Weder die Sünde im Verstehen: Die Vorstellung von der Verbalinspiration distanzierte das Wort Gottes vom Menschenwort, vergottete in Konsequenz dazu das Menschenwort und schnitt schließlich das Menschenwort von den Segnungen des Gotteswortes ab. 35 29 HWe 67f. 30 „Eine Frage ist echt, wenn ihre Antwort wesentlich problematisch ist“, HWe 72. 31 HWe 78-82. 32 HWe 83. 33 HWe 91. 34 HWe 92. 35 HWe 95-97. <?page no="222"?> 222 9 Untersuchungen bei Hans Weder Viertens diskutiert H. Weder Wilhelm Diltheys Unterscheidung von Erklären und Verstehen. 36 Nach Ansicht H. Weders übersieht Dilthey, dass es auch in den Naturwissenschaften verstehende Momente und in den Geisteswissenschaften Erklärungstätigkeiten gibt. Von Wert bleibe aber Diltheys Betonung des Erkenntnissubjekts. So formuliert H. Weder auf der Linie Dilthey-Gadamer: „Verstehen ohne den Einbezug des Ichs [ist] nicht denkbar […z]um Verstehen ist es gekommen, wenn der Text mich auslegt“. 37 Mit Bultmann betont H. Weder weiterhin, dass das Verstehen vom Woraufhin des Verstehens abhängig ist. 38 Dieses Woraufhin muss seine Legitimität an den Texten selbst ausrichten, da sonst die Gefahr der Vereinnahmung und Willkür drohe. 39 Während das Erklären theoretisch bleibe, ermögliche erst das Verstehen - unter Einbezug des Erklärens - einen Umgang mit der konkreten Erfahrung. 40 Anhand von 2Kor 5,16 weist H. Weder schließlich das Erklären dem Horizont der Weltlichkeit zu, Verstehen als wahrhaftiges Verstehen beginnt erst dort, wo es unter der notwendigen Einbeziehung des Erklärens als Verstehen Christi beschrieben wird, „wo er mit den Augen Gottes gesehen wird“. 41 Diese Kehre im Wahrnehmungsvorgang bewirkt die Liebe: „Gott lieben heißt, Gott Gott sein lassen. Man könnte auch sagen: Gott Subjekt sein lassen. Gott Subjekt sein lassen aber heißt: Gott an mir tun lassen, was er getan hat“. 42 Fünftens schließt H. Weder seine ausführliche Vorrede mit einer Modifizierung des Bultmannschen Vorverständnisses ab: 43 Mit Mk 4, dem Gleichnis vom vierfachen Acker, beschreibt er das rechte Vorverständnis als Hörenkönnen des Evangeliums. Denn in der Bibel hört der Mensch das Wort Gottes. 44 In Differenz zu Bultmanns Konzeption des Vorverständnisses als Fraglichkeit des Daseins ergeben sich daraus für H. Weder folgende Konsequenzen: Es gibt keinen anthropologisch-theologischen Anknüpfungspunkt. 45 Es wird auf die Notwendigkeit theologischer Rede verzichtet, denn „Gottes Wort 36 Dilthey ordnete die erklärende Tätigkeit den Naturwissenschaften, die verstehende Tätigkeit den Geisteswissenschaften zu. 37 HWe 114. 38 HWe 115. 39 HWe 119. 40 HWe 129. 41 HWe 132. 42 HWe 135f. 43 HWe 137. H. Weder teilt Bultmanns Auffassung, dass es vom Handeln Gottes kein Vorverständnis geben kann, da der Gottesbezug erst im Akt der Offenbarung hergestellt wird. Bultmann bezieht das Vorverständnis daher immer nur auf den potentiellen Gott, gegeben als Unruhe des Herzens, HWe 139. Die Fraglichkeit des Daseins wird aber dadurch nach H. Weder zu einer unabdingbaren Voraussetzung für das Verstehen des Evangeliums. Gott werde somit in die Antwortposition gedrängt, HWe 142. Deshalb kann nach H. Weder die Fraglichkeit des Daseins nicht das Vorverständnis des Evangeliums konstituieren, HWe 147. 44 HWe 145f. 45 HWe 150f. <?page no="223"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 223 kommt stets ungefragt in die Welt“. 46 Nicht mehr wird das Evangelium im Horizont der Fraglichkeit auslegt, vielmehr macht die Auslegung unser Dasein selbst fraglich. 47 Schließlich sucht die Erfahrung, die das Evangelium ausspricht, nicht mehr die Fraglichkeit und Zerbrechlichkeit des Menschen, sondern die Erfahrung, „daß das menschliche Dasein aus dem Hörenkönnen lebt“. 48 P RAGMATIK - Für die neutestamentliche Hermeneutik ist es unumgänglich, die durchweg mythologische Prägung der neutestamentlichen Texte zu beachten und gleichzeitig die Weltlichkeit des neuzeitlichen Menschen ernst zu nehmen. Deshalb konzentriert sich die neutestamentliche Botschaft hermeneutisch auf die Entscheidungsfrage, ob der Mensch sich als verschlossenes Produkt seiner eigenen Möglichkeiten oder als geöffnetes und von Gott geliebtes Geschöpf begreifen will. - Die Weltlichkeit der textanalytischen Methoden steigert die biblische Wahrheit, weil diese nun nicht mehr durch eine kanonische Geltung, sondern nur noch durch ihren Inhalt ihre Qualität auszuweisen vermag. - Die Sünde im Verstehen ereignet sich als Drang menschlicher Eigenmächtigkeit und kann nur durch die Begegnung mit Gott in Gestalt von Gottes Wort selbst überwunden werden. - Zum wahrhaftigen Verstehen kommt es erst in der Kehre des Wahrnehmungsvorgangs, d.h. wenn der Mensch sich als von Gott Verstandener versteht. - Das Vorverständnis lässt sich angemessen nur als Hörenkönnen beschreiben. Die folgenden drei Hauptteile H. Weders Hermeneutik suchen das hermeneutische Potential der neutestamentlichen Texte anhand verschiedener Sprachgattungen darzustellen. N EUTESTAMENTLICHE H ERMENEUTIK 49 1. M ETAPHORISCHE S PRACHE 50 Erstens hebt H. Weder die sprachliche Qualität der Metapher hervor. Im Gegensatz zur herkömmlichen Sprachtheorie, welche die Metapher als un- 46 HWe 151. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 HWe 153-425. 50 HWe 153-285. <?page no="224"?> 224 9 Untersuchungen bei Hans Weder eigentliches Reden versteht 51 , betont die neuere Sprachtheorie, dass gerade die Metapher wichtige Tiefendimensionen der Sprache zur Geltung bringt - vor allem die Anredefunktion. 52 Sprache bildet demnach nicht nur ab, sondern geht in ihrer poetischen Dimension über das hinaus, was schon ist und erschafft somit eine neue Wirklichkeit. Die bildhafte Sprache spricht das Hören an und stärkt das Ich. 53 Deshalb hat die performative Funktion der Sprache 54 einen besonderen Wert für die theologische Hermeneutik. 55 Zweitens bezieht H. Weder diese Metapherntheorie auf die Gleichnisrede Jesu. Der Wert der Metapher besteht darin, dass sie etwas zusammenbringt, das eigentlich nicht miteinander in Verbindung zu bringen ist. Ihre Wahrheit lebt vom Widerspruch zur Wirklichkeit. 56 Die theologische Metapher verdichtet sich im Gleichnis Jesu. Dort bilden Wahrheitsaussage und Wahrheitsansage eine Einheit 57 und die Gottesherrschaft wird in die unzulässige Nähe der Gegenwart der Welt gebracht. 58 Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Sinnhorizonten 59 wird „durch die Herstellung von Entsprechungen“ geschaffen. 60 Darin liegt die semantische Innovation der Metapher, „ein Bedeutungsgewinn, welcher recht eigentlich auch ein Weltgewinn ist“. 61 Eine theologische Metapher ist wahr, wenn sie der Grundmetapher Jesus Christus entspricht. 62 Drittens bezieht H. Weder das neutestamentliche Gleichnis auf das Wort Gottes. Wegen seines Anrede- und Performanzcharakters bildet das Gleichnis „einen Vollzug Gottes am Menschen, […] ein Wort, in welchem sich Gott am Hörenden ereignet“. 63 Weil der Mensch nicht auf den Intellekt reduziert werden darf, spricht das Gleichnis den Menschen auf die unterschiedlichen Dimensionen Leidenschaft, Einbildungskraft, Vernunft und Wille an. 64 Das Wort Gottes vergleicht er mit dem Spiel: Es hält als Angebot zur Selbstidentifikation die Rolle des verschlossenen Menschen bereit, es „spielt mir zu, wer ich in Wahrheit bin, indem es mir vorspielt, wer ich in Wirklich- 51 Die herkömmliche Sprachtheorie favorisiere den Aussagesatz, weil er in größtmöglicher Eindeutigkeit die Wirklichkeit abzubilden vermag, HWe 158. 52 HWe 160. 53 HWe 163. 54 H. Weder bezieht sich hierbei auf die Sprechakttheorie von J. Austin, HWe 170. 55 HWe 182. 56 HWe 187. 57 HWe 189. 58 HWe 190. 59 Die Sinnhorizonte umfassen das, was traditionell als Bild- und Sachhälfte bezeichnet wird. Allerdings lehnt H. Weder diese Klassifizierung ab, weil sie auf eine Dechiffrierung der Metapher abzielt und somit deren Sinn zerstört. Deshalb spricht er vorzugsweise von Subjekt und Prädikat, die mit der Kopula ‚ist‘ verbunden sind, HWe 184. 60 HWe 193. 61 HWe 194. 62 HWe 201. 63 HWe 205. 64 HWe 205-208. <?page no="225"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 225 keit war“. 65 Ein Spiel ist unverbindlich - so will auch das Wort Gottes nicht über den Menschen hereinbrechen, sondern ermöglicht Freiraum zur Entscheidung. 66 Schließlich wird im Spiel manches richtige selbstverständlich getan - in gleicher Weise setzt das Wort Gottes den Willen Gottes ins Herz, verwehrt sich gegen Gesetzlichkeit und überwindet „den Hiatus zwischen meinem Sein und meinem Sollen“. 67 Viertens thematisiert H. Weder das Verhältnis von Welt- und Gotteserfahrung im Gleichnis. Das Gleichnis überträgt durch die Schilderung weltlichalltäglicher Szenerien die weltlich-erfahrene Wirklichkeit auf die Gottesherrschaft. So wird mit der weltlichen Alltäglichkeit Gott zur Sprache gebracht. Der Bezug zwischen Welterfahrung und Gotteserfahrung umfasst dabei folgende Aspekte: Das Gleichnis gibt gewöhnliche Verhaltensmuster wieder 68 und konstituiert dadurch die Welterfahrung in ihrer Unerbittlichkeit als Verständnisbedingung der Gotteserfahrung. 69 Die Kehrseite der „Welterfahrung gibt der Gotteswahrnehmung ihre eigentliche Tiefendimension“. 70 Im Geheimnis der Welterfahrung wird die Gotteserfahrung wahrgenommen. 71 Und schließlich zerbricht an der Gotteserfahrung die Welterfahrung. 72 Fünftens beschreibt H. Weder das Verhältnis zwischen Jesuswort und Gotteswort. Im Inkarnationsgeschehen werden beide identisch. Die Zuschreibung dieses Zusammenhangs erfolgt durch die aktive Rolle des Hörers. Hierbei fallen die Produktivität als Zuschreibung und die Rezeptivität als Hören zusammen, denn der Glaube beteiligt den Glaubenden am Geglaubten. 73 H. Weder charakterisiert das Wort Gottes durch fünf Merkmale: Die Vollmacht Jesu als Wort Gottes stützt sich nicht auf den Schriftbeweis, sondern auf die Autorität seiner Kompetenz. 74 Gottes Wort führt eine Klärung meines Lebens herbei, indem es als Zuspruch für mein Leben wirkt und mir dadurch ein neues Verhältnis zu meinem Dasein ermöglicht. 75 Den Daseinsraum, der sich mir eröffnet, muss ich mir als Mensch nicht erkämpfen. Denn 65 HWe 209. Bezeichnend bei dieser Formulierung ist der Tempuswechsel: Erst durch den Offenbarungsakt kann die Sündenerkenntnis erfolgen. 66 HWe 211. 67 HWe 216. 68 HWe 219. 69 HWe 221. H. Weder veranschaulicht diesen Gedanken anhand des Gleichnisses über die Arbeiter im Weinberg und anhand des Gleichnisses vom Schalksknecht. 70 HWe 223. Die Kehrseite der Welterfahrung als Verlorenheit bezieht H. Weder auf das Gleichnis vom verlorenen Schaf. 71 HWe 225. Das Geheimnis der Weltwirklichkeit konkretisiert H. Weder durch die Wachstumsgleichnisse. 72 So zerbricht die „alte Welt der eigenmächtigen Herren […], weil die neue Welt des gütigen Herrn kommt, HWe 226. Dieser Bruch verhindert ebenso die Denknotwendigkeit Gottes und wahrt die Kontingenz des Inkarnationsgeschehens, HWe 230. 73 HWe 232-236. 74 HWe 239. 75 HWe 243. <?page no="226"?> 226 9 Untersuchungen bei Hans Weder Gottes Wort ist „ein Sprachereignis, ein sprachlicher Vorgang, in welchem dem Dasein dessen, der hier zur Sprache kommt, Raum verschafft wird“. 76 Das Wort Gottes steht verbindlich zu seiner Zusage: Das „Wort von der Feindesliebe beispielsweise ist insofern verbindlich, als er [Jesus] selbst keinen Versuch macht, den Feinden etwas anderes als Liebe entgegenzubringen“. 77 Die Wahrhaftigkeit des Wortes Gottes hat als „Bewahrheitung die konkrete Gestalt der Überwindung der Lüge“. 78 Deshalb „kann der Mensch nur hoffen, als Lügner herausgestellt zu werden, als Lügner, dessen Wort die eigene Ungerechtigkeit höher achtet als die Treue Gottes“. 79 Sechstens stellt H. Weder den Vorgang der Usurpation weltlicher Sprache dar. Durch die Inbesitznahme weltlicher Sprache durch theologische Phänomene wird Gott kosmomorph und die Welt theomorph verstanden. 80 Die „anthropomorphe Rede von Gott vollzieht die göttliche Eroberung des Menschen, eine Eroberung, die ebenso zugunsten des Eroberten geschieht“. 81 Siebtens bezieht H. Weder die metaphorische Sprache auf die Liebe. „Metaphorische Sprache ist nichts anderes als die Sprache der Liebe“. 82 Denn die Gleichnisse sprechen den Menschen nicht auf eine geforderte Aktivität hin an, sondern sie arbeiten an der Rezeptivität des Menschen. Sie fordern kein gesetzliches Tun, denn die Liebe ist ein Werk, das sich der Mensch gefallen lassen soll - Liebe „muss sich ereignen, wo sie wirklich werden soll“. 83 Die Sprache der Gleichnisse bittet um Einverständnis. Sie erzwingt es aber nicht. Denn die Liebe hält den Raum offen, nein zu sagen. 84 Das Verstehen des Neuen Testaments gelangt dort zum Ziel, wo ich nicht mehr der Verstehende sondern selbst der Verstandene bin. 85 P RAGMATIK - Die Metapher darf nicht als uneigentliche Rede disqualifiziert werden. Sie bringt Tiefendimensionen zur Sprache, die besonders für die neutestamentliche Hermeneutik von entscheidender Relevanz sind. Die theologische Metapher bringt unvereinbares zusammen: die Weltlichkeit der Welt und das Reich Gottes. 76 HWe 246. In dieser Formulierung wird die performative Funktion der Sprache besonders deutlich. 77 HWe 247. 78 HWe 253. 79 HWe 255. 80 H. Weder veranschaulicht diesen Gedankengang anhand der Weisheit bei Paulus und der Umdeutung des Kreuzes, dem Begriff des Vaters und dem Symbol des Sauerteigs, HWe 260-264. 81 HWe 270. 82 HWe 272. 83 HWe 274. 84 HWe 280. 85 HWe 284. <?page no="227"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 227 - Das Wort Gottes wirkt am Menschen ganzheitlich, lässt den Menschen in Liebe Freiraum zur Entscheidung und verwehrt sich gleichzeitig gegen Gesetzlichkeit. - Das Einverständnis darf nicht als Vorraussetzung des Wirkens Gottes gesehen werden. - Zentral für die metaphorische Sprache ist die Liebe. 2. H ERMENEUTISCHE S TREIFLICHTER 86 In diesem zweiten Hauptteil wendet sich H. Weder nach der metaphorischen Rede nun weiteren kleineren Sprachformen des Neuen Testaments zu. Erstens skizziert H. Weder die Sprachform des Gebetes. Im Gebet wird das narzisstische Ich überwunden und auf Gottes Nähe reagiert. 87 Im Gebet gesteht der Beter ein, dass er sich nicht selbst geben kann, um was er bittet. 88 Zweitens reflektiert H. Weder die Gesetzesauslegung Jesu. Das Gebotene konkretisiert sich bei Jesus nicht mehr als ein Raum, der durch Verbotsgrenzen markiert ist, sondern durch den Willen Gottes inmitten des Lebens. 89 Während sowohl das Pharisäertum wie auch die Apokalyptik mit dem Gesetz als einer fremden Autorität arbeiten, verzichtet Jesus auf eine Abstützung seiner Aussagen. 90 Seine Gesetzesauslegung zielt daher auf Einverständnis und ermöglicht Raum zur Freiheit. Drittens thematisiert H. Weder einige Aspekte der Sprachform des Evangeliums. Er grenzt es sowohl vom Mythos wie auch der Biografie ab. 91 Anhand der theologischen Figur der Inkarnation betont H. Weder die Verbindung des fleischgewordenen Logos mit der konkreten Gestalt des fleischgewordenen Menschen Jesus: „Seine Wahrheit ist eine zeitförmige, niemals ablösbar von den Zeitumständen, unter denen sie in den Vordergrund der Welt getreten ist“. 92 Viertens betrachtet H. Weder die Sprachform des Briefes. Diese Kommunikationsform darf nicht lediglich auf äußere Umstände zurückgeführt werden, denn sie hat selbst eine Affinität zum Evangelium: Der Brief ist Zeichen der Liebe, er klopft vorsichtig an und will sich engagiert einmischen. 93 Seine 86 HWe 287-330. 87 HWe 289. 88 HWe 293. 89 HWe 296f. 90 HWe 301. 91 HWe 308. Der Mythos trifft die Welt konkret nur an einem einzigen Punkt, das Evangelium hingegen erzählt die Inkarnation Gottes. Die Biografie hat wenig mit Gott zu tun, das Evangelium hingegen lässt Gott in den Vordergrund treten, HWe 309. 92 HWe 312. 93 H. Weder greift hierzu auf 1Kor 8 zurück, wo Paulus im Konflikt zwischen Starken und Schwachen der briefliche Fürsprecher des schwachen Menschen ist, HWe 316f. <?page no="228"?> 228 9 Untersuchungen bei Hans Weder Situationsgebundenheit bedenkt das Alltägliche mit und will somit dem Geschehen Gottes in der Welt nachdenkend entsprechen. 94 Fünftens beleuchtet H. Weder die Sprachform der Bitte. Mit 2Kor 5 verweist er auf die Überwindung der Feindschaft zwischen Gott und Mensch durch Gottes Einladung an den Menschen, die gestiftete Versöhnung anzunehmen. In der Gestalt des bittenden Gottes um Versöhnung findet die Inkarnation Gottes ihren vollendeten Ausdruck. 95 P RAGMATIK : - Neben der Metapher als Grundform christlichen Redens gibt es noch weitere wichtige neutestamentliche Sprachformen. - Im Gebet antwortet der Mensch auf die Zuwendung Gottes. - Das neutestamentliche Gebot will nicht einengen, sondern dem Leben dienen. - Das Evangelium versprachlicht die Inkarnation Gottes. Dieses Geschehen darf nicht von seiner Geschichtlichkeit gelöst werden. - Der neutestamentliche Brief hat selbst Anteil am Evangelium und ist ein Zeichen der Liebe. - Und in der Bitte Gottes um Versöhnung ereignet sich die Sprache der Liebe am stärksten. 3. D IE G ESCHICHTS -E RZÄHLUNG 96 Die besondere Relevanz der Geschichts-Erzählung weist H. Weder dadurch aus, dass „an der Erzählfähigkeit der christlichen Kirche […] die Glaubwürdigkeit ihres Wortes“ hängt. 97 Erstens reflektiert H. Weder das Verhältnis von Glaube und Geschichte. Die neuzeitliche Situation differenziert sich hierzu in vier wesentliche Positionen, die gemeinsam den Zusammenhang von Glaube und Geschichte destruieren. 98 Hingegen betont H. Weder das intensive Verhältnis des christ- 94 H. Weder bezeichnet diesen Aspekt mit der positiv gewendeten Formulierung „vordergründige Theologie“, HWe 318. 95 HWe 329. 96 HWe 331-425. 97 HWe 332. 98 Die erste - idealistische - Position weist dem Glauben eine universale Deutung der Geschichte zu. Diese Strategie soll den menschlichen Sinnverlust kompensieren, verwehrt aber gerade die Wahrnehmung an Sinnhaftigkeit im Einzelnen, HWe 333f. Die marxistische Geschichtstheorie hingegen wirft dem Christentum unter dem Stichwort Jenseitsvertröstung ein falsches Geschichtsbewusstsein vor. Dieser Ansatz wurde von materialistischen Theologien aufgegriffen als „gänzlich unheilige Allianz von Religion und Philosophie“, HWe 335. Die Religionskritik Feuerbachs und Freuds negiert die Geschichtlichkeit des Glaubens völlig und versteht den Glauben als bloße Projektion von Wünschen, HWe 336. Und eine vierte Position entwirft den Widerspruch von Glaube und Geschichte, indem der Glaube als verlorene Seligkeit verstanden wird, HWe 337. <?page no="229"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 229 lichen Glaubens zur Geschichte. Theologisch wird dieses Verhältnis vor allem durch das Inkarnationsgeschehen konstituiert. 99 Zweitens grenzt H. Weder die Begriffe Glaube und Fiktion anhand der paulinischen Kreuzestheologie aus 1Kor 1 voneinander ab: Die Fiktion hebt die Zeitlichkeit eines Geschehens auf und abstrahiert von der Geschichtlichkeit eines Geschehens. Paulus hingegen macht die Tatsächlichkeit des Kreuzes zum absoluten Maßstab allen Nachdenkens und steigert damit die Kontingenz dieses Geschehens. Denn durch die geschichtliche Tatsächlichkeit des Kreuzes kommt die Zeitlichkeit zur Sprache und gibt dem Menschen seine Gegenwart zurück bzw. ermöglicht ihm ein Verhältnis zur Zeitlichkeit. 100 Drittens differenziert H. Weder Evangelium und Geschichte. Beide beziehen sich auf faktische Geschehen. Beide gehen über das Faktische hinaus, indem sie den zeitlichen Abstand von ihrem referentiellen Geschehen ernst nehmen. Und beide präsentieren ihren Inhalt erzählend. 101 Den Unterschied von Evangelium und Geschichte beleuchtet H. Weder anhand des paulinischen Schriftbezugs in Gal 3: Paulus argumentiert hier mit Schriftstellen diametral gegen die Schrift und deren Auslegungstradition in Bezug auf die Gesetzesthematik. Die einzige Stelle, die Paulus hier in ihrer Ursprünglichkeit verwendet, ist Dtn 21,23. Damit wird das Kreuz als weltliches Geschehen ausgewiesen, die Rettung Gottes hingegen der Definitionsmacht des Gesetzes entzogen. Dieses geschichtliche Geschehen ist daher mit den Augen Gottes zu betrachten, wodurch die geschichtliche Betrachtungsweise an ihr Ende kommt. Mit anderen Worten: Indem das kontingente Geschehen am Kreuz zum concretum universale gemacht wird, führt das Evangelium zum Ende der Geschichte und befreit vom Zwang zur Geschichte bei gleichzeitig gesteigertem Geschichtsbezug. 102 Viertens führt H. Weder seine Betonung der Fremdheit ein. Die Vereinnahmung des Fremden zerstört die fruchtbare Spannung aus Fremdem und Vertrautem. 103 Die Fremdheit des Evangeliums darf also nicht überwunden werden wollen, sondern muss als Provokation für die Eigenmacht des Ichs zur Würdigung der Externität der Rettung finden. Nur so kann das Subjekt von eigenen soteriologischen Ambitionen entlastet werden 104 . Der Glaube wird dadurch zum Platzhalter für das Fremde inmitten des Eigenen. 105 99 HWe 337f. 100 HWe 356-360. 101 HWe 362-368. Das historische Erzählen wird notwendig, wenn funktionale Erklärungsweisen versagen. Dies trifft insbesondere bei kontingenten, d.h. nicht kausal ableitbaren Geschehnissen zu, wie sie die Geschichte und auch das Evangelium zum Ausdruck bringen, HWe 369. 102 HWe 377-382. 103 HWe 384. 104 HWe 386. 105 HWe 387. <?page no="230"?> 230 9 Untersuchungen bei Hans Weder Fünftens skizziert H. Weder den Vergangenheitsaspekt der Geschichte. Als vergangenes Geschehen liefert sich das Evangelium seiner eigenen Ohnmacht aus und ist auf den Menschen im Glauben als Anwalt gegen das Vergessen des Evangeliums angewiesen. Der Mensch wird dadurch zum Wegbereiter des widerstehlichen Wortes. 106 Sechstens korrespondiert hierzu der Gegenwartsbezug des Geschichtlichen. H. Weder lehnt die handlungsorientierte Begründung für die Beschäftigung mit der Geschichte ab, weil die Geschichte keinen analogisierbaren Gesetzmäßigkeiten unterliegt. 107 Aus der Geschichte erfahren wir hingegen für heute, wer wir sind. Denn das geschichtliche Wort vom Kreuz gewährt Daseinsraum. Somit kann sich der Mensch als Referenzsubjekt der Geschichte begreifen, anstatt sich als Handlungssubjekt selbst produzieren zu müssen. 108 Siebtens thematisiert H. Weder die Entmythologisierung neutestamentlicher Aussagen. Paulus vollzieht durch die Einfügung in Phil 2,8 selbst „tendenziell und prinzipiell“ 109 den Prozess der Entmythologisierung des Urmensch-Held-Mythos. Die ethische Einbettung des Hymnus mit den beiden Stichworten Erniedrigung und Gehorsam verwirklicht daraufhin die Entmythologisierung des Menschen, der von seiner selbsterschaffenen Hoheit und Stärke zum wahren Menschsein befreit wird. Deshalb überholt der neutestamentliche Vorgang der Entmythologisierung das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns, indem nicht nur der Mythos, sondern auch die Entmythologisierung selbst existential interpretiert wird. 110 Achtens beschreibt H. Weder die Relativität des Christusgeschehens. Sie ergibt sich aus der Geschichtlichkeit der Geschichte Jesu Christi 111 und in ontologischer Hinsicht durch die Relation zwischen Gott und dem Geschichtlichen im Christusgeschehen. 112 Das Relative wird dabei nicht vom Absoluten vernichtet, sondern behält seine Signatur des Relativen. H. Weder gebraucht hierfür den Schlüsselbegriff des concretum universale. 113 Und „diese gesteigerte Relativität des Christus wiederholt sich im Vorgang der Auslegung. Im auslegenden Nachdenken tritt das concretum universale zu jeder Zeit in ein Verhältnis“. 114 Neuntens schließt H. Weder den dritten Hauptteil seiner Hermeneutik „mit Überlegungen zum Verhältnis von metaphorischer Sprache und Ge- 106 HWe 391-395. 107 HWe 398. 108 HWe 401f. 109 HWe 408. 110 HWe 410f. 111 HWe 411. 112 HWe 413. 113 „Die unendliche Würdigung dieses relativen Geschehens macht aus dem concretum des Lebens Jesu ein concretum universale, ein concretum also, in welchem die universale Wahrheit selbst in Erscheinung tritt“, HWe 415. 114 HWe 418. <?page no="231"?> 9.1 Allgemeine Textanalyse: Textinhalt - Wertung - Pragmatik 231 schichts-Erzählung“ ab. 115 Die metaphorische Möglichkeit, das Christusgeschehen auszudrücken, liegt nicht in der Macht der Sprache, sondern in diesem Ereignis selbst begründet: „die Sprache wird auferweckt durch das, was vom toten Jesus zu erzählen war“. 116 P RAGMATIK - Der christliche Glaube hat durch das Inkarnationsgeschehen ein besonders enges Verhältnis zur Geschichte. Deshalb muss das Evangelium von Mythos und Fiktion unterschieden werden. - Gleichzeitig muss das Evangelium mit den Augen Gottes gesehen werden, welches die Geschichte zu ihrem Ende führt. Dadurch wird auch der Mensch vom Zwang nach Tatsachenbeweisen befreit. - Die Fremdheit der Geschichte muss gewahrt bleiben, damit sie ihr Potential für heute nicht verwirkt. - Die Ohnmacht des Wortes Gottes kommt durch den Vergangenheitsbezug des Evangeliums zum Ausdruck. Gleichzeitig schafft der Gegenwartsbezug des Wortes Gottes einen Daseinsraum. Deshalb darf sich der Mensch als Referenzsubjekt der Geschichte verstehen und muss sich nicht als Handlungssubjekt der Geschichte produzieren. E PILOG 117 Mit der theologischen Metapher des fremden Gastes pointiert H. Weder seinen hermeneutischen Ansatz. Die Ambivalenz des Fremden 118 kann zur Vernichtung des Fremden führen. Dies geschieht durch Mord oder Vereinnahmung des Fremden. In beiden Fällen wird verhindert, dass das Fremde bereichernd wirken kann. 119 Die angemessene Haltung zum Fremden ist hingegen die Gastfreundschaft, die wesentlicher Bestandteil des Neuen Testaments ist. 120 In der Bitte um Aufnahmebereitschaft für das Fremde kommt Gottes Wort am Menschen zur Wirkung. H. Weder veranschaulicht diesen Gedanken durch eine fünfteilige Bilderfolge: 121 1. Zuerst steht der fremde Gast vor der Tür und wird vom Leser abgewiesen. 2. Der fremde Gast bleibt geduldig, wird eingelassen und sofort auf die einheimischen Argumente reduziert. 115 Ebd. 116 HWe 419. 117 HWe 427-435. 118 Das Fremde wird sowohl als bedrohlich wie auch horizonterweiternd empfunden, HWe 428. 119 HWe 429. 120 H. Weder unterlegt diesen Gedanken mit der Erzählung von Jesus und Zachäus und der Gerichtsrede aus Mt 25. Damit erscheint im Fremden Gott/ Jesus selbst und bittet um Aufnahme, HWe 430ff. 121 HWe 433-435. <?page no="232"?> 232 9 Untersuchungen bei Hans Weder 3. Die historische Kultur ergreift Partei für den fremden Gast, der methodische Respekt rettet den Fremden vor dem Verbrauch. So wird es möglich, dass der fremde Gast seine eigene Geschichte erzählen kann. 4. Dies führt zur Erschütterung des Selbstverständlichen und befreit vom gedankenlosen Glauben und gottloser Vernünftigkeit. 5. Schließlich entdeckt der Leser die Wehrlosigkeit des Textes: Gottes Wort kommt in der Schwachheit und erwirkt einen neuen Daseinsraum für den Leser. „Die neutestamentliche Hermeneutik hat die Aufgabe, die menschliche Aufnahmefähigkeit angesichts dieser fremden Gäste zu entdecken. Entdecken kann sie sie, erschaffen kann sie sie nicht“. 122 P RAGMATIK - Das Wort Gottes kommt wie ein fremder Gast zum Leser der neutestamentlichen Texte. Nur wenn wir diese Fremdheit nicht vernichten, kann das Wort Gottes an uns wirken. 9.2 Ideologiekritische Untersuchung I DEOLOGIE ALS E RZÄHLSTRUKTUR : 9.2.1 Dualismen Erster Dualismus: Neutestamentliche Rede versus neuzeitliches Wirklichkeitsverständnis (Dualismustyp 2) Dieser Dualismus gibt die Grundspannung wieder, aus der heraus sich die Notwendigkeit einer neutestamentlichen Hermeneutik nach H. Weder ergibt. 123 Denn Ziel der Hermeneutik ist es, zwischen dem neuzeitlichen Menschen und dem Neuen Testament zu vermitteln, ohne „die Differenz, welche zwischen der Situation des neuzeitlichen Menschen und derjenigen des Neuen Testamentes besteht“ zu verleugnen. 124 Die Oppositionsbildung ergibt sich zum einen durch den historischen Abstand: So ist das Neue Testament durch das mythologische Weltbild seiner Abfassungszeit geprägt, dessen charakteristisches Kennzeichen die Durchlässigkeit der verschiedenen Sphären innerhalb des dreistöckigen Aufbaus der Wirklichkeit ist. 125 Das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis hingegen erfasst die Welt als rein immanent erklärbare und daher in sich geschlossene 122 HWe 435. 123 „Die Hermeneutik wird im strengeren Sinne erst dort notwendig, wo es infolge von Beziehungslosigkeit überhaupt ein Verstehensproblem gibt“, HWe 18. 124 HWe 21. 125 HWe 49f. <?page no="233"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 233 Größe 126 und steht in scharfem Gegensatz zur Durchlässigkeit des neutestamentlichen Weltbildes. Sowohl für das Neue Testament wie auch für die Neuzeit ist ihr jeweiliges Wirklichkeitsverständnis selbstverständlich. Daraus ergibt sich zum einen, dass das Neue Testament sein Weltbild nicht eigens zum theologischen Thema erhebt 127 , weshalb es möglich ist, die Wahrheit des Neuen Testaments unabhängig vom mythologischen Weltbild zu formulieren. 128 Zum anderen muss die neutestamentliche Hermeneutik die neuzeitlichen Verstehensbedingungen unbedingt akzeptieren. 129 „Eine Theologie, die dies nicht respektiert, entfremdet den Menschen gegenüber seiner Situation“. 130 Die Oppositionsbildung birgt aber vor allem eine theologische Qualität. 131 Denn H. Weder konstruiert anhand dieses Dualismus auch die Heiligkeit des Gegenstandes, d.h. die Spannung des Wortes Gottes zur Weltlichkeit der Auslegungsmethode. Dadurch erhält dieser Dualismus seine Grundsätzlichkeit, die nicht ausschließlich von den neuzeitlichen Verstehensbedingungen abhängig ist, wenngleich sie sich hier besonders klar zeigt. Zweiter Dualismus: Mensch als Referenzsubjekt versus Mensch als Handlungssubjekt (Dualismustyp 1) Im Anschluss an den ersten Dualismus können die anthropologischen Konsequenzen beschrieben werden. Das Selbstverständnis der Neuzeit formuliert den menschlichen Drang, sich aus den heteronomen Abhängigkeitsverhältnissen selbst zu befreien. 132 Der Mensch „will sein wie Gott, beziehungsweise wie er sich Gott vorstellt“ 133 und er will sich als eigenmächtiges Handlungssubjekt der Geschichte verstehen. 134 Dadurch radikalisiert sich jedoch die menschliche Verstrickung in die Sünde, verstanden als „Eigenmächtigkeit des Menschen, als seine Verfallenheit an sich selbst […] Der Sünder nimmt sein Selbst von dieser Verfallenheit aus. Er traut ihm ohne weiteres zu, den Schritt von der verfallenen Existenz zum gelungenen Leben selbst tun zu können“. 135 H. Weder schlussfolgert: „Niemals kann der Sünder so 126 HWe 58. 127 HWe 50. 128 HWe 66. 129 HWe 154. 130 HWe 58. „Der faktische Zustand des weltlichen Verstehens ist die einzige Verständnisbedingung. Er wird unter den Händen der Texte zur praeparatio evangelica, wenn man sie nur reden läßt“, HWe 107. 131 „Zwischen beiden tut sich vielmehr auch ein theologischer Graben auf, wie diese Hermeneutik Schritt für Schritt zeigen wird“, HWe 18. 132 HWe 102. 133 HWe 105. 134 HWe 402. 135 HWe 91. <?page no="234"?> 234 9 Untersuchungen bei Hans Weder etwas vernehmen“. 136 Demgegenüber verstehen die neutestamentlichen Texte als handelndes Subjekt nicht primär den Menschen, sondern das Wort Gottes. Das Neue Testament wird zum Redenden und der neuzeitliche Mensch zum Vernehmenden. 137 Deshalb besteht das angemessene Vorverständnis im Hören. 138 Somit ist „das Evangelium von allem Anfang an distanziert […] von der Produktivität des menschlichen Geistes“. 139 Diese Gegenüberstellung von Referenz- und Handlungssubjekt verdichtet sich in der an den neuzeitlichen Menschen gerichteten Entscheidungsfrage als Essenz des Evangeliums, „ob er sich selbst als Produkt seiner eigenen Möglichkeiten verstehen will […] oder aber ob er sich als Geschöpf des ihn liebenden Gottes verstehen will, der ihn befreit von seiner Fixierung auf die eigene Handlungsmacht“. 140 H. Weder betont diese Entscheidungsmöglichkeit, denn in ihr drückt sich die Sprache der Liebe aus. 141 Zugleich ist diese Entscheidungsmöglichkeit eine unmögliche Möglichkeit, „denn das Wort selbst [setzt] seinen Hörer schon auf die Seite des Ja“. 142 Dritter Dualismus: Liebe versus Gesetzlichkeit (Dualismustyp 1) Diese Oppositionsbildung steht in engem Zusammenhang zum zweiten Dualismus, denn Gesetzlichkeit und Zwang entsprechen der Perversion des Hörens, die davon ausgeht, „daß es auch im Gottesbezug des Menschen um das Tun gehe“. 143 Die Gesetzlichkeit entsteht, wo Gott aus der Gegenwart verdrängt und in die Zukunft verlagert wird 144 oder wo der Mensch sich das Wort Gottes selbst sagen können will. 145 H. Weder formiert die Gesetzesauslegung Jesu als Überwindung der Gesetzlichkeit des Pharisäertums und der Apokalyptik, indem Jesus den Willen Gottes nicht durch Grenzmarkierungen und Einengungen vollzieht, sondern als Willen zum Leben bestimmt. 146 Die „Liebe ist dem menschlichen Werk nicht verfügbar […] Sie muß sich ereignen, wo sie wirklich werden soll“. 147 Und dies geschieht im Vorgang des Verstehens, „in welchem Gott der Verstehende und der 136 HWe 92. 137 HWe 48. 138 HWe 146. 139 HWe 313. 140 HWe 67f. 141 Die Liebe hält nach H. Weder den Raum offen, nein zu sagen, HWe 180. 142 HWe 248. 143 HWe 148. 144 HWe 63. 145 HWe 231. 146 HWe 296-300. 147 HWe 274. <?page no="235"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 235 Mensch in seiner Sünde der Verstandene ist“. 148 Der Verstandene verändert sein Verstehen von Gott und Mensch. Damit führt das wahrhafte Verstehen zu einer ethischen Neuausrichtung, die jedoch nur als Folge, keineswegs als Voraussetzung des Glaubens beschrieben werden kann. H. Weder verwendet hierfür den Begriff „evangelischer Anspruch“. 149 Vierter Dualismus: Geschichtlichkeit des Glaubens versus Ungeschichtlichkeit des Glaubens (Dualismustyp 1) Unter den Verstehensbedingungen der Neuzeit kam es nach H. Weder zu verschiedenen Verhältnisbestimmungen zwischen Geschichte und Glaube, die in unterschiedlicher Tendenz den Glauben aus der Geschichte verdrängten. 150 Demgegenüber betont H. Weder vehement die Geschichtlichkeit des Glaubens. Zentral hierfür ist die theologische Figur der Inkarnation, denn das intime Verhältnis des Glaubens zur Geschichte beruht auf der Inkarnation Gottes, d.h. Gottes Eingehen in die Geschichte. 151 Deshalb sind nicht nur die im Glauben vollzogenen Werke geschichtlich, sondern der Glaube selbst. 152 Durch das Inkarnationsgeschehen wird der Verkündiger Jesus zum Verkündeten. 153 Die konkrete Geschichte Jesu Christi als Inkarnation des Wortes Gottes wird zur absoluten Maßgeblichkeit erhoben, dem concretum universale 154 , das zugleich zum Ende der Geschichte führt. Durch diesen gesteigerten Geschichtsbezug befreit das Evangelium vom Zwang zur Geschichte. 155 Fünfter Dualismus: Bewahrung der Fremdheit versus Vereinnahmung der Texte (Dualismustyp 1) H. Weder führt den menschlichen Drang nach Vereinnahmung auf den sündigen Status des Unglaubens zurück. „Denn der Unglaube zeichnet sich 148 HWe 276. „[D]ie Gelassenheit, dem andern, wie er wirklich ist, Raum zu gewähren, ist bloß ein anderer Name für den Vorgang des Verstehens“, ebd. 149 HWe 213. Wird dieses Zeitverhältnis umgekehrt - wie es nach H. Weder in der Neuzeit geschieht - so verkehrt sich die Liebe „in eine gezwungene Liebe, in eine zweckgerichtete Liebe, die nicht mehr die Ungezwungenheit der Liebe hat, die sich aus dem Wort der Liebe von selbst versteht“, HWe 212. 150 HWe 333-337. H. Weder thematisiert hier die idealistische Geschichtsphilosophie, den Materialismus der marxistischen Position, die Psychologie Freuds und den theologischen Historismus. 151 HWe 337. 152 HWe 339. 153 HWe 232. 154 „Die unendliche Würdigung dieses relativen Geschehens macht aus dem concretum des Lebens Jesu ein concretum universale, ein concretum also, in welchem die universale Wahrheit selbst in Erscheinung tritt“, HWe 415. 155 HWe 383. <?page no="236"?> 236 9 Untersuchungen bei Hans Weder durch das Bestimmen aus“. 156 Die Vereinnahmung als komplementäre Strategie zum Mord erwirkt die Vernichtung des anderen 157 , wodurch unweigerlich die fruchtbare Spannung zwischen Vertrautem und Fremdem verloren geht. 158 Dies wirkt sich besonders eklatant auf den Umgang mit den biblischen Texten aus, denn das Evangelium ist gegenüber der menschlichen Deutungsgewalt ohnmächtig - gerade darin zeigt sich die Widerstehlichkeit Gottes, die in seiner Menschwerdung beschlossen ist. 159 Das Evangelium erzählt eine alte Geschichte, d.h. es verweist auf etwas Fremdes. 160 Das „Evangelium lehrt, mit der Fremdheit des Jesus Christus leben zu lernen“. 161 Der Epilog vom fremden Gast veranschaulicht, wie sich die Wirkung des Wortes Gottes als fremde Größe entfalten kann. 162 Sechster Dualismus: Neuere Sprachtheorie versus herkömmliche Sprachtheorie (Dualismustyp 1) H. Weder grenzt insbesondere durch die Bewertung der Metapher die herkömmliche von der neueren Sprachtheorie ab. Die herkömmliche Sprachtheorie sieht in der Aussagefunktion die zentrale Sprachform und weist daher der Metapher die Gestalt einer nur uneigentlichen Rede zu. 163 Die neuere Sprachtheorie hingegen steigert die Qualität der Metapher durch die Beachtung der performativen Funktion der Sprache. H. Weder bezieht sich hierbei vor allem auf John Austins Sprechakttheorie 164 , deren große Relevanz er für die theologische Hermeneutik betont. 165 Die Sprache lässt sich demnach nicht auf die Abbildung der Wirklichkeit reduzieren, sie ist „nicht allein Mimesis, sondern auch Poesis“. 166 Die neutestamentlichen Texte haben deshalb selbst eine hermeneutische Funktion: „Sie geben uns Gott, den Menschen und die Welt in neuer Weise - besser: wahrhaftig - zu verstehen“. 167 Im Gleichnis Jesu als metaphorischer Rede kommt dieser Gedankengang zur Anwendung: Der Wert der theologischen Metapher besteht darin, dass sie eigent- 156 HWe 282. Der Glaube hingegen bewirkt die Befreiung „von der narzißtischen Vereinnahmung der Welt, von der narzißtischen Ausdehnung seines Ichs über alles, was ist“, ebd. 157 HWe 428. 158 HWe 384. Mit Ricœur weist H. Weder auf die Gefahr hin, dass der Text „zu schnell vereinnahmt werden [kann] von dem Willen des verstehenden Subjekts, sich selbst und seine Möglichkeiten in allen Texten wiederzufinden“, HWe 118f. 159 HWe 393. 160 HWe 384. 161 HWe 385. 162 HWe 433-435. 163 HWe 156-158. 164 HWe 168. 165 HWe 182. 166 HWe 169. 167 HWe 24. <?page no="237"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 237 lich unvereinbares zusammenbringt - die Gottesherrschaft und die Weltwirklichkeit. 168 9.2.2 Mythische Aktanten Eine insgesamt persuasive Funktion üben die zahlreichen wir-Formulierungen aus, die Übereinstimmungen zwischen dem Autor und der Leserschaft herstellen möchten, wie folgende Beispiele zeigen: - „W IR können also davon ausgehen, dass die Glossolalie ein ekstatisches Reden ohne Sinn war“. 169 - „Hier stehen WIR wohl an der Schwelle zum tiefgründigen Geheimnis Gottes“. 170 - „In der ausführlichen Vorrede haben WIR versucht, einerseits den Begriff der neutestamentlichen Hermeneutik zu klären und andererseits die Verstehensbedingungen zu skizzieren, die für das Neue Testament gegenwärtig gelten“. 171 - „Kehren WIR zurück zur grundlegenden Ambivalenz des Fremden“. 172 H. Weder umgibt sein eigenes Hermeneutikverständnis mit mythischen Aktanten, indem der allgemeine Hermeneutikbegriff als scheinbar eindeutiger Aktant ausgewiesen wird: - „H ERMENEUTIK IST vielmehr etwas ganz einfaches“. 173 - „S ACHE DER H ERMENEUTIK IST ES , sprechend auszulegen“. 174 - „D IE H ERMENEUTIK IST der Anwalt der Außenstehenden“. 175 - „D IE NEUTESTAMENTLICHE H ERMENEUTIK BEMÜHT sich um das Verhältnis der beiden Beziehungsgrößen ‚Neues Testament‘ und ‚neuzeitlicher Mensch‘“. 176 - „D IE NEUTESTAMENTLICHE H ERMENEUTIK HAT die Aufgabe, die menschliche Aufnahmefähigkeit angesichts dieser fremden Gäste zu entdecken“. 177 Ebenso formuliert er sein Verständnis vom neutestamentlichen und neuzeitlichen Weltbild durch unpersönlich gehaltene mythische Aktanten: - „D ARAUS ERGIBT SICH MIT N OTWENDIGKEIT der Schluß, daß das Weltbild kein theologisches Thema war“. 178 168 HWe 190. 169 HWe 31. 170 HWe 93. 171 HWe 154. 172 HWe 429. 173 HWe 12. 174 HWe 15. 175 HWe 39. 176 HWe 44. 177 HWe 435. 178 HWe 50. <?page no="238"?> 238 9 Untersuchungen bei Hans Weder - „F ESTZUSTELLEN IST ALSO , daß es hier um eine nicht aufhebbare Verschiedenheit des Denkens geht, die den heutigen Leser vom Neuen Testament trennt“. 179 Weiterhin formiert H. Weder seine Anthropologie durch mythische Aktanten: - „N UN IST ES JA SO , daß der Mensch, der sich als Sünder von Gott distanziert, sich in umso grösserer Nähe zu sich selbst und seiner Welt wähnt“. 180 H. Weder beschreibt sein Glaubensverständnis sowie das Verhältnis von Glaube und Geschichte, indem der vielschichtige Glaubensbegriff als univoker mythischer Aktant verwendet wird: - „I M G LAUBEN KOMMT das Wort Gottes zu seiner Wirklichkeit […] D ER G LAUBE IST die Beteiligung des Glaubenden am Geglaubten […] D ER G LAUBE IST der Lebensbezug des Wortes Gottes“. 181 - „D ER G LAUBE IST nichts anderes als das Platzhalten für das Fremde inmitten des Eigenen, ohne daß das Fremde seine Fremdheit verliert“. 182 - „In diesem ersten Unterabschnitt VERSTÄNDIGEN WIR UNS über das Verhältnis von Glaube und Geschichte“. 183 Analog hierzu formuliert H. Weder sein Verständnis von Liebe: - „D IE L IEBE IST der Gegenpol zum Tod […] D IE W IRKLICHKEIT DER L IEBE IST nicht anders denkbar denn als fortgesetzte, unerschöpflich weitergehende Liebe […] S ACHE DER L IEBE IST ES , Daseinsraum offen zu halten“. 184 Die Reflexionen zur Sprache, ihrer Bedeutung und Wirkung werden mit mythischen Aktanten gestützt: - „D IE M ACHT DER S PRACHE IST die Überwindung der Barbarei“. 185 - „Eine Sprachtheorie, welche von dem faktischen Sprachgeschehen ausgehen will, WIRD RECHT BALD auf den Sachverhalt stoßen, daß sich die Sprache nicht auf ihre Aussagefunktion reduzieren läßt“. 186 Auch das Verständnis des Textes als vom Autor gelöster Größe wird durch einen unpersönlich gehaltenen mythischen Aktanten eingeführt. - Es „ KOMMT einem schriftlichen Text so etwas wie eine Unabhängigkeit vom Augenblick seiner Entstehung zu“. 187 179 HWe 60. 180 HWe 277. 181 HWe 236. 182 HWe 387. 183 HWe 332. 184 HWe 275. 185 HWe 36. 186 HWe 160. 187 HWe 22. <?page no="239"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 239 Fazit Mythische Aktanten sind über den gesamten Untersuchungstext verteilt und erfüllen die Funktion, H. Weders Positionierung als opinio communis auszugeben. Dies geschieht vor allem innerhalb folgender Themenfelder: - das Verständnis der neutestamentlichen Hermeneutik, - die Gegenüberstellung von neutestamentlichem und neuzeitlichem Weltbild, - die Konzeption seiner theologischen Anthropologie - und das Verständnis von Glaube, Liebe, Sprache und Text. 9.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken H. Weders Wirklichkeitsverständnis weist eine dialektische Ausrichtung auf: Zum einen verwendet H. Weder den Begriff Wirklichkeit, um damit das neuzeitliche Selbstbewusstsein zu formulieren: Die Weltwirklichkeit wird kausal und immanent, d.h. in Absehung einer transzendenten Bezogenheit, erklärt. 188 Der Mensch tritt dadurch an die Stelle Gottes und versteht sich selbst als Handlungssubjekt der geschichtlichen, d.h. weltlichen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit gilt es nach H. Weder im Rahmen der hermeneutischen Reflexion unbedingt zu respektieren. 189 Zum anderen spricht H. Weder von der Wirklichkeit Gottes im Gegenüber zur Wirklichkeit des menschlichen Subjekts unter den Bedingungen der Neuzeit. 190 Das Geheimnis der Weltwirklichkeit besteht darin, dass sie nicht einfach da ist, sondern erst in der Gotteserfahrung wahrgenommen wird. 191 Im Glauben wird somit die Wirklichkeit des Wortes Gottes wirksam als „die Beteiligung des Glaubenden am Geglaubten“. 192 Weiterhin stellt H. Weder dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis die Kategorie der Wahrheit gegenüber, die er mit der Wirklichkeit Gottes gleichsetzt. Die Wahrheit ist nicht aus der weltlichen Wirklichkeit ableitbar 193 , vielmehr widerspricht sie als Torheit der scheinbar hohen Wahrheit der Welt. 194 Jesus Christus ist sowohl Wahrheitsansage wie auch Wahrheitsaussage. 195 Inhaltlich lässt sich die neutestamentliche Wahrheit auf die Entscheidungsfrage zuspitzen, ob sich der Mensch als Handlungssubjekt unter dem Zwang der Produktivität oder als Referenzsubjekt der Liebe Gottes verstehen will. 196 188 HWe 71. 189 HWe 154. 190 HWe 101. 191 HWe 224f. 192 HWe 236. 193 HWe 313. 194 HWe 203. 195 HWe 189. 196 HWe 68f. <?page no="240"?> 240 9 Untersuchungen bei Hans Weder H. Weders hermeneutischer Lösungsansatz ist auf diese Wirklichkeits- und Wahrheitskonzeption zugeschnitten, woraus sich ein Identitätsdenken der eigenen Position mit der referentiellen Wirklichkeitskonstruktion ergibt: Aus dem skizzierten Bild der Wirklichkeit mit der Sicht des Menschen als in sich selbst verschlossenes Wesen folgt, dass die neutestamentliche Hermeneutik keine Vorbedingungen wie Offenheit oder Einverständnis fordern kann: „Der faktische Zustand des weltlichen Verstehens ist die einzige Verständnisbedingung“. 197 Aus diesem Grund lehnt es H. Weder ab, Hermeneutik als Methodik zu verhandeln, denn dies impliziere die menschliche Möglichkeit als weltliche Ermächtigung und Verfügung über das Wort Gottes. 198 Hermeneutik kann nur die menschliche Aufnahmefähigkeit für die neutestamentlichen Texte aufgrund deren differenzierter Wirkmächtigkeit entdecken, nicht jedoch selbst herstellen. 199 Diese Wirkmächtigkeit der neutestamentlichen Texte begründet H. Weder insbesondere anhand seiner Reflexionen zur metaphorischen Rede. 200 Durch die Kategorie der Geschichte verbindet H. Weder die unterschiedlichen Aspekte seines Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisses. Denn die geschichtliche Tatsächlichkeit des inkarnatorischen Christusgeschehens begründet die Transformation der weltlichen Wirklichkeit in die Wirklichkeit und Wahrheit Gottes. 201 Daher hat das geschichtliche Geschehen Jesus Christus als concretum universale 202 absolute Maßgeblichkeit. 203 Die Inkarnation, die in der göttlichen Eroberung der Sprache weiterwirkt, ermöglicht es, dass „der Mensch aufmerksam wird auf die Erscheinung Gottes inmitten des Geschichtlichen“. 204 9.2.4 Monolog Insgesamt ist der Untersuchungstext im Stil einer monologischen Programmrede gehalten, die H. Weders Hermeneutikverständnis ausführt. Dies wird bereits zu Beginn der ausführlichen Vorrede deutlich: „Hermeneutik ist jedoch in Wahrheit nichts von alledem […] Hermeneutik ist vielmehr etwas ganz einfaches. Dies vor Augen zu führen hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt“. 205 Den monologischen Grundcharakter unterstützen unpersönliche Wendungen, die auf eindeutige Schlussfolgerungen hinwirken, wie z.B.: 197 HWe 107. 198 HWe 45f. 199 HWe 435. 200 Siehe 9.2.1 Dualismen, Sechster Dualismus. 201 HWe 76. 202 HWe 415. 203 HWe 338. 204 HWe 270. 205 HWe 12. <?page no="241"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 241 - „Daraus kann man einerseits erkennen, daß der hermeneutische Vorgang wesentlich und ursprünglich ein sprachlicher Vorgang ist“. 