Faszination des Okkulten
Diskurse zum Übersinnlichen
0917
2008
978-3-7720-5259-0
978-3-7720-8259-7
A. Francke Verlag
Wolfgang Müller-Funk
Christa Agnes Tuczay
Schatten, Schimären, Unsichtbares, in dunklen Ecken Verborgenes oder am Rande des Gesichtsfeldes, nichts Greifbares, doch zuweilen laut polternd zerstörerisch eiskalte Gegenwart ein kalter Hauch der Toten. Was wir nicht sehen, zählt für uns nicht? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Die Geisterwelt ist nicht verschlossen und es gibt mehr zwischen Himmel und Erde? Die thematische Verknüpfung von Okkultismus und Kunst und besonders die Verschränkung von Okkultismus und Literatur wurden erst in rezenter Zeit vereinzelt wahrgenommen. Thematiken wie Esoterik und Okkultismus rücken mit der populären Inflationierung endlich auch in den Blickpunkt verschiedener kulturwissenschaftlicher Forschungen.
<?page no="0"?> Wolfgang Müller-Funk / Christa Agnes Tuczay (Hrsg.) Faszination des Okkulten Diskurse zum Übersinnlichen <?page no="1"?> Faszination des Okkulten <?page no="3"?> Wolfgang Müller-Funk / Christa Agnes Tuczay (Hrsg.) Faszination des Okkulten Diskurse zum Übersinnlichen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http: / / dnb.d-nb.de > abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien, des Landes Niederösterreich und des Landes Oberösterreich. Wir danken der Stadt Wien für die Förderung der redaktionellen Arbeiten. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Umschlagabbildung: aus: Abraham Horodisch, Alfred Kubin als Buchillustrator. New York; Verlag der Aldus-Buchcompagnie 1949, S. 36. Druck und Bindung: Laupp + Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8259-7 <?page no="5"?> Inhalt Wolfgang Müller-Funk/ Christa A.Tuczay Faszination des Okkulten: Einleitung ................................................................... 7 Helmut Birkhan Vom Schrecken der Dinge ............................................................................................. 11 Willem de Blécourt Der Zauberer und sein Schüler - Die Erzählung und ihr historischer Ursprung ........................................................... 43 Christa Agnes Tuczay Zabulons Buch - auf der Suche nach verborgenen Geheimnissen ........................... 73 Sabine Seelbach Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis. Metavernünftiges bei Grimmelshausen ........................................................................................................... 97 Wolfgang Müller-Funk Mesmerismus und Literatur....................................................................................... 115 Andrea Rudolph Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive. Politische Metaphern in Heinrich Laubes „Die Bernsteinhexe” (1844)....................................................... 131 Ester Saletta „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” Brochs Roman „Die Verzauberung” zwischen Ursprung und Innovation eines christlich-satanischen Rituals.......... 153 Barbara Hindinger „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten. Zu Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”......... 169 Peter Mario Kreuter „Auf dem Karlsplatze war es still.” Die Inszenierung Prags als Ort des Okkulten bei Leo Perutz und Paul Leppin............................................................... 187 Hans Richard Brittnacher Zeit der Apathie. Vergangenheit und Untergang in Alfred Kubins „Die andere Seite” ....................................................................................................... 201 Franz Rottensteiner Die „Seelenwanderungen” des Paul Busson ............................................................ 219 Angela Reinthal „ Alchemie des Poeten“ John Dee (1527-1608) in Gustav Meyrinks Roman „Der Engel vom westlichen Fenster” (1927)............................................................. 235 <?page no="6"?> 6 Inhalt Robert Ziegler The Grammar and the Key: Magic, Literature, and Faith in Péladan’s „Le Vice suprême” ........................................................................................................257 Marco Frenschkowski Charles Godfrey Leland (1824-1903) und die Ursprünge der Wicca-Religion .....273 Christian Stiegler Mythenbildung, Fakten und der Nationalsozialismus als politische Religion. Zum Einfluss okkulter Vorstellungen im Dritten Reich ........................................337 Johannes Harnischfeger Der Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum: Die Prophetin Ngozi in Südostnigeria ......................................................................349 Peter Mulacz Im Rotlicht erhebt sich ein Taschentuch - und „Fragwürdigstes“ geschieht im „Zauberberg“...........................................................................................................365 Zu den Autorinnen und Autoren .............................................................................401 <?page no="7"?> Wolfgang Müller-Funk/ Christa A. Tuczay Faszination des Okkulten: Einleitung „Der 6. Sinn“, Geisterhäuser unterschiedlichster Provenienz, „Ghost - Nachricht von Sam“, Stephen Kings altmodische Genrebilder des Übersinnlichen, das sind vertraute Zeugnisse der populären Kultur: Das Übersinnliche bewegte und bewegt alle Gemüter. Schon Gottfried Keller formulierte in „Der Geisterseher“: Desto ernster erneuerte sich der Eindruck des Geschehens; die schnurrige und widerwärtige Seite des Spuks trat zurück vor der Ahnung der endlosen Unruhe einer Seelensubstanz, für die sich, wenn dies Landhaus einst lange vom Erdboden verschwunden sein wird, dasselbe stets wieder aufbaut […] Erst jetzt, da ich keine Wahl mehr hatte, bescherte mich die übersinnliche Jenseitigkeit mit ihren dunklen Schatten, und ich empfand ein Heimweh wie nach einem Beichtvater. 1 Schatten, Schimären, Unsichtbares, in dunklen Ecken Verborgenes oder am Rande des Gesichtsfeldes, nichts Greifbares, doch zuweilen laut polternd zerstörerisch eiskalte Gegenwart, ein kalter Hauch der Toten. Was wir nicht sehen, zählt für uns nicht? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Die Geisterwelt ist nicht verschlossen und es gibt mehr zwischen Himmel und Erde? Die thematische Verknüpfung von Okkultismus und Kunst und besonders die Verschränkung von Okkultismus und Literatur wurden erst in rezenter Zeit vereinzelt wahrgenommen. Thematiken wie Esoterik und Okkultismus rücken mit der populären Inflationierung endlich auch in den Blickpunkt verschiedener kulturwissenschaftlicher Forschungen. Der Name Okkultismus, von lat. Occultus: „verborgen“ 2 , die Beschäftigung mit dem „natürlich nicht Erklärbaren“ ist in der Occulta Philosophia des Agrippa von Nettesheim 3 vorweggenommen, jedoch in anderem Sinne als jener Okkultismus, der das 19. Jahrhundert faszinierte. Im 19. Jahrhundert 1 Keller, Gottfried: Der Geisterseher. Eine Novelle. In: Sämtliche Werke Bd. 2. Frankfurt 1985, S. 265. 2 Melton, J. Gordon [Hrsg.] Encyclopedia of occultism and parapsychologya compendium of information on the occult sciences, magic, demonology, superstitions, spiritism, mysticism, metaphysics, psychical sciences, and parapsychology; with biographical and bibliographical notes and comprehensive indexes; in two volumes. Detroit 2001. 3 Libri tres de occulta philosophia oder Drei Bücher der verborgenen Philosophie. Antwerpen 1530, gedruckt Paris 1531, erweiterte Ausgabe Köln 1533. <?page no="8"?> 8 Wolfgang Müller-Funk/ Christa A. Tuczay thematisieren zeitgenössische Romane, Novellen aber auch die bildende Kunst die Dichotomie von Aberglauben und Okkultismus gegenüber Rationalismus und Aufgeklärtheit. Ausgehend von der im 19. Jahrhundert von A. L. Constant alias Eliphas Levi 4 geprägten Definition von Okkultismus, von einem Weltverständnis, das alle Erscheinungen der Welt, die sichtbaren wie die unsichtbaren, zueinander in notwendige Beziehungen setzt und außerhalb von Zeit und Raum auf eine sinnvolle Einheit sich ausgerichtet denkt. Mit dem 19. Jahrhundert tritt mit der von Frankreich ausgehenden „Wiederbelebung“ bzw. Neudefinition des Okkultismus eine Wende in seiner Geschichte ein, da jetzt abstruseste Praktiken durch eine mehr oder weniger wissenschaftliche Aufarbeitung historischen Quellenmaterials wichtig genommen und von unterschiedlichen Gesellschaftskreisen und vor allem von Frauen auch eingesetzt werden. Eine 1848 von Amerika ausgehende Epidemie des Tischrückens 5 löste auch in Europa ein massives Interesse am Spiritismus und der Kontaktaufnahme mit den Toten durch Medien aus. Für die Depression der Zurückbleibenden, die an der Nicht-Kommunikation mit den Toten litten, gab es endlich eine Arznei und daher wurde diese neue Option frenetisch begrüßt. Im Gegensatz zu Frankreich oder England verhält sich die Rezeption der Geheimwissenschaften in Deutschland und Österreich zurückhaltender und erlebt in den Folgejahren des Ersten Weltkrieges einen Aufschwung. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhundert kristallisieren sich innerhalb des Spiritismus zwei Richtungen heraus, einerseits soll die Telepathie hinter jedweder außersinnlicher Wahrnehmung stehen und anderseits die Überzeugung von der Echtheit okkulter Phänomene an sich, entschieden vertreten durch Albert von Schrenck-Notzing. Joris Huysmans, der sich zu allem Okkulten hingezogen fühlte, schreibt in seinem Schlüsselroman Tief unten: Welch bizarre Epoche […]. Gerade in dem Augenblick, wo der Positivismus mit vollen Backen bläst, erwacht der Mystizismus, und die Narrheiten des Okkulten beginnen Aber so ist es immer gewesen; die Jahrhundertsenden ähneln sich. Alle 4 La science des esprits. Révélation du dogme secret des kabalistes, ésprit occulte des Evangiles, appréciation des doctrines et des phénomènes spirites. Paris 1976. Secrets de la magie. Paris 2000. (Beinhaltet die Werke Dogme et rituel de la haute magie, Histoire de la magie und La clef des grands mystères). 5 du Prel, Carl: Der Spiritismus. Leipzig: 2006; Zum ursprünglich amerikanischen Spiritismus: Bennett, Bridget: Transatlantic spiritualism and nineteenth century American literature New York 2007; vgl. den Überblick zu „Spiritualism”. In: Encyclopedia of the Unusual and Unexplained. Bd. I Detroit 2003. S. 133f. <?page no="9"?> Faszination des Okkulten: Einleitung 9 schwanken hin und her und sind verwirrt. Wenn der Materialismus zu arg wird, erhebe sich die Magie. Dieses Phänomen erscheint alle hundert Jahre wieder. 6 Die sich daraus ergebenden Wahrnehmungsstrukturen und Handlungsmuster von der Antike über das Mittelalter ins 18., 19. und 20. Jahrhundert sollen vor allem an Literatur und bildender Kunst, aber auch an Fach- und Gebrauchsliteratur in der Analyse sichtbar werden. Der Bogen spannt sich von dem mittelalterlichen Begriff des Okkulten als einer Geheimwissenschaft und Magie einerseits und der im 13. Jahrhundert plötzlich literarisch fassbaren literarischen Richtung der Geisterdialoge 7 , über okkulte Praktiken der Barockzeit, die Hochblüte im 19. Jahrhundert bis zum Okkultismus als Phänomen der Pop-Kultur. Die epochenspezifische Uneinheitlichkeit des Begriffsverständnisses und die daraus resultierenden unterschiedlichen Positionen im kreativen Schaffen sogar innerhalb einer Epoche werden zusätzlich gebrochen durch die verschiedenen Positionen der Geschlechter in der Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen. Dass ein so facettenreiches Phänomen kein homogenes Bild ergibt, steht außer Zweifel, macht aber gerade dessen Faszination aus. 6 Huysmans, Joris: Tief unten. Zürich 1987, S. 269. 7 Vgl. Schmitt, Jean-Claude: Ghosstss in the Middle Ages. The Living and the Dead in Medieval Society. University of Chicago 1998, S. 149ff. <?page no="11"?> Helmut Birkhan Vom Schrecken der Dinge Das Märchen Nr. 41 der Grimmschen Sammlung „Der Herr Korbes“ lautet: 1 Es war einmal ein Hühnchen und ein Hähnchen, die wollten zusammen eine Reise machen. Da baute das Hähnchen einen schönen Wagen, der vier rote Räder hatte, und spannte vier Mäuschen davor. Das Hühnchen setzte sich mit dem Hähnchen auf, und sie fuhren miteinander fort. Nicht lange, so begegnete ihnen eine Katze, die sprach: „Wo wollt ihr hin? “ Hähnchen antwortete: „Als hinaus Nach des Herrn Korbes seinem Haus.“ „Nehmt mich mit“, sprach die Katze. Hähnchen antwortete: „Recht gerne, setz dich hinten auf, daß du vornen nicht herabfällst. Nehmt euch wohl in acht, Daß ihr meine roten Räderchen nicht schmutzig macht. Ihr Räderchen, schweift, Ihr Mäuschen, pfeift, Als hinaus Nach des Herrn Korbes seinem Haus.“ Danach kam ein Mühlstein, dann ein Ei, dann eine Ente, dann eine Stecknadel und zuletzt eine Nähnadel, die setzten sich auch alle auf den Wagen und fuhren mit. Wie sie aber zu des Herrn Korbes Haus kamen, so war der Herr Korbes nicht da. Die Mäuschen fuhren den Wagen in die Scheune, das Hühnchen flog mit dem Hähnchen auf eine Stange, die Katze setzte sich ins Kamin, die Ente in die Bornstange, 2 das Ei wickelte sich ins Handtuch, die Stecknadel steckte sich ins Stuhlkissen, die Nähnadel sprang aufs Bett mitten ins Kopfkissen, und der Mühlstein legte sich über die Türe. Da kam der Herr Korbes nach Haus, ging ans Kamin und wollte Feuer anmachen, da warf ihm die Katze das Gesicht voll Asche. Er lief geschwind in die Küche und wollte sich abwaschen, da sprützte ihm die Ente Wasser ins Gesicht. Er wollte sich an dem Handtuch abtrocknen, aber das Ei rollte ihm entgegen, zerbrach und klebte ihm die Augen zu. Er wollte sich ruhen und setzte sich auf den Stuhl, da stach ihn die Stecknadel. Er geriet in Zorn und warf sich aufs Bett, wie er aber den Kopf aufs Kissen niederlegte, stach ihn die Nähnadel, so daß er aufschrie und ganz wütend in die weite Welt laufen wollte. Wie er aber an die Haustür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot. Der Herr Korbes muß ein recht böser Mann gewesen sein. 1 Zitiert nach: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen. Nach der Großen Ausgabe von 1857, textkritisch revidiert, kommentiert und durch Register erschlossen, hg. Hans- Jörg Uther, 2 München 1996, [= KHM] I, 212f. 2 Anscheinend soviel wie bornrohr ‘Brunnenrohr’ als Wasserzufluß in der Küche (? ). <?page no="12"?> 12 Helmut Birkhan Das Märchen KHM 41 gehört vordergründig zu AaTh 210 „Tiere auf Wanderschaft“, so wie auch KHM 10 „Das Lumpengesindel“, KHM 27 „Die Bremer Stadtmusikanten“ und KHM 58 „Der Hund und der Sperling“. In gewisser Weise läßt sich auch KHM 18 „Strohhalm, Kohle und Bohne“ vergleichen, obwohl die darin auftretenden Aktanten keine Tiere sind. Ich möchte in dieser kleinen Studie jedoch nicht die Tiere in den Mittelpunkt stellen, sondern die sonst als unbelebt angesehenen Objekte, die ja, wie auch in KHM 18, autonom handeln. Also Ei, Stecknadel, Nähnadel, Mühlstein, Bohne, Strohhalm und Kohle. Während sich für die letzten beiden die Autonomie fatal auswirkt und bei der Bohne der Untergang nur durch das Dazwischentreten des Schneiders verhindert wird, triumphieren die erstgenannten vier Dinge durchaus. Das Wirken der ersten drei läßt sich noch als Schabernack bestimmen, so auch in KHM 10, der stürzende Mühlstein wird aber gewissermaßen zum „Mörder“. Spätestens hier erkennen wir, daß das autonome Dingwirken keineswegs geheuer ist. Wie die Varianten bei Bolte- Polívka zeigen, 3 gehört öfters auch ein kneifender Krebs zum „Lumpengesindel“, der Mühlstein ist zwar auf die deutsche Tradition beschränkt, dafür erscheinen aber in den fernöstlichen ähnliche schwere Gegenstände, welche die böse Alte - die Funktion des Herrn Korbes als „Opfer“ fällt hier meist einer alten Frau zu - erschlagen. So im indischen Märchen, wo Ei, Reisschäler und Reismörser die Untat vollbringen, im malaiischen Märchen ziehen Maus, Garnele, Tausendfuß, Laufhuhn, Aal, Nadel und Amboß auf Abenteuer aus. Im japanischen Märchen rächen ein Ei, die Biene, der Seetang, der Reismörser und die Mörserkeule die Mißhandlung der Krabbe am Affen. 4 Die mitwirkenden Dinge oder Tiere sind oft relativ unbedeutend und klein: Eidechse, Schlange, Kalajatfisch, ein Weichtier, Ameise, Feuerstein, Ferkelkot, Schleifstein. Das Unheimliche mancher Dinge tritt besonders bei AaTh 334 „Haushalt der Hexe“ hervor. Dazu gehören KHM 42 „Der Herr Gevatter“ und KHM 43 der Ausgaben vor 1837 „Die wunderliche Gasterei“ 5 , in der eine Leberwurst eine befreundete Blutwurst besucht und im Treppenhaus ähnlich erstaunliche Dinge wahrnimmt, wie der Besucher des Herrn Gevatter. Die jeweiligen Besucher sehen den Zank zwischen Schippe und Besen, einen verwundeten Affen (in der „Gasterei“), eine Menge toter Finger, ein Haufen toter Köpfe, und sich selbst bratende Fische in KHM 42. Wichtig ist dabei, daß die Leichenteile ebenso wie die Fische sinnvolle Auskunft geben, d. h. verständig handeln können. Die dahinterstehende Dämonengestalt (der Gevatter, bzw. die mörderische Blutwurst) versucht den Argwohn des Besuchers zu zerstreuen, indem sie rational-hausbackene Erklärungen abgibt, die das Ge- 3 Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, neu bearb. von Johannes Bolte und Georg Polívka, I, Leipzig 1913, 75f. 4 Ibid. I, 77-79. 5 Abgedruckt ibid. I, 375f. <?page no="13"?> Vom Schrecken der Dinge 13 schaute als Sinnestäuschung entlarven und bagatellisieren sollen. Als die Leberwurst sich nach den seltsamen Dingen erkundigte, tat die Blutwurst aber, „als hörte sie es nicht oder als sei es nicht der Mühe wert, davon zu sprechen, oder sie sagte etwa von der Schippe und dem Besen: ‘Es wird meine Magd gewesen sein, die auf der Treppe mit jemand geschwätzt’ und brachte die Rede auf etwas anderes.“ In gleicher Weise erklärt der Herr Gevatter die seltsamen Dinge einfach weg: Schippe und Schaufel waren Knecht und Magd, die miteinander sprachen. Die toten Finger waren Skorzenerwurzeln, die Totenköpfe Krautköpfe und als gerade die sich selbst bratenden Fische als „normal“ erklärt werden sollen, „kamen die Fische und trugen sich selber auf.“ 6 Auch KHM 43 „Frau Trude“ läßt sich vergleichen, wenn auch die Wesen im Stiegenhaus schreckliche Männer sind, die das fürwitzige Mädchen, das die Frau Trude besuchte, erbleichen lassen: der schwarze Mann soll ein Köhler, der grüne ein Jäger und der rote ein Metzger gewesen sein. Während die Leberwurst vor der blutgierig das Messer wetzenden Blutwurst und der Besucher, der den Herrn Gevatter durch das Schlüsselloch gehörnt gesehen hatte, noch rechtzeitig flüchten können, verwandelt Frau Trude das Mädchen in einen Holzblock, den sie ins Feuer wirft. Sie wärmt sich an der Glut und spricht: „’Das leuchtet einmal hell! ’“ 7 Daß die seltsamen Erscheinungen hier in Stiegenhäusern mörderischer oder dämonisch-teuflischer Wesen auftauchen, erhöht deren Horrorwirkung, wäre aber auch sonst gegeben. Sie tritt ganz deutlich auch bei Franz Kafkas „Odradek“ in der „Sorge des Hausvaters“ (1919) 8 zu Tage. Es ist eine absurde Faszination, die von dem stelzbeinigen Garnstern mit den verfitzten Zwirnresten, seiner Launenhaftigkeit und seinem „lungenlosen“ Lachen ausgeht. So lächerlich Odradek für sich genommen sein könnte, seine unberechenbare Permanenz, die Vorstellung, daß Odradek vielleicht Generationen überdauern kann, macht dem Hausvater Sorgen und ist ihm „eine fast schmerzliche“. Stark ist die Horrorwirkung, wenn losgelöste Körperteile auftreten. Wir können dies in Josef Haslingers „Opernball“ beobachten, wo leberkäsesemmelkauende Polizisten einen abgetrennten kleinen Finger in der Wiener Opernpassage finden. Der Autor erzählte mir, daß bei seinen Romanlesungen dieses Detail besondere Emotionen auszulösen pflegte. Diese Faszination ließe sich noch steigern, wenn der Finger nicht nur in unangemessener Weise isoliert daläge, sondern etwa noch zuckte. Das hätte freilich nicht in den völlig realistischen Roman Haslingers gepaßt und bliebe etwa dem Horrorfilm vorbehalten, wo mitunter dahinkriechende abgeschlagene Hände erscheinen, 6 KHM I, 215. 7 KHM I, 216. 8 In: Ein Landarzt, in: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hg. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Neumann, Frankfurt/ Main - New York, 1994, 282-284. <?page no="14"?> 14 Helmut Birkhan oder wenn bei „Neithart Fuchs“ von den abgeschlagenen Fingern der Bauern gesagt wird, daß sie wie Heuschrecken im Gras hüpfen (2028): 9 so hacken wir die vinger, daz si springen, vnd das man si sicht über al sam die heischreckel hupfen in dem graß… Daß die Hände, wie übrigens auch andere Organe, von sich aus eine charakteristische Lebenskraft besitzen, zeigte Maurice Renard in dem psychologischen Horrorroman „Les Mains D’Orlac“ (1921). Darin verliert ein Pianist bei einem Unfall beide Hände. Jedoch ein Chirurg näht dem Bewußtlosen die Hände eines eben guillotinierten Mörders an. Nicht nur, daß die Hände nunmehr zum Klavierspiel kaum zu gebrauchen sind, sie scheinen auch ein schreckliches, mörderisches Eigenleben zu entwickeln. Am Höhepunkt der Stummfilmzeit wurde 1924 das Werk von Robert Wiene verfilmt, der schon „Das Cabinett des Dr. Caligari“ gedreht hatte. Die Rolle des Chirurgen spielte hier Fritz Kortner. In der zweiten Verfilmung (USA 1935) durch Karl Freund wurde sie von Peter Lorre verkörpert. Unter den Grimmschen Märchen gehört natürlich KHM 118 „Die drei Feldscherer“ dazu, in dem das Problem der Organtransplantation anklingt. Als die von den Feldscherern der Wirtstochter zur Aufbewahrung übergebenen Organe von der Katze gefressen werden, muß sie die Hand durch die eines gerade am Galgen hängenden Diebes, die Augen durch die einer Katze und das Herz durch ein Schweineherz ersetzen. Das Ergebnis ist leicht vorhersehbar. Die eingesetzten falschen Augen kommen schon in den Gesta Romanorum (Ende des 13. Jh.s) und in einem m # re des Strickers „Das Katzenauge“ 10 vor. Ein König, der ein Auge verloren hat, erhält von einem Arzt ein Katzenauge eingesetzt. Doch nun stellt sich heraus, daß der König grußlos seine treuesten Vasallen übersieht, weil das Katzenauge ständig Mäuse aufspüren will. 11 Der Stricker sagt in diesem Zusammenhang: die natur ist der ander got, also die „zweite Gottheit“, die eben die Dinge - in diesem Fall das Katzenauge - aus sich heraus so handeln läßt, wie die Natur es vorgesehen hat. Der „Ande- 9 Narrenbuch, hg. Felix Bobertag (= Deutsche Natinal Litteratur 11), Berlin Stuttagrt 1884 (Nachdruck: Tokyo - Tübingen 1974), 223. Dazu: Die Historien des Neithart Fuchs. Nach dem Frankfurter Druck von 1566, in Abb. hg. Erhard Jöst (= Litterae 49), Göppingen 1980, 46v-47r. Der Holzschnitt auf 46r zeigt eine im Gras liegende abgeschlagene Hand mit gespreizten Fingern, die tatsächlich einen Sprung anzudeuten schein. 10 Die Kleindichtung des Strickers, hg. von Wolfgang Wilfried Moelleken, Gayle Agler und Robert E. Lewis (= GAG 107), Göppingen 1973-1978, I, Nr. 2. 11 Es wäre erstaunlich, wenn die gelegentliche Verwendung tierischer Organe (vor allem vom Schwein und Affen) in der Transplantationsmedizin keine modernen Sagen dieses Typs hervorbringen würden. Ich muß jedoch einräumen, keine solche Tradition bisher gefunden zu haben. <?page no="15"?> Vom Schrecken der Dinge 15 re Gott“ ist das sich aus seinem Wesen artikulierende Seinsprinzip des Dinges, eben seine „Natur“. Wir können zusammenfassend sagen, daß die bisher berührten Erzählungen einen mehr oder minder großen Schock- und Horroreffekt bewirken können, und zwar durch die den dinglichen Gegenständen, niederen Tieren, bzw. abgetrennten Körperteilen innewohnende charakteristische Kraft, die sich in eigenständigem Handeln manifestiert, und die ich in Anlehnung an die Strickersche Formulierung eine spezifische Manifestation des „Anderen Gott“ nennen werde. Ein anderer - gleichfalls sehr treffender - von Karl Sigismund Kramer verwendeter Begriff ist der der „Dingbeseelung“. 12 Gemeint ist stets ein jeglichem Ding inhärentes Wesensprinzip im Sinne von Eigenschaft-Habens, das sich immer wieder autonom äußern und unsere Pläne mit den Dingen konterkarieren kann. Wie das Märchen vom Herrn Gevatter zeigt, ist zwischen autonom handelnden Gegenständen (Besen und Schippe) und organischen Elementen wie abgetrennten Fingern und Köpfen kein grundsätzlicher, sondern, wie der dreistufige Aufbau lehrt, nur ein Intensitätsunterschied. Dabei ist gleich zu sagen, daß frei agierende abgetrennte Körperteile nicht eo ipso als Horrorelemente angesehen werden müssen, sondern daß dieses Element kontextuell bedingt ist. Bei unserem Kindervers: „Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der hebt sie auf …“ fehlt das horrorkonstituierende Element, weil die Finger nicht abgetrennt sind und keine negativen Funktionen ausführen. Daß man den Fingern ein gewisses sogar dämonisches Eigenleben zubilligt, geht aus dem „Jemandem-den-Daumen-Halten“ hervor, was die Römer, wie wir von Plinius wissen, pollicem premere nannten und ganz in dem angedeuteten Sinn verstanden. 13 Wenn die dämonische Manifestation des „Anderen Gottes“ von der Hand eingeschlossen wird, kann sie weder direkt noch per Analogiezauber Unheil stiften. Erst vor kurzem wurde auf den Lebenshilfe-Seiten des Boulevard-Blattes „Die Kronenzeitung“ empfohlen, Wutanfälle und andere starke Erregungen dadurch niederzukämpfen, daß man den Mittelfinger mit der anderen Hand umfängt und so eine Zeit lang festhält. Der Mittelfinger galt dem Mittelalter als der „freche“ oder „ungezogene“, weil er beim Anfassen eines 12 Die Dingbeseelung in der germanischen Überlieferung (= Beiträge zur Volkstumsforschung 5), München 1940. Vgl. Karl Sigismund Kramer, Dingbedeutsamkeit, -beseelung, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 5 (1984), 465f. Dort auch weitere Literaturhinweise. Kramer ersetzte später den Begriff der „Dingbeseelung“ durch den der „Dingbedeutsamkeit“, um der Einengung auf animistische Vorstellungen vorzubeugen. In dem von mir diskutierten Zusammenhang des autonomen Dinghandelns ist jedoch „Dingbeseelung“ durchaus brauchbar, so lange wir nicht an eine bestimmte eingeengte Seelenvorstellung denken. 13 Im Film „The Night of the Hunter“ (Charles Laughton 1955) hat der verbrecherische Prediger Harry Powell seine Hände mit „Hate“ und „Love“ markiert und beeindruckt seine Zuseher, indem er Haß und Liebe miteinander ringen läßt. <?page no="16"?> 16 Helmut Birkhan Objektes dieses gewöhnlich als erster berührt. 14 In dem Gespielinnenlied Nr. XV singt Burkhart von Hohenvels: 15 ich hân funden mir ein spil: der mir mînen vinger bindet, sô wünsch ich doch swaz ich will. ‚Ich hab mir ein Spiel erdacht: auch wenn man mir den Finger festbindet, so wünsch ich mir doch, was ich will.’ Der frei bewegliche Finger erscheint in diesem Kontext als das magische Organ, das Wunsch (und Wunschverwirklichung? ) ermöglicht. Auch wenn Körperteile autonom handeln, löst das nicht immer Horror aus; beim Penis ist diese „Autonomie“ der Normalfall und der in ihm wirkende „Andere Gott“ war den Theoretikern der „Paradiesehe“ ein Dorn im Auge. Hätte es keinen Sündenfall gegeben und wären wir noch im Paradies, so hätten sich die Menschen mittels willkürlich bewirkter und von keiner erotischen Sensation begleiteten Erektion des Penis fortgepflanzt. 16 Die Unberechenbarkeit - und auch Unzuverlässigkeit - der Erektion war bekanntlich Anlaß zu vielen magischen Praktiken, zum Vorwurf magischer Verzauberung durch Hexen, zu vielen Metaphern, Witzen und dergleichen. Berühmt sind die autonom handelnden von ihren Besitzern losgelösten Genitalien in mittelhochdeutschen Schwankmären wie „Gold und zers“ 17 aus der Zeit um 1300. Einst hätte der zers, der damals noch zwei Augen hatte, mitangehört, wie sich die Frauen im Streit, ob ihnen Gold oder zers lieber wären, für ersteres entschieden. Erst als der beleidigte zers das Land verlassen hatte, merkten die Frauen, wie sehr sie auf ihn angewiesen waren. Als er nun zurückkehrt, reißen ihm die Frauen die Augen aus, damit er - nunmehr blind - nicht mehr davonlaufen könne. Allerdings hängt sich eine fürwitzige 14 So sagt die „Wiener Genesis“: der dritte heizet ungezogen, wande er ilit sich furnemen: suare diu hant reichet, allereriste er iz pegrifet. ‘Der dritte (Finger) heißt der „Ungezogene“ (besser: „Unbescheidene“), weil er vorauseilt und als erster berührt, wonach die Hand reicht.’ 15 Carl v. Kraus, Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. I (Text), Tübingen 1952, 47. 16 Michael Müller, Die Lehre des hl. Augustinus von der Paradiesehe und ihre Auswirkungen in der Sexualethik des 12. und 13. Jahrhunderts bis Thomas von Aquin, Regensburg 1954. Im „Lucidarius“ antwortet der Meister auf die Frage des Schülers, wie sich die Menschen fortgepflanzt hätten, wenn sie im Paradies geblieben wären: alse men zwo hende zesamene sleiht ane gelust unde ane sunde; Lucidarius, hg. Felix Heidlauf (= DTM 28), Berlin 1915, 7. 17 Hg. Hanns Fischer (Hg.), Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts (MTU 12), München 1966, Anhang Nr. 3a, 3b, 431-443; dazu: Werner Williams-Krapp, ‘Gold und Zers’, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. K. Ruh et alii, 3, Sp. 76f. <?page no="17"?> Vom Schrecken der Dinge 17 Nonne die zers-Augen an einer Schnur zum Schmuck um den Hals. Da wachsen sie fest und seitdem haben die Frauen Brüstchen mit Brustwarzen. Daß dies richtig ist, läßt sich dadurch erweisen, daß sich der zers sogleich in der Hoffnung, seine Augen wieder zu erlangen, aufrichtet, wenn ein Mann die Brüste anfaßt. Noch burlesker ist das mære vom „Nonnenturnier“, 18 wo der abgetrennte zagel unter den Nonnen eines Klosters Verwirrung stiftet, bevor er zu seinem früheren Besitzer „heimkehrt“. Umgekehrt verstößt im „Rosendorn“ 19 eine Frau ihre vut nach einer langen Debatte mit ihr. Diese schweift nun allein durch die Welt, wird aber wegen ihrer Häßlichkeit oft für eine Kröte gehalten und getreten. Sie kehrt gerne wieder zu ihrer Herrin zurück, die inzwischen auch gemerkt hat, daß sie ohne vut bei den Männern keinen Anwert besitzt. Die redende Vulva erscheint dann wieder im „Ring“ des Heinrich Wittenwiler (um 1415). So berechtigt es ist, die groteske Vorstellung der eigenständig handelnden Genitalien als eine Form der Dämonisierung der Geschlechtlichkeit 20 anzusehen oder nach Michail Bachtin aus dem „karnevalistischen Weltempfinden“ 21 zu erklären und als eine Art von Gegenentwurf zur strengen religiösen Konzeption der Kirche aufzufassen, die abenteuernden Pudenda gehören auch zu den dahinkriechenden abgetrennten Händen und den redenden abgeschlagenen Köpfen! Auch hier scheinen „Dinge“ autonom zu handeln, was durchaus als Horror empfunden werden könnte, wenn der Schrecken nicht durch die Lust am Pikanten paralysiert wäre. Die dämonische Komponente des „Anderen Gottes“ des autonomen Dinges ist durchaus vorhanden und kann sich mitteilen, allerdings hier nicht in spezifischer Weise, denn die phantasierten Bewegungen der wandernden Pudenda gehören nicht zu ihren üblichen „motorischen“ Aktionen. Daß abgetrennten Körperteilen noch etwas von der Lebenskraft des Körpers, von dem sie genommen sind, innewohnt, ist zwar phantastisch - aber doch nicht so schwer vorstellbar. Denken wir an ein Bein des Weberknechts, das - ausgerissen - noch stundenlang nachzuckt! Die im Körperteil gespeicherte Lebenskraft läßt ihn als Apotropaion geeignet erscheinen, wobei der „vernünftige“ Gedanke, daß die Böses abwehrende Lebenskraft wie die Spannung einer Batterie allmählich aufgebraucht werden müßte, interessan- 18 Hg. Hanns Fischer (1966) Nr. 3, 31-47. 19 Zugänglich in: Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffen-Mären, Stadt- und Dorfgeschichten, Schwänke, Wundersagen und Legenden … meist zum erstenmal gedruckt und herausgegeben von Friedrich Heinrich von der Hagen, 3 Bde, Stuttgart - Tübingen 1850. III, Nr. 53, 21-28. Dazu: Werner Schröder, ‘Der Rosendorn’, in: Verf.-Lex. 8, Sp. 182-185. 20 Dazu Helmut Birkhan, Sozialer Umbruch in der deutschen Literatur des Spätmittelalters, in: Wissenschaft und Weltbild 29, Wien 1976, S. 43-55. 21 Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Kaempfe, München 1969, 25ff. <?page no="18"?> 18 Helmut Birkhan terweise nicht zum Tragen kommt. Die im White Tower befindliche tête coupée des kymrischen mythischen Helden Bendigeitvran hat von seiner Installation bis zur Zeit Arthurs nichts an apotropäischem Vermögen eingebüßt und alle Invasoren aus dem Osten von Britannien ferngehalten. 22 Auch die Körperteilreliquien der Heiligen lassen in ihrer Wirkung nicht nach. Steinerne Genitalien am romanischen Kirchenportal von St. Stephan in Wien halten auch heute noch das Böse fern und notorische Lebensträger wie Blut und Sputum verlieren im Märchen ihre Kraft nicht. Bei den leblosen Dingen oder Sachen im engeren Sinn ist die wirkmächtige Präsenz des „Anderen Gottes“ schon schwerer nachzuvollziehen, obwohl sich die „Lebendigkeit“ ganz alltäglich z. B. in der Benennung, sowohl der appellativischen als auch der onomastischen, ausdrücken kann. Der erstgenannte Typ begegnet in dt. Jacke und Jackett, wienerisch Janka, franz. jacque und jacquette, engl. jacket (alle zu Jakob), wiener. Joschi ‘Mantel’ (zu Josef), dt. Heinzelbank (zu Heinz als vertrauliche Benennung), wiener. Doschnfeidl ‘minderwertiges Taschenmesser’ (nach Veit), der letztgenannte als Eigenname in der feierlichen Benennung oder „Taufe“ bestimmter Dinge wie Fahrzeuge (vor allem Schiffe) oder Glocken oder auch in Augenblicksbildungen, wie wenn ein Schweizer Senn seinen Bergstock Joggili nennt 23 oder man vom Geschirrspüler als Minna spricht. Daneben ist die positiv oder neutral gesehene Dingbeseelung ein beliebtes literarisches Motiv. Wir brauchen nur an Goethes „Wandelnde Glocke“ oder bekannte Morgenstern-Gedichte erinnern, wie das vom durch Angst belebten Butterbrotpapier oder das vom spukhaften nächtlichen Treiben der Kleidungsstücke, die allerdings gebildet genug sind, nicht reden zu wollen („… ohne Mund entsteht kein Ton/ lernten sie als Kinder schon/ und so reden Rock und Weste/ lediglich in stummer Geste…“), bis dann eine Spitzenbluse in ihrer Not, doch zu wimmern und zu schreien beginnt. 24 Besonders in Grenzsituationen vermeint ein Beobachter ein gewisses, meist als gespenstisch empfundenes Eigenleben der Dinge zu beobachten: Obwohl Jonas, der Held des Romans „Die Arbeit der Nacht“ schon erkannt hat, daß außer ihm selbst alles animalische Leben von der Erde getilgt ist, hat er doch den Eindruck, daß sich bestimmte Dinge (wie etwa Schuhe), während er sie nicht beobachtet, in ihrer Position verändern und stellt eine Menge von Videokameras auf, die der Sache auf den Grund gehen sollen. 25 22 Die Annahme liegt nahe, daß eine vergleichbare apotropäische Wirkung auch sonst von den deutlich zur Schau gestellten têtes coupées (etwa in Roquepertuse oder an den picardischen Opferheiligtümern) ausgehen sollte. 23 Kramer (1940), 72. 24 Christian Morgenstern, Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe, III. Humoristische Lyrik, hg. Maurice Cureau, Stuttgart 1990, 136f., 145-147. Belebte Dinge sind aber in der grotesken Lyrik Morgensterns auch sonst keineswegs selten. 25 Thomas Glavinic, Die Arbeit der Nacht, München - Wien 2006. <?page no="19"?> Vom Schrecken der Dinge 19 Höchst eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang H. C. Artmanns Gedicht „wos unguaz“: host nix bemeagt? des messa do hod se alanech gaunz fon söwa griad .. fon köla bis zun doch ka mensch ka kozz ka maus en haus und des farfluachte messa hod se gaunz fon söwa griad .. 26 Nun ist auf ein Werk einzugehen, das sich mit beachtlicher Breite der bösartigen Seite des „Anderen Gottes“ widmet: Der Roman „Auch einer. Eine Reisebekanntschaft“ (1879) 27 von dem Hegelianer und Universitätsprofessor für Ästhetik Friedrich Theodor Vischer (1807-1887). Die schrullige Hauptperson Albert Einhart (meist „A. E.“ genannt) ist durch die Spannung zwischen den ewig gültigen ethischen Normen im Großen - Einharts Lieblingssatz lautet: „Das Moralische versteht sich immer von selbst“ - und dem Leiden unter den Teufeleien des „Anderen Gottes“ im „kleinen Zufall“ geprägt. Ausdruck des (noch) nicht bösartigen Treibens der Dingnatur ist eine Notiz, die Einhart in sein Tagebuch schreibt. Ein Knabe habe im Traum einen See gefragt: „Herr See, womit beschäftigen Sie sich? “ Da habe der See erwidert: „Ich beschäftige mich damit, naß zu sein“, was der Fragende als „ein wenig grob“ empfand. 28 Natürlich fühlte er sich genasführt, denn die Antwort ist, wie um ihn zu verhöhnen das banalste analytische Urteil von nullwertiger Information. Das ist die harmlose und übliche Seite des „Anderen Gottes“, die wir für selbstverständlich nehmen und nicht beachten. Daran erinnert zu werden, empfinden wir als Fopperei. Anders wäre es gewesen, wenn der See erwidert hätte: „Ich beschäftige mich damit eine Überschwemmung vorzubereiten“ oder „auszutrocknen“. Dann wäre die Antwort in die Kategorie der bemerkenswerten Teufeleien gefallen. So gehört zweifellos zur „Natur“ des Mühlsteines seine segensreiche Tätigkeit des Mahlens, wobei seine Schwere nebst Rundheit und anderem dazu die Voraussetzung ist. Wenn er nun den Herrn Korbes erschlägt, so ist dies die Aktion eines einzelnen Aspektes seines „Anderen Gottes“, dessen Absolutset- 26 h. c. artmann, med ana schwoazzn dintn, 5 Salzburg 1958, 20. 27 Ich zitiere nach meiner Ausgabe der Schreiterschen Verlagsbuchhandlung (Berlin W 50), s. a. Das Werk ist aber jetzt im Rahmen des Gutenberg-Projektes unter http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ aucheinr.htm im Internet bequem zugänglich. 28 S. 462 meiner Ausgabe = http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ auchei26.htm <?page no="20"?> 20 Helmut Birkhan zung nun den Eindruck der Bosheit bewirkt - die für die Funktion des Mühlsteins wichtige Rundheit ist für den Mord an Herrn irrelevant. Derselbe A. E. entwirft das Libretto zu einer „Singtragödie“, 29 in der es um die Liebe des schönen Jünglings Hilario zur „selbstbewußten Jungfrau“ Adelaide geht. 1. Akt, Szene 3 spielt in einem Park. Als Personen treten eine Pfütze und ein Hühnerauge auf. Das Exposé sieht vor: „Arie mit einem gewissen klebrigen Etwas in der Tonfärbung vorgetragen von der Pfütze, entsprechend von Instrumenten begleitet. Ein weißlicher Punkt schwebt herbei; derselbe erweist sich, näher sichtbar, als Hühnerauge (äußerst giftiger Blick und Gesamtausdruck). Arie: hornig harter, friktiv brennender Ton. Text offenbart teuflische Absichten. Verschwörungsduett zwischen beiden.“ Die folgende Szene bringt Hilario, Adelaide und Vögel auf die Bühne: „Hilario tritt auf, heiter gespannt, das Hühnerauge schwebt, einen feurigen Faden durch die Luft ziehend, nach ihm hin, verschwindet in seinem Lackstiefel. Er winselt, hinkt, fällt in die Pfütze, wird sehr dreckig. In diesem Augenblick erscheint Adelaide. Lacht sehr, verhöhnt ihn bitterlich. Beide ab. Triumphchor genannter Objekte, vermehrt durch Vögel, welche von Bäumen zugeschaut.“ War das Wasser im See zum Befremden Einharts neutral, so hat es nun als Pfütze einen scheinbar viel spezifischeren, aber auch ganz einseitigen Charakter, der sich in dem „klebrigen Etwas“ in ihrer Stimme äußert. Zusammen mit dem Hühnerauge bewirkt sie das jämmerliche Scheitern des idealischen Jünglings. Was wir hier erlebten, war schon der zweite Annäherungsversuch Hilarios. Die „Singtragödie“ Einharts sollte so beginnen: Akt I, Szene 1: Schreibzimmer; Personen: Ein Härchen, Tinte, eine Schreibfeder, ein Buch. „Das Härchen, mikroskopisch klein, in einem Tintenfaß befindlich, trägt im dünnsten Sopran eine Arie vor, Text gerichtet an die danebenliegende Schreibfeder, welche den ausgedrückten bösen Absichten Entgegenkommendes in einer Antistrophe spitz vorträgt, hierauf entsprechendes Duett. Demnächst Rezitativ, Baßstimme, ausgehend von einem Buch auf dem Bücherbrett über dem Schreibtisch. Kichernde Antwort von Geistern in der Tinte. Duett von Tinte und Buch vereinigt sich mit Härchen und Feder zu einem gefühlten Quartett.“ Szene 2: „Man hört Schritte, genannte Geister verstummen. Hilario tritt ein. Monolog. Hilario liebt aufs äußerste eine Jungfrau Adelaide. Ist schüchterner Komplexion, hat noch kein Wort gewagt, beschließt zu schreiben. Tunkt ein. Härchen und Feder vereinigen sich innig, Hilario wird nach mehreren Versuchen, mit dem verfluchten Pinsel zu schreiben, sehr wild, schreibt Grobheiten statt Zärtlichkeiten. Neue Feder. Fängt von vorn an. Es geht spießend vorwärts. Beschließt [mit] Zitat aus Petrarka. Will den Band herabnehmen, er fällt aufs Tintenfaß, das ganze Schreiben wird schwarz übergossen. Hilario beschließt in Verzweiflung, es doch mit dem 29 S. 290-292 meiner Ausgabe = http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ auchei16.htm <?page no="21"?> Vom Schrecken der Dinge 21 lebendigen Worte zu versuchen. Er hofft, der Geliebten im Park zu begegnen, will wagen, sie anzureden. Hinter ihm her höllischer Lachchor genannter Personen der ersten Szene.“ Was dann kommt wissen wir bereits. Bis auf das Hühnerauge haben alle dramatis personae in einer Weise gehandelt, die sozusagen einen Abusus ihrer Natur bildet. Das Hühnerauge als eine Art „krankhafter“ Hornhautverdickung allein hat durch seinen „Anderen Gott“, der eo ipso negativ ist, in jeder Hinsicht wesensgemäß gehandelt. Schon als das Erzähler-Ich des Romans A. E. kennenlernt, kann es die Wirkung der Dingdämonen und deren Bestrafung kennenlernen. So schreit der Zimmernachbar frühmorgens laut hörbar: „Meine Brille, meine Brille! Die Canaille hat sich wieder einmal verkrochen - vom Schlüssel, dem kleinen Teufel, vorerst nicht zu reden! “ Vom Ich über den Grund für den übermäßigen Zorn befragt, antwortet Einhart: „‘Sie können doch wissen, daß die elenden Objekte, diese Igel, 30 diese Nickel, sich nie lieber einhaken, als wenn wir die höchste Eile haben, etwas fertig zu bringen, was nötig und vernünftig ist! Elender Bettel, nichtswürdiger Knopf oder Knäuel eines Bändels, Lorgnettenschnur, die sich um meinen Westenknopf wickelt, just, wenn es auf der Eisenbahn aufs äußerste eilt, einen klein gedruckten Fahrplan nachzusehen …’“ Danach: „Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoß wütend im Zimmer hin und her und ergoß eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille. Ich suchte inzwischen am Boden herum; ich hob ein paar Hemden weg, die blank, aber zerzaust umherlagen, und mein Blick fiel auf ein Mausloch in einem Bretterspalt; ich glaubte darin etwas schimmern zu sehen, strengte meine Augen an … und die Entdeckung war gemacht; ich nahm den schwergeärgerten Mann leicht am Arm und deutete schweigend auf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermißten Gläser und begann: ‘Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer! ’ Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu ziehen, die Mühe stand wirklich im Mißverhältnis zum Werte des Gegenstands, endlich war es gelungen, er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: ‘Todesurteil! Supplicium! ’ hob den Fuß und zertrat sie mit dem Absatz, daß das Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog. ‘Ja, jetzt haben Sie aber ja keine Brille,’ sagte ich nach einer Pause des Staunens. ‘Wird sich finden, diese Teufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit…’“ 31 Dieses autonome Hervortreten und Handeln der negativen Seite eines Gegenstandes, bzw. des „beseelten“ Dings, nennt Vischer die „Tücke des Objektes“. Dies wäre nie zum geflügelten Wort geworden, wenn die Bosheit der Dinge nicht auch von vielen anderen beobachtet worden wäre. 30 Gemeint ist Egel, so wie später Blutigel für Blutegel steht. Also eine höchst lästige Tierart. 31 S. 15f. = http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ aucheinr.htm <?page no="22"?> 22 Helmut Birkhan Bei A. E. ist es nun so, daß sich den äußeren Teufeln auch innere an die Seite stellen, die Schnupfen (von ihm Pfnüssel genannt), Katarrhe, Bronchitis, Überschlagen der Stimme und allerlei Indigestionen auslösen. In seinem Nachlaß findet der Erzähler denn auch eine Art systematischer Aufstellung der Dämonen oder Teufel, die Einhart ein „System des harmonischen Weltalls“ 32 nannte und als „I. Hauptarten der Teufel“ „innere“ und „äußere“ unterschied. 33 Zu ersteren gehören in ihren potentiellen autonomen Fehlreaktionen: „Schleimhäute. Zunge. Kehle. Lunge. Zwerchfell. Magen. Gedärme. Blase. Gelenke. Sehnen. Nerven. Gehirn. Augen. Nase. Ohren. Haut. Hals. Rücken. Arme. Finger. Kreuz. Beine. Zehen. Nägel“ zu letzteren: „a. Unorganisches und abgestorbene organische Stoffe: Luft. Wind. Licht. Finsternis. Nebel. Wasser. Regen. Schnee. Eis. Erde. Morast. Pfützen. Staub. Sand. Steine. Gruben. Holzpflöcke. Strohhalme. Dorne. Härchen. Schreibfedern. Sägmehl. Eisenfeilspäne; b. Artefakte: Brillen. Haken. Nägel. Uhren. Zündhölzchen. Kerzen. Lampen. Münzen. Stiefelknechte. Schnüre. Bändel. Beinkleider. Hosenträger. Knöpfe. Knopflöcher. Rockhängeschleife. Hut. Armlöcher. Schuhe. Stiefel. Galoschen. Messer. Gabel. Löffel. Teller. Schüssel mit Suppe und anderm. Papier. Tinte. Böden, besonders Parkettböden. Treppen. Türen. Schlösser. Wände. Fenster. Kandeln. Fußbänke. Wägen, speziell Eisenbahnwägen; c. Pflanzen: Blatt. Stengel. Zweig. Ast. Stamm. Wurzeln. Kirschen-, Trauben- und andre Kerne. Erbsen. Bohnenfasern. Spitzgras. Brennesseln; d. Tiere: Insekten. Vögel. Mäuse. Rind. Pferd. Hunde. Katzen. Hasen. Rehe. Hirsche. Roß. Elefant. Würmer. Fische. Gräten; e. Menschen: Kinder. Frauen. Männer. Greise. Stände: besonders vornehme.“ All diese Dämonen setzen „II. Aktionen. A. Der inneren Teufel: Kratzen. Kitzeln. Niesen. Husten. Schleimen überhaupt. Tröpfchen an der Nase. Rasseln. Orgeln. Pfeifen. Raspeln. Schnarchen. Sich verschlucken. Lachkrampf. Kolik. Rheumatismen. Hexenschuß. Dumpfheit. Schlafdruck. Schwindel. Stechen. Glühen. Brennen. Toben. Brausen. Jücken. Beißen. Bohren. Rutschen. Stolpern. Fallen. Anstoßen. Danebengehen. Sich verwickeln. Fehlgreifen. Fehlschlagen. Fehltreten. Hühneraugenstich. Überschlagen (der Stimme). Fehlsprechen. 34 Sich verrennen. Bock schießen. Vergessen. Mit sich reden. Im Schlaf sprechen. Verwechseln.“ Natürlich gibt es auch unendlich viele Aktio- 32 S. 280 - 290 meiner Ausgabe = http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ auchei15.htm 33 Der hinter der Dämonenlehre steckende „Mythos“ Einharts ist allerdings höchst misogyn, indem er die Objektteufel auf eine Verschwörung des weiblichen Urwesens, das mit Leichtsinn, Dämonie und höchster Grausamkeit verbunden wird, mit „Legionen böser Geister“ zurückführt, um die männliche Vernunft, Moral, Kultur und Zivilisation zu Fall zu bringen. Gewiß ein psychopathischer Ansatz des Sonderlings, der aus dem zeitgenössischen Rollenbild der Frau zu verstehen ist, aber auf den eigentlichen „Schrecken der Dinge“ keine Auswirkung hat. 34 Als kurioses Detail sei erwähnt, daß sich der Vorsitzende der irischen Labour Party vor dem Wahlkampf 1983 seine Stimmbänder im Beisein von Presse und Fernsehen segnen ließ. <?page no="23"?> Vom Schrecken der Dinge 23 nen der „äußeren Teufel“ (wie z.B. Sich-Verstecken). Dabei tritt freilich das Problem auf, daß die Tücken des „Anderen Gottes“ nicht artspezifisch sein müssen, sondern eher funktionsspezifisch sind, denn die Teufelei des Sich- Versteckens ergibt ja nur dann Sinn, wenn das Objekt - sei es nun Brille, Uhr oder Taschentuch - gesucht wird. Z. B.: „ein Jahr lang wird in der Registratur der letzte Bogen eines Aktenstoßes verzweifelt und vergeblich gesucht, endlich findet er sich auf dem Grund eines andern Faszikels; er war beim Verpacken mitgegriffen worden.“ Weitere Aktionen wären: „Klemmen. Ankleben. Ein Loch kriegen. Umstrupfen (z. B. Regenschirm, Handschuh). Verlöschen, Ausgehen. Dazwischenrennen, Dazwischenreden u. s. f.“ Wirklich dramatisch werden dann „C. Kombinierte Aktionen oder Häufungen“, wozu als drastische Beispiele genannt werden: „Kolik auf der Eisenbahn. Hut vom Wind fortgerollt, gleichzeitig eine Galosche vom Fuß verloren, auch summiert mit Umstrupfen des Schirms, etwa überdies mit Hinunterfallen der Brille.“ In Vischers Roman erhebt Einharts Dämonenlehre den Totalanspruch eines Weltsystems der Negativseiten des „Anderen Gottes“. Ich zitierte sie deshalb so ausführlich, weil der im Übrigen tiefphilosophische, humoristischformlose Roman, der bis in die Mitte des 20. Jh.s zur Pflichtlektüre des Bildungsbürgertums gehörte, u. a. auch bei Heimito von Doderer seine Spuren hinterlassen hat. Eine solche lernen wir im vierten der „Acht Wutanfälle“ Doderers in Gestalt einer beißenden Teekanne kennen, die das Ich zusammen mit einem mit der Delinquentin vermutlich im Bunde stehenden Bild ganz in der Art Einharts exekutiert. 35 In den „Merowingern“ dagegen, wo die Erzeugnisse der Firma Hulesch & Quenzel Ltd frei und mit mehrfacher Berufung auf Vischer ausgestaltet erscheinen, 36 sind die „quenzlösen“ Objekte nicht solche, die auf natürliche Weise schon als „das Prinzip des Lebens selbst“ anzusehen, „vielmehr wissen wir jetzt, daß es sich bei alledem um eine Veranstaltung handelt, also um etwas, das mit Künstlichkeit in das Leben erst hineingetragen wird: dies insbesondere, seit die Comptoirs von Hulesch & Quenzel in London selbst entdeckt und deren Einrichtungen - die sich auch in sämtlichen weltweit verbreiteten Filialen der Firma wiederfinden - genauer beschrieben worden sind.“ 37 Im Katalog der Abteilung für Möbel und kleine Gebrauchsgegenstände, die einer natürlich ganz unzutreffenden Sage nach Vischer selbst geleitet haben soll, findet sich etwa als „No. 10730. Untertassen, pneumatisch. Haften einige Sekunden an der Teetasse“, als „No. 10732. Nähnadeln ohne Öhre (0,5%ige Beimischung)“ oder als „No. 10734 Schneidende Kragenknöpfe…“. 38 Die „quenzlösen“ Objekte Doderers han- 35 In: Kurz- und Kürzestgeschichten, in: Heimito von Doderer. Die Erzählungen, hg. Wendelin Schmidt-Dengler, 2 München 1976, 311f. Ich hatte die Geschichte schon vergessen und danke Hermann Reichert, der er sie mir wieder in Erinnerung brachte. 36 Heimito von Doderer, Die Merowinger oder Die totale Familie, München 1962, 142-148. 37 Ibid. 143. 38 Ibid. 147f. <?page no="24"?> 24 Helmut Birkhan deln oder - besser - funktionieren, weil sie technisch-kunstvoll hergestellte Artefakte sind: Die „Schneidenden Kragenknöpfe“ enthalten z. B. kleine scharfe Messerchen, die gelegentlich, offenbar nach dem Zufallsprinzip, ausfahren - nicht, weil sie ein innewohnender Dämon steuert, sondern weil sie - als Produkte einer eigenen Firma - Juxartikeln nahestehen, die bewußt von Menschen appliziert werden. In welcher Weise der Schrecken des „Anderen Gottes“ als Schrecken der Dinge in „Murphy’s Law“ totalisiert wurde, wäre noch zu bedenken. 39 Das Wesentliche an dieser Lebensweisheit, die allen „worst-case“-Überlegungen in der Technik zugrundeliegt, ist, daß es in komplexen Systemen wirkt und keineswegs auf die Aktion von Dingen beschränkt bleibt, wie etwa beim Beispiel des stets auf die Butterseite fallenden Brotes. 40 Ein Internet-Autor sagte zu Vischers Roman: „Die Tücke des Objekts: das ist der Begriff, den Vischer … geprägt hat. Natürlich ist die Sache älter (ich erinnere an das grimmige Märchen vom ‘Herrn Korbes’); aber erst Vischer hat das Walten des ‘kleinen Zufalls’, wie er das boshafte, unvorhersehbare Verhalten der Dinge auch nennt, als Gegenspieler der menschlichen Freiheit und Größe, ja als Prinzip der Wirklichkeit philosophisch auf den Punkt gebracht und literarisch gestaltet. Die Zeit, das neue, voll unter Dampf stehende Maschinenzeitalter, war damals reif für diesen Roman: Fehlerlos wie eine planmäßig arbeitende Maschine sollte wohl auch das menschliche Leben abschnurren.“ 41 Natürlich sind auch die sogenannten Schicksalstragödien an die Bosheit der Objekte gebunden. Schon im „Hamlet“ würde vermutlich A. E. Bechern und Degen unterstellen, sozusagen bösartig mit vergifteten Doppelgängern ihre Plätze getauscht zu haben, um den Prinzen und die Königin Gertrud zu Tode zu bringen, wie er ja tatsächlich die fatale Rolle des Schnupftuchs im „Othello“ auf die Teufelei des Pfnüssels zurückführt, 42 in den eigentlichen Schicksalstragödien und ihren Parodien wie Platens „Verhängnisvolle Ga- 39 Vgl. schon Albert Einharts Anmerkungen zu einem Trivialroman, wo es etwa heißt: „Die Koffer waren gepackt - Anmerkung: bis auf einen, den Hauptkoffer, wozu der Schlüssel verlegt war - Die Droschke war bestellt - Anm.: und kam nicht. Endlich steigen wir in den Wagen - Anm.: wobei der Onkel fehltrat und umfiel …“; S. 293 = http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ auchei16.htm. Hier scheint Murphy’s Law bereits vorweggenommen. 40 Tritt Murphy’s Law im Alltag zwischenmenschlicher Beziehungen ein, so beruht es meist darauf, daß man die ungünstigen Fälle besser wahrnimmt und sich merkt als die günstigen. Besagt das Gesetz z. B., daß, wenn man auf ein öffentliches Verkehrsmittel wartet, immer zuerst eines in der entgegengesetzten Richtung kommt, so gilt dies natürlich nicht für jene, die erst seit kurzem auf dieses in die Gegenrichtung fahrende gewartet haben. Jedoch nehmen sie den günstigen Fall nicht wahr, bzw. vergessen ihn früher als den negativen. 41 http: / / www.titanic-magazin.de/ index.php? id=heftarchiv00- 06&f=0206%2Fhumorkritik7&cHash=b581059d35 (22. 12. 2006). 42 S. 62 meiner Ausgabe = http: / / gutenberg.spiegel.de/ vischer/ aucheinr/ auchei04.htm <?page no="25"?> Vom Schrecken der Dinge 25 bel“ (1826) ist man oft versucht die „Tücke der Objekte“ zu verkennen und die Katastrophe dem sogenannten Schicksal zuzuschieben. Auch bei Wilhelm Busch sind dämonisierte Dinge nicht selten, jedoch nie objektiv im Sinne Vischers, sondern wie in „Ein Abenteuer in der Neujahrsnacht“ nur scheinbar und Ergebnis der Insuffizienz (hier der Betrunkenheit) der Menschen. „Eine ängstliche Nacht“ beginnt mit einem harmonischen Stilleben: Heut bleibt der Herr mal wieder lang. Still wartet sein Amöblemang. Erst in der Sicht des Betrunkenen wird der Kleiderständer zum bösen Ding, das dem Herrn nach dem Leben trachtet. 43 Ebenso erweckt in „Krischan mit der Piepe“ erst der Nikotinrausch des Knaben die Dinge (Ofen, Lehnstuhl, Tisch, Hocker, Sofa, Schlafrock, Regenschirm und Spazierstock) zum Leben. 44 Hinter den belebten Dingen verbirgt sich bei Busch der Zweifel an der menschlichen Vollkommenheit: „Die Dinge sollen ja nicht einfach wie im Bilderbuch Ärmchen und Beinchen und Hütchen bekommen, sondern die Überlegenheitsphantasie vom Menschen als Maß aller Dinge ad absurdum führen.“ 45 Zumeist gehören die vielen Unglücksfälle bei Busch zwar in die Randwelt des „Anderen Gottes“ 46 - denken wir nur an den einen Räuber zerquetschen- 43 Vgl. Florian Vaßen, Körper-Nähe und Distanz-Blick. Überlegungen zu Körper und Lachen in Wilhelm Buschs Bildergeschichten, in: Die boshafte Heiterkeit des Wilhelm Busch (hg. Michael Vogt), Bielefeld 1988, 107f. Weiteres zu den „lebendigen Dingen“ s. bei Gudrun Schury, Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Busch. Biographie, Berlin 2007, 219ff. 44 Gudrun Schury, Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Buch. Biographie, Berlin 2007, 220f. 45 Ibid., 221. 46 Dazu Gert Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, Frankfurt/ Main 1977, bes. 209-213. Ueding sagt (211): „Ganz im Gegensatz zu Vischers Roman, der Mißtrauen und Katastrophenangst ausnutzt, um die Wirklichkeit als Wirklichkeit der Spießervernunft zu feiern …, verweigert Busch diese Täuschung. Das von ihm inszenierte Spiel unberechenbarer Ereignisse und Zufälle wird von der nachfolgenden Moral, die immer als Spießermoral erscheint, nicht berührt, enthält keinerlei Sicherheitsversprechen, kein Bündnis mit einer entfremdeten Welt, der man einen kleinen Tribut entrichtet, um nicht alles zu verlieren. Kompromißlos auch mit sich selber entzieht er der Welt den verläßlichen Grund, in dem die Spießervernunft verankert ist.“ Ich kann die Negativbewertung von Vischers Roman nicht ganz teilen, weil ja zwischen dem Erhaben-Moralischen, dessen Selbstverständlichkeit A. E. immer wieder betont und der „Tücke des Objektes“ grundlegende Unvereinbarkeit herrscht, also auch kein „kleiner Tribut“ entrichtet wird - es sei denn, das System selber wäre dieser. Eher könnte man dem Roman unterstellen, daß er das Versagen im Großen auf die Tücke des Objekts abschiebe und so zur Bewältigung des Geschichtspessimismus zwischen 1848 und Mitte der 1860er Jahre diene, so wie Einharts politische Laufbahn durch lächerliches Stimmeüberschlagen bei einer programmatischen Wahlrede in die Brüche geht. Buschs Helden dagegen haben von Vorneherein keine so großen Ambitionen, weshalb wir ihr Scheitern aus Schadenfreude und Vergnügen an der Aufdeckung leerer Moral genießen. Der <?page no="26"?> 26 Helmut Birkhan den Mühlstein in der „Kühnen Müllerstochter“ -, aber sofern sie nicht wie beim Betrunkenen vom „Helden“ ausgelöst sind, entspringen sie weniger der Bosheit der Dinge, als daß sie sich als „Zufälle“ tarnen, wie etwa in „Der Bauer und der Windmüller“: Der Sägezahn trifft ganz genau Ins Nasenloch der Bauersfrau: Die Nase blutet fürchterlich. Der Bauer denkt: Was kümmert’s mich! Beim notorischen Pessimisten Busch mit dem programmatischen Credo zur menschlichen Bosheit 47 und Schadenfreude 48 muß natürlich auch der Zu- Familienvater und verhinderte Dichter Balduin Bählamm hat nicht die Größe Einharts, so marottenhaft dessen Dämonenlehre auch sein mag. Deshalb kann auch A. E. in der edlen Aufopferung für ein geschundenes Tier sterben, während Bählamm nach den mißglückten dichterischen Versuchen einfach wieder ins Amt geht. Vgl. jedoch die sehr treffenden Bemerkungen Uedings zu Zufall und Schicksal bei Busch (218-220). 47 Das Gute, dieser Satz steht fest, Ist stets das Böse, das man läßt. (Die fromme Helene) Dieser Satz steht im diametralen Gegensatz zur christlichen und idealistischen Ethik und enthält in nuce die von Busch vorausgesetzte Allgegenwart und Dominanz des Negativen. 48 Volker Klotz, Was gibt’s bei Wilhelm Busch zu lachen? , in: Die boshafte Heiterkeit des Wilhelm Busch (hg. Michael Vogt), Bielefeld 1988, 11-49, bes. 45-48, wollte die unerhörte Popularität Buschs als Ausdruck „eines fortlaufenden, bis zum heutigen Tag noch unverheilten kollektiven Traumas“ verstehen. „Es ist das Trauma der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848. Nicht einmal zu diesem Zeitpunkt, aber auch später nicht im Jahr 1918, ist es dem Bürgertum in Deutschland gelungen, wozu in Frankreich die gleiche Klasse bereits 1789 angesetzt hatte. Das wurde von den Betroffenen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso verspürt wie verdrängt.“ … Folgt man dieser Deutung, dann wären Wilhelm Buschs abenteuerliche Handlungen im bürgerlichen Wohnzimmer die aberwitzige Explosion einer aufgestauten politischen und psychosozialen Dynamik, die das deutsche Bürgertum nach 1848 auch sich selbst untersagte, nachdem sie ihm von der feudalen Obrigkeit verboten worden waren…“ Ich halte diese Erklärung für Überinterpretation, schon allein deshalb, weil der populäre Wilhelm Busch ja wirklich a l l e Gesellschaftsschichten anzog und noch anzieht, für welche die genannten historischen Entwicklungen nicht nur ohne Interesse sind, sondern, die sie nicht einmal kennen. Ich erinnere mich selbst, als Kind, das gerade lesen gelernt hatte, die Busch-Alben mit größtem Vergnügen verschlungen zu haben, in einer Zeit also, in der ich weder von 1848 noch von 1918 etwas wußte, und so ist es für Busch geradezu charakteristisch, daß er nicht nur die oberen und mittleren, sondern insbesondere auch die unteren Bildungsschichten ansprach und noch immer anspricht. Dort wo Busch offen politisch agiert, etwa in der Allegorie „Pater Filucius“, ist er am wenigsten populär, und zwar nicht nur, weil uns der Kulturkampf ein überlebtes Thema ist, sondern weil wir mit Busch überhaupt wenig Politisches verbinden. Um Buschs Wirkung zu verstehen, reicht die Annahme der Schadenfreude als eine Grundkonstante menschlicher Emotionalität aus, besonders dann, wenn sie, wie so oft, mit Entlarvung der Heuchelei verbunden ist. Was Volker Klotz ausführt, würde dagegen, entsprechend adaptiert, sehr wohl den Siegeszug von Donald Duck und Anhang sowohl in den USA als auch bei uns erklären. <?page no="27"?> Vom Schrecken der Dinge 27 fall - selbst nichts anderes als unbedachte und unerfragte Kausalität 49 - pessimal wirken, bzw. nach einem scheinbar ausgeklügelten System mit anderen Zufällen sich zum Maximalärger kombinieren, den der Windmüller (in „Schein und Sein“) so ausdrückt: So geht’s immer, wie ich finde, Rief der Müller voller Zorn, Hat man Korn, so fehlt’s am Winde, Hat man Wind, so fehlt’s am Korn. In der Tat ist der Zufall, wenn es ihn gibt, der Feind autonomer Handlungen der Dinge - oder dient er eher zur Camouflage ihrer Aktionen? In dem Sinne, daß er als dessen rationalisierter - wenngleich launenhafter - Bruder die Aufgabe hat unser vernünftiges Weltbild nicht zu gefährden, wenn wir nämlich seine tückische Aktionen dem sogar der Wahrscheinlichkeitsrechung zugänglichen Geschwister in die Schuhe schieben können. Die Frage nach dem Verhältnis zum Zufall gilt natürlich ebenso gewichtig auch für „Murphy’s Law“, das einerseits in seiner Ausnahmslosigkeit jeden Zufall vernichtet, dem Beobachter gegenüber sich jedoch gerne als Zufall tarnt. Wer dagegen mit der „Dingbeseelung“ und der Eigenmächtigkeit der Dinge rechnet, muß die Rolle des (statistischen) und sonstigen Zufalls minimieren. Andererseits sucht der tückisch wirkende „Andere Gott“ beim Zufall Zuflucht, freilich nicht beim „großen“ des Fatums, das ganze Weltreiche stiften oder vernichten kann, sondern beim „kleinen“, der so auf der Treppe zum „großen“ hockt wie die seltsamen Dinge in den erwähnten Märchen. Frei nach Vischer: der Friedensattaché könnte stolpern, in eine Pfütze fallen, sich neu einkleiden müssen, während schon die ersten Schüsse fallen und der Krieg ausgebrochen ist. In die Nähe kommt ein von Doderer erzählter Fall eines orientalischen Diplomaten, der unmittelbar nach der Überreichung seines Beglaubigungsschreibens im Buckingham-Palast vor Schmerz an den Hühneraugen zusammenbrach, die ein von Hulesch & Quenzel Ltd erzeugtes kristallisches Pulver gezüchtet hatte. 50 Die ständige gewalttätige Katastrophenhandlung von „Tom and Jerry“ befriedigt dagegen eher einen allgemeinen brutalen Zerstörungsinstinkt gepaart mit dem fast ständigen Triumph der klugen Maus über die viel stärkere aber auch dümmere Katze, und steht Busch dadurch ferne, daß die Brutalität viel weniger subtil ist, die Themen weniger universell und die Entlarvung der Heuchelei entfällt. Immerhin gibt es Übereinstimmungen in den grausamen Einzelheiten (z. B., daß eine Person nach einer Explosion völlig geschwärzt erscheint). 49 Ein Gedanke, der bei Busch freilich nur als theoretische Einsicht nach Schopenhauerschem Vorbild auftaucht; Josef Ehrlich, Wilhelm Busch der Pessimist. Sein Verhältnis zu Arthur Schopenhauer, Bern - München 1962, 50f. 50 Vgl. oben Anm. 35, 144f. <?page no="28"?> 28 Helmut Birkhan Die bisherigen Ausführungen haben sich vorwiegend an komischen Beispielen orientiert. Es ist nun aber angebracht, auch Stützen von außerhalb des Märchens und der deutschen Belletristik zu liefern. 51 Die Ethnologie rechnet seit langem mit solch beseelten Dingen. In der Gegenwart besonders populär ist der „Essai sur le don“ (1950) von Marcel Mauss. Er untersuchte vor allem die Verhältnisse bei den Maoris, wie sie beim Schenken wichtig waren und unterschied die Gabe (taonga) in rein physisch-gegenständlichem Sinn von der mit ihr verbundenen „Seele“ (hau) ihres ursprünglichen Besitzers. Dem ständigen Zwang zu schenken, der an der Wurzel von Güteraustausch, Handel und der Konstituierung von Stammesgesellschaften steht, stand der Zwang beschenkt zu werden gegenüber. Beim Verschenken einer Sache geht aber nicht nur diese, also das taonga, in den Besitz des Beschenkten über, sondern auch das an dem taonga hängende hao des Schenkers. Dies wird aber als eine wesentliche Einbuße empfunden, so daß der Wunsch entsteht, das hao wieder zurückzubekommen. Da es aber offenbar nicht angängig ist, das vom Schenker erhaltene taonga samt hao wieder an diesen zurückzuschenken, und der dauernde Besitz des fremden hao dem Beschenkten Schaden brächte, gibt es nur den Ausweg, das taonga samt hao einem Dritten zu schenken, der es dann ohne Gesichtsverlust wieder dem ersten Schenker weiterschenken kann. Stellen wir uns das Ganze durch mehr Zwischenbesitzer und dadurch, daß jeder von sich aus einem andern ein taonga schenken kann, komplizierter vor, so entsteht vor unseren Augen eine Art Handelsgesellschaft, in der freilich kein Wertzuwachs und kein Reichtum entsteht, da letztlich jeder seine eigenen Geschenke zurückbekommt, d. h. daß dieser ganze Handel nur von ritueller Bedeutung ist. Hier habe ich das System deshalb erwähnt, weil es zeigt, wie Dinge beseelt sein können, allerdings in diesem Falle nicht durch eine eigene per se inhärente Seele, sondern durch das hao des Erstbesitzers. Wichtig ist dabei, daß das hao des Schenkers sich am Beschenkten rächen kann, wenn dieser das taonga zu lange bei sich behält, was auf eine Seelenkonzeption weist, nach der die Seele teilbar und gemäß den taongas zerstückbar ist. Letztlich zwingt ja das „Seelenmanko“ des Schenkers nach der Schenkung zur Rückschenkung durch den Dritten. Wenn wir moderne Europäer hingegen jemandem etwas schenken und - wie 51 Eine wichtige Ergänzung könnte noch aus jenem Bereich beigebracht werden, den die Gegenwart als „Kunst“ bezeichnet. So scheint die Vorstellung der Dingbeseelung in den Phantasien von Joseph Beuys eine gewisse Rolle gespielt zu haben, besonders im Zusammenhang mit Fett und Filz, die möglicherweise apotropäisch gebraucht wurden (Margarinewürfel zur magischen Abgrenzung des Aktionsraumes etc.), aber auch Tiere wie vor allem der Hase (u. a. Graphiken mit Hasenblut gezeichnet) und Dämonengestalten wie Zwerge scheinen als magisch aufgeladen angesehen worden zu sein, haben jedenfalls in der Privatmythologie des Aktionisten eine große Rolle gespielt. Ich verweise dazu auf die ausgezeichnete Arbeit von Nicole Fritz, Bewohnte Mythen - Joseph Beuys und der Aberglaube. Diss. Tübingen 2002, in Gänze zugänglich in: http: / / deposit.ddb.de/ cgi-bin/ dokserv? idn=971580715&dok_var=d1&dok_ext=pdf- &filename=971580715.pdf (8. 1. 2007). <?page no="29"?> Vom Schrecken der Dinge 29 man wohl sagt - „unsere Seele in das liebevoll ausgesuchte Geschenk legen“, erleidet unsere Seele keine Einbuße und schon gar nicht wollen wir unser „seelenvolles“ Geschenk dann von einer dritten Person zurückgeschenkt bekommen! Neben dem hao des Schenkers haben aber in orendistischen Gesellschaften grundsätzlich alle Gegenstände „unpersönliche, besonders wirkungsvolle Kräfte“, 52 was mit einem Wort der Sioux-Sprache Orenda heißt, worunter auch eine archaische Gottesvorstellung verstanden wird. Dieser Glaube ist weltweit verbreitet und höchstens in zwei Punkten umstritten, nämlich in seinem terminologischen und sachlichen Verhältnis zum Begriff des „Animismus“ und zweitens bezüglich der Vorstellung, daß der Orendismus als Form eines apersonalen Polytheismus, die ursprüngliche Religionsform der Menschheit gewesen sei. Wir müssen uns hier auf diese Frage nicht einlassen, Tatsache ist, daß in unseren Traditionen sowohl die dem hao nahestehende Form des Animismus als auch der unpersönliche Orendismus begegnet. Im Märchen KHM 28 „Der singende Knochen“, das über eine große Fülle von Paralleltraditionen und Varianten verfügt, 53 scheint das hao des erschlagenen Bruders als persönliche Seelenvorstellung in die Knochenflöte gebannt, während das autonome Handeln des Mühlsteins im Herrn Korbes, die streitenden Besen und Schippe, aber auch Härchen, Feder, Tintenfaß und Buch in Albert Einharts „Singtragödie“ eher auf Orendismus weisen. Wenn wir den Orendismus als eine - genetisch betrachtet - archaische Religionsform ansehen wollten, dann müßten wir in der „Singtragödie“ eben mit Regressus in diese Form rechnen. Die Reliquien der Heiligen wirken eher animistisch und durch hao (allerdings ohne daß dies der Seele des Heiligen Abbruch täte), weil sie ja meist spezifische Effekte - etwa Heilungen - hervorbringen, während orendistische Vorstellungen eher in allgemein magischen Alltagspraktiken - wie etwa Daumenhalten - zu beobachten sind. Sehen wir uns noch Beispiele für scheinbar oder tatsächlich autonom handelnde Dinge an! Zu ersteren werden wohl die Poltergeistphänomene der Parapsychologie gehören, denn ihr Auftreten scheint an die Gegenwart eines Mediums bzw. einer Fokusperson gebunden, so daß sie als Auswirkung von dessen Seelenenergie verstanden werden müssen. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Medien die von ihnen ausgehenden Phänomene steuern können. Es kommt durchaus vor, daß die meist jugendlichen Fokuspersonen von der Energie selbst überrascht und schmerzlich in Mitleidenschaft gezogen waren, wenn sie etwa als Dienstboten wegen ihrer mediumistischen Wirkungen scheel angesehen, bzw. aus dem Dienst gekündigt wurden. 54 Man könnte freilich 52 Franz Pfister, Orendismus, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 6, 1934/ 35, Sp. 1294-1306. 53 BP I, 260-276. 54 Vgl. Albert v. Schrenck-Notzing, Grundfragen der Parapsychologie, hg. Gerda Walther, 3 Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1985, z. B. 284-305, 306, 313 u. ö. Ein weites Betäti- <?page no="30"?> 30 Helmut Birkhan bei Albert Einhart die eine oder andere „Tücke des Objekts“ auf die eigene mediumistische Kraft des Beklagenswerten zurückführen wollen. Wenn sich die Brille im Mauseloch versteckt, so könnte dies auch als Poltergeisteffekt interpretiert werden. So heißt es ja: „Als Hannie [das aus Kärnten stammende 15-jährige Medium; H. B.] und das Dienstmädchen nähten, verschwanden immer abwechselnd die Nadeln, Fingerhüte, Baumwoll- und Wollknäuel. Drei Knäuel fand man in verschiedenen Milchkrügen in der Milch schwimmen. Eins fand man, nachdem es gereinigt worden war, auf einer Zitronenpresse aufgespießt. Hannie war während der ganzen Zeit nicht vom Stuhl aufgestanden.