206 - „Was sich ansatzweise schon an der neuzeitlichen Vorstellung vom Wort Gottes erkennen ließ, ist im folgenden auf das Grundsätzliche auszudehnen“. 207 Besonders prägnant weisen Zusammenfassungen eine monologische Struktur auf, indem in apodiktischer, nicht thesenhafter Form der Inhalt des vorherigen Textabschnittes zusammengestellt wird. 208 Apodiktische Formulierungen, welche die Position des Autors absolut setzen, durchziehen insgesamt den Untersuchungstext: - „Eine Theologie, die dies nicht respektiert, entfremdet den Menschen gegenüber seiner Situation“. 209 - „Die Verkündigung des Neuen Testaments erhebt Anspruch auf den ganzen Menschen, und eben deshalb kann sie niemals ein sacrificium intellectus verlangen“. 210 - „Und jedes Gotteswort, das im Interesse des Todes gebraucht wird, hat den Namen Gottes mißbraucht und gegen sein eigenes Wesen verstoßen“. 211 - „Dieses Geschehen ist mit den Augen Gottes zu betrachten, und eben so ist es den Augen des Menschen entzogen“. 212 Der monologartige Grundcharakter wird allerdings durch häufige wir-Formulierungen und Fragen durchbrochen. Zum Abschluss des Epilogs geht der Text dialogisch in ein Gebet über. 213 Fazit Der Untersuchungstext ist weitgehend monologisch formiert. Dies liegt m.E. an der Intention, H. Weders hermeneutisches Modell als einzige theologischmögliche Position darzustellen. Seine Konzeptionierung integriert allerdings auch dialogische Züge, welche die Funktion haben, eine Übereinstimmung zwischen Text und Leserschaft zu fördern. 206 HWe 16. 207 HWe 100. 208 Z.B. HWe 43-45. 209 HWe 58. 210 HWe 65. 211 HWe 245. 212 HWe 381. 213 HWe 435. <?page no="242"?> 242 9 Untersuchungen bei Hans Weder I DEOLOGIE ALS A USSAGESTRUKTUR : 9.2.5 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung Schaubild N EUTESTAMENTLICHE H ERMENEUTIK : G OTT contra: F IKTION (R EDENDER ) G OTT ALS H ANDLUNGSSUBJEKT I NKARNATION K ONTINGENZ G ESCHICHTLICHKEIT W AHRHEIT V ERKÜNDIGER = CONCRETUM J ESUS C HRISTUS UNIVERSALE = W ORT G OTTES V ERKÜNDETER V OLLMACHT K LÄRUNG D ASEINS - V ERBIND - W AHRHAFTIG - DES L EBENS RAUM LICHKEIT KEIT METAPHORISCHE S PRACHE DER NEUTESTAMENTLICHEN R EDE MIT PERFORMATIVER A NREDEFUNKTION G LAUBE : E NTSCHEIDUNGSFRAGE F REIHEIT und L IEBE H ÖREN M ENSCH (V ERNEHMENDER ) M ENSCH ALS R EFERENZSUBJEKT contra: A NKNÜPFUNGSPUNKT V ERSTEHEN ALS V ERSTANDEN - WERDEN M ENSCHWERDUNG DES M ENSCHEN contra: S ÜNDE M ENSCH ( S ELBSTVERSCHLOSSENHEIT als des Menschen, A NWALT Z WANG , und G ESETZLICHKEIT , GASTFREUNDLICHER B ESCHÜTZER V ERNICHTUNG DES F REMDEN DES FREMDEN W ORTES G OTTES durch T ÖTUNG und V EREINNAHMUNG ) <?page no="243"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 243 Bemerkungen zum Schaubild H. Weders Ansatz einer NEUTESTAMENTLICHEN H ERMENEUTIK zeichnet die christologische Bewegung vom REDENDEN G OTT zum VERNEHMENDEN M ENSCHEN nach. Folgende Schlüsselbegriffe kennzeichnen H. Weders Entwurf: Die I NKARNATION bildet den geschichtlichen Haftpunkt des Christusgeschehens 214 und bewahrt dessen Tatsächlichkeit vor FIKTIONALER Entstellung. 215 Dadurch hat der christliche Glaube ein besonders intimes Verhältnis zur G ESCHICHTE . 216 Durch die Inkarnation kommt G OTTES W ORT als W AHRHEIT in der Gestalt J ESU C HRISTI in die Welt. 217 Jesus Christus ist zeitlich zuerst V ERKÜNDIGER und wird durch die Identifikation mit dem Wort Gottes zum V ERKÜNDE - TEN . 218 Als KONTINGENTES Geschehen der Geschichte wird das Christusgeschehen zum absoluten Maßstab und Ende der Geschichte, d.h. zum CONCRETUM UNIVERSALE . 219 Das Wort Gottes weist sich durch fünf wirksame Merkmale aus: Jesu V OLLMACHT stützt sich nicht auf fremde Autorität, denn das Wort Gottes geschieht ungeschützt als Zuspruch des Lebens. 220 Es erwirkt die K LÄRUNG DES L EBENS , so dass der Mensch ein Verhältnis zu seinem eigenen Dasein gewinnt. 221 Es bringt den Menschen zur Sprache, so dass dessen D ASEIN einen R AUM bekommt, den er sich nicht selbst erkämpfen kann und muss. 222 Es wahrt seine V ERBINDLICHKEIT , d.h. es bleibt seiner Zusage nach Liebe treu. 223 Und die W AHRHAFTIGKEIT des Wortes Gottes bewahrheitet sich in der Beseitigung der Lüge 224 , wo die menschliche Selbstanbetung überwunden und Gott als Geber der Gaben angenommen wird. 225 Die METAPHORISCHE S PRACHE DER NEUTESTAMENTLICHEN R EDE schafft einen dialektischen Zusammenhang 226 zwischen der Wahrheit Gottes und der menschlichen Wirklichkeit. 227 Daher ist die neutestamentliche Rede PER - FORMATIV und hat A NREDECHARAKTER . 228 214 HWe 269. 215 HWe 355. 216 HWe 337. 217 Im Gleichnis Jesu bilden Wahrheitsansage und Wahrheitsaussage eine Einheit, HWe 189. 218 HWe 232. 219 HWe 383. 220 HWe 241. 221 HWe 243. 222 HWe 246. 223 HWe 247. 224 HWe 253. 225 HWe 250. 226 HWe 221-225. 227 HWe 189. 228 HWe 182. <?page no="244"?> 244 9 Untersuchungen bei Hans Weder Der G LAUBE ist nicht Voraussetzung, sondern Folge dieses Sprachgeschehens. 229 Im Glauben vernimmt der Mensch die an ihn gerichtete E NT - SCHEIDUNGSFRAGE , ob er sich als Produkt seiner eigenen Möglichkeiten oder als geliebtes Kind Gottes verstehen will. 230 Menschliche F REIHEIT wird somit erschaffen 231 und die L IEBE konkret - denn die Sprache der Liebe ist das Gegenteil zu Zwang. 232 Die Entscheidungsfrage ist an keinen menschlichen A NKNÜPFUNGSPUNKT wie die Fraglichkeit des Daseins oder das Einverständnis als Bedingung gebunden, sondern sie spricht das H ÖREN direkt an: 233 Der hörende und VERNEHMENDE M ENSCH wird somit ganz zum „R EFERENZ - SUBJEKT in der Geschichte der Liebe Gottes“. 234 Daraus folgt eine Kehre im Wahrnehmungsvorgang: Im V ERSTEHEN ist Gott der Verstehende und der Mensch der V ERSTANDENE . 235 Aus diesem wahren Verstehen folgt die wahre M ENSCHWERDUNG DES M ENSCHEN 236 : Nicht mehr steht der Mensch unter der Macht der S ÜNDE 237 , welche sich als S ELBSTVERSCHLOSSENHEIT DES M ENSCHEN 238 , Z WANG und G E - SETZLICHKEIT 239 sowie der V ERNICHTUNG DES F REMDEN durch T ÖTUNG oder V EREINNAHMUNG 240 zeigt. Der Mensch wird zum A NWALT des ohnmächtigen Wortes Gottes, „zum Anwalt eines Wortes, das ihm vielleicht gar nicht ins Konzept paßt“ 241 - d.h. zum GASTFREUNDLICHEN B ESCHÜTZER DES FREMDEN W ORTES G OTTES . 242 9.2.6 Relevanzkriterien Drei miteinander verschränkte Gesichtspunkte bestimmen, was in Bezug auf H. Weders Argumentationskonstruktion relevant ist: Das erste Relevanzkriterium umfasst das Verständnis von neutestamentlicher Hermeneutik. Neutestamentliche Hermeneutik stellt nach H. Weder Verhältnisse zwischen Text und Mensch, Gott und Mensch sowie Mensch 229 HWe 20. 230 HWe 68. 231 HWe 73. 232 HWe 45. 233 HWe 147. 234 HWe 403. 235 HWe 276. 236 HWe 359. 237 HWe 85ff. 238 HWe 107. 239 HWe 274. 240 HWe 428. 241 HWe 393. 242 HWe 434f. An dieser Stelle kann mit Einschränkung von einem aktiven Moment in H. Weders Anthropologie gesprochen werden: Die Identität des wahren Menschen kommt durch den glaubensbedingten Identitätswechsel zum Vorschein, wobei die Produktivität des Angesprochenen als Zuschreibung und die Rezeptivität des Angesprochenen als Aufnehmen zusammenfallen, vgl. HWe 235. <?page no="245"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 245 und Mensch her. 243 Gott selbst ist dabei Handlungssubjekt, der Mensch das komplementäre Referenzsubjekt. 244 Daraus folgt, dass neutestamentliche Hermeneutik primär keine menschliche Methodenlehre sein kann. Das zweite Relevanzkriterium beschreibt die Verhältnislosigkeit zwischen Gott und Mensch als Diastase von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Selbstverständnis. 245 Daraus folgt, dass H. Weder keinerlei Möglichkeiten für anthropologische Anknüpfungspunkte gelten lässt, sondern allein das Hören als Bezugspunkt des Wortes Gottes definiert. 246 Das dritte Relevanzkriterium schließlich führt inhaltlich die neutestamentliche Verhältnisschaffung aus. Denn Hermeneutik ist die Lehre vom Wort Gottes, „wie es sich in den Texten selbst zu erkennen gibt“. 247 Das Wort Gottes bewirkt die Befreiung des selbstverschlossenen Menschen, schafft einen Daseinsraum, ermöglicht Liebe, Freiheit und Leben als wahre Menschwerdung des Menschen. 248 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte Der Soziolekt der Theologie Bultmanns 249 H. Weder verwendet klassische Denkfiguren und Terminologien der Bultmannschen Theologie: So basiert seine Akzentuierung der Distanz zwischen dem mythologischen Weltbild des Neuen Testaments und dem Wirklichkeitsverständnis der Neuzeit vor allem auf Bultmanns Arbeiten zum Mythosbegriff. 250 Ebenso reformuliert er Bultmanns existential ausgearbeitete Entscheidungsfrage 251 und übernimmt im wesentlichen Bultmanns Sündenverständnis. 252 Die existenzphilosophische Terminologie Bultmanns führt H. Weder in Begriffen und Wortverbindungen wie Eigenmächtigkeit und Verfallenheit an das Selbst 253 , Daseinsraum 254 , Selbstgespräch 255 , Lebensverhältnis 256 oder Eigenmacht des Ichs 257 fort. 243 HWe 43. 244 Siehe 9.2.5 Schlüsselbegriffe. 245 Siehe 9.2.1 Dualismen, Erster Dualismus. 246 Siehe 9.2.5 Schlüsselbegriffe. 247 HWe 28. 248 Siehe 9.2.5 Schlüsselbegriffe. 249 Bultmanns Ansatz stellt zuerst einen individuellen Ideolekt dar. Aufgrund seiner wirkungsgeschichtlichen Bedeutung und der damit verbundenen Schulbildung der Bultmannschen Theorie verwende ich dessen Theologiesystem hier als Soziolekt. 250 HWe 48ff, vgl. 9.2.1 Dualismen, Erster Dualismus. 251 HWe 67f. 252 HWe 91. 253 HWe 91. 254 HWe 245. 255 HWe 154. 256 HWe 116. 257 HWe 386. <?page no="246"?> 246 9 Untersuchungen bei Hans Weder Ebenso modifiziert H. Weder das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns, indem er die Entmythologisierung nicht nur auf den Mythos sondern auch auf den Menschen bezieht. 258 In kritischer Weiterführung Bultmanns formuliert er das Vorverständnis als Hören(können). 259 Gegenüber Bultmanns Reduktion auf das ‚dass‘ des faktischen Christusgeschehens betont H. Weder dessen notwendige narrative Entfaltung. 260 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die exegetischen, theologischen und hermeneutischen Beiträge und Fragestellungen Bultmanns wegweisend für die Interpretation der biblischen Botschaft sind. Der Soziolekt der Dialektischen Theologie 261 Die Dialektische Theologie bildet den theologiegeschichtlichen Hintergrund für den Soziolekt der Theologie Bultmanns. Deshalb kann die Denkfigur der Beziehungslosigkeit zwischen Gott und Mensch, auf welche H. Weder die metaphorische Rede als Verhältnisschaffung bezieht, beiden Soziolekten zugeordnet werden, ebenso die zentrale Bedeutung des Wortes Gottes und des Inkarnationsgeschehens für die Theologie. Die Dialektische Theologie erscheint darüber hinaus aber auch selbständig im Untersuchungstext: Von K. Barth übernimmt H. Weder das theologische Selbstverständnis. 262 Barths Lehre von der Lüge liegt m.E. H. Weders Gegenüberstellung von Wahrheit und Lüge zugrunde. 263 Mit der Dialektischen Theologie verbindet H. Weder weiterhin die Kritik an der liberal-theologischen Privatisierung von Religion. 264 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Diastase zwischen Gott und Mensch nicht mit einer theologischen Anthropologisierung, sondern nur durch Gottes Wort selbst überwunden werden kann. Der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik Die Partizipation an diesem Soziolekt steht in Zusammenhang mit H. Weders Bultmannrezeption, dem Soziolekt der Dialektischen Theologie und wird ebenso durch Anregungen Walter Mosterts vertieft. 265 Die reformatorische Theologie erscheint vor allem in H. Weders konsequenter Reformulierung der Rechtfertigungslehre, d.h. der Sicht des Menschen als Referenz- 258 HWe 411. 259 HWe 150. 260 HWe 370. 261 Vgl. D. K ORSCH , Art. Dialektische Theologie. 262 Siehe 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis der Theologie. 263 K. B ARTH , Kirchliche Dogmatik IV/ III, § 70, 425-551. Vgl. HWe 250ff. 264 HWe 63. 265 Siehe 9.3.2 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten, Weitere Diskursfragmente. <?page no="247"?> 9.2 Ideologiekritische Untersuchung 247 subjekt der Gnade Gottes. Ebenso versteht H. Weder von Luther her den Glauben als Folge, nicht als Vorraussetzung des neutestamentlichen Wortes. 266 Und die Kreativität des Glaubens, in H. Weders Terminologie die Produktivität (oder der Akt) des Zuschreibens wird mit Luther als Gottes Heilshandeln am Menschen beschrieben. 267 Die Bibel ist sacra scriptura sui ipsius interpres. Daher darf ihr der Mensch nicht ins Wort fallen und sie vereinnahmen, sondern soll vor ihr schweigen. 268 H. Weder bereitet mit dieser reformatorischen Denkfigur seine Position des Hörens als einzig angemessenes Vorverständnis vor. 269 Er schließt seine Hermeneutik mit einer Liedstrophe Luthers ab. 270 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die reformatorische Theologie den christlichen Glauben in seinem wesensmäßigen Kern am besten widerspiegelt und deshalb die Schriftauslegung an den dogmatischen Grundsätzen dieser Position ausgerichtet werden muss. Der biblisch-bestätigende Soziolekt Dieser Soziolekt speist sich vor allem aus den drei vorherigen Soziolekten. H. Weder rezipiert z.T. sehr ausführlich Bibelstellen, um seine Position zu entwickeln bzw. zu begründen. Ich gehe darauf näher in der Diskursanalyse ein. 271 H. Weder gliedert seine Hermeneutik in drei Hauptteile, die sich insgesamt an wesentlichen neutestamentlichen Sprachformen orientieren. Diese Gesamtkonzeption hat die Funktion, H. Weders Position als dezidiert biblisch auszuweisen. Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass die Schrift eine normierende und wegweisende Funktion für heute hat. Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft H. Weder plädiert uneingeschränkt für die historische Kritik, 272 da sie den Glauben aus seiner Selbstverständlichkeit führt und zur Zeit die angemessene Methodik bereitstellt, das vernünftige Denken mit der Bibel zu konfrontieren. Dennoch schränkt er - mit Rekurs auf Barth - ein, dass der Verstehensvorgang nicht beim kritischen Erklären stehen bleiben darf, sondern zum Nachsprechen und Nachdenken der Schrift führen muss. 273 Tatsächlich sind auch nur wenige der biblischen Exkurse wirklich historisch-kritisch angelegt, wie 266 HWe 20. 267 HWe 236. 268 HWe 142f. 269 HWe 150. 270 HWe 435. 271 Siehe 9.3.2 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten, Der Gebrauch von Bibelstellen. 272 HWe 69ff. 273 HWe 121. <?page no="248"?> 248 9 Untersuchungen bei Hans Weder z.B. die Reflexionen zum Philipperhymnus im Kontext des Entmythologisierungsproblems 274 oder die Analyse der paulinisch-korinthischen Auseinandersetzung in 1Kor 1 im Zusammenhang der Unterscheidung von Fiktion und Glaube 275 . Die meisten der biblischen Auslegungen haben einen nachdenkenden Charakter, wie zum Beispiel H. Weders Interpretation des Gleichnisses vom verlorenen Sohn im Kontext des Sündenbegriffs. 276 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass für eine intersubjektiv nachprüfbare und damit wissenschaftlich kommunizierbare Texterforschung die historisch-kritische Methode von zentraler Bedeutung ist. Der praktisch-theologische Soziolekt Die meisten Bezüge verweisen hierbei auf die Homiletik: Die gesetzliche Predigt konstituiert den Menschen als Handlungssubjekt. 277 Hingegen betrachtet H. Weder die christliche Predigt als einen Raum, wo der Bereich des Funktionalen verlassen wird. 278 Hier soll „die Sache des Textes zum Zuge gebracht werden […], und zwar auch dann, wenn unser Woraufhin diese Sache gar nicht in den Blick nehmen will“. 279 In Bezug auf eine unbehutsame Bultmannrezeption auf der Kanzel und im Schulunterricht resümiert H. Weder: „Die Verunsicherung ist jedoch niemals eine praeparatio evangelica“. 280 Aus der wenig begeisterten Reaktion von Schülern auf das Erzählen biblischer Geschichten schließt H. Weder, dass die Schüler „in der Schule auf die Herrschaft eines bestimmten Denkens abgerichtet“ werden. - Und dennoch ist er überzeugt: „an der Erzählfähigkeit der christlichen Kirche hängt die Glaubwürdigkeit ihres Wortes“. 281 Ein poimenischer Aspekt erscheint innerhalb der Reflexion zur performativen Sprachfunktion: H. Weder stellt die Frage, was es bedeutet, dass die „Mitleidsbezeugung unter uns zur Formel geworden ist, zur Kondolenzformel“. 282 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass besonders praktisch-theologische Reflexionen für eine umfassende Vermittlung des Evangeliums notwendig sind. Der sprachphilosophische Soziolekt H. Weder hebt deutlich den Stellenwert der Sprachreflexion für die Hermeneutik hervor. 283 Ausführlich behandelt er die Qualität der Metapher in der 274 HWe 405-411. 275 HWe 343-355. 276 HWe 85-87. 277 HWe 402f. 278 HWe 371. 279 HWe 117. 280 HWe 142. 281 HWe 332. 282 HWe 149. 283 HWe 17. <?page no="249"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 249 herkömmlichen und neueren Sprachtheorie. 284 Besonderen Wert legt H. Weder hierbei auf die Anredefunktion der Sprache und ihren performativen Charakter, mit dem die theologische Metapher als Verhältnisschaffung zwischen Gott und Mensch beschrieben wird. Ebenso betont H. Weder die Notwendigkeit der narrativen Wiedergabe des Evangeliums. 285 Allerdings wehrt H. Weder auch hier der theologischen Anthropologisierung, die weltliche Sprache könne von sich aus das Verstehensproblem lösen: Denn mit der Inkarnation Gottes findet nicht nur die Eroberung des Menschen, sondern auch die göttliche Usurpation der weltlichen Sprache statt. 286 Der generelle Nenner dieses Soziolektes liegt in der Anschauung, dass Verstehensprobleme auf der linguistischen Ebene gelöst werden müssen. 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 9.3.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 9.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen H. Weder zitiert ca. 380 mal die Bibel 287 , davon lediglich 13 mal das Alte Testament. 288 192 Belege, das ist die Hälfte aller biblischen Verweise, entfallen auf Paulus: Der 1. Korintherbrief wird 88 mal zitiert, gefolgt vom Römerbrief mit 31 Belegen, der Galaterbrief 28 mal, der 2. Korintherbrief 26 mal, der Philipperbrief 18 mal und der erste Thessalonicherbrief einmal. Die Evangelien werden 137 mal zitiert, davon 47 mal Matthäus, 41 mal Markus, 27 mal Johannes und 22 mal Lukas. Nach den paulinischen Briefen und den Evangelien ist der 1. Johannesbrief mit 24 Belegen am drittstärksten vertreten. Auf die übrigen neutestamentlichen Schriften entfallen lediglich 14 Belege. 289 Die biblischen Belege sind nicht gleichmäßig über den Untersuchungstext verteilt: - Die höchste Dichte an biblischen Zitaten befindet sich im zweiten Hauptteil, wo 44 Seiten 117 Zitate gegenüberstehen. Dies ergibt ein Verhältnis von 1 : 2,7. - Der Epilog weist ein Verhältnis von 1 : 2,43 auf. - Im dritten Hauptteil ergibt sich ein Verhältnis von 1 : 1,1. - Und im ersten Hauptteil ein Verhältnis von 1 : 0,6. 284 HWe 155ff. 285 HWe 352. 286 HWe 260ff. 287 Bei der Zählung sind Bibelstellen innerhalb von Zitaten nicht berücksichtigt. 288 Vier Belege entfallen auf Gen, vier auf die Profeten (Jer, Ez, Hab), zwei auf die Psalmen (Ps 1 und Ps 22) und jeweils ein Beleg auf Ex, 1Kön und Dtn. 289 Die Apostelgeschichte wird siebenmal zitiert, der Kolosserbrief dreimal, die Johannesoffenbarung zweimal, sowie der Hebräer- und Jakobusbrief jeweils einmal. <?page no="250"?> 250 9 Untersuchungen bei Hans Weder - Ebenso weist die ausführliche Vorrede ein Verhältnis von 1 : 0,6 auf, welches sich aus dem Verhältnis des ersten Teils 1 : 0,74 und des zweiten Teils 1 : 0,35 zusammensetzt. H. Weders Ansatz ist vom Interesse geleitet, eine neutestamentliche Hermeneutik zu entwerfen, die sich nicht aus einer allgemeinen philosophischen Hermeneutik ableitet, sondern direkt „das hermeneutische Potential des Neuen Testaments zu entdecken und fruchtbar zu machen sucht“. 290 Somit kommt den biblischen, genauer: den neutestamentlichen Bibelstellen eine zentrale Rolle bei H. Weders Argumentationskonstruktion zu. Biblische Zitate erfüllen folgende Funktion: Die grundlegende Entfaltung des Hermeneutikverständnisses In der Vorrede entwickelt H. Weder anhand von 1Kor 12 und 14 sein Verständnis von Hermeneutik. 291 Innerhalb dieser Textinterpretation betont H. Weder vor allem die Bedeutung der Sprache, die vorfindliche Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Gott, die Einbeziehung der Außenstehenden durch die Hermeneutik sowie das Verständnis der Hermeneutik als göttliche Gnadengabe. Die Klärung des Theologieverständnisses Gegenüber dem menschliche Streben nach Sicherheit und Beherrschbarkeit betont H. Weder, dass Theologie erst in der Wüste, d.h. der menschlichen Heimatlosigkeit wirklich fruchtbar getrieben werden kann. H. Weder fundiert diesen Gedanken mit dem Jesuslogion Mt 8,19. 292 Ebenso argumentiert er mit 2Kor 4,6, dass erst im Glauben - und nicht schon durch säkulare, in die Theologie importierte Methodiken - die wahre Erkenntnis geschehe. 293 Auf dieser (bibellegitimierten) Basis konstruiert er wichtige Topoi seiner Hermeneutik: - Mit Lk 15, dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, entwickelt er sein Sündenverständnis. 294 - Ebenso beschreibt er anhand dieses Gleichnisses, dass die metaphorische Rede des Neuen Testaments durch ihren performativen Grundcharakter eine Neuschöpfung bewirkt. 295 - Die menschliche Disposition zum Verstehen, nämlich allein das Hören, deduziert H. Weder aus Mk 4,3, der Einleitung zum Gleichnis vom vierfachen Acker. 296 290 HWe 5. 291 HWe 30-46. 292 HWe 56. 293 HWe 78. 294 HWe 85ff. 295 HWe 243. 296 HWe 145ff. <?page no="251"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 251 - Mit Mt 18, der Erzählung vom Schalksknecht, veranschaulicht H. Weder Gottes zuvorkommende Liebe als Paraphrasierung des Rechtfertigungsgeschehens. 297 - Anhand des Sauerteig-Verständnisses aus Mt 13 zeigt H. Weder, wie bei Gott das Weltliche eine heilschaffende Umdeutung erfährt. 298 - Und den Gedanken der göttlichen Bemächtigung des Weltlichen stützt H. Weder durch seine Auslegung der paulinischen Kreuzestheologie in 1Kor 1. 299 Die Deduktion bzw. Konstruktion der neutestamentlichen Hermeneutik Vor allem dienen die neutestamentlichen Texte der inhaltlichen Darstellung der neutestamentlichen Hermeneutik. Dies geschieht in allen drei Hauptteilen, welche als Entfaltung wesentlicher neutestamentlicher Redeformen konstruiert sind. Ich beleuchte hierzu exemplarisch einen Abschnitt des zweiten Hauptteils: 300 Bei seiner Analyse der Gattung Brief zieht H. Weder aus 1 Kor 6,12 „Alles ist mir erlaubt“ den Schluss, „[w]er Briefe schreibt, ist schon an dem orientiert, was nützlich ist, an dem, was der menschlichen Gemeinschaft zugute kommt“. 301 Der Brief mischt sich bei Schwierigkeiten ein, ohne allerdings zudringlich zu sein. Im Anschluss daran stellt H. Weder einen Nexus zu Mt 7,7-11 her, einem Text also, der selbst nicht der Briefform angehört, um zu zeigen, dass die Liebe - wie der Brief oder als Brief - unaufdringlich anklopft. Daraus folgert H. Weder: „Deshalb steht er [der Brief] in einem inneren Zusammenhang mit der Menschwerdung Gottes. Die Inkarnation ist die Einmischung in die menschlichen Verhältnisse“. 302 Die biblische Argumentation gegenüber anderen Positionen H. Weder rezipiert ausführlich Rudolf Bultmann (s.u.), modifiziert jedoch dessen Ansatz und argumentiert hierbei z.T. biblisch gegen Bultmann: So übernimmt er zwar prinzipiell Bultmanns Konzeption der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem neutestamentlich-mythologischen Weltbild und dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis, kritisiert jedoch Bultmanns existentiale Interpretation, weil sie nicht am Neuen Testament, sondern am Mythosbegriff entwickelt worden ist. 303 Bultmanns existentialen Geschichtsbegriff kritisiert H. Weder anhand der lukanischen Geschichtskonzeption: „Dieses [Bultmannsche] Geschichtsver- 297 HWe 212. 298 HWe 226. Die Chiffre des Sauerteigs verwendet H. Weder ebenso, um den konstitutiven Zusammenhang zwischen der metaphorischen Sprache und der Weltlichkeit aufzuzeigen, HWe 423. 299 HWe 260ff. 300 HWe 315-320. 301 HWe 315. 302 HWe 316. 303 HWe 67. <?page no="252"?> 252 9 Untersuchungen bei Hans Weder ständnis befindet sich in einer gewissen Spannung […] zum Evangelium selbst, das das Kreuzesgeschehen jedenfalls in seiner objektiven Geschichtlichkeit festhält. Gerade der Evangelist Lukas gibt hier mit seinen genauen chronologischen Angaben einen deutlichen Fingerzeig“. 304 Fazit In seiner Argumentation vernetzt H. Weder die Konstruktion des eigenen hermeneutischen Ansatzes sehr eng mit Bibelzitaten. H. Weders Position soll dadurch als genuin biblisch ausgegeben werden. Die besondere Qualität des Wertadjektivs neutestamentlich resultiert aus H. Weders Konzeption der neutestamentlichen Rede als performativer Sprache: Das Neue Testament drückt nicht nur visionäre Leitlinien aus, die als Orientierungsgrößen verstanden werden möchten. Vielmehr setzt die neutestamentliche Rede selbst die neue Wirklichkeit als Ermöglichung der Wahrheit durch. 305 H. Weder reflektiert allerdings nirgends das Problem, warum gerade ein bestimmtes und nicht ein anderes Bibelwort innerhalb eines Argumentationsgangs herangezogen wird. Ebenso ungeklärt bleibt, ob die gewählten Texte nicht auch eine völlig andere Auslegung und somit Schlussfolgerung nahe legen könnten. 306 H. Weder bezieht sich vor allem auf die Paulusbriefe, weiterhin auf die Evangelien, kaum jedoch auf das übrige neutestamentliche Schriftgut. 9.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten Weitere Diskursfragmente zur akademischen Auslegungstheorie der Bibel finden sich fast ausschließlich in der ausführlichen Vorrede. 307 H. Weder entfaltet hier die Grundkoordinaten seines hermeneutischen Ansatzes. Dies geschieht zum einen durch die Deduktion aus biblischen Texten (s.o.), zum anderen durch eine kritische Rezeption hermeneutischer Positionen. Im Vorwort bemerkt H. Weder, dass das vorwiegende Anliegen seiner Hermeneutik nicht in der Darstellung „der Geschichte der Wahrnehmung neutestamentlicher Texte“ liegt - er verweist hierzu auf Peter Stuhlmachers Hermeneutik -, sondern in der theologischen Reflexion des hermeneutischen Potentials neutestamentlicher Texte angesichts der Weltlichkeit der Methoden. 308 Aus diesem Grund werden auch nur wenige weitere hermeneutische Positionen diskutiert. Ich gehe im folgenden näher auf Rudolf Bultmann, Gerhard Ebeling und Wilhelm Dilthey ein, weil deren Positionierungen zu einzelnen 304 HWe 400. 305 So wird etwa in den Gleichnissen vom verlorenen Sohn und den Arbeitern im Weinberg „die Möglichkeit der Welt zur Bestimmung ihrer Wirklichkeit“, HWe 197. 306 Vgl. hierzu den oben dargestellten Nexus zwischen H. Weders Ausführungen zur Gattung Brief und dem Abschnitt aus der Bergpredigt Mt 7,7-11. 307 HWe 33-152. 308 HWe 5. <?page no="253"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 253 Topoi in der Vorrede ausführlich rezipiert bzw. diskutiert werden und füge in die jeweiligen Kontexte die weiteren Diskursfragmente ein, welche im Untersuchungstext nur knapp miteinbezogen sind. Auf Bultmann 309 greift H. Weder ausführlich dreimal innerhalb der Vorrede und dreimal im dritten Hauptteil zurück: H. Weder referiert Bultmanns Konzeption des mythologischen Weltbildes des Neuen Testaments zu Beginn des Abschnittes ‚Rahmenbedingungen neutestamentlicher Hermeneutik‘. 310 H. Weder übernimmt weitgehend Bultmanns Position, kritisiert allerdings dessen Lösungsweg der existentialen Interpretation des Mythos. 311 Ebenso rezipiert H. Weder Bultmanns Reformulierung des lutherischen Sündenverständnisses 312 , entfaltet sein Vorverständnis als Modifikation der Bultmannschen Position 313 und rekurriert in diesem Zusammenhang auf reformatorischtheologische Einsichten seines Zürcher Kollegen für Systematische Theologie Walter Mostert. 314 Gegen Bultmann betont H. Weder die narrative Dimension des Evangeliums und weist daher Bultmanns Reduktion auf das ‚dass‘ der Geschichtlichkeit des christologischen Heilsgeschehens zurück. 315 Ebenso kritisiert H. Weder Bultmanns existentialen Geschichtsbegriff. 316 Weiterhin knüpft H. Weder im dritten Hauptteil nochmals am Entmythologisierungsproblem an. 317 Ebeling 318 wird insbesondere in folgenden zwei Zusammenhängen rezipiert: Mit Ebeling betont H. Weder die zentrale Bedeutung der Sprache für die Hermeneutik 319 und definiert die Hermeneutik als Lehre vom Wort Got- 309 H. Weder zitiert folgende Texte von R. B ULTMANN : Neues Testament und Mythologie; ders., Das Problem der Hermeneutik. 310 HWe 48ff. 311 HWe 68. 312 HWe 91-94. „Sünde ist zu definieren als Eigenmächtigkeit des Menschen, als seine Verfallenheit an das Selbst“, HWe 91. 313 HWe 136ff. 314 H. Weder beginnt diesen Argumentationsgang mit Luthers Dictum von der sacra sciptura sui ipsius interpres, wodurch eine anthropologisch gefasste Vorbedingung zum Verstehen der Schrift ausgeschlossen werde, HWe 142. Nach Walter Mosterts Lutherdeutung darf der Autor nicht zum Objekt des Interpreten gemacht werden und der Subjektivismus des Auslegungsvorgangs durch Zuschreibung als kollektive Aussage getarnt werden, HWe 143f. H. Weder stellt aus diesen Überlegungen heraus die Frage, „in welcher Grunderfahrung (gegenwärtigen) Menschseins […] das Lebensverhältnis zur Sache des Evangeliums“ erblickt werden kann, HWe 144. Auf dem Hintergrund dieser Argumentation und unter Einbeziehung von Mk 4 formuliert er schließlich das angemessene Vorverständnis als Hören, HWe 145ff. 315 HWe 362. 316 HWe 399ff. 317 HWe 411ff. 318 H. Weder zitiert folgende Texte von G. E BELING : Wort Gottes und Hermeneutik; ders., Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode; ders., Art. Hermeneutik; ders., Dogmatik des christlichen Glaubens; ders., Das Wesen des christlichen Glaubens. 319 HWe 17. <?page no="254"?> 254 9 Untersuchungen bei Hans Weder tes. 320 Im gleichen Abschnitt rezipiert er Ebelings Darstellung der Geschichte der Hermeneutik zu Schleiermacher, Dilthey und Heidegger. 321 H. Weder übernimmt ebenso Ebelings Kommentierung der historisch-kritischen Methode, diese sei nicht voraussetzungsfrei. 322 Da sie den Maßstäben des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses unterliegt, kann sie somit dem christlichen Glauben wieder seine Nichtselbstverständlichkeit zurückgeben. 323 Diltheys 324 Unterscheidung von Erklären und Verstehen diskutiert H. Weder ausführlich auf 28 Seiten. 325 Die große Bedeutung dieses Themas wird mit Ernst Fuchs 326 eingeleitet. 327 H. Weder lehnt Diltheys Differenzierung in erklärende Naturwissenschaften und verstehende Geisteswissenschaften ab und stützt sich dabei auf Paul Ricœur, der darin einen Verzicht auf die Objektivität des Textes sieht. 328 Mit Karl Barth und Ernst Fuchs bereitet H. Weder schließlich eine theologische Unterscheidung von Erklären und Verstehen vor. 329 So ordnet H. Weder schließlich das Erklären dem weltlichen Bereich zu, das Verstehen hingegen geschieht erst - unter der notwendigen Einbindung des Erklärens - durch den theologischen Perspektivenwechsel, „wo […] mit den Augen Gottes gesehen wird“. 330 320 HWe 28. 321 HWe 20-23. 322 HWe 69f. 323 HWe 83. 324 H. Weder zitiert folgende Texte von W. D ILTHEY : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften; ders., Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. - Zur Trennung von Erklären und Verstehen bei Dilthey rezipiert H. Weder K.-O. A PEL , Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik. 325 HWe 108-136. Vgl. 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis der Neuzeit. 326 H. Weder hielt anlässlich des 100. Geburtstages von Ernst Fuchs am 12. Juni 2003 in Marburg einen Festvortrag, in welchem er Linien von Fuchs zu seinem eigenen Ansatz zieht bzw. Ernst Fuchs in den Schemata seines eigenen Ansatzes interpretiert, H. W EDER , Auf Evidenz gegründet. H. Weder betont darin insbesondere die Bedeutung der produktiven Funktion von neutestamentlicher Sprache bei Fuchs und sich selbst: „Die Metapher verbindet, was die Theologie von Ernst Fuchs zusammenzubringen unternahm: Welterfahrung mit Gotteserfahrung“, a.a.O., 252, und: „Zu vermuten steht auch, dass Ernst Fuchs seine Freude an einer metaphorischen Theologie gehabt hätte“, a.a.O., 253. 327 HWe 108. 328 HWe 118. 329 HWe 121f. H. Weder argumentiert mit K. Barth, man dürfe nicht bei der textuellen Erklärung durch die historische Kritik stehen bleiben. Richtiges Erklären geschieht nach K. Barth erst dort, wo der Schritt vom Nachsprechen zum Nachdenken getan ist. Allerdings verwendet K. Barth nach H. Weder die beiden Begriffe Erklären und Verstehen nahezu synonym. Mit E. Fuchs betont H. Weder die Notwendigkeit der Erfahrung in Bezug auf das Verstehen, HWe 128. 330 HWe 132. <?page no="255"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 255 9.3.1.3 Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten Nur zweimal verweist H. Weder explizit auf eigene Publikationen: - Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen 1984 3 (FRLANT 120), 104. H. Weder verweist damit auf Mk 4,28 als Beispiel für ein biblisches Gleichnis, bei dem die urchristliche Gemeinde eigene Erfahrungen in die Erzählung integriert hat. Er folgert daraus, dass die „Gemeinde eine Ahnung von der Unübersetzbarkeit der Gleichnisse Jesu hatte“. 331 - ‚Evangelium Jesu Christi‘ (Mk 1,1) und ‚Evangelium Gottes‘ (Mk 1,14), in: U. Luz/ H. Weder (Hg.), Die Mitte des Neuen Testaments, Festschrift für E. Schweizer, Göttingen 1983, 399-411. Als Vertiefung seiner Darstellung des hermeneutischen Potentials der Gattung Evangelium im zweiten Hauptteil verweist H. Weder auf diesen Aufsatz. 332 Im Literaturverzeichnis erscheinen eigene 16 Titel aus dem Bereich der neutestamentlichen Hermeneutik. In ihnen spiegelt sich H. Weders Interesse an einer neutestamentlich orientierten Hermeneutik, an der Bedeutung der Gleichnisse sowie an einer kritischen Reflexion exegetischer Methoden wider. 333 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen Diskursstrang zum Verständnis der Theologie 334 H. Weder integriert fundamentaltheologische Themen in seine Argumentation und partizipiert damit an der allgemein-theologischen Debatte um das Selbstverständnis der Theologie. Mit Karl Barth betont er den Wagnischarakter der Theologie 335 , der sich gegen eine anthropologische Vereinnahmung im Zuge des neuzeitlichen Beherrschungsdrangs richtet. Daraus folgt, dass die neutestamentliche Hermeneutik nicht funktional als Technik 336 und als menschlich beherrschbare Methodik, sondern als Gnadengabe zu verstehen ist. Dies hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Theologie und Vernunft: So stellt H. Weder fest, dass die Wahrheit ‚Jesus Christus‘ nicht aus einer allgemeinen Verstehenslehre ableitbar ist. Andererseits gehört es jedoch gerade zur Aufgabe der Hermeneutik, ein Verhältnis zwischen den beiden Beziehungsgrößen Neues Testament und moderner Mensch herzustellen 337 , wobei der unverständige Außenseiter, der idiotes, die Möglichkeit 331 HWe 191f. 332 HWe 305. 333 HWe 451f. 334 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 335 HWe 54f. Dem Wagnischarakter der Theologie entspricht die Kontingenz, d.h. das nicht-deduzierbare, weil analogielose Heilsgeschehen Jesus Christus, HWe 125 und 371ff. 336 HWe 39. 337 „Die Aufgabe der Hermeneutik besteht demnach darin, die Wirkung des göttlichen Geistes in verständliche Sprache zu übersetzen“, HWe 33. <?page no="256"?> 256 9 Untersuchungen bei Hans Weder zum Einverständnis erhalten muss. 338 Deshalb darf kein sacrificium intellectus gefordert werden. 339 H. Weder löst die Spannung zwischen Glaube und Vernunft auf, indem er sie dialektisch steigert: Die uneingeschränkte Anwendung der historischen Kritik unterstützt den Wagnischarakter des Glaubens, weil sie ihn aus der Selbstverständlichkeit entlässt, indem sie die Bibel mit dem vernünftigen Denken konfrontiert. 340 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die Theologie von anderen Wissenschaften abzugrenzen und gleichzeitig deren gegenseitige Bezogenheit zu betonen. Diskursstrang zum Wahrheitsverständnis 341 H. Weder thematisiert Wahrheit vor allem als biblische 342 bzw. neutestamentliche 343 Wahrheit und Wahrheit des christlichen Glaubens. 344 „Worin besteht die Wahrheit des neutestamentlichen Redens? “ 345 H. Weder diskutiert verschiedene neuzeitliche Ansätze und lehnt insgesamt die rationalistischen, psychologisierenden sowie prozesstheologischen Lösungsmodelle ab. 346 Die Wahrheit des Neuen Testaments beschreibt er in kritischem Bezug zu Bultmann als die an den Menschen gerichtete Entscheidungsfrage, ob er sich als Produkt seiner eigenen Möglichkeiten oder als Referenzsubjekt der Liebe Gottes verstehen will. 347 Somit stehen Wahrheit und Rechtfertigung in H. Weders Konzeption in einem engen Zusammenhang. Als Opposition zur Wahrheit formiert H. Weder die Lüge. 348 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die theologische Wahrheit zur neuzeitlichen Wirklichkeitsvorstellung zu kontrastieren und somit die Inkommensurabilität zwischen Gottes Wort und dem neuzeitlichen Menschen zu stützen. Diskursstrang zum Freiheitsverständnis 349 H. Weder kritisiert das Freiheitsverständnis der Aufklärung, da es als emanzipatorische Freiheit die absolute Unabhängigkeit als erstrebenswertes Ziel 338 HWe 44. H. Weder legt Wert darauf, dass dieses Einverständnis auf keinen Fall zur Vorbedingung des Verstehens gemacht werden darf, HWe 107. 339 HWe 65. 340 HWe 81-83. 341 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 342 Z.B. HWe 82. 343 Z.B. HWe 66. 344 Z.B. HWe 70. 345 HWe 60. 346 HWe 60-64. 347 HWe 68. 348 HWe 250ff. 349 Lit. zu diesem Diskursstrang: O. B AYER , Art. Freiheit; M.G. H UGUET , Art. Freiheit. Huguet fasst sehr gut das neuzeitliche Freiheitsverständnis zusammen, gegen welches sich H. Weders theologische Argumentation richtet. <?page no="257"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 257 suggeriert. 350 Darin sieht er ein Kennzeichen der Sünde, unbedingt - d.h. wie Gott - sein zu wollen. Deshalb fordert er eine Aufklärung der Aufklärung: „Freiheit ist doch erst dort wahrhaftig gegeben, wo sie als die Freiheit erscheint, angewiesen zu sein auf den anderen und das andere“. 351 Die Überwindung der Unfreiheit geschieht erst dort, wo Gott den Menschen anspricht, denn das „an den Menschen gerichtete göttliche Wort erinnert daran, daß die Lebensgrundlagen eine Wohltat sind“. 352 Glaube und Freiheit finden ihre menschliche Ausdrucksform im Gebet. So bestimmt H. Weder mit Robert Leuenberger das Gebet als „eine ‚Zeit der Freiheit‘“. 353 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, das theologische Freiheitsverständnis in Differenz zum neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu entfalten. Diskursstrang zum Verständnis des Wortes Gottes 354 H. Weders Wort-Gottes-Verständnis basiert auf der engen Verbindung von Sprache, Evangelium und Wort Gottes. 355 Anhand der performativen Funktion der neutestamentlichen Sprache (s.u.) konzeptioniert er das Wort Gottes als wirkmächtige Kraft 356 und beschreibt es anhand der fünf Merkmale Vollmacht, Klärung des Lebens, Daseinsraum, Verbindlichkeit und Wahrhaftigkeit. 357 Das Wort Gottes personifiziert sich in Jesus Christus. Denn durch die Transformation des Verkündigers Jesus zum Verkündeten im Evangelium geschieht die Identifikation Jesu mit dem Wort Gottes: 358 So wird das göttliche Wort als weltliches Wort Jesu Christi wirksam zur Sprache gebracht. 359 H. Weder wendet sich gegen alle Versuche einer Vereinnahmung des Wortes Gottes. Die Metapher des Wortes Gottes als der fremde Gast, die zusammenhängend im Epilog dargestellt wird, betont die notwendige Bereitschaft, dem Wort Gottes zuzuhören, was es zu sagen gibt. 360 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, das Wort Gottes vor allem als performatives Geschehen zu formulieren, das Gott zum Handelnden und den Menschen zum Empfangenden macht. 350 HWe 104. 351 HWe 106. 352 Ebd. 353 R. L EUENBERGER , Zeit in der Zeit, zitiert bei H. Weder: HWe 295. 354 Lit. zu diesem Diskursstrang: U.H.J. K ÖRTNER , Theologie des Wortes Gottes; O. W ISCHMEYER , Das ‚Wort Gottes‘ im Neuen Testament; M. W OLTER , Art. Wort Gottes. 355 HWe 27. 356 Vgl. die Überschrift: „Gott als ein ansprechendes Wort“, HWe 204. 357 Siehe 9.2.5 Schlüsselbegriffe. 358 HWe 232. 359 HWe 100. 360 HWe 428ff. <?page no="258"?> 258 9 Untersuchungen bei Hans Weder Diskursstrang zur Geschlechterfrage im Gottesbild 361 Anhand Lk 15, dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, streift H. Weder das Problem patriarchaler Gottesbilder. Dieses Gleichnis beschreibt Gott in väterlicher Aktion, wobei H. Weder betont, dass „in diesem Vater das Väterliche und das Mütterliche zusammenfallen“. 362 Zwar hatten die patriarchalen Verhältnisse der Zeit Jesu Frauen weithin übergangen, 363 allerdings warnt er davor, das Gleichnis durch die Eliminierung patriarchaler Bilder insgesamt zu zerstören, in welchem der Mensch als Kind Gottes angeredet wird. „Und indem diese Kritik das Lebensspendende verabschiedet, verabschiedet sie nicht bloß den Vater, sondern auch die Mutter. Und solches kann wohl in niemandes Sinne ernstlich liegen“. 364 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, feministische Anliegen aufzunehmen und gleichzeitig deren Grenzen zu benennen. Diskursstrang zum Verständnis von Kirche 365 In den Wörtern und Sakramenten der Kirche wird das Wort vom Kreuz vermittelt. 366 Hier ist der Ort, an dem die Menschen im Vorgang der göttlichen Liebe gesammelt werden. 367 Diese Sammlung findet ihre Veranschaulichung im Abendmahl: Die Menschen werden an einen fremden Tisch gebeten, ihre Vereinigung geschieht „extra hominem. Daran kann man erneut erkennen, daß der Mensch erst extra se zu sich selbst kommt: oder wäre er etwa nicht bei sich selbst, wenn er mit seinem Bruder vereinigt ist? “ 368 In der Auferbauung der Gemeinde findet diese Sammlung ihre Fortschreibung. 369 Die erste Funktion der Kirche besteht demnach darin, Ort zur Verkündigung des Wortes Gottes zu sein. Darauf soll sich die Kirche konzentrieren, denn ihre Glaubwürdigkeit hängt an der Erzählfähigkeit der biblischen Geschichten. 370 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die Verkündigung als kirchliche Kernaufgabe zu beschreiben. Der grundlegenden Verhältnisschaffung durch das Wort Gottes antwortet der Mensch in der spirituellen Beziehungspflege, denn „Spiritualität ist ein anderes Wort für Gottesbezug“. 371 Die primäre Form der Spiritualität ist das 361 Lit. zu diesem Diskursstrang: V.R. M OLLENKOTT , Gott eine Frau? ; V. W ODTKE (H G .), Auf den Spuren der Weisheit. 362 HWe 241. 363 HWe 243. 364 HWe 234. 365 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 366 HWe 401. 367 HWe 283f. 368 HWe 283. 369 HWe 39. 370 HWe 323. 371 HWe 291. <?page no="259"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 259 Gebet. H. Weder plädiert für das abgeschirmte Gebet jenseits des öffentlichen Interesses. So wird die Unterscheidung von Spiritualität und Säkularität gewahrt. Das Gebet bewegt den Beter „vom Produzieren zum Empfangen“. 372 H. Weders Reflexionen zum Spiritualitätsthema haben die Funktion, die menschliche Angewiesenheit auf Gottes Heilshandeln zu unterstützen. Diskursstrang zum Umgang mit Menschen fremder Herkunft 373 Die Wertschätzung des Fremden konkretisiert sich in H. Weders Entwurf vornehmlich als Wahrung der Fremdheit der neutestamentlichen Texte. Im Epilog jedoch kommt H. Weder knapp auf Vernichtungsstrategien zu sprechen, die primär Menschen fremder Herkunft gelten und in übertragenem Sinn bei den neutestamentlichen Texten angewandt werden. Die politische Vokabelwahl H. Weders votiert hierbei unmissverständlich für einen toleranten und offenen Umgang mit Fremden: „Der Kampf gegen das Fremde hat dessen Vernichtung zum Ziel. […] Die extreme Form dieses Ausschlusses ist die Ermordung des Fremden. Indessen kann der Vernichtungswunsch zu vielen anderen Gestalten des Ausschlusses führen: zum Fremdenhaß, zur Ghettoisierung des Fremden, zur Verbannung des Fremden in ein anderes Land“. 374 Neben den Ausschluss des Fremden skizziert H. Weder als Variante der Vernichtung die Vereinnahmung: „Die Fremden werden zur vollkommenen Assimilation an die Verhältnisse des Gastlandes angehalten. […] Daß vom Fremden Assimilation verlangt wird, ist - so human dies im Einzelfall auch erscheinen mag - ebenfalls aus dem Vernichtungswunsch geboren“. 375 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, darauf aufmerksam zu machen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit den neutestamentlichen Texten und dem Umgang mit Menschen fremder Herkunft gibt. 372 HWe 295. 373 Lit. zu diesem Diskursstrang: C. B UTTERWEGGE / S. J ÄGER (H G .), Europa gegen den Rest der Welt? ; T. T ODOROV , Die Eroberung Amerikas. Todorov beschreibt am Beispiel von Kolumbus, Cortés u.a., wie eine wirkliche Begegnung mit fremden Menschen den jeweils eigenen Horizont aufsprengen kann, ebenso aber durch Vereinnahmung verhindert wird: „Colón weiß also sehr wohl, daß diese Inseln bereits Namen haben, […] die Wörter der anderen interessieren ihn jedoch wenig, und er will die Orte gemäß der Funktion ihres Ranges, den sie im Rahmen seiner Entdeckung einnehmen, neu benennen, ihnen richtige Namen geben; das Benennen kommt überdies einer Besitznahme gleich“, a.a.O., 38. Todorov resümiert: „Colón hat Amerika entdeckt, nicht aber die Amerikaner“, a.a.O., 65. 374 HWe 428. 375 HWe 429. <?page no="260"?> 260 9 Untersuchungen bei Hans Weder Diskursstrang zum Verständnis der Neuzeit 376 Nach H. Weder drückt sich besonders in den Naturwissenschaften das Selbstverständnis der aus der Aufklärung hervorgegangenen Neuzeit aus. So bemerkt er zum wissenschaftlichen Weltbild der Gegenwart: „Daß die Welt sich aus sich selbst begreifen lasse, ist auch das grundlegende Merkmal des naturwissenschaftlichen Weltverständnisses: ganz gleich, wie die kosmologischen Theorien jeweils aussehen mögen, sie alle gehen aus von einer Welt, die restlos aus sich selbst verstehbar ist“. 377 Auf das Christentum ist die Neuzeit nach ihrem Selbstverständnis nicht angewiesen. 378 Den Materialismus der Neuzeit verortet H. Weder nicht nur im Streben nach Geld und Besitz, sondern vor allem darin, „daß ich meinem Tun gleich viel mehr zutraue als dem Wort, das ich mir sagen lassen könnte“. 379 Somit begreift sich der Mensch als Handlungssubjekt, d.h. als Produkt seiner eigenen Möglichkeiten. 380 Diese Selbstverschlossenheit des Menschen entspricht der Geschlossenheit des neuzeitlichen Weltbildes. 381 Einerseits spiegelt dieser Zustand - theologisch gesprochen - weithin die Erlösungsbedürftigkeit wider. Aber nicht nur: Die zugrunde liegende Säkularisierung gibt dem christlichen Glauben ebenso die Chance, aus seiner degenerierten Selbstverständlichkeit herauszufinden und die menschliche Freiheit in Bezug auf den Glauben zu ermöglichen. 382 Um den Menschen nicht zu einem sacrificium intellectus zu zwingen, müssen die Konditionen der Neuzeit unbedingt respektiert werden. Dies hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft. H. Weder geht insbesondere in seiner Diskussion von Diltheys Unterscheidung von Erklären und Verstehen darauf ein. 383 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die Neuzeit in ein dialektisches Verhältnis zur neutestamentlichen Rede zu setzen. Diskursstrang zum Geschichtsverständnis 384 H. Weder unterscheidet in der ausführlichen Vorrede das Geschichtsverständnis des Neuen Testaments und der Neuzeit. Geschichte wird demnach im Neuen Testament nicht als weltimmanenter Entwicklungsprozess verstanden, sondern als von Gott gelenktes Geschehen. 385 In der Neuzeit hingegen wurde „das Geschichtliche ein bloß Geschichtliches, wurde aus dem Un- 376 Lit. zu diesem Diskursstrang: H. B LUMENBERG , Die Legitimität der Neuzeit; C. T AYLOR , Quellen des Selbst. 377 HWe 55. 378 HWe 70f. 379 HWe 180. 380 HWe 68f. 381 HWe 59. 382 HWe 73. 383 HWe 108-136. Siehe auch 9.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten. 384 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 385 HWe 52. <?page no="261"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 261 bedingten ein bloß Zeitbedingtes. Das Zeitbedingte aber ist kritisierbar“. 386 Die historisch-kritischen Prinzipien Kritik, Analogie und Korrelation von Ernst Troeltsch spiegeln dieses Geschichtsverständnis wider. 387 H. Weder bezieht diese beiden verschiedenen Geschichtsbilder im Kontext der Reflexion zur historischen Kritik produktiv aufeinander, ohne sie dadurch zu verschmelzen: Die Weltlichkeit des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses brachte die historisch-kritische Methode hervor. Sie nahm dem christlichen Glauben seine Selbstverständlichkeit, wodurch es möglich wurde, „daß der Glaube zu einer größeren Reinheit geführt wird, als wenn er bloß Selbstverständlichkeiten glaubt“. 388 Daraus ergibt sich für H. Weder die prinzipielle Frage nach dem Verhältnis von Glaube/ Evangelium und Geschichte, die er im dritten Hauptteil ausführlich erörtert: Der Verdrängung des Glaubens der Neuzeit stellt er das intime Verhältnis des christlichen Glaubens zur Geschichte gegenüber. 389 Gott durchlebt in Jesus Christus ein ganzes Leben. 390 Dieses geschichtliche Ereignis erhält absolute Maßgeblichkeit. Darin unterscheidet sich die historische Deutung von der Deutung des Evangeliums 391 : Während die weltliche Geschichte den Kreuzestod Jesu säkulargeschichtsimmanent deutet, versteht das Evangelium den Kreuzestod von der Inkarnation Gottes her 392 und macht ihn zum concretum universale, zum Zentrum und Ziel der Geschichte. 393 Durch diesen eminenten Bezug der Geschichte auf das Heilsgeschehen in Jesus Christus verändert sich das Verständnis von Geschichte: Der Mensch entnimmt ihr nicht mehr, wie er handeln soll, sondern wer er ist. 394 Auf diese Weise kommt „eine neue Identität des Ichs zustande“. 395 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die qualitative Unterscheidung von Neuzeit und neutestamentlicher Rede zu stützen und gleichzeitig die theologische Dialektik dieses Verhältnisses zu entfalten. Diskursstrang zur Literaturtheorie 396 Die Reflexion der Sprache hat konstitutive Bedeutung für die neutestamentliche Hermeneutik H. Weders. 397 Besonders im ersten Hauptteil widmet er 386 HWe 73. 387 HWe 74f. 388 HWe 78. 389 HWe 337. 390 HWe 351. 391 „Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Evangelium und Geschichte niemals zu treffen als Unterscheidung von Faktum und Deutung. Sie ist vielmehr zu treffen als Unterscheidung von Deutung und Deutung“, HWe 367. 392 HWe 367f. 393 HWe 383. 394 HWe 401ff. 395 HWe 404. 396 Lit. zu diesem Diskursstrang findet sich in 6.3.2. 397 „Es ist die Aufgabe neutestamentlicher Hermeneutik, das Unverständliche in verständlicher Sprache auszusprechen […] Es liegt offen zutage, daß eine so bestimmte <?page no="262"?> 262 9 Untersuchungen bei Hans Weder sich der Charakterisierung der neutestamentlichen Sprache. Der herkömmlichen Sprachtheorie - sie wird durch Aristoteles, René Descartes, Immanuel Kant und John Locke veranschaulicht 398 - stellt er die performative Funktion der Sprache gegenüber, wie sie in John L. Austins Sprechakttheorie dargelegt ist. 399 Mit ihr begründet H. Weder die Wirkmächtigkeit der theologischen Metapher der neutestamentlichen Rede, des zentralen Angelpunktes nicht nur seiner Gleichnistheorie, sondern seiner hermeneutischen Wort- Gottes-Konzeption insgesamt: „Die Metapher beschäftigt sich mit der Aufhebung von Distanz. […] Die Metapher ist in einem auch theologischen Wortsinne hermeneutische Sprache“. 400 Ebenfalls im ersten Hauptteil reflektiert H. Weder Einsichten der Rezeptionsästhetik. 401 In ihr drückt sich nach H. Weder die richtige Ansicht aus, dass das Wort Gottes nicht „ohne die produktive Wahrnehmung der Hörer [auskommt], die sich diesen Satz sagen lassen müssen“. 402 Gleichzeitig bindet er die Rezeptionsästhetik theologisch in sein Gesamtkonzept ein, Gott bzw. Gottes Wort als Handlungssubjekt und den Menschen als Referenzsubjekt zu bestimmen. Es ist der Glaube, der den Glaubenden am Glauben beteiligt: „In dieser Kreativität des Glaubens muß jedoch gerade auch das Moment der höchsten Unproduktivität oder Rezeptivität festgehalten werden. Dem Glauben kann es niemals darum gehen, die Gottheit Gottes in der Person Gottes zu erschaffen, das heißt Gott überhaupt erst zu erfinden“. 403 Schließlich bewirkt auch die metaphorische Sprache nicht von sich aus die Stiftung von Zusammenhängen: H. Weder formuliert gegen Schluss des dritten Hauptteils: „Aber man könnte nicht annehmen, die Sprache habe es in ihrer eigenen metaphorischen Macht, zu sagen, was Gott und die Welt in ihrem Innersten zusammenhält. Dies zu sagen kann ihr nur gelingen, wenn sie sich dem anvertraut, daß Gott selbst zur Welt gekommen ist“. 404 H. Weders Positionierung in diesem Diskursstrang hat die Funktion, die intensive Verbindung von Hermeneutik und Sprache darzustellen und die Wirkung der Sprache theologisch an Gottes Wort zu binden. Hermeneutik einen intensiven Bezug zur Sprache hat. Aus dem verantwortungsvollen Gebrauch der Sprache resultiert Verstehen. Der rechte Gebrauch der Sprache ist demnach ebenso ein hermeneutisches Thema, wie er selbst eine hermeneutische Funktion hat“, HWe 43f. 398 HWe 156-160. 399 Siehe 9.2.1 Dualismen, Sechster Dualismus. 400 HWe 194. 401 HWe 234-237. 402 HWe 235. 403 HWe 237. 404 HWe 419. Diese theologische Einbindung der performativen Funktion der Sprache leitet sich aus dem Gedanken der Usurpation weltlicher Sprache ab: Die Inkarnation Gottes in der Welt wiederholt sich in der göttlichen Eroberung der Sprache, HWe 260- 272. <?page no="263"?> 9.3 Diskursanalytische Untersuchung 263 9.3.3 Bezüge zum Interdiskurs H. Weders Aussageformationen lassen sich nur schwer den Alternativkategorien konservativ bzw. progressiv zuordnen. Häufig verlaufen seine Positionierungen jenseits dieses Klassifizierungstyps. Den vorrangigen Grund hierfür sehe ich in H. Weders Partizipation am allgemeinen Soziolekt der Dialektischen Theologie, der darüber hinaus spezifisch im Soziolekt der Theologie Bultmanns fortgeführt wird: 405 Mit diesen Soziolekten konstruiert H. Weder den qualitativen Bruch zwischen Neuzeit und neutestamentlicher Rede 406 , das dialektische Verhältnis zwischen Neuzeit und Christentum 407 und den entscheidenden Perspektivenwechsel hin zur Sichtweise Gottes 408 . Diese zentralen Koordinaten seines Entwurfs sind weder spezifisch konservativ noch progressiv, denn sie basieren auf der generellen theologischen Entscheidung der Inkommensurabilität zwischen Gott und Welt/ Mensch. Daher kann etwa H. Weders Kritik der Moderne 409 nicht aus einer konservativen Grundhaltung abgeleitet werden, die sich zurück nach einem anderen Zeitalter sehnte. Ebenso wenig kann sie aber auch einer progressiven Grundhaltung zugeordnet werden, die etwa für die postmoderne Fortschreibung der Moderne werben würde. Trotz dieser einschränkenden Beobachtungen lassen sich bestimmte Aussageformationen des Untersuchungstextes den Alternativkategorien konservativ bzw. progressiv zuordnen: Konservativismus H. Weders Ansatz wird von dem konservativen - bewahrenden - Grundzug bestimmt, eine Hermeneutik des Neuen Testaments müsse sich primär daran ausrichten, was das Neue Testament selbst zu verstehen gibt. Sie ist deshalb bemüht, „das hermeneutische Potential der neutestamentlichen Texte zum Zuge zu bringen“. 410 Daher liegt es im besonderen Interesse seines Ansatzes, die neutestamentlichen Texte vor verändernden Vereinnahmungen zu schützen, damit sie ihre hermeneutische Ausdrucks- und Vermittlungskraft nicht verlieren. H. Weder pointiert diesen Gedanken besonders anschaulich in seiner Konzeption des fremden Gastes im Epilog: Erst durch die Bewahrung des Gastes vor menschlichen Vereinnahmungen wird es ihm ermöglicht, seine Geschichte zu erzählen und somit seine Wirkung 405 Siehe 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der Dialektischen Theologie und Der Soziolekt der Theologie Bultmanns. 406 Siehe 9.2.1 Dualismen, Erster Dualismus. 407 Siehe 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis der Neuzeit. 408 Siehe 9.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken. 409 Zu H. Weders ambivalenter Sicht der Neuzeit und der Moderne siehe 9.2.1 Dualismen, Erster Dualismus und 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis der Neuzeit. 410 HWe 154. <?page no="264"?> 264 9 Untersuchungen bei Hans Weder zu entfalten. 411 Im Zusammenhang dieses bewahrenden Interesses sehe ich H. Weders Rezeption des traditionell paternalistischen Gottesbildes. Zwar reflektiert er durchaus kritisch die patriarchalen Schemata der neutestamentlichen Schriften, hält jedoch - besonders in seiner Kommentierung zu Lk 15 - an der grundsätzlichen Bedeutung des Gott-Vater-Bildes fest: der Vater ist Chiffre für die Lebensgrundlage 412 , die Distanzierung hierzu gilt als Sünde 413 und die Klärung unseres Lebens liegt darin, uns als Söhne und Töchter dieses Vatergottes zu begreifen. 414 Konservativ argumentiert H. Weder auch in Blick auf das Kirchenverständnis. So äußert er sich skeptisch gegenüber Veränderungen, die von der kirchlichen Kernaufgabe, der Verkündigung ablenken: „Fortschrittliche Wahrheiten scheinen von vornherein Attraktivität zu haben. Dies kann man sich klar machen an der Rasanz, mit welcher sich modische Extravaganzen in der Kirche verbreiten, während die Vergewisserung der einfachen und alten Wahrheit, daß Christus für das Gottesverhältnis aufkommt, ein Mauerblümchendasein fristet“. 415 Progressivität Das progressive Element kommt vor allem in H. Weders Definition des Glaubens zum Ausdruck: „Die Kreativität des Glaubens besteht […] darin, das Fremde bei mir Gast sein zu lassen, ohne Assimilationsansprüche zu stellen“. 416 Gegen den menschlichen Drang nach Bewahrung bzw. Ausdehnung des traditionell-vertrauten erhebt sich der Glaube als Anwalt des Fremden, Neuen und daher Unkonventionellen. Der Glaube ist die Würdigung des Externen und fordert aktive Toleranz. 417 Im Epilog veranschaulicht H. Weder diesen Gedanken: Der Glaube lässt den neutestamentlichen Text als fremden Gast zum Menschen kommen, bevor dieser ihn durch seine Assimilationsansprüche verformt und dessen Wirkkraft nimmt. 418 Diese progressive Gesinnung des Glaubens wird durch die Aufnahme der neueren Sprachtheorie unterstützt, mit der H. Weder die hermeneutische Wirkung des Neuen Testaments beschreibt: Denn die performative und metaphorische Dimension der neutestamentlichen Rede bringt etwas Neues hervor, was zuvor noch nicht vorhanden war: Sie schafft eine nicht gekannte Nähe zwischen Gott und Mensch. H. Weder spricht in diesem Zusammenhang von der semantischen Innovation der Metapher. 419 411 HWe 433-435. 412 HWe 86. 413 HWe 87. 414 HWe 242f. 415 HWe 323. 416 HWe 237. 417 HWe 386. 418 HWe 433-435. 419 HWe 194. <?page no="265"?> Teil C Diskurskritik. Auswertung der Untersuchungen im synoptischen Vergleich <?page no="267"?> 10 Vergleich des Textaufbaus 10.1 Formationen Klaus Bergers Entwurf gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil hat die Funktion eines kommentierenden Überblicks zu ausgewählten Stationen der Geschichte der Hermeneutik, der zweite Teil entwickelt K. Bergers hermeneutisches Grundmodell und der dritte Teil wendet sich Einzelaspekten der Applikation zu. Ein Vorwort und eine Einleitung sind vorgeschaltet, durch welche zentrale Problemhorizonte dieses Ansatzes eingeführt werden. Ein Ausblick benennt Perspektiven zur Anknüpfung, Vertiefung und Weiterarbeit. Elisabeth Schüssler Fiorenzas Hermeneutik gliedert sich in sechs Kapitel, denen eine Einführung vorausgeht, welche bereits die wesentlichen Aspekte ihres Entwurfs programmatisch formuliert. Konzentrisch kreisen daraufhin die sechs Kapitel mit ihren unterschiedlichen Themenschwerpunkten um hermeneutische Fragestellungen aus feministisch-theologischer Perspektive. Peter Stuhlmacher unterteilt seine Hermeneutik in 14 Paragrafen. Der erste Paragraf reflektiert verschiedene Bibelübersetzungen und der zweite Paragraf formuliert den Streit im Umgang mit der historischen Kritik als Kernproblem der Schriftauslegung. Die Paragrafen 3 bis 13 stellen ausführlich die Geschichte der Schriftauslegung von den biblischen Anfängen bis zur Gegenwart (auf dem Stand von 1986) dar und kommentieren die jeweiligen Positionen anhand P. Stuhlmachers Kriteriologie. Der abschließende Paragraf 14 führt P. Stuhlmachers eigenen Ansatz als Synthesebildung der verschiedenen geschichtlich gewordenen Interessenlagen aus. Ein abschließender dreizehnzeiliger Ausblick ist in den 14. Paragrafen integriert. Hans Weders Hermeneutik wird durch eine Zweiteilung strukturiert: Eine ausführliche Vorrede entwickelt das zugrunde liegende Hermeneutik- und Wirklichkeitsmodell. Darauf folgt die eigentliche Ausführung der neutestamentlichen Hermeneutik, welche durch die Klassifizierung wesentlicher neutestamentlicher Redeformen strukturiert wird. Ein knappes Vorwort und ein pointierender Epilog umrahmen den Entwurf. 10.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Der Vergleich des Aufbaus der vier Hermeneutiken veranschaulicht deren unterschiedliche Argumentationskonstruktion, denn es gibt keine gemeinsame Struktur, die alle vier Untersuchungstexte miteinander verbindet. Die größte strukturelle Übereinstimmung ergibt sich bei den Einführungen und Vorworten: K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder schicken ihrem Argumentationsgang ein prägnantes Vorwort voraus, welches Schlüsselbegriffe <?page no="268"?> 268 10 Vergleich des Textaufbaus des jeweiligen Ansatzes benennt. 1 Bei E. Schüssler Fiorenza geschieht dies in ihrer umfangreicheren Einführung 2 . Neben dem Vorwort formuliert K. Berger eine zusätzliche Einführung, welche die Problemkonstruktion seines Ansatzes bestimmt. Bei P. Stuhlmacher übernehmen die ersten beiden Paragrafen die Funktion einer problemorientierten Einleitung. H. Weder konzipiert seine umfangreichen einleitenden Gedanken als ausführliche Vorrede, thematisiert hier aber darüber hinaus auch hermeneutische Grundfragen, die bei K. Berger erst im zweiten Hauptteil, bei E. Schüssler Fiorenza und P. Stuhlmacher über den Gesamttext verteilt reflektiert werden. 3 Ein ausgewiesenes Schlusswort findet sich bei K. Berger und H. Weder - jeweils mit unterschiedlicher Funktion: K. Bergers Ausblick führt seine Konzeption über die Ränder des eigenen Textes fort und formuliert Perspektiven zur Vertiefung und Weiterarbeit. H. Weders Epilog hingegen wiederholt in der Metapher des fremden Gastes rückblickend die Kernthesen seines Ansatzes. P. Stuhlmacher konzipiert lediglich innerhalb seines 14. Paragrafen einen knappen Ausblick, welcher die Traditionsgebundenheit seines Entwurfs unterstreichen soll. E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik endet - ohne Absetzung vom sechsten Kapitel - mit der abschließenden Forderung nach einer kritischen Bibelwissenschaft. Charakteristisch für K. Bergers Aufbau ist die sukzessive Tendenz, die Praxisorientierung zu verstärken: So nimmt der dritte Hauptteil, der sich der Applikation widmet, fast die Hälfte des Gesamttextes ein. In E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik dominiert eine wissenschaftstheoretische Ausrichtung, die zugleich durch den feministischen Ansatz mit der Praxis vernetzt bleibt. Der Aufbau P. Stuhlmachers Hermeneutik ist wesentlich geschichtsorientiert. Und H. Weders drei Typengruppen neutestamentlicher Rede als Gliederungskriterium der drei Hauptteile heben dessen neutestamentlichsprachorientierte Intention hervor. 1 Folgende signifikante Wortkombinationen erscheinen im Vorwort K. Bergers: dritter Weg zwischen Fundamentalismus und Rationalismus / Situation, Ethik, Ästhetik / Trennung von Exegese und Applikation / Hermeneutik der Fremdheit / spiritueller Reichtum der Texte / Zustand der Kirche, KBe IXf. Bei P. Stuhlmacher tauchen im Vorwort folgende Signalworte auf: Geschichte und gegenwärtige Problematik der Schriftauslegung / Evangelikale und stärker der herkömmlichen wissenschaftlichen Kritik Verpflichtete / schriftgemäß / Hermeneutik des Einverständnisses / gekreuzigter und auferstandener Christus / Kirche / Klarheit der Schrift, PSt 7f. Und aus dem Vorwort H. Weders lassen sich folgende Schlüsselbegriffe benennen: neutestamentlich / hermeneutisches Potential des Neuen Testaments / neutestamentliche Denkweisen / keine Methodenlehre / Weltlichkeit / Wahrnehmung oder Vereinnahmung der Texte, HWe 5f. 2 In der ca. 20-seitigen Einführung lassen sich bereits alle Schlüsselworte finden, die ich im ideologiekritischen Methodenschritt zur Benennung der Schlüsselbegriffe zusammengestellt habe, vgl. ESF 9-29 mit 7.2.4 Schlüsselbegriffe und deren Kombination und Klassifizierung. 3 Ich denke hier vor allem an die Klärung des Wirklichkeitsverständnisses und dessen Konsequenzen für die Hermeneutik sowie die Reflexion des eigenen Hermeneutikbegriffs. <?page no="269"?> 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse 11.1 Dualismen In der Methodenreflexion habe ich die Dualismenbildung in zwei Typen eingeteilt. 1 In der folgenden Auswertung werde ich die ermittelnden Dualismen nach Typ 1 Abgrenzungen und Typ 2 Vermittlungen zusammenstellen und anschließend im Vergleich auswerten. 11.1.1 Formation A: Abgrenzungen (Dualismen nach Typ 1) K. Berger distanziert seinen eigenen Ansatz von den beiden Strömungen des Fundamentalismus und des Rationalismus, darüber hinaus grenzt er sich von philosophischen, politischen und theologischen Konzeptionen ab, die unter dem Vorzeichen der Moderne zur Bildung totalitärer Systeme neigen, die kreative Disparität zugunsten von Harmonie ausschließen und die Bedeutung des Subjekts unterminieren. E. Schüssler Fiorenza differenziert primär zwischen dem Feminismus als Basisgröße ihrer eigenen Position und den Mechanismen des Patriarchalismus/ Androzentrismus. Diese Abgrenzung richtet sich im allgemein-gesellschaftlichen Bereich gegen die androzentrisch-instrumentalisierte Vorstellung der Geschlechterdifferenz, im akademischen Kontext gegen das androzentrische Wissenschaftsparadigma und in der theologischen Debatte gegen das archetypische Verständnis der Bibel. Darüber hinaus grenzt sie sich innerfeministisch gegen den postchristlichen und apologetischen Feminismus ab. P. Stuhlmacher unterscheidet seinen Ansatz grundlegend als sachgemäße Schriftauslegung von Positionen, die seiner Kriteriologie nach unsachgemäß sind. Ebenso grenzt er sich von der Konzeption einer protestantischen Pluralität im Bereich der Schriftauslegung ab. H. Weders Grenzziehungen sind wesentlich durch seine theologische Grundfigur bestimmt, das Wort Gottes als aktives performatives Handlungsgeschehen zu beschreiben. Daraus folgt die Ablehnung der allgemeinneuzeitlichen Position, den Menschen primär als Handlungssubjekt zu sehen. Seine zentrale Metaphern-Theorie schließlich entwirft er, indem er sie von der herkömmlichen Sprachtheorie abgrenzt. 11.1.2 Formation B: Vermittlungen (Dualismen nach Typ 2) K. Bergers Hermeneutik weist im Bereich der ermittelten Dualismen keine Vermittlungsstrategien auf. Vielmehr sind sämtliche Dualismen dem Dualismustyp 1 zuzurechnen. Dies erklärt den insgesamt polarisierenden Charakter seines Entwurfes. Ebenso lassen sich in E. Schüssler Fiorenzas Herme- 1 Vgl. 3.4.4 Ideologiekritik als Aufdeckung diskursiver Strukturen der Ideologie. <?page no="270"?> 270 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse neutik keine Dualismen dem Typ 2 zuordnen. Dieser Ansatz will nicht primär vermitteln, vielmehr fordert er die feministisch-kritisch-christliche Sicht als Korrektur patriarchaler Herrschaftsstrukturen ein. In P. Stuhlmachers Hermeneutik gehören drei Dualismen dem Typ 2 an: Die formulierte Spannung zwischen Wissenschaft und Kirchlichkeit will P. Stuhlmacher durch seinem eigenen Ansatz ausgleichen. Den Konflikt zwischen der radikal-wissenschaftlichen und der dogmatischen Position möchte er ebenfalls mit seinem eigenen Ansatz in eine Synthese überführen. Und den Streit zwischen der theologisch-wissenschaftlichen und der evangelikalen Schriftinterpretation möchte er durch seinen Ansatz versöhnend schlichten. Durch diese dreifache Partizipation am Dualismustyp 2 erhält P. Stuhlmachers Ansatz insgesamt einen vermittelnden Charakter. H. Weders Gegensatz zwischen neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis lässt sich zwar dem vermittelnden Dualismustyp 2 zuordnen, allerdings handelt es sich hierbei um eine Sonderform: Denn H. Weder positioniert sich nicht selbst als Vermittler zwischen den beiden Oppositionen, sondern beschreibt die notwendige Anerkennung des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses als Voraussetzung der neutestamentlichen Rede. Daher verbietet sich jeder menschliche Überwindungsversuch dieses Gegensatzes, sei es durch Ausschluss im Sinn des Dualismustyps 1, sei es durch Vermittlung im Sinn des Dualismustyps 2. Vielmehr wird die Diastase theologisch eingeholt, indem Gottes Wort in seiner performativen Funktion als dialektische Überwindung, göttliche Vermittlung und christologischer Ausgleich dieses Gegensatzes beschrieben wird. 11.1.3 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen K. Bergers und E. Schüssler Fiorenzas Dualismuskonstruktionen verbindet die hervorgehobene Bearbeitung gesellschaftlicher und politischer Fragestellungen. Bei K. Berger werden sie im zweiten Dualismus fassbar. Denn in diesem Dualismengefüge werden generelle gesellschaftliche Strukturen, sei es die Totalisierung globaler Wirtschaftssysteme oder die Vernichtung des menschlichen Subjekts angesichts der Uniformierung menschlicher Lebensmodelle reflektiert. K. Berger kontrastiert hierzu seinen bewussten Verzicht auf ausschließende Systembildungen und hebt die Bedeutung von in sich heterogenen Strukturen hervor, in denen sich das einzelne Subjekt seine Identität zumindest partial selbst konstruieren kann. Damit werden pluralistische Konvivenzmodelle in die hermeneutische Reflexion miteinbezogen und die Verbindung zwischen der Interpretation des Neuen Testaments und der ethischen Gestaltungsaufgabe des sozialen Miteinanders hergestellt. Nach E. Schüssler Fiorenza befinden sich sämtliche gesellschaftliche, wissenschaftliche und kirchlich/ theologische Kommunikationsprozesse in einem stetigen Wechselverhältnis zueinander. Deshalb lässt sich eine feministische Hermeneutik nicht unter Absehung der gesellschaftspolitischen Zusam- <?page no="271"?> 11.1 Dualismen 271 menhänge konzipieren. Alle fünf ermittelten Dualismen E. Schüssler Fiorenzas haben daher insgesamt eine politische Dimension. Die Ansätze P. Stuhlmachers und H. Weders sind grundsätzlich stärker binnentheologisch orientiert und normativ an den biblischen bzw. neutestamentlichen Texten ausgerichtet. Deshalb betonen sie, wie jeweils in ihren fünften Dualismen dargestellt, die Unterordnung der Interpretation gegenüber dem Vorrang des Interpreten 2 bzw. die Bewahrung der Fremdheit gegenüber der Vereinnahmung der Texte 3 . Bei K. Berger lässt sich dieser Schutz der biblischen Texte mit dem zweiten Dualismus als Disparität vor Harmonie wiedergeben. Denn die Texte sollen in ihrer Sperrigkeit und Inkongruenz belassen und nicht durch harmonisierende Systematisierungen verändert werden. In E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik spielt der Aspekt einer zu umgehenden Instrumentalisierung der biblischen Texte fast keine Rolle. 4 Denn die Texte werden entweder nach dem androzentrischen oder dem feministischen Paradigma ausgelegt und daher immer den eigenen Machtinteressen unterworfen. Ein eminent erkenntnistheoretischer Gegensatz zeigt sich in der Zusammenschau von K. Bergers und H. Weders jeweils erstem Dualismus: K. Berger grenzt sich hier gegen die beiden Strömungen Fundamentalismus und Rationalismus ab. Dies ist vor allem für seine Wunderhermeneutik relevant: Denn K. Berger möchte mit seiner Konzeption einer vierfach gegliederten Wirklichkeit die notwendige dimensionale Infrastruktur schaffen, um Wunderphänomene dem heutigen Wirklichkeitsverständnis zugänglich zu machen. H. Weder hingegen spitzt den Kontrast zwischen neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis radikal zu, so dass K. Bergers anthropologischer Versuch einer Zusammenführung von neutestamentlichem Denken und heutiger Wirklichkeitserfahrung nach dessen Ansicht als zum Scheitern verurteiltes Unterfangen gesehen werden muss, den Mythos mit der Neuzeit zu versöhnen. Umgekehrt kann K. Berger in H. Weders Ansatz keine hermeneutische Leistung zum Umgang mit den neutestamentlichen Wundern erkennen. Beide differieren folglich fundamental in ihrem Hermeneutikverständnis: Während K. Berger Hermeneutik als anthropologische Methodik betreibt, lehnt H. Weder diese Vorstellung ab und konzipiert Hermeneutik vorrangig als theologische Darstellung des Wirkgeschehens des Wortes Gottes. 2 So formuliert P. Stuhlmacher. 3 So formuliert H. Weder. 4 Lediglich im Kontext ihrer Reflexionen zur historisch-kritischen Methode artikuliert E. Schüssler Fiorenza den Wert einer distanzierten Interpretation: Die distanzierte Interpretation relativiert den eigenen Standpunkt aus theologischer Sicht und erschwert die Anpassung der Texte an die jeweils eigenen Erfahrungen und Inanspruchnahmen, ESF 189f. <?page no="272"?> 272 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse 11.2 Mythische Aktanten 11.2.1 Formationen K. Berger formuliert durch mythische Aktanten vor allem sein Exegeseverständnis, seine Favorisierung der Befreiungstheologie, sein Plädoyer für den Verzicht auf Systembildungen sowie den kirchlichen Bezug der Applikation neutestamentlicher Texte. E. Schüssler Fiorenza verwendet mythische Aktanten, um ihre eigene Position als generelle und einzig sinnvolle Position feministischer Theologie auszuweisen. Ebenso formuliert sie mit mythischen Aktanten ihre Forderung nach einem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Anhand mythischer Aktanten konstruiert P. Stuhlmacher die neutestamentliche Hermeneutik als kirchliche Hermeneutik und akzentuiert die Priorität der biblischen Grundlegung einer neutestamentlichen Hermeneutik. Ebenso formuliert er die Notwendigkeit einer Synthese von Tradition und Wissenschaft sowie die unaufgebbare Einheit von Altem und Neuem Testament, ferner auch seine ökumenische Ausrichtung und insgesamt seine Darstellung der Auslegungsgeschichte mit mythischen Aktanten. H. Weder stützt primär sein Hermeneutikverständnis durch mythische Aktanten ab, weiterhin seine prinzipielle Unterscheidung von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis sowie die Betonung der performativen Funktion der Sprache. 11.2.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Die Zusammenschau der Untersuchungsergebnisse zu den mythischen Aktanten hebt die unterschiedlichen Profile der vier Ansätze weiter hervor. Denn die mythischen Aktanten beziehen sich insbesondere auf spezifische Positionierungen der Einzelentwürfe. Ebenso weist der Gebrauch mythischer Aktanten auf den gemeinsamen persuasiven Grundcharakter der vier Ansätze hin: Sie wollen jeweils mittels der generalisierenden Funktion sowie der leserintegrierenden Strategie der mythischen Aktanten überzeugen. Dies geschieht primär in Blick auf die neutestamentliche Hermeneutik-Debatte und darüber hinaus in Bezug auf das theologische, kirchliche und eingeschränkt auch das gesellschaftliche Diskursfeld, wo die vier Entwürfe ihren jeweils eigenen Lektüreschlüssel zum Neuen Testament als Präferenzmodell zu positionieren suchen. 11.3 Naturalismus und Identitätsdenken 11.3.1 Formationen K. Berger konstruiert Wirklichkeit vor allem als Aufsprengung einer positivistischen Wirklichkeitsreduktion: Wirklichkeit umfasst mehr als nur den naturwissenschaftlich auslotbaren Raum. Seine Hermeneutik ist darauf abgestimmt, <?page no="273"?> 11.4 Monolog 273 indem sich sein Ansatz als Überwindung rationalistischer und fundamentalistischer Engführungen der Moderne versteht und die Bedeutung des Subjekts betont. E. Schüssler Fiorenza konstruiert Wirklichkeit primär als perspektivische Wahrnehmung, die entweder aus einer unterdrückenden androzentrisch-patriarchalen oder befreienden feministischen Blickwarte heraus geschieht. Ihre Hermeneutik ist darauf abgestimmt, indem sie die eigene Positionalität betont - zugleich jedoch deren Partikularität in eine generalisierende Auffassung zu überführen sucht. P. Stuhlmacher konstruiert Wirklichkeit als einen kontinuierlichen Traditionsfluss durch die Zeit. Krisenerscheinungen resultieren vor allem aus Abweichungen von der Tradition. Seine Hermeneutik ist darauf abgestimmt, indem sie die Tradition als fruchtbare Synthese von Wissenschaft und Kirchlichkeit zur Basis der eigenen Argumentationsführung macht. H. Weder konstruiert Wirklichkeit vor allem als dialektisches Bezugsgeschehen zwischen der neuzeitlichen Weltlichkeit und der Wirklichkeit Gottes, welche der Weltlichkeit diastatisch gegenübersteht und zugleich in sie eingeht, sie usurpiert und transformiert. Seine Hermeneutik ist darauf abgestimmt, indem sie Hermeneutik als göttliche Gnadengabe versteht, die selbst Beziehungen zwischen Gott und Welt herstellt. 11.3.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Im Vergleich lassen sich keine identischen Wirklichkeitskonstruktionen ausmachen. Die Zusammenschau der vier jeweiligen Auffassungen von Wirklichkeit und Wahrheit verdeutlicht somit weiterhin das unterschiedliche Profil der hermeneutischen Entwürfe. 11.4 Monolog 11.4.1 Formationen K. Berger kommuniziert zentrale Themenfelder seiner Positionierung monologartig: Dies sind das Exegeseverständnis, das Programm einer Trennung von Exegese und Applikation, die Kontextualität der Applikation sowie deren Kirchenbezug, das personale Wahrheitsverständnis und die hermeneutischen Kategorien Toleranz, Leiden, Fremdheit und Heiligkeit. E. Schüssler Fiorenza orientiert sich zwar am Dialog-Ideal der Frauen-Kirche, formiert aber ebenso wichtige Positionierungen monologisch. Dies geschieht am deutlichsten in der Einleitung, welche komprimiert E. Schüssler Fiorenzas Gesamtansatz monologartig darstellt. Thematisiert wird hier vor allem die Auseinandersetzung um die innerfeministische Strategiefindung. P. Stuhlmacher argumentiert weitgehend dialogisch. Denn seine Konzeption versteht sich als Zusammenführung verschiedener Ansätze der Tradition. Monologisch hingegen formiert er seine biblische Grundlegung der Her- <?page no="274"?> 274 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse meneutik und seine Darstellung des eigenen Ansatzes § 14, besonders seine Erwägungen zur Durchführung der Sachkritik und der notwendigen Bewährung der Bibelinterpretation im Leben der Kirche. H. Weder formiert seine umfangreiche Hermeneutik weitgehend als monologische Programmrede. Das Verständnis der Hermeneutik als Gnadengabe Gottes hingegen wird am Schluss des Epilogs durch den Übergang von der monologischen Rede zum dialogischen Gebet verdeutlicht: Das Gebet soll veranschaulichen, dass die menschliche Empfänglichkeit für das Wort Gottes nicht in der Möglichkeit des Menschen selbst liegt. 11.4.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Alle vier Entwürfe formieren ihre Aussagen dort deutlicher monologisch, wo zentrale Anliegen ihrer Positionierung argumentativ begründet und gesichert werden sollen. Am dezidiertesten monologisch gehalten ist die Hermeneutik von H. Weder. Denn er führt nach eigener Erwähnung zwar in seiner neutestamentlichen Hermeneutik ein implizites Gespräch mit anderen Positionen und teilweise weiteren hermeneutikverwandten Themenstellungen, im Ganzen aber spricht sein Ansatz den Weg Gottes zum Menschen als hermeneutische Verhältnisschaffung des Wortes Gottes nach. Dieses Nachsprechen schließt prinzipiell eine echte dialogische Offenheit aus. Am deutlichsten dialogisch hingegen formiert P. Stuhlmacher seine Aussagen. Auch dies hat konzeptionell-programmatische Gründe: Denn nur im Dialog mit der Traditionsgeschichte der Bibelauslegung kann nach P. Stuhlmacher die Krise der Schriftauslegung überwunden werden. Bei K. Berger und E. Schüssler Fiorenza wechseln monologische und dialogische Passagen ab. 11.5 Schlüsselbegriffe 11.5.1 Formationen Die ermittelten Schlüsselbegriffe K. Bergers Hermeneutik werden insbesondere vom Thema der Fremdheit bestimmt: K. Berger sieht das bedeutungsstiftende Potential der Fremdheit durch vereinnahmende Lese-Strategien wie Harmonisierungen und Uniformalisierungen gefährdet. Der Effekt der Vereinnahmung kann durch eine prinzipielle Trennung von Exegese und Applikation vermieden werden. Dadurch kann es gelingen, die Fremdheit der Texte zu einer verstandenen Fremdheit werden zu lassen, welche ethisch-reflektiert sowohl in Bezug auf den Autor wie auch die Textkonsumenten orientiert ist. Die ermittelten Schlüsselbegriffe E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik sind in erster Linie vom Dualismus zwischen Feminismus und Patriarchalismus/ Androzentrismus bestimmt: Der kritisch-christliche Feminismus artikuliert die Unterdrückungserfahrung und Hoffnung der Marginalisierten, insbesondere der Frauen. Dessen Befreiungs-Intention fordert einen kritisch-be- <?page no="275"?> 11.5 Schlüsselbegriffe 275 wertenden Umgang mit der Schrift anhand des Viererschritts Hermeneutik des Verdachts, Hermeneutik der Erinnerung, Hermeneutik der Verkündigung und Hermeneutik der kreativen Aktualisierung. Patriarchalismus/ Androzentrismus und Feminismus ringen beide um die Macht und das Erbe in Gesellschaft, Wissenschaft (Theologie) und Kirche. Die ermittelten Schlüsselbegriffe P. Stuhlmachers Hermeneutik stehen in einem engen Verhältnis zur Konzeption seiner Hermeneutik des Einverständnisses: Das Einverständnis bezieht sich sowohl auf die Bibel wie auch deren Wirkungsgeschichte, die Stuhlmacher im evangelischen Bekenntnis bewährt zusammengefasst sieht. Auf dieser Grundlage konkretisiert sich die gesuchte Synthese von Wissenschaft und Kirchlichkeit als Lösungsmodell zur radikal-wissenschaftlichen und fundamentalistischen Entkirchlichung. Die ermittelten Schlüsselbegriffe H. Weders Hermeneutik zeichnen in ihrer Kombination den christologischen Weg Gottes in seinem Wort zum Menschen nach. Zentral ist hierfür die Charakterisierung Gottes als Handlungssubjekt und des Menschen als Referenzsubjekt sowie die Beschreibung des Wortes Gottes anhand der Topoi Vollmacht, Klärung des Lebens, Daseinsraum, Verbindlichkeit und Wahrhaftigkeit. Die neutestamentliche Hermeneutik ist gebunden an die Liebe und daher gefährdet durch menschliche Vernichtungsstrategien wie Ausschluss und Vereinnahmung. Daher betont H. Weder die Kategorie der Fremdheit für die neutestamentliche Hermeneutik. 11.5.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Die Formationen der Schlüsselbegriffe lassen insgesamt betrachtet keine durchgängigen Gemeinsamkeiten aller vier Positionen erkennen. Darin zeigt sich weiterhin deren unterschiedliches Profil einer neutestamentlichen Hermeneutik. Allerdings weisen die Schlüsselbegriffe auch auf Teilgemeinsamkeiten, differierende Anordnungen sowie vorhandene Leerstellen hin. Dies möchte ich anhand der beiden Schlüsselbegriffe Fremdheit und Einverständnis veranschaulichen. Fremdheit Der Begriff der Fremdheit nimmt sowohl in H. Weders wie auch K. Bergers Hermeneutik eine wichtige Schlüsselstellung ein. Bei K. Berger birgt das Fremde vor allem ein innovatives Sinnpotential. Daher muss die Fremdheit der Texte vor Vereinnahmungen geschützt werden. Dem dient die Trennung von Exegese und Applikation. Die Wertschätzung des Fremden beschränkt sich in K. Bergers Ansatz aber nicht auf die Fremdheit der biblischen Autoren, sondern konkretisiert sich weiterhin in der Forderung nach aktiver Toleranz gegenüber Menschen fremder Herkunft. Als (kirchen-)politische Implikation nötigt dies zum aufmerksamen und lernbereiten Blick über die eurozentrische Perspektive hinaus zu beispielsweise schwarzafrikanischen Kulturen oder lateinamerikanischen Basisbewegungen. H. Weder unterstützt mit der ebenso zentralen Denkfigur des Fremden vor allem den Ge- <?page no="276"?> 276 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse danken der Inkommensurabilität zwischen neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis, d.h. zwischen Gott und Mensch. Daraus folgt erstens die Notwendigkeit der metaphorischen Sprache, welche die Verschiedenheit von Gott und Mensch zu überbrücken hat, zweitens die Externität der Rettung, welche synergistische Erlösungsmodelle ausschließt und drittens H. Weders Kritik einer anthropologisch-methodischen Ausrichtung der Hermeneutik. In der Wahrung dieser Fremdheit spiegelt sich - ähnlich dem Ansatz K. Bergers - die Würdigung der Andersartigkeit von Menschen fremder Herkunft wider. Während die Kategorie des Fremden bei K. Berger und H. Weder also eine zwar unterschiedlich begründete, dennoch vergleichbar zentrale Schlüsselstellung einnimmt, zeigt ein Blick auf die Stellung des Fremden bei E. Schüssler Fiorenza und P. Stuhlmacher ein anderes Bild: Bei E. Schüssler Fiorenza wird das Fremde nur marginal thematisiert. Sie erwähnt zwar die produktive Funktion des Fremden im Rahmen der historisch-kritischen Methode 5 , ordnet jedoch diesen Methodenschritt generell der feministischkritischen Bewertung unter, wodurch die eigene feministische Kriteriologie und nicht die hermeneutische Kategorie der Fremdheit maßgeblich für die Textlektüre wird. P. Stuhlmacher orientiert seine Hermeneutik am Einverständnis mit den biblischen Texten und der Tradition. Einverständnis setzt die Kenntnis zum Objekt des Einverständnisses zumindest prinzipiell voraus. Deshalb nimmt die Kategorie des Fremden auf den ersten Blick in P. Stuhlmachers Ansatz eine Randposition ein. Lediglich in der Darstellung Gadamers betont Stuhlmacher explizit die „Andersartigkeit der zu interpretierenden Überlieferung“. 6 Der eigene Gegenwartshorizont muss daher bewusst vom Vergangenheitshorizont der Texte unterschieden werden. Zugleich wird jedoch diese Trennung durch die wirkungsgeschichtliche Interpretation mittels der anvisierten Horizontverschmelzung zurückgenommen, so dass das Fremde als hermeneutischer Zugang nicht wirklich wirksam werden kann. P. Stuhlmacher wahrt allerdings dort die Qualität des Fremden, wo es seiner Ansicht nach um die Verkürzung bzw. Verzerrung der biblischen Textaussagen geht. Kontextualisierungen und Inkulturationen der biblischen Botschaft erfahren durch diese Argumentationsfigur eine scharfe Ablehnung. Einverständnis Der Begriff des Einverständnisses ist zuallererst mit dem Ansatz P. Stuhlmachers verbunden und gibt dessen Vorverständnis wieder: Das rechte Lebensverhältnis zu den neutestamentlichen Texten konkretisiert sich als Einverständnis mit der Bibel. Darüber hinaus bezieht er den Einverständnisgedanken auch auf die Wirkungsgeschichte der biblischen Texte, die er im evan- 5 ESF 189. 6 PSt 212. <?page no="277"?> 11.6 Relevanzkriterien 277 gelischen Bekenntnis bewährt zusammengefasst sieht. Auch bei H. Weder erscheint der Begriff des Einverständnisses. Allerdings kann Einverständnis seiner Ansicht nach nicht vorausgesetzt, sondern nur als menschliche Antwort auf Gottes Liebe in seinem Wort aufgefasst werden. Diametral entgegengesetzt zu P. Stuhlmachers Entwurf erscheint der Gedanke des Einverständnisses in E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik als Inbegriff eines patriarchalen Schriftgebrauchs: Denn dort wird die Lektüreform des Einverständnisses mit den biblischen Texten als androzentrische Herrschaftsstabilisierung aufgefasst, der sie ihre Hermeneutik des Verdachts kontrastiert. Bei K. Berger schließlich nimmt der Begriff des Einverständnisses eine marginale Stellung ein. Zwar rezipiert er explizit P. Stuhlmachers Einverständniskonzeption innerhalb seiner Reflexion des emotionalen Bereiches der Kommunikation. 7 Darüber hinaus jedoch verwendet K. Berger für das, was Stuhlmacher mit dem Begriff des Einverständnisses bezeichnet, den Begriff der Loyalität, der sich allerdings nicht zuerst auf die biblischen Texte, sondern die biblischen Autoren bezieht. Als Komplement ist der Loyalität in K. Bergers Entwurf die Kategorie der Freiheit zumindest gleichgestellt. 11.6 Relevanzkriterien 11.6.1 Formationen K. Bergers erstes Relevanzkriterium besteht in der Überwindung jener Totalitarismen im Bereich der neutestamentlichen Hermeneutik, die aufgrund des Uniformitätsdrangs der Moderne und der Neuzeit die Pluralität und Mehrdimensionalität des hermeneutischen Interaktionsgeschehens zwischen Text, Mensch und Gott verhindern. Dem ist ein zweites Relevanzkriterium nebengeordnet: die Auferbauung der Gemeinde als Leitziel der Applikation. Dadurch erhält sein Ansatz einen deutlich gemeinschaftsbetonenden Charakter, der ethische Grundfragen integriert und dazu Prozesse kollektiver Normfindungen thematisiert. E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik bezieht ihr wesentliches Relevanzkriterium aus der Partizipation am feministischen Projekt, welches die generelle Überwindung der patriarchal/ androzentrischen Herrschaft zum Ziel hat. P. Stuhlmacher richtet seine Hermeneutik am Relevanzkriterium aus, zu allgemein akzeptablen und daher der Versöhnung dienenden Regeln der Schriftauslegung zu kommen. Dafür (re)etabliert er als gemeinsamen Nenner für den innerprotestantischen Bereich das evangelische Bekenntnis, an dem sich die Schriftauslegung zu orientieren habe. H. Weders Hermeneutik konstituiert sich durch drei wesentliche Relevanzkriterien, die miteinander eng verschränkt sind. Dies sind erstens die Klärung des Verständnisses von Hermeneutik, zweitens die Klärung des Verständ- 7 KBe 181. <?page no="278"?> 278 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse nisses von Wirklichkeit als Rahmenstruktur der Hermeneutik und drittens die inhaltliche Ausführung der Hermeneutik als Lehre vom Wort Gottes. 11.6.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Die Zusammenschau der bestimmenden Relevanzkriterien veranschaulicht die teilweise völlig unterschiedliche Intention dieser Ansätze. Gemeinsam ist ihnen die Konzentration auf wenige entscheidende Kriterien dessen, was relevant sein soll. Dadurch zeichnen sie sich insgesamt als profilierte Entwürfe aus, die pointiert spezifische Positionalitäten aufweisen, welche freilich als Generalitäten formiert werden. 11.7 Soziolekte 11.7.1 Formationen Die vier Hermeneutiken partizipieren wesentlich an folgenden Soziolekten: Der postmoderne Soziolekt K. Berger der befreiungstheologische Soziolekt K. Berger, E. Schüssler Fiorenza der feministische Soziolekt E. Schüssler Fiorenza der kritisch-katholische Soziolekt E. Schüssler Fiorenza der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik P. Stuhlmacher, H. Weder der pietistische Soziolekt P. Stuhlmacher der Soziolekt der Biblischen Theologie P. Stuhlmacher der Soziolekt der Theologie Bultmanns H. Weder der Soziolekt der Dialektischen Theologie H. Weder der Soziolekt der historischkritischen Wissenschaft K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher, H. Weder der biblisch-bestätigende Soziolekt K. Berger, P. Stuhlmacher, H. Weder der praktisch-theologische Soziolekt K. Berger, H. Weder der spirituelle Soziolekt K. Berger der aktuell-lebensweltliche Soziolekt K. Berger <?page no="279"?> 11.7 Soziolekte 279 der Soziolekt des ökumenischen Dialogs P. Stuhlmacher der Soziolekt des jüdischchristlichen Dialogs K. Berger der Soziolekt der Kritischen Theorie E. Schüssler Fiorenza der Soziolekt der politischen Theologie E. Schüssler Fiorenza der sprachphilosophische Soziolekt K. Berger, H. Weder. 11.7.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Alle vier Hermeneutiken partizipieren am Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft. Darin spiegelt sich der gemeinsame akademische Hintergrund der vier AutorInnen wider. Dennoch kann die Zugehörigkeit zu diesem Soziolekt differenziert beschrieben werden: K. Berger teilt in seinem Konzept einer Trennung von Exegese und Applikation die historische Kritik dem Bereich der Exegese zu und sieht in ihr vor allem ein Instrument, der Vereinnahmung der Texte zu wehren. Durch diese Trennung wird jedoch auch der Einfluss der historischen Kritik auf den hermeneutischen Prozess deutlich eingeschränkt, da die Exegese keine verbindlichen Aussagen für die Applikation zu treffen hat. Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft ist hier somit dem postmodernen und dem praktisch-theologischen Soziolekt untergeordnet. E. Schüssler Fiorenza wirbt innerhalb einer allgemeinfeministischen Skepsis für die historische Kritik und sieht deren (Befreiungs-)Potential vor allem in der Abwehr der dogmatischen Vereinnahmung. Insbesondere die beiden Methodenschritte ‚Hermeneutik des Verdachts‘ und ‚Hermeneutik des Erinnerns‘ nutzen die Infrastruktur der historischen Kritik, um geschichtliche Urteile überprüfen zu können. Zugleich jedoch bewertet die feministische Kriteriologie die Ergebnisse. Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft wird folglich hier dem feministischen Soziolekt untergeordnet. P. Stuhlmacher sieht das Potential der historischen Kritik vor allem darin, die Schriftauslegung vor der kritischen Zeitgenossenschaft zu verantworten. Somit hat sie insbesondere eine apologetische Funktion. Zugleich wird die historische Kritik hier dem Soziolekt der reformatorischen Dogmatik untergeordnet, indem die programmatische Forderung nach Einverständnis die Orientierung am evangelischen Bekenntnis vorgibt. H. Weder plädiert uneingeschränkt für die historische Kritik, da sie als atheistische Methode das Selbstverständnis der Neuzeit adäquat wiedergibt. Zugleich wendet er die historische Kritik selbst nur eingeschränkt an. Denn zum wahren Verstehen kommt es erst - unter Einschluss des historisch-kritischen Erklärens - durch Gottes Wirken, indem mit den Augen Gottes gese- <?page no="280"?> 280 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse hen wird. Somit wird hier der Soziolekt der historischen Kritik dem Soziolekt der Dialektischen Theologie untergeordnet. 