“ 55 Aber gerade das widerspricht der objektivierenden Dämonentheorie Einharts, die ja sogar alle physischen Schwächen in Form von Bronchitis, Katarrh und „Pfnüssel“ den inneren Teufeln zuschreibt, obwohl wir heute sicher auch mit psychogenen Ursachen dieser Krankheiten rechnen würden. Der offenkundige Spuk, auch der ortsgebundene, der sich über längere Zeiten erstrecken kann und sich gerne in der Gestalt weißer Frauen oder blauer Flämmchen im Sinne unserer Spuksagen von unerlösten Seelen etc. zeigt, scheidet also in unserem Zusammenhang aus. Grundsätzlich ist beim dämonischen Wirken des „Anderen Gottes“ der Dinge die Frage, wie weit dieser „gezähmt“ werden kann. Eine „Zähmung“ läge etwa bei einem radförmigen Talisman vor. Ließe man dem Rädchen seine natürliche „Tücke des Objekts“, so würde es vielleicht am ehesten davonrollen, um sich zu verstecken, vielleicht auch, um ein spukhaftes Treiben wie jener Odradek zu entfalten, durch eine entsprechende orendistische Aufladung jedoch, vielleicht noch im Zusammenhang mit einem bestimmten Material oder mit angebrachten Zeichen kann das Objekt ins Nützliche umgepolt werden und als Amulett (z. B. ein Brakteat) ein magischer Schützer werden. Ein klassisches Beispiel ist der Ring, der bald als segenbringender, wenn er geweiht ist, bald als fluchbeladener zu wirken vermag. Daß Orendisierung eines Dinges ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor sein kann, lehrt das „belebte Wasser“ des Tiroler Bauern Johann Grander aus Jochberg bei Kitzbühel. Durch eine von ihm erfundene - angeblich göttlich inspirierte - Gelenkmanschette, die „lebendiges“ Wasser enthält, wird gegungsfeld finden die „Geister“ in der modernen EDV in dem Maße, in welchem unerklärliche Leistungen der komplexen Systeme selbst den Fachmann und Kenner überraschen. Da kann man von Technikern leicht Sätze hören wie „Er will einfach nicht.“ Das ist Ergebnis der Dingbeseelung des Rechners selbst. Die „Anderen“ (Dämonen, Seelen Abwesender und Toter, vielleicht auch Außerirdische) bedienen sich aber auch gerne technischer Geräte wie Tonband-, Video- und EDV-Geräte, wenn sie etwa ihre „Transtexte“ als Stimmen, Kirlianbilder oder Diskettentexte hervorbringen. Auch hier scheint die Manifestation öfters an mediumale Sekretärinnen etc. gebunden; Ernst Senkowski, Instrumentelle Transkommunikation. Ergebnisse und Probleme der medialtechnischen Verwirklichung audio-visueller Kontakte mit autonom erscheinenden intelligenten Strukturen unbekannter Bewußtseinsbereiche, 3 Frankfurt/ Main 1995, bes. 36ff. 55 Schrenck-Notzing, 302f.; dort auch der Fall eines verschwundenen Filzhutes, der über eine Woche später an ganz unerwarteter und unzugänglicher Stelle wieder auftauchte. <?page no="31"?> Vom Schrecken der Dinge 31 wöhnliches Trinkwasser im Vorbeiströmen „belebt“ (sic! ), ohne mit dem „Granderwasser“ selbst in Berührung zu kommen, indem die „ursprüngliche Ordnung und Stabilität der inneren Struktur des Wassers“ wiederhergestellt wird. Die „Belebung“ durch Vorbeirinnen ist im Grunde ein geistiger oder gespenstischer Vorgang. Jedenfalls soll die Eigenschaft des „belebten Wassers“ auf jedes Wasser übertragbar sein. Weil es nun „belebt“ ist, sind im „Granderwasser“ die Selbstreinigungskraft verstärkt, die Lösungskraft erhöht und die Haltbarkeit verbessert. 56 Obwohl durch das Oberlandesgericht Wien entschieden wurde, daß man das Geschäft mit dem „Granderwasser“ ungestraft als „esoterischen Unfug“ bezeichnen darf, 57 hat dies anscheinend das Familienimperium nicht besonders geschädigt - so groß ist die Bereitschaft, an das Orenda des belebten Wassers zu glauben! Das „Granderwasser“ handelt freilich nicht völlig autonom, sondern nur durch Intensivierung von an sich schon mit Wasser verbundenen Fähigkeiten, eben seines „Anderen Gottes“. Wirklich autonom handelnde Dinge begegnen wohl in den meisten archaischen Religionen, sie sind mir jedoch bei den alten Kelten besonders eindrucksvoll begegnet. Ein klassischer Fall solch eines beseelten Dings ist das redende Schwert Orna von Tethra, einem König der irischen Vorzeitdämonen, das seine Heldentaten verkündete, wenn man es aus der Scheide zog. Der christliche Redaktor des Lebor Gabála merkt an, daß in heidnischer Zeit die Schwerter Dämonenstimmen besessen hätten, weil die Menschen die Waffen wie Götter verehrten. In der Geschichte von „CúChulainns Krankenlager“ wird erzählt, daß die Krieger, wenn sie zu Samuin (‘Halloween’) zusammenkamen und sich unter Aufweis der getrockneten Zungenspitzen der erschlagenen Feinde ihrer Taten rühmten, die Schwerter auf die Knie legen mußten. Prahlte dann einer ungerechtfertigt, so richtete sich das eigene Schwert von selbst gegen den Aufschneider. 58 Ich habe überlegt, ob dieser „Andere Gott“ des Schwertes nicht Anlaß zu den anthropomorph gestalteten Schwertgriffen am Ende der Hallstatt- und Beginn der Latènezeit geben konnte, wobei der wohl aus Gallien importierte Bronze-Schwertgriff von Ballyshannon Bay (Co. Donegal) die Kenntnis des anthropomorphen Griffes auch für Irland bezeugen kann. 59 Konnte er das Schwert reden und handeln 56 Vgl. http: / / www.grander-technologie.com/ de/ johanngrander/ index.php (1. 1. 2007) 57 Vgl. http: / / homepage.univie.ac.at/ erich.eder/ wasser/ (1. 1. 2007), wo auch der Wortlaut des Gerichtsurteils zu finden ist. 58 Helmut Birkhan, Kelten, 3 Wien 1999, 815. 59 Barry Raftery, La Tène in Ireland. Problems of Origin and Chronology (= Veröffentlichungen des Vorgeschichtlichen Seminars Marburg, Sonderbd. 2), Marburg 1984, 70, Pl. 23; Barry Raftery, The Island Celts, in: The Celts [=Katalog der Keltenausstellung im Palazzo Grassi 1991], Milano 1991, 565; Irische Kunst aus drei Jahrtausenden, Ausstellung in Köln, Wallraff-Richartz-Museum 28. Februar - 2. Juni 1983 und Berlin, Staatliche Museen Stiftung Preußischer Kulturbesitz 25. Juni - 23. Oktober 1983, hg. H. Hellenkemper, Mainz 1983, 104, Abb. 24. <?page no="32"?> 32 Helmut Birkhan lassen? Man könnte weiters in diesem Zusammenhang an den hethitischen Schwertgott Scharumma 60 denken und damit auch den skythischen Schwertgott verbinden, dem nach Herodot (VI, 62) in sehr aufwendiger Weise Menschenopfer dargebracht wurden. Der Grieche interpretierte die Gottheit, deren skythischen Namen wir nicht kennen, als Ares. Es ist aber daran zu erinnern, daß die Osseten, als Nachkommen der alten Skythen, das Motiv des Schwertes kannten, welches sich nach dem Tod des Heldenkönigs seine eigene Bestimmung in einer sehr ähnlichen Weise wie Excalibur, das Schwert Arthurs, nämlich im Wasser, sucht. Selbst wer diese Zusammenhänge als zu weit hergeholt ansieht, wird nicht umhin können, an die seltsame - und scheinbar recht unpraktische - Eigenheit des Gralsschwertes zu denken, nämlich beim zweiten Schlag zu zerbrechen (Pz. 254, 2f.), wodurch es aus eigenem wohl ursprünglich die Tötung des Halbbruders verhindern sollte. 61 Der Ulster-König Conchobor hat einen Schild mit Namen „Schön-Ohr“ (Óchain), der aufschreit, sobald sein Besitzer in Bedrängnis gerät. Dann antworten die Schilde der übrigen Ulsterhelden oder auch die Wogen des Meeres. Denkt man an den Namen von Arthurs Schild „Gesicht des Abends“ (Wynebgwrthucher), so könnte man eine Verbindung mit Schilden wie dem aus der Themse bei Wandsworth 62 oder mit einem barbarisierten Medusenhaupt erwägen. Der Schild von Sualtaim, CúChulainns Ziehvater, beachtet das Tabu, das es verbietet, bei Hof das Wort zu ergreifen, bevor der Druide gesprochen hat, und stößt seinem Besitzer, der es verletzt, von sich aus den Kopf ab. Von CúChulainns in der Schlacht daherrasendem Wagen heißt es: „and all the time the great car brayed and shrieked as the wheels of solid and glittering bronze went round, for there were demons that had their abode in the car.“ 63 Die Lanze Lún mußte in einen Kessel mit Gift getaucht werden, sollte sie sich nicht gegen ihren Besitzer wenden. Am bekanntesten ist freilich die 60 Kurt Bittel, Der Schwertgott in Yazılıkaya. in: Anadolu 21, 1978/ 80, 21-28. 61 Das Problem ist etwas verzwickter. Parzival hat Ither das Schwert abgenommen und auf der Gralsburg das Gralsschwert empfangen, das beim zweiten Schlag zerbricht und in Karnant bei einem Brunnen Lac „geheilt“ werden muß (254, 4-14). Parzival muß danach jahrelang mit zwei Schwertern geritten sein (vgl. 246, 2). Das Gralsschwert gerät aber irgendwie in Vergessenheit und im Kampf mit Feirefiz bricht Parzival das Schwert Ithers (744, 10f.), womit Gott ihn vor der Tötung des Halbbruders schützt. Ich meine, daß ursprünglich das Gralsschwert brechen und Parzival so vor der Tötung bewahren sollte. Im Übrigen stelle ich mit Schrecken fest, daß ich in meiner Geschichte der altdeutschen Literatur im Licht ausgewählter Texte, Teil IV: Romanliteratur der Stauferzeit, Wien 2003, 136, so verkürzt ausgedrückt habe, daß beim Leser der Eindruck entstehen muß, daß das Gralsschwert im Feirefiz-Kampf zerbricht. Hier ist eine erklärende Fußnote weggefallen. 62 Vgl. Ruth and Vincent Megaw, Celtic Art. From the beginnings to the Book of Kells, London 1989, nrs. 1, 319. 63 Standish O’Grady, History of Ireland - Heroic Period, Dublin 1879, 126. <?page no="33"?> Vom Schrecken der Dinge 33 Wunderharfe des Dagdæ, die von sich aus fröhliche, traurige oder einschläfernde Melodien spielt und - von Feinden geraubt - ihrem Herren von sich aus entgegenspringt. Eine ähnlich beseelte Harfe kennen wir auch als die des Teirtu aus Wales, 64 wie überhaupt auch den Walisern solche beseelte Objekte vertraut gewesen sein müssen. Wir dürfen das wohl für die „Dreizehn Schätze der Insel Britannien“ (Tri Thlws ar ddeg Ynys Brydain) vermuten, zu denen Arthurs Kessel, Schwert, Schild, Schiff usw. gehörten, auch wenn die Erinnerung in einigen Fällen verblaßt ist. Des Königs Expedition in die Andere Welt galt immerhin auch dem „Kessel des Fürsten der Anderen Welt“, dessen Eigenschaft es ist, „dem Feigen keine Speise zu kochen.“ 65 „Dingbeseelung“ spricht anscheinend auch aus magischen „Testgegenständen“, die bei der Königsinauguration wichtig waren: So in Tara der phallische „Stein des Schicksals“ (Lía Fáil) und die eng zusammenstehenden Steine Bloc und Blugne. Während der Stein aufschrie, wenn sich ihm der rechtmäßige König näherte, wichen die beiden Steine auseinander, um den königlichen Wagen passieren zu lassen. Die Vorstellung der autonom handelnden Testgegenstände lebt durch die ganze arthurische Tradition als Instrumente der Tapferkeits- und Keuschheitsproben weiter. 66 In der archaischen Arthurerzählung von „Culhwch und Olwen“ erstaunt die kurz angedeutete Episode von Teithi dem Alten (Teithi Hen), die berichtet, daß sein Land überflutet wurde und danach an seinem Messer kein Griff mehr gehalten habe, worüber er sich zu Tode grämte. 67 Die scheinbar kuriose Anekdote ist aus den Vorstellungen des keltischen Sakralkönigtums gut verständlich: aus irgendeinem Grund war Teithi der Herrschaft nicht mehr würdig, was sich in der Umweltkatastrophe der Landüberflutung erwies, so wie auch die Unwürdigkeit des König Lear zur Herrschaft Unwetter hervorruft. Da Teithi nun offenbar nicht mehr die zum Königtum legitimierenden Voraussetzungen besaß, protestierte auch sein Messer gegen ihn, indem es jetzt keinen Griff mehr duldete. Vergleichbar liegen die Dinge im germanischen Altertum. Hier ist zunächst auffällig, daß in der Sagaliteratur die meisten bedeutenden Schwerter Namen haben. Ich erinnere an Sigurds Schwert Gram, an Grims Nagelring, Eckes Eckesahs, Völunds Mimung, Egils Natter, Hrolf Krakis Sköfnung, Bersis Hviting in der Kormákssaga u. a. Der „Andere Gott“ manch eines Schwertes wirkt sich in seiner Funktion als Legitimation des Helden aus, da es öfters als wichtiges Sippenerbe auf ihn gekommen ist oder von seinem Vorbesitzer orendistisch aufgeladen wurde. In der Hallfreðarsaga sieht der todgeweihte 64 Helmut Birkhan, Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur, Essen 1989, II, 59f. 65 Ibid. 107. 66 Die Diskussion bei Christine Kasper, Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 547), Göppingen 1995, geht allerdings auf die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge nicht ein. Doch Vgl. J. R. Reinhard, The survival of geis in Medieval romance, Halle/ S. 1933. 67 Birkhan (1989), II, 43. <?page no="34"?> 34 Helmut Birkhan Held eine riesige gewappnete Frau über das Wasser schreiten und seinem Schiff folgen. Er erkennt, daß es seine fylgja (die ‘Folgerin’ als weiblicher Schutzgeist) ist, die sich nun von ihm trennen wird. Sein Sohn sagt, „er wolle sie haben“, worauf sie verschwindet. Sein Vater ordnet nun seine eigenen Grabbeigaben an, verfügt aber auch, daß der Sohn das einst König Olaf gehörige Schwert besitzen solle. Zwischen der fylgja und dem Schwert besteht also offenbar ein geheimnisvoller Zusammenhang. 68 Ein stark launenhaftes Eigenleben besitzt das Schwert Sköfnung, das in der Kormákssaga in den Besitz eines gewissen Skeggi gelangt ist. Kormák will es sich ausleihen, wozu Skeggi keineswegs gleich bereit ist. Er läßt sich dann erweichen und belehrt den ungestümen Kormák über die „Gewohnheiten“ des Schwertes: „Du wirst bald sehen, daß schwer damit umzugehen ist. … Die Sonne darf nicht oben auf den Griff scheinen. Du darfst es nicht tragen außer zum Kampfe. Wenn du aber zum Kampfplatz kommst, dann setze dich abseits, um es zu zücken; halte das Schwert vor dich und blase darauf. Dann wird eine kleine Schlange unter dem Griff hervorkriechen. Nun neige das Schwert, daß die kleine Schlange leicht wieder unter den Griff kriechen kann.“ Da der unachtsame und ungeduldige Kormák nichts davon beachtet, weicht „das Glück von dem Schwert“. Kramer hat den Gedanken geäußert, daß in dieser Tradition ein keltischer Einschlag vorhanden sein könnte, da ja Kormák letztlich irischer Abstammung war. 69 Das merkwürdige Motiv der kleinen Schlange ist vielleicht aus der Damaszierung oder Tauschierung der Klinge entstanden, denn die Þiðrekssaga läßt Ecke von seinem Schwert sagen: „Setzt du die blitzblanke mit Gold ziselierte Klinge mit der Spitze auf die Erde, so scheint es, als laufe eine Schlange hinauf nach dem Griff. Hältst du das Schwert aber empor, so scheint sie vom Griff bis zur Spitze zu laufen. Das regt und bewegt sich alles, als ob der Wurm lebendig wäre.“ 70 Es ist aber auch möglich, daß die Vorstellung des belebten Schwertes, dessen Kenningar ja öfters von einem Grundbegriff wie „Wurm“ oder „Fisch“ ausgehen - den Wurm Fafnir selber bezeichnet die Kenning als „Fisch der Heide“ - der Neigung zu solchen Metallarbeiten 71 Vorschub leistete. Was die Kelten angeht, so kehre ich zu der Vermutung zurück, daß die figürliche - insbesondere anthropomorphe - Ausführung keltischer Gebrauchsgegenstände wie Griffe, Zaumzeug, Fibeln, Achsnägel und dergleichen unter Umständen mit der Dingbeseelung zu tun haben könnte und dann eine meist grimassierende Form des „Anderen Gottes“ hervortreten 68 Vgl. Kramer (1940), 89-94. 69 Kramer (1940), 95f. 70 Vgl. Kramer (1940), 90. 71 Wozu ja auch die valbost gehörte; vgl. Helmut Birkhan, sumar á vettrimom, sumar á valbostom, in: Altgermanistische Miszellen aus „funfzehen Zettelkästen gezogen“. in: Philologica Germanica, Bd. 3. Festgabe f. Otto Höfler zum 75. Geburtstag, hg. Helmut Birkhan, Wien 1976, 28-31; zur Damaszierung der Schwertklingen s. M. Biborski, Schwert, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 27 (2004), 562-568. <?page no="35"?> Vom Schrecken der Dinge 35 läßt. Das gilt insbesondere für den sogenannten „Plastischen Stil“, in dem sich aus Palmetten, Ranken, Fischblasen, Zirkelschlägen usw. mit und ohne farblichen Einlagen Fratzen entwickelten, die oft erst bei längerer Betrachtung hervortreten, wieder verschwinden, vortreten usw., was Paul Jacobsthal an die spukhafte Cheshire Cat in „Alice in Wonderland“ erinnerte, wonach dieses Stilwollen am Ende der Früh- und während der Mittellatènezeit als „Cheshire-Cat-Stil“ bezeichnet wird. Abb. 1 zeigt das Mundblech einer Schwertscheide aus Latène (a) aus der Sicht irgendeines gegenüber befindlichen Betrachters, (b) aus der Sicht des Kriegers, der von oben auf die eigene an seiner Seite hängende Schwertscheide hinunterschaut: die Ranken werden nun zu Augen und die fischblasenartige Protuberanz zu einer Hängenase (vgl. etwa das keltische Bronzezierstück eines Wagens aus Niederweis im Kreis Bitburg; Abb. 2). 72 Jacobsthal bemerkte zu solchen Stücken: „These masks and animals adorn implements which served for meals, battle, personal ornament, and make these vessels, torcs, brooches, clasps, chariot-parts the haunt of demons and beasts: in their migration from land to land they keep their bodies and change their souls. Lacking literary evidence for Celtic religion in this early age, we are unable to define what they meant to the Celts: a meaning they certainly had.“ 73 Auch Vischers A. E. hat die „Cheshire Cat“ erkannt, wenn er vom Alltagsobjekt, der sich versteckenden Brille, sagt: „‘Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer! ’“ Nun ist die Dingbeseelung keineswegs eine nur-keltische Eigenheit, der Begriff selbst, die orendistische und animistische Komponente sowie die ethnologischen Parallelen erweisen den „Anderen Gott“ mit seinen exzentrischen Manifestationen als ubiquitär, spezifisch keltisch wäre nur, daß er aus den Objekten der Latènezeit und des Celtic Iron Age herauslugen kann. Im „germanischen“ Kunsthandwerk kommen solche meist als „Masken“ bezeichnete Fratzen weder in Monteliusnoch in Jastorfstücken in nennenswertem Umfang vor - bezeichnende Ausnahmen wie das Zierat am Wagen von Dejberg oder die Eulenmaske am Kessel von Brå gehören in keltische Kontexte -, und erst die Tierstile der Völkerwanderungszeit bieten Darstellungen, die an die „Cheshire-Cats“ erinnern. Insbesondere denke ich dabei an goldene Mundbleche von Schwertscheiden im Stil 1, also von der 2. Hälfte des 5. Jh.s n. Chr. an. Hier können wir deutlich beobachten, wie aus dem Motiv gegenständiger Pferde durch Aufrichten derselben und Reduktion auf Auge, Nüstern und Ohren eine Fratze mit Schnurrbart und grinsendem Mund entsteht (Abb. 3). 74 Auch die Masken auf Goldhalskragen und auf der 72 Helmut Birkhan, Kelten. Bilder ihrer Kultur, Wien 1999, Abb. 112. 73 Paul Jacobsthal, Early Celtic Art, I, Oxford 1944 (reprint 1969), 19. Vgl. dazu: Otto Hermann Frey, Tierdarstellungen, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 30 (2005), 566 mit weiterer Literatur. 74 Eric Graf Oxenstierna, Die Nordgermanen, 2 Stuttgart 1957, Taf. 64f. <?page no="36"?> 36 Helmut Birkhan Prunkfibel von Galsted gehören in diesen Zeithorizont. 75 Am ehesten ist den keltischen Stücken der Schmuck einer Fibel von Hol (Nord-Tröndelag) vergleichbar, die tatsächlich eine Art „Cheshire-Cat“ im Kerbschnittstil zeigt (Abb. 4). 76 Ich zögere, den Tierstil selbst als Ausdruck der Dingbeseelung zu werten, denn die Tiere treten gewöhnlich mehrfach auf, in späteren Phasen miteinander verflochten. 77 Freilich besteht ab Tierstil II jedenfalls insoferne eine Parallele, als die verflochtenen Tierleiber Sehanforderungen an den Beschauer stellen, die mit denen mancher „Cheshire-Cats“ vergleichbar sind. Wollte man dem fortgeschrittenem Tierstil magische Bedeutung unterlegen, so müßte es sich um eine Form additiver orendistischer Wirkung handeln. Eher bieten die Fibeln Ansatzpunkte der oben umrissenen Deutung. Während aber schon in der Frühlatènezeit Maskenfibeln auftreten und sich in Latène B2 „Cheshire-Cat“-artige Gebilde entwickeln können, 78 tritt diese Neigung bei den Fibeln der vorrömischen und auch bei den Produkten der frührömischen Eisenzeit kaum zu Tage. 79 Ausnahmen bilden ein Typus der frühen Römischen Kaiserzeit, der bezeichnenderweise als „Augenfibel“ bezeichnet wird (Abb. 5), 80 die „F[ibel]n mit beißendem Tierkopf aus Voralpen- und Alpengebiet“, die „den kulturellen Einfluß aus dem kelt. Raum in den germ. N[orden]“ 81 veranschaulichen, sowie die Goldarmringe mit Tierkopfenden, die Importstücke aus Pannonien oder von diesen angeregt sind. 82 Von den eigentlichen „Tierfibeln“, die realistisch gearbeitete Tierfiguren (Hirsch, Vogel, Hase …) in der Seitansicht zeigen, sehe ich in diesem Zusammenhang ab, weil sie als Verdinglichung einer spezifisch mit dem Tier verbundenen magischen Funktion (z. B. Fruchtbarkeit) verstanden werden können. Erst mit den skandinavischen Fibeln der älteren und jüngeren Völkerwanderungszeit treffen wir auf eine stilisierte Tierkopfdarstellung, die unnaturalistisch und „abstrakt“ genug aussieht, um sich in ihrer Wirkung auf den Beschauer mit der einer „Cheshire-Cat“ vergleichen zu lassen. Diese Entwicklung setzt etwa mit 375 n. Chr. ein. 83 Ihr Ergebnis ist ein als gestreckter Tierkopf stilisierter Fibelfuß, dessen Fußzier und Fußknopf die Glotzaugen und 75 Ibid. Taf. 54, 56. 76 Ibid. Taf. 53. 77 H. Ament - D. M. Wilson, Tierornamentik, Germanische, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 30 (2005), 586-605. 78 M. Maute, Fibel und Fibeltracht, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 8 (1994), 458-460 m. Abb. 89. 79 K. Godłowski, Fibel und Fibeltracht, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 8 (1994), 478-496 m. Abb. 96-101. Lediglich die ukraische Fibel (Abb. 102, 9) zeigt auf ihrem Bügel eine Struktur, die man unter Umständen als Cheshire-Cat verstehen könnte. 80 H.-U. Voß, Fibel und Fibeltracht, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 8 (1994), 496-509 m. Abb. 103, 5. 81 Idem 514 m. Abb. 111. 82 Eric Graf Oxenstierna, Die Nordgermanen, 2 Stuttgart 1957, Taf. 30f. 83 L. Jørgensen, Fibel und Fibeltracht, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 8 (1994), Abb. 122. <?page no="37"?> Vom Schrecken der Dinge 37 Nüstern des wurmartigen Wesens bilden (Abb. 6). 84 Von da ab sind die „Tierkopf“- (oft: „Pferdekopf“-)Fibeln ein geläufiges Trachtenelement fast aller völkerwanderungszeitlichen Stämme. Ob sie in dem hier angedeuteten Sinne interpretiert werden können, ist freilich eine andere Frage. Um zusammenzufassen: Unbelebten Dingen oder einzelnen - vor allem vereinzelten - Körperteilen schreibt die menschliche Imagination ein gewisses Eigenleben zu, das einerseits als harmlos, unter bestimmten Umständen jedoch als spukhaft oder dämonisch verstanden werden kann und sich in autonomen Aktionen dieser Dinge äußert. Dabei gehorchen sie im Wesentlichen ihrer vom Stricker als „Anderen Gott“ bezeichneten Natur, haben aber dabei die Möglichkeit, deren Bahn zu verlassen, indem sie eben nicht ihrem Hauptsinn und -zweck folgen, sondern in Form einer aberratio einer in ihnen angelegten Nebenmöglichkeit, womit man nicht gerechnet hat, so daß der Eindruck von Tücke und Bosheit entsteht. Man ist geneigt, diese Aktionen more humano auf eine Aufladung mit orendistischer Energie zurückzuführen, wofür auch der Begriff „Dingbeseelung“ verwendet werden kann. Ethnologische Beispiele lehren, daß Belege einer solchen Dingbeseelung weitverbreitet sind: Daß sie auch in der Vor- und Frühgeschichte Europas geläufig war, zeigen keltische und germanische Sagenmotive, im Latène-Kunsthandwerk außerdem auch die sogenannten „Cheshire-Cats“, im germanischen vor allem bestimmte Fibeltypen. 84 Dazu die hochbedeutsamen neugefundenen, bzw. neu wiederaufgefundenen Ringinschriften, auf die der berühmte Göttinger Runologe Klaus Düwel vor kurzem eindrucksvoll hingewiesen hat. Sie enthalten Teile der Merseburger Zaubersprüche und befinden sich auf offenen Ringen, deren Enden an den Kopf des Flußneunauges gemahnt. Offenbar wollte man die Wirkung des Zaubers durch die Präsenz dämonischer Tiere verstärken. Es sind die Ringe von Haverlah (Braunschweig), ein weiterer aus Braunschweiger Privatbesitz, einer aus Schleswig-Holstein, der 1996 gefundene Ring von Zweiflingen (jetzt im Württembergischen Landesmuseum), der Ring aus Altstädten-Sonthofen und ein Silberreif im Museum für Vor- und Frühgeschichte zu Berlin; Klaus Düwel (Göttingen) mit Beiträgen von Ralf Busch, Über das Nachleben der Merseburger Zaubersprüche, in: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Fs. f. Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag, hg. Christa Tuczay, Ulrike Hirhager und Karin Lichtblau, Bern - Berlin - Frankfurt a. M. New York - Paris - Wien 1998, 539-551. Die von Düwel hier neu ins Gespräch gebrachten Ringe wurden in der Fachwelt erstaunlich wenig rezipiert. Was den Flußneunaugenkopf angeht, so ist man versucht, an die latènezeitlichen alpinen „Sanguisuga“-Fibeln (mit blutegelartigem Bogen) zu erinnern, ohne daß sich vorderhand klären ließe, ob hier ein Zusammenhang bestehen kann. <?page no="38"?> 38 Helmut Birkhan Abbildungen: Abb. 1: Schwertscheide aus Latène nach O. H. Frey (s. Anm. 69). Abb. 2: Bronzezierstück von einem Wagen aus Niederweis (vgl. Anm. 68, Abb. 112) <?page no="39"?> Vom Schrecken der Dinge 39 Abb. 3: Oben: Pferdekampf auf einem Bildstein aus dem Kirchspiel Häggeby in Uppland (Statens Historiska Museum; vgl. Anm. 70, Taf. 65 und S. 257f.) Unten: Unten: Stilisierter Pferdekampf mit senkrecht gestellten gegenständigen Pferden, deren Leiber die Umrisse einer Fratze bilden. Auf dem Mundblech einer Schwertscheide aus Oure in Fünen (Nationalmuseet Kopenhagen; vgl. Anm. 69, Taf. 65 und S. 258) <?page no="40"?> 40 Helmut Birkhan Abb. 4: Silberne Prunkfibel aus Hol in Nord-Tröndelag (Museet Trondheim; vgl. Anm. 70, Taf. 53 und S. 256) Abb. 5: Augenfibel Almgren III, 45 und III, 46 (nach H.-U. Voß; vgl. Anm. 76, Abb. 103). <?page no="41"?> Vom Schrecken der Dinge 41 Abb. 6.: Einfache Tierkopffibeln aus Skandinavien aus der Völkerwanderungszeit, etwa von 375 bis 520 (nach L. Jørgensen; vgl. Anm. 79, Abb. 122). <?page no="43"?> Willem de Blécourt Der Zauberer und sein Schüler - Die Erzählung und ihr historischer Ursprung I Magie ist schon eine paradoxe Angelegenheit. Man sollte annehmen, dass die westliche Gesellschaft seit dem Angriff des Rationalismus die Zauberei hinter sich gelassen hätte; von Goethes Zauberlehrling über Dukas’ L’apprentice sorcier zu Disneys Fantasia wurden Schüler in den letzten zweihundert Jahren zwar gewarnt, sich darin zu versuchen, aber nicht etwa, weil die jeweiligen Resultate stümperhaft gewesen wären, sondern im Gegenteil, weil sie einfach zu überwältigend waren 1 . Otfried Preußlers Kinderbuch Krabat aus dem Jahr 1971 erzählt auf den ersten Blick auch nichts anderes; seine Zauberschule steht unter der Aufsicht des Teufels, und der einzige Weg, daraus zu entfliehen, ist das Erlangen der Liebe eines treuen frommen Mädchens. Krabat folgt in dieser Hinsicht der Tradition, obwohl in der Vorlage der Verwandlungskampf zwischen dem Zauberer und seinem Schüler als Traumsequenz beschrieben ist. In diesem Traum verwandelt sich der Junge in ein Pferd und wird von seinem Lehrer gekauft. Er macht sich zu einem Vogel, wird aber sogleich von seinem Lehrer in Gestalt eines Habichts verfolgt; er verwandelt sich in einen Fisch, aber als er merkt, dass er entdeckt worden ist, wird er zu einem Ring am Finger des von ihm geliebten Mädchens. Der Zauberer greift nach dem Ring, da wird dieser zu einem Gerstenkorn, ein einäugiger schwarzer Hahn will das Korn gerade aufpicken, als der Junge sich in einen Fuchs verwandelt und dem Hahn die Kehle zerbeißt. Preußler selbst beansprucht gern, der letzte in einer langen Reihe von Erzählern zu sein: Als Kind entdeckte er den Stoff in einem Sagenbuch seines Vaters 2 . Hier nun will ich mich konzentrieren auf diesen letzten Traditionsstrang, denn er zeigt, wie ein Schüler seinen Meister durch Zauberei besiegen kann 1 Die Geschichte war schon in der Antike bekannt, unter anderem in Lukians Der Lügner als Liebhaber, vgl. William Hansen, Ariadne’s Thread. A Guide to International Tales Found in Classical Literature, London 2002, S. 35-38. Goethe hatte Lukian selbstverständlich auf griechisch gelesen. 2 So beschrieb es Preußler in einem Brief, abgedruckt in: Alfred C. Baumgärtner und Oswald Watzke, Wege zum Kinder- und Jugendbuch. Ein Beitrag zur Buchpädagogik, Donauwörth 1985, S. 89, zit. nach Helmut Fischer, Alte Stoffe - neue Geschichten. Otfried Preußlers Versuch „neu zu erzählen“, in: Jugendbuchmagazin 89 (1989), S. 6-8. <?page no="44"?> 44 Willem de Blécourt und schafft so einen Kontrapunkt zu der kulturell dominierenden Erzählebene. Ich will erforschen, wie sich diese Erzähltradition, die unter der Bezeichnung „Der Zauberer und sein Schüler“ (ATU 325) bekannt ist, über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hat 3 . Dabei muss allerdings gar nicht so viel Unbekanntes zu Tage gefördert werden. Bisher wurde angenommen, dass die orale Erzähltradition einer Geschichte immer wieder durch gedruckte Texte ergänzt und bestätigt wurde, so dass man die Hauptübergänge der Erzähllinie und der verwandten geographischen Varianten ermitteln konnte. - Nun muss der Erforscher des Okkulten häufig die Fähigkeiten eines Detektivs besitzen, durch dunkle Gassen geduldig den schmalen Pfaden der Erkenntnis folgend. Märchen und Sagen wurden häufig in die Randbereiche der Literatur abgeschoben. Das hat grundlegende Konsequenzen für die Bewertung der Geschichte der Märchenforschung. Ich betrachte die Behauptung der Existenz einer kontinuierlichen oralen Märchentradition als fehlerhaft; dieses lang aufrecht erhaltene Forschungsparadigma wird zu erschüttern sein. So muss die Oralität des Märchens ‚De Gaudeif un sein Meester’, von den Brüdern Grimm im Jahr 1819 veröffentlicht, als nicht nachvollziehbar verworfen werden. Mit Sicherheit ist sie Jenny von Droste-Hüllshoff nicht von einem unbekannten, armen, vielkundigen Märchenerzähler irgendwo aus dem Münsterland erzählt worden. Ebenso erscheint die Theorie von Theodor Benfey, nach der dieses Mächen Osteuropa über mongolische Traditionen, wie sie sich im Siddhi-Kür niedergeschlagen haben, erreichte, extrem zweifelhaft. Das bestätigt schon in den Zwanziger Jahren Emanuel Cosquin, der mit Benfeys Theorie insofern konkurrierte, als er glaubhaft machte, der mongolische Text entstamme einem indischen Original; er jedoch hielt die indischen Geschichten, mündlich oder schriftlich überliefert, mehr oder weniger für die Basis der europäischen Tradition 4 . Für Cosquin wiederum war die Mündlichkeit der Märchen unantastbar, er schrieb von einer ‚transmission orale de tant de siècles n’a fait subir aucune altération’ 5 , eine Position, die den historischen Wandel völlig ignoriert. Besonders zeigt sich das in seiner Unfähigkeit, zwischen dem eigentlichen Erzählstrang und späteren Hinzufügungen zu unterscheiden. Darüber hinaus leugnete er die Bedeutung von gedruckten 3 Hinsichtlich der Recherchen zu diesem Aufsatz richtet sich mein besonderer Dank an die Enzyklopädie des Märchens in Göttingen, die British Library in London, das Meertens Institute in Amsterdam, die Koninklijke Bibliotheek in Den Haag, gleichfalls konnte ich dankenswerterweise die persönliche Sammlung des Herausgebers dieses Buches für meine Untersuchung nutzen. 4 Zu Benfey vgl. Georg von Simson in Enzyklopädie des Märchens (1979), Sp. 102-09. Zu Cosquin vgl. Marie-Louise Ténèze in EM 3 (1981), S. 157-160. ine ähnliche Theorie propagierte W.A.Clouston ‘Magical Transformations’ in seinen Popular Tales and Fictions: Their Migrations and Transformations, 1987, s. den Nachdruck, hrsg. Von Christine Goldberg, Santa Barbara 2002, S. 210-237. 5 Emmanuel Cosquin, Études folkloriques. Recherches sur les migrations des contes eur point de départ, Paris 1922, S. 507. <?page no="45"?> Der Zauberer und sein Schüler 45 Quellen, so dass seine Schlussfolgerungen grundsätzlich in Frage gestellt werden müssen. Benfeys Vorstellungen beeinflussten nicht nur stark das Cosquinsche Gedankengut, sondern auch die sogenannte Finnische Schule, die Generationen von Volkskundestudenten mit ihrer historisch-geographischen Methode und ihrem Typen-Katalog versorgte 6 . Der finnische Forscher Kaarle Krohn, der das Projekt initiierte, siedelte ebenso wie Benfey und Cosquin die Entstehung der (meisten) Märchen in Indien an 7 . Die Möglichkeit, dass umgekehrt europäisches Material in Asien hätte rezipiert worden sein können, kam kaum jemandem in den Sinn. Angesichts der mittlerweile abnehmenden Popularität der finnischen Schule und des beginnenden Eigenlebens der Kategorisierungen in der Volkskunde stellt sich die Frage: Wie sinnvoll kann eine Klassifikation noch sein, wenn ihre Grundvoraussetzungen aus verschiedenen Gründen angezweifelt werden müssen? In den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, dass eine Typisierung aus methodologischer Sicht durchaus sinnvoll sein kann - als Ordnungskriterium. Gleichzeitig muss man sie aber hinterfragen, denn die Entwicklung eines Erzählstoffes kann nicht verstanden werden ohne die Berücksichtigung seiner Beziehung zu anderen Erzählstoffen. Das bedeutet auch die Annahme der Existenz aktiver Erzähler, selbst wenn deren Identität im Verborgenen bleibt. II In der Mitte des 16. Jahrhunderts war Venedig die Handelshauptstadt Europas. Dort erzählte man sich von einem Schneider, der auf Sizilien lebte und nebenbei ein heimliches Geschäft betrieb, nämlich die Kunst der Nekromantie 8 . Dieser Mann heißt Maestro Lattantio, und eines Tages nimmt er einen Lehrjungen an mit dem Namen Dionigi. Der Junge entdeckt bald die heimliche Beschäftigung seines Meisters und schaut sich vieles ab, indem er ihn heimlich beobachtet, während er nach außen hin vorgibt, zu dumm zu sein, um überhaupt das Schneiderhandwerk zu erlernen. Als sein Vater das bemerkt, nimmt er ihn mit sich fort. Dionigi jedoch erklärt ihm, dass er in Wirk- 6 Letzte Ausgabe, Hans-Jörg Uther, The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography, Helsinki 2004, FFC 284. 7 Kaarle Krohn, Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung, Helsinki 1931, FFC 96; nach fast einem halben Jahrhundert wurde Krohns Die Folkloristische Arbeitsmethode, Oslo 1926, für wert befunden ins Englische übersetzt zu werden als Folklore Methodology, Austin 1971; zitiert nach Pentikäinen in EM 8 (1996), S. 484-486. 8 Für eine neuere Übersetzung aus dem Italienischen vgl. ‚Maestro Latantio and His Apprentice Dionigi’, in: Jack Zipes (Hrsg.): The Great Fairy Tale Tradition: From Straparola to the Brothers Grimm, New York / London 2001, S. 347-353. Eine andere Zusammenfassung liegt vor bei Scherf, Märchenlexikon, München 1995, S. 869-870. <?page no="46"?> 46 Willem de Blécourt lichkeit sehr viel gelernt hat und überzeugt seinen Vater schließlich davon, ihn auf dem Markt in der Gestalt eines schönen Pferdes zu verkaufen. Er solle aber das Zaumzeug gut an sich nehmen. Darauf verwandelt der Junge sich in ein Pferd. Der Schneider hingegen entdeckt die beiden auf dem Markt, verkleidet sich als Händler und kauft das Pferd mit dem Zaumzeug. Dann nimmt er das Tier mit nach Hause und schlägt es jeden Tag. Seine beiden Töchter - die nur hier in dieser Geschichte erscheinen - haben Mitleid mit dem Pferd und führen es zum Trinken an einen Fluss. Dort taucht es in das Wasser, verwandelt sich in einen Fisch und verschwindet, die beiden Mädchen weinend zurücklassend. Lattantio findet heraus, was passiert ist, verwandelt sich in einen großen Thunfisch und macht Jagd auf den kleinen Fisch. Nun macht sich der Junge zu einem Rubinring und springt in den Korb einer Dienstmagd der Königstochter. Letztere mit Namen Violante sieht den Ring und behält ihn für sich. Als es Nacht geworden war und Violante sich mit dem Ring an dem Finger zu Bett begeben hatte, verwandelte sich der Ring in einen schönen Jüngling. Dieser legte die Hand auf Violantes blendendweißen Busen und fühlte zwei runde feste Brüste. Die Prinzessin, de noch nicht schlief, erschrak und wollte schreien. 