8 K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder formulieren weiterhin gemeinsam im biblisch-bestätigenden Soziolekt, d.h. sie konstruieren ihre Argumentationsstrategie ausführlich in Abgleichung mit referientiellen biblischen Aussagen. E. Schüssler Fiorenza partizipiert aufgrund ihres prototypischen Bibelverständnisses nicht an diesem Soziolekt. Der befreiungstheologische Soziolekt bestimmt sowohl die Hermeneutik K. Bergers als auch E. Schüssler Fiorenzas. K. Berger greift auf lateinamerikanische Konzeptionen zurück und problematisiert die kulturell-ökonomischen Ausbeutungsmechanismen der eurozentrischen Herrschaftsstruktur. E. Schüssler Fiorenza hingegen spezifiziert die allgemeine Befreiungsoption der Marginalisierten durch das feministische Projekt, in welchem die Befreiung der Frauen als zumeist doppelt unterdrückter Menschen eine hervorgehobene - typologische - Funktion innerhalb der Befreiung aller Deklassierten einnimmt. P. Stuhlmacher versteht die Befreiungstheologie als eine nicht traditionsorientierte Bewegung, die seiner eigenen Synthesebemühung entgegensteht. H. Weder sieht generell in theologischen Kontextualisierungsversuchen anthropologische Bemächtigungsstrategien der neutestamentlichen Rede am Werk, welche das hermeneutische Potential der Fremdheit des Wortes Gottes vernichten. Der praktisch-theologische Soziolekt nimmt eine hervorgehobene Stellung in den Hermeneutiken von K. Berger und H. Weder ein, allerdings mit unterschiedlicher Intention: K. Berger reflektiert vornehmlich den Aspekt des Gemeindeaufbaus als Ausgestaltung der vita communis, ferner poimenische und liturgische Fragestellungen. Die Ausrichtung dieser Themen ist an den befreiungstheologischen Soziolekt, den spirituellen Soziolekt sowie den postmodernen Soziolekt gebunden. H. Weder hingegen konzentriert sich vor allem auf die Homiletik und die Katechetik. Damit steht bei H. Weder der praktisch-theologische Soziolekt in deutlicher Abhängigkeit zum Soziolekt der Dialektischen Theologie, zum Soziolekt der reformatorischen Dogmatik und ferner zum Soziolekt der Theologie Bultmanns. P. Stuhlmacher zeigt in seiner Argumentation wenig Interesse an praktisch-theologischen Themen, da er seinen Ansatz vorwiegend dogmatisch und historisch konzeptioniert und ausführt. E. Schüssler Fiorenza reflektiert zwar intensiv allgemeine gesellschaftspolitische Interaktionsprozesse, ohne jedoch näher auf einzelne kirchliche Handlungsfelder einzugehen. Am Soziolekt der reformatorischen Dogmatik partizipieren P. Stuhlmacher und H. Weder. Bei P. Stuhlmacher erscheint die reformatorische Orientierung deutlicher normativ und formal, indem die Schriftauslegung an das 8 P. Stuhlmachers und H. Weders Verständnis der historischen Kritik ist erkennbar von Gerhard Ebelings Einbindung der hist.-kritischen Methode in die reformatorische Theologie beeinflusst, vgl. G. E BELING , Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode. <?page no="281"?> 11.7 Soziolekte 281 evangelische Bekenntnis gebunden wird. H. Weder rezipiert in seiner konsequenten Reformulierung der Rechtfertigungslehre die reformatorische Dogmatik stärker inhaltlich. K. Berger kritisiert grundsätzlich die Subsumierung der vielfältigen neutestamentlichen Aussagen unter ein bestimmtes konfessionelles Konzept und E. Schüssler Fiorenza lehnt gegebene Autoritäten wie die reformatorische Theologie als dogmatisches Paradigma ab. K. Bergers und H. Weders Interesse an der sprachlichen Dimension des hermeneutischen Geschehens zeigt sich in der hervorgehobenen Partizipation am sprachphilosophischen Soziolekt. P. Stuhlmacher und E. Schüssler Fiorenza thematisieren in ihren Entwürfen nur am Rande sprachphilosophische Gesichtspunkte. 9 In der Gesamtzusammenschau der Soziolektkombinationen lassen sich drei konfliktträchtige Hauptkonstellationen benennen: (1): K. Berger formuliert seine Kritik an totalitären Systembildungen der Moderne weitgehend im postmodernen Soziolekt. Diese Kritik trifft somit auch H. Weders Partizipation am Soziolekt der Theologie R. Bultmanns, der neben P. Tillich als zentraler Repräsentant einer Theologie der Moderne gilt. (2): Reichlich Spannungspotential ergibt sich aus E. Schüssler Fiorenzas Verbundenheit mit dem Soziolekt der Kritischen Theorie im Gegenüber zu Soziolektkonstellationen K. Bergers, P. Stuhlmachers und H. Weders: (2a) Der Soziolekt der Kritischen Theorie und der biblisch-bestätigende Soziolekt bei K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder: In unterschiedlicher Weise unterstützen diese drei Ansätze ihre Argumentation durch den Rekurs auf biblische Aussagen. Mittels des Soziolekts der Kritischen Theorie hinterfragt E. Schüssler Fiorenza die Strukturen solcher Argumentationsstrategien und lehnt ein archetypisches Bibelverständnis ab, dem sie den prototypischen Gebrauch der Bibel gegenüberstellt. (2b) Der Soziolekt der Kritischen Theorie und der reformatorische Soziolekt bei P. Stuhlmacher und H. Weder: P. Stuhlmacher fordert, die Schriftauslegung an der dogmatischen Normierung des evangelischen Bekenntnisses auszurichten, um somit die kirchliche Einheit zu wahren. H. Weder argumentiert anhand des reformatorischen Soziolekts dafür, die Bibel nicht zu vereinnahmen. E. Schüssler Fiorenza hingegen betont im Soziolekt der Kritischen Theorie die notwendige Autoritäts- und Traditionskritik vorfindlicher (Religions-)Institutionen. 9 P. Stuhlmacher geht in seiner Darstellung der Neuen Hermeneutik auf literaturtheoretische Modelle ein, weshalb er m.E. am Diskursstrang zur Literaturtheorie partizipiert (s. Diskursanalyse). Allerdings konstituieren sprachphilosophische Reflexionen seine Argumentation nicht wesentlich, weshalb der sprachphilosophische Soziolekt insgesamt keine relevante Stellung innerhalb seines Ansatzes einnimmt. E. Schüssler Fiorenza behandelt noch knapper als P. Stuhlmacher sprach- und literaturtheoretische Aspekte. Intensiv thematisiert sie hingegen das Dreieck Sprache - Geschlecht - Macht in Zu ihrem Gedächtnis, 70-82. <?page no="282"?> 282 11 Vergleich der ideologiekritischen Ergebnisse (2c) Der Soziolekt der Kritischen Theorie und der Soziolekt des ökumenischen Dialogs bei P. Stuhlmacher: P. Stuhlmacher formiert anhand des Soziolekts des ökumenischen Dialogs insbesondere seine Präferenz für die röm.-katholische Ordnungsstruktur und deren Einheitsgedanken, nicht jedoch das Bild ökumenischer Pluriformität. In dieser Form des ökumenischen Dialogs sieht die ideologiekritische Reflexion E. Schüssler Fiorenzas lediglich die stabilisierende Fortschreibung religiös-patriarchaler Unterdrückungsschemata. (2d) Der Soziolekt der Kritischen Theorie und der pietistische Soziolekt bei P. Stuhlmacher: Im pietistischen Soziolekt fokussiert sich die bewahrende Grundhaltung, welche P. Stuhlmachers Einverständnis mit den biblischen Texten bedingt. Der Soziolekt der Kritischen Theorie hingegen ist prinzipiell auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und die Destruktion überkommener (Macht-)Traditionen angelegt. Daher fordert E. Schüssler Fiorenza einen ideologiekritischen Umgang mit den biblischen Texten, wie sie ihn in ihrer kritisch-bewertenden Hermeneutik vorlegt. (3): Schließlich ergibt sich zwischen dem Soziolekt des jüdisch-christlichen Dialogs bei K. Berger und dem Soziolekt der Biblischen Theologie bei P. Stuhlmacher ein Konfliktpotential. K. Berger integriert anhand dieses Soziolekts die jüdische Perspektive in seinen hermeneutischen Ansatz, übernimmt dabei vor allem die antidogmatische Grundhaltung des Judentums und reflektiert antijüdische Effekte christlicher Theologie. P. Stuhlmacher hingegen bezieht sich aufgrund des Soziolekts der Biblischen Theologie auf dogmatische, vorwiegend christologische Axiome, thematisiert die jüdische Perspektive vornehmlich als traditionsgeschichtliche Vorstufe zum Christentum und besetzt die Auslegung des Alten Testaments durch den christlichchristologischen Interpretationsmodus. 10 10 Das Judentum wird hierbei deutlich als Objekt wahrgenommen, dem die christliche Botschaft zu kommunizieren ist, wie folgende Formulierung P. Stuhlmachers in Blick auf den Dissens zwischen dem Verständnis der Hebräischen Bibel und dem Alten Testament sowie der Interpretation der Gestalt Jesu zeigt: „Daß diese [hic: die christliche] Sicht Jesu und der Bibel im kritischen Gespräch mit dem Judentum immer neu bewährt werden muß, spricht nicht gegen sie, sondern erweist sie als geschichtlich fundierte Einsicht des Glaubens an Jesus Christus, dessen messianische Würde seit seinem geschichtlichen Wirken zwischen Christen und Juden umstritten geblieben ist“, PSt 47. - Vgl. auch die Kritik von Ulrich Luz an Stuhlmachers Konzeption einer Biblischen Theologie: U. L UZ , Ein Traum auf dem Weg zu einer Biblischen Theologie der ganzen Bibel. Luz sieht in einer konsequent christologischen Beanspruchung des Alten Testaments „die Gefahr, das erste Testament nochmals christlich zu beschlagnahmen und so Israel sein Recht auf seine Bibel abzusprechen“, a.a.O., 281. - Vgl. weiterhin zu Stuhlmachers Positionierung im christlich-jüdischen Dialog: P. S TUHLMACHER / P. L APIDE , Paulus - Rabbi und Apostel, darin besonders: P. S TUHLMACHER , Paulus, Ein Rabbi, der Apostel wurde. Zur Diskussion. <?page no="283"?> 12 Vergleich der diskursanalytischen Ergebnisse 12.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 12.1.1 Formationen K. Berger zitiert auf 273 Textseiten ca. 144 mal die Bibel, davon 17 mal das Alte Testament. Weitere Diskursfragmente des gleichen Diskursstrangs sind insbesondere im ersten Hauptteil verortet und dienen dort der Positionsabgrenzung. Darüber hinaus zitiert K. Berger zur eigenen Positionsfindung vor allem positiv F.D.E. Schleiermacher sowie negativ H.-G. Gadamer und R. Bultmann. Zu ca. 22 verschiedenen eigenen Schriften nimmt K. Berger Bezug und weist damit auf eigene vertiefende und weiterführende Reflexionen hin. E. Schüssler Fiorenza zitiert auf 212 Textseiten lediglich 31 mal direkt die Bibel, davon einmal das Alte Testament. Weitere Diskursfragmente erscheinen vor allem als systematisierte Zusammenstellungen des dogmatischen, historischen und pastoraltheologischen Paradigmas. Eine Abgrenzung erfolgt generell zum dogmatischen und modifiziert zum historischen Paradigma. E. Schüssler Fiorenza weist vornehmlich in Fußnoten auf ca. 15 weitere eigene Schriften hin, die als Referenzbezüge vertiefend der eigenen Positionsabstützung dienen. P. Stuhlmacher zitiert auf 256 Textseiten ca. 331 mal die Bibel, davon 74 mal das Alte Testament. Weitere Diskursfragmente zur Schrifthermeneutik diskutiert P. Stuhlmacher ausführlich in seiner geschichtlichen Darstellung der Schriftauslegung. Besonders deutlich argumentiert er gegen liberal-theologische Entwürfe, R. Bultmann und kontextuelle Konzeptionen. Hingegen rezipiert er vor allem die Schriftauslegung bis zur Zeit der Reformation, A. Schlatter, K. Barth, H.-G. Gadamer, G. Ebeling, E. Fuchs sowie P. Ricœur positiv. P. Stuhlmacher nimmt nur zu einer eigenen Publikation direkt Bezug. H. Weder zitiert auf 435 Textseiten ca. 380 mal die Bibel, davon nur 13 mal das Alte Testament. Weitere Diskursfragmente erscheinen weit seltener und fast auf die ausführliche Vorrede beschränkt. Insbesondere auf R. Bultmann und G. Ebeling greift H. Weder hier zurück, ferner auf K. Barth, E. Fuchs und P. Ricœur. Lediglich auf zwei weitere eigene Schriften weist H. Weder in Anmerkungen hin. <?page no="284"?> 284 12 Vergleich der diskursanalytischen Erge bnisse 12.1.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen 12.1.2.1 Zum Gebrauch von Bibelstellen P. Stuhlmacher und H. Weder, ferner auch K. Berger rezipieren weitaus häufiger das Diskursfragment Schrift 1 als E. Schüssler Fiorenza. Bei P. Stuhlmacher kommt ein biblischer Beleg auf 0,77 Textseiten, bei H. Weder auf 0,87 Textseiten. Bei K. Berger ist das Verhältnis bereits umgekehrt, so dass ein biblischer Beleg auf 1,9 Textseiten kommt. Bei E. Schüssler Fiorenza beträgt das Verhältnis nur noch 1 : 6,84, d.h. auf knapp sieben Textseiten entfällt ein biblisches Zitat. K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder beziehen sich somit zwar insgesamt auf die Bibel als Argumentationsstützung ihrer Ansätze, weisen jedoch markante Differenzen bezüglich der Kombination und Deutung ihrer Präferenzstellen auf, so dass die Begriffsgruppe biblisch/ schriftgemäß/ neutestamentlich nicht nur als Wertadjektiv, sondern zugleich als Sammelbegriff einer definierten Text- und Aussageneinheit seine Evidenz verliert: K. Berger bezieht sich vor allem auf Paulusstellen, welche Konflikte und Lösungswege des gemeindlichen Zusammenlebens unter dem Stichwort Auferbauung der Gemeinde thematisieren. Mit Bibelstellen wie 1Kor 3,14; Röm 12,2 oder Phil 1,19 zeichnet K. Berger das Bild einer lebendig-diskutierenden und Gegensätze miteinander austarierenden Gemeinschaft als Leitbild christlicher Konvivenz. Daneben betont er Texte, welche die Fremdheit der biblischen Kultur aufweisen, wie 1Tim 2,11-15 oder Röm 11. Damit stützt er seine Hermeneutik der Fremdheit. Ebenso thematisiert er ausführlich die Gruppe der mythischen Texte wie Mk 6,30-44, die seiner Konzeption einer Erweiterung des Wirklichkeitsverständnisses dienen. P. Stuhlmacher zitiert ebenfalls vorrangig Paulusstellen, entwirft aber ein völlig anderes Bild: Hier geht es primär um die Rezeption der Lehre, z.B. dem Wort vom Kreuz 1Kor 1,18- 2,16, der freudigen Aufnahme des Evangeliums 1Thess 1,4-6 oder der Erleuchtung durch die Verkündigung 2Kor 4,5f. Den Gedanken der Lehre, die institutionalisiert weitergegeben wird, stützt er durch seine ausführliche Zitation sog. deutero- und nebenpaulinischer Schriften, insbesondere der Pastoralbriefe. Auch H. Weder bezieht sich weitgehend auf Paulusstellen und zeichnet gleichfalls ein eigenes profiliertes Bild: Er stellt das Beziehungsgeschehen von Gott und Mensch in den Mittelpunkt seiner biblischen Rekurse und erstellt z.B. anhand von 1Kor 12+14 sein Verständnis der Hermeneutik als Gnadengabe Gottes. Die Wahrhaftigkeit des Gotteswortes im Gegenüber zur menschlichen Lüge deduziert er aus Röm 1,24f und insgesamt aus Röm 3. Die Usurpation weltlicher Sprache durch das Gotteswort beschreibt er anhand 1Kor 2,6-16. Darüber hinaus erscheinen bei H. Weder relativ häufig Evangelienzitate, die insgesamt seine Betonung der narrativen und perfor- 1 Zur synonymen Verwendung und differenzierten Bedeutung von Bibel, Schrift und Wort Gottes s. I. D ALFERTH , Von der Vieldeutbarkeit der Schrift und der Eindeutigkeit des Wortes Gottes und C. S CHWÖBEL , Art. Bibel, 1427-1429. <?page no="285"?> 12.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 285 mativen Sprache stützen. Wie verhält sich dazu im Vergleich der Bibelgebrauch bei E. Schüssler Fiorenza? Auch bei ihr stehen die biblischen Texte in einem inneren Zusammenhang zu ihrem eigenen Ansatz: Die Mittlerposition zwischen einem christlich-apologetischen und einem postchristlichen Feminismus verdeutlicht sie durch die Gegenüberstellung von Texten wie Gen 2-3, den neutestamentlichen Haustafeln oder 1Tim 2,8-15 auf der einen Seite und Gal 3,28 oder Röm 16,1.7 auf der anderen Seite. Das egalitäre Konvivenzmodell der Frauenkirche sieht sie in der markinischen Nachfolgegemeinschaft vorgebildet. Und insgesamt versteht sie ihren Ansatz als eine hermeneutische Methode, die es gemäß Röm 1,16 ermöglicht, dass das Evangelium als Kraft Gottes, die rettet, wieder erkennbar wird. Somit rezipieren alle vier Hermeneutiken zwar in unterschiedlicher Intensität biblische Aussagen, greifen aber insgesamt zur Konstruktion und Illustration ihrer Ansätze auf biblische Verweise zurück. Diese Art des Referenzverfahrens umwebt die eigene Argumentation, indem die jeweilige Positionierung formal zwar biblisch, schriftgemäß oder neutestamentlich geführt wird, der eigene Vorstellungszusammenhang jedoch die Auswahl und Deutung der Referenztexte vorgibt. 12.1.2.2 Zur Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder beziehen sich gemeinsam und ausführlich auf das wichtigste diskursive Ereignis der neutestamentlichen Hermeneutik im deutschen Sprachraum des 20. Jahrhunderts, die Debatte um den hermeneutischen Ansatz R. Bultmanns. K. Berger referiert Bultmann vor allem als Leitbild der theologischen Moderne, dessen rationalistischer Vorstellungshintergrund die mehrdimensionale Aussagenwelt des Neuen Testamentes reduziert, harmonisiert und durch die eigene Position totalisierend vereinnahmt hat. K. Bergers eigene - von der Postmoderne inspirierte - Konzeption versteht sich hingegen als Überwindung dieses Leitbildes. P. Stuhlmacher grenzt sich ebenfalls von Bultmann ab, die Argumentation ist allerdings eine andere: So würdigt P. Stuhlmacher das hohe Niveau der wissenschaftlichen Leistung Bultmanns, formuliert aber umso deutlicher dessen Bruch mit der kirchlichen Tradition. Insgesamt partizipiert der Ansatz Bultmanns nach P. Stuhlmacher am Typus der radikalen Anwendung der historischen Kritik und kann daher der geforderten Synthese von Wissenschaft und Kirchlichkeit keinesfalls gerecht werden. H. Weder hingegen bezieht sich vorwiegend positiv auf Bultmann, denn sein Entwurf partizipiert in wesentlichen Teilen am Soziolekt der Theologie Bultmanns. Gleichzeitig aber modifiziert er den Ansatz der Entmythologisierung und kritisiert Bultmanns inhaltliche Bestimmung des Vorverständnisses. Bei E. Schüssler Fiorenza nimmt die Thematisierung Bultmanns eine ungleich marginalere Stellung ein. Dies liegt zum einen am U.S.-amerikanischen Kontext mit seiner ihm eigenen Diskursgestalt, zum anderen an der <?page no="286"?> 286 12 Vergleich der diskursanalytischen Erge bnisse feministischen Perspektive, in welcher Bultmann als ein Vertreter unter anderen des alten androzentrischen Paradigmas erscheint. Weiterhin setzen sich K. Berger und P. Stuhlmacher ausführlich mit H.-G. Gadamer auseinander, werten allerdings völlig unterschiedlich: Bei K. Berger erscheint Gadamer wie auch Bultmann als Vertreter einer zu überwindenden Moderne. P. Stuhlmacher hingegen sieht in Gadamer die zentrale Referenz zur wissenschaftlichen Bestimmung seines eigenen Ansatzes. Er übernimmt von ihm das Signalwort ‚Einverständnis‘ und deduziert aus Gadamers Ansatz den Gedanken des notwendigen Einrückens in den Überlieferungszusammenhang der kirchlichen Tradition. Befreiungstheologische Diskursfragmente werden ausführlich bei K. Berger und E. Schüssler Fiorenza positiv und bei P. Stuhlmacher negativ rezipiert. H. Weders Schweigen zeigt die mangelnde Relevanz, die er der befreiungstheologischen Hermeneutik für die neutestamentliche Hermeneutik insgesamt zumisst. 12.1.2.3 Gegenseitige Bezugnahmen K. Berger diskutiert alle drei weiteren hermeneutischen Ansätze: E. Schüssler Fiorenzas feministisches Grundanliegen teilt er als Spezifizierung der gemeinsamen befreiungstheologischen Orientierung, kritisiert jedoch deren Methodik eines apriori bestehenden Verdachts gegen Frauenunterdrückung in den biblischen Texten als „ungenießbare[…] Ideologie“. 2 Für fatal hält er die nicht vollzogene Trennung zwischen Exegese und Applikation in der feministischen Theologie. Die Position P. Stuhlmachers kritisiert K. Berger vor allem wegen der verunmöglichten Chance zur Innovation aufgrund der grundlegenden Überhöhung der Wirkungsgeschichte. Weiterhin hinterfragt K. Berger die Reduktion des Gadamerschen Traditionsbegriffs bei P. Stuhlmacher auf die kirchliche Bekenntnistradition. Besonders scharf fällt K. Bergers Kritik gegenüber H. Weder aus. Da Weder Hermeneutik nicht als Methodenlehre betreibe, hätten dessen assertorische Glaubenssätze für die neutestamentliche Hermeneutik, insbesondere die Applikation, keinerlei Bedeutung. 3 2 KBe 52. 3 K. Berger und H. Weder führten 1992 in der Zeitschrift für Evangelische Theologie eine mitunter stark polemische Kontroverse um das neutestamentliche Hermeneutikverständnis. Ich fasse hier knapp die beiden Beiträge K. Bergers zusammen, auf H. Weders Beiträge gehe ich unten im Zusammenhang mit dessen Bezugnahmen ein: A) K. B ERGER , Meine Hermeneutik im Gespräch mit H. Weder: K. Berger hebt in seinem ersten Beitrag Übereinstimmungen zwischen seinem eigenen Ansatz und der Position H. Weders hervor. Dies sind die hermeneutische Betonung der Fremdheit und der Metapher, sowie die Anerkennung der Leistungen der historischen Kritik. Daraufhin benennt er fünf Konfliktpunkte: (1) Die Hauptursache des Dissenses sieht K. Berger im unterschiedlichen Theologieverständnis: So betreibe H. Weder eine Theologie aus der Perspektive Gottes heraus, <?page no="287"?> 12.1 Überschneidung mit anderen Diskursfragmenten 287 Bei E. Schüssler Fiorenza erscheint P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses als exponierter Gegenentwurf zur programmatisch geforderten feministischen Hermeneutik, vor allem der Hermeneutik des Verdachts. Von K. Berger nennt E. Schüssler Fiorenza nur dessen hermeneutische Kategorie der Solidarität und verweist auf dessen Publikation ‚Exegese des Neuen Testaments‘ im Zusammenhang der bibelwissenschaftlichen Methodenlehre. H. Weder wird in E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik nicht erwähnt. M.E. würde sie den Ansatz H. Weders wie P. Stuhlmachers Einverständnishermeneutik unter die Kategorie des dogmatischen Paradigmas subsumieren. K. Bergers Entwurf würde sie im Übergang vom historischen zum pastoraltheologischen Paradigma verorten. - Alle drei Entwürfe sind innerhalb ihrer Perspektive daher in unterschiedlichem Grad defizitär. P. Stuhlmacher bespricht lediglich den feministischen Ansatz E. Schüssler Fiorenzas und wertet die Hermeneutik des Verdachts als illegitime Instrumentalisierung der biblischen Texte ab. Von K. Berger wird nur dessen Formgeschichte erwähnt, eventuell waren P. Stuhlmacher keine hermeneutischen Vorarbeiten K. Bergers bekannt, denn die erste Hermeneutik K. Bergers erschien erst zwei Jahre nach der Zweitauflage P. Stuhlmachers Hermeneutik. Positionierungen H. Weders rezipiert P. Stuhlmacher positiv zur Präzisierung der hermeneutischen Kategorie des Vernehmens. H. Weder erwähnt im Vorwort lediglich P. Stuhlmachers Entwurf 4 als eine Konzeption, die sich von seiner eigenen Zielvorgabe unterscheidet. Ein weiteres Mal verweist H. Weder auf die Hermeneutik P. Stuhlmachers als ver- K. Berger selbst versteht hingegen die theologische Rede als menschliche Reflexion über die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott. (2) Weiterhin lasse H. Weders Hermeneutik keinen Raum für die Vielfalt der Schrift, sondern reduziere sie auf wenige reformatorische Leitsätze. (3) Ebenso begrenze H. Weder die Reichweite der Kritik, indem er die Kategorie des Erklärens theologisch dem Verstehen unterordne. (4) Auch für die Dimension der konkreten Situation bleibe kein wirklicher Platz. Damit stellt K. Berger insgesamt den Nutzen H. Weders Ansatz in Frage. (5) Schließlich kritisiert er H. Weders Charakterisierung der historischen Kritik als Anwältin der Neuzeit und kontrastiert dazu sein Verständnis der historischen Kritik als Anwältin der antiken Texte. B) Ders., Replik auf H. Weder. In seinem zweiten Beitrag formuliert K. Berger als Differenzen zu H. Weder den Gebrauch der Vernunft, das Wahrheitsverständnis und nochmals die hermeneutische Bedeutung der Situation. Insgesamt reflektiere H. Weder zu wenig sein Verhältnis zu theologischen Vorgaben der Tradition, die als Autoritäten nahezu kritiklos in dessen Ansatz einwirkten - K. Berger denkt hierbei insbesondere an die reformatorische Bekenntnistradition. 4 H. Weder kommentiert P. Stuhlmachers Ansatz ausführlich in einem Festschrift-Beitrag anlässlich dessen 65. Geburtstags: Sehr vorsichtig, bedingt durch die Gattung Festschrift-Beitrag, kritisiert H. Weder den Terminus Einverständnis, insofern er als Verstehensvoraussetzung gebraucht werde. Einverständnis hingegen als Konsequenz und Potential des Evangeliums kann in der Traditionslinie Augustin-Luther nach H. Weder durchaus als Begriff von hermeneutischer Relevanz verwendet werden. H. Weder lässt es letztlich offen, wie P. Stuhlmacher selbst diesen Begriff verstehe und weicht <?page no="288"?> 288 12 Vergleich der diskursanalytischen Ergebnisse tiefende Darstellung der pietistischen hermeneutica sacra. 5 K. Berger 6 und E. Schüssler Fiorenza 7 werden in H. Weders umfangreicher Hermeneutik nicht erwähnt. somit einer klaren Kritik an dieser Stelle aus, H. W EDER , Einverständnis. Eine Überlegung zu Peter Stuhlmachers hermeneutischem Ansatz. 5 HWe 19. 6 H. Weder kritisiert in seinen beiden Beiträgen zum Streitgespräch mit K. Berger in der Zeitschrift für Evangelische Theologie 1992 scharf dessen Hermeneutikverständnis: A) H. W EDER , Mein hermeneutisches Anliegen im Gegenüber zu Klaus Bergers Hermeneutik des Neuen Testaments. Vorausschickend verwahrt sich H. Weder gegen die ungerechte Darstellung seines Ansatzes in K. Bergers Hermeneutik. Daraufhin benennt er folgende drei Kritikpunkte: (1) Das Applikationsverständnis K. Bergers zeige dessen nichtstringenten Gebrauch von Fachtermini, wodurch sich eine Auseinandersetzung mit dessen Ansatz erheblich erschwere. (2) Die Handlungsorientierung K. Bergers Ansatz sei insgesamt stärker von Modeeinflüssen des Zeitgeistes abhängig als neutestamentlich fundiert und darüber hinaus theologisch gesetzlich. (3) Die Wahrheitsfrage klammere K. Berger im wesentlichen aus. Denn die Subjektorientierung K. Bergers Ansatz führe vor allem zu einer Subjektivierung von Wahrheit, der ein autoritäres menschliches Denken folge, indem der christliche Wahrheitsgedanke verdrängt und die entlastende christliche Botschaft vorenthalten werde. B) Ders., Einige Bemerkungen zu Klaus Bergers Aufsatz. In seinem zweiten Beitrag betont H. Weder versöhnlich die gemeinsame Hervorhebung der Fremdheit als wichtigstes Anliegen der neutestamentlichen Hermeneutik. Zugleich verwahrt er sich gegen K. Bergers Vorwurf, sein Ansatz sei gegen die Aufklärung gerichtet, von einer reformatorischen Engführung bestimmt und ziehe willkürliche Grenzen zu verschiedenen Theorien und Methoden. Bereits ein Jahr zuvor formulierte H. Weder seine grundlegende Kritik an K. Berger, ders., Kritische Hermeneutik? , 306: „Das Buch [K. Bergers Hermeneutik von 1988] macht optisch einen merkwürdig zerstückelten Eindruck. Vielen Titeln folgt nicht mehr als eine halbe Seite Text. Dieser optische Eindruck wird beim Lesen verstärkt“. 7 H. Weder setzte sich 1996 in einem Artikel kritisch mit E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik des Verdachts auseinander: Die Hermeneutik des Verdachts befrage die Texte nach etwas, worauf sie selbst keine Antwort gäben und unterliefe somit den sachlichen Gehalt dessen, was als einziges Indiz gegen solch ein Verfahren vorgebracht werden könnte. Deshalb könne die Hermeneutik des Verdachts nicht selbstkritisch sein, sorge für das Selbstgespräch des Auslegers, der als Verdächtiger das Potential der fremden Botschaft verspiele. „Der Verdacht gegen das Fremde erweist sich insofern als tödlich, als er das verdächtigende Subjekt ganz seinen eigenen Ideologien und Konstruktionen überläßt. Er läßt dem Externen keine Chance, sich als des Menschen Gegenüber bekannt zu machen. Der Verdacht verhindert demzufolge genau jene Lebens-Beziehung zu den Dingen und Texten, in welcher die Lebendigkeit des Menschen besteht“, H. W EDER , Kritik am Verdacht. Eine neutestamentliche Erprobung der neueren Hermeneutik des Verdachts, 83. <?page no="289"?> 12.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen 289 12.1.2.4 Zur Überschneidung mit eigenen Diskursfragmenten Auf weitere eigene Publikationen zur Vertiefung bestimmter Themen verweisen intensiv K. Berger und E. Schüssler Fiorenza, deutlich weniger P. Stuhlmacher und H. Weder. 12.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen 12.2.1 Formationen Um die Verknüpfung mit weiteren Diskurssträngen sowie die jeweiligen Positionierungen in gemeinsamen Diskurssträngen besser vergleichen zu können, nehme ich eine vereinfachende Klassifizierung vor, indem ich die einzelnen Diskursstränge primären Präferenzorten 8 zuweise. Ich unterscheide hierbei die drei primären Präferenzorte Kirche/ Theologie, allgemeine Wissenschaft und Gesellschaft. Dem primären Präferenzort von Kirche/ Theologie weise ich folgende Diskursstränge zu: Das Verständnis von Kirche → einschließlich des Spiritualitätsdiskurses K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher, H. Weder K. Berger, H. Weder die Hermeneutik der Bekenntnisschriften K. Berger das Verständnis von Offenbarung / das Verständnis des Wortes Gottes K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher, H. Weder das Inspirationsverständnis P. Stuhlmacher die Stellung der Frau in den christlichen Anfängen E. Schüssler Fiorenza 8 Als primäre Präferenzorte verstehe ich jene kommunikativen Felder, denen sich ein Diskursstrang zuerst zuordnen lässt. So rechne ich beispielsweise den Diskursstrang zum Verständnis von Geschichte dem primären Präferenzort der allgemeinen Wissenschaften zu, weil er dort in den Geschichtswissenschaften seinen originären Haftpunkt hat, wenngleich er in der Theologie bereits soweit integriert ist, dass er dort auch als eigener theologischer Diskursstrang aufgefasst werden könnte. Meine Zuordnungen ermöglichen a.d.St. daher nur eine tendenzielle Orientierung. Diskursstränge können eine übergreifende Funktion in der Herstellung von Verbindungen bzw. Grenzziehungen zwischen verschiedenen Diskursorten einnehmen, indem sie Konflikte austragen, die sich aus der partikularen Perspektivität der jeweiligen Diskursorte ergeben oder indem sie wesentliche Fragestellungen verschiedener Diskursorte bündeln und bearbeiten. So umfasst zum Beispiel der Diskursstrang zum Verhältnis von Religion und Politik alle drei benannten primären Präferenzorte. <?page no="290"?> 290 12 Vergleich der diskursanalytischen Ergebnisse die Geschlechterfrage im Gottesbild H. Weder die Wertung unterschiedlicher Bibeleditionen P. Stuhlmacher das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher. An der Schnittstelle der beiden Präferenzorte Kirche/ Theologie sowie der allgemeinen Wissenschaft verorte ich folgende Diskursstränge: Das Verständnis der Theologie im Kontext der Wissenschaften K. Berger, P. Stuhlmacher, H. Weder das Verhältnis von Exegese und Psychologie K. Berger, P. Stuhlmacher das Verständnis von Wahrheit K. Berger, H. Weder das Verständnis von Freiheit H. Weder. Am primären Präferenzort der allgemeinen Wissenschaft partizipieren folgende Diskursstränge: Das Verständnis von Geschichte K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher, H. Weder die Literaturtheorie K. Berger, P. Stuhlmacher, H. Weder die Ästhetik K. Berger der Stellenwert des Subjektes K. Berger das Verständnis der Neuzeit H. Weder die feministische Wissenschaftskritik E. Schüssler Fiorenza. Die allgemeine Wissenschaft und die Gesellschaft als gleichberechtigte Diskursorte umgreifen folgende Diskursstränge: Das Zusammenleben innerhalb eines Gesellschaftssystems K. Berger das Verständnis von Macht E. Schüssler Fiorenza. <?page no="291"?> 12.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen 291 Folgende Diskursstränge rechne ich dem primären Präferenzort Gesellschaft zu: Diskursstrang zur Frauenemanzipation K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher der Umgang mit Menschen fremder Herkunft H. Weder. Und alle drei Diskursorte Kirche/ Theologie, allgemeine Wissenschaft und Gesellschaft umfasst folgender Diskursstrang: Das Verhältnis von Religion und Politik P. Stuhlmacher. 12.2.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Den primären Präferenzort der allgemeinen Wissenschaft bzw. die Schnittstelle von Kirche/ Theologie und allgemeiner Wissenschaft betonen K. Berger und etwas schwächer H. Weder. Dies weist auf deren akademische Argumentationsführung hin. Die Mehrheit der ermittelten Diskursstränge in P. Stuhlmachers Hermeneutik lassen sich dem primären Präferenzort Kirche/ Theologie zuordnen. Darin zeigt sich dessen dezidiert binnenkirchliche Orientierung. E. Schüssler Fiorenzas überlappende Diskursstränge sind zwar vorwiegend auf den primären Präferenzort Kirche/ Theologie ausgerichtet, stehen aber durch die feministische Perspektive in einem engen Verhältnis zu den anderen beiden benannten Diskursorten. Einige der überlappenden Diskursstränge sind mit allen vier Ansätzen verknüpft. Dies sind die Diskursstränge zum Verständnis von Kirche 9 , Offenbarung 10 , Geschichte 11 sowie die Frage nach dem Verständnis von Theologie bzw. Bibelwissenschaft 12 . Die Positionierung in diesen gemeinsam vorgegebenen Diskurssträngen verläuft jedoch in Abstimmung zum eigenen Ansatz jeweils völlig unterschiedlich: 9 K. Berger und H. Weder partizipieren darüber hinaus in Zusammenhang mit dem Kirchenthema an der Spiritualitätsbzw. Frömmigkeitsdebatte. 10 Der Offenbarungsdiskursstrang erscheint in H. Weders Argumentationsführung spezialisiert als Diskursstrang zum Verständnis des Wortes Gottes. 11 Der konstitutive Zusammenhang von Geschichte und Hermeneutik ergibt sich für alle vier Ansätze aus deren Partizipationen am Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft, denn „[s]eit der Aufklärung ist die G[eschichte] zur Leitkategorie für die Interpretation ntl. Texte geworden“, C. R OWLAND , Art. Geschichte, 783. 12 K. Berger und P. Stuhlmacher thematisieren vor allem die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie, H. Weder formuliert hingegen ein von der Wissenschaft nicht direkt abhängiges Theologieverständnis. E. Schüssler Fiorenza und P. Stuhlmacher artikulieren in diesem Zusammenhang ihre konträren Beiträge zum Selbstverständnis der Bibelwissenschaft. <?page no="292"?> 292 12 Vergleich der diskursanalytischen Ergebnisse Im gemeinsamen Diskursstrang zum Verständnis von Kirche thematisiert K. Berger vorwiegend interaktive Handlungsprozesse der Kirchenmitglieder, denn die handlungsorientierte Perspektive bestimmt sein zweites Relevanzkriterium, die Auferbauung der Gemeinde. E. Schüssler Fiorenza reflektiert den Kirchenbegriff in der Dualität von Patriarchalismus/ Androzentrismus und Feminismus. P. Stuhlmacher betont noch deutlicher als K. Berger das Ideal der einmütigen kirchlichen Gemeinschaft 13 , welches bei ihm allerdings nicht durch vorrangig interaktive Handlungsprozesse, sondern die individuelle Unterordnung unter das Bekenntnis erzielt werden soll. Bei H. Weder schließlich ist der zwischenmenschliche Gemeinschaftsgedanke deutlich dem Aspekt der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch nachgeordnet. Kirche ist primär Ort der Verkündigung an den Einzelnen in Wort und Sakrament und sekundär Ort der Gemeinschaft, die aus diesem Wort lebt und ihre Sammlung erfährt. Im Diskursstrang zum Verständnis der Offenbarung bindet K. Berger seine Ausführungen an die Ästhetik: Offenbarung ist real und sinnlich erfahrbar und eben nicht supranaturalistisch, wie Rationalismus, Fundamentalismus und dialektisch-theologischer Offenbarungspositivismus gemeinsam behaupteten. E. Schüssler Fiorenza thematisiert vor allem die Kriterienfrage, was als Offenbarung zu gelten habe: Offenbarungsqualität kann aufgrund ihrer feministischen Perspektive nur beanspruchen, was im Befreiungskampf gegen die patriarchale Unterdrückung stärkende Macht für die Gegenwart verleiht. P. Stuhlmacher bindet die Offenbarung Gottes eng an die Schrift und schafft somit eine entscheidende Vorraussetzung für sein Programm einer Hermeneutik des Einverständnisses. Bei H. Weder ist die Thematik der Offenbarung leicht verschoben durch die Fokussierung auf die Wort-Gottes-Thematik. Offenbarung wird hier deshalb vor allem als das mitteilende Geschehen des Wortes Gottes entfaltet, welches in der neutestamentlichen Rede den einzelnen Menschen anredet und den Glauben als Verhältnis zwischen Gott und Mensch bewirkt. Im Diskursstrang zum Verständnis von Geschichte besteht K. Berger auf die konkrete Geschichtlichkeit allen menschlichen Lebens, sowohl der heutigen Menschen als Übersetzer und Rezipienten von Texten wie auch der biblischen Autoren. Deshalb muss die Konstruktion geschichtlicher Kontinuitäten hinterfragt und die konkrete Situation aufgewertet werden. E. Schüssler Fiorenza thematisiert die Kategorie der Geschichte in Bezug auf den Konstruktionscharakter jeder Geschichtsschreibung und damit in Blick auf die Instrumentalisierung der Geschichte durch partikulare Machtinteressen. Für P. Stuhlmacher ist Geschichte eine eminent hermeneutische Kategorie, indem sie den wirkungsgeschichtlichen Zugang zu Texten, Ereignissen und Gründungsgeschehnissen ermöglicht, die für die Gegenwart von Relevanz 13 Bei P. Stuhlmacher spielt der Gedanke der Einheit in Vielfalt, den K. Berger von Nikolaus von Kues entlehnt, keine Rolle. <?page no="293"?> 12.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen 293 sind. Damit bildet die Geschichte den zeitumspannenden heuristischen Bezugsrahmen für das Verstehen. H. Weder wiederum ordnet die Geschichtsthematik in seine Gegenüberstellung von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis ein. Während die Neuzeit entsprechend ihrer Wirklichkeits- und Anthropologiekonstruktion Geschichte als weltimmanenten Geschehnisprozess bestimmt, beschreibt das Neue Testament Geschichte primär als von Gott gelenktes Heilshandeln. Im Diskursstrang zum Verständnis von Theologie verortet K. Berger die Theologie uneingeschränkt im Wissenschaftsbetrieb und trennt daher strikt zwischen Glaube und Theologie. Auf der anderen Seite aber unterscheidet er die Theologie von herkömmlichen Wissenschaften, indem er sie als Akt kirchlicher Selbstbesinnung an die Glaubensgemeinschaft der Kirche bindet. Ebenso betont auch P. Stuhlmacher die Wissenschaftlichkeit der Theologie, insbesondere gegenüber dem Pietismus. Und - wiederum ähnlich zu K. Berger - formuliert er als komplementäre Aussage hierzu die enge Verbindung von Kirche und Theologie, die - nun deutlich verbindlicher als bei K. Berger - die Unterordnung der theologischen Wissenschaft unter die kirchliche Glaubenstradition impliziert. H. Weder hingegen betont in Rekurs auf Karl Barth zuerst die Andersartigkeit der Theologie, die als Wagnis gerade dem Selbstverständnis der Neuzeit und dessen Drang nach Beherrschbarkeit zuwiderläuft. Allerdings schließt dieser Vorgang das weltliche, d.h. auch wissenschaftliche Verstehen mit ein, weshalb H. Weder die wissenschaftliche Methodik, insbesondere die historische Kritik in sein Theologiekonzept integrieren kann. E. Schüssler Fiorenzas Reflexionen zu diesem Themenfeld konzentrieren sich stärker auf das Selbstverständnis der Bibelwissenschaft, welches sie in den anvisierten Transformationsprozess des konventionellen Wissenschaftsbetriebes durch das feministische Paradigma einbindet. Die Bibelwissenschaft muss dabei kritisch reflektieren, inwiefern ihre Forschungsergebnisse zur Unterdrückung oder Befreiung der vom Patriarchat Unterdrückten beitragen. Deshalb plädiert sie für eine Überführung der Bibelwissenschaft in eine allgemeine Kulturkritik. Die Bedeutung der Literaturwissenschaft für die Neutestamentliche Hermeneutik wird gemeinsam von K. Berger, P. Stuhlmacher und H. Weder hervorgehoben, hingegen nur am Rand bei E. Schüssler Fiorenza erwähnt. K. Berger lehnt den Strukturalismus als totalisierendes Literaturmodell ab und unterstreicht den Wert der rezeptionsästhetischen Perspektive. Im Gegensatz hierzu kritisiert P. Stuhlmacher die Rezeptionsästhetik, da sie die Sinnerfassung der Bibeltexte dem individuellen Leser überlasse und somit die kirchliche Deutungsaufgabe unterwandere. Ebenfalls in Gegensatz zu K. Berger betont P. Stuhlmacher die Vorzüge der synchronen Interpretation des Strukturalismus, da er den biblischen Texten ihre ursprüngliche hermeneutische Bedeutung zurückgeben kann. H. Weder rezipiert vor allem die Sprechakttheorie. Anhand dieses Modells erläutert er die performative Funktion der neutestamentlichen Rede, die er besonders auf die Metapher <?page no="294"?> 294 12 Vergleich der diskursanalytischen Ergebnisse bezieht. Ebenso rezipiert er die Rezeptionsästhetik, wenngleich er deren Bedeutung theologisch relativiert. Keine der vier Hermeneutiken übergeht die Thematisierung der feministischen Perspektive. Sie hat offensichtlich bis zum Entstehungszeitraum der untersuchten Ansätze eine deutliche Präsenz entwickelt, die eine positionierende Kommentierung notwendig machte. So erscheint sie nicht nur bei E. Schüssler Fiorenza als Kern ihres Ansatzes, sondern wird ebenso bei K. Berger und P. Stuhlmacher diskutiert: Beide unterstützen das emanzipatorische Engagement der Frauenbewegung und beide lehnen zugleich eine instrumentelle Vereinnahmung der biblischen Texte durch die Frauenbewegung ab. Bei H. Weder erscheint die feministische Perspektive hingegen weniger in Bezug auf die gesellschaftliche und kirchliche Frauenemanzipation insgesamt, sondern reduziert sich theologisch auf die Geschlechterfrage in Blick auf das Gottesbild. 12.3 Bezüge zum Interdiskurs 12.3.1 Formationen K. Bergers Ansatz partizipiert sowohl an konservativen wie auch progressiven Grundhaltungen. Die Spannung zwischen progressiven und konservativen Aspekten versucht K. Bergers Konzeption einer Trennung von Exegese und Applikation auszutarieren. Deutlich progressiv ist E. Schüssler Fiorenzas feministischer Ansatz ausgerichtet. Das feministische Veränderungsprogramm der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse wirkt auf eine grundlegende Umgestaltung hin und sieht in den konservativen Kräften die Gegnerschaft dieses Transformationsprozesses. P. Stuhlmachers Hermeneutik bildet das konservative Gegenstück zu E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik. Sein doppeltes Einverständnis zu den biblischen Texten sowie der kirchlichen Bekenntnistradition hat vor allem bewahrenden Charakter. H. Weders hermeneutischer Ansatz lässt sich nur bedingt in das binäre System progressiver und konservativer Grundhaltungen einordnen. Der rezipierte dialektisch-theologische Ansatz entzieht sich solchen Zuweisungen. 12.3.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen Die Hermeneutiken von K. Berger, E. Schüssler Fiorenza und P. Stuhlmacher lassen sich gut in das binäre System der beiden Grundhaltungen ‚Konservativismus und Progressivität‘ einordnen (s.o.). H. Weders Hermeneutik unterscheidet sich davon deutlich. Darin spiegelt sich die grundlegende Differenz zwischen K. Berger, E. Schüssler Fiorenza und P. Stuhlmacher auf der <?page no="295"?> 12.3 Bezüge zum Interdiskurs 295 einen Seite, die ihre hermeneutischen Ansätze als Methoden zur Schriftauslegung verstehen und H. Weder auf der anderen Seite, der seine Hermeneutik als Darlegung der Verstehensleistung des Wortes Gottes konzipiert. Diese theologisierte Hermeneutikbestimmung entzieht sich der binären Klassifikation von Grundhaltungen. Erst sekundär in der inhaltlichen subjektiven Konkretisierung dieses Konzeptes durch H. Weder lassen sich konservative bzw. progressive beschreiben. 14 14 Vgl. 9.3.3 Bezüge zum Interdiskurs. <?page no="297"?> 13 Diskurskritische Einordnungen: Institutionen - Macht - Selbstanspruch Zum Abschluss dieser vergleichenden Auswertung stelle ich erstens die wichtigsten Institutionen zusammen, die in der Argumentationsführung der jeweiligen Ansätze präsent sind 1 , zweitens beleuchte ich den Aspekt der Macht als wichtigen diskursiven Faktor und drittens formuliere ich daraus den Selbstanspruch der vier hermeneutischen Entwürfe. 13.1 Institutionsbezüge K. Berger hat bei seiner Argumentationsführung primär die Theologie in ihren verschiedenen akademischen und kirchlichen Institutionen im Blick. So widmet er seine Hermeneutik von 1988 seinen Hörerinnen und Hörern in Heidelberg und konzipiert die Hermeneutik von 1999 nach den Angaben des Vorwortes als studentenfreundliches Studienbuch. Er positioniert und profiliert sich durch deutliche Abgrenzungen von den Strömungen, welche die theologischen Organisationen weitgehend prägen. Dies sind zum einen Richtungen, die er im Rationalismus 2 zusammenfasst, einer breiten Denkbewegung, die insgesamt in der Traditionslinie der Aufklärung steht und vornehmlich die akademisch-theologischen Einrichtungen bestimmt. Zum anderen ist es der Fundamentalismus, der hauptsächlich in evangelikal-freikirchlichen Strukturen anzutreffen ist. 3 K. Berger führt die Auseinandersetzung mit dem Rationalismus weit intensiver als mit dem Fundamentalismus. M.E. deutet dies darauf hin, dass er im engeren Sinn eine akademische Leserschaft im Blick hat, wo die Gefahr des Rationalismus nach K. Bergers Ansicht weitaus größer ist als die des Fundamentalismus. 4 Ferner distanziert er sich von konfessionellen Eng- 1 Ich subsumiere darunter zum einen Institutionen, die als (kontroverse) Dialogpartner im Blick sind und zum anderen Institutionen, die zur Autorisierung des jeweiligen Aussagenfonds rezipiert werden. 2 Dem Rationalismus rechnet K. Berger vor allem die totalisierenden Konzeptionen der Moderne zu, die sich in Schulbildungen und als Basiswissen im akademischen Kontext etabliert haben. Für den theologischen Bereich steht hier zuerst der Name Rudolf Bultmann, für den philosophischen Bereich der Name Hans-Georg Gadamer. 3 K. Berger identifiziert zwar nirgends direkt die evangelikale Position mit dem Fundamentalismus, allerdings legt dies seine strukturanaloge kritische Kommentierung der evangelikalen Position und des Fundamentalismus nahe, vgl. KBe 9f und 201f. 4 Vgl. hierzu folgende Formulierung K. Bergers: „Apologetisches Handeln dieser Art [der interessierten Progressiven] ist deshalb viel ‚gefährlicher‘, weil Progressivität sich mit dem Mantel der Vernunft zu umhüllen pflegt und weil exegetische Operationen (wie Erklärung als Zusatz oder als Glosse, letzteres ein besonders bei R. Bultmann beliebtes Verfahren) schon an sich viel vernünftiger und kritischer erscheinen als ein bloßes Hinnehmen des Textes“, KBe 111. <?page no="298"?> 298 13 Diskurskritische Einordnungen führungen, wie sie von kirchen-theologischen Gruppierungen gepflegt werden. Allerdings beschränkt sich K. Berger nicht auf eine innertheologische Auseinandersetzung. Vielmehr weitet er von hieraus seine Argumentationsführung auf den gesamtkirchlichen Bereich aus, indem er die Auferbauung der Gemeinde zum zweiten Leitkriterium seines hermeneutischen Ansatzes macht und sich selbst als Impulsgeber einer neuen, postmonastischen Spiritualitätsperspektive ausgibt. K. Berger positioniert sich weniger durch die Identifikation mit bestimmten Mikroinstitutionen innerhalb der beiden relevanten Makroinstitutionen Theologie und Kirche, sondern präsentiert sein hermeneutisches Angebot als alternatives, innovatives und singuläres Modell. E. Schüssler Fiorenza geht von der Grundannahme einer Interdependenz aller gesellschaftlichen Strukturen aus. Daher lässt sich das feministische Projekt nur als Gesamtreform aller Institutionen verwirklichen: Gesellschaftliche Zusammenschlüsse, wissenschaftliche Strukturen und kirchliche Leitbilder befinden sich somit insgesamt in ihrem Blickfeld und werden vom Standort der Frauen-Kirche, dem wissenschaftlichen Feminismus und der gesellschaftlichen Frauen-Emanzipationsbewegung analysiert. Innerkirchlich kritisiert sie vor allem die Institution der (röm.-katholischen) Amtskirche, welche in ihrem Machtbereich eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen verhindert. Im akademischen Kontext thematisiert sie vor allem die strukturgewordenen androzentrischen Ideologien und patriarchalen Herrschaftsmuster, die den herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb aller Disziplinen einschließlich der Theologie dominieren. Und auf der gesellschaftlichen bzw. zivilreligiösen Ebene benennt E. Schüssler Fiorenza exemplarisch die Moral-Majority-Bewegung und die Total-Woman-Bewegung, die in der U.S.-amerikanischen Gesellschaft als antifeministische Institutionen der Frauenemanzipation gegenüber stehen. Innerhalb der feministischen Bewegung, welcher sie idealtypisch die Institution der Frauen-Kirche vorbildet, positioniert sich E. Schüssler Fiorenza durch ihr Doppel-Bekenntnis zum kritisch-wissenschaftlichen wie auch zum kritisch-christlichen Feminismus. P. Stuhlmacher argumentiert vornehmlich im theologisch-akademischen Kontext und bezieht von hier aus Stellung zu Problemen der Gesamt-Kirche in ihren unterschiedlichen Organisationsformen. So lässt sich der gesamtkirchlich-relevante Streit um die Schriftauslegung nach P. Stuhlmacher durch sein akademisch orientiertes Modell schlichten, welches die wissenschaftlich verortete historisch-kritische Methode mit der kirchlichen Norm-Dogmatik versöhnt. Zum einen bemüht sich P. Stuhlmacher damit um eine Annäherung der heterogenen theologisch-wissenschaftlichen Institutionen untereinander, zum anderen soll diese Einigung gleichzeitig Grundlage für eine Aussöhnung zwischen der akademischen Universitätstheologie und der evangelikalen Theologie in ihren verschiedenen Organisationsformen sein. 5 Dabei 5 Die evangelikale Theologie wird in P. Stuhlmachers Ansatz vor allem durch „G. Maier und seine Freunde“ repräsentiert, PSt 32-35. Gerhard Maier, emeritierter württember- <?page no="299"?> 13.2 Macht 299 schließt er den Bereich der kirchendistanzierten Theologie 6 sowie kirchliche und theologische Bewegungen aus seinen Vermittlungsbemühungen aus, die aufgrund ihrer stark ausgeprägten Positionalität solch einer Synthesenfindung entgegen stehen 7 . Die Institution der röm.-katholischen Amtskirche hat P. Stuhlmacher zwar auch als ökumenischen Dialogpartner im Blick, vielmehr aber rezipiert er sie als Vorbild eines nun evangelisch zu verwirklichenden verbindlichen Einheitsmodells. H. Weder argumentiert als evangelischer Theologe innerhalb der akademischen Institutionen der Theologie. Besonders anschaulich wird dies in der Konstruktion seines ersten Dualismus, der prinzipiellen theologischen Gegenüberstellung von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis. Sein Ansatz sieht sich deshalb zuerst durch die Herleitung vom Neuen Testament konstituiert und versteht sich nicht als Optionsmodell verschiedener und miteinander konkurrierender Lösungswege, die bestimmten Institutionen zuzuordnen wären. Deutliche Institutionsbezüge sind daher nur aus den Soziolektbestimmungen und seiner Positionierung in den vertretenen Diskurssträngen ablesbar - dies sind insbesondere die Bultmannschule und die Bewegung der Dialektischen Theologie, die beide in der Makroinstitution der evangelischen Theologie angesiedelt sind und liberaltheologischen Bewegungen gegenüber stehen. 13.2 Macht Den Machtaspekt der neutestamentlichen Hermeneutikdebatte möchte ich von zwei unterschiedlichen Perspektiven aus beleuchten. Zum einen unter der Fragestellung der Machteinwirkung: Welche diskursiven Machtformationen bestimmen die hermeneutischen Entwürfe und prädisponieren somit gischer Landesbischof, promovierte bei Otto Michel, war 1980-1995 Rektor des evangelikalen Bengel-Hauses in Tübingen und gilt als hermeneutischer Vordenker einer evangelikalen Exegese, vgl. G. M AIER , Biblische Hermeneutik. P. Stuhlmacher differenziert zwischen G. Maier und seinen Freunden auf der einen Seite und fundamentalistischen Radikalpositionen auf der anderen Seite, wie er sie durch die U.S.-amerikanische Missouri-Synode oder nicht näher genannten theologischen Seminaren in Europa vertreten sieht. Für sein Vermittlungsprojekt bezieht er sich vorrangig auf G. Maier und dessen Freunde, weil sie im Unterschied zu Radikalpositionen das kirchliche und wissenschaftliche Gespräch nicht abbrechen. Allerdings muss er sich in der zweiten Auflage seiner Hermeneutik eingestehen, dass auch diese gemäßigte Form evangelikaler Theologie sein Vermittlungsangebot nicht annehmen wollte, PSt 238-240. 6 Hierzu zählt P. Stuhlmacher insbesondere liberal-theologische Strömungen, die sich seit der Aufklärungstheologie von der Kirche distanzieren, aber auch den Ansatz Bultmanns. 7 Hierzu zählen die Formen der christlich-feministischen Bewegung, welche E. Schüssler Fiorenzas Position teilen, sowie kontextualisierende Strömungen, wie z.B. befreiungstheologische Basisgruppen, die sich nicht dem kirchlichen Norm-Bekenntnis unterordnen. <?page no="300"?> 300 13 Diskurskritische Einordnungen deren Aussagenfonds? 8 Zum anderen unter der Fragestellung der Machtausübung: Wie wird Macht durch diese hermeneutischen Entwürfe in der diskursiven Praxis ausgeübt und zur Durchsetzung der jeweils eigenen Partikularinteressen eingesetzt? 9 13.2.1 Machteinwirkung K. Bergers hermeneutischer Ansatz wird in der Argumentationsführung deutlich durch das Paradigma der Postmoderne bestimmt, welches vor allem als postmoderne Kritik der Moderne agiert. Die postmoderne Kritik manifestiert sich dabei als optionale Überwindung der beiden Grundwirkungen, welche von der Aufklärung als Initialgeschehen der Moderne ausgehen - dies ist zum einen der aufklärungsfördernde Rationalismus und zum anderen der aufklärungskritische Fundamentalismus. 10 Die postmoderne Moderne-Kritik prädisponiert als diskursive Machtformation die wesentlichen Begründungsfiguren und Aussagenfelder K. Bergers Hermeneutik: Sie gibt die relevante Kriteriologie vor, nach welcher im ersten Hauptteil die angeführten hermeneutischen Positionen bewertet werden. 11 Sie bestimmt K. Bergers Wirklichkeits- und Wahrheitskonzeption. Sie bewirkt die theoretische Destruktion einer eurozentrischen Globalschau als Vorraussetzung einer Rezeption befreiungstheologischer Denkmuster und außereuropäischganzheitlicher Wirklichkeitsdimensionen, die in K. Bergers Kirchen-, Spiritualitäts- und Ethikreflexion eine zentrale Rolle spielen. Und die postmoderne Moderne-Kritik bestimmt K. Bergers Geschichtsverständnis, welches gegenüber vereinnahmenden Totalperspektiven die konkrete und singuläre geschichtliche Situation betont und zu K. Bergers hermeneutischer Zentralfigur der Trennung von Exegese und Applikation führt. E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik erhält ihre wesentlichen thematischen und positionierenden Vorgaben vom feministischen Paradigma als diskursiver Machtformation. Es bestimmt die Naturalismuskonstruktion als kategoriale 8 Dieser Aspekt lässt sich insbesondere anhand der Untersuchungsergebnisse zu den Dualismusbildungen, Naturalismuskonstruktionen und Soziolekten der Ideologiekritik sowie den Diskursfragmenten, Diskurssträngen und Bezügen zum Interdiskurs der Diskursanalyse darstellen. 9 Hierzu greife ich insbesondere auf die Untersuchungsergebnisse zu den Dualismusbildungen, den mythischen Aktanten, dem Identitätsdenken, dem Monolog, den Relevanzkriterien und den Soziolekten der Ideologiekritik sowie den Diskursfragmenten der Diskursanalyse zurück. 10 Der Fundamentalismus übernimmt den positivistischen Ansatz der Aufklärungsposition, wendet ihn allerdings im Kampf um die Wahrung vormoderner Inhalte gegen die Aufklärung. 11 Kritisiert werden dort die verschiedenen Positionen aufgrund rationalistischer Bezüge, die sich als homogene Systematisierungen dogmatischer und philosophischer Prägung auswirken. Kritisiert wird ebenso das Komplement des Rationalismus, der Fundamentalismus, da er eine - dem Rationalismus strukturanaloge - Totalität anstrebt. <?page no="301"?> 13.2 Macht 301 Einteilung in eine patriarchal-androzentrische und eine feministische Wirklichkeit. Ebenso reflektiert es die referentiellen Aspekte zu Herrschaft, Macht und Kampf, die sich aus dieser Wirklichkeitskonstruktion ergeben und auf das Spezialgebiet der Neutestamentlichen Hermeneutik hin orientiert werden. P. Stuhlmachers Entwurf ist aufgrund seines Synthese-orientierten Gesamtcharakters nicht von einer hauptsächlichen diskursiven Machtformation bestimmt. Vielmehr wirken auf diesen Ansatz eine Vielzahl disparater Machtkomplexe ein, die vereinfachend den drei Institutionen akademische Universitätstheologie, (Landes-)Kirchen und evangelikale Bewegung zuzuordnen sind (s.o.): Die akademische Universitätstheologie als diskursive Machtformation besetzt dabei das Leitkriterium Wissenschaftlichkeit und versucht dessen Geltungsbereich in P. Stuhlmachers Hermeneutik zu verankern. Ein weiterer Zweig der akademischen Universitätstheologie, der an dieser Stelle mit der Kirchentheologie der Landeskirchen als diskursiver Machtformation zusammenfällt, besetzt das Leitkriterium Kirchlichkeit und versucht dessen Geltungsanspruch zu verteidigen. Die evangelikale Bewegung schließlich besetzt vorwiegend das Leitkriterium Bibeltreue und versucht ebenfalls dessen hervorgehobene Stellung durchzusetzen. Der von P. Stuhlmachers Hermeneutik potentiell ausgehende Machtfaktor bleibt aufgrund dieser Disposition von der positiven Rezeption durch diese drei Machtblöcke abhängig. 12 H. Weders Position ist vor allem von der diskursiven Machtformation der Bultmannschen und Dialektischen Theologie bestimmt. Damit sind wesentliche Themen und Figuren seiner Argumentationsführung vorgegeben: So bereitet der dialektisch-theologische Einfluss durch die Klärung des Hermeneutikverständnisses die implizite Wort-Gottes-Hermeneutik H. Weders vor, und die Bultmannsche Wirklichkeitsauffassung konstituiert hierzu die Rahmenbedingung des Hermeneutikgeschehens. Darüber hinaus wirken diese theologischen Anschauungen auch wesentlich in die inhaltliche Konkretisierung H. Weders Entwurf ein. 13.2.2 Machtausübung Alle vier Texte sind ihrer Form nach persuasive Texte, die ihre Leserschaft zu überzeugen suchen. In der Überzeugung liegt auch schon die einzige Möglichkeit zur Machtausübung dieser wissenschaftlichen neutestamentlich- 12 P. Stuhlmacher blieb der wirkliche Durchbruch seines hermeneutischen Ansatzes als Überwindung des Streits um die Schriftauslegung verwehrt. G. Maier legte 1988 mit seiner Biblischen Hermeneutik einen profilierten Ansatz vor, der P. Stuhlmachers Einigungsmodell letztlich ablehnt, um so breiter jedoch in der evangelikalen Bewegung als identitätsstabilisierendes Instrumentarium einer bibeltreuen Schriftauslegung rezipiert wird. Die Reaktionen im (volks-)kirchlichen und wissenschaftlichen Bereich auf P. Stuhlmachers Hermeneutik fielen - wie dies in heterogenen Institutionen selbstverständlich ist - viel zu disparat aus, als dass die breite Rezeption P. Stuhlmachers Syntheseversuch wirklich eine Chance gehabt hätte. <?page no="302"?> 302 13 Diskurskritische Einordnungen hermeneutischen Texte. Denn sie können sich nicht auf weitere Formen der Autorisierung als auf die argumentative Überzeugung stützen. Von erheblicher Relevanz für die Machtausübung der vier Hermeneutiken ist allerdings deren spezifische Textreferenz: Denn als neutestamentliche Hermeneutiken verstehen sie sich als Leseschlüssel zur Bibel, welche aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Wirkung einen geschichtlich gefestigten und weithin bedeutsamen Machtfaktor im kirchlichen und (abgestuft) im gesellschaftlichen Diskursfeld darstellt. Als rivalisierende Positionierungen erfahren sich die vier Entwürfe als Konkurrenten im Kampf um diese Deutungsmacht. Dies erklärt die deutlichen gegenseitigen Negativabgrenzungen (s.o.). Die Überzeugungsleistung als Aufweis der Evidenz der jeweils eigenen Positionierung geschieht in den vier hermeneutischen Entwürfen mittels diskursiver Strategien. Sie formulieren die partikulare Positionalität der jeweils eigenen Perspektive und deren Interessenlage als eine notwendig generelle Anschauung. Diese Formationen generieren wesenhaft die Textstruktur, prägen die Wertung vernetzter Diskursfragmente und ordnen die Positionierung in den weiteren vertretenen Diskurssträngen. Ich akzentuiere hier nur die markantesten diskursiven Strategien zur Machtausübung der vier hermeneutischen Ansätze und verweise auf die ausführliche Darstellung in den ideologiekritischen und diskursanalytischen Einzeluntersuchungen: Sämtliche Dualismen K. Bergers gehören dem ersten Dualismustyp an und vermitteln damit die Überlegenheit der eigenen Positionierung gegenüber anderen Dispositionen. Mythische Aktanten stützen insbesondere die Konzeption seiner Hermeneutik der Fremdheit, die Trennung von Exegese und Applikation sowie die insgesamt handlungsorientierte Ausrichtung seines Ansatzes. Das zweite Relevanzkriterium, die Auferbauung der Gemeinde, spricht die sich als gläubig verstehende Leserschaft an und K. Bergers differenzierte Partizipation an Soziolekten verschiedener Herkunft unterstützt weiterhin die Integration einer breiten heterogenen Leserschaft. Die Rezeption von Bibelstellen qualifiziert seinen Ansatz als bibelgemäß. Die weitgehend negative Kritik konkurrierender hermeneutischer Entwürfe profiliert die eigene Position und die intensive Selbstzitation weist K. Berger schließlich als vielseitigen theologischen Experten aus. Insgesamt wird somit K. Bergers Machtanspruch auf die Schriftauslegung formiert. Die Mehrzahl der ermittelten Dualismen E. Schüssler Fiorenzas gehört ebenfalls dem ersten Dualismustyp an. E. Schüssler Fiorenza konstituiert dadurch die feministische Perspektive als eindeutige Alternative zur patriarchalen Ausbeutung. Deshalb fallen hier die Machteinwirkung als Bestimmung ihres Ansatzes und die Machtausübung als deren pragmatische Intention zusammen. Zugleich postuliert der fünfte Dualismus E. Schüssler Fiorenzas Gestaltungsanspruch in Blick auf den Feminismus als kritisch-christlichen Feminismus. Dieser innerfeministische Anspruch wird ebenso durch mythische Aktanten formuliert. Mythische Aktanten dienen darüber hinaus <?page no="303"?> 13.2 Macht 303 der Etablierung der feministischen Position im theologischen Wissenschaftsbetrieb. Die differenzierte Soziolektkombination, die unterschiedliche Gesellschaftsbereiche abdeckt, hebt ihre gesamtgesellschaftlichen Reflexionen hervor, die sowohl wissenschaftstheoretisch als auch innertheologisch und binnenkirchlich spezifiziert werden. Die negative Abgrenzung von Diskursfragmenten des dogmatischen und historischen Paradigmas profiliert ihren eigenen Ansatz, dessen praxisrelevanten Charakter sie zugleich durch ihre Selbstzuordnung zum pastoraltheologischen Paradigma unterstreicht. Die intensive Zitation eigener Publikationen aus dem spezifisch neutestamentlich-exegetischen und übergreifend wissenschaftlich-feministischen Kontext weist E. Schüssler Fiorenzas überzeugungsmächtige Kompetenz auf diesem Gebiet aus. Insgesamt wird somit E. Schüssler Fiorenzas Machtanspruch auf die Schriftauslegung formiert. Die Machtausübung P. Stuhlmachers Hermeneutik bleibt deutlich von den oben genannten Machtblöcken abhängig, welche auf seinen Ansatz einwirken. Dem entspricht es, dass die diesbezüglichen Dualismusbildungen 13 dem zweiten Dualismustyp angehören, der auf die synthetische Vernetzung oppositioneller Größen ausgerichtet ist. Andererseits ist P. Stuhlmachers Hermeneutik ebenso darauf angelegt, Macht auszuüben, indem der Syntheseversuch nicht nur verschiedene Positionen zusammenführen soll, sondern zugleich als profiliertes Programm zur Schriftauslegung gelten will. Dazu bedient er sich insbesondere folgender diskursiver Strategien: Der siebte Dualismus teilt die Schriftauslegung in die Kategorien sachgemäß und unsachgemäß ein und weist somit P. Stuhlmachers Position als normierende Instanz aus, welche die Kompetenz besitzt, solche Einteilungen vorzunehmen. Mythische Aktanten unterstützen insbesondere seine Darstellung der Hermeneutikgeschichte, die aufgrund P. Stuhlmachers Hervorhebung des Traditionsaspektes insgesamt von zentraler Bedeutung für seine Argumentationsführung ist. Denn die Wertungen in P. Stuhlmachers Hermeneutikgeschichte erhalten ihre Kriteriologie von P. Stuhlmachers eigenem Ansatz, der seine Kriterienfindung wiederum durch die Schrift und das evangelische Bekenntnis autorisiert sieht. - Zugleich bildet P. Stuhlmachers eigener programmatischer Ansatz den Zielpunkt der geschichtlichen Darstellung der Hermeneutik. Besonders intensiv zitiert P. Stuhlmacher die Bibel (auch das Alte Testament) und legitimiert seine Argumentation dadurch als schriftgemäß. Den wissenschaftlichen Charakter seines Ansatzes sieht er vor allem in seiner Gadamerrezeption begründet und die kirchliche Orientierung durch die Bekenntnisnormierung gewährleistet. Insgesamt wird somit P. Stuhlmachers Machtanspruch auf die Schriftauslegung formiert. 13 Dies sind die drei Dualismen Wissenschaft versus Kirchlichkeit, Wissenschaftlichkeit als historische Kritik versus dogmatische Orientierung sowie Wissenschaftliche Schriftauslegung versus evangelikale Schriftauslegung. <?page no="304"?> 304 13 Diskurskritische Einordnungen Die Machtausübung H. Weders Hermeneutik wird konzeptionell vor allem theologisch vorbereitet: Dies geschieht erstens durch die theologische Figur der Inkommensurabilität von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis, wie es der erste Dualismus formuliert und das Identitätsdenken bestätigt. Dadurch wird der menschlichen Gegenrede als Reaktion auf H. Weders Entwurf theologisch-erkenntnistheoretisch der Boden entzogen. Zweitens geschieht die Machtausübung in H. Weders Hermeneutik aufgrund der göttlichen Autorisierung seines Hermeneutikkonzeptes: Denn er versteht die neutestamentliche Hermeneutik vor allem als Hermeneutik Gottes, wie sie als Gnadengabe durch die neutestamentlichen Texte hindurch am neuzeitlichen Menschen wirkt und in H. Weders Darstellung nachgezeichnet wird. 14 In Folge dessen werden auch seine vereinzelten gesellschaftsbezogenen Kommentierungen als Aufdeckung pervertierter Entwicklungen von der Perspektive des Wortes Gottes her autorisiert. H. Weder stützt dieses Hermeneutikverständnis vor allem durch mythische Aktanten. Die intensive Zitation biblischer Belege soll H. Weders Programm als dezidiert neutestamentliche Hermeneutik ausweisen. Insgesamt wird somit H. Weders Machtanspruch auf die Schriftauslegung formiert. Die intendierte Machtausübung spezifisch hermeneutischer Texte lässt sich weiterhin anhand der Kategorie des Vorverständnisses beschreiben. Das Vorverständnis formuliert die textpragmatisch gewünschte Disposition, welche die Rezipienten als grundsätzliche Lesehaltung gegenüber dem jeweiligen Lektüreobjekt einnehmen sollen. Somit greift das Vorverständnis besonders deutlich in den Interpretationsvorgang ein, indem es im voraus vorschreibend kanalisiert, wie sich die Rezipienten als AuslegerInnen und LeserInnen zu dem biblischen Textmaterial zu verhalten haben. K. Berger thematisiert den Begriff des Vorverständnisses explizit nur sehr knapp und unscharf innerhalb seiner Darstellung des Zirkels des Verstehens. Der Grundgedanke seines Vorverständnisses durchzieht allerdings den gesamten Ansatz: Er bestimmt das Vorverständnis als Lebensverhältnis, „das zu sehen, was jeweils längst geschehen müsste, um not-wendige Wahrheiten. Es geht darum, Schwierigkeiten nicht totzuschweigen, Leiden nicht zu übersehen, das sich aufstaut“. 15 Somit gibt K. Bergers Vorverständnis eine stark handlungsorientierte Akzentuierung vor, welche sich primär 14 Dieses Hermeneutikverständnis stützt sich insbesondere auf H. Weders Entfaltung des neutestamentlichen Hermeneutikbegriffs in der ausführlichen Vorrede. Allerdings geben eine Formulierung zu Beginn und eine Aussage ganz am Ende von H. Weders Entwurf Hinweise darauf, dass Hermeneutik nicht nur göttliche Gnadengabe, sondern darüber hinaus auch menschliche Tätigkeit ist: „Eine neutestamentliche Hermeneutik zu entwerfen, ist eine gewagte Sache. Deshalb bin ich angewiesen auf die Geduld und das Wohlwollen der Leser“, HWe 6. - „Die neutestamentliche Hermeneutik hat die Aufgabe, die menschliche Aufnahmefähigkeit angesichts dieser fremden Gäste zu entdecken“, HWe 435. 15 KBe 84. <?page no="305"?> 13.2 Macht 305 auf die Applikation richtet, aber ebenfalls die Exegese mit einbindet, da K. Berger auch ihr ethische Dimensionen zuschreibt. Machtausübung konkretisiert sich in diesem Vorverständnis als ethischer Appell, der zu einem Umgang mit den biblischen Texten aufruft, welcher Not wendet. E. Schüssler Fiorenza schickt ihrer Konzeptionierung des Vorverständnisses voraus, dass es eine objektive Haltung in Bezug auf die biblischen Texte nicht geben kann. 16 Damit bindet sie den Begriff des Vorverständnisses an das grundsätzliche Phänomen der Positionalität. Diese Argumentationsfigur hat sie mit der allgemeinen Theologie der Befreiung gemeinsam. 17 In ihrem Entwurf konkretisiert E. Schüssler Fiorenza das Vorverständnis nun aber nicht als allgemeine Option für die Marginalisierten, sondern spezifiziert es als Engagement für den feministischen Befreiungskampf. Machtausübung konkretisiert sich in diesem Vorverständnis - ebenfalls wie bei K. Berger - als ethischer Appell. Dieser ruft nun konkret dazu auf, sich dem feministischen Projekt anzuschließen, wie es E. Schüssler Fiorenza argumentativ als kritisch-christlichen und kritisch-wissenschaftlichen Ansatz beschrieben hat. P. Stuhlmacher führt innerhalb seines historischen Abrisses zu Bultmann in den Begriff des Vorverständnisses ein. Verstehen ist demnach nur möglich, wenn ein Verständnis von der Sache eines Textes gegeben ist. „Das ‚Vorverständnis‘ muß angesichts biblischer Texte so geartet sein, daß der Interpret ein gewisses Verständnis dessen mitbringt, was überhaupt Handeln Gottes […] heißen kann“. 18 Daraus konstituiert sich P. Stuhlmachers Programm des Einverständnisses als angemessenes Lebensverhältnis zu der Sache des Evangeliums. 19 Machtausübung konkretisiert sich in P. Stuhlmachers Vorverständnis als Forderung an die Rezipienten, sich den biblischen Texten und deren Wirkungsgeschichte, wie sie das Bekenntnis normiert, unterzuordnen. H. Weder knüpft wie P. Stuhlmacher an Bultmanns Reflexionen zum Vorverständnis an. Allerdings kann das Lebensverhältnis zur Sache des Evangeliums nach H. Weder nicht etwas sein, das der Mensch als Vorleistung zum Verstehen erbringen können müsste, denn der „Gottesbezug wird durch Gott selbst allererst hergestellt, und zwar im Akt der Offenbarung“. 20 Deshalb konzipiert er das Vorverständnis als Hören, weil nur der rezeptionsorientierte Hörvorgang nach H. Weder als angemessenes menschliches Lebensverhältnis zur handelnden Wirksamkeit Gottes in seinem Wort verstanden werden kann. 21 Machtausübung konkretisiert sich in H. Weders Vorverständnis als theologisch formierte Zurücknahme menschlicher Mitwirkung am neutestamentlichen Verstehensvorgang. 16 ESF 77. 17 ESF 85. 18 PSt 196. 19 PSt 240-243. 20 HWe 140. 21 HWe 145. <?page no="306"?> 306 13 Diskurskritische Einordnungen 13.3 Selbstanspruch Alle vier hermeneutischen Ansätze treten mit dem Anspruch auf, den adäquaten Verstehens- 22 bzw. Lektüreschlüssel 23 zum Neuen Testament und der Bibel insgesamt vorzulegen. Alle formulieren exklusiv ihren Machtanspruch auf die Schriftauslegung, wie insbesondere die Darstellung zur jeweiligen Machtausübung gezeigt hat. Die ideologiekritischen und ferner die diskursanalytischen Untersuchungen machten deutlich, dass dieser Selbstanspruch durch eine Reihe diskursiver Verfahren gestützt wird, welche die eigene Positionalität in eine normative Generalität überführen sollen. Ich formuliere nun auf diesem Hintergrund den speziellen Selbstanspruch der vier Ansätze, wie er sich als entwickelter Lösungsweg zur Überwindung der Probleme innerhalb der jeweils eigenen Wirklichkeitskonstruktion ausgibt: K. Bergers Ansatz hat den Selbstanspruch, die gegenwärtige Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, welche sich in der Krise der Schriftauslegung verdichtet, durch seine hermeneutische Methodik zu überwinden: Die Glaubwürdigkeit kann nach K. Berger nur dann zurückgewonnen werden, wenn eine überzeugende Verbindung zwischen dem biblischen Wahrheitsverständnis und der heutigen Wirklichkeitsauffassung hergestellt werden kann. Dies gelingt nach K. Berger durch seine postmoderne Erweiterung des modernen Wirklichkeitsverständnisses, wodurch die rationalistischen und fundamentalistischen Aporien ihre Wirkmächtigkeit verlieren. Weiterhin hängt die Glaubwürdigkeit an der wissenschaftlichen Orientierung der Textauslegung. Deshalb ist es unabdingbar, die Applikation strikt von der Exegese zu scheiden, um eine Instrumentalisierung der neutestamentlichen Texte zu verhindern. Schließlich hängt die Glaubwürdigkeit vor allem am Nutzen der Schrift, den K. Berger durch die ethische Dimension seiner befreiungstheologischen Ausrichtung plausibel zu machen sucht und ferner, indem er den spirituellen Reichtum der biblischen Texte hervorhebt. E. Schüssler Fiorenzas Ansatz sieht sich aufgrund seines Lektüreschlüssels zur Bibel innerfeministisch als die effektive Strategie zur Rückgewinnung des Frauenerbes der christlichen Anfänge, zur Überwindung des Patriarchalismus/ Androzentrismus innerhalb der biblischen Religion des Christentums und schließlich zur (Wieder-)Erlangung der Frauen-Teilhabe an der Macht in Kirche und Gesellschaft. Darüber hinaus erhebt ihre Argumentationsführung den Anspruch, die Bibelwissenschaft mit Hilfe der feministischen Wissenschaftskritik für den Übertritt zum feministischen Paradigma zu gewinnen und insgesamt den gesellschaftlichen Umbau voranzutreiben, 22 Als Verstehensschlüssel im engeren Sinn bezeichne ich die Ansätze von P. Stuhlmacher und H. Weder. 23 Als Lektüreschlüssel im engeren Sinn fasse ich zuerst den Ansatz von E. Schüssler Fiorenza auf. Ich subsumiere darunter jedoch auch den Ansatz K. Bergers, der aufgrund seiner handlungsorientierten Option den Fokus über das primäre Textverstehen hinaus deutlich auf eine gemeinderelevante Nutzanwendung lenkt. <?page no="307"?> 13.3 Selbstanspruch 307 der die Überwindung des Patriarchalismus durch den Feminismus zum Ziel hat. Die feministische Perspektive hat dabei den generellen Anspruch, nicht nur eine neue zusätzliche partikulare Sicht in die Kirchen-, Wissenschafts- und Gesellschaftsdebatten einzuspeisen, sondern sie sieht sich als umfassende Erkenntnisperspektive, welche die einseitigen (Schein-)Wirklichkeiten des Androzentrismus aufzudecken vermag, um zu einer ganzheitlichen Gesamtschau der Wirklichkeit zu gelangen. P. Stuhlmachers Ansatz hat den Anspruch, schriftgemäß und sachgemäß sowie kirchlich und wissenschaftlich verantwortbar den Lösungsansatz zur Überwindung des Streits um die Schriftauslegung zu formulieren. Diesen Anspruch sieht er durch folgende Aspekte eingelöst: Der Grundsatz des Einverständnisses mit den biblischen Texten stützt die schriftgemäße Auslegung, die sachgemäße Auslegung wiederum wird durch die gefundene Synthese aus Wissenschaft und Kirchlichkeit gewahrt. Sein Ansatz sieht die Breite der Auslegungstradition berücksichtigt, indem er die berechtigten Intentionen der unterschiedlichen Positionen zur Hermeneutik ernst nimmt und integriert. Ebenso sieht er sich dem ökumenischen Dialog verpflichtet, zugleich stärkt er das evangelische Profil. Schließlich versteht sich sein Hermeneutikmodell insgesamt als versöhnend, sowohl innerkirchlich, indem es die verschiedenen Lager zusammenzuführen vermag, als auch darüber hinaus, indem es zu einem Leben aus und für die weltweite Versöhnung aufruft. H. Weders Ansatz hat aufgrund seines speziellen Hermeneutikverständnisses den Anspruch, das hermeneutische Wirken Gottes getreu nachzuzeichnen. Deshalb versteht sich dieser Entwurf nicht primär als eine biografischdeterminierte neutestamentliche Hermeneutik H. Weders, sondern als die Darlegung der beziehungsstiftenden Funktion der neutestamentlichen Rede. Damit sichert sich sein Ansatz eine theologische Monopolstellung. Denn die differierenden Hermeneutikkonzeptionen K. Bergers, E. Schüssler Fiorenzas und P. Stuhlmachers, die Hermeneutik primär als menschliche Methodenlehre auffassen, können dadurch konsequent als Abweichung von der eigentlichen Hermeneutik Gottes beschrieben werden. <?page no="309"?> 14 Das spezielle Profil der vier hermeneutischen Ansätze Der synoptische Vergleich zeigte zum einen eine Reihe von thematischen und argumentativen Gemeinsamkeiten der vier Entwürfe auf, um so mehr verdeutlichte er jedoch die Differenzen und Leerstellen, die sich aus den unterschiedlichen Gesamtkonzeptionen und deren speziellen Zielsetzungen ergeben. Im Anschluss daran charakterisiere ich nun die vier Entwürfe, indem ich das jeweilige Proprium als spezielles Profil in seinem Verhältnis zum neutestamentlichen Bezugstext kritisch zu beschreiben versuche. Die einzelnen Proprien definiere ich als ethisch, feministisch, kirchlich-dogmatisch und kerygmatisch. Das Verhältnis zum neutestamentlichen Bezugstext umschreibe ich mit den Begriffen vermittelnd, autonom, orientiert und selbstreferentiell. 14.1 Die ethisch vermittelnde Hermeneutik - Klaus Berger K. Bergers hermeneutische Konzeption vermittelt zwischen den Rechten des neutestamentlichen Textes und den Bedürfnissen heutiger Rezipienten. Die Ethik als handlungsreflektierende und handlungsnormierende Dimension bestimmt dabei weitgehend alle Bereiche seines Entwurfs. Den herausgehobenen Stellenwert der Ethik verdeutlicht zuerst der Blick auf die Applikation: Denn K. Berger versteht seinen Ansatz selbst als befreiungstheologische Variante. Deshalb betont er den konkreten Situationsbezug und die Frage nach der geeigneten Handlungsperspektive in einer bestimmten Situation. Sein Vorverständnis ist folglich darauf ausgerichtet, konkrete Not zu wenden - Not primär verstanden als Not der Marginalisierten und Schwachen. Darüber hinaus weist auch K. Bergers Leitkriterium der Applikation, die Auferbauung der Gemeinde, deutliche Bezüge zur Ethik auf. Denn ausführlich thematisiert er hier sozialethische Fragestellungen, wie beispielsweise den Prozess der gemeinschaftlichen Einigung in Kirche und Gesellschaft. Die Ethik spielt aber nicht nur eine zentrale Rolle bei der Applikation, sondern auch bei der Exegese: Denn K. Berger betrachtet historische Texte vorrangig als Zeugnisse vergangener Menschen. Dies erfordert einen ethisch verantwortbaren Umgang mit den biblischen Texten bei der Übersetzung und Auslegung. K. Berger lehnt daher ein ahistorisches Textverständnis ab, welches Texte überzeitlich-strukturell auslegt und ihren Autoren entzieht. Insbesondere die Kategorie der Fremdheit soll die Rechte der Autoren an ihren Texten schützen. Aus dieser doppelten ethischen Orientierung folgt K. Bergers hermeneutischer Grundansatz einer Vermittlung zwischen den <?page no="310"?> 310 14 Das spezielle Profil der vier hermeneutischen Ansätze Textrezipienten als Personen der Applikation und den Autoren der biblischen Texte als Personen der Textproduktion. Diesem Vermittlungsgedanken ist als zentrale hermeneutische Operation die Trennung von Exegese und Applikation zugeordnet. Diese Vermittlungsarbeit wird von einem ständigen und unumgänglichen Loyalitätskonflikt begleitet, der in der Spannung von Loyalität und Freiheit zu und gegenüber den beiden Vermittlungsgrößen die hermeneutische Grunddynamik beschreibt. Kritik: Trotz der programmatischen Forderung einer Trennung von Exegese und Applikation handelt es sich bei K. Bergers Entwurf nicht um eine reine Korrelationshermeneutik, in welcher die kategorial getrennten Bereiche Exegese als Verstehensprozess und Applikation als Nutzungsvorgang mechanisch aufeinander bezogen werden könnten. K. Berger selbst reflektiert die Unüberwindbarkeit des hermeneutischen Zirkels, an die auch sein eigener Ansatz gebunden bleibt. 1 Dies stellt allerdings die praktische Durchführbarkeit einer Trennung von Exegese und Applikation grundsätzlich in Frage: Denn die biblischen Texte liefern in K. Bergers Argumentationsgang wesentliche normierende Kriterien für die Applikation und relativieren somit die programmatisch geforderte Trennung von Exegese und Applikation. Ebenso begründet K. Berger sein subjektorientiertes Wahrheitsverständnis biblisch bzw. rückbezieht das postmoderne Wirklichkeitsempfinden auf die biblischen, insbesondere die mythischen Texte. Mir scheint hier eine viel engere Verflechtung von Exegese und Applikation vorzuliegen, als es nach K. Bergers eigenem Modell sein soll. Darüber hinaus bleibt die normierende Funktion der referentiellen biblischen Aussagen in K. Bergers Argumentationsführung jeweils von dessen eigener (nichtthematisierter! ) Selektionstätigkeit sowie der Interpretation bestimmter Referenzstellen abhängig. Aus diesem Grund kann die Trennung von Exegese und Applikation bestenfalls idealtypisch als Gesinnungshaltung verstanden werden. Sie stößt bereits bei K. Berger selbst innerhalb der Entfaltung seines eigenen Ansatzes und erst recht in der konkreten Durchführung auf erhebliche methodische Schwierigkeiten. 14.2 Die feministisch autonome Hermeneutik - Elisabeth Schüssler Fiorenza Innerhalb der heterogenen Vielfalt feministischer Ansätze 2 ist für E. Schüssler Fiorenzas Entwurf die Methodik einer kritisch-bewertenden Analyse charakteristisch. Sie ersetzt die normierende Funktion der Schrift bzw. die 1 Allerdings thematisiert K. Berger verschiedene Möglichkeiten, wodurch der hermeneutische Zirkel abbzw. durchbrochen werden kann, KBe 84f . 2 E. Schüssler Fiorenza grenzt sich selbst von apologetischen und postchristlichen Ansätzen ab, welche die Bibel einseitig frauenfreundlich bzw. einseitig frauenfeindlich interpretieren, siehe 7.2.1 Dualismen, Fünfter Dualismus. <?page no="311"?> 14.2 Die feministisch autonome Hermeneutik 311 Deduktion interner Kriterien aus der Schrift dezidiert durch das externe Kriterium, inwieweit ein biblischer Text zum Befreiungskampf der Frauen beiträgt oder ihn behindert. Ich charakterisiere deshalb den Entwurf E. Schüssler Fiorenzas in seinem Verhältnis zur Bibel als autonome Hermeneutik, die sich methodisch nicht primär vom biblischen Bezugstext, sondern von den emanzipatorischen Zielsetzungen der Frauenbewegung bestimmen lässt. E. Schüssler Fiorenzas Ansatz basiert auf vier methodischen Schritten: Die Hermeneutik des Verdachts befragt die biblischen Texte sowie deren Wirkungsgeschichte nach patriarchalen Herrschaftsmustern. Die Hermeneutik des Erinnerns basiert auf einer konstruktionistischen Geschichtstheorie und reintegriert die Frauen in die Geschichte. Die Hermeneutik der Verkündigung benennt Texte für die Gottesdienstfeiern, welche im Befreiungskampf der Frauen eine tröstende und stärkende Funktion haben. Und die Hermeneutik der kreativen Aktualisierung schafft neue Möglichkeiten der Inszenierung für die liturgische Praxis der Frauen-Kirche. Die Hermeneutik des Verdachts und die Hermeneutik des Erinnerns sind vorwiegend analysierend und rekonstruierend orientiert, während die Hermeneutik der Verkündigung selektierend und die Hermeneutik der kreativen Aktualisierung produzierend ausgerichtet ist. Damit spiegelt E. Schüssler Fiorenzas methodischer Viererschritt die Theorie-Praxis-Vernetzung als Kennzeichen politischer Hermeneutiken wider, denn wissenschaftliche Reflexion und praktische Umgestaltung werden hier als Einheit gesehen. E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutikverständnis beschränkt sich schließlich nicht auf die Klassifikation von Texten anhand des feministischen Paradigmas sowie deren Rezeption für den Befreiungskampf der Frauen. Vielmehr dehnt sie den Hermeneutikbegriff als zentrale Funktion der Bibelwissenschaft auf alle gesellschaftlichen Prozesse aus, indem sie die Hermeneutik als ideologiekritische Aufgabe zur umfassenden Kulturkritik erhebt. Kritik: M.E. muss gefragt werden, ob die Hermeneutik des Erinnerns nicht die Hermeneutik des Verdachts desavouiert. Denn die Hermeneutik des Erinnerns schreibt aufgrund einer konstruktionistischen Geschichtstheorie Frauen per Imagination in die Geschichte ein, während die Hermeneutik des Verdachts historisch-kritisch die urchristlichen Verhältnisse aufzudecken versucht. Die vier hermeneutischen Schritte sind miteinander vernetzt, da sie durch das gemeinsame Vorverständnis orientiert werden. Historischkritisches Forschen wird somit in die externe Kriteriologie E. Schüssler Fiorenzas eingebunden und setzt sich selbst dem Verdacht aus, aufgrund des Vorverständnisses mit Forschungsergebnissen instrumentell verfahren zu müssen. Damit verliert jedoch die Hermeneutik des Verdachts ihre wissenschaftliche Anschlussfähigkeit. Weiterhin lässt sich fragen, ob eine dezidiert externe Kriteriologie noch Raum für das hermeneutische Potential der Texte lässt oder ob ein kritisch-innovativer Dialog zwischen Text und Rezipienten bereits verhindert ist, wenn ein Text als befreiungshinderlich etikettiert ist. <?page no="312"?> 312 14 Das spezielle Profil der vier hermeneutischen Ansätze 14.3 Die kirchlich-dogmatisch orientierte Hermeneutik - Peter Stuhlmacher P. Stuhlmachers Entwurf orientiert die Schriftauslegung durch die kirchlichnormierte Dogmatik. Der Schlüsselbegriff des Einverständnisses umklammert hierbei sowohl die als kanonisch klassifizierten Schriften als auch die im kirchlichen Bekenntnis zusammengefasste Tradition: P. Stuhlmacher fordert als Lesehaltung ein Einverständnis mit den biblischen Texten, die er als konkrete Einzeltexte der kanonischen Textsammlung aus Altem und Neuem Testament interpretiert. Einverständnis mit den biblischen Texten setzt demnach immer schon eine kanonische Schriftauslegung voraus. Die hermeneutischen Kategorien des Vernehmens und des Treueverhältnisses bilden dabei zentrale Verstehensschlüssel. Zum anderen fordert P. Stuhlmacher auch ein Einverständnis mit der Wirkungsgeschichte der biblischen Texte. Dadurch kommt der Tradition als normierendem Faktor neben der Bibel eine wichtige hermeneutische Bedeutung zu. Den allgemeinen Traditionsbegriff grenzt P. Stuhlmacher dabei ein, indem er ihn als kirchliche Tradition spezifiziert und als evangelisches Bekenntnis konkretisiert. P. Stuhlmacher formiert seinen Ansatz weiterhin als konfessionell-evangelische Hermeneutik. Kritik: P. Stuhlmacher repetiert die altprotestantische Formel des Bekenntnisses als norma normata, führt jedoch keine konkreten Kriterien an, wie im Konflikt zwischen Schrift und Bekenntnis abzuwägen sei. Er verweist lediglich auf die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik und Ethik. Diese theologischen Disziplinen sollen nach P. Stuhlmacher gemeinsam dem Ziel einer einheitlichen und einheitsstiftenden kirchlichen Schriftauslegung dienen, welche vergangene Spaltungen überwindet, zukünftige Konflikte in der Kirche verhindert und insgesamt zur Versöhnung in der Kirche und darüber hinaus beiträgt. Die Heterogenität innerhalb der theologischen Disziplinen selbst wird dabei nicht beachtet und dadurch die theologische Forschung entweder überfordert oder bevormundet. Daneben vernachlässigt P. Stuhlmachers harmonisierendes Versöhnungsmodell den produktiven Wert des Dissenses. Ebenfalls erscheint es m.E. als zu einseitig, das Lösungspotential aktueller und zukünftiger Probleme vorrangig in der Vergangenheit zu sehen, deutlicher: in einer Vergangenheit, die sich gegen andere vergangene Geschehnisse hat durchsetzen können. P. Stuhlmacher untersucht die Gründe hierfür nicht, wodurch sein Ansatz zu einer kritiklosen und autoritären Übernahme der klassisch gewordenen Kanon- und Bekenntnistraditionen neigt. Paradigmatische Neuansätze hingegen werden methodisch weitgehend ausgeschlossen und somit das texthermeneutische Potential in Blick auf innovative Veränderungen übergangen. <?page no="313"?> 14.4 Die kerygmatisch selbstreferentielle Hermeneutik 313 14.4 Die kerygmatisch selbstreferentielle Hermeneutik - Hans Weder H. Weders Entwurf lässt sich insbesondere anhand dessen Hermeneutikverständnisses charakterisieren: Im Gegensatz zu den übrigen drei untersuchten Ansätzen versteht er die Hermeneutik nicht primär als anthropologische Methodenlehre, sondern als Wirkgeschehen Gottes in seinem Wort. Deshalb hat die neutestamentliche Hermeneutik direkt Anteil an der Verkündigung Gottes, sie ist kerygmatische Hermeneutik in Bezug auf die Angesprochenen, indem sie die christologische Bewegung von Gott zum Menschen kommuniziert und sie ist selbstreferentiell in Bezug auf das Neue Testament, indem sie sich als Darstellung der Hermeneutik, wie sie das Neue Testament betreibt, versteht. Das Verkündigungsgeschehen der neutestamentlichen Hermeneutik formiert H. Weder vor allem als dialektischen Prozess: Er betont die qualitative Distanz zwischen neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis und hebt die Inkommensurabilität zwischen Gott und Mensch hervor, um diese Verhältnislosigkeit daraufhin aufzulösen, dass Gott selbst durch sein Wort Verhältnisse zwischen Text und Mensch, Gott und Mensch und Mensch und Mensch schafft. Diese theologische Diastasenbildung hat zum Ziel, die menschliche Mitwirkung im Verstehensprozess auszuschließen und die menschliche Verstehensdisposition vorrangig als rezeptiv darzustellen, denn der Mensch versteht, indem er sich als von Gott Verstandener versteht. H. Weder konstruiert also das hermeneutische Geschehen von der Rechtfertigungslehre aus, indem es nicht Aufgabe des Menschen ist, sich produktiv in diesen Verstehensprozess einzubringen, sondern sich auf das Hören und Vernehmen der Texte zu beschränken. Erst im Status des Verstehens tritt das Bewahren der fremden Andersartigkeit des Wortes Gottes als menschliche Aufgabe hinzu. H. Weders Entwurf weist sich somit als eine dezidiert theologische Texthermeneutik aus, die ausführlich literaturtheoretische und sprachphilosophische Modelle rezipiert. Kritik: H. Weder reflektiert nirgends die polymorphe Struktur der biblischen Aussagenwelt und stellt sich nicht der Frage, ob eine explizit neutestamentliche Hermeneutik überhaupt möglich ist bzw. auch völlig anders konzipiert werden kann. Manche der biblischen Bezüge wirken willkürlich und einige der biblischen Interpretationen erscheinen konstruiert. 3 H. Weder immunisiert sich gegen Kritik, indem sein Ansatz nicht zur Disposition gestellt werden kann. Denn es handelt sich hierbei nicht um ein menschliches Verstehensmodell, sondern um die getreue Wiedergabe des hermeneutischen Potentials des Neuen Testaments. Die autoritäre Struktur wird weiterhin durch H. Weders anthropologische Konzeption gestützt. Denn der Mensch wird in H. Weders Ansatz vor allem als passiv-hörendes Referenz- 3 Vgl. 9.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen. <?page no="314"?> 314 14 Das spezielle Profil der vier hermeneutischen Ansätze subjekt gezeichnet, nicht jedoch als mündiges und selbständig argumentierendes Wesen. Erst durch das Hören auf Gottes Wort konstituiert sich die menschliche Persönlichkeit. Durch die ungeklärte Identifikation dieses Ansatzes mit dem Wort Gottes wird der Autoritätsanspruch des Wortes Gottes auf H. Weders Entwurf zumindest latent übertragen. <?page no="315"?> Teil D Überprüfung der Untersuchungsergebnisse an exemplarischen Texten der vier AutorInnen <?page no="317"?> Wie wirken sich die unterschiedlichen hermeneutischen Profile auf die konkrete Textauslegung aus? - In diesem Abschnitt werde ich jeweils eine exegetische Monographie der vier neutestamentlichen TheologInnen K. Berger, E. Schüssler Fiorenza, P. Stuhlmacher und H. Weder mit meinen Untersuchungsergebnissen vergleichen. Ich habe vier Monographien ausgewählt, die in einem zeitlichen Zusammenhang zu den hermeneutischen Entwürfen stehen: - K. B ERGER , Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart 1997. - E. S CHÜSSLER F IORENZA , Das Buch der Offenbarung. Vision einer gerechten Welt, Stuttgart u.a. 1994. - P. S TUHLMACHER , Der Brief an Philemon, Zürich 1981 2 (EKK 18). - H. W EDER , Die ‚Rede der Reden‘. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985. 15 Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums 15.1 Überprüfung V ORWORT 1 Klaus Berger richtet seine Johannesstudie zwar an einen breiten, d.h. nicht ausschließlich fachtheologisch geprägten Leserkreis 2 , zum anderen erfordern die komplexen Argumentationsgänge jedoch ausgewiesene exegetische Fachkenntnisse 3 . Die Erforschung des Johannesevangeliums ist für K. Berger „mit der Erfahrung großer Befreiung“ verbunden. 4 Diese Befreiung konkretisiert sich als Emanzipation von etablierten Forschungsmeinungen, wie sie K. Berger 1 K. B ERGER , Im Anfang war Johannes (= Anfang), 9. 2 Ebd.: „Viele Kapitel dieses Buches entstanden auf den langen Bahnfahrten von und zu Vorträgen vor einer breiteren Öffentlichkeit. Oft habe ich daher an diese Kreise Interessierter gedacht, manchmal in der Überzeugung, daß von ihrem Interesse und von ihren Fragen her allein noch wirkliche Neuerungen in der Exegese zu erwarten sind“. 3 Besonders K. B ERGER , Anfang, 55-64; 96-106; 136-145; 156-166; 189-195; 208-217; 225- 243. 4 K. B ERGER , Anfang, 9. <?page no="318"?> 318 15 Klaus Berger: Im Anfang war Johannes in der neutestamentlichen Wissenschaft anzutreffen sieht. Damit dokumentiert seine Untersuchung zum JohEv vor allem eine Abkehr vom konventionell-exegetischen Theoriekanon, welche sich auch in der Hermeneutik des Neuen Testaments als Distanzierung von gängigen hermeneutischen Entwürfen wieder findet. 5 T EIL I: E INFÜHRUNG 6 Hier formuliert K. Berger die grundlegenden Koordinaten seiner Johannesdeutung. Daher ist dieser Abschnitt für die Überprüfung seines hermeneutischen Profils besonders interessant. K. Berger stellt seine Frühdatierungsthese vor und argumentiert gegen die liberal-theologisch motivierte Spätdatierung, wenngleich er bemerkt, sein Methodeninstrumentarium weitgehend der historisch-kritischen Arbeit der liberalen Jesusforschung zu verdanken. 7 Diese Selbst-Verhältnisbestimmung erfasst sehr präzise Bergers Standort innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft: Zum einen partizipiert er am historisch-kritischen Soziolekt 8 und bedient deren Sprachspiele, so dass seine exegetischen Analysen grundsätzlich für eine Rezeption innerhalb der neutestamentlich-akademischen Institutionen vorgesehen bleiben. 9 Zum anderen verortet er seinen Ansatz oppositionell zur gängigen neutestamentlichen Wissenschaft, welche seiner Ansicht nach ihre Grundaxiome nicht zur Disposition stellt. K. Berger moniert hierbei vor allem die Vereinnahmung der Texte: Denn indem starre Schemata über die Texte gelegt werden, verlieren diese ihre Individualität und werden ihrer Fremdheit beraubt. 