9 Aber der Junge erklärt seine missliche Lage und Violante, durch sein Wesen gerührt, verspricht, auf ihn aufzupassen. Als kurz darauf der König erkrankt, verkleidet sich Lattantio als Arzt und verspricht ihn zu heilen, wenn er dafür den Rubin erhält. Auf den Rat von Dionigi wirft Violante den Stein gegen die Wand, der zu einem Granatapfel wird, dessen Samen beim Zerbersten überall umher spritzen. Der Arzt verwandelt sich in ein Huhn und beginnt, die Samen aufzupicken, da wird aus einem Samen ein Fuchs, der das Huhn frisst. Schließlich nimmt der Fuchs wieder menschliche Gestalt an und sie leben glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Dass die Entstehungsgeschichte von Märchen oft umgekehrt dargestellt worden ist und die ‚früheste’ Version am Ende nur in Form eines rekonstruierten hypothetischen Textes in Erscheinung tritt, sollte beim Aufspüren der zeitlichen Entwicklung dieses Stoffes zur Klärung beitragen. Nach der neuesten Expertenmeinung ist Maestro Lattantio die erste ‚vollständige Version’. 10 Die Geschichte wurde geschrieben von Francesco Straparola und veröffentlicht im zweiten Band seiner Le piacevoli notti aus dem Jahr 1553. 11 Weil es keine unvollständigen früheren Versionen gegeben haben kann - das wäre ein Widerspruch in sich - kann man mit Sicherheit annehmen, dass 9 Straparola, Die Novellen und Mären der Ergötzlichen Nächte II, München 1920, S. 180. 10 Uther, The Types of International Folktales, S. 208; Scherf, Märchenlexikon, Sp. 1438-1439. 11 Doris Senn, ‚Le piacevoi notti (1550/ 53) von Giovan Francesco Straparola, ihre italienischen Editionen und die spanische Übersetzung, Honesto y agradable entretenimiento de damas y galanes (1569-81) von Francisco Tuchado’, in: Fabula 34 (1993), S. 45-65; vgl. Scherf, Märchenlexikon, Sp. 868. <?page no="47"?> Der Zauberer und sein Schüler 47 Straparolas Geschichte die erste bekannte Version ist. Straparola dürfte sehr wahrscheinlich ihr Autor gewesen sein. Er stellte bereits bestehende Elemente neu zusammen und in dieser Kombination bekamen sie eine ganz besondere Bedeutung. Die wichtigsten Handlungsstränge in dieser Geschichte sind: a) Ein Junge nimmt einen Dienst an und lernt ein geheimes Handwerk; b) er kehrt nach Hause zurück und nutzt dieses Handwerk, um Geld zu verdienen: er lässt sich selbst in der Gestalt eines Tieres verkaufen; c) sein Meister entdeckt ihn, aber es geling ihm die Flucht, wobei er eine Serie von Verwandlungen durchläuft; d) er findet Zuflucht bei einer Prinzessin und schafft es schließlich, seinen Meister zu überwältigen. 12 Diese Handlungsstränge teilen die Geschichte in logische Folgen, von denen jede für sich eine einzelne Szene mit eigenen Darstellern ausmacht; gleichzeitig werden sie durch ihre Anordnung in der Geschichte definiert. Das wird besonders deutlich, wenn man die einzelnen Elemente der Geschichte betrachtet, wie sie teilweise die Szenen zerteilen. Den Theorien von der fernöstlichen Entstehungsgeschichte wurde ebenfalls mit Hilfe der klassischen Literatur widersprochen. Das Hauptbeispiel für eine solche Argumentation ist eine Episode aus Ovids Metamorphosen, in der eine Tochter für ihren Vater sorgt, indem sie sich selbst in unterschiedlicher Tiergestalt verkauft. 13 Zumindest könnte es sich um einen Vorläufer der Markt-Szene handeln: Hypermestra hatte ihre Kraft von Poseidon erhalten und sie musste nicht vor ihm fliehen und gegen ihn kämpfen. Konflikte zwischen Hexern, Zauberern und Magiern können natürlich in den Geschichten, Mythen und Legenden der Gesellschaften gefunden werden, in der diese Personen handelten, und manchen Kampf erfochten sie auch in der Gestalt eines Tieres. Nichtsdestotrotz lässt das nicht den Schluss zu, dass diese Geschichte bekannt gewesen sein muss. 14 Ihre verschiedenen Elemente können 12 Vgl. Stith Thompson, The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography, Helsinki 1973, S. 113: dort sind der zweite und der dritte Handlungsstrang vertauscht. Das bezieht sich auf Bolte und Polívka, Anmerkungen II, S. 61 mit vier Handlungssträngen in der richtigen Reihenfolge. Hier jedoch wurde aus dem ersten zwei Handlungsstränge gemacht, die das Motiv der Wiedererkennung In Tiergestalt beinhalten: der Verwandlungsflug ist in drei Szenen aufgeteilt: die Flucht vor dem Meister, die Jagd und die Prinzessin. Vgl. Scherf, Märchenlexikon, Sp. 870, der nur drei Handlungsstränge feststellt. 13 Scherf, Märchenlexikon, Sp. 1438. Graham Anderson, Fairytale in the Ancient World, London / New York 2000, S. 110. Andersons Studie ist entschieden beeinträchtigt durch die Aufnahme moderner Beispiele, die eine kontinuierliche mündliche Tradition über die letzten 2000 Jahre hinweg beweisen sollen; seine Vermutung , dass eine Passage aus den ‚Wolken’ des Aristophanes auf der Geschichte basiert, ist zu abwegig, um ernst genommen werden zu können. 14 In seinen Folktales of Egypt, Chicago 1980, S. 248, schreibt Hasan El-Shamy: ‘Type 325 appears in an ancient Egyptian account … dating back to A.D. 46-47.’ Das ist Wunschdenken; die Textstelle bezieht sich auf einen Konflikt zwischen Magiern ohne Verwandlungen, und kein anderes bekanntes Detail der Geschichte taucht auf. <?page no="48"?> 48 Willem de Blécourt zu verschiedenen Zeiten im Umlauf gewesen sein, die Geschichte selbst wurde erst im 16. Jahrhundert konstruiert. Im mittelalterlichen Europa war das Sprichwort „Der Zaum geht mit dem Pferde“ sehr verbreitet. Das Zaumzeug symbolisierte das Eigentum und stand darüber hinaus für Unterwerfung. Dieses Motiv stammt aus einer Geschichte von einem Mann, der seine Seele dem Teufelverpfändet hatte und mit ihm zur Hölle fuhr, weil Körper und Seele zusammengehörten. 15 Einen Zauberwettbewerb präsentiert die Prosaversion des Carolinischen Epos Maldegijs aus dem Jahr 1556, jedoch ohne Verwandlung. 16 Dieser erscheint jedoch im walisischen Mabinogion-Zyklus. 17 In der besagten Geschichte braut eine Hexe namens Ceridwen einen Trank, der allwissend macht. Sie lässt ihn von einem blinden Mann im Kessel umrühren. Aber der Junge, der den Blinden führt, Gwion, probiert einige Tropfen; darauf wird er von der Hexe gejagt. Er verwandelt sich in einen Hasen und sie in einen Hund, der Hase in einen Fisch, der Hund in einen Otter, der Fisch in einen Vogel, der Otter in einen Habicht. Schließlich fliegt der Vogel in eine Scheune und wird zu einem Korn, der Habicht verwandelt sich in einen Hahn und pickt es auf. Neun Monate später gebiert Ceridwen einen Sohn. Dieses Lied ist auch als Volkslied überliefert, in dem die Rollen genau andersherum verteilt sind: Ein Junge verfolgt ein Mädchen mit Hilfe einer Serie von Verwandlungen. Das früheste Manuskript dieser Geschichte datiert aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. 18 Die erhaltenen Liedtexte stammen aus späterer Zeit 19 , könnten jedoch früher entstanden sein. Unabhängig von ihrem Abdruck auf Flugblätter erhalten sich Liedtexte bedingt durch Reim und Melodie viel besser als einfache Geschichten. Mehr noch, in den mittelalterlichen Geschichten über Gerbert von Aurillac, den späteren Papst Sylvester II., wurde davon berichtet, wie er sich nach Spanien begeben hatte, die Zauberei zu erlernen. Er verführte die Tochter seines Meisters und lief mit dessen 15 Vgl. Albert Wesselski, Märchen des Mittelalters, S. 152, 245-246 (Nr. 55). Ebenso Rainer Alsheimer, Das Magnum Speculum, Frankfurt a Main 1971, S. 154; Johannes Bolte und Georg Polívka, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, II, Leipzig 1915, S. 67. 16 Das Gedicht Madelgijs ist einige Jahrhunderte älter, enthält aber keinen Wettbewerb zwischen Zauberern; die magischen Fähigkeiten hat Madelgijs erlernt bei einem anderen Zauberer, Baldarijs, und seine Kunst später in Paris gezeigt. Vgl. B.W.Th. Duivestijn, Madelgijs. De middelnederlandse fragmenten en en overeenkomstige hoogduitse verzen, Brüssel 1989, S. 24, 102. Vgl. ebenso die kurze Zusammenfassung des Wettkampfes in der Prosaedition bei Bolte und Polívka, Anmerkungen II, S. 67-68. 17 Cosquin hielt ihn für eine Fälschung, ‚une pretendue tradition celtique’, Etudes folkloriques, S. 598. 18 The Mabinogi and Other Medieval Welsh Tales, übersetzt und herausgegeben von Patrick K. Fiord, Berkeley / Los Angeles 1977, S. 159-164. 19 Francis James Child, The English an Scottish Polular Ballads I (mir lag der Nachdruck New York 1962 vor ), S. 399 - 403; Patrice Coirault, Formation des nos chansons folkloriques IV, Paris 1963, S. 487-517. <?page no="49"?> Der Zauberer und sein Schüler 49 Zauberbuch davon. 20 Die verschiedenen Elemente der Geschichte von Lattantio und Dionigi sind alle Bestandteile der europäischen Tradition. Es brauchte einen wahrhaft meisterlichen Erzähler, sie zu einem kohärenten Ganzen zusammenzustellen. Während dieses Prozesses wurden unnötige Details wie die Zauberschule oder der Charakter des Teufels beiseite gelassen. Straparola schrieb keine Märchen im eigentlichen Sinn. 21 Wie der Titel schon sagt, waren die notti eher eine Sammlung von frivolen (oder vergnüglichen, das ist Ansichtsache) Spöttereien. Am Ende des 16. Jahrhunderts wurden sie mehrfach auf den Index gesetzt, was zu einer regelrechten Verstümmelung des Textes führte. In den italienischen Ausgaben verschwanden die Bezüge zum Klerus und in der Ausgabe von 1597 wurde Maestro Lattantio geopfert. 22 Das Buch war Teil einer Tradition von mit erotischen Anspielungen durchsetzten Veröffentlichungen, die ein erwachsenes Publikum ansprach und weit bis ins 18. Jahrhundert hinein reichte. 23 Für die meisten seiner Geschichten, insbesondere die im zweiten Band, kann eine literarische Quelle ausgemacht werden. Auffällig an Straparolas Zauberergeschichte ist nicht nur die Kombination bereits bestehender Elemente, sondern auch sein Spiel mit dem Geschlecht der Hauptfiguren und sein zur Schau stellen einer bestimmten sexuellen Zweideutigkeit. Wenn er ein bekanntes Beispiel des Verwandlungskampfes heranzieht, wechselt er gern das Geschlecht eines der Protagonisten von weiblich in männlich. Die sexuelle Symbolik ist schon in der Figur des Schneiders selbst angelegt: Die Bewegung der Nadel beim Nähen ist eine Metapher für den männlichen sexuellen Akt. 24 Das geheime Handwerk, das der Junge von seinem Meister erlernt, ist in gewisser Weise eine Homosexualität mit Unterwerfungsaspekt: Nachdem er die Heimlichkeiten seines Meisters ausspioniert hat, versteht er sich darauf, geritten zu werden. Auch Lattantios sprechender Name ‚Milchgeber’ bezieht sich auf ein weibliches Attribut, er impliziert die Bisexualität des Meisters mit pädophilen Neigungen. Nach seiner Erfahrung mit dem Schneider verbleibt Dionigi passiv in der 20 Christa Tuczay, Magie und Magier im Mittelalter, München 2003, nach William of Malmesbury; vgl. A. Jacoby, ‚Hochschulen der Zauberei’, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens IV, Berlin 1932, S. 140-148, insbes. S. 141. 21 Vgl. Jack Zipes, in: Ders. (Hrsg.): The Oxford Companion to Fairy Tales, Oxford 2000, S. 382: ‘Of the 75 tales were 14 fairiy tales.’Obwohl man sagen könnte, dass von diesen vierzehn Geschichten, nur neun eigentliche Zaubergeschichten sind, ist Zipes dennoch sehr hellsichtig. 22 Senn, ‚Le piacevoli notti, S. 53-54, Anm. 40. 23 Cgl. Manfred Grätz, Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen, Stuttgart 1988, S. 71-75. 24 Zumindest ist das im Niederländischen der Fall, wo das gleiche Wort für „Nähen“ wie für das Vollziehen des Geschlechtsverkehrs benutzt wird. Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, ob diese Verbindung auch für das Venedig der Mitte des 16. Jahrhunderts schon von Bedeutung gewesen ist. <?page no="50"?> 50 Willem de Blécourt Rolle des Geführten, bis die Töchter des Schneiders ihm zur Flucht verhelfen; sie zeigen ihm, sich frei wie ein Fisch im Wasser zu verhalten. Am Ende wird er von Violante gerettet (der Name bezieht sich auf eine berühmte venezianische Kurtisane der damaligen Zeit), 25 aber er ist bisher nur imstande, sich in einen Ring am Finger des Mädchens zu verwandeln, verbleibt also immer noch in der weiblichen Rolle. Erst als das Mädchen ihn fortschleudert, verwandelt er sich in Samen. Lattantio pickt ihn auf in Gestalt einer Henne, die nun von einem (augenscheinlich männlichen) Fuchs bedrängt wird; am Schluss kehren sich die Positionen schließlich wieder um. Offensichtlich entpuppt sich die Geschichte als sexueller Lernprozess, geschildert aus der Sicht eines venezianischen Autors aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. 26 - Das dürfte auch für die Leser reizvoll gewesen sein. III Theorien über den Ursprung der Märchen im Osten stützen sich meist auf jüngere Texte aus dem 19. Jahrhundert, die diverse Abweichungen von der Geschichte des venezianischen Autors beinhalten. Die älteren persischen und indischen Sammlungen scheinen diese besondere Geschichte nicht zu enthalten. 27 Für das Aufspüren des historischen Wanderweges des Stoffes lohnt es sich, die Texte östlicher Herkunft sorgsam zu untersuchen, um zu sehen, wie sie in Beziehung zu ‚Maestro Lattantio’ stehen. In der History of the Forty Veziers wird z.B. die folgende Geschichte erzählt: Eine Mutter hat einen Sohn, der ein wahrer Taugenichts ist. Dieser Junge nimmt eine Lehrstelle bei einem Wahrsager an. Nach einigen Tagen verwandelt sich der Meister in einen Widder und trägt dem Jungen auf, ihn zu verkaufen, aber die Leine zu behalten. Diesen Trick wiederholen sie mit dem Meister in Gestalt eines Pferdes. Nun aber bringt der Junge den Erlös seiner Mutter statt zu seinem Meister und stellt sich als Taube zum Verkauf. Sein Meister entdeckt ihn und macht als Sperber Jagd auf ihn. Der Junge macht 25 Ruth Bottigheimer, Fairy Godfather. Straparola, Venice and the Fairy Tale Tradition, Philadelphia 2002, S. 50. 26 Der dänische Volkskundler Holbek entwickelte eine ähnliche, allerdings nicht so weit reichende Schlussfolgerung in Bezug auf eine dänische Version der Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, wobei er die ‚abhängige Position’ des Pferdes und die Beziehung des Jungen zu der Tochter des Schneiders besonders hervorhebt. Er sieht in den Granatapfelsamen ein Fruchtbarkeitssymbol und vielleicht auch ein Indiz dafür, dass sich der Schneider den vielfältigen Beziehungsmöglichkeiten des Jungen mit dem Mädchen nicht gewachsen fühlt. Bengt Holbek, Interpretation of Fairy Tales. Danish Folklore in a European Perspective, Helsinki 1987, S. 563-564. Vgl. Scherf, Märchenlexikon, Sp. 870, der Lattantio als dämonisierte Vaterfigur betrachtet, von der der Junge sich ablösen muss. 27 Vgl. N. M. Penzer (Hrsg.) und C.H. Tawney (Übers.): The Ocean of Story III, Dehli 1923, S. 203-205, wo der Verwandlungskampf diskutiert wird auf der Grundlage eines Hexenkampfes in Gestalt von Pferden. <?page no="51"?> Der Zauberer und sein Schüler 51 sich zu einer roten Rose, die vor dem König herab fällt. Der Meister verwandelt sich in einen Musiker und bittet um die Blume. Diese fällt zu Boden als Hirse. Der Musiker wird ein Hahn, das Korn ein Mann, der den Hahn fängt und erwürgt. 28 Folgt man Cosquin, müsste die älteste Version der Sammlung dieser Geschichten um 1430 gestaltet worden sein; die Ausgaben, in denen man diesen besonderen Stoff jedoch findet, stammen frühestens aus dem 17. Jahrhundert. 29 Man kann sich kaum vorstellen, wie diese Erzählung Straparola beeinflusst haben könnte, das Gegenteil ist viel wahrscheinlicher: auch in abgekürzter Form liest sich der Text wie eine schlecht wiedergegebene Version von Maestro Lattantio. Die Verkaufsszene ist verdreht (statt des Schülers wird zuerst der Meister verkauft). Die Vogelverwandlung ist Teil dieser Szene, was die Jagd verkürzt. Der Fuchs fehlt, es gibt kein Mädchen (oder anderen Sexualpartner, wenn man nicht den König als solchen betrachtet). Während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden Straparola-Bände vielfach neu aufgelegt und übersetzt. 30 Vielleicht glaubten die Buchhändler im Nahen Osten, es würde sich bezahlt machen, eine solche beliebte Geschichte aus Europa in ihrem Angebot zu haben, oder die Erzählung war im Orient selbst auch schon bekannt und verbreitet. Für Straparolas Popularität steht die erste Geschichte der Dravidian Nights Entertainments, einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Übersetzung von Taliban-Geschichten, die Folgendes berichtet: Ein entmachteter König mit Namen Dharmananda übergibt seine beiden Söhne einem Brahmanen, um sie von ihm erziehen zu lassen; der Lehrer darf einen der beiden Jungen für seine Mühen behalten. Unter anderem lehrt dieser Mann die Kunst, sich in eine andere Gestalt zu begeben, aber nur den jüngeren Sohn; der ältere muss niedere Arbeiten verrichten. Vom jüngeren Bruder gewarnt, wählt der Vater ihn, als die Zeit für die nächste Zusammenkunft gekommen ist. Der Brahmane schwört Rache. Um für den Vater Geld zu verdienen, lässt sich der Prinz als Henne verkaufen und flieht verwandelt in ein Bandicot (eine indische Ratte). Als er den Zauber in Gestalt eines Pferdes wiederholt, bemerkt es der Brahmanenmeister und handelt das Pferd 28 E.J.W. Gibb (Übers.): ‚The Lady’s Twenty-third Story’ in the History of the Forty Veziers or the Story of the Forty Morns and Eves, London 1886, S. 253-256: vgl. Victor Chauvin, Bibliographie des Ouvrages Arabes ou relatifs aux Arabes, VIII, Louvain 1904, S. 148-149. Wie bei Gibb ist es nicht in der Ausgabe von Petis de la Croix, Histoire de la Sultane de Perse et des Vesirs, Amsterdam 1707. 29 Vgl. das Vorwort von Gibb. Die Sammlung selbst ist die türkische Version eines älteren persischen Zyklus, vgl. Chistensen, Persische Märchen, S. 278. Das ist allerdings keine Garantie für die Entstehung dieser besonderen Geschichte. 30 Die französische Übersetzung von Straparolas Piacevoli Notti wurde 1560 veröffentlicht, die 12. Ausgabe 1615, vgl. Ruth Bottigheimer, ‚France’s First Fairy Tales. The Restauration and Rise Naratives of Les facetieuses nuictz du Seigneur Fancois Straparole’, in: Marvels and Tales 19 (2005), S. 17-31, insbes. S. 28-29. Spanische Ausgaben erschienen um die gleiche Zeit, vgl. Senn, ‚Le piacevoli notti’. <?page no="52"?> 52 Willem de Blécourt dem Kaufmann ab, der es als erster erstanden hat. Er gibt dem Pferd die Peitsche und treibt es zu einem Teich, um es dort zu töten. Der Junge flieht in Gestalt eines Fisches, und als der Meister seinen Schülern befiehlt, den Teich zu leeren, fährt seine Seele in einen toten Büffel und dann in einen toten Papagei. Der Brahmane selbst verwandelt sich in einen Habicht, aber der Papagei findet Zuflucht bei einer Prinzessin. At about midnight the parrot left its cage, and assuming its own form of a prince sat beside the sleeping princess, smeared sandal over her body, ate all the sweetmeats that she had left on her table, and converting himself into a parrot, was quietly dozing away the night in its cage. Als Kopf einer Truppe von Seiltänzern betritt der Meister den Palast, aber der Prinz hat die Prinzessin angewiesen, dem Vogel das Genick zu brechen, während er in ihr Perlenhalsband fahren würde. Als der Meister dieses begehrt, werden die Perlen zu Würmern, der Meister zu einem Hahn, die Würmer zu einer Katze, die den Hahn fängt (ihn aber nicht tötet). 31 Die Geschichte enthält die gleichen Sequenzen wie ‚Maestro Lattantio’: Alle vier Handlungsstränge sind vorhanden, und es gibt sogar Ähnlichkeiten in den Verwandlungen. Der Hauptunterschied ist die Art der Transformation: Um ein Tier zu werden, benötigt der Zauberer ein totes Wesen, in dessen Körper er seine Seele versetzen kann. Der Papageiensketch begegnet wieder in der Peregrinaggio di tre giovani del re Serendippo, veröffentlicht in Venedig 1557. Hier geht es um die Geschichte eines Kaisers, der die Kunst, den Körper zu tauschen erlernt und von seinem Minister betrogen wird. Dieser fährt in den Körper des Kaisers und kann nun selbst als solcher herrschen. Am Ende überredet eine der Frauen des Kaisers den Minister, seine Seele in ein Küken zu versetzen. Der Usurpator wird getötet, der Kaiser kann den Körper des Papageis verlassen und den eigenen wieder in Besitz nehmen. 32 Der Peregrinaggio (Reise) hatte beides: eine orientalische Herkunft und eine westliche Popularität. Er war eine Adaption des aus dem 13. Jahrhundert stammenden persischen Hasht Behst (Die acht Paradiese) und erlebte etliche italienische Ausgaben im späten 16. Jahrhundert, wie auch französische und deutsche. Am Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Erzählung ins Französische übersetzt von Graf Jean de Mailly und 1719 veröffentlicht, als die große Orient-Mode Europa bewegte. Schnell folgten deutsche, englische 31 Pandit S.M. Natesa Sastri, The Dravidian Nights Entertainments: being a translation of Madankamarajankadai, Madras 1886, S. 1-18. 32 Hierfür habe ich die Übersetzung des Peregrinaggio von Theodor Benfey benutzt, Die Reise der drei Söhne des Königs von Serendippo, Helsinki 1932, FFC98, S. 72-82. <?page no="53"?> Der Zauberer und sein Schüler 53 und niederländische Übersetzungen der Fassung von de Mailly. 33 Im mittleren Osten zirkulierte die Geschichte als Volksbuch. 34 Diese Tradition läuft einerseits parallel zu Straparola, andererseits auch wieder getrennt; die Papageienszene, um die es hier geht, unterscheidet sich essentiell von der Verwandlungssequenz bei Straparola. 35 In der ersten Geschichte der Dravidian Nights Entertainments sind beide Traditionen klar erkennbar. Sobald diese Geschichte italienische Anteile in sich aufnimmt, wird der Umstand, bei der Verwandlung in einen toten Körper einzufahren, unnötig. Weil dies ein Haupthandlungselement in der Peregrinaggio-Geschichte darstellt, kann die Taliban-Version nur aus ihr heraus entstanden sein, statt umgekehrt. (Serendip war ein früherer Name für Sri Lanka). Sie kann niemals die Quelle für ‚Der Zauberer und sein Schüler’ gewesen sein. 36 Anders gestaltet sich die Geschichte in den Geschichten aus 1001 Nacht. 37 Die vollständigste Version findet sich in der Erzählung vom zwölften Hauptmann, aber sie ist nur in der Madrus-Ausgabe um 1900 erschienen (Nächte 952-954). 38 Hier ist der Zauberer ein Mohr, der einem Königspaar zu Kindern verhilft, wofür er ein Kind mit sich nehmen darf. Nachdem ihm zuerst versehentlich das falsche (dumme) Kind gegeben worden ist, nimmt er sich das kluge, Mohammed, zu sich nach Hause, wo dieser ein Zauberbuch in 30 Tagen bewältigen muss. Am letzten Tag ist der Prinz aber immer noch nicht fertig und entschließt sich, statt zu lernen, in den Garten zu gehen. Hier findet er ein Mädchen, das mit seinen Haaren an einem Baum aufgehängt ist. Er befreit sie, sie küsst ihn überschwänglich und lehrt ihn den Inhalt des gesamten Zauberbuches. Als der Mohr zurückkehrt, gibt Mohammed vor, immer noch nichts zu wissen, wofür ihm zur Strafe ein Arm abgetrennt wird. Das Mädchen stellt ihn wieder her und zaubert zwei Kamele, mit denen sie fliehen, jeder in sein eigenes Land. Vorher hatten sie ausgemacht, dass der Junge 33 Ulrich Marzolph, ‚Oriental Fairy Tales’, in: Zipes (Hrsg.): The Oxford Companion to Fairy Tales, Oxford 2000, S. 371. Vgl. Marzolph, ‘Orientalisches Erzählgut in Europa’ , EM 10 (2002), Sp. 362-373. De Mailly nutzte das Motiv auch in seinen frühreren Les illustres Fèes, siehe auch Raymonde Robert, Le conte de fées litteraire en France de la fin du xviie à la fin du xviiie siècle, Paris 2002, S. 59-72. Die Geschichte ist auch ethalten in Petis de la Croix’ Thousand and One Days. 34 Ulrich Marzolph, Typologie des Persischen Volksmärchens, Beirut/ Wiesbaden 1984, S. 132, Nr. 678. 35 ATU 678; Ulrich Marzolph und Ricard van Leeuwen, The Arabian Nights Encyclopedia I ANE, Santa Barbara 2004; Tuczay, ‚Seelentier’, EM 12 (2006), S. 489-493. 36 Sastri datierte das von ihm übersetzte Manuskript in das 17. Jahrhundert, aber nur, weil bestimmte Herrschernamen in den Geschichten vorkommen; ihre Reiche sind fiktiv - Dravidian Nights. Die Aktualität des italienischen Einflusses auf Indien hebt der Fall des italienischen Jesuiten Constantino Giuseppe Beschi hervor, dessen Adventures of the Guru Paramarta indische, italienische und klassische Stoffe kombiniert; Kamil Veith Zvelebil, ‚Dravidisches Erzählgut’, in: EM 3 (1981), Sp. 841-851, insbes. 850. 37 Es gibt eine Verkaufssequenz in Mercury, ANE 301 (Nr. 225). 38 ANE 142 (Nr. 479). <?page no="54"?> 54 Willem de Blécourt später das Mädchen, das auch eine Prinzessin ist, besuchen und um seine Hand anhalten würde. In seine Heimatstadt zurückgekehrt, befiehlt der Prinz, das Kamel verkaufen zu lassen, allerdings ohne die Zügel. Das wurde jedoch vergessen, und das Kamel taucht in eine Tränke. In der folgenden Verwirrung taucht der Mohr auf und erwirbt den Zügel von dem Händler. Nun hat er Macht über den Prinzen, verzaubert ihn in ein Kamel und reitet mit ihm zu dem Ort, wo die Prinzessin lebt. Dem Kamel gelingt es, den Zügel zu zerbeißen; es verwandelt sich in einen Granatapfel und hängt sich selbst an einen blühenden Granatapfelbaum. Der Mohr bittet den König um die Frucht, aber als er sie erhält, zerbirst sie und die Samen platzen heraus. Der Zauberer sammelt einen nach dem anderen auf, aber aus dem letzten Samen wächst ein Dolch, der ihn tötet. Mohammed erscheint nun in seiner eigenen Gestalt, die Prinzessin tritt herein und erzählt ihrem Vater, dass dies der Mann ist, der sie befreit hat. Die verschiedenen Herausgeber der Geschichten aus 1001 Nacht waren immer in Sorge darüber, die richtige Anzahl an Geschichten gesammelt zu haben. Um seine Ausgabe zu vervollständigen, hatte Madrus diese und die andere Hauptmanns-Erzählung den Contes arabes modernes von Spitta Bey entnommen, veröffentlicht im Jahr 1883. Diese ganze Abeilung ist entschieden europäisch, mit Wurzeln oder Parallelen in den Piacevoli notti, dem Pentamerone, den Gesta Romanorum und King Lear. 39 In der Geschichte vom Zwölften Hauptmann wurde versucht, die Exotik zu verstärken und ihren wahren Ursprung zu verschleiern: In Spitta Beys ‚Histoire de Mohammed l’Avisé’ flüchtet das Paar auf Pferden und ein von Mohammed gezaubertes Schaf wird auf dem Markt verkauft. Nur beim zweiten Mal taucht ein Kamel in der Geschichte auf. Das Tier wird von dem Zauberer gekauft, der eigentlich nur an seinem Zaumzeug interessiert ist. Er legt es in seine Satteltasche, aber als er absteigt, nimmt er sein Bein von der Tasche weg, und Mohammed flieht in Gestalt eines Raben. Der Zauberer selbst verwandelt sich in einen Raubvogel. Sie fliegen zwei Tage und Nächte, bis Mohammed Zuflucht findet im Garten des Sultans, des Vaters seiner Geliebten. 40 Diese Geschichte hat eine viel größere Affinität zu Maestro Lattantio als die Madrus-Version, wo die Marktszene entstellt ist und der Verwandlungsflug fehlt. Da das Mädchen in einem früheren Stadium schon eingeführt wird, treten Straparolas homosexuelle Anspielungen zurück, so sagt der Sultan zu Mohammed: „Du hast das Haar meiner Tochter gelöst, nun wirst Du sie heiraten müssen“. Die geheime Aneignung magischen Wissens in der europäischen Geschichte klingt glaubwürdiger als das erzwungene Lernen in 39 Das wird besonders deutlich, wenn die ATU-Nummerierungen der Hauptmanns- Geschichten (wie bei ANE geschehen) mit den veröffentlichen Quellen (wie bei ATU geschehn) in Zusammenhang gebracht werden. 40 Guillaume Spitta Bey, Contes arabes modernes, Leiden / Paris 1883, S. 1-11. <?page no="55"?> Der Zauberer und sein Schüler 55 der arabischen, in der der Zauberer gleichzeitig einen klugen Jungen wünscht, aber auch wiederum nicht. In der Erzählung vom Zweiten Qualandar, die zum Kern der Geschichten aus 1001 Nacht gehört, verbleibt nur ein oberflächliches Gemisch von Straparolas Erzählung: Es gibt einen klugen Prinzen, der alle Wissenschaften einschließlich der okkulten studiert hat. Durch besondere Umstände wird er ein Holzfäller, lebt bei einem Schneider und stößt zufällig auf die Behausung eines Dschinns, wo eine wunderschöne Frau ihn erwartet, um ihm ihre Gunst zu schenken. Sie werden entdeckt, der Dschinn hackt die Frau in Stücke und verzaubert den Prinzen in ein Tier; er wählt den Affen, obwohl er sich auch für einen Esel, einen Hund, ein Maultier oder einen Raben entscheiden könnte. Der Affe gelangt an den Hof eines Königs, wo eine Prinzessin auftaucht, die die schwarzen Künste beherrscht, (ohne dass ihr Vater etwas davon weiß). Sie erkennt den Prinzen sofort, schickt sich an, ihn zu entzaubern, ruft den Dschinn herbei und verwickelt ihn in einen Verwandlungsstreit. Gegen Ende wird der Dämon zu einem aufplatzenden Granatapfel. Nun ist die Prinzessin der Hahn, aber sie kann den letzten Samen nicht finden und muss zum Feuer greifen, worin beide umkommen. Mit ihrem letzten Atemzug gelingt es ihr, den Affen wieder zum Prinzen zurückzuverwandeln. Die Geschichte bietet keine Auflösung, nur eine Erklärung, warum der Erzähler (der Prinz) einäugig ist: Er wurde während des Verwandlungsfluges von einem Funken getroffen. 41 Obwohl im nah-östlichen Raum Verwandlungen zu den bevorzugten Gepflogenheiten von Dämonen (und manchmal auch Frauen) 42 gehören, ist der Handlungsaufbau der Geschichte nicht sehr konsistent und erlebt einige unerwartete Wendungen. Abgesehen davon, dass sie alle in jüngerer Zeit entstanden sind 43 , rechtfertigt keine der asiatischen Erzählungen nur im Geringsten den Anspruch, Ausgangspunkt der venezianischen Geschichte sein zu können. Straparola könnte östliche Elemente in seinem Werk verarbeitet haben; in diesem Fall aber verlief sein Einfluss in östliche Richtung, wo der Stoff eine Serie von Veränderungen durchmachte, bevor er wieder in den westlichen Markt einsickerte. Aus dieser Perspektive muss die Rahmengeschichte des mongolischen Siddhi-Kür, einer Sammlung von sechsundzwanzig Erzählungen, anders betrachtet werden. Obwohl Ähnlichkeiten mit Maestro Lattantio festzustellen sind, enthält sie sieben Zauberer statt einem. Diese Vermehrung verrät ihre Abhängigkeit, denn ein Zauberer (oder Dämon) wäre um einiges wahr- 41 ANE S. 338-340; Chauvin, Bibliographie, V, 1901, S. 197-200, Nr. 116 ; in der Madrus- Edition bezieht es sich auf die 12. bis 14. Nacht. 42 ANE S. 723. 43 Galland erhielt 1701 eine Kopie des Manuskriptes; es war aufgrund seines Inhaltes mit dem Begin des 14. Jahrhunderts datiert, später mit Mitte des 15. Jahrhunderts oder noch später, vgl. ANE S. 558, 632. Einzelne Geschichten dürften wieder anders datiert werden können. <?page no="56"?> 56 Willem de Blécourt scheinlicher. Die Prinzessin wird, wahrhaft gewaltsam, durch einen Eremiten ersetzt, der dem Prinzen erzählt, er habe sein Leben nur auf Kosten sieben anderer gerettet. Nun muss der Prinz Buße tun und einen übernatürlichen Leib herbeizaubern, der alles wieder gut macht und ihm die Geschichten erzählt. 44 Bestimmte Elemente des Siddhi-Kür-Rahmengeschichte finden sich auch in den schon besprochenen indischen Erzählungen. Der Junge muss ein Tier erst sehen, um sich darin zu verwandeln; es gibt die Auseinandersetzung mit dem Tod und das Auftauchen eines dümmeren Bruders. Die mongolische Geschichte hat einige indische Wurzeln - sie ist - das darf als sicher gelten - in die Mongolei über Tibet gewandert. In diesem Punkt stimmen alle Theorien überein: Schon Benfey vermutete eine solche Abstammung. 45 Was er nicht gesehen hat, war die enorme Reichweite der Straparola-Geschichte. Die besondere Beziehung zwischen Erzählkorpus und Rahmengeschichte war verschiedenen Wandlungen unterworfen; der in Sanskrit verfasste Korpus existierte schon im elften Jahrhundert und lehrte die Grundlagen von Moral, Tugend und Politik, der Rahmen wurde durch die Geschichte vom „Verhexten Leichnam“ gebildet, was sich auf die Heldentaten eines Königs bezog, der einem Asketen versprach, einen Leichnam zu erschaffen, der von einer Vetala bewohnt sei, wenn er ein Schweigegelübde hielte. Nur in der Sammlung, die nach Tibet gelangt ist, ist der Kampf zwischen den Zauberern als Beginn der Rahmengeschichte hinzugefügt, und das auch nur in den späteren Versionen. In anderen tibetische Rahmenhandlungen findet sich ein Vogelnest irgendwo in Südindien statt eines Leibes. 46 Soweit ich es einschätzen kann, steht die präzise Datierung verschiedener darin enthaltener Manuskripte noch aus. 47 Der momentane Forschungsstand würde dennoch die Vorrangstellung der tibetischen Rahmenhandlung mit den Zauberern ausgesprochen favorisieren, dabei vorausgesetzt, sie wurde auf der Basis einer Geschichte wie die Dravidian Nights geschaffen. 48 Während noch 44 Scherf, Märchenlexikon, Sp. 1096-1098; Cosquin, Études folkloriques, S. 592-593. 45 Theodor Benfey, Pantschatantra. Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen I, Leipzig 1859, S. 410-413. Über den Zusammenhang mit Tibet vgl. Helmut Hoffmann, Märchen aus Tibet, Düsseldorf 1965, S. 50-54. 46 Raffaella Riva, ‚The Tales of the Bewitched Corpse. A Literary Journey from India to China’, in: Alfredo Cadonna (Hrsg.): India, Tibet, China. Genesis and Aspects of Traditional Narrative, Florenz 1999, S. 229-256. 47 Vgl. Rudolf Kaschewsky, ‚Siddhi Kür’, in: EM 12 (2006), Sp. 638-642. 48 In dieser Hinsicht folgt Riva,(‚Tales of the Bewitched Corpse’, S. 242-243, Anmerkung 12,) unkritisch Cosquin. Aber Cosquin, (‘Études folkloriques, S. 610,) gibt zu bedenken, die Verbindung der beiden Rahmengeschichten sei ‘tout arbitraire’ und verweist auf eine nordindische mündliche Version, wo diese Verbindung gegeben sei, vgl.: Charles Swynnerton, Romantic Tales from the Panjab with Indian Nights Entertainment, London 1908, S. 365-381. Dieses Argument ist abhängig von der Glaubwürdigkeit des Textes, der Swynnerton vorgelegen hat; man kann es auch als unangemessene Konstruktion <?page no="57"?> Der Zauberer und sein Schüler 57 unentschieden ist, wann und wie die Beifügung zur Rahmengeschichte tatsächlich stattgefunden hat, so war sie doch für den europäischen Markt bestimmt und darum in eine europäische Erzählung eingebettet. IV Eine englische Übersetzung von ‚Maestro Lattantio’ mit dem Namen The Italian Taylor and his Boy wurde als Volksbuch im frühen 17. Jahrhundert veröffentlicht. 49 Sie hinterließ kaum Spuren in der Volkskunde der Britischen Inseln. 50 Im frühen 17. Jahrhundert kamen die Neuauflagen der Piacevoli notti in Italien, Frankreich und Spanien aufgrund von Einwänden der römischkatholischen Zensurbehörden ins Stocken, was nicht heißt, dass nicht doch ab und an Nachrucke zu bekommen waren. Besonders unter den französischen Autoren von Feenmärchen war Straparolas Werk beliebt, und zu Beginn des 18. Jahrhunderts verfasste Eustache le Noble eine Nacherzählung des Stoffes in Le gage touché. Er veränderte die Namen und einige weniger wichtige Details: Während er den Schneider hässlich machte, wurde die Prinzessin anonymisiert und der Junge gelangte nur in Gegenwart einer Hofdame zu ihr. Von ihren Brüsten hielt er sich zurück. 51 Diese Ausgabe wurde ins Deutsche übersetzt und 1767 in der Zeitschrift Abendstunden veröffentlicht. 