10 In der Einführung - und nur hier - findet sich auch eine Bemerkung zur fundamentalistischen Bibelexegese. K. Berger kommentiert diese Lektüreform zwar nicht näher, hält sie jedoch für gleichsam enggeführt wie die liberale Lesart: „Daß es für viele Menschen nur die Alternative zwischen klassischer liberaler und fundamentalistischer Exegese gibt, ist ebenso bekannt wie bedauerlich. Der Versuch, das zu ändern, dauert bei mir schon lebenslang“. 11 Deutlich zeigt sich hier K. Bergers Intention eines dritten Weges jenseits von Fundamentalismus und Rationalismus. 5 Vgl. die ermittelten Dualismen Bergers, die ich alle dem polarisierenden Dualismustyp 1 zugeordnet habe. 6 K. B ERGER , Anfang, 11-53. 7 A.a.O., 12. Vgl. zur Diskussion um die Johannesdatierung: P.N. A NDERSON / P. H OF - RICHTER (H G .), Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums. 8 Vgl. 6.2.7 Soziolekte, Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft. 9 Vgl. 13.1 Institutionsbezüge. 10 Berger richtet diese Kritik in seiner Johannesauslegung beispielsweise gegen D.F. Strauß, B ERGER , Anfang, 13ff. In der Hermeneutik des Neuen Testaments richtet sich die selbe Kritik insgesamt gegen konfessionell-dogmatische und philosophisch geleitete Bibelhermeneutiken, vgl. 6.2.1 Dualismen, Zweiter Dualismus und 6.2.6 Relevanzkriterien, Das erste Relevanzkriterium: Die Überwindung der Probleme der Moderne und 6.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten. 11 K. B ERGER , Anfang, 12. <?page no="319"?> 15.1 Überprüfung 319 Gegenüber den liberal-theologischen Ansätzen argumentiert K. Berger für die Einheitlichkeit des Johannesevangeliums, denn „Literarkritik und Einteilungen in Schichten [sind] nicht das geeignete Instrument […], das JohEv zu verstehen“. 12 Seine Skepsis gegenüber literarkritischen Optionen begründet sich aus der Fremdheit der neutestamentlichen Texte: „Es handelt sich hier meines Erachtens um ein hermeneutisches Problem (‚Fremdheit des Textes‘), nicht um eines der zufälligen Stückelungen des Evangeliums in seiner wirren Entstehung, also nicht um ein ‚genealogisches‘ Problem“. 13 K. Berger verwehrt sich nicht nur gegen die Literarkritik als heuristische Strategie zur Deutung des Johannesevangeliums, wie sie in der Johannesforschung üblich ist. 14 Ebenso vehement verwirft er insgesamt die unterschiedlichen Echtheitskriterien zur Rekonstruktion des historischen Jesus, welche sich fast ausschließlich am Stoff der synoptischen Überlieferung orientieren und vom johanneischen Jesusbild keinen konstruktiven Beitrag erwarten. 15 Wiederum kritisiert K. Berger die seiner Ansicht nach nicht hinreichend begründbaren Axiome dieser historischen Jesusforschung: „Aber die Frage nach der Echtheit von Jesusworten ist neu zu diskutieren, weil ständig neue Kriterien genannt werden, die Hypothesen über Echtheit oder Unechtheit stützen sollen. Ich selbst hatte wiederholt angemahnt, die Fragen wegen Unentscheidbarkeit vorerst auf sich beruhen zu lassen. Mit dieser ‚radikalen‘ Lösung ist die Zunft erkennbar unzufrieden, und so werden Rettungsversuche angeboten, um die jahrzehntelange Mühe des Sortierens und Unterscheidens im Grunde zu rehabilitieren, zumindest in der Hauptsache“. 16 Zu dieser methodischen Kritik gesellt sich eine theologische: „Meines Erachtens steht hinter dem Bestreben, echte und unechte Jesusworte zu scheiden, ein pseudo-religiöses Sicherheitsbedürfnis“. 17 12 A.a.O., 29. 13 A.a.O., 21. Vgl. 6.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen. 14 Vgl. U. W ILCKENS , Das Evangelium nach Johannes, 5-11; J. G NILKA , Johannesevangelium, 6f; H.W. A TTRIDGE , Art. Johannesevangelium. Attridge bemerkt zur literarkritischen Frage: „Solche Aporien und Spannungen innerhalb des Textes legen die Vermutung nahe, daß das Joh einer redaktionellen Bearb. unterzogen wurde, möglicherweise durch den für das letzte Kap. verantwortlichen ‚lit. Nachlaßverwalter‘ des Lieblingsjüngers oder durch andere Mitglieder seiner Schule oder seines Kreises“, a.a.O., 554. Anders K. W ENGST , Das Johannesevangelium, 28-31: Wengst sieht lediglich in Kapitel 21 einen Nachtrag zum ursprünglichen Evangelium; mit geringen Einschränkungen ebenso U. S CHNELLE , Einleitung in das Neue Testament, 535. Zur kritischen Auseinandersetzung mit literarkritischen Operationen am JohEv siehe ausführlich K. W ENGST , Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, 20-41. 15 Vgl. die umfassende Darstellung der unterschiedlichen Hypothesenbildungen bei G. T HEISSEN / D. W INTER , Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. 16 K. B ERGER , Anfang, 37. 17 A.a.O., 47. <?page no="320"?> 320 15 Klaus Berger: Im Anfang war Johannes Diese noch umfassendere weil fundamental theologische Kritik steht in deutlicher Nähe zu K. Bergers hermeneutischem Programm einer Trennung von Exegese und Applikation. 18 K. Berger kritisiert in seiner Hermeneutik des Neuen Testaments ein Exegeseverständnis, welches als fester Halt für die jeweilige Frömmigkeit instrumentalisiert wird. 19 T EIL II: E INLEITUNGSFRAGEN 20 K. Berger entfaltet in diesem Abschnitt die Gründe für seine Datierung des Johannesevangeliums vor das Jahr 70 n. Chr. Ich zeichne nicht die einzelnen Argumentationsgänge nach, sondern beziehe mich lediglich auf signifikante Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich Stil, Argumentation und Aussagen zur Hermeneutik des Neuen Testaments. Der historisch-kritische Soziolekt findet sich hier vor allem in der Form des religionsgeschichtlichen Vergleiches. 21 K. Bergers Verständnis von Geschichte als konkreter geschichtlicher Einzelereignisse entspricht die ausführliche Beschreibung des johanneischen Verfassers, seiner Adressatenschaft 22 wie auch die detaillierte Rekonstruktion der Gegner. 23 Auch hierin zeigt sich K. Bergers Exegeseverständnis, Texte einer vergangenen Zeit innerhalb ihrer konkret-geschichtlichen Situation zu verstehen. 24 K. Bergers hermeneutische Grundentscheidung einer Trennung von Exegese und Applikation bestimmt beispielhaft seine Darstellung des Verhältnisses von Johannesevangelium und Antijudaismus: Er betont wiederum, dass Exegese - in Differenz zur Applikation - sich nicht von aktuellen Debatten bestimmen lassen darf: „Nun halte ich schon theologische Sachkritik überhaupt und im allgemeinen, ausgeübt gegenüber biblischen Schriften, für eine hermeneutische Unmöglichkeit. Und im besonderen beruhen die ‚tief betroffenen‘ Bedenken gegenüber dem JohEv auf einer Exegese, die kaum den Regeln einer kontextbezogenen Auslegung folgt, sondern eher dem sprichwörtlichen Steinbruchverfahren ähnelt“. 25 Ebenso begegnet hier seine Vorstellung von Exegese als ethischer Akt: „Eine christliche Exegese, die sich von Betroffenheit statt von sachlicher Auslegung leiten läßt, die nicht dem Text gerecht zu werden versucht, halte ich für exegetisch und hermeneutisch nicht vertretbar. Sich von diversen ideologischen oder religiösen Interessen leiten zu lassen ist aus meiner Sicht nicht weniger verhängnisvoll, als sich 18 Vgl. 6.2.5 Schlüsselbegriffe. 19 KBe 110-120. 20 K. B ERGER , Anfang, 54-127. 21 Ausführlich stellt K. Berger beispielsweise Parallelen aus der Umwelt des Neuen Testaments zum johanneischen Logos- und Kosmosbegriff dar, vgl. a.a.O., 56f, 61, 108. 22 A.a.O., 64-76. 23 A.a.O., 54-78. 24 Vgl. 6.2.2 Mythische Aktanten. 25 K. B ERGER , Anfang, 79. <?page no="321"?> 15.1 Überprüfung 321 von wechselnden Betroffenheiten den Weg verstellen zu lassen. Freilich hat man immer wieder versucht, das eine wie das andere gedanklich zu legitimieren“. 26 In seiner Hermeneutik des Neuen Testaments verwendet K. Berger hierfür den Begriff der Loyalität in Bezug auf die biblischen Verfasser. 27 T EIL III: D IE T HEOLOGISCHEN T HEMEN 28 In diesem umfangreichsten Abschnitt 29 konstruiert K. Berger die Vorstellungswelt des Johannesevangeliums. Die verschiedenen Themen werden nacheinander vorwiegend phänomenologisch - d.h. durch Inventarisierung des jeweiligen Aussagenbestandes - aufbereitet. K. Bergers Exegeseverständnis kann hier sehr anschaulich im Vollzug beobachtet werden. Er verzichtet weitgehend auf die Reflexion der dargestellten Vorstellungswelt und konzentriert sich auf die Nachzeichnung der Textaussagen. 30 In seiner Hermeneutik des Neuen Testaments lässt sich diese Funktionsbeschreibung der Exegese wiederfinden. 31 Freilich geschieht diese phänomenologische Nachzeichnung nicht unabhängig von seiner eigenen Prädisposition: K. Bergers Konzeption einer erweiterten Wirklichkeit 32 findet sich zu Beginn des Abschnittes über die Authentizität der Worte Jesu: „Authentizität besteht daher in dem Sinne, daß alles, was der Evangelist als Worte Jesu überliefert, in menschlicher Sprache formulierte Worte des Schöpfers sind. Authentisch sind diese Worte hinsichtlich ihres Ursprungs von Gott her. Jede andere Vorstellung von Authentizität im Sinne moderner Fragen nach der historischen Echtheit ist vom Evangelisten fernzuhalten“. 33 Das Verständnis von Jesu Authentizität kann folglich nicht mit den Mitteln der technischen Vernunft erworben werden. In der Hermeneutik des Neuen Testaments entfaltet er hierfür sein Bild der Wirklichkeit als Haus mit den vier Räumen. 34 K. Berger leitet in der Hermeneutik des Neuen Testaments sein personales Wahrheitsverständnis von johanneischen Aussagen ab. 35 Insofern ist es nur 26 A.a.O., 81 (im Text folgt ein Verweis auf Bergers Hermeneutik von 1988). Vgl. 14.1 Die ethisch vermittelnde Hermeneutik - Klaus Berger. 27 Vgl. 6.2.5 Schlüsselbegriffe. 28 K. B ERGER , Anfang, 128-258. 29 Von den ca. 300 Textseiten umfasst dieser Teil ca. 130 Seiten. 30 Dies kann beispielhaft am § 21 zur Dämonologie abgelesen werden, K. B ERGER , Anfang, 170-173. 31 „Exegese beschreibt und rekonstruiert Aussagen über Gott. Es ist in keiner Weise ihre Aufgabe, Entscheidungen für oder gegen solche Aussagen zu fällen. Dieses ist Sache des Glaubens“, KBe 113. Siehe auch 6.2.2 Mythische Aktanten. 32 Vgl. 6.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken. 33 K. B ERGER , Anfang, 128. 34 KBe 198f. 35 Vgl. 6.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus und 6.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken und 6.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen und 6.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Wahrheitsverständnis. <?page no="322"?> 322 15 Klaus Berger: Im Anfang war Johannes evident, dass diese Konzeption auch in seiner Johannesstudie anzutreffen ist: „Auch Johannes kennt freilich ein Kriterium: Alles das ist echt, was wirklich nur Selbstauslegung dieses Wortes als Wort Gottes ist. Ein inhaltliches Kriterium also, kein historisch-kritisches. Wer Gottes Wort in sich trägt, der kann nur von Gott und von sich reden. Das ist das Kriterium. Wenn und insofern als Jesus immer wieder nur dieses sagt, daß er - mit allen Konsequenzen - Gottes Schöpfer-Logos ist, dann ist das, was er sagt, ganz selbstverständlich authentisch“. 36 Daraus folgt: „Jesus redet nur über sich, weil er als Person alles ist, das wir von Gott direkt wissen“. 37 K. Bergers Skepsis gegenüber dogmatischen Schriftauslegungen 38 zeigt sich in seiner Warnung einer konfessionellen Deutung des joh. Wechselspiels von Gesetz und Gnade: „Man tut gut daran, für diese ‚Opposition‘ nicht den modern-theologischen Gegensatz von Gesetz und Evangelium als Verständnishilfe heranzuziehen“. 39 Ebenso äußert sich hier seine Kritik am Primat philosophischer Rahmentheorien: 40 „Daß man sich im Gefolge der idealistischen Philosophie, die Titel Jesu für ‚Begriffe‘ hielt und entsprechend von der sinnlichen Anschauung schied, vor allem den christologischen Hoheitstiteln zuwandte, hat diese [erzählenden] Texte fast ganz in den Hintergrund geraten lassen“. 41 Vor allem innerhalb der Diskussion um das johanneische Verständnis des Todes Jesu betont K. Berger seine singuläre und alternativlose Position. Hier referiert er, dass sowohl die progressive Exegese Rudolf Bultmanns als auch die traditionell-konservative Exegese Martin Hengels zu der Auffassung kommen, dass „die Verse Joh 1,29 und 36 dabei fraglos im Sinne der stellvertretenden Sühne zu deuten“ sind. 42 K. Berger setzt sich daraufhin von beiden, die Exegese insgesamt repräsentierenden Positionen ab und formuliert: „Das JohEv kennt, das soll im folgenden begründet werden, weder die Vorstellung eines Sühne- oder Opfertodes Jesu noch einen stellvertretenden Tod Jesu, mit dem die Sündenschuld der Menschen in der Welt ausgeglichen würde, noch überhaupt einen stellvertretenden Tod Jesu, mit dem dieser in irgendeinem Sinne Erlösung der Menschen vor Gott bewirkte“. 43 36 K. B ERGER , Anfang, 128f. 37 A.a.O., 130. 38 Vgl. KBe 35: „Strukturalistische Reduktion oder: Wie Dogmatik nicht sein sollte“. Siehe ebenso 6.3.1.2 Überschneidung mit weiteren Diskursfragmenten. 39 K. B ERGER , Anfang, 132. 40 Vgl. 6.2.1 Dualismen, Zweiter Dualismus. 41 K. B ERGER , Anfang, 185. 42 A.a.O., 227. 43 A.a.O., 227. Die Begründung dieser These findet sich a.a.O., 227-239. <?page no="323"?> 15.1 Überprüfung 323 T EIL IV: D IE P OSITION DES J OHANNESEVANGELIUMS IM THEOLOGISCHEN U MFELD 44 In diesem Abschnitt vergleicht K. Berger die Vorstellungswelt des JohEv mit weiteren neutestamentlichen Ansätzen in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden. A USBLICK 45 Die Innovation seiner exegetischen Studie zum Johannesevangelium unterstreicht K. Berger anhand der eindeutigen Bejahung der Fragestellung: „Muß die Jesus-Überlieferung neu gedeutet werden? “ 46 Nach der Hermeneutik des Neuen Testaments ermöglicht erst die Innovation konkrete Geschichtlichkeit. Er spricht dort von einer „ersehnten Innovation“. 47 Interessant für K. Bergers signifikanten Polarisierungsstil 48 ist die Parallelisierung zwischen unbekehrten Juden damals und der liberal-theologischen Exegese heute auf der einen Seite und dem JohEv damals und seiner eigener Position auf der anderen Seite: „Vielleicht hilft die Beobachtung weiter, daß es immer wieder die draußen stehenden und prinzipiell blockierten, missverstehenden und bornierten nicht-christlichen Juden sind, die das JohEv in den christologischen Aussagen gerade so steil und fremd, so hoch und nun wirklich den Monotheismus gefährdend verstehen wie vielfach die ‚liberale‘ Exegese dieses Jahrhunderts, die - mit diesen ‚Ergebnissen‘ in der Hand - dann das JohEv als antijüdisch, spät, proto-gnostisch usw. einstufte. Der Evangelist bemüht sich meines Erachtens nun wirklich redlich, diese Unterstellungen abzuweisen. Aber die damaligen Juden sind ihm genauso wenig gefolgt wie die modernen Exegeten“. 49 K. Berger beschließt seine Untersuchungen zum JohEv mit einem Zitat von Eric Voegelin 50 , worin sich K. Bergers Präferenz für Personalität vor dogmatischer Lehre 51 sowie die Betonung der Emotionalität 52 widerspiegelt. Aus diesem Zitat schlussfolgert er: 44 A.a.O., 259-291. 45 A.a.O., 292-302. 46 A.a.O., 292. 47 KBe 11. Vgl. 6.2.5 Schlüsselbegriffe und 6.3.3 Bezüge zum Interdiskurs, Progressivität. 48 Vgl. 6.2.1 Dualismen. Sämtliche Dualismusbildungen habe ich dort dem ersten - polarisierenden - Dualismustyp zugeordnet. 49 K. B ERGER , Anfang, 298. 50 E. V OEGELIN , Evangelium und Kultur, 70-72; zitiert bei K. B ERGER , Anfang, 302. 51 Vgl. im Zitat von Voegelin: „Der einzige Inhalt des Evangeliums ist nicht eine Lehre, sondern das Ereignis, daß Gott in Jesus präsent war“. Vgl. 6.2.1 Dualismen, Zweiter Dualismus. 52 Vgl. im Zitat von Voegelin: „Es ist keine Lehre von irgendetwas, sondern der Eindruck, den ein Mensch macht, der vollständig durchlässig ist für die göttliche Präsenz in seiner Existenz“. Vgl. 6.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus. <?page no="324"?> 324 15 Klaus Berger: Im Anfang war Johannes „Weil das Johannes-Evangelium diesen Primär-Eindruck von Jesus so unvergleichlich intensiv schildert, steht es sachlich und zeitlich am Anfang“. 53 15.2 Fazit der Überprüfung Zuerst fällt der polarisierende Stil auf, welcher auch in der Hermeneutik des Neuen Testaments K. Bergers eigene Position als einzig tragfähige Alternative gegenüber anderen (konservativen, progressiven oder fundamentalistischen) Lösungsansätzen ausweist. Dabei bestimmt in beiden Schriften durchgehend K. Bergers Kritik an Totalanschauungen dogmatischer bzw. philosophischer Prägung die Argumentationsführung. Der postmoderne Soziolekt, welcher in der Hermeneutik des Neuen Testaments diese Kritik theoretisch maßgeblich fundiert, erscheint explizit in seiner Johannesstudie jedoch nicht. K. Berger führt in beiden Schriften die Auseinandersetzung mit der rationalistisch-liberalen Gegnerschaft weit ausführlicher als mit fundamentalistischen Strömungen. Insgesamt durchzieht die Johannesstudie K. Bergers hermeneutische Grundprämisse der Trennung von Exegese und Applikation. An mehreren Stellen wendet er sich gegen die Instrumentalisierung der Exegese durch die Applikation. K. Berger verwendet hier gleiche Denkfiguren wie in der Hermeneutik des Neuen Testaments. Dies sind vor allem die Fremdheit des Textes, der Schutz vor Vereinnahmung und die ethische Aufgabe der Exegese, dem Text Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Johannesstudie ist ein exegetischer Text. Folglich kann beides zusammen, Exegese und Applikation im Vollzug hier nicht untersucht werden. Bezüge zu K. Bergers Applikationsverständnis mit seinen befreiungstheologischen, spirituellen und ästhetischen Gesichtspunkten und insgesamt dem praktisch-theologischen Soziolekt fehlen deshalb weitgehend. Denn diese Monographie repräsentiert nur eine, nämlich die exegetische Seite K. Bergers Hermeneutikverständnis, welches ethisch verantwortet zwischen den Rechten des Textes und den Bedürfnissen der Rezipienten vermitteln möchte. Um so anschaulicher nun lässt sich das in der Hermeneutik des Neuen Testaments beschriebene Exegeseverständnis hier wiederfinden: K. Berger betreibt seine Johannes-Exegese vor allem als Rekonstruktionsversuch der johanneischen Textwelt, wie sie in einer konkreten kommunikativen Situation zwischen Johannes und seiner Adressatenschaft ihren Ort hat. Darin zeigt sich sein Geschichtsverständnis als jeweils konkrete und individuelle Geschichtlichkeit, welche der Vorstellung überzeitlicher Allgemeinheiten widerspricht. Der historisch-kritische Soziolekt wirkt neben einer zeitlichen Zuordnung der neutestamentlichen Schriften und außerneutestamentlichen Quellen vor 53 K. B ERGER , Anfang, 302. <?page no="325"?> 15.2 Fazit der Überprüfung 325 allem als religionsgeschichtlicher Vergleich in die Untersuchung ein. Skeptisch verhält sich die Studie gegenüber literarkritischen Operationen als heuristischer Zugangsweise zum JohEv. Der Soziolekt des jüdisch-christlichen Dialogs erscheint in der Johannes-Exegese nicht als K. Bergers eigener Aussagenfonds, sondern ausschließlich im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von JohEv und Antijudaismus als potentielle Gefahr für eine Exegese, welche sich nicht durch die Applikation determinieren lassen möchte. Bemerkenswert ist ferner, dass der sprachphilosophische Soziolekt in diesen exegetischen Untersuchungen nicht hervorsticht. Schließlich blieb der biblisch-bestätigende Soziolekt in dieser Überprüfung unberücksichtigt, da bei exegetischen Studien im Unterschied zu hermeneutischen Theorieansätzen selbstverständlich eine besondere Kohärenz von interpretierendem Kommentar und interpretiertem Basistext vorauszusetzen ist. 54 54 Das gilt ebenso für die Überprüfung der Ansätze P. Stuhlmachers und H. Weders. <?page no="327"?> 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung. Vision einer gerechten Welt 16.1 Überprüfung V ORWORT 1 Das Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb Melanie Graffam-Minkus, die das Buch aus dem Amerikanischen übersetzt hat. 2 Sie verweist auf das zugrunde liegende Interpretationsmodell E. Schüssler Fiorenzas, welches bei der positionell-partikularen Perspektive der AuslegerInnen ansetzt, anstatt eine objektive Sicht der Texte zu suggerieren. Näher skizziert sie E. Schüssler Fiorenzas Ansatz als Kombination historisch-kritischer Forschung, literaturwissenschaftlich-rhetorischer Analyse und feministischer Lesart. T EIL I E INFÜHRUNG 3 E. Schüssler Fiorenza beginnt ihr Kommentarwerk zur Johannesoffenbarung mit einer umfassend-polarisierenden 4 Kritik an der konventionellen Exegese. Diese reflektiere nicht die Standortbedingtheit der jeweils eigenen Position und beanspruche für ihre Aussagen grundsätzliche Objektivität. 5 In „Brot statt Steine“ findet sich ebenso diese Kritik, mit der sie dort generell das androzentrische Wissenschaftsparadigma ablehnt. 6 Dem objektivierenden hermeneutischen Paradigma, welches zwischen damaliger und heutiger Bedeutung klar unterscheiden will, kontrastiert sie ihr positionelles rhetorisches Paradigma: „Im Unterschied zu einer formalistischen und strukturalistischen Literaturwissenschaft besteht eine kritische Rhetorik darauf, daß der Kontext ebenso wichtig ist wie der Text. Was wir sehen hängt davon ab, wo wir stehen. Der soziale Ort oder rhetori- 1 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Das Buch der Offenbarung (=Offenbarung), 11-16. 2 Die Originalausgabe von E. S CHÜSSLER F IORENZA erschien 1991 unter dem Titel Revelation: Vision of a Just World. 3 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 17-58. 4 Vgl. 7.2.1 Dualismen. 5 „Die weitverbreitete Ignorierung des gegenwärtigen theologisch-sozioekklesialen Standorts der AuslegerInnen und ihrer theologischen Interessen beruht auf der vorherrschenden Annahme, daß die Form des exegetischen Kommentars wissenschaftliche Objektivität und unvoreingenommene Distanz verlangte, im Unterschied zu engagierten Auslegungsformen, die aus einer bestimmten Position heraus argumentieren“, E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 17. Vgl. 7.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus. 6 Vgl. 7.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus, und 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zur feministischen Wissenschaftskritik. <?page no="328"?> 328 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung sche Kontext einer Person entscheidet darüber, wie sie die Welt sieht, Realität konstruiert oder biblische Texte interpretiert“. 7 Die kritische Rhetorik reflektiert besonders den Machtaspekt der Bibel, 8 welcher ebenso von zentralem Interesse für den Interpretationsansatz in „Brot statt Steine“ ist. 9 Das rhetorische Paradigma als Interpretationsmethodik findet in „Brot statt Steine“ sein Pendant in der Konzeption einer rhetorischen Geschichtsschreibung. 10 Ihren eigenen Standort benennt E. Schüssler Fiorenza hier ebenso deutlich wie in „Brot statt Steine“ 11 : „Meine eigene Lektüre der Offenbarung nimmt eine Position innerhalb des Horizontes akademischer Bibelwissenschaft und der Diskurse der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie ein. Ich möchte auf diese Weise eine kritische politisch-feministische Interpretation und eine theo-ethische Beurteilung dieses faszinierenden Buches erreichen. Diese Kontextualisierung meiner eigenen Lektüre innerhalb einer religiös-politischen Tradition und Interpretationsgemeinschaft kennzeichnet sie durchaus als partikular“. 12 E. Schüssler Fiorenza skizziert die wirkungsgeschichtliche Bedeutung der Johannesoffenbarung vor allem als Text der sozial Marginalisierten, während die herrschende Theologie sie den Schriften des Paulus oder den Evangelien nachordnete. 13 Eventuell liegt gerade darin eine besondere Motivation für E. Schüssler Fiorenza, sich mit der Offenbarung des Johannes zu beschäftigen, versteht sie Exegese in einem umfassenden Sinn doch als Kulturkritik, welche eine ideologie- und herrschaftskritische Funktion innerhalb der Textinterpretation wahrnehmen soll. 14 Ihr Interesse an den ideologischen Hintergründen bestimmter Interpretationsweisen biblischer Texte zeigt sich in der genauen Beschreibung dreier, weitgehend sozial deklassierter, Trägergruppen in der Rezeption der Johannesoffenbarung. Im einzelnen sind dies die neokonservativ-biblizistische, die revolutionär-utopische und die feministische Gruppe. 15 Ihre Partizipation an der feministischen Strategie rhetorischer Interpretation zeigt sich vor allem in der kritischen Reflexion der Bilder der Johannesoffenbarung im Kontext des klassischen westlich-patriarchalen 7 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 19. 8 A.a.O., 20f. „Während sich die Hermeneutik vor allem mit der Bedeutung und Würdigung von Texten befaßt, so richtet sich das Interesse der rhetorischen Interpretation und ihrer theo-ethischen Fragestellung vor allem darauf, welche Wirkungen die Diskurse der Johannesoffenbarung haben und wie sie hervorgerufen wurden“, a.a.O., 21. 9 Vgl. 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zur Macht. 10 Vgl. 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Geschichtsverständnis. 11 Vgl. ESF 36 und insgesamt 7.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte. 12 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 22. 13 A.a.O., 24. 14 Vgl. 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Selbstverständnis der Bibelwissenschaft. 15 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 24-33. <?page no="329"?> 16.1 Überprüfung 329 Systems. Diese feministische Perspektive beschränkt sich hier wie auch in „Brot statt Steine“ nicht auf die sex/ gender-Thematik, sondern umfasst insgesamt patriarchal-hierarchische Gesellschaftsmechanismen. 16 Der zweite Abschnitt dieses ersten Teils widmet sich den Einleitungsfragen zur Johannesoffenbarung. Dies geschieht wiederum in rhetorischer Perspektive, indem nach der pragmatischen Wirkabsicht dieser Schrift in spezifischen Kontexten gefragt wird: „Eine rhetorische Auslegungsstrategie möchte daher den Text der Johannesoffenbarung als diskursive Interaktion zwischen den soziopolitischen Orten ihres Autors, ihrer HörerInnen und ihrer rhetorischen Situation verstehen. Diese Interpretationspraxis, die die im Text implizite ‚Politik‘ aufspüren möchte, hat ihren sozialen Ort in Gemeinschaften, die für politischen, kulturellen und religiösen Wandel kämpfen“. 17 In „Brot statt Steine“ beschreibt sie neben allgemein-befreiungstheologischen Einrichtungen die Frauen-Kirche als Ort eines solchen innovativen Wandels. 18 T EIL II K OMMENTAR 19 Dieser Mittelteil dient vor allem der Rekonstruktion der textlichen Aussagenwelt in der historischen Kommunikationssituation des Sehers Johannes. E. Schüssler Fiorenza wendet hier verschiedene Methoden der historischen Kritik an, welche vor allem ihre Partizipation am Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft dokumentieren: Formgeschichtlich untersucht sie u.a. Apk 1,4-6 20 und Apk 3,21 21 . Die Formen werden vor allem unter kommunikativen Aspekten und in Blick auf deren Sitz im Leben analysiert. Wesentlicher Bestandteil des Kommentarteils sind die traditionsgeschichtlichen Erklärungen, welche die vornehmlich alttestamentliche Herkunft vom Autor verwendeter Begriffe und Motive erläutern. 22 Die spezifische Situation der Johannesoffenbarung veranschaulicht E. Schüssler Fiorenza anhand sozialgeschichtlicher Studien. 23 Dabei wird der Standort des Sehers Johannes im Kontext frühchristlicher Positionsfindungen als partikulare rhetorische Strategie entwickelt: „Es scheint daher, daß Johannes eine kompromißlose theologische Haltung vertritt, weil er und seine Schüler die dehumanisierende Macht Roms und seiner Verbündeten als theologisch so destruktiv und unterdrückend betrachten, daß ein Kompromiß 16 A.a.O., 32-33. Vgl. 7.2.1 Dualismen, Erster Dualismus. 17 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 42. 18 Vgl. 7.2.5 Schlüsselbegriffe und 7.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis von Kirche. 19 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 59-140. 20 A.a.O., 61-66. 21 A.a.O., 68. 22 Z.B. a.a.O., 62, 67-70, 100. 23 Z.B. a.a.O., 74-78, 123. <?page no="330"?> 330 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung mit ihnen die Leugnung von Gottes lebensgebender und rettender Macht bedeuten würde“. 24 Einige religiöse Vorstellungen werden anhand des religionsgeschichtlichen Vergleiches im Kontext der antiken Kultur interpretiert. 25 Nur selten erscheinen textkritische Erörterungen. 26 Die Kommentierung der Johannesapokalypse besteht zuallererst aus leicht verständlichen Detailerklärungen zu übergreifenden Abschnitten sowie exemplarischen Versen und Metaphern. Vereinzelt werden dabei hermeneutische Reflexionen geboten, die über die reine Erklärung der apokalyptischen Bilder hinausgehen: „Daß der Autor nicht in realistischen Bildern denkt, vielmehr seine Theologie in der Form einer literarischen Vision formuliert, wird offensichtlich, wenn er die Figur des Lammes als den ‚Löwen des Stammes Juda‘ und als die ‚Wurzel Davids‘ bezeichnet“. 27 Die gute Verständlichkeit ermöglicht dabei die Rezeption durch eine breite Leserschaft, ohne auf Kosten einer differenzierten Exegese zu gehen. Beispielsweise werden griechische Begriffe genannt, allerdings in lateinischer Umschrift. 28 Die Sprache ist insgesamt sehr anschaulich 29 und komplexe Sachverhalte werden durch einleitende Sätze didaktisch vorstrukturiert. 30 Dies deckt sich mit ihrem Bemühen in „Brot statt Steine“, auch Frauen ohne spezifische Vorbildung an wissenschaftliche Fragestellungen heranzuführen. 31 T EIL III T HEO - ETHISCHE R HETORIK 32 Dieser Schlussteil fokussiert E. Schüssler Fiorenzas Interpretationsansatz: Nach der hermeneutisch-rekonstruierenden Kommentierung im vorangegangenen Abschnitt wendet sie sich hier gegen das mögliche Missverständnis, ursprüngliche Bedeutung und nachträgliche Interpretation könnten voneinander getrennt und nacheinander dargestellt werden. Beides bildet 24 A.a.O., 78. 25 Z.B. a.a.O., 103. 26 Z.B. a.a.O., 62. 27 A.a.O., 82. 28 Z.B. a.a.O., 62f und 71. 29 Z.B. a.a.O., 80: „Johannes beschreibt den Himmel nicht so sehr als einen Tempel, sondern als Thronhalle eines orientalischen oder römischen Herrschers. Gott regiert wie ein orientalischer oder hellenistischer Herrscher in dem Glanz eines unnahbaren Lichtes, umgeben von den höchsten Wesen des himmlischen Hofes. Der glänzende Boden der königlichen Halle breitet sich vor dem Thron aus wie ein See aus kristallklarem Glas, der die glänzende Erhabenheit des Einen auf dem Thron widerspiegelt.“ 30 Z.B. a.a.O., 73: „Die Identität der sieben Engel hat ExegetInnen lange rätseln lassen […]“. 31 E. Schüssler Fiorenza bezeichnet dies als „‚Befähigung zur theologischen Benennung‘ (power of theological meaning)“, ESF 21. 32 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 141-166. <?page no="331"?> 16.1 Überprüfung 331 vielmehr stets eine untrennbare Einheit. 33 Damit bekennt sie sich erneut zur grundsätzlich interessengeleiteten Positionalität jeder wissenschaftlichen Forschung. 34 Den Hauptakzent der Johannesoffenbarung legt E. Schüssler Fiorenza aufgrund ihres Erkenntnisinteresses auf das Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit. 35 Dieses Relevanzkriterium als heuristischer und dezidiert perspektivischer Lektüreschlüssel steht in deutlicher Nähe zu den Soziolekten der Politischen Theologie 36 , der Befreiungstheologie 37 , der Kritischen Theorie 38 und des Feminismus 39 in „Brot statt Steine“. Anhand von vier Aspekten 40 reflektiert sie das Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit in der Offenbarung des Johannes: Der allgemein-befreiungstheologische Hintergrund E. Schüssler Fiorenzas zeigt sich in der Interpretation des ‚Reiches (Gottes)‘, wie sie es in der Rhetorik der Johannesoffenbarung konzipiert sieht: „Christinnen sind befreit und zu VertreterInnen der Macht Gottes und seines Reiches auf Erden ernannt worden. Deshalb sind sie in der Auseinandersetzung mit Babylon/ Rom gefangen, deren imperiale Mächte die Agenten der dämonischen und destruktiven Macht des Satans sind. Die ‚Bewohner der Erde‘, die Freien und Sklaven, die Kaufleute und Könige haben sich alle wiederum der das Land korrumpierenden und zerstörenden imperialen Weltmacht unterworfen“. 41 „Gottes Reich auf Erden kann nicht als koexistierend mit irgendeiner dehumanisierenden, die Erde zerstörenden Macht gedacht werden“. 42 „Diese befreiende Interpretation der Rhetorik der Offenbarung ordnet die Beschreibung der kosmischen Zerstörung und des heiligen Krieges dem Wunsch nach Gerechtigkeit unter, der durch das ganze Buch hindurch wiederholt wird“. 43 Neben dem allgemein befreiungstheologischen Soziolekt formiert vor allem der ideologiekritische Soziolekt der Kritischen Theorie und der Soziolekt der Politischen Theologie den Abschnitt zum Thema ‚Bedrängnis‘. E. Schüssler Fiorenza reflektiert hier die unterschiedlich wahrgenommene Christenverfolgung unter Kaiser Domitian und korreliert diese Divergenz der unterschiedlich wahrgenommenen wirtschaftlichen Situation U.S.-Amerikas anhand der Perspektive eines weißen männlichen Politikers und einer schwar- 33 A.a.O., 141. 34 Vgl. 7.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der Kritischen Theorie. 35 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 141. 36 Vgl. 7.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der Politischen Theologie. 37 Vgl. a.a.O., Der befreiungstheologische Soziolekt. 38 Vgl. a.a.O., Der Soziolekt der Kritischen Theorie. 39 Vgl. a.a.O., Der feministische Soziolekt. 40 Dies sind 1) Die rhetorische Welt der Vision: Das Reich; 2) Die kritische rhetorische Situation: Bedrängnis; 3) Die rhetorische Motivation: Widerstand; 4) Rhetorische Einschränkungen: Konkurrierende Stimmen. 41 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 144. 42 A.a.O., 145. 43 A.a.O., 146. <?page no="332"?> 332 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung zen alleinerziehenden Mutter. 44 E. Schüssler Fiorenzas sprachkritisches feministisches Instrumentarium zeigt sich vor allem im Abschnitt zum Thema ‚Widerstand‘, in welchem sie auf die Metapher Braut/ Hure eingeht: „Wenn der politische Dualismus der Johannesoffenbarung als konventionelle dualistische Geschlechtersymbolisierung verstanden wird, fördert er sexistische Vorurteile eher als ‚Hunger und Durst‘ nach einer gerechten Welt. Die Personifizierung der beiden alternativen ‚Welten‘ durch weibliche Gestalten und der Gebrauch der prophetischen Metapher von sexueller Promiskuität für Götzendienst in der Johannesoffenbarung öffnet die Tür für eine unpolitische Interpretation“. 45 Und im Abschnitt ‚Konkurrierende Stimmen‘ reflektiert sie noch einmal anhand der Johannesoffenbarung die Pluralität von Positionen. Als eine der Gegenpositionen zum Seher Johannes führt sie eine nicht näher bekannte Prophetin ein. 46 Hier klingt E. Schüssler Fiorenzas Hermeneutik der Erinnerung an: „Die prophetische Leiterin in Thyatira war, soweit wir wissen, die erste christliche Frau, die solcher verunglimpfenden innerchristlichen Rhetorik zum Opfer gefallen ist. Sie ist uns historisch immer noch sichtbar, obwohl ihr wahrer Name unbekannt bleiben wird. Wegen der ätzenden Polemik des Johannes wurde diese Prophetin in christlichen Kreisen immer mit Häresien, Götzendienst und sexuellem Fehlverhalten assoziiert“. 47 Als weitere Gegenposition zum Seher Johannes reflektiert sie das Judentum. Die polemischen Aussagen des Johannes, einst von ihm zum Schutz der eigenen jüdischen Identität gewählt, erhielten eine völlig andere Intention, als das Christentum zum Machtfaktor geworden ist: „Christliche PredigerInnen, die heute die Anklagen des Johannes gegen das Judentum, ‚Synagoge des Satans zu sein‘ wiederholten, tun dies in einer hegemonialen rhetorischen Situation, in der Juden meistens zu einer verleumdeten Minorität gehören. Die defensive Rhetorik der Johannesoffenbarung zur Wahrung der eigenen Identität wurde in eine Sprache des Hasses verkehrt“. 48 Auch E. Schüssler Fiorenzas prototypisches Bibelverständnis 49 erscheint in diesem Schlussabsatz: „LeserInnen der Bibel übersehen oft die christliche Einsicht, daß die Geister unterschieden , und die Worte und der Lebensstil der ProphetInnen durch die Gemeinschaft überprüft werden müssen. Was der Geist heute in unserer besonderen sozio-politischen Lage sagt, muß sich in einer theo-ethischen Praxis rhetorischer Interpretation 44 A.a.O., 151. 45 A.a.O., 157. Vgl. 7.2.1 Dualismen, Zweiter Dualismus. 46 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 159. 47 A.a.O., 160. 48 A.a.O., 162. 49 Vgl. 7.2.1 Dualismen, Vierter Dualismus und 7.3.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen. <?page no="333"?> 16.2 Fazit der Überprüfung 333 bewähren, die Gottes Macht für Gerechtigkeit und Rettung in unserem eigenen politischen und persönlichen Kampf für Befreiung sichtbar werden lässt“. 50 Die Hermeneutik der Verkündigung klingt schließlich am Ende des Buches an: „Das Buch der Johannesoffenbarung zu predigen und auszulegen bedeutet nicht, einfach die ‚erste‘ Bedeutung des Buches zu wiederholen, sondern ihre rhetorische Visionswelt kritisch und verantwortlich in unserem eigenen Kampf für Gerechtigkeit und Befreiung einzubeziehen“. 51 16.2 Fazit der Überprüfung E. Schüssler Fiorenza thematisiert vor allem im ersten und dritten Hauptteil die Positionalität jeder wissenschaftlichen Forschung und partizipiert dadurch - wie auch in „Brot statt Steine“ - am allgemein-wissenschaftstheoretischen Diskurs. Sie weist ihren Standort hierbei selbst als befreiungstheologisch, feministisch und akademisch-theologisch aus. Alle diese drei Partizipationen finden sich auch in „Brot statt Steine“ wieder. Ihr Interesse an der Verbindung von politisch-sozialen Realitäten mit theologischen Sprachformen findet sich in der Thematisierung der Bibel als Machtfaktor, der Fokussierung des Themas der Johannesoffenbarung auf das Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit sowie der Beschreibung des Zusammenhangs von bestimmten Trägerkreisen mit spezifischen Interpretationsmodellen zur Johannesoffenbarung. Theologie ist hier - wie auch in „Brot statt Steine“ - für E. Schüssler Fiorenza nicht von Politik zu trennen. Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft prägt vor allem den zweiten Hauptteil, den eigentlichen Kommentar zur Johannesoffenbarung. E. Schüssler Fiorenza verwendet dort die klassischen Methoden der historischen Kritik in Verbindung mit neueren literaturwissenschaftlichen Analysenschritten, insbesondere der Pragmatik. Ziel dieser Untersuchungen ist die Rekonstruktion der spezifischen Rhetorik des Sehers Johannes im Kontext seiner kommunikativen Situation. Diese Rekonstruktionsarbeit bleibt jedoch aufgrund E. Schüssler Fiorenzas Wissenschaftsansatz an die Konstruktion der leitenden Relevanzen gebunden, welche durch die eigene Positionalität vorgegeben werden. Denn nach E. Schüssler Fiorenza führt auch die historische Kritik nicht zur Objektivität, sondern kann lediglich die intersubjektive Nachprüfbarkeit fördern. Der feministische Soziolekt und damit die Dualisierung von Feminismus und Patriarchalismus/ Androzentrismus erscheint im Kommentar zur Johannesoffenbarung weit weniger explizit als in „Brot statt Steine“. Nur vereinzelte Passagen machen androzentrische Handlungsmuster dezidiert zum Thema, beispielsweise die Reflexionen zu konkreten Metaphern, welche auf 50 E. S CHÜSSLER F IORENZA , Offenbarung, 164f. 51 A.a.O., 166. <?page no="334"?> 334 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Das Buch der Offenbarung einer bestimmten Geschlechtersymbolik basieren. Im Kommentar zur Johannesoffenbarung verbindet sich vielmehr der feministische Soziolekt als kritisch-wissenschaftstheoretischer Ansatz mit der Befreiungstheologie, der Politischen Theologie und der Kritischen Theorie zu einer gemeinsamen Aussagen-Prädisposition, welche die zeitlich verschiedenen Kommunikationssituationen des Offenbarungstextes kritisch reflektiert sowie nach den interaktiven Prozessen und ihrer Machtdynamik befragt. <?page no="335"?> 17 Peter Stuhlmacher: Der Brief an Philemon 17.1 Überprüfung V ORWORT 1 P. Stuhlmacher bezeichnet seinen Kommentar zum Philemonbrief im Vorwort zur ersten Auflage als Experiment: 2 „Ein Experiment ist meine Auslegung […] insofern, als ich versuche, eine auslegungs- und wirkungsgeschichtlich reflektierte theologische Exegese vorzulegen“. 3 Damit sind deutliche Bezüge zu P. Stuhlmachers wirkungsgeschichtlichem Ansatz in „Vom Verstehen des Neuen Testaments“ hergestellt. 4 E INLEITUNG 5 In diesem Abschnitt erscheinen folgende signifikante Wendungen P. Stuhlmachers theologisch-hermeneutischer Positionierung: Die paulinische Aussagenwelt fasst P. Stuhlmacher als Rechtfertigungsbotschaft zusammen. 6 Diese Extraktion weist auf seine Partizipation am Soziolekt der reformatorischen Dogmatik hin, welche die Rechtfertigung als Zentrum der paulinischen Theologie interpretiert. 7 Die Fokussierung auf eine kohärente Aussagenwelt der biblischen Schriften, wie sie in P. Stuhlmachers Ansatz einer Biblischen Theologie 8 zum Ausdruck kommt, spiegelt sich auch in der Bemühung um eine in sich stringente Deutung der paulinischen Texte. So formuliert er den Spannungsbogen der paulinischen Aussagen zum antiken Sklaventum von 1Kor 7,21ff zu Gal 3,26ff zuerst anhand folgender Problemstellung: „Und die eigentlich interessante Frage ist dabei, ob diese Theologie bei solchem praktischen Nachvollzug in disparate Äußerungen zerfällt oder ob sie sich als eine neue Realitäten setzende Einheit erweist“. 9 1 P. S TUHLMACHER , Der Brief an Philemon (=Philemon), 7f. 2 Dieses Vorwort von 1974 ist in der zweiten Auflage wieder abgedruckt, P. S TUHLMA - CHER , Philemon, 7. 3 Ebd. 4 Dort betitelt Stuhlmacher den dritten Schritt seines hermeneutischen Ansatzes als wirkungsgeschichtlich reflektierte Interpretation im Lichte des Dogmas. Vgl. insgesamt 8.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik. Aufgrund dieser Verbindung erscheint mir eine Überprüfung seines hermeneutischen Profils an seinem Kommentar zum Philemonbrief ergiebiger als beispielsweise an seinem umfangreicheren Kommentar zum Römerbrief, P. S TUHLMACHER , Der Brief an die Römer. 5 P. S TUHLMACHER , Philemon, 17-26. 6 A.a.O., 17. 7 Vgl. 8.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik. 8 Vgl. a.a.O., Der Soziolekt der Biblischen Theologie. 9 P. S TUHLMACHER , Philemon, 17. <?page no="336"?> 336 17 Peter Stuhlmacher: Der Brief an Philemon In seiner Schlussreflexion zu dieser Thematik gibt er auf diese Frage dann folgende, die Spannung auflösende, Antwort: „Wie soll diese Spannung ausgeglichen und überwunden werden? Paulus antwortet: Indem bis zum Tage der Parusie dem gekreuzigten Herrn gefolgt, das Evangelium bezeugt und der Liebe nachgelebt wird.“ 10 Die Skizzierung der Textgeschichte des Philemonbriefs, die Diskussion der paulinischen Verfasserschaft, die Rekonstruktion der historischen Situation und der Vergleich mit drei thematisch ähnlichen antiken Briefen 11 weist vor allem auf Stuhlmachers Partizipation am historisch-kritischen Soziolekt hin. K OMMENTAR 12 Der eigentliche Kommentarteil ist wesentlich vom historisch-kritischen Soziolekt geprägt und zielt auf eine Rekonstruktion des paulinischen Aussageninventars im Kontext der historischen Situation. Dabei strukturieren folgende theologisch-hermeneutische Interpretamente die historische Bedeutungszuschreibung: In erbaulichem Stil deutet P. Stuhlmacher den paulinischen Segensgruß am Schluss des Eingangsteils: „Mit dem doppelten Segenswunsch steht alles, was der Apostel im folgenden vorzutragen hat, im Zeichen der die Christen untereinander und mit Gott verbindenden, ihr Dasein im Glauben tragenden gnädigen Treue Gottes“. 13 P. Stuhlmachers Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten 14 zeigt sich im Philemonkommentar sehr anschaulich in Formulierungen, welche die Funktion einer Paulus-Apologie haben. 15 Die paulinische Aussage in Vers 6 wird von einigen Exegeten als zu unverbindlich kritisiert. Paulus hätte Philemon viel deutlicher eine konkrete Handlungsanweisung geben müssen, welche das Wohlergehen des Onesimus eindeutig gesichert hätte. 16 P. Stuhlmacher hält dem entgegen: „Während verschiedene Kommentatoren die Undeutlichkeit der Formulierung beklagen […], ist sie in Wahrheit doch recht konkret“. 17 Mit seiner Interpretation von V 13 stützt er ebenso das paulinische Vorgehen: 10 A.a.O., 67f. 11 A.a.O., 25f. 12 A.a.O., 27-56. 13 A.a.O., 31. 14 Zum Leitkriterium ‚bibelgemäß‘ vgl. 8.2.5 Schlüsselbegriffe und 8.2.1.1 Der Gebrauch von Bibelstellen. 15 Diese Passagen haben meines Erachtens die Aufgabe, eine Haltung der Zustimmung zum konkreten biblischen Text bzw. dem biblischen Textfeld insgesamt zu sichern. 16 Literaturhinweise bei P. S TUHLMACHER , Philemon, 33, Anm. 50. 17 A.a.O., 34. <?page no="337"?> 17.1 Überprüfung 337 „Paulus hätte Onesimus gern bei sich behalten, verzichtet aber darauf, um Philemon nicht von vornherein vor vollendete Tatsachen zu stellen“. 18 Und zu VV 17-20 meint P. Stuhlmacher: „Wieder formuliert der Apostel seine Sätze höchst reflektiert und bedächtig“. 19 P. Stuhlmachers Einverständnishermeneutik zeigt sich insbesondere aber in dessen Interpretation der Sklavenfrage. „Aber er [der Philemonbrief] gibt uns die Möglichkeit, die paulinische Verkündigung am Schicksal des Sklaven Onesimus bis in ihre alltäglichen Folgen hinein mitzuvollziehen“. 20 Entscheidend ist bei dieser Formulierung das Verbum mitzuvollziehen: Nicht geht es um eine Prüfung dieser Aussagen vor dem Tribunal der Ausleger- und Leserschaft, sondern um das Vernehmen des paulinischen Kerygmas in der spezifischen Situation dieser Briefkommunikation. 21 P. Stuhlmachers Paulus-Apologie wird hierbei durch die Thematisierung der neutestamentlichen Haustafeln gestützt: „Die nachpaulinisch-neutestamentliche (Haustafel-)Paränese ruft die Sklaven zu solch christlicher Pflichten- und Berufserfüllung auf. Sie legt aber gleichzeitig auch den Herren der Sklaven die Pflicht auf, für ihre Sklaven angemessen zu sorgen und sie nicht zu missbrauchen […]. Wie 1 Kor 7,21-24 zeigt, ist diese gegenseitige Ermahnung durchaus auch schon im Sinne des Apostels selbst: Vor Christus sind Herren und Sklaven gleich, und ihre Standesunterschiede relativieren sich. Keiner braucht aus Glaubensgründen bedacht zu sein, aus seiner ihm zugewiesenen Lebensstellung auszubrechen, sondern er soll seinen Stand in Christus auszufüllen trachten“. 22 Im Kontext einer Einverständnishermeneutik entfalten solche Passagen eine konservative, weil statusstabilisierende, Wirkung. 23 Moderne Freiheitskriterien erweisen sich in Blick auf die paulinischen Aussagen zur Sklaverei insgesamt als anachronistisch: „Versteht man 1 Kor 7,21 im Rahmen der in der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. für die Sklaven in Korinth real gegebenen Möglichkeiten und interpretiert man den Vers nicht sogleich im Sog der späteren kirchlichen Debatte um die unguten Folgen einer christlichen Sklavenemanzipation, erübrigen sich eine ganze Reihe von deklamatorischen Vorwürfen an die Adresse des Apostels“. 24 18 A.a.O., 40. 19 A.a.O., 36. 20 Ebd. 21 Anders P. L AMPE , Der Brief an Philemon, 222: „Heutige Leser und Leserinnen mag irritieren, dass Paulus im Blick auf das antike Institut der Sklaverei so wenig Engagement zeigte“. 