52 War nun 50 Jahre später, als Jenny von Droste Hülshoff Wilhelm Grimm ihre Version der Geschichte für die Aufnahme in die Kinder- und Hausmärchen schickte, der Stoff plötzlich eine mündliche Überlieferung geworden? Auf den ersten Blick scheint es genug Anzeichen für eine solche Annahme zu geben. Das Märchen ist in Dialekt wiedergegeben, und ihre Inhalte sind ausreichend entfernt von denen der Druckversionen, um einen Eindruck von Mündlichkeit zu vermitteln. Andererseits wurde erst kürzlich damit argumentiert, dass man im Bökendorf-Kreis, zu dem die Familie von Droste-Hülshoff gehörte, das Werk Straparolas gut kannte, und dass der ‚Gaudief’ dem ‚Maestro Lattantio’ nachempfunden sei. 53 Um etwas Klarheit in diese Angelegenheit ansehen (der Junge flüchtet vorübergehend vor dem Fakir, indem er sich im Körper einer Mücke versteckt; am Ende kommen beide um). 49 Für eine freie Übersetzung in Versen von Robert Armin vgl. Bottigheimer, Fairy Godfather, S. 124, 133; sie erschien in London 1609, wiederaufgelegt 1810. 50 Nur in schottischen Versionen des 19. Jahrhunderts, vgl. Katharine Briggs, A Dictionary of British Folk-Tales AI, London 1970, S. 162-164; 347-359. 51 Zipes, The Great Fairy Tale Tradition, S. 353-359. 52 ‚Der Lehrling in der Zauberkunst. Ein Mährchen’, in: Abendstunden in lehrreichen und anmuthigen Erzählungen 7 (1767), S. 342-352. In der Wiener Übersetzung der Piacevoli notti von 1791 fehlt die Geschichte. 53 Maren Clausen-Stolzenburg, Märchen und mittelalterliche Literaturtradition, Heidelberg 1995, S. 393-400, insbes. Anm. 787. <?page no="58"?> 58 Willem de Blécourt zu bringen, ist es nötig, sowohl das Werk der Droste sorgfältig zu untersuchen wie auch die Umstände ihrer Entstehung einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Wilhelm Grimm besuchte Bökendorf zu ersten Mal im Sommer 1811, wo er an einem Vortragsabend der Schwestern seines Gastgebers, Fritz von Haxthausen, teilnahm. Als er sie zwei Jahre später erneut besuchte, waren er und sein Bruder Jacob dabei, Material für den zweiten Band der Kinder- und Hausmärchen zu sammeln. An diesem Treffen waren auch zwei Nichten der Familie beteiligt, Maria Anna (Jenny) und Anna Elisabeth (Annette) von Droste-Hülshoff, 1795 und 1797 geboren (Wilhelm war zehn Jahre älter). „Ich habe die Zeit angenehm zugebracht“, schrieb Wilhelm an seinen Bruder. „Märchen, Lieder und Sagen, Sprüche usw. wissen sie die Menge“. Er würde mindestens anderthalb Monate brauchen, um alles niederzuschreiben. „Die Fräulein aus dem Münsterland“, fuhr er fort, „wussten am meisten, besonders die jüngste. Es ist schade, dass sie etwas Vordingliches und Unangenehmes in ihrem Wesen hat“. Aber sie versprach ihm, alles, was sie wüsste, zu schicken; ihre ältere Schwester Jenny wollte dafür sorgen, dass sie ihr Versprechen einhielte. 54 Am Ende war sie es selbst, Jenny, die, von den ausdrucksvollen braunen Augen Wilhelms betört, 55 die Korrespondenz aufnahm und einige Texte nach Kassel schickte, obwohl sie ein Jahr und ein wenig Anstoß von Wilhelm dafür brauchte. 56 Unter ihren Einsendungen war „Jan und sein Sohn“, wie der „Gaudief“ im Original hieß, geschrieben im Münsteraner Dialekt. Jenny fungierte eher als Übermittlerin, denn Annette war von den beiden die Geschichtenerzählerin. Schon als Kind erzählte sie ihren Freunden selbst erdachte Märchen und als Erwachsene wurde sie eine berühmte Dichterin und Schriftstellerin. Die Texte aus dem Münsterland gelangten in verschiedenen Teillieferungen zu den Grimms. 57 Das erste Bündel enthielt mindestens sechs Geschichten, die 1815 im Band der Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht wurden, zwischen den Texten von Zwehrn und aus Literaturquellen exzerpiertem Material. Einige von ihnen, wie ‚Der Soldat und der Schreiner’ und ‚De drei schwatten Princessinnen’ hatten unter den geläufigen Märchen keine Parallele und das blieb so. In der ersten Geschichte geht es um einen Soldaten und einen Holzfäller, die in ein leeres Schloss kommen, das nur von einem schwarzen Hund, ei- 54 Wilhelm Schoof (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit, Weimar 1963, S. 221; vgl. die oberflächliche Einleitung von Günter Tiggesbämer, ‚Haus Bökerhof und die Brüder Grimm, in: Märchenspiegel 10 (1999), S. 10-11. 55 Walter Gödde, ‚Wilhelm Grimms Freundschaft mit Jenny von Droste-Hülshoff’, in: Brüder Grimm Gedenken 6 (1986), S. 13-24, insbes. S. 14. 56 [Schulte-Kemminghausen], Briefwechsel zwischen Jenny von Droste-Hülshoff und Wilhelm Grimm, Münster 1978, Nachdruck der Ausgabe von 1929, S. 22-24. 57 Vgl. Ralf Breslau, Der Nachlass der Brüder Grimm, I, Wiesbaden 1997, Nummern 1757.5 und 1800, C1,1. <?page no="59"?> Der Zauberer und sein Schüler 59 nem roten Schwan und einer grauen Katze bewohnt ist. Erst am nächsten Tag finden sie in den Kellern eine alte Frau, ein junges Mädchen und einen Jungen, die solange eingesperrt sein müssen, bis die Tiere getötet sind. Aber als diese Aufgabe mit Hilfe einer Taube, die sich später in einen jungen Mann verwandelt, erfüllt wird, werden sie von den drei Gefangenen angegriffen und müssen sie ebenfalls töten. Nun stellt sich heraus, dass die alte Frau eine Hexe war, die das Schloss verzaubert hatte. Das zweite Märchen ist ähnlich verschwommen und handelt von einem verschwenderischen Sohn, der nicht sofort von seinem sozial aufgestiegenen Vater anerkannt wird und drei eigensinnigen Prinzessinnen, denen dieser Sohn nicht entfliehen kann. Beide Texte sind höchstwahrscheinlich reine Phantasieprodukte von Annette. 58 Andere gehen auf bekannte Literatur zurück: ‚De wilde Mann’ mit seinem männlichen Aschenputtel, der teilweise in ‚Engelland’ angesiedelt ist, könnte seinen Vorläufer in Straparolas ‚Guerino’ haben; ‚Similiberg’, das für die Grimms schon verdächtige Ähnlichkeiten mit der Geschichte von Ali Baba aus den ‚Geschichten aus 1001 Nacht’ hatte, ist tatsächlich daraus entstanden. 59 Die Verwendung ausländischer Geschichten, die man dann inhaltlich in Deutschland ansiedelte, war seit dem Erscheinen von Musäus’ Volksmärchen der Deutschen in Mode gekommen. Ein weiterer Text der Droste- Hülshoff, ‚Die zertanzten Schuhe’, stammt wahrscheinlich aus einer ähnlichen, bis jetzt noch unidentifizierten pseudoorientalischen Quelle. 60 ‚Fuchs und Pferd’ ist eine aus traditionellen Elementen zusammengestellte Fabel darüber, wie ein altersschwaches Pferd einen Löwen mit Hilfe eines Fuchses besiegt. 61 Die Beiträge der Hülshoff-Schwestern bestanden aus Geschichten, die entweder besondere Versionen vertrauten Materials waren oder gänzlich neu. Sie zeigen, dass wenig wirklich mündlich tradierte Märchen im Umlauf waren. Die Tatsache, dass manche in Dialekt geschrieben sind, hatte hauptsächlich zur Folge, dass sie schwieriger zu edieren waren; es verrät wenig über eine mögliche Verbreitung ‚im Volk’, zumal die Geschichten ohne weiteres in eine dem Lokalkolorit ähnelnde Sprache übersetzt werden konnten und auch wurden. Diese Schlussfolgerungen beziehen sich ebenfals auf die 58 Annettes Beitrag zu den KHM wurde nie richtig eingeschätzt. Während Johannes Bolte ihr in seinen Anmerkungen (IV, S. 441) zu viele Geschichten zuschreibt, wird sie von Hans-Jörg Uther in der letzten Ausgabe der KHM gänzlich übergangen. 59 Diese Geschichte wird gewöhnlich Ludowine von Haxthausen zugeschrieben, obwohl das Münsterland als Enstehungsort angegeben ist. Vgl. Scherf, Märchenlexikon, Sp. 1112- 1113. 60 ATU 306. Vgl. Waldemar Liungman, Die schwedischen Volksmärchen. Herkunft und Geschichte, Berlin 1961, S. 55; Scherf, Märchenlexikon, Sp. 1441-1444, enthüllt nicht viel Neues über die Entstehung des Märchens. 61 Es bleibt ebenso ohne Einfluss, EM 5 (1987), S. 516. <?page no="60"?> 60 Willem de Blécourt später von Jenny unterbreiteten Unterlagen, wahrscheinlich aus dem Jahre 1819 62 , die unter anderem ‚Jan und Sein Sohn’ enthielten. Jan möchte, dass sein Sohn ein Handwerk lernt und begibt sich zur Kirche, um Rat zu suchen. Er hört den Pfarrer sagen „dat gaudeifen, dat gaudeifen“ (das Stehlen) und findet jemanden, der ihm das beibringen kann. Wenn er nach einem Jahr zurückkehre und seinen Sohn wiedererkenne, könne er sein Lehrgeld behalten. Unterwegs dort hin trifft er ein kleines Männlein, das ihm rät, sich mit etwas Brot unter den Kamin zu stellen; wenn ein Vogel aus einem Körbchen schaue, würde das sein Sohn sein. Er befolgt diesen Rat und erhält seinen Sohn zurück. Dieser verwandelt sich auf dem Heimweg in einen Hund, der nach dem Verkauf an einen Herrn kurze Zeit später wieder zum Vater zurückläuft. Am nächsten Tag verwandelt er sich in ein Pferd und trägt seinem Vater auf, ihn zu verkaufen, aber ohne das Zaumzeug. Der Meister jedoch kauft das Pferd mitsamt dem Zaumzeug. Eine Dienstmagd befreit den Jungen und er wird zu einem Spatzen. Der Meister macht sich ebenfalls zu einem Spatz und die beiden kämpfen; der Meister verliert, taucht ins Wasser und wird ein Fisch, ebenso der Junge, der ihn abermals angreift. Als der Meister sich in einen Hahn verwandelt, nimmt der Junge die Gestalt eines Fuchses an und beißt ihm den Kopf ab. 63 In dieser Version ist aus den Töchtern des Meisters eine Dienstmagd geworden und die Prinzessin ist vollkommen verschwunden. Das Männlein könnte der Teufel gewesen sein (obwohl Letzterer angeblich den Lehrer unterstützt). Während die Struktur von ‚Maestro Lattantio’ intakt bleibt, ist ‚Jan und sien Sohn’ ein Kompositum, neu zusammengesetzt aus bekannten Elementen, darunter die Wiedererkennungsszene, wie im Folgenden noch gezeigt wird. Das Märchen wurde von zwei Anekdoten begleitet, die ebenfalls in Dialekt verfasst waren, ‚De Sohn up Reisen’ und ‚Hans Lustig’. 64 Jan und sein Sohn’ selbst ist anekdotisch wegen der missverstandenen lateinischen Phrasen (der Pfarrer wird irgendetwas ähnliches wie „Gaudete, gaudete“ gemurmelt haben) 65 und die ausgedehnte Verkaufsszene. Die Verbindung von Verwandlungszauber mit Geld bekommt allerdings einen moralisierenden Unterton durch die Gleichsetzung von Verkaufen und Stehlen, die Wilhelm Grimm mit der Kennzeichnung des listigen Diebes ‚De Gaudeif’ im Titel noch unterstreicht. Theoretisch könnte der anekdotische Charakter des Textes auf eine Herkunft aus der Volksüberlieferung verweisen, auch wenn, wie es bei den meisten der Droste-Hülshoff-Texten der Fall ist, sehr wenig in 62 Siehe auch Wilhelms Brief in Briefwechsel, S. 28. 63 KHM 68. Der Text ist auch transkribiert in Karl Schulte-Kemminghausen, Die niederdeutschen Märchen der Brüder Grimm, Münster 192, S. 47-49. 64 Im Einzelnen veröffentlicht als KHM 143 unter dem Titel ‚Up Reisen gohn’ und in den Anmerkungen zu ‚De Spielhansel’, KHM 82; ATU 1696 und ATU 330. 65 ATU 1831A*, siehe auch Viera Gasparíková, ‚Pfarrer und Küster beim Messelesen’, in: EM 10 (2002), S. 877-884. <?page no="61"?> Der Zauberer und sein Schüler 61 der Region erhalten geblieben ist. 66 Aber Anekdoten verweisen nicht automatisch auf niedere Stände, vielmehr auf traditionelle Stoffe, ob schriftlich festgehalten oder gedruckt. Hätte Jenny selbst ‚Feldstudien’ unternommen, würde sie es sicher Wilhelm gegenüber erwähnt haben. Stattdessen entschuldigte sie in einem späteren Brief, dass andere (von Familienangehörigen oder nahen Bekannten) bereits versprochene Geschichten oder Sagen noch nicht erfasst worden seien. 67 Die versteckte Moral in ‚Jan und sein Sohn’ könnte auf einen religiösen Informanten schließen lassen, und Jenny war mit Sicherheit mit Angehörigen des katholischen Klerus vertraut; sie schickte auch Sagen an Wilhelm Grimm, die ihr von einem Kapuzinermönch erzählt worden waren. V Vom 19. Jahrhundert an vervielfacht sich die Zahl der Varianten von ‚Der Zauberer und sein Schüler’, nicht zuletzt, weil Volkskundler sie sammelten. In der Mitte des 20. Jahrhunderts zählte Kurt Ranke 44 deutsche Texte aus den letzten zweihundert Jahren. 68 Dänische Forschungen brachten mindestens 27 Versionen zum Vorschein. 69 In Südböhmen (heute Tschechien) wurden mindestens 13 Versionen gesammelt 70 , der Katalog der Märchen in französischer Sprache listet 20 auf 71 . In arabischen Ländern fand man 48 Versionen 72 , in Indien 15 73 . In den Niederlanden dagegen wurde nur eine Variante in Westfriesland gefunden, niedergeschrieben im 19. Jahrhundert. 74 Und das sind nur Beispiele. Viele ähnliche Texte gibt es in Osteuropa oder in Irland. 66 Vgl. Gottfried Henßen, Volk erzählt. Münsterländische Sagen, Märchen und Schwänke, Münster 1954. 67 In einem Brief vom 17. Dezember 1819, Briefwechsel, S. 32-33. 68 Kurt Ranke, Schleswig-holsteinische Volksmärchen, I, Kiel 1955, S. 200-201. Aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert sind keine anderen, als die bisher diskutierten Versionen überliefert. 69 Reidar Th. Christiansen, Studies in Irish and Scandinavian Folktales, Kopenhagen 1959, S. 165; vgl. Holbek, Interpretation of Fairy Tales, S. 163: Ein Katalog mit 18 Versionen in der Kristensen-Sammlung in Jütland. 70 Václav Tille, Verzeichnis der böhmischen Märchen, Helsinki 1921, (FFC 34), S. 299-306. 71 Paul Delarue, Le conte populaire francais, Paris 1957, S. 279-292. 72 Hasan M. El-Shamy, Types of the Folktale in the Arab World, Bloomington / Indianapolis 2004, S. 151-155; vgl. Ulrich Marzolph, Typologie des persischen Volksmärchens, Beirut / Wiesbaden 1984, S. 72-74. 73 Stith Thompson und Warren E. Roberts, Types of Indian Oral Tales, Helsinki 1960, (FFC 180), S. 53-54. 74 Waling Dykstra, Uit Friesland’s volksleven van froeger en later, II, Leuwaarden 1896, S. 17- 18. Zwei spätere Texte, gesammelt in den Siebziger Jahren und veröffentlicht 1976 und 1980, sind Fälschungen; vgl. Jurjen van der Kooi, Volksverhalen in Friesland. Lectuur en mondelinge overlevering: een typencatalogus, Groningen 1984, S. 315-316. <?page no="62"?> 62 Willem de Blécourt Anhänger der finnischen Schule nahmen das arbeitsreiche Unterfangen auf sich, alle erreichbaren Versionen eines Märchens (nachdem sie eigene Übersetzungen angefertigt hatten) durchzusieben, um festzustellen, wo geographische Zentren und Peripherien liegen könnten. Da sie als Voraussetzung eine breite und keinem Wandel unterlegene mündliche Tradierung annahmen, haben sie weder den Druckversionen und der historischen Überlieferung ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt, noch der Möglichkeit, dass das Sammeln selbst als solches die Produktion von Texten erleichtert haben könnte. Der Niedergang dieser Methode war auch ihrer fast gänzlich mangelnden praktischen Umsetzbarkeit geschuldet. Mehr noch, Märchen-Texte sind unzuverlässig: Besonders Sammler des 19. Jahrhunderts hatten wenig Skrupel, Texte zu übernehmen und mit verschiedenen Versionen zu kombinieren, um ein gedachtes ‚orales’ Original zu rekonstruieren, deshalb ging man davon aus, dass eine Geschichte existierte, bevor sie dokumentiert wurde. Eine alternative Methode erkennt an, dass sich eine historische Verteilung nur in einem konkreten Raum abspielen kann, jedoch liegt hier die Priorität bei der zeitlichen Sequentierung der Texte. Auch berücksichtigt sie, dass Märchen Sprachgrenzen überwinden, zum einen wegen der gedruckten Versionen, oder weil Volkskundler (und vielleicht gerade auch ihre Informanten) selbst vielsprachig waren. Aus dieser Perspektive kann die Oralität vor allem als wahrscheinlicher, aber nicht notwendig unabdingbarer Teil der Geschichten-Sammel-Situation betrachtet werden. Zumindest kann man annehmen, dass Volkskundlern Märchen erzählt worden sind, als sie gerade danach suchten, wenn sie sie nicht sogar in Büchern fanden. Grundsätzlich ist ein Märentypus nicht mehr als die Bezeichnung einer Sammlung von Geschichten, die alle aus der gleichen Quelle stammen. Der Typus ‚Der Zauberer und sein Schüler’ ist leicht zu handhaben, denn er ist stabil und eigentlich wenig von anderen Typen beeinträchtigt. 75 Nur in wenigen Fällen hat der Erzähler ihn mit einer anderen Geschichte kombiniert oder fremde Motive eingewoben. Das Thema der Kaninchenhorde wurde gelegentlich eingeschoben, um die sexuelle Dimension zu unterstreichen 76 75 Die irischen Versionen machen hier eine Ausnahme, vgl. Kevin O’Sullivan und Reidar Christiansen, The Types of the Irish Folktale, Helsinki 1963, FFC 118, Nr. 325; Die irischen Geschichten sind auch vergleichsweise jung, die älteste veröffentlichte Version erschien in: Jeremiah Curtin, Myths and Folklore of Ireland, Boston 1890, S. 139-156. Im Allgemeinen verweisen kombinierte Geschichten auf ein lebendiges, junges Erzählen. 76 ATU 570: In einem deutschen Text von 1846, siehe auch Jurjen van der Kooi und Theo Schuster, Der Großherzog und die Marktfrau. Märchen und Schwänke aus dem Oldenburger Land, Leer 1994, Nr. 19, und in einer persischen Geschichte, ein Jahrhundert später festgehalten, siehe Ulrich Marzolph, Wenn der Engel singt, tanzt das Kamel. Persische Märchen und Schwänke, München 1994, S. 40-55. <?page no="63"?> Der Zauberer und sein Schüler 63 und ein ‚Tischleindeckdich’ verstärkte die magische Komponente. 77 Fast überflüssig zu sagen, dass nur ein Fall einer anekdotischen Beimengung existiert. 78 Während des 19. Jahrhunderts wurden Magie und besonders Zauberbücher gebräuchliche Themen, nicht nur wegen der überwiegenden Tendenz, die sexuellen Konnotationen von Märchen zu unterdrücken, auch weil Straparolas sexuelle Anspielungen nicht mehr von jedem Erzähler oder Sammler verstanden worden sein dürften. Vom frühen 19. Jahrhundert an verwiesen manche Märchen im Text auf Zauberbücher, jedoch ohne die sonst üblichen Warnungen, dafür jegliche Hoffnung auf christliche Erlösung zu verpfänden. 79 Es ist mehr das Buch und das Lernen, für das es steht, die betont werden, als das besondere dabei erworbene Wissen. In diesem Sinne können Zauberbücher als Metaphern für eine Dominanz von Literalität verstanden werden. Das in die Droste-Hülshoff-Version eingefügte Motiv von der Wiedererkennung des Schülers durch den Vater taucht in verschiedenen anderen Geschichten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. In den Ancient Scottish Tales zum Beispiel trifft der Vater einen alten Mann, der ihn zu einem ‚Dr. Frechnase’ nach Cambridge schickt, dieser wiederum schickt ihn zum schwarzen König von Morocco. „Here he asked for his son, when seven doves were set before him, and he was desired to make his choice, he did so, and made choice of one, with a broken wing, which changed to be his son in the likeness of a dove.“ Dann folgen die Marktszene und der Verwandlungsflug, in dem der Junge von sieben Falken und sieben Adlern gejagt wird, bis er seine Prinzessin findet. Und es wird ausdrücklich gesagt: „When the night came, he became a man, which put the lady in great fear.“ Die Ancient Scottish Tales wurden zwischen 1827 und 1829 kompiliert, aber zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht (er starb 1854); in seiner Heimatstadt wurde 1908 wurde nur eine sehr limitierte Ausgabe gedruckt. 80 Diese Sammlung ist eigentlich sehr ‚unschottisch’: Sie basiert teils auf ausländischem Material, teils ist sie gefälscht. 81 77 ATU 563: Sie auch Paul Zaunert, Deutsche Märchen aus dem Donaulande, Jena 1926, S. 97; Jakov S. Chacatrjanc, Armenian Folk Tales, Philadelphia 1946, S. 20; Karl Haiding, Märchen und Schwänke aus dem Burgenlande, Graz 1977, S. 65. 78 In einer von Wisser im frühen 20. Jahrhundert gesammelten Geschichte findet der Junge einen Priester in einem Kessel in der Wohnung seines Meisters, vgl. Ranke, Schleswig-Holsteinische Volksmärchen, S. 201-203 (ATU475). 79 Vgl. eine 1886 aufgezeichnete dänische Version der Geschichte, in Laurits Bodker, Dänische Volksmärchen, Düsseldorf / Köln 1964, S. 20-26, in der eine Cyprianus erwähnt wird, und Karl Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Hostein und Lauenburg (Kiel 1885), Nr. 301; Gustav Henningsen, ‚Witchcraft in Denmark,’, Folklore 93 (1982), S. 131-137. 80 Peter Buchan, Ancient Scottish Tales, Peterhead 1908, S. 59-60. Der erste Druck war nur auf 50 Exemplare beschränkt, ein Neudruck erschien in den USA, Darby 1973. 81 Buchans Texte sind auch nachgedruckt in Briggs, A Dictionary of British Folk-Tales in the English Language A, I, 159, 162-163, 197-200, 296-297, 448-451, 452-454, 569-572, 573-574. <?page no="64"?> 64 Willem de Blécourt Das Wiedererkennungsmotiv selbst wird Geschichten über Zauberschulen entlehnt sein, die in Europa seit dem Mittelalter kursierten. Es ist eher dort anzusiedeln, als einem Märchen von einem einzelnen Lehrling zuzuordnen, zumal das jeweilige Elternteil unter einer gewissen Anzahl von Schülern sein Kind wiedererkennen muss, in welcher Gestalt auch immer. 82 Konsequenterweise tritt es besonders zutage in den postgrimmschen Sammlungen, besonders aus Osteuropa, die sehr literaturorientiert erarbeitet wurden. Die früheste dieser Sammlungen ist ein Buch über polnische Volksmärchen von K.W. Woycicki aus dem Jahre 1837, an deren polnischer Identität zeitgenössische Kommentatoren mittlerweile Zweifel anmelden. Diese Geschichte folgt mehr den Strukturen von Straparola als die münsterländische Version. Als Mutter (wahrscheinlicher als Vater) und Sohn im Wald einen Mann treffen, sagt er ihnen, er sei ein Schneider. „Das war aber eine Lüge, denn er war ein großer Hexenmeister” 83 Als Nächstes erscheint das Motiv in einer Geschichte aus einer sorgfältig edierten Sammlung von rumänischen Volkserzählungen. Hier meldet sich der Junge an einer Schule an, die vom Teufel geleitet wird und vereinbart mit seinem Vater ein geheimes Zeichen, das ihn von den anderen Schülern unterscheiden helfen soll, wenn die Zeit der Wiedererkennung gekommen sein würde. 84 1858 taucht das Wiedererkennungsmotiv in einer besonders farblosen Version der Geschichte aus der Slowakei auf; ihre Autoren sind verdächtig, das Material selbst bearbeitet und stark rekonstruiert zu haben. 85 Danach sorgten genug gedruckte Beispie- Diese Geschichten müssen in einem europäischen Rahmen betrachtet werden, aber, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Dämon mit dem Namen ‚Grimaldin’ wie in ‚The Princess of the Blue Mountains’ überzeugt nicht wirklich als echt gälisch. 82 Vgl. Reidar T. Christiansen, The Migratory Legends, Helsinki 1958; (FFC 175), S. 18-20, Nr. 3000: Flucht aus der Schwarzen Schule von Wittenberg. In einer anderen Geschichte über die Schwarze Schule in Leipzig muss eine Mutter ihren Sohn unter einer Anzahl von Raben wiedererkennen; Serbske Nowiny, Bautzen 1858, S. 22, zit. nach Marie-Luise Ehrhardt, Die Krabat-Sage. Quellenkundige Untersuchung zu Überlieferug und Wirkung eines literarischen Stoffes aus der Lausitz, Marburg 1982, S. 84-85; dieser Text hängt nicht zusammen mit ATU 325. 83 Bolte und Polívka, Anmerkungen, V, 1932, S. 137; Ich habe die deutsche Edition von Woycicki benutzt, Polnische Volkssagen und Märchen, übersetzt von F.H. Lewestam, Berlin 1839, S. 110-114. Eine weitere Sammlung aus dem Jahr 1853 von A.J. Glinski anscheinend aus Minsk, aber wie bei Polívka fälschlicherweise als „polnisch“ bezeichnet , Vgl. Bolte und Polívka, Anmerkungen V, 1932, S. 155, wurde auch auf deutsch veröffentlicht: Polnische Volks-Märchen, übersetzt von Amélie Godin, Leipzig 1888, orig. 1877, S. 151-164. Es ist eine Weiterentwicklung der Version von Woycicki, nun mit drei Aufgaben: In der dritten verwandeln sich alle Lehrlinge in weißgekleidete Jungfrauen mit rosenfarbenen Gürteln. 84 Arthur und Albert Schott, Rumänische Volkserzählungen aus dem Banat, hrsg. Von Rolf W. Brednich und Ion Talos, Bukarest 1971, S. 140-146; das Original, Walachische Märchen, erschien 1845 (S. 193, Nr. 18). 85 Das betrifft Skultety und Dobsinský, vgl. Bolte und Polívka, Anmerkungen, V, 1932, S. 131; Für eine deutsche Übersetzung der Geschichte s. Robert Michel und Cäcilie Tandler, Slowakische Märchen, Wien 1944 (2. Aufl.), S. 84-90. <?page no="65"?> Der Zauberer und sein Schüler 65 le des Wiedererkennungsmotivs für weitere Verbreitung 86 , ungehindert ihrer Auswirkung auf die Geschichte. Dazu kommen noch Schwankungen der Beziehungen zwischen den einzelnen Szenen: Wissen wird bewusst gesucht statt heimlich erworben, und der Meister wird von Anfang an betrogen. Dass er in diesem Zusammenhang manchmal zum Teufel wird, hängt mehr mit der besonderen Bearbeitung dieser Geschichte zusammen als mit dem besonderen Verständnis des Teufels von Magie; mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet würde die Bemerkung, einen Teufel getötet zu haben, ebenso fremd gewesen sein. 87 Das Vermischen der beiden Handlungsstränge der Flucht aus der Zauberschule und der Flucht vor einem schrecklichen Lehrer kann einige Probleme bereiten. Wenn sie die Widererkennungsszene in ihrer Rekonstruktion berücksichtigen, folgen die Autoren i.d.R. dem Beispiel der Kinder- und Hausmärchen, ungeachtet der übrigen Geschichte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildete sich in der Nacherzählung von ‚Maestro Lattantio’ eine bestimmte Zahl von Elementen heraus, die das Erlernen der Zauberei betreffen und meist anderen Geschichten entnommen waren. Eine davon, in der der Lehrling in dem Moment, als er etwas Interessantes zu lernen entdeckt, vorgibt, dumm zu sein, hat die Form eines Abschnitts der populären Versionen des Faust, in der der Lehrer die Lesefähigkeiten des Schülers überprüft. Wieder waren die Grimms die ersten, die das festhielten: Die Szene war Bestandteil einer halbwegs erinnerten an Jacob geschickten Version, die er etwa 1817 aus Wien erhielt (am Ende wird der Meister in Gestalt eines Korns von einem jungen Hahn gefressen). 88 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbreiten sich Versionen der Geschichte mit der Frage ‚Kannst Du lesen? ’ langsam über ganz Europa und hinterlassen ein, zwei Spuren im Erzählrepertoire eines Landes. 89 Manche Erzähler arbeiten eine eigene Szene heraus, in der der Junge nicht in den Dienst genommen wird, weil er seine Fähigkeiten anerkennt, dann aber wechselt der Junge die Kleidung und gibt die passende Antwort 90 . Den Denkmalssockel für die Geschichten des 19. Jahrhunderts jedoch bauten die Veröffentlichungen von Ludwig Bechstein und Heinrich Pröhle. In seinem Deutschen Märchenbuch von 1845 ist der Lehrjunge ein Buchbinder- 86 Siehe z.B. Maja Boskovic-Stulli, Kroatische Volksmärchen, Düsseldorf / Köln 1975, S. 41- 45, die Elemente der Woycicki-Version hervorhebt. 87 Die französische Lösung für dieses Problem war die Redeweise ‚Il a le diable au corps’ <Er hat den Teufel im Leib, Anm. d. Übers.>, vgl. Caliste de Langle, Le Grillon. Légenedes brétonnes, Paris / St. Petersburg 1860, S. 112. 88 Bolte und Polívka, Anmerkungen, II, (1915), S. 60. 89 Vgl. Cosquin, Études folkloriques, S. 544-545, der ein deutsches, ein böhmisches, ein dänisches, ein isländisches, zwei französische (bretonische) und zwei potugiesische Beispiele anführt. 90 Zum Beispiel: Paul Delarue, The Borzoi Book of French Folk Tales, New York 1956, S. 135- 139, erzählt von einem 30-jährigen Bauern im Jahr 1887 = Delarue, Le conte populaire francais I, Nr. 325, Nr. 5. Das Thema wurde eingeführt in: Laisnel de la Salle, Croyances et légendes du centre de la France, Paris 1875, S. 141. <?page no="66"?> 66 Willem de Blécourt geselle auf Wanderschaft, der Arbeit sucht. 91 Er findet einen Meister, für den er aber ausschließlich Bücher abstauben muss. Ein einziges kleines Buch soll er nicht berühren. Als er nach zwei Jahren alle anderen Bücher gelesen hat, beginnt er mit dem verbotenen und stellt fest, dass es voll von Zauberformeln ist. Darauf verwandelt er sich in eine Schwalbe und fliegt mit dem Büchlein davon. Zuhause angekommen trägt er seinem Vater auf, ihn zu verkaufen, erst als Ochsen, dann in der Gestalt eines schwarzen Pferdes; als solches kauft ihn der Buchbindermeister, der in Wirklichkeit ein mächtiger Zauberer ist. Als das Pferd in den Stall geführt wird, überredet es den Stalljungen, ihm die Leine an seinem linken Hinterbein zu zerschneiden, und verwandelt sich in einen Strohhaufen, aus dem eine Schwalbe herausfliegt. Der Meister beginnt ihn zu jagen in der Gestalt eines Geiers, die Schwalbe wird zu einem Ring, der in den Schoß einer Prinzessin fällt. Der Raubvogel verwandelt sich in einen schneidigen Kavalier und bittet die Prinzessin um den Ring, aber als sie diesen aushändigen will, wird er zu Hirse, die der in einen Hahn verzauberte Kavalier aufpickt, bis ihm der Geselle den Kopf abbeißt. Die Prinzessin, jung und unerfahren, heiratet ihn unter der Bedingung, dass er sich niemals mehr verwandeln würde und in unerschütterlichem Vertrauen bei ihr bliebe. Bechstein spielt mit den Metaphern und macht aus dem Wettbewerb zwischen Meister und Schüler einen Wettkampf der beiden Männer um die Gunst des Mädchens. Am Ende bedauert er, dass das kleine Buch zerstört werden musste und nicht dem Leser oder ihm vererbt wurde, damit niemand mehr so dumm sein würde, sich in einen Ochsen (Schwachsinnigen) zu verwandeln. Seine phytoneske Schwalbe verschwand in den folgenden Versionen, aber die Stelle, in der der Junge die Bücher abstauben muss, erfreute sich großer Beliebtheit. 92 Pröhles wichtigstes Zugeständnis an die Tradition bestand aus einer starken Betonung der Hundeverwandlung aus den Kinder- und Hausmärchen und der Markt- und Prinzessinnenszenen, sowie der Unterstreichung der Passage, in der das Pferd zu einem Hufschmied gebracht wird, nachdem der Meister es gekauft hatte. 93 1845 erschien in Her- 91 Ludwig Bechstein, Deutsches Märchenbuch, Leipzig 1845, S. 149-152; vgl. Scherf, Märchenlexikon, Sp. 1436-1331. 92 Letzteres ist einem tschechischen Märchenbuch von Jakub B. Malý aus dem Jahr 1838 entnommen, vgl. die Zusammenfassung in Tille, Verzeichnis der böhmischen Märchen, S. 299; vgl. Werner Bellmann in EM 2 (1979), S. 15-19. 93 Heinrich Pröhle, Märchen für die Jugend, Halle 1854, S. 102-105. Der Schmied ist aus Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder, S. 466-467, erzählt von einem Lehrer. Vgl. Ines Köhler-Zülch, in EM 10 (2002), Sp. 1390-1395, die eine höhere Einschätzung des ethnographischen Wertes von Pröhle zu haben scheint. <?page no="67"?> Der Zauberer und sein Schüler 67 mann Kletkes Märchensaal 94 eine neue Übersetzung der Straparola-Geschichte, die aber niemand für echt genug hielt, um sie zu übernehmen. 95 VI Solange wie das Lied über den sich verwandelnden Geliebten im Umlauf war, müssen die sexuellen Konnotationen der Jagd wenigstens für einige Leser und Hörer des Märchens offensichtlich gewesen sein. 96 Denn in der Geschichte wurde der Junge von einem erwachsenen Mann genauso gejagt wie das Mädchen im Lied, nur dass es dem Jungen gelang, seinem Verfolger zu entfliehen, während das Mädchen scheiterte. Im 16. Jahrhundert wurde Zauberei als Metapher für abweichende Sexualität benutzt; im 19. Jahrhundert hatte sie die sexuellen Anspielungen so gut wie ersetzt. In einem seltenen Beispiel wird der Meister als sexueller Räuber gestaltet: In (oder um) 1853 nannte ihn ein Student aus Graz einen „Hahnreiter“ (= dominant homosexuell) und betonte, dass, als der Vogel (eher noch als der Ring) sich nachts in einen Jungen verwandelt hatte, das Mädchen ihn liebte. Das war so nahe, wie eben möglich. 97 Im Nahen Osten und Nordafrika wurde das Problem mit der Sexualität ähnlich gelöst. Das Halfter, das als Zeichen der Unterwerfung gedient hatte, wurde als lebendiger Teil des Selbst gedeutet. 98 Meistens fiel jedoch das Licht auf die heterosexuellen Aspekte des Märchens. Die Rolle der Dämonentochter wurde ausgebaut und in zahlreichen Fällen wurde die Absicht des Jungen, die Prinzessin zu heiraten, schon von Anfang an erwähnt. Ein Strang dieser Tradition begann mit einer bruchstückartigen griechischen Geschichte von der Insel Syra, von dem Diplomaten Johann Georg von Hahn 1864 veröffentlicht. Um Nachkommen zu haben, verspricht ein König seinen ältesten Sohn dem Teufel, verschließt seine Söhne aber nach ihrer Geburt in einen gläsernen Turm, statt sein Versprechen einzulösen. Einer davon flieht und wird 94 Bolte und Polívka, Anmerkungen, IV (1930), S. 182. 95 Eine dänische Version, zusammengefasst von Holbek, Interpretation 562, liegt besonders nahe an Straparolas Original; ihr Erzähler war Kjeld Rasmussen, der auch deutsch gesprochen hat. 96 Der Einfluss des Liedes kommt in einer Geschichte aus Norddeutschland zum Tragen, in der die Prinzessin durch eine Nonne ersetzt worden ist, vgl. Müllenhoff, Sagen Märchen und Lieder, S. 466-467. 97 K. Weinhold, ‚Märchen vom Hahnreiter’, in: Zeitschrift für Volkskunde 6 (1896), S. 320- 322. Über den ‚Hahnreiter’ vgl. Werner Wunderlich in EM 6 (1990), S. 378-382, der sich auf die heterosexuelle Bedeutung von ‚Hahnrei’ bezieht, aber keine schlüssige Erklärung bietet. 98 Halfter, vgl. Cosquin. <?page no="68"?> 68 Willem de Blécourt vom Teufel an einen unterirdischen Ort geführt, wo er einen bestimmten Raum nicht betreten darf. Er tut es aber doch und findet ein wunderschönes Mädchen, aufgehängt an ihrem Haar. 99 Dieses waren nun primär weibliche Elemente, den beliebten Geschichten um Petrosinella und Blaubart entlehnt, aber zumindest der Anspruch eines männlichen Protagonisten blieb erhalten, und als das Paar der teuflischen Behausung entflieht, wird das Mädchen sofort in ein Pferd verwandelt, das den Jungen in sein Heimatland trägt. Die Mischung der einzelnen Elemente spricht für die Neuzusammenstellung der Geschichte - von Hahn sammelte nicht viele seiner Materialien selbst, das meiste erhielt er von Freunden oder seinen Schülern; er lehrte auch am Gymnasium von Ioannina, nahe der albanischen Grenze. 100 Bis dann in den europäischen Geschichten der Junge in einer Art Hölle landet, wo die einzige Frau, der er begegnet, ein altes Weib ist. 101 Von 1865 an tauchen schöne Jungfrauen mit Körperformen, die an die Sichel des Mondes erinnern, im östlichen Mittelmeerraum auf, die dem Jungen zunächst raten, sich dumm zu stellen, später ihn auch unterrichten. Der zweite Strang erschien, soweit ich es habe absichern können, in den späten 1860-er Jahren in Italien und erreichte die arabische Tradition über den Balkan. 102 In einer stark bearbeiteten serbischen Geschichte schickt ein Junge seine Mutter zum Königspalast, um um die Hand der Prinzessin anzuhalten, und als die Prinzessin davon hört, sagt sie: ‚Warum nicht? Wenn er nur das Handwerk lernt, das niemand kann! ’ Statt sich bei einem Zauberer oder Teufel zu verdingen, entdeckt der Junge selbst ein Schloss mit magischen Gegenständen (z.B. ein völlig in Gold und Silber gekleidetes, sich kämmendes Mädchen - ein Motiv ohne weitere Erzählfunktion), die ihn später dazu befähigen, eine andere Gestalt anzunehmen. 103 Auf diese Art qualifiziert er sich für die Ehe. 99 J.G. von Hahn, Griechische und albanische Märchen, Leipzig 1864, ‚Der Lehrer und sein Schüler’. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde diese Geschichte später von Spitta Bey bearbeitet und ging auf in Madrus’ Arabian Nights. Die Version von Spitta Bey wiederum inspirierte die Geschichte in Hasan M. El-Shamy, Folktales of Egypt, Chicago 1980, S. 38-46. 100 Gerhard Grimm in EM 6 (1990), S. 376-387; von Hahns Texte blieben lange unangefochten aus Achtung vor Jacob Grimm; sie waren unter den letzten Büchern, die er auf seinem Sterbebett gelesen hatte, Bolte und Polívka, Anmerkungen V, 1932, S. 94. 101 Zum Beispiel in Vuk Stephanovic Karadzic, Volksmärchen der Serben, 1854, Nr. 6, der Text ist auch abgedruckt in Joseph Schütz, Volksmärchen aus Jugoslawien, Düsseldorf / Köln 1960. Seine Geschichten wurden aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und geben nur einen Abglanz von dem wieder, was vermutlich von verschiedenen Erzählern überliefert worden ist. Bolte und Polívka, Anmerkungen V, 1932, S. 106-107. 102 Reinhold Köhler, Kleinere Schriften zur Märchenforschung (hrsg. von Johannes Bolte) I, Wismar 1898, S. 557, er bezieht sich auf de Gubernatis, Santo Stefano, 1869, Nr. 26. 103 Csedomille Mijatovies [ sic! ] , Serbian Folk-Lore. Popular Tales, London 1874, im Original veröffentlicht in der Bosanske narodne propovjedke 1 (1870), S. 97. <?page no="69"?> Der Zauberer und sein Schüler 69 In späteren Versionen, besonders den arabischen, war die Art der Aufgaben mal mehr entwickelt, mal reduziert. In einem Text aus Dagestan heißt sie ‚die größere Kunst’. 104 In einer Geschichte aus Marokko jedoch vergaß der Erzähler sie am Anfang zu erwähnen, und als er endlich beim Töten des Hahnes angekommen war und das Erstaunen des Königs erwähnte, schob er in die Antwort des Jungen ein: ‘Du hast einst gesagt, Du würdest Deine Tochter demjenigen geben, der Dir einen ganz besonderen Zauber zeigt’. 105 ‚Alle Künste, die es gibt’ muss der Junge in einer griechischen Geschichte erlernen. 106 ‚Ladjíb jarbé’ soll er in einer Geschichte eines Beduinenstammes aus Algerien als Mitgift besorgen, ‚aber niemand wusste, was es war oder wie man es bekommen konnte’. 107 Die Prinzessin kommt in einer türkischen Geschichte gar nicht erst vor und der Padischah fragt nur, ob jemand das ‚Ali Dschengis-Spiel’ kennt. 108 In einer Geschichte aus dem Südirak ist der Umstand, dass er ausgelacht wird, Ansporn genug für den Jungen, Magie und Weisheit zu lernen, 109 während er in einer anderen marokkanischen Geschichte nur ‚Zauberei und Hexerei’ beherrschen muss, um das Mädchen zur Frau zu bekommen. 110 Es war jedoch nicht nur durch Zauberei im Allgemeinen und durch Verwandlungskünste im Besonderen möglich, die Prinzessin zu gewinnen. Eine Version der Geschichte von einer kleinen türkischen Insel in der Donaumündung ist dazu sehr aufschlussreich. Der Padischah sagt der Mutter des Jungen, dass er ihm gern seine Tochter zu geben bereit sei, allerdings nur unter der Bedingung, dass er imstande wäre, binnen 40 Tagen das ‚Allem-Kallem’- Spiel zu lernen, andernfalls würde er geköpft. Nun beschließen der Junge und seine Mutter die Flucht aus der Stadt, aber auf der Straße treffen sie einen Dew, der anbietet, den Jungen als Lehrling aufzunehmen, und so kehrt die Mutter nach Hause zurück. Im Palast seines Meisters entdeckt der Junge ein Mädchen, so schön wie der junge Mond, das ihm sagt, dass er viele Vorgänger gehabt habe, aber der Turm ihnen gegenüber sei aus ihren Schädeln gemacht. Auch erzählt es ihm, wie man den Dew durch einen Ringkampf überlisten könne und trägt ihm auf, in der Nacht wieder zu ihr zu kommen, dann würde sie ihn das Spiel lehren. Nach 40 Tagen schüttelt ihn der Meister, denkt, dass er nie das Spiel lernen würde und wirft ihn heraus. Die Geschichte fährt mit einer dreifachen Marktszene fort, gefolgt von einem Verwand- 104 Schiefner, Awarische Texte, 1873, zit. nach: Robert Bleichsteiner, Georgische und Mingrelische Texte, Wien 1919, S. CXXV. 105 Albert Socin und Hans Stumme, Der arabische Dialekt der Houwara des Wadi Sus in Marokko, Leipzig 1894, S. 118. 106 Richard MacGillivray Dawkins, Modern Greek Folktales, Oxford 1953, S. 133; gesammelt wurde die Geschichte 1914. 107 Leo Frobenius, Volksmärchen der Kabylen, III, Jena 1921, S. 111. 108 Theodor Menzel: Billur Köschk: Türkische Märchen, I, Hannover 1923, S. 172. 109 Charles Grimshaw Campbell, From Town and Tribe, London 1952, S. 82. 110 Victorien Loubignac, Textes arabes de Zaër, Paris 1952, S. 253. <?page no="70"?> 70 Willem de Blécourt lungsflug, und als der Hahn aus dem Weg geräumt ist, fragt der Junge erneut nach der Tochter des Padischahs. Der Vater lehnt ab, aber der Junge macht ‚Allem’ und ‚Kallem’, worauf er schließlich doch die Erlaubnis bekommt und 40 Tage und Nächte lang die Hochzeit gefeiert wird. Danach geht der Junge zum Palast des Zauberers 111 und heiratet auch das Mädchen dort. 112 Die Verbindung zwischen Spiel und Hochzeitsnächten lässt wenig Zweifel über die eigentliche Bedeutung der Geschichte aufkommen: Auch ein armer Junge kann eine Prinzessin heiraten, solange er sexuelle Überlegenheit zeigt (und männlichen Annäherungsversuchen widersteht). Die Episode von der Dämonentochter oder Gefangenen des Zauberers hat sich in die Geschichte durch von Hahns Nachschöpfung eingeschlichen. Sie beweist, wie sinnvoll es ist, die Art der besonderen Fähigkeiten herauszuarbeiten, die der Junge erlernen musste, als feststand, dass die Heirat der Königstochter von Anfang an sein Ziel war und nicht die Flucht aus den Fängen des Zauberers. Wie im Fall der europäischen Geschichten, wo die Wiedererkennungsszene eingefügt worden sein könnte wegen ihrer Verbindung mit der Zauberschule, die eines der Teile war, aus denen Straparola seine Geschichte gebaut hatte, war das Mädchen in der Behausung des Zauberers eigentlich nichts Fremdes, weil sie schon früh zu Beginn der Flugszene aufgetaucht ist, sowohl bei ‚Maestro Lattentio’ wie bei einem der mittelalterlichen Vorläufer. Außerdem könnte die Episode profitiert haben von einer ähnlichen Szene in den Geschichten aus 1001 Nacht (2. Qualandar), wo das ‚Liebe-machen’ offenkundiger ist, obwohl die Frau den Zorn des Dämons nicht überlebt. Aber indem die Ausweitung der Rolle der Tochter ein Zugeständnis an die Verbesserung des unbeabsichtigten heimlichen Lehrplanes des Vaters ist, beschert sie der Geschichte auf der anderen Seite einen weiteren weiblichen Protagonisten. Nur die oben schon diskutierte türkische Version ist mehr oder weniger so zu verstehen, dass der Junge beide Frauen geheiratet hat. Anderswo fanden die Erzähler Ad-hoc-Lösungen, wie die Tochter des Zauberers mit jemand anderem zu verheiraten oder zu sagen, dass sie schon verlobt sei. Auch konnten sie die Königstochter zur Gefangenen des Zauberers machen, aber dann brauchte man einen anderen Grund, den Jungen seine Lehrzeit beginnen zu lassen. Ein Element in der Geschichte zu verändern beeinflusste immer den Gesamtzusammenhang und damit auch immer seine Bedeutung. 111 Urspr. ‚Dew’, ein zauberkundiger böser Geist, etwas zwischen Teufel und Riese, hier in menschlicher Gestalt, siehe Msia Čačava, ‚Dev’, EM 3 (1981), Sp. 569-573. 112 Ignaz Kúnos, Türkische Volksmärchen aus Adakale, Halle 1907, S. 18-25. <?page no="71"?> Der Zauberer und sein Schüler 71 VII Wenn es jemals eine unterschwellige Tradition gab, für die verschiedene veröffentlichte Märchen nur bloßer Zufall und gelegentliche Zeugen sind, wird sie nicht in den Sitzungen mündlicher Erzählrunden zu Tage getreten sein, sondern in populären Druckwerken: Flugblätter, Zeitungen, Kindermagazine, Almanache, Kalender und andere Werke der Kolportageliteratur. 113 Wenn das der Fall war, werden Verleger und Herausgeber das erreichbare Material benutzt haben, einschließlich der Übersetzungen fremder Märchen. Mehr noch, wenn ähnliche Details in niedergeschriebenen Erzählungen Hunderte oder Tausende Kilometer voneinander entfernt auftauchen, ist es wohl eine begründete Annahme zu vermuten, dass das ‚missing link’ zwischen ihnen ein gedruckter Text gewesen ist. Davon abgesehen waren die Informanten der Märchensammler mit Sicherheit nicht die glaubwürdigen und einzigen Überbringer einer uralten Tradition, für die sie oft gehalten worden sind. In vielen Beispielen offenbaren die Texte, wie beeinflussbar die Erinnerung der Menschen war. Sie zeigen auch, welche Kreativität sie an den Tag legten, um die Lücken zu füllen. Volkskundler und Herausgeber mischten sich auf ihre Art oft in die Texte ein; ihre Rekonstruktion war zum großen Teil eine Konstruktion, die mehr ihr eigenes Denken reflektierte als tatsächliche historische Umstände. Tradition wurde ständig verstärkt und rückerfunden. Soweit aus den Daten der einzelnen Versionen geschlossen werden kann (obwohl nicht immer eindeutig) und aufgrund ihrer nationenübergreifenden Kohärenz, verläuft die Richtung der Ausbreitung der Erzählung ‚Der Zauberer und sein Schüler’ von Westen nach Osten, nicht umgekehrt. Ihre wichtigste Erscheinung in den Geschichten aus 1001 Nacht geht auf ein griechisches Original aus dem 19. Jahrhundert zurück; die Dravidian Nights entpuppen sich eher als Mixtur aus Straparolas Piacevoli Notti und Periginagio, als dass man eines als den Vorläufer des anderen betrachten könnte; die besondere Edition der Siddhi-Kür-Rahmenerzählung mit dem Zauberer-Schüler-Konflikt war eine späte tibetanische Arbeit - spät genug, um die Straparola-Ausgabe oder einen ihrer Nachfolger zu kennen. Ein ähnlicher Prozess vollzog sich im 19. Jahrhundert: Bestimmte Beifügungen wie der Anfang mit der Werbung des Jungen um die Prinzessin verliefen vom Zentrum des Mittelmeerraumes in Richtung Orient (und dann wieder westlich über Nordafrika). Cosquin war nur in der Lage, seine Schlüsse zu ziehen, indem er den Texten gewaltsam einen vorgefassten, ahistorischen Rahmen aufzwang. Die vorliegende kleine Übung in historischer Erzählforschung zeigt einmal mehr, dass das Plündern bekannter Geschichten, um Ideen, Handlungsverläufe und Motive zu erlangen, uralte Praxis ist. In diesem Zusammenhang 113 Vgl. Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910 (Frankfurt a.M. 1988, dritte Auflage). <?page no="72"?> 72 Willem de Blécourt war Preußlers Krabat keine Ausnahme. 114 Auch er ist ein Beispiel dafür, wie Tradition ständig rückerneuert wird. Das Bindeglied zwischen der Sagenfigur des Krabat und den hier untersuchten Märchen wurde im 19. Jahrhundert geschmiedet - denn tatsächlich war die Verbindung der Sagenauswertung mit der historischen Figur des Krabat ein früherer Prozess, der sein Ende erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts fand. 115 Preußler, der auch Erfahrungen aus seiner eigenen Jugend verarbeitete 116 , mag gewünscht haben, eine alte, mehr oder weniger kontinuierliche Gedankenwelt beschritten zu haben - aber am Ende hat er nichts anderes getan, als die nächste Transformation der Geschichte zu erschaffen. Das war, was die Popularität und den Verkauf betrifft, sicher erfolgreich. Auf der anderen Seite verbindet es die Erzähltradition, wie sie im ‚Zauberer und seinem Schüler’ zum Ausdruck kommt, mit dem bekannten ‚Zauberlehrling’, gibt ihm aber eine gegenteilige Bedeutung. Das heimliche Vergnügen des Lesers an besonderen sexuellen Erfahrungen ist allerdings inzwischen völlig aus dem Blickfeld verschwunden. 114 Vgl. Leander Petzoldt, ‚Otfried Preußler und die Tradition. Elemente der Volkserzählung im Werk Otfried Preußlers, in: Heinrich Pleticha (Hrsg.), Otfried Preußler. Werk und Wirkung, Stuttgart 1983, S. 42-50. 115 Vgl. zu den Veränderungen der Texte wie zum Zusammenhang: Paul Nedo, ‚Krabat. Zur Entstehung einer sorbischen Volkserzählung’ ,in: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 2, (1956), S. 33-50; Marie-Luise Ehrhardt, ‚Meister Krabat. Ein Zauberer in Volksüberlieferung und Jugendliteratur’, in: Heino Gehrts und Gabriele Lademann-Priemer (Hrsg.): Schamanentum und Zaubermärchen. Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen, Kassel 1986 / Krummwisch 2005, S. 14-27; Scherf, Märchenlexikon, S. 748-751. 116 In Preußlers eigenen Worten: „Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation …“, siehe Heinrich Pleticha (Hrsg.): Sagen Sie mal, Herr Preußler, o.O. 1988, S. 177. (Der Aufsatz wurde übersetzt von Ursula-Maria Krah) <?page no="73"?> Christa Agnes Tuczay Zabulons Buch - auf der Suche nach verborgenen Geheimnissen 1. Verhinderte Prophezeiungen und Zeitreisen Eine der bedeutsamsten Episoden im Reinfried von Braunschweig handelt von seiner Landung auf dem Magnetberg. Staunend stehen Reinfried und seine Gefährten vor einer künstlichen, vom Zauberer Savilon geschaffenen Architektur. In einer Höhle, in der Savilon begraben liegt, finden sie ein in einer Universalsprache abgefasstes angekettetes Buch, aus dem sie die Geschichte des Magiers erfahren. Savilon sieht die Geburt Jesu und die daran geknüpfte Zukunft des jüdischen Volkes voraus. Er versucht mit psychischem und sogar physischem Einsatz mit nigromantischem und nekromantischen 1 Kenntnissen die Geburt des Erlösers zu verhindern. Während man sich im Mittelalter die Überwindung von großen Distanzen in kurzer Zeit nur mit übernatürlicher Hilfe vorstellen konnte, überwinden die neuzeitlichen SF-Helden die Zeitschranken und reisen in Vergangenheit und Zukunft. Die neuzeitlich-moderne 2 Prämisse lautet: Durch Eingriffe in die Vergangenheit kann man den Verlauf der Dinge ändern. Es existieren zwei parallele Zeitlinien: Die erste bleibt völlig unverändert, die zweite ist durch die Manipulation modifiziert. Dieses Modell ist natürlich nichts weiter als der mühsam konstruierte Versuch, die Gegenwart veränderbar sein zu lassen, ohne die Komplikationen und Logikbrüche der sog. No Fate- 1 Isidor definiert noch präzise Nekromantie als Totenbeschwörung: „Magier sind, die gewöhnlich wegen der Größe ihrer Missetaten Zauberer (malefici) genannt werden. Diese erschüttern auch die Elemente, verwirren die Gemüter der Menschen und räumen sie ohne irgendeinen Schluck Gift, nur durch die heftige Wirkung ihre Zauberspruches aus dem Weg.[…] Sie erdreisten sich nämlich, nach Herbeirufung von Dämonen, in Gang zu bringen, dass jeder seine Feinde durch verderbliche Mittel vernichtet. Diese wenden auch Blut an und Schlachtopfer und berühren oft Leichen. Die Nekromanten sind solche, durch deren Zauberformeln wieder erweckte Tote zu weissagen und auf Fragen zu antworten scheinen. Isidor von Sevilla: Über Glauben und Aberglauben. Etymologien VIII Buch. Übers. und komm v. Dagmar Linhart, Dettelbach 1997, IX, 9f. S. 37f.; zur Nekromantie im alten Orient und Testament vgl. Tropper, Josef: Nekromantie. Totenbefragung im Alten Orient und im Alten Testament. Neukirchen- Vluyn 1989. 2 Vgl. grundsätzlich Wenzel, Alvar: Gedanken zum logischen Denken. Heidelberg 2002. Ebenso Bergemann, Christoph/ Remus, Rhea-Silvia/ Tausendfreund, Waldemar: Faszination Physik. Books on Demand 2003, S. 6f. Wüthrich, Christian: Zeitreisen und Zeitmaschinen. In: Philosophie der Zeit. Neue analytische Ansätze. Hg. v. Thomas Müller. Frankfurt a. M. 2007, S 191-200, zur Großvatertheorie S. 192f. <?page no="74"?> 74 Christa A. Tuczay Theorie 3 akzeptieren zu müssen. D.h. Eingriffe in die Vergangenheit haben keine Auswirkungen auf die Gegenwart, denn die Gegenwart ist bereits eine Folge sämtlicher Zeitreisen, die in der Zukunft noch unternommen werden. Wer die Geschichte verändern will, sorgt gerade dadurch dafür, dass sie den bekannten Verlauf nimmt. Dieses Modell steht in klarem Gegensatz zur Prädestinationslehre, wonach der Mensch seine Entscheidungen aufgrund von Einwirkungen aus einem wie auch immer gearteten Jenseits trifft, das nicht in unserem Universum liegt. Sieht man den menschlichen Entscheidungsprozess als etwas Innerweltliches, als einen komplexen, den Gesetzen der Zeit unterworfenen Vorgang an, dann ist diese Theorie die realistischste überhaupt. Eine solche Sichtweise schließt weder eine menschliche Seele noch die Existenz Gottes oder eines freien Willens aus - sie setzt nur voraus, dass das Bewusstsein und das Verhalten der Menschen in ihrem Leben durch etwas erzeugt wird, das ein Teil dieses Universums ist. Die Rien ne va plus-Theorie oder Großvaterparadoxon 4 sieht die Zeitlinie als ein in sich abgeschlossenes System, auf das von außen keine Einwirkung ausgeübt wird. Sie geht davon aus, dass eine bestimmte Gegenwart das zwangsläufige Ergebnis einer bestimmten Vergangenheit ist und dass sie zwangsläufig zu einer bestimmten Zukunft führt: Albert Einsteins geflügeltes Wort „Gott würfelt nicht” muss hier voll und ganz gelten. Auf die Frage „Aber was würde mich denn daran hindern, in die Vergangenheit zu reisen und meine Urahnen zu töten? ” kann es nur eine Antwort geben: „Nichts, aber die Tatsache der eigenen Existenz beweist, dass man es nicht tun wird.” Ein Zeitreisender reist in die Vergangenheit, um seinen Großvater umzubringen, bevor dieser den Vater des Zeitreisenden zeugen kann, was dazu führt, dass der Zeitreisende niemals zur Welt kommt und daher keine Zeitreisen unternehmen kann, was wiederum den Großvater und den Zeitreisenden am Leben belässt und außerdem die Möglichkeit von mörderischen Zeitreisen offen lässt. Falls der Terminator seinen Auftrag ausführen kann, wird Connor niemals geboren und kann die Menschen nicht zum Sieg über die Maschinen führen. Der Auftrag des Terminators im gleichnamigen Film war es, Connor daran zu hindern, Anführer des menschlichen Widerstands zu sein. Paradoxerweise wird das gerade dadurch ermöglicht, dass der Terminator in die Vergangenheit reist und so Reese veranlasst, auch in die Vergangenheit zu reisen. Später wird klar, dass Reese der Vater Connors ist und 3 Scheliha, Arnulf von: Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung. Stuttgart 1999 Craig, William Lane: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez. (= Brill’s Studies in Intellectual History 7.). Leiden u.a. 1988; Köhler, Johannes: Vorsehung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 2001, Bd. 11, Sp. 1206-1218. Artikel „Schicksal“ in: TRE Berlin Bd. 30 S. 102-122 (= Ahn, Gregor: I. Religionsgeschichtlich 102-107; Bergmeier, Roland: Altes Testament und Judentum 107-110; Klaer, Ingo: Systematisch-theologisch 110-116; Schulz, Heiko: Philosophisch 116-122). 4 Zum Großvaterparadoxon Vgl. Wüthrich [wie Anm. 2] S. 192ff. <?page no="75"?> Zabulons Buch 75 Letzterer auf dieser Zeitreise gezeugt wurde. Hätte die Maschine nicht versucht, Connors Geburt zu verhindern, wäre er nie geboren. Verschärft, aber näher unserer Geschichte, gestaltet die Idee der Plot in Twelve Monkeys. Cole hat den einen wiederkehrenden Albtraum, dass er auf einem Flughafen zusammen mit seinen Eltern einen Mord miterlebt. Nach unterschiedlichen Zeitreisen, bei denen er wenig zur Verhinderung ausrichtet, kommt er endlich in die „Traumzeit”, allerdings um zu erkennen, dass er seine eigene Ermordung erlebt, die er nicht verhindern kann. Im Reinfried von Braunschweig 5 ist die Biographie Zabulons auf seinem Epitaph niedergelegt: Der Athener Jüngling Savilon war der erste Astronom bzw. Sternkundige und Sterndeuter, dem ebenso die Geheimlehre der Nekromantie bekannt war. Sein astronomisches Wissen kommt bei der Prophezeiung von Jesu Geburt ins Spiel: nu sach der selbe jungelinc mit zeichen offenbâren daz nâ zwelf hundert jâren 5 Reinfried von Braunschweig. Hg. v. Karl Bartsch (= BLVSt 109) Tübingen 1871; vgl. dazu Ohlenroth, Dirk: Reinfried von Braunschweig - Vorüberlegungen zu einer Interpretation. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger (= Fortuna Vitrea 1). Tübingen 1991, S. 67-96. Sabulôn als Astronom und Prophet in einem Meisterlied der Kolmarer Handschrift (RSM Frau2/ 2/ 550) hg. v. Karl Bartsch: Meisterlieder der Kolmarer Handschrift (= BLVSt 68). Tübingen 1862, Nr. 28 v. 54 ebd. RSM Marn 7/ 535; Die Sangesweisen der Colmarer Handschrift und die Liederhandschrift Donaueschingen hg. v. Paul Runzge Leipzig 1896 Nr. 65 Str. 7. Der Wartburgkrieg hg. v. Karl Simrock. Stuttgart 1858 Vgl. Siebert, Johannes: Virgils Fahrt zum Agetstein In: PBB 74 (1952), S. 193-225; grundlegend zum Wartburgkrieg Wachinger, Burghart: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhundert (MTU 42) München 1973; Vgl. auch Wenzel, Franziska: Rätsel, ‚Stubenkrieg’ und ‚Sonrat’. Geltungskämpfe nach dem Klingsor-Wolfram-Streit in der Kolmarer Liederhandschrift? . In: Geltung der Literatur. Formen der Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. v. Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel (= Philologische Studien und Quellen Heft 190). Berlin 2005, S.91-110; Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Hg. v. Adelbert von Keller (= BLVSt 449) Stuttgart 1858 Ndr Amsterdam 1965. Der Göttweiger Trojanerkrieg Hg. v. Alfred Koppitz (= DTM 29) Berlin 1926. Vgl. Lienert, Elisabeth: Antikenroman als Geschichtswissen. Zu den kompilierten Trojanerkriegen in der Erweiterten Christherre- Chronik und in der Weltchronik Heinrichs von München. In: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen. Hg. v. Horst Brunner (= Wissensliteratur im Mittelalter 3) Wiesbaden 1990, S. 407-456 zur Sabilon- Erzählung S. 411f. und Kerth, Sonja und Lienert, Elisabeth: Die Sabilon-Erzählung der ‚Erweiterten Christherre-Chronik’ und der ‚Weltchronik’ Heinrichs Von München. In: Studien zur ‚Weltchronik’ Heinrichs von München hg. v. Horst Brunner, Wiesbaden 1998 S. 421-475; Lienert, Elisabeth: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg’, Wiesbaden 1996 S. 395f.; Ebenbauer, Alfred: Spekulieren über Geschichte im höfischen Roman um 1300 In: Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag hg. v. Alfred Ebenbauer, Wien S.151-166; Ridder, Klaus: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig’, ‚Wilhelm von Österreich, ‚Friedrich von Schwaben. Berlin 1998, S.73ff. <?page no="76"?> 76 Christa A. Tuczay har ûf diese erden ein kint sollte werden von einer megede geborn. von dem kinde sollte werden verlorn werden jüdische diet, und möhte man daz sicher niet mit keiner sach erwenden. den künste rîch genenden dûht daz wunderlîche. (V. 213344-21355) Das Motiv läuft der Prädestinationslehre 6 zuwider oder besser scheinbar zuwider, denn sowohl der Erzähler als auch das Publikum wissen, dass es sinnlos ist, etwas revidieren zu wollen, das im Himmel bereits beschlossene Sache ist. Dabei handelt es sich nicht um ein nur im christlich-jüdischen Kontext verankertes Motiv. Die Erzählungen sind international belegt und der Konnex zum jüdischen Interesse hat nichts mit einer nur spezifisch jüdischen Annahme zu tun, man könne etwas göttlich Vorherbestimmtes ändern, wiewohl solche Zweifel auch dem berühmten magiekundigen König Salomon 7 kommen und er (König Salomo und der Fisch) ebenso wie Zabulon vom Gegenteil überzeugt wird. Hier scheint es zunächst wie im Terminator darum zu gehen, dass eine Prophezeiung verhindert werden soll: Christus soll nicht geboren werden, die Zukunft soll nicht stattfinden. Zabulon steht mit seiner Christusprophezeiung 8 in der Sibyllinischen Tradition: Die Sibylle von Tibur bzw. auch Erythrea prophezeit dem Kaiser Augustus die Geburt Jesu Christi. 9 Während die 6 Grundlegend zur Prädestinationslehre: „Prädestination“ Artikel in TRE Bd. 27, S. 98- 160. (Gerlitz, Peter: Religionsgeschichtlich, 98-102; Bergmeier, Roland: Judentum 102- 105; Hübner, Hans: Neues Testament, S.105-110; Evans, Gillian R: Alte Kirche und Mittelalter, S. 110-118). 7 Zu Salomo vgl. unten [Anm. 23f.]. 8 Die Sabilonerzählung als Einschub in der Trojaliteratur lässt Sabilon ebenfalls bei der Auslegung von Hecubas Traum Christi Geburt prophezeien: Als Priamos die unfähigen Wahrsager und Traumdeuter töten lassen will, gebietet ihm Sabilon mit den Worten Einhalt: dez macht du schaden gewinnen/ von dem, der noch dein herr wirt./ ich han gelesen, daz in gepirt/ Ein magt, die ist aines junden chint./ swaz kuenig auf der erden sint,/ Si suellen im dienst erzaigen. Lienert [wie Anm. 1] S. 447 v. 180-185. Christusprophezeiung durch Plato und Sibylle im Parzival (Hg. v. Karl Bartsch. Leipzig 1932, v. 463-466); Cassandra in Herborts von Fritzlar liet von Troye (Hg. v. K. Fromman, Quedlinburg/ Leipzig 1837, v. 1617-1713 und 3251-3290; In Ulrichs von Etzenbach Alexander fürchtet der Teufel die Ankunft Christi, die schon prophezeit ist. (Hg. v. W. Toischer (= StLV 183) Stuttgart 1888/ Hildesheim 1974, v. 24927f.) 9 Vgl. Tubach, Frederic C.: Index exemplorum. A handbook of medieval religious tales. (= FFC 204) Helsinki 1969, num 4675; Jacobus de Voragine: Legenda Aurea hg. v. von Benz, Gütersloh 2004, 51; Die hebräische Sibylle dient einem apologetischen Ziel: dem Monotheismus und dem Kampf gegen das Heidentum. So belegt das Zitat von Dt. 18,10 die in Ur d.i. Chaldäa wohnenden gerechten Menschen, die nicht der heidnischen berüch- <?page no="77"?> Zabulons Buch 77 Sibylle aber nicht eingreift, bringt Zabulon auf Drängen seiner Mutter magische Gegenmaßnahmen in Gang, denn - so die Mutter pragmatisch - wo ein Mittel, da ein Gegenmittel, und vor allem: wo ein Wille, da ein Weg. und seit ez der muoter sîn, wan diu was ein jüdîn: sîn vater was ein heiden. alsus sô was gescheiden sîner hôhen frühte stam. sîn muoter ouch des wunder nam, wan sî sîn inneclîch erschrac. sî sprach ‚kein sache werden mac, man vind dâ wider etewaz.’ sî vorhte sicherlîchen daz, nâ dem als sî gehœret hatte, daz zerstœret dâ von würd ir geslehte. sî sprach ‚nu nim vil rehte, mîn kint, des sternen aber war der diz wunder har hie ûf erden kündet. wirt sîn louf durgründet unz ûf ein end der spêre, wenn er tuot widerkêre, sô weiz ich daz sîn kunft ouch seit, wâ mit diu sache hin geleit, mac werden die er kündet. wirt daz von dir durfündet, daz ist ein keiserlîchez dinc.’ (V. 21357-21381) Das Motiv der umgangenen Prophezeiung 10 bzw. des Versuches, ihrer Erfüllung entgegenzuwirken, der auch hier damit endet, dass die Voraussage trotz aller Anstrengungen bzw. gerade durch sie eintrifft, ist meist in Zusammenhang mit unheilvollen Prognosen bei der Geburt eines Kindes kombiniert. Der älteste Beleg bei Hesiod ist die Cyrusvita, in der der Großvater träumt, Cyrus, sein Enkelkind, werde sein Reich an sich bringen; er lässt daher seine Tochter bewachen und befiehlt den Tod des neugeborenen Kindes. Wie Paris und andere todgeweihte Kinder wird dieser ausgesetzt, von Hirten aufgezogen und das Schicksal erfüllt sich. Thetis versucht vergeblich, ihren Sohn Achilles vor seinem Schicksal zu bewahren, wie ausführlich Konrad tigten chaldäischen Mantik ergeben sind, sondern sich der reinen Tugend der Gerechtigkeit widmen. 10 AaTh/ ATU 931, Ödipus unausweichliches Schicksal Vgl. Uther, Hans-Jörg: The Types of international Folktales. A Classification and Bibliography. 3 Bde. (= FFC 284) Helsinki 2004, Bd. 1 S. 570f. bzw. StTh Mot. M 370 vain attempts to fulfillment of prophecy.Vgl Lichtblau, Karin/ Tuczay, Christa: Motif-Index of German Secular Narratives From the Beginning to 1400. 6 Bde. Berlin 2006, Bd. 6.2, S. 246. <?page no="78"?> 78 Christa A. Tuczay von Würzburg erzählt. 11 Josaphats Vater in Barlaam und Josaphat lässt seinen Sohn bei einem Einsiedler erziehen, damit er nicht zum Christentum übertritt, Herzeloyde und Parzival leben in der Einsamkeit, um ihn vom Rittertum fernzuhalten. Bei Zabulon ist das Unglück dem Volk seiner Mutter geweissagt und er versucht, es selbst zu revidieren, ebenso wie Kriemhild im Nibelungenlied nicht heiraten will, um kein Leid zu erfahren oder Ödipus sein Elternhaus verlässt. 2. Die Wirkmächtigkeit des geschriebenen Wortes Abermals konsultiert der Prophet seine Ephemeriden und sieht auch voraus, wie lange er das Schicksal aufhalten kann, denn dass es unmöglich ist, den einmal vorgegebenen Lauf der Gestirne gänzlich umzuleiten, ist ihm bewusst. Zum Einsatz kommt das geschriebene Wort, Charaktere 12 , die erst einmal für die Juden einen Aufschub bieten: hin fuor dô der jungelinc und nam aber des sternen war der dâ nâ über drîzic jâr vollendet hât sîn loufen sus. man seit ez wær Sâturnus, und moht ouch wol der selbe sîn. nu wart dem meister aber schîn von des sternen tiute, er sollte lân bi niute, wolt er die sache wenden und alle juden pfenden an strengen sorgen sûren, er solte von figûren, als im sterne seite, mit wârlîchem geleite ein kleinez brievel schrîben, ob er eht wolt vertrîben die sache, als ir hânt gehôrt. er sollte dâ zuo schrîben wort diu ouch wol’ dâ zuo hôrten. den brief an allen orten solt er geschriben schaffen mit hôhen paragraffen: von der kraft diu sache wol möhte werden swache. (V. 213802-21406) 11 Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg. Hg. v. Karl Bartsch (= StLV 133) Stuttgart 1877, V. 44968f. 12 Johann Vintler in seinen pluomen der Tugent. Hg. v. Ignaz Zingerle. Innsbruck 1874, V. 7915 Manger auch karackteren macht/ Auß permiet virgineum. <?page no="79"?> Zabulons Buch 79 Diese Zauberbriefe müssen an einem geheimen Ort versteckt werden, am besten am Rande des bewohnten Gebietes, dem gefährlichen Magnetberg 13 . Alle seine komplizierten Bemühungen geschehen seiner Mutter zuliebe. Dennoch sieht er bei seinen astronomischen Berechnungen, dass all sein Tun befristet ist und wann der Schutzzauber auch am Rande der Erde entdeckt wird. Und swenne daz beschæhe über lanc ald æhe, sô solt er geschalten den brief mit manicvalten wunderlîchen listen, wolt er die sache fristen dâ von der sterne hât geseit. der brief werden sol geleit dar dâ in niemen funde, wan sicher al die stunde so er was verborgen dorfte niemen sorgen daz daz kint iht kæme, von dem ein ende næme der juden keiserlîch gewalt. der brief der wart geschriben balt nâ des selben sternen schîn reht als er ouch sollte sîn. ze lieb der muoter daz beschach (V. 21407-21425) Auch die wirkmächtigsten Zauberbriefe und Charaktere verfangen nicht gegen Gottes Ratschluss, kommentiert der Erzähler: sô vervâhet für die trift daz brievelî noch ouch diu schrift gên der selben sache. (V. 21429-21431) Zabulon aber setzt seine Bemühungen fort und baut noch eine Sicherheitsstufe ein: Er versteckt einen Zauberbrief in seinem eigenen Ohr; so meint er, etwas gegen die Vorbestimmung auszurichten: der künste rîche tôre wânde got betwingen an sô hôhen dingen diu man mit keinen sachen mohte wendic machen, sô eht kann diu rehte zît. (V. 21512-21517) 13 Zum Magnetberg vgl. Kirnbauer, Franz/ Schubert, Karl Leopold: Die Sage vom Magnetberg. Wien 1957; Lecouteux, Claude: Magnetberg. In: EM 9, Sp.24-27 und neuerdings: Die Sage vom Magnetberg. In: Burgen Länder Orte (= Mythen des Mittelalters Bd. 5). Hg. v. Ulrich Müller u. Werner Wunderlich. Konstanz 2008, S. 529-540. <?page no="80"?> 80 Christa A. Tuczay Schon in der Etymologie des Isidor von Sevilla 14 gehören die Charaktere zu jenen Formen der Zaubererei, die durch Herbeizitieren und durch Zeichen eine Verbindung mit den Dämonen herstellen. Der auch sonst papstkritische Walter von der Vogelweide singt über den Papst: nû lêretz in sîn swarzez buoch, daz ime der helemôr/ Hât gegeben, und liset ûz iu sîniu rôr: (33,7-8) 15 Diese Verbindung mit dem Teufel, durch Zeichen, Schriften, Zitationen kam im Mittelalter einer Zugehörigkeit zum Reich Satans gleich und war mit Verboten belegt. Angeklagte wurden von weltlichen Gerichten, später auch von Inquisitionsgerichten der Hexerei und Häresie bezichtigt und endeten auf dem Scheiterhaufen. Die Grimoires wurden beschlagnahmt oder neben anderen verbotenen Schriften öffentlich verbrannt. Schon das Neue Testament schildert eine (der Beschreibung nach freiwillige und spontane) Bücherverbrennung: Viele aber, die Zauberei getrieben hatten, brachten ihre Zauber-Bücher zusammen und verbrannten sie öffentlich und berechneten, was sie wert waren und kamen auf fünfzigtausend Silbergroschen. (Apostelgeschichte 19,19). Dadurch wurden die späteren kirchlichen Bücherverbrennungen legitimiert. 16 Hartlieb bespricht die kunst nigramantia am Ausgang des Mittelalters wie folgt: Er warnt in seinem puch aller verpotten kunst (1456) Kaiser Maximilian I. vor dem Picatrix 17 als dem vollkommensten und gefährlichsten ma- 14 Isidor [wie Anm. 1]. 15 Die Gedichte Walther von der Vogelweide. Hg v. Karl Lachmann/ Christoph Cormeau, Berlin 1996. 16 Ab dem 4. Jahrhundert gibt es Nachweise für die Verbrennung von „Zauberbüchern“ im Rahmen christlicher Bekehrung. Von ca. 350 bis ins Mittelalter hinein gibt es Schilderungen, dass „Zauberbücher“ aufgesucht und vernichtet wurden. Zwischen 350 - 400 konnten Besitzer von „Zauberbüchern“ auch mit dem Tode bestraft werden. Die Res gestae des Ammianus Marcellinus (ca. 330 bis ca. 395) berichten von der Verfolgung und Hinrichtung von Personen, denen der Besitz von Büchern mit verbotenem Inhalt vorgeworfen wurde. Ihre Codices und Rollen wurden in großer Zahl öffentlich verbrannt. Ca. 371 befahl Kaiser Kaisers Valens eine der größten Büchervernichtungen. Zum konfiszierten und vernichteten Material gehörten Schriften der Artes liberales, Rechts- und Zauberliteratur. Im Kontext des Wunders und des Wunder wirkenden Zauberers stehen die Erzählungen vom „Zauberwettkampf“ eines Heiligen mit einem gelehrten Magier, die in der Legenda Aurea berichtete Erzählung vom Kampf des Hl. Jacobus mit dem Zauberer Hermogenes: Der hl. Jacobus befreit den Zauberer Hermogenes von seinen Dämonen und dieser verbrennt seine Zauberbücher. Um 1500 gestaltete Simon von Taiste die Szene der Zauberbuchübergabe. Vgl. Tuczay, Christa: Magie und Magier im Mittelalter, München 2003, Abb. 6, S. 66. 17 „Picatrix“: Das Ziel des Weisen von Pseudo-Magriti, aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt von Hellmut Ritter und Martin Plessner. London: Warburg Institute, 1962 (= Studies of the Warburg Institute 27). Picatrix: the Latin version of the „Ghāyat al-h akīm“; text, introduction, appendices, indices hg. v. David Pingree. London: Warburg Institute, 1986 (= Studies of the Warburg Institute 39). Hellmut Ritter: Picatrix, ein arabisches <?page no="81"?> Zabulons Buch 81 gischen Buch, das schon vielen Lesern die ewige Verdammnis gebracht habe (der Kaiser besaß gleich zwei Handschriften davon). Nygramancia ist die erst verboten kunst und haißt man sy die schwartzen kunst. […] Wer in dr kunst arbeiten will, der můß den tiüffeln manigerhannd opffer geben, auch mit den tewffeln gelübd und verpintnuß machen. Dann so sind im die tiüffeln gehorsam und verpringen den willen des maisters, als ferr in das von gott verhengt wirt. […] zu sölichen sachen prauche die maiser dieser kunst gar manigerlay půch, vigur und caracter. (Cap. 22-23) 18 Später veröffentlichte Trithemius in seinem Antipalus Maleficiorum 19 eine Liste, unter anderem mit bekannten Grimoires, wie Clavicula Salomonis, Picatrix, Sepher Raziel, Corpus Hermeticum, Schemhamphoras oder das Almadel. Trithemius teilt die Zauberbücher in zwei Klassen und erwähnt noch weitere Bücher, die sich mit der Herstellung und dem Gebrauch von Bildern, Figuren, Ringen und Siegeln unter bestimmten Sternkonstellationen befassen. Diese Auflistungen belegen, wie groß das Interesse der damaligen Gelehrten an Magie gewesen sein muss. Was kann man von Dämonen erfahren? Das dämonische Wissen, von den Theologen ohnehin als Lug und Trug eingestuft, ist keinesfalls umfassend. Zudem verfügen die Dämonen nicht über Offenbarungswissen, sondern sie gehen bei der Wissensvermittlung ebenso vor wie beim Herbeischaffen von gewünschten Gegenständen: Sie greifen auf vorhandene „Archive“ zu. Am Ausgang des Mittelalters mit dem Aufkommen der magia naturalis und damit des Experiments mussten nur mehr Kleingeister, Schmalspurmagier und Hexen die Dämonen um Wissensvermittlung bitten; wie Augustin Lerchheimer in Zusammenhang mit dem Konkurrenzkampf der Magier ausführt, findet man diese […] Etwan auch vnder den gelerten/ die alle andere wöllen vbertreffen. Weil jhnen aber jhr verstand/ fleiß vnd vermögen zu gering vnd zu schwach darzu ist/ oder dass sie die arbeit verdreußt/ gewehnen sie einen geist zu sich/ der jhnen fürliset was sie gegeren/ jnen anzeiget in welchem buch/ an welchem ort diß oder jenes zu finden sey: jhnen sagt was in büchern geschrieben stehet/ die etwa verborgen ligen/ keinem Menschen bewußt/ ja die etwan gewesen/ nun aber verweset/ zerrissen/ / verbrannt sind/ in welchen der Teuffel wol gedencket vnd weiß was gestanden ist. Wann nun solche Leute in jren reden vnd schrifften so hohe verborgne kunst vnnd weißhzeit fürgeben/ verwundert man sich jrer/ werden Handbuch hellenistischer Magie. In: Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg.: Vorträge der Bibliothek Warburg. Bd. 1. Leipzig 1921-1922, S. 94-124. 