22 P. S TUHLMACHER , Philemon, 43. 23 Vgl. 8.3.3 Bezüge zum Interdiskurs, Konservativismus. 24 A.a.O., 45. <?page no="338"?> 338 17 Peter Stuhlmacher: Der Brief an Philemon P. Stuhlmacher betont daher auch in Blick auf unsere modern-aufgeklärte Ablehnung der antiken Herrschaftsordnung die teilweise recht humane Handhabung und weitgehende Akzeptanz der Sklaverei innerhalb der kulturellen Welt der Antike. 25 Theologisch gesehen, ist die paulinische Position nach Ansicht P. Stuhlmachers somit völlig einsichtig und nachvollziehbar: „Als Sklave, als Freigelassener oder Freier und als Herr ist man dem Christus gleich nah, gleich verpflichtet und dementsprechend gleich frei, der Liebe zu folgen. Sieht man, daß auf diese Weise die Welt insgesamt in jeder Situation von Gnade und Forderung Gottes in Christus ergriffen wird, wird verständlich, daß Paulus, dem der Christusdienst im Glauben das für Zeit und Ewigkeit entscheidende war, die eigentlich praktische Lösung des ‚Falles‘ des Onesimus durchaus offen lassen und sich auf beides einstellen konnte, Onesimus zurückgesandt zu erhalten oder ihn als christlichen Sklaven auf Dauer bei Philemon aufgenommen zu sehen. Für Philemon und Onesimus war in Christus gesorgt, wenn sie als Christen wieder zueinander finden würden, mochte sich ihr Verhältnis zukünftig als Verhältnis von Herr und Sklave oder auch von Herr und Freigelassenem darstellen“. 26 P. Stuhlmachers Verteidigung der paulinischen Position bemüht schließlich Kol 4,9. Dort wird ein Onesimus genannt, den Stuhlmacher mit dem Onesimus des Philemonbriefes identifiziert. Daraus schlussfolgert P. Stuhlmacher, dass die paulinische Fürsprache letztlich ein gutes Ende bewirkte. Philemon habe Onesimus zu Paulus zurückgeschickt und zur Mission freigestellt. Diese Deutung erleichtert das Einverständnis - wenngleich sich P. Stuhlmacher in dieser Interpretation deutlichem Widerspruch ausgesetzt sieht. 27 Den Begriff gnvßmh in Vers 14 übersetzt P. Stuhlmacher mit seinem hermeneutischen Schlüsselbegriff des Einverständnisses, während die Lutherübersetzung das Lexem mit Willen, die Einheitsübersetzung mit Zustimmung wiedergibt. 28 Z USAMMENFASSUNG 29 In seiner Zusammenfassung des Philemonbriefs unterstreicht P. Stuhlmacher noch einmal seine Interpretation der Sklavenfrage im Kontext des Philemonbriefs. 25 A.a.O., 46f. - In seiner Hermeneutik kann P. Stuhlmacher von der Barmer Theologischen Erklärung aus die Aussagen der neutestamentlichen Haustafeln zur Sklaventhematik relativieren, PSt 252. Interessanterweise fehlt solch eine Korrektur im Philemonkommentar. 26 P. S TUHLMACHER , Philemon, 48. 27 A.a.O., 53, Anm. 136. 28 A.a.O., 41. W. B AUER / K. u. B. A LAND , Griechisch-deutsches Wörterbuch, 326 übersetzen gnvßmh ebenfalls in Blick auf Phlm 14 mit Einverständnis, ebenso O. K OCH , Art. gnvßmh, 616. Bei G. E. B ENSELER , Griechisch-deutsches Schulwörterbuch, 153f hingegen erscheint der Begriff ‚Einverständnis‘ als Übersetzungsoption für gnvßmh nicht. 29 P. S TUHLMACHER , Philemon, 57f. <?page no="339"?> 17.1 Überprüfung 339 A USLEGUNGS - UND W IRKUNGSGESCHICHTE 30 Die ausführliche Darstellung der Wirkungsgeschichte 31 deckt sich mit P. Stuhlmachers Forderung einer wirkungsgeschichtlich reflektierten Interpretation in „Vom Verstehen des Neuen Testaments“, begründet sich aber auch aus der Konzeption des Evangelisch-Katholischen Kommentars zum Neuen Testament (EKK). 32 Er unterscheidet zwei Traditionslinien, die antienthusiastische und die emanzipatorische Deutung. „Das Ergebnis dieser Beobachtung ist, daß heute zweierlei nicht mehr in Frage kommen kann: Ein naives exegetisches Einschwenken auf die eine oder andere Linie, ohne die damit jeweils mitgestellten wirkungsgeschichtlichen Probleme zu reflektieren“. 33 Diese Reflexion soll nach P. Stuhlmacher in enger Verbindung von Exegese und Dogmatik geschehen, 34 wie er sie hier in Gestalt des reformatorischtheologischen Soziolektes als Ausblick anschließt: A USBLICK 35 „Fundament der Äußerungen des Apostels und des ihn mit Philemon und dessen Hausgemeinde verbindenden Glaubens ist das Evangelium von der rechtfertigenden, in und durch Christus zu einem neuen Leben führenden Gnade Gottes. Von diesem Evangelium kommt Paulus in seinem brieflichen Eingangsgruß her, und auf dieses Evangelium von Gottes Gnade führt der den Brief abschließende Segenswunsch wieder zurück. Die Wirklichkeit, die das Evangelium ausmacht, ist die bis zur Selbstopferung des Christus vordringende Liebe Gottes. Solche Liebe ist dementsprechend der durch Christus frei gesetzte Wille Gottes, zu dessen Erkenntnis und Vollzug die an Christus Glaubenden aufgerufen und ermächtigt sind. […]“. 36 Diese Liebe als Bezeugung des Evangeliums entfaltet P. Stuhlmacher in Blick auf den Philemonbrief in Anspielung auf Luthers dialektisches Freiheitsverständnis in Von der Freiheit eines Christenmenschen 37 : 30 A.a.O., 58-66. 31 A.a.O., 58-66. 32 Vgl. U. S CHNELLE , Einführung in die neutestamentliche Exegese, 25: „Dieses seit 1975 erscheinende Kommentarwerk [EKK] berücksichtigt in vollem Umfang die Methoden historisch-kritischer Bibelexegese, wobei eine Besonderheit zahlreiche Exkurse zur ›Wirkungsgeschichte‹ neutestamentlicher Texte sind“. 33 P. S TUHLMACHER , Philemon, 65. 34 Vgl. 8.2.1 Dualismen, Zweiter Dualismus. 35 P. S TUHLMACHER , Philemon, 66-69. 36 A.a.O., 66. 37 P. Stuhlmacher verweist zwar nicht explizit auf Luther, m.E. bildet jedoch dessen Freiheitsverständnis den Deutungsrahmen für P. Stuhlmachers Argumentation. Ich denke hier vor allem an die zentrale Doppelthese der Freiheitsschrift: „Ejn Christen mensch ist ejn freyer herr ueber alle Ding und niemandt unterthan. Ejn Christen mensch ist ejn dienstpar knecht aller ding und jederman unterthan“, M. L UTHER , Von der Freiheit eines Christenmenschen, 21. <?page no="340"?> 340 17 Peter Stuhlmacher: Der Brief an Philemon „Philemon ist zwar noch Herr und Besitzer des Onesimus, und doch ist er schon kein Despot mehr, der mit ihm beliebig als mit einer belebten Sache umgehen könnte. Philemon ist vielmehr schon ein Diener des Christus, der mit Onesimus im Zeichen der Christusliebe umgehen soll und mit ihm gemeinsam glaubt, hofft und betet. Auf der anderen Seite ist Onesimus zwar noch Sklave und nach damaligem Recht Besitztum des Philemon, aber er ist zugleich schon kein Sklave mehr, sondern ein christlicher Bruder, der glaubt und dem Christus dient, wie Philemon auch“. 38 Die Einbettung der Aussagen des Philemonbriefs in den Kontext des gesamtbiblischen Zeugnisses, wie es in P. Stuhlmachers Hermeneutik für den zweiten Auslegungsschritt vorgesehen ist 39 , beschränkt sich auf einen Vergleich mit dem synoptischen Jesus. Unproblematisch kann P. Stuhlmacher formulieren: „Es verdient historisch und theologisch festgehalten zu werden, daß die damit aufgehellte Position des Paulus in der Sache mit einer schon bei Jesus erkennbaren Haltung übereinstimmt. Auch Jesus hat das Struktur- und Sozialproblem der Sklaverei als solches nicht thematisiert“. 40 E XKURS 41 Der Exkurs zu den urchristlichen Hausgemeinden ist wesentlich dem historisch-kritischen Soziolekt verpflichtet. 17.2 Fazit der Überprüfung P. Stuhlmacher formiert seine Exegese zum Philemonbrief primär als historisch-kritischen Kommentar. Daher bestimmt der historisch-kritische Soziolekt in besonderer Weise den Auslegungsvorgang. Allerdings ist die historische Kritik als Instrumentarium zur Rekonstruktion der Textwelt sehr intensiv in P. Stuhlmachers hermeneutische Gesamtkonzeption eingebunden. So wirkt sich die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten auf die Einordnung und Wertung des paulinischen Aussagenfonds aus. P. Stuhlmacher versetzt Paulus in eine unangreifbare Position, wie insbesondere die Deutung der Sklaventhematik zeigt. Die Strukturanalogien zwischen Paulus und Jesus in Bezug auf die antike Sklaventhematik verweisen auf P. Stuhlmachers Partizipation am Soziolekt der Biblischen Theologie. P. Stuhlmachers Betonung der Wirkungsgeschichte zeigt sich im Vorwort und in der ausführlichen Darstellung der unterschiedlichen Auslegungstraditionen bis heute. Das breite Feld von Deutungsmöglichkeiten wird schließlich anhand des Soziolektes der reformatorischen Dogmatik begrenzt und orientiert. 38 P. S TUHLMACHER , Philemon, 67f. 39 Vgl. 8.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der Biblischen Theologie. 40 P. S TUHLMACHER , Philemon, 68. 41 A.a.O., 70-75. <?page no="341"?> 17.2 Fazit der Überprüfung 341 Insgesamt lässt sich hier P. Stuhlmachers hermeneutisch-methodischer Dreischritt aus a) zustimmender Rekonstruktion der Textaussagen, b) Einbettung in die gesamtbiblische Botschaft und c) bekenntnisorientierter Deutung nachzeichnen. <?page no="343"?> 18 Hans Weder: Die ‚Rede der Reden‘. Eine Auslegung der Bergpredigt heute 18.1 Überprüfung V ORWORT 1 H. Weder will sich nicht ausschließlich einer historisch-kritischen Nachzeichnung zuwenden, sondern zugleich den Bedeutungsgehalt der Bergpredigt für heute zur Sprache bringen. 2 Nicht bei der historischen Beschreibung stehen zu bleiben, bezeichnet H. Weder als Wagnis, sich der Sache der Texte zu stellen. Damit sind Signalworte benannt, welche auf H. Weders dialektisch-theologische Prägung hinweisen. 3 Ebenso spiegelt sich darin H. Weders eingeschränkte Funktionszuschreibung der historisch-kritischen Methodik wider. 4 Er schickt seiner Einzelauslegung zur Bergpredigt eine Einleitung 5 und (einführende) Vorbemerkungen 6 voraus, welche für die Überprüfung H. Weders Profil besonders interessant sind, da hier die hermeneutischen Koordinaten zur Bergpredigt-Interpretation expliziert werden. Auf sie werde ich nun ausführlicher eingehen. E INLEITUNG 7 Die in der Ideologiekritik beschriebene Diastase von neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis 8 begegnet bereits zu Beginn der Einleitung, in welcher H. Weder mit einem Zitat von Friedrich Dürrenmatt 9 verschiedene Wirkungen der Bergpredigt skizziert. So trennt Dürrenmatt - als typisch neuzeitlicher Zeitgenosse - zwischen jesuanischer Botschaft, zu der die Bergpredigt in ihrer Faszination allgemein zählt und kirchenchristlicher Dogmatik, welche daraus eine Ideologie gemacht habe. Mit diesem Hinweis ist H. Weders theologische Konzeption eingeführt, der neutesta- 1 H. W EDER , Die ‚Rede der Reden‘ (=Rede), 9. 2 A.a.O., 9. 3 Vgl. 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der Dialektischen Theologie. 4 Vgl. a.a.O., Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft. 5 H. W EDER , Rede, 11-17. 6 A.a.O., 17-34. 7 A.a.O., 11-16. 8 Vgl. 9.2.1 Dualismen, Erster Dualismus. Ferner 9.2.3 Naturalismus und Identitätsdenken und 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis der Neuzeit. 9 F. D ÜRRENMATT , Zusammenhänge, 15f. <?page no="344"?> 344 18 Hans Weder: Die „Rede der Reden“ mentlichen Offenheit zur Transzendenz die neuzeitliche Selbstverschlossenheit gegenüberzustellen: „Der Jude Jesus von Nazareth leuchtet dem Dramatiker ein, zwar nicht als Gottes Sohn, wie ihn die Kirche bekennt, sondern als der Sohn eines Menschen, wie ihn die Kirche allerdings auch bekennt. In dieser Lage befinden sich heute viele. Ihnen leuchtet ein, was der Mensch Jesus sagt. Besonders leuchtet ihnen ein, was der Mensch Jesus fordert. Mit Gott dagegen können sie nichts anfangen“. 10 Auch H. Weders anthropologische Konsequenzen, die absolute Ablehnung einer vom Menschen geforderten Leistung als Bedingung des göttlichen Gnadengeschehens klingt hier bereits an. Dies erklärt sich daraus, dass das matthäische Profil zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Primat des Tuns bietet, wie die Forschungsliteratur zum Matthäusevangelium und speziell zur Bergpredigt 11 belegt: „Die Bergpredigt steht ferner als Stichwort für das schlechthin Tätige, für die radikale Praxis. Mit diesem Stichwort verbindet sich sofort die Forderung, verbindet sich Jesus als der Geber eines neuen radikalen Gesetzes. Diese Assoziation steht in einem gewissen Widerspruch zum übrigen Neuen Testament, insbesondere zu den paulinischen Briefen, in welchem im Zusammenhang mit Christus nicht vom Geber des Gesetzes, sondern vom Ende des Gesetzes die Rede ist“. 12 H. Weder richtet seine Interpretation der Bergpredigt an paulinisch-reformatorischen Koordinaten 13 aus, welche sich entweder im matthäischen Text wiederfinden oder aber diesen zu kritisieren haben. 14 Mit Dürrenmatt würdigt H. Weder schließlich die Bergpredigt in ihrer qualitativen Differenz zu allen menschlichen großen Reden als singuläre und die menschliche Handlung beendende bzw. relativierende Größe, da hier die Gottesherrschaft anbricht: „Die Gottesherrschaft lebt nicht vom ehrwürdigen Alter. Sie macht das Alte vielmehr neu. Wer von ihr spricht, kann sich nicht auf die Würde der Tradition berufen. Sie bereitet einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Wer von ihr redet, kann sich nicht mit der Brillanz fortschrittlichen Geistes Gewicht verschaffen. Die Vollmacht 10 H. W EDER , Rede, 12. 11 Vgl. U. S CHNELLE , Einleitung in das Neue Testament, 277: „Für die matthäische Ethik ist die Forderung nach dem Tun des Willens Gottes kennzeichnend. […] Die ›bessere‹ Gerechtigkeit erscheint als Voraussetzung für das Eingehen in das Himmelreich (5,20), und sie zeigt sich in einem ethischen Verhalten, das beispielhaft und verbindlich in den Antithesen dargelegt wird“. - Ebenso U. L UZ , Das Evangelium nach Matthäus, 542: „Die Bergpredigt ist Forderung, ‚Imperativ‘. Auch die Seligpreisungen sind keine vor die Forderungen gestellte Gnadenverkündigung. Für Matthäus geschieht in der Verkündigung von Jesu Forderungen Gnade“. 12 H. W EDER , Rede, 17. 13 Vgl. 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik. 14 Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu H. Weders Betonung der hermeneutischen Kategorie des Vernehmens sowie der Bedeutung der Wahrung der Fremdheit des neutestamentlichen Textes, vgl. 9.2.5 Schlüsselbegriffe. <?page no="345"?> 8.1 Überprüfung 345 dieses Redners muß deshalb eine andere sein. […] Diese Rede stützt sich allein auf das, was sie sagt. […] Die Gottesherrschaft sorgt dafür, daß dieser Redner alle anderen Gewichte fahren läßt. So entsteht eine Rede, die sich ganz auf das Gesagte verläßt, eine Rede, deren Redner sich ganz an das Gesagte preisgibt“. 15 Diese Würdigung deckt sich mit der Wort-Gottes-Konzeption in seiner Hermeneutik. 16 V ORBEMERKUNGEN 17 Hier stellt H. Weder verschiedene Interpretationsmodelle zur Bergpredigt dar. 18 Obwohl er jeweils die Stärken der einzelnen Ansätze hervorhebt, weist seine Kommentierung klar auf eine Favorisierung der Konzeption K. Barths hin, im Menschensohn Jesus die vollbrachte Praxis der Bergpredigt zu sehen. Dies zeigt H. Weders Partizipation am Soziolekt der Dialektischen Theologie auf: 19 „Die Bewegung der Feindesliebe lebt also davon, daß der Menschensohn seine Feinde liebte. Und nur weil sie davon zu leben hat, kann sie überhaupt weitergehen. In diesem Sinne ist die Forderung der Bergpredigt ins Nichts aufgelöst, wenn sie von ihrem Erfüller losgelöst wird.[…] Deshalb gilt, daß die Forderung der Bergpredigt getötet wird, wenn ihr die christologische Dimension entzogen wird“. 20 H. Weder betont zugleich mit Barth, dass diese Interpretation den Menschen nicht von der Tat entbinde, sondern erst recht befreie: „Jesus als Erfüller der Bergpredigt macht erst die Tiefe ihres Anspruchs an die Menschen aus […] Dies hat nicht nur Folgen im Blick auf den Inhalt der Forderungen, sondern mindestens ebenso wichtige im Blick auf die Erschaffung gottgemäßen oder lebensgerechten Tuns“. 21 Anschließend reflektiert er explizit die hermeneutische Frage in Bezug auf die Bergpredigt: 15 H. W EDER , Rede, 15. 16 Vgl. 9.2.5 Schlüsselbegriffe, und 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis des Wortes Gottes. 17 H. W EDER , Rede, 17-30. 18 Dies sind im einzelnen die Zweistufenethik, Luthers Regimentenlehre, die gesinnungsethische Interpretation, das Verständnis der Bergpredigt als Interimsethik, das schuldaufweisende Auslegungsmodell und Barths Interpretationsmodell. 19 Vgl. 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der Dialektischen Theologie. 20 H. W EDER , Rede, 30. Vgl. a.a.O., 152: „Es wird festgehalten, daß Jesus nicht zur Auflösung sondern zur Erfüllung des Gesetzes gekommen sei. Unter Erfüllung ist zu verstehen, daß das Gesetz zur Vollendung gebracht wird. Die Lebensintention des Gesetzes wird dadurch zur Erfüllung gebracht, daß dem Tun eine neue Lebensgrundlage gegeben wird. Christus kommt für das neue Gottesverhältnis des Menschen auf, also kann das Gesetz konzentriert werden auf die Lebensverhältnisse. Damit ist der gesetzliche Gebrauch des Gesetzes aufgehoben“. 21 A.a.O., 30. <?page no="346"?> 346 18 Hans Weder: Die „Rede der Reden“ D AS HERMENEUTISCHE P ROBLEM DER F ORDERUNG 22 Die hermeneutische Frage kulminiert für H. Weder in der Thematisierung der Verhältnisbestimmung von Imperativ und Indikativ. Dies ergibt sich aus der ethischen Fokussierung des Auslegungstextes selbst, zum anderen wird damit das erste Relevanzkriterium seiner Hermeneutik antizipiert, welches das Hermeneutikverständnis als göttliche Verhältnisschaffung statt als menschliche Methodik thematisiert. 23 H. Weder lehnt es ab, die paulinische Rechtfertigung pauschal gegen die matthäische Ethik auszuspielen. 24 Vielmehr müsse theologisch geklärt werden, „ob es überhaupt vernünftig ist zu sagen, das neue Sein werde imperativisch ausgesprochen“. 25 H. Weder argumentiert: „Dieses neue Sein also ist Gottes Sache und wird im Glauben wahrgenommen , während das menschliche Handeln diesem neuen Sein entspricht. Mit dem Glauben geht der Mensch auf das Gottesverhältnis ein, mit der Praxis dagegen gestaltet er sein Weltverhältnis“. 26 Diese - vor allem paulinisch-lutherisch entwickelte - Konzeption H. Weders wird im folgenden auf Matthäus kriteriologisch angewendet: „Und die hermeneutisch fundamentale Frage an Matthäus ist, ob er dies auch auseinanderzuhalten wußte“. 27 Dieser Argumentationsfigur entspricht in seiner Hermeneutik die konsequente Ausrichtung der Interpretation am Wort Gottes, wie er es konzeptioniert hat. 28 Die hermeneutische Grundlegung führt zu folgenden möglichen Alternativen: Entweder ist das ursprüngliche Jesuswort als Gotteswort überlieferungsgeschichtlich bei Matthäus bewahrt worden oder es kam zu verzerrenden Umformungen, welche dann vom Wort Gottes aus kritisch zu interpretieren sind. Exemplarisch lässt sich dies an H. Weders Interpretation des Bildes vom Baum mit den guten Früchten zeigen: „In der - ursprünglich vielleicht auf Jesus zurückgehenden - Metapher vom Baum und der Frucht (Lk 6,43-45, Logienquelle) war freilich noch nicht viel von den Früchten (Plural) die Rede. […] Es war noch eine Ahnung davon aufbewahrt, dass 22 A.a.O., 31-33. 23 Vgl. 9.2.6 Relevanzkriterien. 24 H. W EDER , Rede, 31. 25 A.a.O., 32. 26 Ebd. 27 Ebd. Ebenso kann H. Weder von seiner theologischen Position aus kritische Anfragen an die matthäische Ekklesiologie stellen: „Nur wer dieser Gerechtigkeit teilhaftig ist, wird nach V.20 [ = Mt 5, 20] ins Himmelreich eingehen. Ist dies eine Drohung mit dem Ausschluß? Ist es der Versuch, die Kirche zur Entsprechung mit der Gottesherrschaft zu führen? Von Matthäus aus wäre beides denkbar. Die entscheidende Frage an Matthäus lautet aber: Was für Drohungen sind noch möglich, wenn die Liebe in dieser endgültigen Weise das einzig Wahre ist? “, a.a.O., 98. 28 Vgl. 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis des Wortes Gottes. <?page no="347"?> 8.1 Überprüfung 347 das Wirken des Menschen dann und nur dann wächst, wenn der Baum das notwendige Wasser und guten Boden zum Leben bekommt, daß ihm also die Liebe Gottes ins Herz gelegt werden muß, statt daß er eingekerkert wird durch die ständigen Forderungen nach Werken. […] Von alledem ist jedoch bei Matthäus nicht mehr viel zu spüren. Ganz bewußt verändert er die Frucht, die Ganzheit des Wirkens, zu den Früchten, den vereinzelten Werken, auf die der Baum, die Person des Menschen nun festgelegt wird“. 29 Apodiktisch und unmissverständlich formuliert er gegen Ende dieses Gedankengangs: „Werkgerechtigkeit liegt vor, wenn die Früchte den Baum machen.[…] Können meine Werke Gott ungeschehen machen, seine Erschaffung meiner Person vernichten? Es gibt, im Bereich der christlichen Theologie, nur eine Antwort auf diese Frage: Nein. Alle anderen Antworten sind ungetauft. Sie denken die Gnade gar nicht gnädig, sie denken das Geben Gottes gar nicht freigebig, sondern allenfalls als Ergänzung des menschlichen Geizes“. 30 Somit ist H. Weders eigene hermeneutische Positionierung 31 in die Auslegung der Bergpredigt als generelle Anschauung eingetragen, wie auch einige Beispiele aus dem Abschnitt zu den Seligpreisungen zeigen. 32 H. Weder versteht z.B. den Gerechtigkeitsbegriff als von Gott geschenkte und nicht von Gott geforderte Gerechtigkeit: „Wer nach dieser Gerechtigkeit hungert, wird in der Gottesherrschaft gesättigt werden. Das bedeutet: die Gerechtigkeit, nach der er sich sehnt, wird er in der Gottesherrschaft erhalten. Daraus folgt: die Gerechtigkeit ist hier die in der Gottesherrschaft ausgeteilte Gerechtigkeit. Man könnte auch sagen: es ist die Gerechtigkeit, die Gott schafft. Schon daran muß die Auslegung auf ein menschliches Verhalten scheitern“. 33 Weiterhin wird die Seligpreisung derer, die reinen Herzens sind, als Rechtschaffung Gottes ausgelegt: „Das also sind die reinen Herzens. Sie orientieren sich ungeteilt an Gott, der aller Reinheit Schöpfer ist. Sie orientieren sich an dem, der ihre eigene, innere und äußere 29 H. W EDER , Rede, 239. 30 A.a.O., 245. 31 Vgl. insgesamt 14.4 Die kerygmatisch selbstreferentielle Hermeneutik - Hans Weder. 32 Die Missinterpretation der Bergpredigt als gesetzliche Anleitung thematisiert H. Weder weiterhin in der Einzelauslegung, z.B. H. W EDER , Rede, 36, 44f. 33 A.a.O., 64. M.E. interpretiert H. Weder hier den matthäischen Gerechtigkeitsbegriff zu einseitig von der paulinischen Gerechtigkeitskonzeption aus. Vgl. zur Diskussion um dikaiosußnh bei Matthäus F. H AHN , Theologie des Neuen Testaments Bd. I, 536: „Hinsichtlich des dikaiosußnh -Begriffs bei Matthäus ist zu beachten, daß ihn der Evangelist in doppelter, aber eng aufeinander bezogenen Weise verwendet. Er spricht sowohl von der heilsschaffenden Gerechtigkeit Gottes als auch von der geforderten Gerechtigkeit Gottes“. Durchwegs als menschliches Debitum versteht dikaiosußnh bei Mt hingegen G. S TRECKER , Der Weg der Gerechtigkeit, 157f: „Es ist deutlich: An sämtlichen behandelten Belegstellen bezeichnet dikaiosußnh die ethische Haltung der Jünger, eine Rechtschaffenheit, wie sie der wesentliche Gegenstand der Forderung Jesu ist“. <?page no="348"?> 348 18 Hans Weder: Die „Rede der Reden“ Zwiespältigkeit überwindet. Ihnen gilt das Versprechen, daß sie Gott schauen werden“. 34 Die Auslegung der Seligpreisung der Friedensstifter wird durch die Bemerkung orientiert, dass sich „[b]esonders im alttestamentlichen Denken […] die Einsicht gebildet [hat], daß dieses Herauskommen des Menschen über das Böse eigentlich nur ein Herausgebrachtwerden durch Gott sein kann“. 35 Insgesamt betont H. Weder „die Unbedingtheit, mit der hier [in den Seligpreisungen] Arme, Trauernde, Kranke zusammengebracht werden mit der Gottesherrschaft. Die Unbedingtheit entspricht der Tatsache, daß die Seligpreisungen an nichts anknüpfen. Sie setzen weder eine bestimmte gottgemäße Aktion noch eine bestimmte Einstellung voraus. Sie setzen nichts anderes voraus als die Lage, in der sich die Angesprochenen faktisch befinden“. 36 An diesen Gedanken knüpft H. Weder in seiner Hermeneutik an, wenn er von der faktischen Verfasstheit der Welt als ‚praeparatio evangelica‘ spricht 37 und jede Form eines anthropologischen Anknüpfungspunktes ablehnt 38 . E IN W ORT ZUR E NTSTEHUNGSGESCHICHTE DER B ERGPREDIGT 39 Dieser letzte Abschnitt der Vorbemerkungen, welcher die überlieferungsgeschichtlichen Stationen skizziert, weist vor allem auf H. Weders Partizipation am historisch-kritischen Soziolekt hin. 40 Daraufhin interpretiert er die Texte i.d.R. zuerst auf einer rekonstruierten Jesus-Stufe und dann auf der Matthäus-Stufe. 41 W EITERE B EOBACHTUNGEN ZU DEN E INZELAUSLEGUNGEN 42 H. Weders sprachphilosophische Positionierung, Sprache als wirkmächtiges Geschehen zu begreifen 43 , wird in der Interpretation der Seligpreisungen als Sprechakte deutlich: 34 H. W EDER , Rede, 74. 35 A.a.O., 75. 36 A.a.O., 81. 37 HWe 107. 38 Vgl. 9.2.5 Schlüsselbegriffe. 39 H. W EDER , Rede, 33f. 40 Vgl. 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft. 41 Besonders H. W EDER , Rede, 81-84, ferner 47, 50, 56, 63, 65, 99-102, 118f, 136, 206f (vgl. auch das Faltblatt zur Überlieferungsgeschichte im hinteren Einband seines Buches). 42 H. W EDER , Rede, 34-251. 43 Vgl. 9.2.7 Rückschlüsse auf Soziolekte, Der sprachphilosophische Soziolekt und 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zur Literaturtheorie. <?page no="349"?> 8.1 Überprüfung 349 „In dem Verhältnis, das dieser Sprecher [Jesus] zu diesen Armen eingeht, bricht für sie die Gottesherrschaft ins Jetzt herein. Dieser Zuspruch ist ein Sprechakt, der die Gottesherrschaft im Jetzt zum Ereignis macht“. 44 H. Weders dialektisch-theologische Wort-Gottes-Konzeption 45 fungiert als entscheidende Argumentationsfigur in Bezug auf die Substitution des Gesetzes durch Jesus Christus: „Er [Jesus Christus] beansprucht offenbar, den Willen Gottes gerade auch gegen das Gesetz zum Ausdruck zu bringen. Er beansprucht, Gottes Wort zu sagen (genauso wie im Gesetz Gottes Wort zu vernehmen ist für die, die Ohren haben zu hören)“. 46 Die theologische Pointe seiner Hermeneutik, die Metapher vom Fremden Gast, findet sich auch in H. Weders Auslegung zu Mt 5,27-30, der Antithese zum Ehebruch und zum bösen Blick. H. Weder wertet deren Fremdheit auf, in der sie unseren gesellschaftlichen Konventionen entgegensteht. Hier kehrt das Motiv vom Gegensatz zwischen neutestamentlicher Rede und neuzeitlichem Wirklichkeitsverständnis wieder. 47 Er stellt fest: „die Sätze sind dermaßen rigoros, daß sie auf jeden Fall eine Provokation bedeuten für jeden vernünftigen Menschen“. 48 Auf der Basis dieser Diastasenbildung konstruiert H. Weder Fragen, welche durch Mt 5,27-30 evoziert und an das moderne Beziehungsverständnis gerichtet werden. H. Weder schließt mit einer Bemerkung, welche exakt der Programmatik 49 seiner Hermeneutik entspricht: „Solche und viele Fragen könnten wir uns stellen lassen, würden wir diesen fremden Gast [d.h. das Wort Gottes, hier konkret die Rede über den Ehebruch] aufnehmen bei uns“. 50 Die Konzeption der Neutestamentlichen Hermeneutik als Verhältnisschaffung zwischen Gott und Mensch durch Gottes Wort findet sich in der Auslegung der Bergpredigt vor allem im Gedankengang zur Vater-Anrede des Vater Unsers wieder. 51 Die Vater-Anrede Gottes drückt die Überwindung der Distanz aus, welche dem christlichen Beter zukommt 52 und dieses neue Gottesverhältnis schafft Raum, auf eine bisher unbekannte Art, Kinder Gottes sein zu können. 53 44 H. W EDER , Rede, 48, vgl. auch 81f. 45 Vgl. 9.3.2 Überlappung mit anderen Diskurssträngen, Diskursstrang zum Verständnis des Wortes Gottes. 46 H. W EDER , Rede, 100. 47 Vgl. 9.2.1 Dualismen, Erster Dualismus. 48 H. W EDER , Rede, 116. 49 Vgl. HWe 427-435 und 14.4 Die kerygmatisch selbstreferentielle Hermeneutik - Hans Weder. 50 H. W EDER , Rede, 117. 51 A.a.O., 176-179. 52 A.a.O., 176. 53 A.a.O., 176. Vgl. zur Raummetapher: „Wir haben auszugehen davon, daß der nicht vernichtende Gott die Liebe ist. Zum Wesen der Liebe gehört, dass sie sein läßt, daß sie Raum schafft, unbegrenzten Raum“, a.a.O., 192. <?page no="350"?> 350 18 Hans Weder: Die „Rede der Reden“ Hans Weder beendet seine Deutung der Bergpredigt noch einmal mit einer abschließenden Warnung vor der Gesetzlichkeit: „Wir stehen fortwährend in der Gefahr, diese Rede erneut zum Gesetz zu machen; uns erneut als Schriftgelehrte zu gebärden, die eben ein anderes Gesetz haben, aber dennoch ein Gesetz“. 54 18.2 Fazit der Überprüfung Besonders hervorstechend ist in H. Weders Auslegung der Bergpredigt der Soziolekt der reformatorischen Dogmatik, der eine an der lutherischen Soteriologie orientierte Textauslegung anstrebt. In Zusammenhang damit ist der Soziolekt der Dialektischen Theologie von entscheidender Bedeutung, denn mit ihm betont H. Weder die Singularität und Nonkonformität der Bergpredigt und führt das Wort Gottes als Kriterium der Schriftaussagen an. Der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft arbeitet anhand der Scheidung verschiedener überlieferungsgeschichtlicher Stadien der Aufteilung in Jesus(-naher) Heilsverkündigung und eventueller matthäischer Umformung zu. Damit ist der historisch-kritische Soziolekt hier wie auch in H. Weders Neutestamentlicher Hermeneutik methodisch zwar präsent, zugleich jedoch dem theologischen Interpretationsvorgang untergeordnet. Der sprachphilosophische Soziolekt findet sich vor allem in der Beschreibung der Seligpreisungen als Sprechakte wieder. Und der praktisch-theologische Soziolekt zeigt sich generell in H. Weders Konzeptionierung einer aktuellen und lebensnahen Deutung der Bergpredigt. 54 A.a.O., 251, vgl. 9.2.1 Dualismen, Dritter Dualismus. <?page no="351"?> Rückblick <?page no="353"?> 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick Im Rahmen dieser Untersuchung habe ich vier neutestamentlich-hermeneutische Entwürfe eines definierten Zeit-Raums 1 in Propositionen 2 , ideologische Strukturen 3 und diskursive Verschränkungen 4 aufgelöst, im Vergleich interpretiert und als Profile wieder zusammengesetzt 5 sowie anhand exegetischer Texte der selben AutorInnen überprüft. 6 Neben einigen Konvergenzen wurden dabei vor allem die Differenzen und gegenseitigen Ausschließungen der vier Interpretationsmodelle deutlich. Im hermeneutisch-neutestamentlichen Diskursstrang repräsentieren diese vier Entwürfe realisierte Möglichkeiten der Schriftinterpretation. Sie selbst sehen sich jedoch vorwiegend als exklusive Leseanleitungen zum Neuen Testament bzw. zur Bibel insgesamt. Ideologiekritik und Diskursanalyse interpretierten diese Theorien des Verstehens als Ideologien des Verstehens, gespeist aus einem Netzwerk sozio-kulturell beschreibbarer Interessen und diskursiver Praxen. Welche Relevanz können die Untersuchungsergebnisse - über die archäologische Inventarisierung eines bestimmten Debattensegmentes hinaus - für die gegenwärtige Diskussion zur Schriftauslegung haben? Anhand von drei Leitkategorien möchte ich hierzu Lösungsvorschläge aufzeigen: Dies ist erstens die Perspektivität als Einsicht in die spezielle und zumeist von anderen Verstehenswegen zu unterscheidende Konstruktion des Verstehens. Dies ist zweitens die Pluralität als Einsicht in die Gleichzeitigkeit und mögliche Gleichwertigkeit unterschiedlicher Verstehenswege. Dies ist drittens die Diskursivität als Einsicht in eine sehr weitreichende Abhängigkeit konkreter Verstehenskonstruktionen von vorgegebenen diskursiven Kräfteverhältnissen. 19.1 Perspektivität Zunächst deckt die Zusammenschau der vier Ansätze in ihrer ideologiekritischen und diskursanalytischen Auflösung die radikale Perspektivität hermeneutischer Bemühungen auf. 7 Verstehen und ebenso die Konstruktion von 1 Vgl. 1.4 Kontexte des Verstehens. 2 Vgl. 6.1; 7.1; 8.1 und 9.1 Allgemeine Textanalyse. Textinhalt - Wertung - Pragmatik. 3 Vgl. 6.2; 7.2; 8.2 und 9.2 Ideologiekritische Untersuchungen. 4 Vgl. 6.3; 7.3; 8.3 und 9.3 Diskursanalytische Untersuchungen. 5 Vgl. Teil C Diskurskritik. Auswertung der Untersuchungen im synoptischen Vergleich. 6 Vgl. Teil D Überprüfung der Untersuchungsergebnisse an exemplarischen Texten der vier AutorInnen. 7 Der Gedanke der Perspektivität wurde zuerst in der Malerei der Renaissance gebräuchlich, um die optische Gestaltung von Bildeindrücken zu organisieren. In der <?page no="354"?> 354 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick Verstehensmodellen sind partielle Deutungsprozesse, die nicht einfach wirklichkeitsidentisch sind. „Deuten wir die Wirklichkeit? “, fragt Peter Schulthess 8 und sieht zwei grundsätzlich alternative Antwortmöglichkeiten. Entweder: „Es gibt nur eine Wirklichkeit und viele Deutungen davon“, oder: „Es gibt viele Deutungen und viele Wirklichkeiten“. 9 Beide Antwortmöglichkeiten unterliegen jeweils selbst bestimmten Wirklichkeitsmodellen, die erste dem universalistischen - die zweite dem nominalistischen bzw. konstruktionistischen 10 Typus. Nach Schulthess liegt die Lösung der Verhältnisbestimmung von Deutung und Wirklichkeit in einem gemäßigten Konstruktivismus: „Was Wirklichkeit […] ist, hängt notwendig von der Deutung […] ab. Was Wirklichkeit ist, ist aber nicht willkürlich, sondern ist relativ zu dem in der Deutung als Beschreibung gewählten Verfahren, welches eine Praxis ist, die mit Welt arbeitet und also nicht weltunabhängig ist. Wer alle gedeuteten Wirklichkeiten auf eine reduzieren will, hat nicht verstanden, daß dieser Reduktionismus keinen Sinn macht“. 11 Die Beziehung zwischen Deutung und Wirklichkeit lässt sich demnach als ein reziprokes Wechselspiel verstehen. Deutungen speisen sich aus dem Reservoir weltlicher Vorfindlichkeit in Abhängigkeit zu deren methodengeleiteten und erfahrungsbezogenen Aneignungen. Dabei formieren/ orientieren/ bilden Deutungen jeweils neue perspektivische Wirklichkeiten in Differenz zu anderen perspektivischen Wirklichkeiten. 12 Alles Denken und Han- Philosophie seit der Aufklärung wird die Perspektivität vor allem zur Beschreibung erkenntnistheoretischer Probleme verwendet. „In der Strömung des Perspektivismus (F.W. Nietzsche; J. Ortega y Gasset) spiegelt sich schließlich die Auffassung wider, daß die Erkenntnis der Welt immer von der Perspektive des Betrachters abhängt. Damit wird die Möglichkeit einer subjektunabhängigen und allgemeingültigen Wahrheit verneint und der lange dem Begriff zugrundegelegte Subjekt-Objekt-Dualismus zugunsten des wahrnehmenden Subjekts, das seine Wirklichkeit selbst schafft, aufgehoben“, C. S URKAMP , Art. Perspektive, 520. Siehe ausführlich F. K AULBACH , Philosophie des Perspektivismus. 8 P. S CHULTHESS , Deuten wir die Wirklichkeit? , 55. 9 Ebd. 10 Ich unterscheide ‚konstruktionistisch‘ als allgemeine Beschreibung einer antipositivistischen und antimetaphysischen Haltung von dem speziellen Typus der ‚konstruktivistischen‘ Schulbildung. 11 P. S CHULTHESS , Deuten wir die Wirklichkeit? , 78. Schulthess bezieht sich hierbei auf H. P UTNAM , The Many Faces of Realism, 20. 12 G. F IGAL , Der Sinn des Verstehens, 21-31 klassifiziert das Verstehen in drei nicht miteinander harmonisierbare Grundmodelle. Leittypen sind die Konzeptionen von Hans- Georg Gadamer, Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin. Alle drei Verstehensmodelle haben nach Figal ihr Recht: „Das Verstehen wird also seinem Wesen nach auf mehrfache Weise zur Sprache gebracht. Auch darin erweist es sich als begrenzte Vernunft - vielleicht sogar darin vor allem. Durch die Pluralität ihrer Gestalten, die sich nicht in eine übergreifende Einheit aufheben läßt, sind nämlich der Vernunft immanente Grenzen gesetzt; Grenzen, die zu überschreiten sie nicht versuchen kann, ohne die Erfahrung zu machen, wie sie sich selbst dabei in bestimmten Hinsichten entgeht“, a.a.O., 30f. <?page no="355"?> 19.1 Perspektivität 355 deln ist somit interpretationsimprägniert, denn wir sind nicht in der Lage, etwas uninterpretiert zu erfassen, zu konzipieren und zu ordnen. Insofern „verliert die Wahrheitsfrage ihre traditionelle Spitzenstellung zugunsten der Interpretationsproblematik“. 13 Christoph Schwöbel spricht daher zutreffend von der Interpretationsgesellschaft. 14 Die perspektivische Deutung im Bereich der Neutestamentlichen Hermeneutik lässt sich in zwei Richtungen weiter präzisieren. Hier geht es vorrangig nicht um die Erkenntnis von Lebenswelten oder die Dechiffrierung komplexer Kulturen als Texte 15 , sondern um die Erfassung/ Auslegung/ Interpretation von konkret-vorliegenden Schrifttexten. Ich differenziere daher die perspektivische Deutung der Neutestamentlichen Hermeneutik weiter in die Richtungen Textreferenz und Standort der Textauslegung: Eine Hermeneutik des Neuen Testaments kann nicht ohne ein konkretes referentielles Verhältnis zum neutestamentlichen Bezugstext konstituiert werden - gleichgültig, ob diese Verhältnisbestimmung eigens zum Thema gemacht oder als selbstverständlich vorausgesetzt wird. In der Charakterisierung der vier hermeneutischen Profile habe ich deren unterschiedliche textreferentielle Proprien anhand der Leitbegriffe ‚vermittelnd‘ - ‚autonom‘ - ‚orientiert‘ - ‚selbstreferentiell‘ beschrieben. 16 Diese spezifische Textreferenz resultiert aus partikularen Standorten der Textauslegung. Es ist nicht unerheblich, ob jemand eine Hermeneutik zur Bibel als männlicher und evangelischer Ex- Katholik verfasst, der gerade seine monastisch-spirituellen Wurzeln neu entdeckt - oder als Feministin in den Kämpfen zwischen U.S.-amerikanischen Neokonservativen und Radikalfeministinnen - oder als auf Versöhnung zielender Theologe zwischen den Fronten pietistischer und moderner Kirchlichkeit - oder als dialektischer Theologe in der reformierten Schweiz. Divergierende Kontexte speisen sich aus der Fülle ständig neuer Perspektiven. Die Entstehung solch verschiedener Kontexte als Auslegungsstandorte ist prinzipiell unabschließbar - m.E. verstärkt die gesamtgesellschaftliche Parzellierung, welche die globale Uniformierung als Gegenbewegung be- 13 G. A BEL , Zum Wahrheitsverständnis jenseits von Naturalismus und Essentialismus, 328. - Vgl. G. V ATTIMO , Die nihilistische Berufung der Hermeneutik, 31: „[B]isher haben die Philosophen geglaubt, die Welt zu beschreiben, jetzt kommt es darauf an, sie zu interpretieren“. 14 C. S CHWÖBEL , Gnadenlose Postmoderne? , 422: „In der Vielfalt der Interpretationen unserer gesellschaftlichen Lage zeigt sich, daß unsere Gesellschaft, was immer sie sonst noch ist, vor allem eine Interpretationsgesellschaft ist, eine Gesellschaft, die sich ihre Situation in immer wieder neuen Deutungsversuchen aus den unterschiedlichsten Perspektiven vor Augen stellt und verständlich zu machen sucht. Das allein schon deutet darauf hin, daß uns in unserer gesellschaftlichen Situation immer weniger von selbst verständlich ist. Der Verlust der Selbstverständlichkeit ist der Hintergrund der deutenden Daueranstrengung in der Interpretationsgesellschaft. Wir interpretieren unsere Welt dauernd und wir interpretieren sie dauernd neu“. 15 Siehe vertiefend R. P OSNER , Kultur als Zeichensystem; D. B ACHMANN -M EDICK (H G .), Kultur als Text. 16 Vgl. 14. Das spezielle Profil der vier hermeneutischen Ansätze. <?page no="356"?> 356 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick gleitet, diesen Prozess. 17 Versteht man die neutestamentlich-hermeneutische Debatte in ihrer Heterogenität vor allem aus zeit-, raum- und milieubedingten Entstehungskontexten heraus, wie ich es in meiner Untersuchungsmethodik vorausgesetzt habe, dann lässt sich der gesellschaftliche Diversifizierungsprozess auch dort wieder finden. Der Perspektivitätsgrad des einzelnen Textdeuters/ der einzelnen Textdeuterin wird sich folglich weiterhin erhöhen. 18 Die konkreten Auslegungsstandorte der vier hermeneutischen Entwürfe habe ich besonders in der Suche nach Soziolektpartizipationen in der Ideologiekritik, der diskursiven Verschränkung in der Diskursanalyse sowie der Bestimmung der Institutionsbezüge in der Diskurskritik zu beschreiben versucht. M.E. sollten deshalb nicht nur spezifische Korrelationshermeneutiken, wie feministische, lateinamerikanische oder schwul/ lesbische Bibeldeutungen als kontextuelle Hermeneutiken verstanden werden, denn jeder hermeneutische Ansatz kann von seinem konkreten Entstehungsraum, inklusive seiner spezifischen Referenzgesellschaft, erfasst und (re-)interpretiert werden. 19 Die Wirkung dieser kontextuellen Bedingungen konnte besonders die Überprüfung der hermeneutischen Profile veranschaulichen. 20 Alle vier Überprüfungen zeigten eine intensive Interdependenz von exegetischer Bedeutungsrekonstruktion und eisegetischer Interpretation. 21 Das jeweilige 17 Vgl. K.P. M ÜLLER , Art. Moderne, 467f: „Die Gegenwart hört auf, ein abgrenzbarer Fixpunkt zu sein. Vielmehr erscheint sie als Fülle ständig neuer Perspektiven. Wahlmöglichkeiten ergeben sich durch die Öffnung und Differenzierung der Gesellschaft, die dem einzelnen seine Rolle nicht mehr verbindlich vorschreibt, sondern persönlicher Entscheidung und Qualifikation überlässt. […] Alle Versuche, die Widersprüchlichkeit, Zwiespältigkeit, Relativität und Multiperspektivität der M[oderne]. zu überwinden, erscheinen als verzweifelte Bemühungen, das Leiden an der modernen Vielfalt und Eigenverantwortung im Leben zu beseitigen“. 18 Das Phänomen der Kulturdifferenz lässt sich daher m.E. nicht mehr nur unter der Fragestellung nach der Erkennbarkeit homogener fremder Kulturen verstehen, wie dies in der traditionellen philosophischen Hermeneutik und der Ethnologie anzutreffen ist, vgl. die Darstellung bei W. K OGGE , Die Grenzen des Verstehens, besonders 25ff und 121ff. Ein perspektivischer Kulturbegriff muss vielmehr bei den Differenzen innerhalb beobachteter Gesellschaften einsetzen und das Neben- und Ineinander verschiedener Lebenswelten bedenken. Siehe vertiefend M. F UCHS , Der Verlust der Totalität, besonders 29-42. 19 Vgl. hierzu das Plädoyer von W. D IETRICH / U. L UZ , Einführung, 10: „Was darum Not tut, ist kontextuelle Bibellektüre und kontextuelle Bibelhermeneutik. […] Das Fremde wird jeweils von einem gegebenen Lebenshintergrund aus wahrgenommen und muss, soll es zu wirklichem Verstehen kommen, in diesen Lebenshorizont eingezeichnet werden. […] Also ereignet sich Interpretation von Texten, auch von biblischen, immer in doppelter Kontextualität: der damaligen und der heutigen. Nur eben: westliche Bibelwissenschaft ist sich dessen viel zu wenig bewusst“. 20 Teil D Überprüfung der Untersuchungsergebnisse an exemplarischen Texten der vier AutorInnen. 21 Die Differenzierung von Bedeutung und Interpretation hat ihr Recht in der Unterscheidung von Referenztext und eigener Interpretation, denn der kommentierende <?page no="357"?> 19.2 Pluralität 357 hermeneutische Profil gab aufgrund seiner ihm eigenen Prioritätensetzungen die konkreten erkenntnisleitenden Fragestellungen vor und agierte dazu mit den passenden methodischen Feinoperationen. Methoden führen demnach, sollte man diese Beobachtung generalisieren wollen, nicht zu einer objektiven Textrekonstruktion, sondern im geglückten Fall zu einer intersubjektiven Nachprüfbarkeit der eigenen perspektivischen Thesen, im weniger glücklichen Fall zur Verdeckung der jeweiligen Auslegungsinteressen. Deshalb ist die Einsicht in die radikale Perspektivität unseres Verstehens von zentraler hermeneutischer Relevanz für den Deutungsvorgang neutestamentlicher Texte und sollte nicht durch die Idee einer essentialistischen Methodenobjektivität unterwandert werden. 22 Neben der erkenntnistheoretischen Problemlage, welche durch den Gedanken der Perspektivität verschärft zum Tragen kommt, darf allerdings deren innovative Funktion nicht verschwiegen werden: Erst die Perspektivität ermöglicht den Streit unterschiedlicher Positionen als einen produktiven Konflikt der Interpretationen. 23 19.2 Pluralität Der Gedanke der Perspektivität, wie er sich aus der Zusammenschau der vier untersuchten neutestamentlich-hermeneutischen Profile ergeben hat, führt zu der Frage nach dem Umgang mit der Pluralität von Schriftdeutungen. Lässt sich die Pluralität eingrenzen bzw. lassen sich bestimmte Lösungsansätze als normativ ausgeben? Christoph Dohmen stellt in seiner kleinen Einführung zur Schrifthermeneutik Die Bibel und ihre Auslegung die Frage „Gibt es richtige oder falsche Auslegungen? “ 24 und verweist auf Umberto Ecos Reflexion zur Limitierung möglicher Auslegungen in Die Grenzen der Interpretation 25 . Ecos Reduktionsversuch akzeptabler Deutungen muss auf dem Hintergrund der Entgrenzung des Textbegriffs im Poststrukturalismus gesehen werden. Hatte Eco sich einst selbst mit seinen Thesen des offenen Kunstwerkes quer zur struk- Sekundärtext bildet einen zweiten unterschiedenen Text. Die Differenzierung greift allerdings dort zu kurz, wo die Textinterpretation von einer zuvor geleisteten Bedeutungs(re)konstruktion unterschieden werden soll. 22 Vgl. W. E GGER , Methodenlehre zum Neuen Testament, 13: „Jede Methodenlehre ist eine Anleitung zum rechten Verstehen der Texte“. Weiterhin geht Egger davon aus, dass durch selbstreflexive Methodenschritte wie der Satzzeichen-Methode oder der Erlebnisanalyse eine „Objektivierung des ersten Textverständnisses“ erzielt werden kann, a.a.O., 60. - E.-M. B ECKER , Der Exeget und seine Exegese, beschreibt daher m.E. zutreffend die Person des Exegeten nicht anhand der Polarität von Subjektivität und Objektivität, sondern im Spannungsfeld von „Individualität bzw. Subjektivität und Intersubjektivität“, a.a.O., 217. 23 Vgl. 3.4.1 Die Ambivalenz von Ideologien. 24 C. D OHMEN , Die Bibel und ihre Auslegung, 39. 25 U. E CO , Die Grenzen der Interpretation. <?page no="358"?> 358 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick turalistischen Doktrin gestellt und in Hinblick auf die Beteiligung der Rezipienten die Offenheit von Zeichensystemen betont 26 , geschieht in Die Grenzen der Interpretation eine Rückwendung zur Erfassung und Beschreibung des wörtlichen Sinns von Texten. Eco klassifiziert drei unterschiedliche Intentionstypen bei der Textinterpretation, die intentio auctoris, die intentio operis und die intentio lectoris. 27 Nach Ecos Ansicht propagiere der Dekonstruktivismus eine unhaltbare Autorisierung der Leserschaft, also der intentio lectoris auf Kosten der Texte, welche lediglich als „bloße[r] Stimulus für die Willkür der Interpretation“ dienten. 28 Gegen solch ein entgrenztes Spiel um Bedeutungen unternimmt Eco deshalb seine „Verteidigung des wörtlichen Sinns“. 29 Zwar gesteht Eco ein, dass es unmöglich ist, die Richtigkeit einer Interpretation eindeutig zu erweisen, aber von der idealtypischen intentio operis aus sei es durchaus möglich, manche Interpretationen als Missdeutungen zu etikettieren. Interpretationen ließen sich demnach zwar nicht verifizieren, wohl aber falsifizieren. 30 Ecos Zähmungsversuch des poststrukturalistischen Spiels zwischen Bedeutungsnegierung und Bedeutungsvervielfältigung stellt eine kritische Antwortmöglichkeit auf die Herausforderungen einer dem Pluralismus geöffneten Textauslegung dar. Auf den ersten Blick arbeitet er den klassischen Bibelwissenschaften zu, wenn sich diese primär als historisch-kritisch (intentio auctoris) und linguistisch-strukturalistisch (intentio operis) arbeitende Textwissenschaften verstehen. Nach Dohmen muss sich daher jede biblische „Auslegung […] an dem, was der Text - in einem einfachen/ wörtlichen Sinn - sagt, messen lassen“. 