18 Das Buch der verbotenen Künste. Aberglauben und Zauberei des Mittelalters. München 1998, S. 68; Frank Fürbeth: Johannes Hartlieb. Untersuchungen zu Leben und Werk, (= Hermaea, Germanistische Forschungen, N. F.; Band 64), Tübingen 1992. 19 Der Text ist enthalten in: Paralipomena opusculorum Petri Blesensis et Joannis Trithemii. Maguntiae 1605, S. 273-861. <?page no="82"?> 82 Christa A. Tuczay groß geachtet vnd gehalten. Aber es ist solcher rhum vnnd preiß viel zu thewr gekaufft . 20 Wer sich also mit den Dämonen abgibt, erhält auch Zugriff zu verlorenen Zauberschriften. Ebenso wie Vergil den weiten Weg zum Magnetberg unternimmt, da er weiß, dass er auf der ganzen ihm bekannten Welt nur dort fündig werden kann. 3. Salomo, der Geist in der Flasche und Geisterzwänge Wiewohl die Kommentare des Erzählers auf die Vergeblichkeit der Bemühungen hinweisen und den eifrigen Magier gar als Dummkopf bezeichnen, lässt sich der Autor für Savilon noch die ultimative Schutzvorkehrung einfallen: Er sichert seine Zauberbücher mit seinem eigenen Körper ab. Da er weiß, wann die Frist endet - nach 1200 Jahren, kurz vor Christi Geburt -, muss er seinem befristeten Körper mithilfe seines Zaubers eine größere Zeitspanne zugestehen. Wie macht er das? Er verwandelt sich selbst in eine Art Zombie 21 , hält sein eigenes Leben so lange aufrecht, um damit die Geburt Christi zu verhindern. Wird z.B. in Strickers Drei Wünschen und in Engel und Waldbruder exemplarisch der für den Menschen nicht einsichtige, aber sich immer als stimmig erweisende Ratschluss Gottes vorgeführt, geht es hier um den jüdischen Versuch, die Heilsgeschichte zu verhindern. Abschließend versteckt Savilon einen Geist in einem Glas außerhalb der Höhle. dô Savilôn der wîse sach 20 Lerchheimer, Augustin: Christelich Bedencken unnd Erinnerung von Zauberey, woher, was und wie vielfältig sie sey, wem sie schaden könne oder nicht, wie diesem Laster zuwehren unnd die, so damit behafft, zu bekehren oder auch zu straffen seyn … Lebensgeschichtliches und Abdruck der letzten vom Verfasser besorgten Ausgabe von 1597 sprachl. bearb. durch Anton Berlinger. Hrsg. von Carl Binz, Straßburg 1888 S. 295f. Vgl. dazu Thorndike Lynn: History of Magic and Experimental Science Bd. 8, S. 338-371. Vgl. Fanger, Claire: Plundering the Egyptian Treasure: John the Monk’s Book of Visions and its Relation to the Ars Notoria of Solomon. In: Conjuring Spirits. Text and Traditions of Medieval Ritual Magic. Hg. v. Claire Fanger. Sutton 1998, S. 216-249 und im gleichen Sammelband Kieckhefer, Richard: The Devil’s contemplatives: The Liber Juratus, The Liber Visionum and the Christian Appropriation of Jewish Occultism. S. 250-265. 21 Der Ethnobotaniker Wade Davis beschrieb in zwei Studien The Serpent and the Rainbow (1985) und Passage of Darkness: The Ethnobiology of the Haitian Zombie (1988) den Vorgang der „Verwandlung” eines lebenden Menschen in einen lebenden Toten, einen Zombie, mithilfe eines geheimnisvollen Pulvers. Letzteres enthält Tetrodotoxin (TTX), das Gift des Kugelfisches und das Gift der Datura. Diese gefährliche Mischung soll den totenähnlichen Zustand auslösen und die Opfer zu willenlosen Sklaven eines bösen Zauberers, des bokor, machen. Eine andere Praxis betrifft die Gewinnung der Seelen Verstorbener, die er in seinen Ritualen zum Einsatz bringt. Diese bewahrt er in einer Flasche oder einem Krug auf. Vgl. Ackermann, Hans W.,/ Gauthier, Jeanine: „The Ways and Nature of the Zombi”. In: Journal of American Folklore 104 (1991), S. 466-494. <?page no="83"?> Zabulons Buch 83 sîm leben an ein ende unde er dem lîbe pfende des geistes muose lîhen und im nâtûr verzîhen wollte lebelîche maht, des hât er wol genomen aht und wist ouch wol wâ von daz kam. nigramanzîe buoch er nam zuo im alle schiere, der wâren niuwan viere, dâ mit er alle tiuvel bant. diu driu verworht er in ein want diu niemen konde vinden. mit dem vierden binden wolt er den geist in sînen lîp, sô daz er stæteclîch belîp bî im haben müeze. die wîl er sîne füeze dar ûf hât gesetztet, sô moht er niht geletzet werden an dem lebende. in einem twalme 22 swebende was sîn lebelîcher geist. slâfes noch wachendes volleist hât er eigenlîche dem tode ungelîche sazt er als er lebte. (V. 21456-21483) Zwei ungewöhnliche Motive verbinden sich hier: das Motiv des im Glas eingeschlossenen Geistes, der sich hier fast schon einer Seele außerhalb annähert, und der lebende Leichnam. Wäre das Motiv einer Seele außerhalb tasächlich konsequent ausgeführt worden, hätte Zabulon durch diese Aufspaltung ohnehin nicht sterben können. Er aber hält seinen Körper in einer Art Totenstarre auf dem Grab. 1200 Jahre vergehen, es ist kurz vor Christi Geburt, als Vergilius aus Freigebigkeit in eine prekäre Situation gerät und sich aufmacht, die Zauberbücher zu suchen und an sich zu bringen. Auf dem Magnetberg (auf dem Reinfried später den Bericht der Ereignisse liest), wird er fündig. Er entdeckt den Geist in der Flasche und erfährt, wo sich der Körper des Savilon befindet: mit diesem funde und da von des brieves kraft vil balde brach, dô man die karakter sach und ouch der figûren schrift. Diz was eben in der trift, dô diz vant Virgilîus, daz ouch Octavîânus 22 Vgl. die Belege in Lexer Mhd. WB, Bd. II, Stuttgart 1876/ 1992, Sp. 1594-1595. <?page no="84"?> 84 Christa A. Tuczay ze Rôme lepte keiserlîch und diu reine inneclîch Marîâ muoter magt gebar got mensch ûf die erden har. (V. 21670-21680) Salomo 23 , der Sohn des König David von Israel, wird nach seinem Vater König; eine legitimierende Traumprophezeiung lässt Salomo Gott im Traum fragen, was er sich denn wünsche, und er bittet ihn um Weisheit zur Regierung des Volkes Israel. Gott schenkt ihm außergewöhnlich Kräfte. Salomos Leben ist charakterisiert durch Weisheit und sehr ambivalente Beziehungen zu meist ausländischen Frauen. Die nachbiblische Überlieferung schmückt die Figur aus: Seine Weisheit ist nun Macht über die Natur, die Tiere, aber und vor allem auch über die Dämonen, die Salomo geschickt einsetzt, um Bauwerke zu errichten, Kriege zu führen und die Wüste zu begrünen. Dieser Geisterzwang ist verknüpft mit einem magischen Ring, den ein Engel ihm überbracht hatte. Eine solche Macht hatte vor ihm nur Adam besessen, aber nach ihm Magier wie Zabulon und Vergil. Salomon zwingt Ornias, den Geist im Glas, ihm beim Tempelbau zu helfen, und bannt ihn danach wieder in Gefäß, so zumindest berichtet das wahrscheinlich im 1. Jahrhundert entstandene Testamentum Salomonis. 24 Auch in der Legenda Aurea und im Passional bannt Salomon Dämonen in ein Glas, vergräbt dieses oder wirft es in einen Brunnen. Immer wird das Glas gefunden und der Teufel befreit. Im großen Neidhartspiel 25 finden die Teufel selbst heraus, welches Wort den Zauber löst. Sonst 23 „Salomo/ Salomoschriften“ vgl. den Artikel in TRE Bd. 29 S. 724-732. Särko, Pekka: Altes Testament, S. 724-727; Stemberger, Günter: Judentum S. 727-730: Drijvers, Hendrik J.W.: Sapientia Salomonis, Psalmen Salomos und Oden Salomos, S. 730-732. 24 Text bei Rießler, P.: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel. Augsburg 1928, 1251-1262, vgl. auch Salzberger, G.: Die Salomo-Sage in der semitischen Literatur, Berlin 1907. Die besondere Macht Salomos über die Dämonen beruht auf einer vorrabbinischen Weisheitstradition. Ein Buch mit Zaubersprüchen zum Dämonenzwang ist bereits im frührömischen Reich unter seinem Namen in Umlauf. Das griechische Testamentum Salomonis (100-400n.Chr.) erzählt, dass ein Engel Gottes König Salomon einen Ring zum Dämonenzwang übergab. Das Dienstbarmachen geschieht mit der Namensnennung und das Buch enthält eine Liste der teuflischen Geister mit ihren besonderen Fähigkeiten, mit deren Hilfe er alle Dämonen dienstbar machen kann, weil sie ihm ihren Namen nennen müssen. Es werden Dämonennamen aufgezählt und deren Funktion angegeben. Nach Flavius Josephus soll ein Jude namens Eleazar mithilfe des Buches vor Kaiser Vespasian Besessene von ihren bösen Geistern befreit haben, indem er ihnen einen Ring mit einer von Salomon selbst gestalteten Wurzel genannt Clavicula Solomonios entgegenhielt. Claviculae Salomonis oder die wahre Beschaffenhiet von den Geheimnisen der Geister, worin der weg alle sichtige und unsihtige Geschöpfe zu erlangen, angezeigt wird. Aus einer alten Urschrift. Mit Vergünstigung des Geistes Aratron o.O. 1686. Später hg. v. Scheible. Stuttgart 1846. Der kleine Schlüssel Salomons oder Lemegeton beinhaltete Sprüche, um Krankheiten zu erregen, und Totenbeschwörungen. Vgl. die Überblicksseiten der Wikipedia: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_der_Grimoires. 25 Die mittelalterlichen Neidhart-Spiele. hrsg. von John Margetts Göppingen 1986. <?page no="85"?> Zabulons Buch 85 stoßen Schatzgräber darauf. Abgelöst wird Salomo als Bezwinger der Dämonen vom Zauberer Virgil. In der Sage sind beide vereint. Virgil wird durch den dienstbaren Geist nach Chaldäa gebracht, wo er in einer Höhle die von Salomon hinterlassene versiegelte Glasflasche mit dem eingeschlossenen Geist zusammen mit den magischen Büchern findet. Der befreite Geist lehrt ihn die chaldäischen Schriften verstehen, wird durch die bekannte List wieder eingeschlossen und Virgil kehrt nach Europa als Erbe und Nachfolger Salomos zurück. Hat der Dichter hier bewusst mit Motiv- und Wissenstraditionen um Salomon gespielt, worauf auch der Name Savilon Samlon hinzuweisen scheint? Wilhelm von Auvergne 26 und Albertus Magnus 27 bezeugen in ihren Auflistungen der verdammenswerten Bücher auch ein dem Salomon zugeschriebenes mit dem Titel Sacratus. Dieses Werk wird aber nicht nur dem Salomon, sondern auch Honorius zugeschrieben, weshalb es auch unter dem Titel Schwurbuch des Honorius bzw. Juratus 28 bekannt ist. Die lange Einleitung hat offenbar die Funktion einer Apologie der Magie, die, obzwar von der Kirche verdammt und verfemt, dennoch in Wahrheit keine sinistre Kunst darstellt. Magie kann nicht von einem unreinen oder bösen Charakter ausgeübt werden, da sich die Geister nur von reinen Menschen zwingen lassen. 89 Meister der Kunst haben Honorius von Theben dazu ausersehen, die magische Kunst in einer Schrift zusammenzufassen. Obschon die Kirche, die Könige und Fürsten übereingekommen waren, die Bücher der Magie zu verbrennen, die Hochschulen der Zauberei 29 aufzulösen, haben die Adepten dieser Kunst einen Eid geleistet, dieses Buch nur an ihrem Totenbett an Menschen reifen Alters und einwandfreier Lebensführung zu übergeben. Der Übernehmende leistet gleichfalls einen Schwur. Der vielfach ungeordnet präsentierte Inhalt des Buches enthält Gebete in unverständlichen Sprachen, die möglicherweise Verstümmelungen des 26 Maksymiuk, Stephen: The Court Magician in Medieval German Romance (= Mikrokosmos. Beitrage zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 44) Frankfurt a.M. 1996, S. 58. 27 Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurden Albert fälschlicherweise eine Menge magischer und alchemistischer Traktate zugeschrieben. Albertuss Magnus bewährte und approbierte sympathetische und natürliche egyptische Geheimnisse für Menschen und Vieh. o.J. vermutlich Stuttgart, Scheible ca. 1850. Vgl. Margaret Schleissner: Pseudo-Albertus Magnus: Secreta mulierum cum commento, Deutsch. Critical Text and Commentary, phil. Diss. Princeton 1987. 28 Gösta Hedegård, Liber Iuratus Honorii: A Critical Edition of the Latin Version of the Sworn Book of Honorius, Studia Latina Stockholmiensia 48, 2002. 29 Wie Toledo, aber auch Salmanca. Zur Übersetzerschule von Toledo und ihrer Bedeutung vgl. Herbers, Klaus: Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert: Sprache Verbreitung und Reaktionen In: Artes im Mittelalter hg. v. Ursula Schäfer, Berlin 1999, S. 230-248, bes. S. 243f. Im selben Sammelband Fürbeth, Frank: Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen ‚Divisiones philosophiae’, S. 249-262. <?page no="86"?> 86 Christa A. Tuczay Chaldäischen bzw. Hebräischen sind. Detailliert ausgearbeitete Beschreibungen geben Anleitungen zu Herstellung und Gebrauch von Siegeln, Proportionen von magischen Kreisen, die Einteilung in Segmente und Zuordnung von Namen und Symbolen. Eine Passage befasst sich mit den drei Arten des Geisterzwanges. Die Schrift unterscheidet zwischen einer heidnischen, jüdischen und christlichen Methode. Die Heiden opferten den Naturgeistern, wären aber nicht fähig gewesen, diese zu beherrschen. Die beschworenen Geister gaben bloß vor, sich zu unterwerfen, um Opfer zu erhalten. Die Juden wiederum verstanden sich auch nicht besonders darauf. Allein Christus war imstande, die Geister wirklich zu bezwingen. Alle drei hatten das gleiche Ziel, mit ihren magischen Kräften das Böse zu unterjochen. 30 4. Die Macht der Bücher Savilon/ Zabulon erscheint hier als Verbindungsgestalt zwischen Salomo und Vergil: Der antike Dichter herrscht im Reinfried über Mantua und begibt sich auf die Suche nach Savilon und seine Zauberbüchern und findet diese auf dem Magnetberg, nimmt den Bannbrief aus dessen Ohr, und Christus kann geboren werden. 31 Der Besitzwechsel der Zauberbücher bedeutet das Ende von Savilons langem Leben. Vergil lässt die übernommenen Geister ein Grab für Savilon errichten, bringt den Teufel dazu, ihm die Schlüssel zu den anderen Zauberbüchern aus dem Meer zu holen, und sperrt ihn dann mit einer List wieder in das Glas, aus dem er ihn zuerst befreit hatte. Die (Zauber-)Bücher sind hier Objekte einer anderen Welt, bildliche Darstellungen von Büchern oder Schrifttafeln zeigen diese als Attribute Gottes oder der Propheten. Heilige Bücher sind per se zauberkräftige Gegenstände und werden noch übertroffen von einem Buch, das magische Formeln und Geisterzwänge usw. enthält. Auf die Macht der Bücher rekurriert auch ein anderer Beleg mit dem Titel Zabulons Buch, zum Wartburgkrieg 32 gehörig, das als dessen letzter Einschub aus dem 13. Jahrhundert gilt. In einem Streit zwischen Wolfram und Klingsor kommt die Debatte auch auf die Entstehung und das Verbergen von Zabulons Zauberbuch, Geisteinschluss, hier durch Aristoteles, und in der Folge Vergils Fahrt zum Magnetberg (Agetstein): 30 Thorndike, Lynn: a. a. O., S. 288: Jakoby, Adolf: Die Zauberbücher vom Mittelalter bis zur Neuzeit, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesell. f. Volkskunde 31 (1931), S. 264f. Georg Conrad Horst: Zauber=Bibliothek, 6 Bände, Florian Kupferberg (Verleger), Mainz 1821 - 1826 Faust: Faust’s dreifacher Höllenzwang: Dr. Faust’s Magia naturalis et innaturalis, Schikowski, Berlin 2002; Johann Scheible: Handschriftliche Schätze aus Kloster-Bibliotheken, Scheible-Verlag, Köln am Rhein 1743. 31. 31 Reinfried von Braunschweig [wie Anm. 5] V. 221568 und 21675. 32 Der Wartburgkrieg. Hg. v. Karl Simrock. Stuttgart/ Augsburg 1858. online: http: / / 12koerbe.de/ lapsitexillis/ wartb-0.htm. Zur geplanten Neuedition vgl. Lieb, Ludger/ Müller, Stephan: Die mhd. Gedichte vom Wartburgkrieg. In: ZfdPh (2005) S. 132-134. <?page no="87"?> Zabulons Buch 87 Klingsor erwähnt Zabulons Buch in Strophe 155 und macht sich damit verdächtig: 155. Klingsôr Zwô clamanîe an sternen tuot dîn singen mir bekant, die gelîche ich zuo dem venden als ich noch bescheiden wil; die sibenzec sint dir unbekant, des hân ich ritter unde roch in mîner künste zil. daz hât Zabulônes buoch geseit von Babilôn; gar unverzeit bring ich ez in der Dürenger herren dôn. Wolfram erzählt bei seiner Entgegnung die Geschichte der Zauberbücher: 156. Wolfram Wær das ein eit, ich hieze in mein. wer gap dir Zabulônes buoch? sage vürwert, wîser man, daz Virgilius ûf dem agetstein mit grôzer nôt gewan? Und wie daz buoch getihtet wart von einem meister, der doch lange bette an ein kalp; er was ein jude von der muoter art, ein heiden vaterhalp, Und was der êrste der sich Astromîe ie underwant; daz ich die wârheit weiz, dar umbe dult ich dinen zorn. eins nahtes er an sternen vant, daz bî zwelif hundert jâren wurde ein kint geborn, daz alle juden gar von êren stiez. daz was im leit. erz niht enliez: wie schier het erz der muoter sîn geseit! Das Zauberbuch ist Zabulons Gegenmaßnahme zur Geburt Christi: 158. Wolfram muoter, ich wil nâch der juden kür tihten ein buoch: kumet ez in für, ez wirt in guot für disen argen fluoch. 159. Wolfram Er greif in Astromîen kür, nach starken zouberlisten stuont al sînes herzen wân; nigromancîe nam der meister vür, dâ schreib er wunder van. In derselben Strophe erfahren wir weitere Einzelheiten des Rituals: Nu hoerent wie er sich underwant des buoches dâ Virgilius ûz nam sîn meisterschaft: <?page no="88"?> 88 Christa A. Tuczay eins dezedemôns hût er umbe bant, diu gît dem hirne kraft; Und saf von lignum alôê für der argen lüfte vâr het er in eime golde dur den edeln süezen smac: daz machet im diu ougen klâr; zwelif wochen und ein jâr er diser herte pflac. nu ist daz buoch bereit gar sunder wanc: der künste wielt einen geist er twanc, daz er imz ûf dem agetsteine behielt. Nun übernimmt Klingsor den Faden der Erzählung von der Geschichte des Zauberbuchs: 160. Klingsôr Des meres wâc dar umbe vlôz; dur aller Juden êre gab er von dem lîbe en zol, der meister dâ ein bilde ûz êre gôz: der schrift ez hüeten sol. Bin ichz Klingsôr ûz Ungerlant, sô hoeret frömdiu mære, kan iuch wunders niht bevil. einen klüpfel truog ez in der hant, der stuont ze swæren zil. Der meister schoub im einen brief inz houbet dâ zer nase; […] ez verriet ein fliege in eime glase, daz ez virgilius der meister [sît] gewan. wie möhte ein fliege in eime glase wesen? wer twanc si des? swerz hât gelesen, der wez wol, ez tet Aristôtiles. In Strophe 161 schließt der Zauberer die Fliege in einen Rubin ein. Die herausragende Bedeutung des Aristoteles 33 für die Bildung und Reisen des Alexander wurde durch Plinius’ Bericht in seiner Historia Naturalis 34 noch überhöht. Plinius führt aus, dass Alexander es Aristoteles 35 auch ermöglicht habe, 2000 Menschen auf Expedition in unerforschte Gebiete zu entsenden, um so seine wissenschaftlichen Studien durchführen zu können. Die Überlieferung der aristotelischen Schriften war im Frühmittelalter noch eher spärlich zu nennen und geschah über dubiose Abschriften und verfälschende Über- 33 Die Bedeutung des Aristoteles sowohl in der islamischen als auch der christlichen mittelalterlichen Welt ist kaum zu überschätzen. Vgl. Ott, N.H.: „Aristoteles”, in: Lexikon des Mittelalters Bd.1, Sp.934-948. 34 C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde: lateinisch-deutsch. Hg und übers. v. Roderich König. Darmstadt 1973-2004 (32 Bände). 35 Plinius [wie Anm. 27] VIII, 17,44. <?page no="89"?> Zabulons Buch 89 setzungen. Da man ihn für den größten Gelehrten aller Zeiten hielt, schrieb man ihm auch Werke philosophischen Inhalts, deren Autor unbestimmbar war, zu. Ende des 12. Jahrhunderts behauptete Alexander Neckham 36 , dass Aristoteles jene seiner Werke, die sich mit magischen Phänomenen befassten, dazu bestimmt hätte, mit ihm begraben zu werden. Außerdem habe er deshalb seine Begräbnisstätte vor Zugriffen geschützt, lediglich der Antichrist könne diese Schriften an sich bringen. Ein weiterer Konnex verbindet die erst durch arabische Vermittlung zugänglichen aristotelischen Schriften und die damit einhergehende Lektüre magischen Schrifttums an der Pariser Universität. Die artes magicae gehörten nicht von vornherein zu den artes, sondern wurden z.B. von Isidor und den in seiner Tradition stehenden Gelehrten zu den verbotenen Künsten gezählt. Das bekannteste der Werke, die ihn als Verfasser ausweisen, waren die Secreta Secretorum 37 , die weite Verbreitung fanden, da Anfang des 20. Jahrhunderts noch über 200 Handschriften gezählt werden konnten. Bei dieser in fast alle Sprachen übersetzten Schrift handelt es sich um ein aus verschiedensten Quellen stammendes Konglomerat. Die bis heute erhaltene Form ist ungefähr im 7. oder 8. Jahrhundert entstanden. Einer der Übersetzer, der Patriarch Guido von Antiochia, schreibt im Vorwort, dass Alexander von Aristoteles gefordert habe, dass er entweder persönlich zu ihm komme oder ihm die Geheimnisse der Bewegung, den Einfluss der Sterne, die Alchemie, Geomantie und die Kunst der Geisterbeschwörung in einer Schrift enthüllen solle. Da Aristoteles zum damaligen Zeitpunkt für eine solche Reise bereits zu alt gewesen sei, habe er ihm diese Schrift gewidmet. Die zur leichteren Lesbarkeit in Kapitel unterteilte Schrift gibt Auskunft über die magische Wirkung von Edelsteinen, Kräutern, Amuletten, Arzneien. 38 Durch den Einfluss des arabischen Schrifttums wandelten sich das Verhältnis, die Wissenschaftseinteilung und damit die Lektüre. Die Ausgrenzung der magischen Künste erschien für einige der Pariser Lehrer nicht mehr zwingend. So schlägt z.B. Arnulf die magischen Künste der Mechanik zu, da er von ihrem vorhandenen Gebrauchswert ausgeht. Sie können ebenso De- 36 Darüber spekuliert Spargo, John Webster: Vergil he Necromancer. Cambridge 1934, S. 129: „Neckam used the phrase „Vergilius fecit culex“ to describe the writing of one of Virgil’s earlier poems, culex or the mosquito. This may have been misinterpreted by later readers as „Virgil made a mosquito“, and form the basis for the legend of Virgil’s magic fly which killed all other flies it came across and thus preserved civic hygiene.” 37 Forster, Regula: Das Geheimnis der Geheimnisse: Die arabischen und deutschen Fassungen des pseudo-aristotelischen Sirr al-asrar / Secretum Secretorum. Wiesbaden 2006; Williams, Steven J.: The secret of secrets: the scholarly career of a pseudo-Aristotelian text in the Latin Middle Ages. University of Michigan 2003; Keil, Gundolf: Secretum Secretorum’. In: ²VL, Bd. 8, Sp. 993-1013; Hiltgart von Hürnheim: Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des Secretum Secretorum. Hg. v. Reinhold Möller Berlin 1963. (= DTM 56) Hirth, Wolfgang: Zu den deutschen Bearbeitungen der Secreta Secretorum. In: Leuvense Bijdragen 55 (1966), S. 40-70. 38 Vgl. auch Gier, Albert: „Giftmädchen”, in: EM, Bd. 5, Berlin 1987, Sp. 1240f. <?page no="90"?> 90 Christa A. Tuczay fekte und Bedürfnisse des Körpers beheben. Der so legitimierte Gebrauch der magischen Künste betraf in erster Linie die verschiedenen Divinationsarten. Kenntnis und Studium der arabischen Wissenschaftseinteilungen und der magischen Verfahren an der Pariser Artistenfakultät legitimierten diese Verfahren gleichzeitig. Der seit Isidor und im Anschluss an ihn geführte Magiediskurs verbot magische Praktiken, da diese als pagan und damit dämonisch vermittelt gegolten hatten. Verbot bzw. Legitimation hängen in der Folge davon ab, ob das dadurch erlangte Wissen mit dämonischer Hilfe oder durch Kenntnis der Naturgesetzte erfolgt ist. Fürbeth resümiert: Im großen und ganzen lassen sich dabei während des Mittelalters zwei Beurteilungslinien unterscheiden: diejenige der christlichen Theologen und damit der Kirche, die jedes magische Verfahren als pagan-dämonisch und damit superstitiös disqualifizieren, und diejenige der von der arabischen Tradition beinflußten Absolventen der artes-Studien, welche die magischen Verfahren als kausale Naturwissenschaften auffassten. 39 Was bedeutet das konkret für die Gestalt des Zabulon? Der ehemalige Student der Pariser Universität Thomas von Aquin, wahrscheinlich 40 von dem dort geführten Magiediskurs beeinflusst, geht auf die Frage ein, inwieweit mittels magischer Praktiken ein Wissensgewinn möglich sei. Er diskreditiert und verbietet sie, da sie nicht aus Ursachen, sondern aus Zeichen schließen und wirkungslos seien, weil sie nicht zum Erwerb von demjenigen Wissen dienen, wie es der menschlichen Natur förderlich sei. Förderlich insofern nicht, da es hier nicht um Lernen oder Erfinden geht, sondern um ein Wissen, das nur von Gott oder aber von Dämonen eingeben werden kann. Da aber im Gegensatz zu Gott die Dämonen nicht imstande sind, den menschlichen Geist zu erleuchten, sei es nicht möglich, durch die Dämonen Wissen zu erwerben. Zabulon beherrscht zweierlei, er ist Astrologe, aber auch Geisterbeschwörer und Geisterbanner. Die Sonderstellung der Astrologie im Kanon der magischen Wissenschaften scheint sich auch hier zu erweisen, da das, was Zabulon aus den Sternen liest, an keiner Stelle in Zweifel gezogen wird. Zu seinen Dämonenkünsten äußert sich der Dichter nicht, Zabulon wird vom Erzählerkommentar ein Tor genannt, weil er trotzdem versucht, die Geburt Jesu abzuwenden, obwohl er weiß, dass alle seine Schutzmaßnahmen nichts fruchten, es passieren ihm also Denkfehler. Interessant auch seine Darstellung als Gelehrter, denn am Ende seiner Laufbahn besitzt er bereits vier von ihm verfasste Zauberbücher. 39 Fürbeth [wie Anm. 27] S. 260. 40 Regula Forster, Regula: Das Geheimnis der Geheimnisse: Die arabischen und deutschen Fassungen des pseudo-aristotelischen Sirr al-asrar/ Secretum Secretorum, Wiesbaden 2006; Steven J. Williams: The secret of secrets: the scholarly career of a pseudo-Aristotelian text in the Latin Middle Ages. University of Michigan Press 2003; Keil, Gundolf: Secretum Secretorum’. In: ²VL, Bd. 8, Sp. 993-1013. <?page no="91"?> Zabulons Buch 91 Von Peter Abälard 41 erzählte man sich, dass er als Schulbub in Rom ein Zauberbuch gefunden hatte, mit dem er so ziemlich alles erreichen konnte, denn das Buch verpflichtet den Teufel zu Dienstleistungen. Lesen im Zauberbuch bewirkt das Gelesene, liest man es rückwärts, wird alles wieder rückgängig gemacht. Das Buch ist aber auch als selbstständiges Wesen gedacht, das sich fortbewegen kann, daher muss man es anketten. 42 Bis heute ist der Glaube an bestimmte Zauberbücher wie das 6. und 7. Buch Moses 43 lebendig, das man nicht in seiner Wohnung stehen haben solle, da es Unglück bringt. In den Hexensagen des 19. Jahrhundert ist bereits von einem Zauberbuch der Hexen die Rede, den Angehörigen der Wicca-Covens 44 diente ein Manual mit dem Titel Buch der Schatten. Eine Sonderstellung nehmen mysteriöse Bücher ein, wie z. B. das Necronomicon, ein fiktives Grimoire von H. P. Lovecraft 45 . Manchmal wird auch das Voynich-Manuskript 46 , das bis heute nicht entschlüsselt werden konnte, als Grimoire bezeichnet. 41 Vgl. Busk, R.H.: The Folk-Lore of Rome London 1874, S. 189. 42 Der Wert der Bücher ist ein bibliothekshistorisches Faktum in Zusammenhang mit den überlieferten Bannsprüchen gegen Diebstahl, vgl. Schenda, Rudolf. Volk ohne Buch Frankfurt a. Main 1970, S. 93-97. Stichwort „Buch“ EM Bd. 2, Sp. 965-970. Das Anketten von Zauberbüchern ist ein Sagenmotiv. In einer Allgäuer Sage besitzen verschiedene namentlich genannte Hexenmeister ein Zauberbuch, das sie eines Tages vergessen zu verschließen. Als sie zurückkehren, um das Versäumnis nachzuholen, haben bereits Neugierige das Buch entdeckt und lesen darin. Und auch der Teufel ist bereits erschienen. Durch Rückwärtslesen und verschiedene Maßnahmen ist es möglich, die Neugierigen vor Schaden zu bewahren und den Teufel um sein Opfer zu prellen. Diese Motive gehören einerseits zum Zauberlehrlingskomplex (siehe Willem de Blécourts Beitrag in diesem Band), andererseits zum geprellten Teufel. Aus Reiser, K. A.: Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus ausgewählt von Hulda Eggar. Kempten und München 1914, Nr. 116, S. 123-125. Zauberbücher als Pakt: Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 124 ff.. Oberösterreichisches Sagenbuch. Hg. v. Albert Depiny. Linz 1932, S. 218-222 und S. 198-208. 43 Assmann. Jan. Moses the Egyptian. The Memory of Egypt in western Monotheism. Cambridge , MA/ London: Harvard University Press 1996; Braman, Robert Michael The Problem of Magic in Ancient Israel. Ph.D. Dissertation, Drew University 1989.; Frazer, Sir James G.. Folklore in the Old Testament: Studies in Comparative Religion, Legend and Law, 3 vols, London 1918; Gager, John. 1994. „Moses the Magician: Hero of an Ancient Counter-Culture? ” In: Helios 21: 2, p. 179-188; Gager, John. 1996. „Moses and Magic: Notes on the Book of Exodus“. In: Journal of the Ancient Near Eastern Society 24, p. 45-59; Gager, John. 1972. „Moses and Magic“, in: J. Gager, Moses in: Greco-Roman Paganism Nashville S. 134-161; Vgl. Die Dissertation von Bachter, Stephan: Anleitung zum Aberglauben: Zauberbücher und die Verbreitung magischen „Wissens“ seit dem 18. Jahrhundert. 2005, S. 95ff. 44 Neuerdings Fischer, Kathrin: Das Wiccatum. Volkskundliche Nachforschungen zu heidnischen Hexen im deutschsprachigen Raum. Freiburg 2006/ 2007. Siehe auch Frenschkowskis Ausführungen in diesem Band. 45 Lovecraft, H.P: Geschichte und Chronologie des Necronomicon. In: Azathoth Frankfurt 1989, S. 298-299. Zu Lovecraft vgl. Franz Rottensteiner (Hrsg): Über H. P. Lovecraft. Frankfurt a. M. 1984. 46 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Voynich-Manuskript. <?page no="92"?> 92 Christa A. Tuczay 5. Zauberliteratur Weder das kirchliche Verbot noch die explizit ausgefeilte Superstitionenkritik eines Thomas konnte das Studium noch auch die zu Ende des Mittelalters einsetzende Sammeltätigkeit magischer Schriften durch begüterte Adelige verhindern. Nachrichten über die schwarzen Bücher haben wir vor Albertus vom 4. Ekkehard von St. Gallen 47 im 11. Jahrhundert über die libri nigri, von welchen er angibt, dass sie die Zauberer zur Nachtzeit lesen. Der Großinquisitor Eymericus 48 berichtet 1376 in seinem Directorium über einige Zauberbücher, die er in seiner Inquisitionspraxis zu Gesicht bekommen hatte. Hartliebs Traktat 49 puoch aller verpoten kunst besitzt in Bezug auf das magische Schrifttum erheblichen Quellenwert. Die ins Lateinische übersetzten orientalischen Zauberbücher fanden nicht allzu große Verbreitung und sind nur vereinzelt in Handschriften erhalten bzw. zwar erwähnt, aber mittlerweile verschollen. Hartlieb hat die wichtigsten aufgelistet. Die zum Teil hebräisch abgefassten Schriften wie der Schemhamphorasch 50 und das Liber Razielis Archangeli bzw. Sefer Raziel 51 entwickelten sich aus der Kabbalah. 52 Das Hep- 47 Casus St. Galli cap. 3 in: MG Scriptorum Tom. II hg. v. Georg Heinrich Pertz Hannover 1829 S. 97 diabolus a quo nigros libros noctibus discunt. Die ganze Stelle lautet in Übersetzung: Der Teufel, unter dessen Anleitung sie die schwarzen Bücher nachts lernend lesen. Mit diesen Lesern sind die Mönche Notker der Stammler und Ratpert gemeint, die die Nachtstunden zum Studium nützen. Vgl. dazu Jacoby, Adolf: Kunst (schwarze, weiße) Magie. In: HdA Bd. 5 Sp. 817-836. 48 Vgl. Alan Charles Kors and Edward Peters: Witchcraft in Europe, 400-1700: a documentary history, 2. rev. Aufl. Philadelphia 2001, S. 120f. 49 Ausgaben: Johann Hartliebs Buch aller verbotenen Künste, hg. v. Dora Ulm, Halle 1914 und hg. Falk Eisermann/ Eckhard Graf, Ahlerstedt 1989; zu Hartliebs Superstitionenkritik vgl. Schmitt, Wolfram: Magie und Mantik bei Hans Hartlieb, Wien 1966; Wierschin, Martin: Johannes Hartliebs ‘Mantische Schriften’, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 90/ 1968, S. 57-100. 50 Bibliothek der Zauber-, Geheimniß- und Offenbarungs-Bücher und der Wunder-Hausschatz- Literatur aller Nationen in allen ihren Raritäten und Kuriositäten : insbesondere: Aeromantie, Alchemie, Astrologie … und andere Materien des Mysteriösen und Uebernatürlichen ; mit Einschluß der medizinischen und naturhistorischen Sonderbarkeiten ; zur Geschichte der Kultur, hauptsächlich des Mittelalters hg. von Johann Scheible Nachdr. Berlin 1995. 51 Vgl. dazu Assion, Peter: Altdeutsche Fachliteratur S. 170; Thorndike, Lynn A history of Magic and Experimental Science. New York 1923, Bd. II, S. 214f. u. 288 und Jacoby [wie Anm. 21] S. 264f. Steve Savedow (trans.), Sepher Rezial Hemelach: The Book of the Angel Rezial, Red Wheel/ Weiser (2000). Harbsmeier, Michael: Buch, Magie und koloniale Situation. Zur Antropologie von Buch und Schrift. In: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Hg. v. Peter Ganz. Wiesbaden 1992, S. 3-24, bes. 6f. 52 Ursprünglich konnte das Wort Kabbala allgemein jegliche Überlieferung bezeichnen, insbesondere aber die Offenbarung der Tora an Moses am Sinai. Die grundsätzliche Verflechtung des Menschen mit Gottes Universalsystem verdeutlicht nach kabbalistischer Ansicht auch das gegenseitige Beeinflussungspotenzial der göttlichen und der menschlichen Ebene. Der Mensch steht unter dem ganzheitlichen Einfluss universaler Kräfte, kann diese aber seinerseits beeinflussen. (Beispielhaft hierfür ist die kabbalistische Wortmagie, in welcher das Aussprechen von Worten eine unmittelbare Einfluss- <?page no="93"?> Zabulons Buch 93 tameron 53 des Petrus von Abano, neben dem Picatrix 54 und dem Pseudo- Aristotelischen Secreta Secretorum das berühmteste Zauberbuch der älteren Zeit, kursierte bis ins 16. Jahrhundert nur in Handschriften. Um 1600 fügte man es der gedruckten Gesamtausgabe des Agrippa 56 bei. Das Buch beschäftigt sich vor allem mit der Herstellung des magischen Kreises. Dieser besteht eigentlich aus drei Kreisen, in dessen mittleren der Name der Stunde des Jahres, mit Rücksicht auf die zu dieser Stunde herrschenden Engel und deren Siegel, eingetragen wird. Im äußeren Kreis sollen die Namen der an diesem Tag aktiven Luftgeister, die Namen der vier Weltgegenden und vier Pentagramme angebracht sein. Im inneren Kreis stehen die göttlichen Namen wie Adonai, Eloy, Agla und Tetragrammaton. Detaillierte Anweisungen über Räucherwerk, geeignete Kleidung des Adepten und die notwendigen Vorbereitungszeremonien, die neun Tage dauern und immer bei zunehmendem Mond vonstatten gehen sollen, sowie eine Auflistung sämtlicher Engelsnamen beschließen die Schrift. 6. Schwarze Bücher und was man aus ihnen herausliest Abgesehen von der Autorschaft der Zauberbücher, die meist lediglich Zuschreibungen sind, richtet sich der Inhalt dieser nach dem jeweiligen Einsatzbereich. Der Funktions- und Einsatzbereich der Bücher reicht von Offenbarung von Geheimnissen, Geisterzwang bis zum Herbeischaffen von verlorenen Gegenständen, im Volksmund später Bringen-machen genannt, 57 bis zum Schatzheben. nahme auf das damit Bezeichnete nach sich ziehen soll.) Es gibt verschiedene kabbalistische Schriften und Schulen, aber keine allgemeingültige kabbalistische Lehre. Um Missbrauch dieser Kräfte zu verhindern, werden Schüler vor ihrer Aufnahme geprüft. Um „Würdige“ von „Unwürdigen“ zu trennen, hat man die Kabbala in eine theoretische und eine praktische unterteilt, wobei Erstere das System darstellt und Letztere magische und mantische Praktiken umschreibt wie Amulettwesen, Loswerfen etc. Zur Kabbala vgl. Goetschel, Roland: Kabbala: Judentum und Betz, Otto. Kabbala: Christentum. In: TRE Bd. 17, S. 487-500 und 501-509; Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt 1973.; allgemein zur jüdischen Magie: Blau, Ludwig: Das Altjüdische Zauberwesen, Straßburg, 1898; Trachtenberg, Joshua: Jewish Magic and Superstition. A study in folk religion. New York 1939. 