31 Ich betrachte solche Normierungsstrategien skeptisch. Denn sie unterbestimmen nicht nur die faktische Perspektivität, sondern sie ignorieren auch die unhintergehbare Subjektivität im hermeneutischen Geschehen sowie die Institutionsbedingtheit solcher Normierungen. Ich nenne hierzu drei m.E. wesentliche Aspekte: I.) Was ein Text sagt, ist oftmals gerade umstritten und bleibt von den jeweiligen Deutungsparametern abhängig. 32 Die Konstruktion des Textsinns 26 Ders., Das offene Kunstwerk und ders., Lector in fabula. 27 Ders., Die Grenzen der Interpretation, München/ Wien 1992, 35ff. 28 A.a.O., 39. 29 A.a.O., 40. 30 A.a.O., 51. 31 C. D OHMEN , Die Bibel und ihre Auslegung, 42. 32 So auch A. S PREE , Kritik der Interpretation, 213: „Richtig ist, daß manche Textauslegungen umstrittener sind als andere; es gibt eben ‚gemäßigte‘ (oder traditionelle) und ‚extreme‘ Interpretationen. Allerdings kann eine Beurteilung der Umstrittenheit nach differenzialistischer Auffassung immer nur unter Rekurs auf die Voraussetzungen und den Kontext der betreffenden Interpretation erfolgen, und nicht unter Rekurs auf vermeintlich invariante Merkmale des Textes, die eine und nur eine Art der Interpretation erzwingen würden“. - Anders U.H.J. K ÖRTNER , Perspektiven Hermeneutischer Theologie, 264 setzt voraus, „daß jenseits der Alternative eines unverrückbar feststehenden Textsinnes und seiner radikalen, dekonstruktivistischen Bestreitung, d.h. jenseits der Al- <?page no="359"?> 19.2 Pluralität 359 ist - aufgrund unterschiedlicher Deutungskontexte - nicht einfach vorgegeben, sondern muss stets neu unternommen werden. II.) Weiterhin zeigt insbesondere der Ansatz von E. Schüssler Fiorenza, dass eine wie auch immer zu ermittelnde Sache des Textes nicht die einzige Möglichkeit darstellt, Texte zu interpretieren. Dies hängt wiederum von konkreten perspektivischen Relevanzkriterien ab. III.) Schließlich können Methoden die intersubjektive Kommunikation innerhalb der Produktion von Deutungen lediglich unterstützen. Sie geben aber keine Garantie für Objektivierungen ab. 33 Damit bleibt das Bemühen nach dem, was (auch) neutestamentliche Texte bedeuten, weiterhin unabschließbar aufgegeben, die Interpretation ist prinzipiell zeitlich nach vorne offen. Dies gilt für thematische Querschnitte 34 ebenso wie für einzelne Textpassagen 35 und insgesamt für die Frage nach dem inneren Organisationszentrum des Neuen Testaments bzw. der Bibel im Ganzen 36 . Mit der konsequenten Bejahung einer pluralistischen Exegese verlieren die institutionalisierte akademische Bibelwissenschaft insgesamt sowie einzelne kanonisierte Methoden der historischen Kritik ebenso wie eine dogmatisch-kirchliche Auslegung ihre monopolartige Deutungshoheit über die biblischen Texte. Die wissenschaftliche Exegese öffnet sich so der heterogenen Vielfalt von Textdeutungen 37 und wird in den vielstimmigen ternative von intentio auctoris oder intentio lectoris jedem Text eine gegenüber beiden autonome intentio operis innewohnt“. 33 S. A LKIER / R. B RUCKER weisen in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Bandes Exegese und Methodendiskussion, IX-XIX, darauf hin, dass auch die exegetischen Methoden auf expliziten bzw. impliziten Axiomen beruhen. 34 Ich denke hier beispielsweise an die Einschätzung des Sklavenphänomens bei Paulus oder das Verhältnis von Soteriologie und Ethik im Matthäusevangelium. 35 Ich verweise hier nur auf die unterschiedlichen Deutungen zu Röm 13,1-7. 36 Vgl. M. M URRMANN -K AHL , Strukturprobleme moderner Exegese, 18: „Die Einheitsstiftung der neutestamentlichen ›Theologie‹ kann nicht als gelungen gelten, weil Anspruch und Verbindlichkeit nicht durch die Texte selbst, sondern durch neuzeitliche Substitute garantiert werden“. - Der systematische Theologe R. L EONHARDT , Unklarheit über die Klarheit der Schrift, 177 fordert grundsätzlich „von jener bis heute in der protestantischen Dogmatik vertretenen Auffassung Abstand zu nehmen, nach der die Erkenntnis einer Sinnmitte der Schrift aus den biblischen Texten als solchen gewonnen werden kann und nicht auf menschlicher Konstitutionsleistung beruht“ (im Original kursiv). 37 Vgl. beispielsweise S. K LINGER , Status und Geltungsanspruch der historisch-kritischen Methode in der theologischen Hermeneutik. Klinger schlussfolgert in Bezug auf die Auferstehungserzählungen im Neuen Testament: „Angesichts […] des in theologischhermeneutischer Hinsicht völlig unbefriedigenden Ertrags historisch genetischer Positionen erscheint es kaum sinnvoll, am Deutungsmonopol der historisch-kritischen Methode im Blick auf die Ostertexte festzuhalten, noch ist es hilfreich, den drohenden Verlust dieses Deutungsmonopols dadurch abzuwenden, dass eine Lösung der mit dem christlichen Osterbekenntnis aufgeworfenen hermeneutischen Probleme im zirkulären Bedingungsverhältnis von normativem Geltungsanspruch der Tradition, kritischem Methodenbewußtsein und beanspruchter historisch-hermeneutischer Vermittlung der Osterbotschaft auf der Basis eines gegenüber dem geltenden Geschichts- <?page no="360"?> 360 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick Chor unterschiedlicher Interpretationsarten eingereiht 38 . Zugleich muss solch eine dem Pluralismus geöffnete Exegese keineswegs eine Absage an historisches Arbeiten bedeuten. Im Gegenteil ermöglicht gerade eine pluralistische Bibelauslegung unter den Prämissen der Postmoderne einen - wenn man so will - radikalisierten Historismus: Denn nicht mehr reduziert sich die geschichtliche Frage einseitig auf die Entstehungssituation der biblischen Texte, wie dies bislang die zentrale Aufgabe der Bibelwissenschaft unter dem historisch-kritischen Paradigma war. Eine pluralistische Exegese, die sich der eigenen kulturellen Determiniertheit bewusst ist, kann auch die Faktoren der eigenen Textrezeption reflektieren. Eckart Reinmuth plädiert angesichts des konstruktionistischen Charakters jeder Geschichtsschreibung für eine noch konsequentere Analyse des eigenen historischen Kontextes. 39 Ebenso habe ich ideologiekritisch und diskursanalytisch vorausgesetzt, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen der Wissensproduktion erheblich auf die hermeneutischen Verstehensvollzüge auswirken. Diese Prämisse verabschiedet nun das Modell einer einseitig historistisch-modernen Exegese im Zeichen von Aufklärung, Historismus und Positivismus, welche den statisch-objektiven Textsinn zu erfassen suchte. Denn jede Textdeutung - also auch die akademisch-wissenschaftliche Exegese - ist in ihren konkreten exegetischen VertreterInnen ideologisch vorgeprägt. Eine intersubjektiv kommunikable Exegese hat dies offen zulegen. 40 Im U.S.-amerikanischen Kontext haben die zehn ExegetInnen des ‚Bible and Culture Collective‘ das Projekt postmodern-reflektierter pluralistischer Textdeutung konsequent auf die Bibellektüre angewendet. 41 Sie beziehen sich auf François Lyotards Postmoderneverständnis 42 und formulieren unter begriff moderner Historie modifizierten Geschichtsverständnisses angestrebt wird“, a.a.O., 316. 38 Vgl. zur Pluralität gegenwärtiger Auslegungsmethoden H.K. B ERG , Ein Wort wie Feuer; M. O EMING , Biblische Hermeneutik; G. T HEISSEN , Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. 39 E. R EINMUTH , Diskurse und Texte, 92: „Die geschichtliche Rückfrage ist noch konsequenter zu stellen, indem sie der Geschichtlichkeit der Texte und ihrer Sprachen, also ihrer historischen Kontextualität, Rechnung trägt, und indem sie die Prozessualität ihrer Bedeutungszuschreibung verfolgt“. 40 Dies betont vor allem die U.S.-amerikanische ‚cultural exegesis‘. Vgl. B.K. B LOUNT , Introducing Cultural Exegesis, 78: „Every exegesis is a reading that is influenced by the cultural position and perspective of the exegete; […] In cultural exegesis the reader does not find meaning in a text; he/ she makes meaning. […] All exegesis, then, is interpretation, and all interpretation is cultural“; siehe auch ders., Kulturelle Interpretation; D. B RAAKE , Cultural Theory. 41 T HE B IBLE AND C ULTURE C OLLECTIVE , The Postmodern Bible. Dem ‚Bible and Culture Collective‘ gehören an: G. Aichele, F.W. Burnett, E.A. Castelli, R.M. Fowler, D. Jobling, S.D. Moore, G.A. Phillips, T. Pippin, R.M. Schwartz und W. Wuellner. 42 A.a.O., 9: „Among the many critics attempting to make sense of the postmodern condition, Jean-François Lyotard has helped us to shape and refine our own understanding of the postmodern and its implications for biblical studies“. <?page no="361"?> 19.2 Pluralität 361 Anerkennung des Endes der großen Meta-Erzählungen ihre jeweils eigene Perspektive positionell, nicht jedoch exkludierend. 43 Dabei partizipieren sie an der poststrukturalistischen Texttheorie, wonach die Bedeutung eines Textes nicht textimmanent ist, sondern erst im Spiel um die Macht divergierender Herrschaftsansprüche konstituiert wird. 44 Ihre Publikation mit dem Titel ‚The Postmodern Bible‘ erschien nicht als Buch einer namentlichen Autorenschaft, sondern als Text eines Kollektivs - dies soll den „konstruktiven Charakter von Autorschaft als Werkherrschaft eines autonomen Subjekts aufzeigen, kritisieren und transformieren, das sich als machtvoll kontrollierende Instanz des Lektüreprozesses und seiner strukturellen sowie kulturellen Bedingungen als objektiver Beobachter inszeniert“. 45 In sieben Kapiteln stellt das Kollektiv unterschiedliche Deutungsmodelle zusammen, welche in der U.S.-amerikanischen Bibelexegese derzeit bevorzugt rezipiert werden. 46 M.E. kann das Gemeinschaftsprojekt ‚The Postmodern Bible‘ als gelungenes Beispiel gelebter Pluralität in Bezug auf die akademische Schriftinterpretation gelesen werden, in welchem Pluralität nicht in einen nihilistischen Relativismus mündet. Die Einsicht, dass unsere Textdeutungen aufgrund hochgradig differenzierter Wissensformen, Lebenswelten und Wirklichkeitskonstruktionen stets perspektivisch und partikular sind, ermöglicht hier modellhaft eine Kommunikationssituation, in der totalisierenden Deutungsansprüchen der Boden entzogen ist. Mit diesem praktizierten Pluralismus ist die Schriftinterpretation endlich in der Postmoderne angekommen, ohne von deren Trivialisierungsfallen pervertiert zu werden. 47 43 A.a.O., 15: „We wrote out of concern about systems of power - institutional, ecclesiastical, cultural - that authorize or block what can be said or written about the Bible. We wrote out of concern about the politics of inclusion and exclusion that determinate whose reading of the Bible counts, whose does not, and why. We wrote eager to see explicit acknowledgments of ethical stances, ideological positionings, self-critical and self-reflexive consciousness, and affirmations of the positive values of difference and multiplicity. Most important, we wrote out of concern to make sense of the Bible in a cultural context for which there can be no detailed, comprehensive, or fully accurate road map“. 44 A.a.O., 2f: „[P]ostmodern readings lay bar the contingent and constructed character of meaning itself. Moreover, by challenging traditional interpretations that claim universality, completeness, and supremacy over other interpretations, postmodern readings demonstrate that traditional interpretations are themselves enactments of domination or, in simpler terms, power plays“. 45 S. A LKIER , Buchreport: The Bible and Culture Collective, The Postmodern Bible, 63 mit Verweis auf The Postmodern Bible, 16. 46 Dies sind: 1. Reader-Response Criticism, 2. Structuralist and Narratological Criticism, 3. Poststructuralist Criticism, 4. Rhetorical Criticism, 6. Feminist and Womanist Criticism, 7. Ideological Criticism. 47 W. W ELSCH , Unsere postmoderne Moderne unterscheidet eine gute und eine schlechte Postmoderne: „Und diese feuilletonistische Postmoderne - denn es ist vorwiegend in den feuilletonistischen Gattungen, daß dieser diffuse Postmodernismus verbreitet wird - hat zudem den Effekt, den veritablen und besseren Postmodernismus - den der Präzision - außer Blick zu bringen. […] Faktisch gibt es beide Postmodernismen, so- <?page no="362"?> 362 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick 19.3 Diskursivität Während die radikale Bejahung der Pluralität von Interpretationsansätzen aufgrund der Einsicht in die unhintergehbare Perspektivität von Positionierungen einen Freiheitsschub in Gang setzt, der gegenüber institutionellen Normierungen und Kanonisierungen von Auslegungspraxen entgrenzend wirkt, lenkt die Diskurstheorie den Blick auf das Komplement dieser Freiheit, die absolute Determination. 48 Der Diskurs spiegelt nach Michel Foucault nicht einfach gesellschaftliche Realitäten wider, vielmehr dirigiert er durch seine Kontrollregularien selbst die Wirklichkeit, welche dadurch organisiert, parzelliert und neu formiert wird. Diskurse sind folglich gesellschaftliche Wirklichkeiten. 49 Sie deuten nicht nur bereits vorhandenes, sondern sie produzieren die Wirklichkeit - vermittelt über die zum Diskurs zugelassenen Menschen. Diese Diskurs-Akteure werden vom Diskurs selbst als produzierende Subjekte bestimmt und fungieren als Spielfiguren im diskursiven Feld. 50 In wissenschaftlichen Spezialdiskursen, wie der neutestamentlichen Hermeneutikdebatte, agieren sie vorwiegend schriftlich. Ihre Diskursfragmente entstehen in abhängiger Relation zu anderen Diskursbestandteilen, wie ich sie in der Diskursanalyse als Aufnahme, Übergehen, Zustimmung und Ablehnung anderer Diskursfragmente, in der Positionierung innerhalb weiterer Diskursstränge und in der Dependenz zum Interdiskurs dargestellt habe. 51 Daraus folgt, „daß das Individuum im Diskurs tätig ist, in den soziawohl den der Diffusion als auch den der Präzision. Wer den letzteren kennt, weiß, wie unergiebig und unerträglich der erste ist“, a.a.O., 3. - Zur Chance der Postmoderne für die Theologie siehe auch R.M. B UCHER , Die Theologie in Moderne und Postmoderne. Bucher reflektiert das postmoderne Paradigma Lyotardscher Prägung in Blick auf dessen Implikationen für die Theologie wie folgt: „Die Postmoderne ist Chance für die Theologie sicherlich nicht, insofern sie die moderne Pluralisierung der Perspektiven und Diskurse zugunsten reinszenierter Homogenität oder trivialer Heterogenität (was auf eines hinauskäme) zurücknähme, sondern darin, daß sie diese Pluralisierung radikalisiert und damit die Theologie zwingt, ihr eigenes Pluralitätsproblem theologisch aufzuarbeiten“, a.a.O., 57. 48 Diese unauflösbare Spannung kann auf die beiden gegensätzlichen Theoriebildungen von F. Lyotard und M. Foucault zurückgeführt werden. Während Lyotard wesentlich das Ende universalistisch-totalisierender Struktursysteme proklamiert, beschreibt Foucault die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Abhängigkeit von diskursiven Praxen, wenngleich diese ständig mutieren und damit deren Totalität nicht einsehbar ist. Die politische Überwindung des gesellschaftsdirigierenden Diskurses durch gegendiskursive Aktionen steht nach Foucault noch aus. 49 Vgl. J. L INK , Die Analyse der symbolischen Komponenten realer Ereignisse, 40: „Diskurse gelten nicht als wesenhaft passive Medien einer In-Formation durch Realität, sozusagen als Materialitäten zweiten Grades bzw. als ‚weniger materiell‘ als die echte Realität. Diskurse sind vielmehr vollgültige Materialitäten ersten Grades unter den anderen“. 50 Vgl. 4.3 Foucaults Diskursanalyse. 51 Vgl. 4.5 Modifikation des Foucaultschen Themas: Das diskursanalytische Modell von Siegfried Jäger. <?page no="363"?> 19.3 Diskursivität 363 len Diskurs verstrickt ist und im Diskurs erst tätig sein kann, in den es eingebunden ist“. 52 Die Betrachtung des neutestamentlich-hermeneutischen Geschehens unter dem Aspekt der Diskursivität ist vor allem in Bezug auf das Verständnis von Wahrheit bedeutsam. Denn in der Diskurstheorie ist die Idee der Wahrheit nicht an die Kategorien von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ gebunden, folglich ist die Frage nach wahren und falschen Auslegungen hier nicht von Interesse. Die Diskursanalyse begibt sich nicht selbst in die Auseinandersetzung um die intentio auctoris vel operis vel lectoris hinein. Vielmehr sieht sie das Wahrheitsprädikat stets kontextuell konstituiert. Wahrheit erscheint demnach durch bestimmte Macht- und Herrschaftsbedingungen definiert, die normativ innerhalb ihres Einflussgebietes die Gültigkeit spezieller Wahrheitskonzeptionen vorgeben. In der Regel sind die TrägerInnen solcher Festlegungen im Bereich der Schriftauslegung wirkmächtige Institutionen wie kirchliche Organisationen oder theologische/ exegetische Schulbildungen, ferner auch außertheologische Wissenschaftsorganisationen und gesellschaftliche Gruppierungen. 53 Der Erfolg eines hermeneutischen Entwurfs ist eminent an diese Machträger gebunden. Was als Wahrheit gilt, ist daher für die Diskursanalyse nichts anderes als ein diskursiver Effekt. Die Diskursanalyse kann aber aufgrund ihrer heuristischen Verfahren Möglichkeiten liefern, etablierte Denk- und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken, um deren Wahrheiten als sozial erzeugte Produkte zu deklarieren. 54 In dieser Funktion treffen sich Ideologiekritik und Diskursanalyse. Ebenso kann die Diskursanalyse aufzeigen, wo sich Potentiale für Gegendiskurse ergeben, welche den herrschenden Diskurs unterlaufen, aufbrechen und innovativ umlenken können. Das Theoriemodell der Diskursanalyse wirkt in seiner erschreckenden Radikalität gewiss einseitig und selbst hochgradig ideologisch, widerspricht es doch in erheblichem Maß der Selbstwahrnehmung der meisten Diskursteilnehmenden. Denn die einzelnen AutorInnen des neutestamentlich-hermeneutischen Diskursstrangs verstehen sich zumeist nicht als heteronom bestimmte und vom Diskurs gelenkte Spielfiguren, sondern als relativ-autonome Akteure, die ihre hermeneutischen Debattenbeiträge in den Diskurs selbsttätig einspeisen und somit den Diskurs aktiv gestalten. Aus diesem Grund scheinen zunächst (auto-)biografische Zugänge als Erklärungsmodi der individuellen Positionsgenese einen höheren Evidenzgrad als ideologie- 52 S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 148. 53 Vgl. zu den Institutionsbezügen der vier untersuchten hermeneutischen Entwürfe 13.1 Institutionsbezüge. 54 Vgl. S. J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 222ff und a.a.O., 232: „Kritische Diskursanalyse kann möglicherweise einen Beitrag dazu leisten, die zu erwartenden ideologisch-diskursiven Kämpfe, die unvermeidlich sind, abzumildern, indem sie die Relativität der unterschiedlichen Konstrukte der Welterklärung aufweist, auf dieser Grundlage Modelle toleranter Kritik und Auseinandersetzung entwickelt und jeweilige Gültigkeiten und Normalitäten hinterfragt, problematisiert und kritisiert“. <?page no="364"?> 364 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick kritisch-diskursanalytische Interpretationsverfahren aufzuweisen. 55 Ich verstehe die hier vorgestellte diskurstheoretische Wirklichkeitsmodellierung als komplementäres Analyseinstrumentarium zur (Auto-)Biografieforschung: Beide Typen der Informationsverarbeitung versuchen zu erklären, welche Faktoren, Ereignisse und Prozesse bei der Entstehung von Meinungen, Aussagen und Entwürfen eine Rolle spielen. Den grundsätzlichen Unterschied der beiden Ansätze sehe ich in der Beschreibung der Person: Während die (Auto-)Biografieforschung die Person als aktiven Aktanten wahrnimmt, der Verknüpfungsleistungen ausführt und dadurch selbst schöpferisch tätig wird, begreift die Diskurstheorie die Person als heteronom gesteuertes Organ sprachlicher und außersprachlicher Formungsprozesse. Beide Methoden stehen in Spannung zueinander, ergänzen und heben sich gegenseitig auf. Sie legitimieren sich jeweils über ihre heuristische Effizienz und nicht über die Referenz zu einem bestimmten Wirklichkeitsmodell. Nur die Plausibilität, mit der sie zu konkreten Fragestellungen befriedigende Antwortmöglichkeiten aufzeigen, kann über ihre Leistungsfähigkeit Auskunft geben. In Blick auf die sozio-kulturellen Einwirkungen, welche im Zentrum meines Forschungsinteresses standen, konnten die ideologiekritischen und diskursanalytischen Untersuchungen wichtige Faktoren der Positionsformung nachzeichnen sowie deren interaktive Verortung im Diskursgeschehen beschreiben. So argumentiert K. Berger in seinem Ansatz besonders für die Rehabilitierung des Subjekts und grenzt sich von entsubjektivierenden Universalstrukturen ab. Gleichzeitig konnten Ideologiekritik und Diskursanalyse deutlich machen, wie sein Entwurf selbst von heteronom-diskursiven Einwirkungen abhängig ist. Ich nenne hier nur den Einfluss des Postmoderne-Paradigmas Lyotardscher Prägung sowie den Spiritualitätsdiskurs und verweise auf die ausführliche Darstellung in der Diskurskritik. 56 Ebenso konnte E. Schüssler Fiorenzas Ansatz vor allem in seiner Dependenz zum feministischen Leitparadigma beschrieben werden. Damit wird ihrer Hermeneutik innerhalb der etablierten akademischen TheologInnenwelt vorrangig die Rolle eines Gegendiskurses zugewiesen. P. Stuhlmachers Syntheseversuch wird wesentlich von der wissenschaftlich-kirchlichen Konfliktsituation um die Schriftauslegung bestimmt. Ihm kommt im Diskursgeschehen die Funktion des scheiternden Mittlers zu. Und H. Weder ist in seinem Aussagenfonds hauptsächlich von reformatorisch/ dialektisch-theologischen Vorgaben abhängig. So nimmt seine Hermeneutik die Rolle einer konfessionell-positionellen Interessenlage ein. - Insgesamt agieren die vier hermeneutischen Entwürfe als Diskurskräfte im Spiel von Macht und Gegenmacht, diskursiver Dominanz und gegendiskursiver Reaktion, wobei sich die Rollen je nach zeitlich und örtlich wechselnder Machtkonstellation verändern können. 55 Vgl. meine skizzierten Ausführungen zur (Auto-)Biografieforschung in 1.3 Verstehenswege. 56 Siehe 13.2.1 Machteinwirkung. <?page no="365"?> 19.4 Was bleibt? 365 19.4 Was bleibt? Die Fokussierung auf die Perspektivität, Pluralität und Diskursivität neutestamentlich-hermeneutischer Bemühungen, d.h. deren Determination durch ein segmentierendes, potenzierendes und prädisponierendes Macht-Feld, führt zu der Frage, welche Aufgaben eine Neutestamentliche Hermeneutik weiterhin haben kann. Vorbei ist die Epoche des Historismus, in der Wissenschaftlichkeit mit Objektivität und erkenntnistheoretischer Wahrheit gleichgesetzt werden konnte. 57 Zu Ende ist auch der hermeneutische Traum, Texte einer vergangenen Zeit heute ‚besser‘ als zu deren Abfassungszeit verstehen zu können. 58 Stattdessen setzt sich die Einsicht durch, dass unsere wissenschaftlichen Deutungsprozesse selbst auf kulturell-bedingten Axiomen basieren. Auch sind die bibelwissenschaftlich eingeführten Methoden und deren Anwendungen keineswegs neutral, noch überzeitlich und objektiv, denn sie unterliegen spezifisch-modellierten Wirklichkeitskonstruktionen 59 und Interessen 60 , deren Entstehung und Behauptung sich ideologisch-diskursiver Einwirkungen verdanken. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs von Deutung und Wirklichkeit bleibt heute nicht auf die Geisteswissenschaften allein beschränkt, sondern findet sich ebenso in den Naturwissenschaften 61 . Diltheys klassisch gewordene Grenzziehung zwischen distanziertem Erklären und existentiellem Verstehen 62 lässt sich daher heute ebenso wenig beibehalten wie eine prinzipielle Unterscheidung von Glauben und Verstehen 63 oder Wissenschaft und Kunst 64 . Denn die dualistische Anordnung dieser 57 Vgl. zur Axiomatik des Historismus und seiner Aporien K. N EUMANN , Die Geburt der Interpretation, besonders 83-127; O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 47-59. 58 Siehe hierzu vor allem die antihermeneutische Kritik am Verstehen von J. H ÖRISCH , Die Wut des Verstehens, besonders 36-46. 59 Dies gilt naheliegend für sozialgeschichtliche Studien, lässt sich aber ebenso auf alle anderen exegetischen Methodenschritte anwenden, so auch S. A LKIER / R. B RUCKER , Exegese und Methodendiskussion, IX-XIX. - W. E GGER , Methodenlehre zum Neuen Testament stellt in seinem Lehrbuch verschiedene Textwirklichkeiten einzelner Methoden graphisch dar, vgl. 19f; 33; 159; 163; 171; etc. 60 Vgl. J. H ABERMAS , Erkenntnis und Interesse. 61 Vgl. W. W ELSCH , Ästhetisierungsprozesse - Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven, 51: „Derzeit setzt sich in allen Wissenschaften das Bewußtsein von einem grundlegend ästhetischen Charakter des Erkennens und der Wirklichkeit durch“. 62 Vgl. O.F. Bollnow, Studien zur Hermeneutik, 121-125 und 125-138 (Lit. 123). 63 Vgl. zum Wechselspiel von Glauben und Verstehen R. B ULTMANN , Glauben und Verstehen, Bd. I-IV, 1933ff. Bultmann sah in bibelhermeneutischer Perspektive einen unverzichtbaren Zusammenhang zwischen Glauben und Verstehen. U.H.J. K ÖRTNER , Zur Einführung: Glauben und Verstehen, 3 formuliert: „[G]egenüber den biblischen Texten [gibt] es nach Bultmann in Wahrheit niemals Neutralität, sondern nur eine Verweigerung oder aber Öffnung gegenüber dem von ihm erhobenen Anspruch“. Darin sind ihm seine Schüler nur bedingt gefolgt. O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments trennt in ihrer hermeneutischen Konzeption grundlegend zwischen einem rezeptionsgeschichtlichen und einem sachlichen Verstehen (Teil B, 61-125 und Teil C, <?page no="366"?> 366 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick Begriffe suggeriert, zwischen naturhaft-physikalischen bzw. textimmanentsachgemäßen, also objektiven Beschreibungsmodi auf der einen Seite sowie persönlich-engagierten bzw. affektiv-zuschreibenden, also subjektiven Aneignungen auf der anderen Seite klare Trennlinien ziehen zu können. In meiner Konzeption der Ideologien des Verstehens lösen sich solche Grenzziehungen jedoch auf. Denn das wissenschaftliche Verstehen unterscheidet sich strukturell nicht von außerwissenschaftlichen Positionsgenesen, was die Einwirkung semantisch und syntaktisch organisierter ideologischer Faktoren betrifft. 65 So haben beispielsweise meine ideologiekritischen und diskursanalytischen Untersuchungen die unhintergehbare Ideologiehaftigkeit Neutestamentlicher Hermeneutiken zu belegen versucht. Wenn sich aber nun wissenschaftlich-hermeneutische Interpretationen, wie sie meiner Untersuchung zugrunde lagen, in ihrer prinzipiellen Bezogenheit auf Ideologien strukturell nicht von künstlerisch-schöpferischen oder auch spirituellmetaphysischen Leseschlüsseln unterscheiden, was bleibt dann für eine Neutestamentliche Hermeneutik außer der Explikation jeweils eigener ideologie- und diskursdeterminierter Meinungen 66 ? Nichts! - Aber dies ist nicht wenig: Die vornehmliche Aufgabe einer Neutestamentlichen Hermeneutik sehe ich auch weiterhin in der Präsentation spezifischer Verstehensmodelle zu den neutestamentlichen Texten und in der kritischen Reflexion dieser Deutungsprozesse. Zugleich kann sie in dreifacher Weise ihren Aufgabenkreis erweitern und somit ihr Profil stärken: Erstens kann eine Neutestamentliche Hermeneutik innerhalb des vielschichtigen Diskurses zur Bibelauslegung die Funktion einer Anwaltschaft der neutestamentlichen Texte als ihr vorrangiges Proprium wahrnehmen, ohne dass dies zu einem Deutungsmonopol führen müsste. Alle vier untersuchten Neutestamentlichen Hermeneutiken weisen eine spezifische Partizipation am Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft auf, deren Objektivierungseffekt zwar grundsätzlich in Frage gestellt werden muss 67 , dennoch im 127-171, s.a. 135f. zur Unterscheidung von Sinn und Bedeutung). In ideologiekritischer und diskursanalytischer Perspektivierung lösen sich solche Unterscheidungen allerdings auf (s.o. Volltext). 64 Vgl. P. F EYERABEND , Wissenschaft als Kunst, 76: „Sowohl Künstler als auch Wissenschaftler haben bei der Ausarbeitung eines Stils oft den Hintergedanken, es handle sich um die Darstellung ‚der‘ Wahrheit oder ‚der‘ Wirklichkeit“. 65 Vgl. a.a.O., 145 Kap. 6. Sind die Wissenschaften Forschungsinstitutionen oder politische Parteien? 66 Vgl. B.K. B LOUNT , Introducing Cultural Exegesis, 86: „The post modern claim that meaning occurs in the reading process signals that it is no longer THE meaning that an interpreter achieves, but the meaning that is significant for THAT interpreter. MY meaning has displaced THE meaning“. 67 Im synoptischen Vergleich meiner Untersuchungsergebnisse zu den vier Hermeneutiken konnte ich deutlich machen, wie jeweils der Soziolekt der historisch-kritischen Wissenschaft durch andere Soziolekte dominiert wird, vgl. 11.7.2 Gemeinsamkeiten - Differenzen - Leerstellen (zur ideologiekritischen Erhebung der Soziolekte). <?page no="367"?> 19.4 Was bleibt? 367 Kern als ethische Grundhaltung beschrieben werden kann, die neutestamentlichen Texte vor Vereinnahmungen und Instrumentalisierungen zu schützen. 68 Der Geschichtsbegriff behält damit auch im Zeichen von Dehistorisierung 69 seine Relevanz, indem ihn die Neutestamentliche Hermeneutik redefiniert und als Schutz der Texte vor einer beliebigen (nihilistischen, relativistischen oder totalitären) Auslegung stark macht. Die Frage nach der Ethik im Umgang mit den biblischen Texten kann somit in besonderer Weise von der Neutestamentlichen Hermeneutik in den weiteren Diskurs zur Bibelhermeneutik eingespeist werden. 70 Dabei wird sie immer wieder kritisch die Frage einzubringen haben, ob sich die Bibel-Texte überhaupt ‚anwenden‘ lassen. Zweitens kann eine Neutestamentliche Hermeneutik als eine interdisziplinäre Vermittlerin den Methodenvorsprung anderer Text- und Kulturwissenschaften für die Theologie nutzbar machen, indem sie deren Diskurse in ihrer Relevanz für die Theologie (mit-)aufbereitet. Von führender Bedeutung für die Theologie sehe ich hier gegenwärtig die Literaturwissenschaften inklusive der Linguistik, die Philosophie, die Geschichtswissenschaften, die Soziologie und die Medienwissenschaften. Die Theologie kann durch einen geglückten Methodentransfer der Gefahr entgehen, die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit zu verlieren, welche zwangsläufig zu einer Verengung der eigenen Perspektiven führen würde. 71 Dabei erweitert die Bibel-Hermeneutik ihren Aufgabenkreis: Neben die praktisch-theoretische Brückenbildung zwischen biblischen Texten, exegetischen Hypothesen und Textapplikanden tritt die Bemühung um die Vernetzung mit den anderen theologischen sowie außertheologischen Disziplinen hinzu. Dies halte ich insbesondere deswegen für unbedingt erforderlich, da gegenwärtig nur sehr unzureichend die Diskussionen um die Schriftdeutung und den Schriftgebrauch der theologischen Einzeldisziplinen miteinander vernetzt sind. Auf der Ebene der interdisziplinären Methodendiskussion könnte hier eine neue Konvivenz eine Chance bekommen. 68 Dies gilt vornehmlich für die Ansätze von K. Berger und H. Weder, welche anhand der Kategorie der Fremdheit die Texte vor dem Verbrauch zu schützen versuchen. Modifiziert findet sich dieser Gedanke auch bei P. Stuhlmacher, der - jedenfalls von der Intention her - mit dem Attribut ‚bibelgemäß‘ die Texte zu ihrem Recht kommen lassen möchte. Eingeschränkt muss dieser Aspekt bei E. Schüssler Fiorenza gesehen werden, wonach Texte immer instrumentalisiert werden, da es coram publico kein Machtvakuum gibt. Texte werden entweder patriarchal oder feministisch gebraucht. Allerdings können in ihrer Konzeption ideologiekritische Kontrollmechanismen diesen Vorgang transparent machen. 69 Zum Begriff siehe O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 205. 70 Dem Verhältnis von Ethik und Textinterpretation widmet sich der 2006 in Augsburg und Erlangen neu eingeführte Elite-Studiengang „Ethik der Textkulturen“, vgl. http: / / www.philhist.uni-augsburg.de/ ethik (03.03.07). 71 Intensiv hat sich die Neutestamentliche Hermeneutik von O. Wischmeyer dieser Aufgabe gestellt, vgl. O. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, zusammengefasst 197f. <?page no="368"?> 368 19 Ideologien des Verstehens. Ein methodologischer Rückblick Drittens kann eine Neutestamentliche Hermeneutik als eine Aufklärerin im Hinblick auf die Debatten der exegetisch-theologischen Disziplinen die Einsicht wachhalten, dass die Bibel selbst ein heterogenes Gebilde ist, dessen semantische Polyvalenz mit der Pluralität von Deutungsmöglichkeiten und Sinnkonstruktionen korrespondiert. Damit kann sie gegendiskursiv und ideologiekritisch etablierte hegemoniale Strukturen in Kirche und Gesellschaft, die sich biblisch zu legitimieren suchen, enttarnen und deren Zirkelschlüsse aufdecken. 72 Der Neutestamentlichen Hermeneutik eignet so ein politisches Potential, wodurch sie sich in gesellschaftsrelevante Diskurse über ihre neutestamentliche Binnenperspektive hinaus einbringen und dem Bedeutungsverlust der Theologie insgesamt effektiv entgegenwirken kann. 73 Viertens kann eine Neutestamentliche Hermeneutik als Botschafterin einer pluralitätsfähigen Gesellschaft agieren, indem sie divergierende Interpretationen in ihren Unterschieden und Widersprüchen miteinander im Gespräch hält: „Diese Unterschiede oder Widersprüche sind in einem nicht-hegemonialen Kontrastmodell zu bearbeiten. Nicht-hegemonial meint in diesem Zusammenhang, dass nicht-wissenschaftliche und wissenschaftliche Sinnbildungen so aufeinander bezogen werden, dass keine Seite die andere dominiert. Jeder Perspektive muss zugetraut werden, dass sie die andere ergänzen, kritisieren und in Frage stellen kann“. 74 Die Neutestamentliche Hermeneutik legt sich mit dieser viergliedrig skizzierten Aufgabenbeschreibung einerseits eine Selbstbeschränkung auf: Sie verzichtet darauf, über die Vielzahl von Bibelauslegungen nach wissenschaftlichen Kriterien den Bannstrahl oder ihr Wohlwollen zu verkünden. Sie anerkennt, nicht im Besitz exegetischer Wahrheiten zu sein, sondern mögliche Interpretationen neben vielen weiteren Deutungsarten zu präsentieren, und sie weiß um ihre eigenen kontingent-geschichtlichen Zirkelschlüsse, die sich nicht nur auf die Wirklichkeitsmodelle ihrer Methoden beziehen, sondern ebenso von einer Vielzahl weiterer Ideologien und diskursiver Kräfteverhältnisse ab- 72 Vgl. U. L UZ , Die Bibel als Grundlage für die Kirche? , 337: „Exegese hat die Aufgabe, immer und immer wieder auf die Fremdheit und die Besonderheit der Geschichte Jesu hinzuweisen, von der ihre Texte sprechen. Es ist eine Geschichte, die fremd bleibt, und die sich menschlichen und kirchlichen Erwartungshorizonten gegenüber immer wieder als sperrig erweist. Es ist eine Geschichte, die sich für Legitimierungsversuche schlecht eignet“. 73 Vgl. W. S TEGEMANN , Amerika, du hast es besser! Stegemann kritisiert an der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft deren provinziellen Charakter, ihr spezifisches FachexegetInnentum sowie ihre weitgehende Absenz in sozial-, kultur- und literaturwissenschaftlichen sowie gesellschaftsrelevanten Diskursen der Gegenwart. Stegemann schlussfolgert: „Die Fragestellungen und die Aufgabenstellungen der Exegese wurzeln in der Gegenwart! Was also hindert uns daran, von zeitgenössischen Diskursen ausgehend und an ihnen teilnehmend neutestamentliche Exegese zu betreiben? “, a.a.O., 114. 74 J. K ÜGLER , Für wen arbeitet die Bibelwissenschaft? , 110f. <?page no="369"?> 19.4 Was bleibt? 369 hängig sind. Zugleich erweitert die Neutestamentliche Hermeneutik ihr Tätigkeitsfeld: Neben das klassische Gebiet, der Darstellung und Reflexion interpretatorischer Vollzüge an den neutestamentlichen Texten - wenn auch unter erschwerten Bedingungen - tritt neu oder in gesteigerter Relevanz der Brückenschlag zu anderen Disziplinen und die noch deutlichere Vernetzung mit kirchlichen und gesellschaftlich-politischen Fragestellungen hinzu. Die Neutestamentliche Hermeneutik beteiligt sich auf diese Weise am Projekt Postmoderne, hierarchische und totalitäre Strukturen in ein demokratisches Konvivenzmodell zu überführen. 75 Denn die Einsicht, dass die Interpretation der biblischen Texte nicht nur in der Praxis des Streits um die Schriftauslegung sondern auch der Theorie unserer Verstehensbedingungen fortan im Plural steht, kann eine Einübung in die Konfliktbewältigung widerstreitender Ideologien ermöglichen. Die Ideologien des Verstehens bleiben dabei bestehen. Sie überwinden zu wollen, würde heißen, sich einer relativistischen Standortlosigkeit auszuliefern und auf die Produktivität des Dissenses zu verzichten. Aber sie verlieren ihren kommunikationshemmenden und daher antihermeneutischen Effekt. 75 Zum Verhältnis von Demokratie und Postmoderne vgl. W. W ELSCH , Unsere postmoderne Moderne, 182: „Postmodernes Denken entspricht darin [hic: der Einsicht in die Pluralität] einer Haltung, für die Demokratie verbindlich wurde. Die Postmoderne bedroht nicht - wie manche, von Irrationalismus redend, ihr unterstellen wollen - die demokratische Tradition der Moderne, sondern entwickelt eine grunddemokratische Vision. Denn in ihr wird Pluralität grundsätzlich anerkannt und freigegeben. Und erst unter der Bedingung solch grundsätzlicher Pluralität macht Demokratie eigentlich Sinn“. <?page no="371"?> Abkürzungen, Literatur und Register <?page no="373"?> 20 Abkürzungen AS Argument Sonderband BThZ Berliner Theologische Zeitschrift Diss Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung DNP Der Neue Pauly dtv WR Deutscher Taschenbuch Verlag/ Wissenschaftliche Reihe EEPhW Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften EETh Einführung in die Evangelische Theologie EK Evangelische Kommentare EKHN Evangelische Kirche in Hessen Nassau EKK Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament EKL Evangelisches Kirchenlexikon es Edition Suhrkamp ESF E. Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel 1991 2 EVA Europäische Verlagsanstalt EvTh Evangelische Theologie EWNT Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament exuz Exegese in unserer Zeit FLL Fischer Lexikon Literatur FRLANT Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments HWe H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik 1989 KBe K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments 1988/ 1999 MEW Marx-Engels-Werke MLGSG Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung MLLK Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie MPL Metzler Philosophie Lexikon MThA Münsteraner Theologische Abhandlungen NBST Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie <?page no="374"?> 374 20 Abkürzungen NEB Die Neue Echter Bibel NET Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie NTA New Testament Abstracts NTD Neues Testament Deutsch NTOA Novum Testamentum et Orbis Antiquus NTS New Testament Studies PSt P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments 1986 2 PTHe Praktische Theologie heute PThK Praktische Theologie und Kultur RDL Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft RGG Religion in Geschichte und Gegenwart RUB Reclam Universal-Bibliothek st Suhrkamp Taschenbuch StUNT Studien zur Umwelt des Neuen Testaments stw Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft TANZ Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter ThBeitr Theologische Beiträge ThGl Theologie und Glaube ThKNT Theologischer Kommentar zum Neuen Testament ThLZ Theologische Literaturzeitung ThQ Theologische Quartalschrift ThR Theologische Rundschau TNT Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament TRE Theologische Realenzyklopädie UTB Uni-Taschenbücher VWGTh Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie WUNT Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament WV Westdeutscher Verlag ZNT Zeitschrift für Neues Testament ZThK Zeitschrift für Theologie und Kirche <?page no="375"?> 21 Literatur A BEL , G., Zum Wahrheitsverständnis jenseits von Naturalismus und Essentialismus, in: V. 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Diskursanalyse 29, 33, 55-71, 356, 362 Diskursethik 55 Diskursivität/ diskursiv 46, 50, 64, 66, 353, 362-365 Diskurskritik 67f, 71 Entmythologisierung 22, 78, 221, 230, 246, 253 Ethik 55, 75f, 78f, 82, 87f, 98f, 104, 320, 345, 367 Exegese 21, 27, 76, 81, 83, 90, 92, 98f, 102f, 115, 127, 132, 134, 150, 162, 179, 183, 189, 211, 318, 320f, 327f, 335, 359f, 361 Feminismus 23, 57, 77, 90, 109, 119, 121-168, 183f, 191, 207, 212f, 258, 278, 327, 364 Freiheit 81, 85, 98f, 162, 227, 242, 244, 256f, 290, 337 Fremdheit 107, 218, 229, 231, 235f, 259, 275f, 318, 349 s.a. Hermeneutik der Fremdheit Frömmigkeit 15, 90, 170, 205, 210 s.a. Spiritualität Fundamentalismus 15, 85, 89f, 101, 155, 197f, 318 Geschichte/ Geschichtlichkeit 22, 80, 83, 91, 94f, 98f, 100f, 117, 122, 131f, 135, 141, 146, 156, 164, 186, 194, 197f, 199, 211, 217, 228-231, 233, 235, 240, 242f, 260f, 290, 320 Gottesdienst 114 Hermeneutik (Begriff) 18-22, 218- 220 Hermeneutik des Verdachts 28, 126, 135, 142, 146f Hermeneutik des Einverständnisses 28, 110, 123, 146f, 157f, 169, 183, 187, 195, 197f, 226f, 276, 336f, 338 Hermeneutik der Fremdheit 76, 81, 94, 98f s.a. Fremdheit Hermeneutik des Erinnerns 126, 135, 142, 146f Hermeneutik der Verkündigung 126, 135, 142, 146f Hermeneutik der kreativen Aktualisierung 126, 135, 142, 146f hermeneutischer Zirkel 81, 110, 188, 368 Herrschaft 42, 44f, 49, 55, 123, 137, 141, 146f, 164, 224, 237, 248, 328, 338, 361, 363 historische Kritik 18, 102, 127, 131- 133, 150f, 155f, 172, 179, 181f, 186, 197-199, 206, 217, 219, 247f, 254, 256, 261, 278, 318, 327, 336, 348, 359, 366 <?page no="394"?> 394 22 Register Historismus/ historistisch 180, 184, 360, 365 Ideologie/ Ideologiekritik 15, 29, 33- 53, 55, 66, 68, 71, 82, 87, 129, 151, 162, 167, 269-282, 328, 331, 353, 356, 369 Idéologistes 40f Idolenlehre 40 Innovation 22, 81, 98f, 119, 224, 264, 323 Inspiration 83, 107, 155, 173f, 179f, 197f, 200, 203, 210, 221, 289 Institutionen 16, 30, 69, 71, 297-299, 318, 359, 363 Inszenierung 88 Interesse 15, 18, 29, 37, 39f, 48f, 57, 65, 132, 137, 140, 158, 191, 331 jüdisch-christlicher Dialog 105, 279 Kanon/ Kanonizität 27, 86, 126, 129, 153, 173, 184, 214, 362 katholische Bibelauslegung 174, 184, 205f katholische Sozialisation 149f, 278 Kirche/ kirchlich 16, 76, 82, 84, 93, 98f, 102f, 114, 121, 123, 146, 149f, 161f, 170, 183f, 190f, 197f, 209, 258f, 264, 289 Klassifikation 39, 46f Konkurrenz 40, 49, 52, 205, 302 Konstruktion 34, 39, 48, 79, 136, 142, 165, 353, 358 Kritik/ kritisch 44, 52, 57, 69, 79f, 129, 133-135, 146, 151f, 161, 172, 279, 310-313, 366 Kultur/ kulturell(-wissenschaft/ -lich) 17, 28f, 34, 39, 55, 107, 123, 132, 164, 231, 367 Kulturrevolution 22 Literatursoziologie 21, 34 Macht 15, 18, 29, 30, 34, 38, 44, 49, 58-60, 66-68, 71, 123, 136, 142, 146, 148, 163, 165, 290, 299-305, 327, 331, 363, 364 Marxismus/ marxistisch 37, 41-43 Metapher/ metaphorisch 75, 87f, 106, 217, 223-227, 231, 236f, 242f, 248f, 262-264 Methode/ Methodik/ Methodenreflex ion 20, 30-35, 48, 61-63, 103, 108, 123, 154, 156, 176, 191, 204, 218f, 240, 245, 255, 318, 256f, 359, 364- 366 Mitte der Schrift 77, 90, 109, 180, 184, 197f, 204 Mittelalterliche Hermeneutik 109 Modell 39, 84, 89, 163, 206, 360, 363, 368 Moderne 57, 100f Mythos/ mythisch/ mythologisch 85, 103, 138f, 179, 182, 220f, 227, 230, 232, 245, 253 Neue Hermeneutik 22, 156, 182 Norm/ Normativität/ Normierung 15, 18f, 57, 66, 84, 103, 110, 114, 358, 362 Objekt/ Objektivität/ objektiv 17, 30, 39f, 122, 124, 132, 137, 141, 146, 157, 165, 327, 357, 359, 365, 367 Offenbarung 16, 75, 87, 115, 123, 162f, 211, 289 Ökumene 201f, 279 Partikularität 43, 49f, 51, 81, 140 Performanz/ Performativität/ perform ativ 224, 236, 242f, 248f, 252, 257, 264 Perspektive/ Perspektivität 16, 20f, 136, 263, 327, 328, 353-357, 359, 362, 365 Pietismus 172, 178, 184, 200f, 208, 278 Pluralität 188, 332, 353, 357-361, 365- 367 Politisierung 118, 152, 165f, 183, 213, 259, 279, 331, 368 Positivismus/ positivistisch 37, 44, 85, 101 Postmoderne 24, 100f, 102, 278, 360f, 364, 369 Poststrukturalismus/ poststrukturalis tisch 55-59, 357f, 361 Profil 309, 317, 356 <?page no="395"?> 22.1 Begriffe 395 Psychologische Bibelauslegung 115, 183, 207, 212, 290 Publikation 111, 159, 209, 255, 361 Rationalismus 76, 78, 89, 91, 98f, 103, 178, 318 Reformatorische Bibelauslegung 17, 109f, 200, 246f, 278, 335 Reihe 24f Relativismus 48, 361, 367, 369 Rezension 24, 26 Rezeptionsästhetik 87, 106, 117, 182, 213, 262 Sache des Textes 81, 98f, 184, 248, 343, 359 Schriftprinzip 17f, 76 Selbstanspruch 30, 69, 71, 306f sozio-kultureller Kontext 21, 55, 353, 364 Spiritualität 76, 86, 94, 98f, 104, 258f, 278, 364 s.a. Frömmigkeit Sprache/ Sprachlichkeit 22, 33, 58, 106, 114, 143, 157, 167, 217, 219, 223f, 236f, 238, 248f, 253, 261f, 279, 289, 330, 348 Standort der Textauslegung 20f, 355f Strukturalismus/ strukturalistisch 37, 44, 55f, 63, 106, 117, 156, 182, 213 Subjekt/ Subjektivität/ subjektiv 33, 38, 42, 45, 57-58, 67, 80f, 89f, 98f, 117, 132, 222, 229, 233, 290, 358, 361f, 364, 366 Textanalyse 29, 33, 68, 71 Textaufbau 75, 121f, 169f, 217f, 267f Textreferenz 69, 302, 355 Textsoziologie 46-48 Theologieverständnis 116, 210f, 246, 250, 255f, 290 Theorie 42, 46, 61, 353, 363 Tradition 78, 119f, 123, 125, 129-131, 148, 157, 162, 167, 170, 172, 175, 183, 190, 194 Vereinnahmung 87, 98f, 115, 183, 188, 197, 222, 231, 235f, 242, 244, 257, 259, 263, 318, 367 Verlag 24f Vernehmen 184, 242, 244 Versöhnung 185, 197f, 228 Vorverständnis 156, 208, 222, 232, 246f, 253, 304f Wahrheit/ wahr 15, 29, 43, 44, 60, 79f, 81, 83, 95, 98f, 105, 116, 141f, 157, 183, 194, 210, 219f, 224, 239f, 242f, 252, 256, 290, 321, 355, 363, 365, 368 Widmung 75, 121, 169, 217 Wirklichkeit 15, 24, 38, 41, 49, 51, 57, 85f, 88, 94f, 98f, 132, 137, 141f, 148, 194, 218, 323, 239f, 245, 272f, 321, 354, 361f, Wissenssoziologie 43, 46 Wort Gottes 83, 174, 182, 221f, 224- 226, 242f, 245, 253, 257, 289, 345, 349, 368 <?page no="396"?> 396 22 Register 22.2 Personen Adorno, T.W. 58 Althusser, L. 44-46, 49, 67 Bacon, F. 40, 49 Barth, K. 80, 181, 187, 246, 254 s.a. Dialektisch-theol. Bibelauslegung Becker, E.-M. 20 Bernstein, R. 124 Bultmann, R. 22, 77, 80, 100, 109f, 156, 181, 186, 206, 208, 230, 245, 251, 253, 278 s.a. Entmythologisierung Cady Stanton, E. 128, 158 Cixous, H. 58 Claß, H. 169 Cones, J. 158 Derrida, J. 61, 86 Destutt de Tracy, A. 40f Dilthey, W. 91, 109, 180, 205, 222, 254, 365 Dohmen, C. 357 Eagleton, T. 38, 44 Ebeling, G. 22, 182, 253f Eco, U. 351 Fohrmann, J. 61 Foucault, M. 55, 57, 59f, 362 Fricke, M. 62 Fuchs, E. 22, 182, 254 Gadamer, H.-G. 77, 80, 100, 109f, 156, 170, 182, 205 Gutiérrez, G. 158 Habermas, J. 55 Hahn, E. 39 Hegel, G.W.F. 18 Irigaray, L. 58 Jäger, S. 63-65 Kuhn, T.S. 127 Landmesser, C. 86 Link, J. 61,63 Luther, M. 77, 176, 205, 247 s.a. Reformatorische Bibelauslegung Lyotard, F. 57f, 101, 360 Mannheim, K. 21, 43 Marx, K. 41-43, 49 Moller Okin, S. 167 Mostert, W. 217, 246, 253 Münker, S. 57-59 Nietzsche, F. 58 Ogden, S. 129 Ozick, C. 122 Plaskow, J. 122 Rambach, J.J. 109 Ranke, L. v. 131 Reinmuth, E. 28, 360 Ricœur, P. 106, 117, 182, 213 Ritschl, D. 80, 84, 109f Roesler, A. 54-59 Sandkühler, H.-J. 39 Sawyer, R.K. 55 Scheler, M. 21 Schlatter, A. 180 Schleiermacher, F.D.E. 77, 85, 109, 179f, 205 Schöttker, D. 37 Schrage, D. 62 Schulthess, P. 354 Segundo, J.L. 129 Troeltsch, E. 172, 205 Wagner, F. 17 Weber, M. 21 Wischmeyer, O. 28 Zima, P.V. 39, 46-49