53 Peter de Abano: Das Heptameron oder Magische Elemente von Überarb. v. Yara. Übers. v. Krause, Brigitte. Wyk 2005. 54 Picatrix [wie Anm. 16]. 55 Wie [Anm. 33]. 56 Libri tres de occulta philosophia oder Drei Bücher der verborgenen Philosophie. Antwerpen 1530, gedruckt Paris 1531, erweiterte Ausgabe Köln 1533. 57 Das Buch, von dem man nichts außer seinem Zweck erfährt, soll von rückwärts nach vorne gelesen werden, um den Dieb ausfindig zu machen. Darauf ist dieser gezwungen, sich in der Lesegeschwindigkeit zu bewegen, weshalb das richtige Tempo eine große Rolle spielt. Vgl. Alpbacher Sagenbuch, hg. v. Berta Margreiter, Innsbruck 1986, S. 68f. Siller, Max: Zauberspruch und Hexenprozeß. Die Rolle des Zauberspruchs in den <?page no="94"?> 94 Christa A. Tuczay Zabulon schrieb seine Zauberbücher erst nach der für ihn unheilvollen Prophezeiung. Der Stand des Alphebetismus ist u.a. ebenfalls am Umgang mit den (Zauber-)Büchern zu erfahren. Im Reinfried und im Wartburgkrieg lesen alle selbstverständlich, während in anderen Belegen 58 der bloße Besitz des Buches schon wirkmächtige Zauberfunktion ausübt. Der Inhalt der Zauberbücher ist oft eine Mischung aus Segnungen, Gebeten und Schadenszaubern. Die um die Zauberbücher 59 kreisende Folklore versieht die Bücher selbst mit einem Eigenleben, das Buch wird zum Talisman. Das vor allem in den späteren Sagen enthaltene Motiv der angeketteten Zauberbücher findet sich bereits im Prosa-Lancelot 60 : Gartissie hat mithilfe ihrer Zauberbücher Artus manipuliert. Wenn man sie entkommen ließe, würde sie die Burg mithilfe ihrer magischen Bücher innerhalb von sieben Tagen zerstören. Galahot bringt Key in ein unterirdisches Gemach, wo die Bücher in einem Schrein mit eisernen Schließen aufbewahrt werden. Key verbrennt diese. Aber nicht nur Schadenszauber, sondern auch Prophezeiungen enthalten die Zauberbücher. Galahot will sein Schicksal erfahren und bittet Helies, es ihm zu zeigen. Dieser besitzt ein Buch mit mächtigen Zaubersprüchen, die sogar die Richtung von Flüssen verändern können und Bäume im Bachbett wachsen lassen. Das Buch kann auch für Uneingeweihte Gefahren bergen. Einstmals hatte einer seiner Gefährten versucht, mithilfe des Buches Galahots Traum zu deuten, und das Buch zerfiel. Keiner getraute sich, das Buch danach zu öffnen, und deshalb erhielt es Helies, der Galahot verspricht, ihm seinen Todeszeitpunkt zu offenbaren. Er zeichnet 45 kleine und große Kreise an die Wand, die die Lebensjahre symbolisieren. Abermals liest er in seinem Buch, das Licht verdüstert sich und Donner erschallt. Danach erhebt sich eine laute Stimme, eine geheimnisvolle Hand mit einem Schwert erscheint und greift beide an. Sie sind aber mit Hos- Zauber- und Hexenprozessen Tirols. In: Tradition und Entwicklung. Festschrift Eugen Thurnher. Hg. Von Werner M. Bauer, Achim Masser und Guntram Plangg. Innsbruck 1982 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 14), S. 127-154. 58 Z.B. Malduk in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet V. 7320f. und Medea in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg V. 8289ff. 59 Vgl. Ehrenfeuchter, Martin: Aspekte des zeitgenössischen Zauberglaubens in Dichtungen des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, Ss. 64f. Bachter, Stephan: Wie man Höllenfürsten handsam macht. Zauberbücher und die Tradierung magischen Wissens. In: Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Hg. v. Achim Landwehr. Augsburg 2002, S. 371-390; ders.: Magie für alle! Über Zauberbücher und die Popularisierung magischen Wissens seit dem 18. Jahrhundert. In: Ausstellungskatalog Basler Papiermühle: Magie! Die geheime Macht der Zeichen. Basel 2002, S. 58-67. Vgl. Kickhefer, Richard: Forbidden Rites. A Necromancers Manual of the Fifteenth Century. Sutton 1997, S. 1-21. 60 Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147. Hg v. Reinhold Kluge. 3 Bde. (= DTM 42) Berlin 1948. <?page no="95"?> Zabulons Buch 95 tie und Reliquie geschützt. Die Hand löscht die Kreise bis auf dreieinhalb. Das ist die Zeit, die Galahot noch Lebenszeit hat. 61 Wahrsagerei mit dem Buch selbst, vorzüglich mit einer heiligen Schrift, ist bekannt als Bibliomantie 62 , eine Unterkategorie der sog. Stichomantie 63 . Sie wird definiert als Kunst, spirituelle Hilfe durch das geschriebene Wort zu erlangen und wurde nicht nur verwendet, um wahrzusagen, sondern auch, um verborgene Gegenstände und Hexen ausfindig zu machen. Die Bibel oder ein anderes als wirkmächtig eingeschätztes Buch wird beliebig geöffnet. Der dort stehende Satz wird als Antwort auf die offene Frage verstanden. Diese zufällig erscheinende Antwort hat zum Hintergrund, dass hier die Macht Gottes nicht nur den richtigen Rat finden lässt, sondern dass es keinen Zufall gibt. Ähnliche divinatorische Praktiken waren nicht auf die Bibel beschränkt, die antike chinesische Kultur kannte den Gebrauch des I Ching und die Muslime öffneten den Koran, die antiken Griechen Ilias oder Odyssee, Römer die Sibyllinischen Bücher oder Vergils Werke. In der christlichen Ära wurde die Bibel das einzige Buch, das zu solchen Zwecken zum Einsatz kam, denn die mittelalterlichen Christen hätten Wahrsagerei mit Büchern aus der Heidenzeit wenn schon nicht verabscheut, so ihr doch keinerlei große Wirkkraft zugesprochen. Bibliomantie als Untergruppe des Sortilegiums 64 spielte eine bedeutende Rolle unter Geistlichkeit und Laien im Frühmittelalter. Das Sortes Sangallense 65 aus dem 6. bzw. 7. Jahrhundert benützte eine Anzahl von Würfeln, um sich durch die Texte zu würfeln. Christliche Autoritäten wie Augustinus, Hieronymus und Gregor der Große lehnten diese abergläubische Praktiken ab, zahlreiche Kirchen-Synoden befassten sich damit und verboten schließlich die Sortilegien vom 5. Jahrhundert an. Der Legende nach soll sogar der hl. Franziskus seinen Orden nach dreimaligem Bibelaufschlagen ge- 61 Lancelot [wie Anm. 58] I 509,9f. 62 Vgl. Burnett, Charles: Magic and Divination in the Middle Ages, Aldershot 1996: Flint, Valerie: The Rise of Magic in Early Medieval Europe, Princeton 1992; Vgl. Ranke, Kurt: Bibel. In: EM Bd.2 Sp.281-283 Rühle: Bibel In: HdA Bd.1 Sp. 1215-1219, bes. Sp. 1215-1219. 63 Eigentlich ist Wahrsagung mit Hilfe von Versen ebenso wie die Bibliomantie eine Untergruppe des Losens. Schon in der Antike erfreute sich diese divinatorische Praxis großer Beliebtheit. Man verwendete selbstverfassten Verse, aber häufiger Texte berühmter Dichter, Euripides, Hesiod, vor allem Homer und Vergil. Man konnte entweder die betreffende Stelle auswürfeln bzw. einfacher war es, die Rolle nach dem Zufallsprinzip zu öffnen. Die spätere Los- und Stechbücher erfüllten diesen Zweck. Vgl. Boehm: Los, Losen. In: HdA Bd. 5 Sp.1351-1386, bes. 13471-1378. ders. Losbücher. In: HdA Bd. 5 Sp. 1386-1401 und ders.: Stichomantie. In: HdA Bd. 8 Berlin 1987 Sp. 477-478. 64 Vgl. Reichel, Ute: Astrologie, Sortilegium, Traumdeutung - Formen von Weissagung im Mittelalter, Bochum 1991,: Hexenhammer S. 697-698. 65 Vgl. Dold, A.: Die Orakelsprüche im st. Galler Palimpsestcodex 908 (die sog. Sortes Sangallenses) Wien 1948; Burkhardt, Evelyn: Hebräische Losbuchhandschriften: zur Typologie einer jüdischen Divinationsmethode. In: Jewish Studies Beween the Disciplines: Judaistik zwischen den Disziplinen. Papers in Honor of Peter Schäfer on the Occasion of his sixtieth Birthday hg. v. Klaus Hermann, Margarete Schlüter und G. Veltri, Leiden S. 95-148. <?page no="96"?> 96 Christa A. Tuczay gründet haben. 66 Während man in der Frühzeit Täfelchen mit Namen oder Sprüchen nach dem Zufallsprinzip aufhob oder mit Nadel oder Stäbchen ein Blatt und einen Vers eines Werkes aushob, schlug man das Buch einfach auf und verwendete den Daumen oder einen Schlüssel als Stellenmarker. Berthold von Regensburg wandte sich dezidiert gegen das „Däumeln“ 67 . Die Bibel als magisches Objekt besaß heilkräftige Wirkung, so legte man sie beispielsweise auf den Kopf eines an Schlaflosigkeit leidenden Kindes. 68 Das Buchaufschlagen erfreut sich noch heute großer Beliebtheit 69 . 66 Thomas von Celano: Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung v. Engelbert Grau. Werl 1994. 15. 67 Schönbach, Anton: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt. Zeugnisse Bertholds von Regensburg zur Volkskunde. In: Sitzungsberichte der phil.-hist. Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien 1900, S. 1-154, S. 33; Im Pietismus lebte das däumeln wieder auf. Vgl. Grube-Verhoeven: Die Verwendung von Büchern christlichreligiösen Inhalts zu magischen Zwecken. In: Zauberei und Frömmigkeit.Tübingen 1966 (= Volksleben 13) S. 11-57. 68 Christliche, jüdische und auch islamische abergläubische Bräuche beziehen die heiligen Schriften ein. Ob schriftkundig oder nicht, das Buch oder die Schrift als solches hatte Schutzfunktion: Es bei sich zu tragen, in einer eigenen Tasche, unter dem Kopfpolster, oder immer eines im Hause zu haben sollte Segen für alle Bewohner bringen. Erstgebärenden gab man es. Zahlreiche Belege bei Günter, H.: Psychologie der Legende. Studien zu einer wissenschaftlichen Heiligen-Geschichte, Freiburg 1949, S. 90 u. 214. 69 Vgl. z.B. Websites http: / / www.spiritproject.de/ orakel/ magie/ lyrik/ bibel/ index.htm. <?page no="97"?> Sabine Seelbach Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis. Metavernünftiges bei Grimmelshausen Aber ich […] sahe sehr weit gegen den abyssum etliche Creaturen im Wasser herumfladern […] und gleich wie sich dieselbige mir je länger je mehr näherten/ also schienen sie auch in meinen Augen je länger je grösser/ und an ihrer Gestalt den Menschen desto ähnlicher; weßwegen mich dann erstlich eine grosse Verwunderung/ und endlich weil ich sie so nahe bey mir hatte/ ein Grausen und Entsetzen ankam: Ach! Sagte ich damal vor Schrecken und Verwunderung zu mir selber/ […] wie seynd die Wunderwerck deß Schöpffers auch so gar im Bauch der Erden/ und in der Tieffe deß Wassers so groß! 1 Erfahrungsgemäß haben Menschen, die über keine gefestigte Metaphysik verfügen, eine schlechte. Dies scheint sich in der zitierten Szene zu bewahrheiten, als Simplex, getrieben durch die Kuriosität seines Versuchs rein physikalischer Phänomenerkundung, durch die provozierten Geister des Mummelsees ganz rasch hinter die Absperrung des nur noch Glaubbaren zurückgetrieben wird. Katharsis? Die Forschung hat sich mit den Gespenster- und Geistererscheinungen bei Grimmelshausen bereits ausgiebig auseinandergesetzt. Battafarano hat ihnen einen aufklärerisch antiabergläubischen Zug abgewinnen wollen. 2 Danach habe Grimmelshausen mit Friedrich von Spee nahelegen wollen, man müsse nicht jeder Nachricht von Hexenerscheinungen Glauben schenken, da diese auch auf Wahnvorstellungen beruhen, an sich aber natürliche Ursachen haben könnten. 3 Andere haben widersprochen und dargelegt, daß sich der Autor mit seinen Darstellungen dämonischer Wesen ganz an den katholischen Diskurs in der Nachfolge Thomas von Aquins gehalten habe. 4 Andere wiederum meinten die Aufnahme zeitgenössischer Diskurse über die Existenz von Geistern generell und ihre Berechtigung in literarischen Texten wiederzufinden. In diesem Sinne argumentiert Barbara Mahlmann-Bauer, wenn sie dem durch das Übernatürliche ausgelösten Schrecken im Drama die 1 Simplicissimus Teutsch: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Werke. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt 1989. Bd. 1.1., S. 492. Statt der in dieser Ausgabe verwendeten diakritischen Zeichen werden hier die Umlaute mit Trema wiedergegeben. 2 Italo Michele Battafarano: Hexenwahn und Teufelsglaube im Simplicissimus. In: Argenis 1 (1977), S. 301-372. 3 Ders.: Mit Spee gegen Remigius: Grimmelshausens antidämonopathische Simpliciana im Strom nieder-ober-rheinischer Vernunft. In: Simpliciana 18 (1996), S. 139-164. 4 Vgl. Tobis A. Kemper: Luftfahrt und Hexentanz. - Zauberei und Hexenprozeß in Grimmelshausens Simplicissimus. In: Simpliciana 19 (1997), S. 108-124. <?page no="98"?> 98 Sabine Seelbach aus der Geschichte des Aristotelischen Katharsisbegriffs bezogene Literarizitätsdimension zusprechen möchte, dies aber innerhalb der Erzählung auf Grund anderer Diskurszwänge für weniger legitimierbar hält. 5 Daraus folgt die Frage, ob auch die Grimmelshausensche Geisterwelt so einförmig ist, daß sie sich unter einer einzigen Perspektive kohärent beschreiben und interpretieren ließe. Zumindest in dem komplexen Simplicissimus-Roman scheinen die einzelnen übernatürlichen Erscheinungen sich doch auf recht unterschiedlichen dramaturgischen Systemstellen zu befinden und auch in differierende Semantiken eingebunden zu sein, denen sie sich jeweils unterordnen. Meine Überlegungen beruhen auf folgenden Anregungen: Zum einen ist es die Formulierung des Autors selbst, der von den einzelnen Zuständen seiner Figur als „Staffelen“ spricht. Dies suggeriert nicht allein ein Sukzessionsmodell, sondern auch eine Aufstiegsbewegung. Diese Vorstellung erhält Unterstützung durch Günther Weydts 6 astrologische Interpretation des Romans, 7 die mit ihrem siebenphasigen Gesamtaufbau eine strukturelle Analogie zu dieser Sukzessionslogik aufweist, welche sich auch im Titelkupfer des Simplicissimus Teutsch ausdrücke: „Die durchgängige Satire des Romans […] 5 So heißt es bei ihr bezüglich des Gryphius-Dramas: „Durch die Bevorzugung der Dramenform hielt sich Gryphius die […] dogmatisch kniffligen Fragen vom Leibe und behandelte Gespenster als poetisch-technische Fiktionen, die zur Vermittlung einer Lehre dienten […]. In seinem Trauerspiel konnte es Gryphius leichter als in einer Erzählung vermeiden, selbst die Gespenstererscheinungen als Werkzeuge Gottes zu bezeichnen.“ Barbara Mahlmann-Bauer: Grimmelshausens Gespenster. In: Simplicina 26 (2004), S. 105-141, hier S. 109. Dagegen zur dramatischen Form: „In Gryphius’ Drama erhalten die Geister läuternde Funktion. Beide Gespenstererscheinungen schockieren die blind Liebenden so, daß sie zur Vernunft kommen und sich vornehmen, künftig ein enthaltsames, allein Gott geweihtes einsiedlerisches Leben zu führen. […] Die Gespenster bewirken durch ihre abschreckende Erscheinung die Hinwendung der in irdische Liebe Verstrickten zur Liebe Gottes, lösen also eine Katharsis aus.“ (Ebd., S. 106; vgl. dazu auch Eduard Castle: Zur Stoffgeschichte von „Cardenio und Celinde“. In: Archivum Romanicum 23 (1939), S. 242-271. 6 Vgl. Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern und München 1968, S. 256ff. 7 Versuche formaler Gesamtinterpretationen des Romans hat es freilich auch zuvor schon gegeben. Die schon früh gängige Entwicklungstheorie wurde dabei modifiziert und durch Perspektiven wie Kontrapunktik, Symmetrie, fünfbuchige Dramenform ergänzt. Später wurde versucht, „typisch barocke“ Denkfiguren wie Allegorie, Zahlensymbolik und mehrfachen Schriftsinn im Werk wiederzufinden. Zu den zahlenkompositiorischen Gesetzmäßigkeiten vgl. Siegfried Streller: Grimmelshausen Simplicianische Schriften. Allegorie, Zahl und Wirklichkeitsdarstellung. Berlin 1957; zum mehrfachen Schriftsinn: Clemens Heselhaus: Grimmelshausens „Der abenteuerliche Simplicissimus“. In: Der deutsche Roman. Hrsg. von Benno von Wiese. Bd. 1. 1963. So führte die neue Betonung des uneigentlichen Sprechens bei Grimmelshausen schon recht früh zu Versuchen, einen eigentlichen Entwicklungsgedanken im Roman zu negieren. Vgl. dazu Günter Rohrbach: Figur und Charakter. Strukturuntersuchungen an Grimmelshausens „Simplicissimus“. Bonn 1959. <?page no="99"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 99 präsentiert sich in sieben, astrologischen und damit angemessen barocken, Erscheinungsformen, die jeweils zugunsten der nächsten verfallen.“ 8 Dies wiederum gibt den nächsten Denkanstoß: Verfolgt man die Forschungsentwicklung bis hin zur unmittelbaren Gegenwart, so finden sich hauptsächlich Versuche, die Simplicianische Welt mittels eines Einzelparadigmas zu deuten, sei es eine Einzelwissenschaft, sei es ein spezieller Quellenbezug, sei es eine bestimmte geistesgeschichtliche Konzeption. Kaum eine dieser Untersuchungen blieb ohne plausible Konjekturen, wenngleich exakte Kongruenzen bei einem weitgehenden Autodidakten wie Grimmelshausen naturgemäß nicht erwartbar sind. Wäre es nicht aber angemessener, all diese Plausibilitäten, die - soweit ich sehe - selten einmal in ernste Widersprüche zueinander geraten, auf neuer Ebene zusammenzudenken? Ist es nicht gerade die Pluralität verfügbarer Wissenswelten, durch welche hindurch in einer gewissen Abfolge Simplex geführt wird? Welche Gesetze eignen dieser Reihe? Handelt es sich tatsächlich um eine Aufstiegsbewegung, wie es das Bild der „Staffeln“ zunächst zu suggerieren scheint? Oder handelt es sich eher um eine fortschreitende Desillusionierung, in welcher ein jedes Experiment nach seinem Abschluß zugunsten des jeweils folgenden verworfen wird? Was kann dann am Ende einer solchen Folge stehen? Schließlich gilt es, den Katharsisbegriff erneut auf den Prüfstand zu stellen. Wenn der durch das Wunderbare ausgelöste Schrecken eine Katalysatorrolle einnimmt, welche Art von Wandel ist dabei anvisiert? Hypothetisch sei formuliert, daß die erstrebte Bekehrung bei Grimmelshausen eher die Vernunft betrifft und nur in einer sehr vermittelten Form mit moralischen Kategorien zu beschreiben ist. Mit anderen Worten: Wenn es - wie Barbara Mahlmann-Bauer sagt - in Gryphius’ Cardenio und Celinde darum geht, die manisch Liebenden mittels des Schreckens zur Vernunft zu bringen 9 - könnte es dann hier im Gegenzug darum gehen, den Helden an einer quasi manischen Vernunft irre werden zu lassen? Die folgenden Erwägungen können sich dem Problem freilich nur bruchstückhaft annähern, einzelne Gedanken möglichen Vorläufern jeweils gerecht zuzuweisen, wird angesichts der exuberanten Forschungsliteratur zu Grimmelshausen nicht immer möglich sein. 8 Klaus Haberkamm: „Edle Wissenschaft“ oder „freye Kunst“. Zur Begriffsbestimmung der Astronomie/ Astrologie bei Grimmelshausen. In: Simplicina 26 (2004), S. 163-183, hier S. 169. 9 Mahlmann-Bauer (wie Anm. 5), S. 106. <?page no="100"?> 100 Sabine Seelbach 1. Prägung der Wachstafel Nachdem Simplex gewaltsam vom Hof seines Knan als dem Ort seiner prälapsarischen Vollkommenheit vertrieben wird, vollzieht sich seine erste Prägung ausgerechnet in einem postlapsarischen Rückzugsgebiet: einer Einsiedelei. Bezeichnenderweise wird für diesen Vorgang das berühmte Wachstafelgleichnis herangezogen. Denn der Protagonist stellt fest daß der Einsidel ein sonderliches Gefallen an mir hatte/ […] weil er sahe/ daß ich eben so begierig seine Unterweisungen hörete / als geschickt die Waxwaiche/ und zwar noch glatte Tafel meines Hertzens solche zu fassen/ sich erzeigte […] 10 Das Gleichnis taucht schon im Theätet Platons auf, wo Sokrates mutmaßt, es gäbe in unserer Seele einen Wachsblock, der uns als Gabe der Memoria zuteil geworden sei. Jeder Wahrnehmungsvorgang präge sich darin ein wie ein Siegelring. 11 Platon setzte dabei ein Wissen a priori voraus, welches als Abbild der Ideenwelt latent in uns vorhanden sei und sich also nicht von Sinneseindrücken herleite. Insofern hieße Lernen nichts anderes als sich zu erinnern. 12 Für Aristoteles hingegen sind eben diese Sinneseindrücke die Hauptquelle allen Wissens. Ohne sie könne es kein Denken und Wissen geben, selbst wenn das Denken in der Lage sei, präzisierend und abstrahierend auf sie einzuwirken. Im Bericht des Simplex wird sogleich deutlich, daß die sensualistische Konzeption Aristoteles’ hier anvisiert wird: Jch habe seithero der Sach vielmal nachgedacht/ und befunden/ daß Aristot. Lib. 3. de Anima wol geschlossen/ als er die Seele eines Menschen einer lären ohnbeschriebenen Tafel verglichen/ darauf man allerhand notiren könne/ 13 Bei der anschließenden Erwägung scheint allerdings der sensualistische Ausgangspunkt rasch in den Hintergrund zu treten. Denn wichtiger erscheint die anschließend skizzierte Bewegung der Seele zur Vollkommenheit - eine nicht unbedingt amtskirchliche Vorstellung, die hier auf zweifache Weise legitimiert wird: Zum einen durch den Hinweis auf den Willen des Schöpfers: 10 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 40. 11 Vgl. Theätet, 191 C-D. 12 Vgl. dazu auch die berühmte Auseinandersetzung in Ciceros Gesprächen in Tusculum (Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu herausgegeben von Olof Gigon. 4., unveränderte Auflage 1979, S. 56). 13 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 41; die Passage folgt dem Wortlaut von Garzonis Piazza Universale, das ist: Allgemeiner Schauwplatz/ oder Marckt/ vnd Zusammenkünfft aller Professionen/ Künsten/ […] Erstlich durch Thomam Garzonum […] Italiänisch zusammengetragen/ […] Nunmehro in vnsere Muttersprach vbersetzt/ […] Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ bey Nicolao Hoffman/ in Verlegung Lvcae Iennis. M.DC.XIX, S. 17.; Vgl. den Stellenkommentar von Dieter Breuer zu Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 810. <?page no="101"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 101 und daß solches alles darumb von dem höchsten Schöpffer geschehen seye/ damit solche glatte Tafel durch fleissige Impression und Ubung gezeichnet/ und zur Vollkommenheit und perfection gebracht werde; zum anderen durch die weltlichen Theorien des Aristoteles-Kommentators Averroes und Ciceros, bei welchen jene verfeinernde und prägend auf die Seele zurückwirkende Tätigkeit des Geistes selbst im Mittelpunkt zu stehen scheint: dahero dann auch sein Commentator Averroes lib. 2. de Anima (da der Philosophus sagt/ der Intellectus sey als potentia, werde aber nichts in actum gebracht/ als durch die Scientiam, das ist/ es seye deß Menschen Verstand allerdings fähig/ könne aber nichts ohne fleissige Ubung hinein gebracht werden) diesen klaren Außschlag gibt: nemlich/ es seye diese Scientia oder Ubung die perfection/ welche für sich selbst überall nichts an sich habe; solches bestätigt Cicero lib. 2. Tuscul. quaest. 14 Welcher die Seel deß Menschen ohne Lehr/ Wissenschaft und Ubung/ einem solchen Feld vergleicht/ das zwar von Natur fruchtbar seye/ aber wann man es nicht baue und besaame/ gleichwol keine Frucht bringe. 15 Die hier beschriebene Vervollkommnung beruht auf dem monastischen Ideal, nach welchem unter der Voraussetzung der aetas discretionis 16 die Unterscheidungskraft durch reine Lehre habitualisiert und Erkenntnisfortschritt durch reine Bewegung des Geistes vollzogen wird. Die Lehre rückt also ein in die Position der Aristotelischen Sinneseindrücke. In der Perspektive des Protagonisten erscheint er selbst diesbzgl. als paradigmatischer Fall. 17 Die Lehre selbst bewegt sich auf der Ebene überkonfessioneller, schlichter Standpunkte. 18 Diese bestehen zuvorderst im Dekalog, in den zu erstrebenden und zu fliehenden Dingen (Tugenden, Laster), im positiven Exempel der 14 Bemerkenswerterweise wird aber Ciceros dialektische Sicht auf das Verhältnis von Naturbegabung und Lehre hier zugunsten der letzteren verkürzt und zudem der dort verwendete Philosophiebegriff durch den neutraleren der Scientia ersetzt. Die Stelle bei Cicero lautet: „atque, ut in eodem simili verser, ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sine doctrina animus; ita est utraque res sine altera debilis. cultura autem animi philosophia est.“ Cicero: Gespräche in Tusculum (wie Anm. 12), S. 124. 15 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 41-42. 16 Die aetas discretionis, nach welcher der Knabe etwa im Alter von sieben Jahren zwischen gut und böse zu unterscheiden befähigt werde, war seit dem Mittelalter eine gängigen Vorstellung. Vgl. Dazu Johannes Duns Scotus: Reportata Parisiensia. Liber 4. Distinctio 25. quaestio 2. In: Duns Scoti Opera omnia, vol. XXIV, Paris 1894, S. 367-371, hier S. 367. 17 Vgl. Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 42, Z. 10-15. 18 Dieter Breuer hat diesen lehrhaften Eingang in Verbindung mit anderen zentralen Textstellen gesichtet und theologisch in den Zusammenhang mit dem Jansenismus gebracht. Vgl. Ders.: Grimmelshausen in den theologischen Kontroversen seiner Zeit. In: Simpliciana XXVI (2004), S. 339-359, hier S. 343-344, mit Verweis u.a. Marcel Albert: Nuntius Fabio Chigi und die Anfänge des Jansenismus 1639-1651. Rom, Freiburg, Wien 1988 (= Röm. Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Supplementheft 44), S. 80-84. <?page no="102"?> 102 Sabine Seelbach Christus-Vita und im Schreckensbild der Apokalypse. Daß mit dem telos- Gewinn des Menschen längst keine hinreichende Orientierung in der Welt gegeben ist, wird vom Erzähler a posteriori reflektiert: Gleichwol aber ist die pure Einfalt gegen andern Menschen zu rechnen/ noch immerzu bey mir verblieben/ dahero der Einsidel […] mich nur Simplicium genennet. 19 […] Zwar wollte mich mein getreuer Einsidel ein mehrers nicht wissen lassen/ dann er hielte darvor/ es seye einem Christen genug/ zu seinem Ziel und Zweck zu gelangen/ wann er nur fleissig bete und arbeite/ dahero es kommen/ ob ich zwar in geistlichen Sachen zimlich berichtet wurde/ mein Christentum wol verstunde/ […] daß ich dannoch der einfältigste verbliebe […] 20 Als Schutzschirm gegen die Anfechtungen der Welt erhält Simplex lediglich das nosce te ipsum, eine Vermeidungstaktik (fliehe schlechte Gesellschaft) und das neustoizistische Constantia-Ideal mit auf den Weg. Dies sind die einzigen Sozialisationsstrategien, die unmittelbar folgend durch einen eingeschalteten Tugenden- und Lasterkatalog in Predigtform noch einmal in allgemeingültiger Normaufrichtung formuliert werden. Immerhin verleiht diese Lehre hinreichende Widerstandskraft, um auf dem Boden der Theodizee zu bleiben. 21 Diese erste Prägung der Wachstafel erzeugt gar ein solches geistiges Beharrungsvermögen, welches der darauf folgenden massiven Erfahrung des Auseinanderfalls von Norm und Wirklichkeit dahingehend Widerstand entgegensetzt, daß die Wirklichkeit gegenüber der Norm zum weniger Wirklichen herabstilisiert wird: Dieses alles/ und was ich sahe und hörete/ erwog ich/ und schloß vestiglich/ daß diese Balger keine Christen seyen/ suchte derowegen eine andere Gesellschafft. 22 Es ist jener Vorgang der Veruneigentlichung von Wirklichem, der von Odo Marquardt als Tätigkeit „exklusiver Vernunft“ beschrieben worden ist. Seit Anbeginn sei es das Geschäft des Philosophen gewesen, das Tätigkeitsfeld der Vernunft auf dasjenige einzuengen, was sich nicht gegen eine normgerechte Beschreibung mit allgemeingültigen Gesetzen sträubte: 19 Vgl. Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 42. 20 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 47. 21 So hat Simplex nach eigener Aussage seine Geschichte der Nachwelt überlassen wollen, um die Existenz Gottes damit zu beweisen. Wie ernst es ihm damit an dieser Stelle ist, bleibt aber zu überlegen: „So erfordert jedoch die Folge meiner Histori/ daß ich der lieben posterität hinderlasse/ was vor Grausamkeiten in diesem unserm Teutschen Krieg hin und wieder verübet worden/ zumalen mit meinem eigenen Exempel zu bezeugen/ daß alle solche Ubel von der Güte deß Allerhöchsten/ zu unserm Nutz/ offt notwendig haben verhängt werden müssen: Dann lieber Leser/ wer hätte mir gesagt/ daß ein GOtt im Himmel wäre/ wann keine Krieger meines Knans Hauß zernichtet/ und mich durch solche Fahung unter die Leut gezwungen hätten […].“ Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 27. 22 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 95. <?page no="103"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 103 Die Vernunft schloß aus, und zwar vor allem dadurch, daß sie Wirkliches, das ihr nicht in den Kram paßte, veruneigentlichte, d.h. zum minder Wirklichen oder Nichtigen umstilisierte. Die Vernunft schloß aus: indem sie auf das Bleibende aus war das Veränderliche; indem sie auf das Unendliche aus war das Endliche […] indem sie auf das Notwendige aus war, das Zufällige. 23 Nun herrscht seit Aristoteles die Einsicht, daß der Bereich, für welchen die Charakteristika Veränderlichkeit, Endlichkeit und Zufälligkeit par excellence gelten, der Bereich des menschlichen Handelns ist. 24 Insofern ist der beschriebene Vorgang in Grimmelshausens Roman ein paradigmatischer: Eine durch theologischen Minimalismus erstgeprägte Vernunft richtet sich in exklusiver Weise auf die Erfahrungswirklichkeit. In Abwandlung der Anfangssentenz bedeutete dies: Wer nicht über eine gefestigte Weltklugheit verfügt, hat eine schlechte. 2. Ars oblivionis Im zweiten Buch des Romans wird das Wachstafelthema von einer anderen Seite her wieder aufgenommen. Nachdem Simplex aus dem Gänsestall entweicht, zum Objekt des Lachens für die Hanauer Frühstücksgesellschaft und zum Hofnarren gemacht und vom Pfarrer in den Plan des Gubernators eingeweiht wird, ihn um den Verstand zu bringen, um ihn hernach noch besser zum Hofnarren abrichten zu können, ist Simplex um so eher gefeit gegen den folgenden Mummenschanz, als ihn vermeintliche Teufelsdiener durch Folter und drei alte Weiber als vermeintliche Himmelsdienerinnen mit Zaubertränken zum Wahnsinn zu treiben versuchen. Selbst im Kalbsfell bleibt er seinen Widersachern überlegen, indem er sich in seine Rolle zu schicken weiß. Zu Beginn des 8. Kapitels findet sich dann eine Passage, in welcher Simplex - wiederum durch den Pfarrer - neu konditioniert wird: im Sinne der Ausbil- 23 Odo Marquardt: Vernunft als Grenzreaktion. Zur Verwandlung der Vernunft durch die Theodizee. In: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München 1976, S. 41. 24 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. In: Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 3. Nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearbeitet von Günther Bien. Hamburg 1995. Buch VI, S. 130-150, hier S. 133f.: „Was die Wissenschaft sei, erhellt, wenn wir die Worte genau nehmen und uns nicht an äußere Ähnlichkeiten in der Redeweise halten wollen, aus folgendem. Wir alle halten dafür, daß das, was man weiß, sich nicht anders verhalten kann; was sich aber anders verhalten kann, von dem weiß man, sobald man es nicht mehr vor Augen hat, nicht, ob es noch ist oder nicht. Mithin ist, was Gegenstand des Wissens ist, aus Notwendigkeit. Mithin ist es ewig, das Ewige aber ist ungeworden und unvergänglich. Auch scheint jede Wissenschaft lehrbar und jeder Wissenschaftsgegenstand lernbar zu sein. Jede Lehre aber geht von vorher Erkanntem aus, wie wir in der Analytik dartun. Wo nämlich man die Prinzipien kennt, da ist Wissenschaft. Kännte man dieselben nicht vollkommener als den Schlußsatz, so hätte man das Wissen nur zufällig.“ Für die Bereiche der Kontingenz vgl. ebd., S. 134: „Was sich anders verhalten kann, ist teils Gegenstand des Hervorbringens, teils Gegenstand des Handelns.“ <?page no="104"?> 104 Sabine Seelbach dung einer ganz neuen Kompetenz im Umgang mit den Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens zwischen Himmel und Hölle - also auf Erden! Die Rede ist dabei von der Wiedergeburt des Phönix aus der Asche, hin zu einem neuen Aggregatzustand des Verstandes und also zu einem neuen Leben: Die närrische Welt will betrogen seyn/ hat man dir deine Witz noch übrig gelassen/ so gebrauche dich derselben zu deinem Vortheil/ bilde dir ein/ als ob du gleich dem Phœnix, vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer/ und also zu einem neuen menschlichen Leben geboren worden seyest/ 25 Daß hier ausgerechnet ein Geistlicher mit einem „variabel[en] Diskurs“ 26 einer instrumentellen Vernunft das Wort redet, welche sich nicht mehr konsensfähiger Allgemeinheit, sonders durchaus partikulären Zwecken zuordnet, gibt der Passage eine besondere Note. In die sich anbahnende sittliche Metamorphose des Helden hineingeschaltet wird nun eine Art Gedächtnistraktat, der tatsächlich eine Kunst (eine Kritik? ) des Vergessens ist. Die Reihe der großen Erinnerer, mit welcher diese beginnt, ist bislang als solche nicht interpretiert worden. 27 Diese Reihe, die mit Simonides beginnt und über Metrodorus, Mithridates etc. bis hin zu Crassus und Caesar führt, findet sich in Anfängen bereits bei Cicero, 28 Quintilian 29 und vollständig schließlich schon bei Plinius. 30 Dem Mittelalter wurde sie bekannt durch spätantike Gelehrte wie Fortunatianus, 31 der Frühen Neuzeit u.a. durch humanistische Gelehrte wie Jacobus Publicius und Johannes Vibicetus. 32 Gerade die Wanderhumanisten hatten mit der im 15. Jahrhundert gerade wiederentdeckten Gedächtnis-Kunst eine Marktlücke entdeckt, indem sie mit der Wunschvorstellung von der Optimierbarkeit der im Grunde defizitären menschlichen Gedächtnisleistung durch technisches Training, aber auch durch die Hilfe der Medizin, operierten. Dieser technisch-naturwissenschaftliche Optimismus wird in der Rede des Pfarrers sofort wieder kassiert, indem eine eben so lange Skeptikerreihe angeschlossen wird. Auch hier bezieht man sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse, teils sogar auf die gleichen Autoritäten: 25 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 142. 26 Ebd., S. 143. 27 Dieter Breuer beschränkt sich in seinem Stellenkommentar auf knappe Einträge zu den einzelnen Personen, z.B.: „Julius Caesar/ Röm. Staatsmann und Schriftsteller (100-44 v. Chr.).“ Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 838-839, hier S. 839. Ansonsten sei alles aus Garzoni entnommen (vgl. ebd., S. 838). 28 De oratore 2,360, Tusc. I 59. 29 Inst. Orat. XI, 2, 17, 22, 24-26, 50. 30 Naturkunde. Buch VII. Hrsg. von Roderich König. München 1975, S. 68 und Buch XXV. Hrsg. und übersetzt von Roderich König u.a. Düsseldorf 1996, S. 20-23. 31 C. Chirii Fortunatiani Artis rhetoricae libri III, II 13-14. I: Rhetores latini minores (RLM). Hrsg. Von Karl Halm. Leipzig 1863, S. 128-130. 32 Vgl. dazu Sabine Heimann-Seelbach: Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Tübingen 2000 (= Frühe Neuzeit Band 58), u.a. S. 24f., 64, 118 und 125. <?page no="105"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 105 Plinius lib. 7. cap 24. schreibet/ daß am Menschen nichts so blöd seye/ als eben das Gedächtnus/ und daß sie durch Kranckheit / Schrecken/ Forcht/ Sorg und Bekümmernus entweder gantz verschwinde/ oder doch einen grossen Theil ihrer Krafft verliere. 33 Es folgen Exempel für Gedächtnisverlust bzw. auch Wahrnehmungsstörungen durch äußere Einflüsse verschiedener Art. Der Sinn der Passage besteht sicherlich auch in der leitmotivischen Wissenschaftskritik, aber wohl in erster Linie in einer Art Spiegelung und Kommentierung der Metamorphose des Helden. Der „Schrecken der Dinge“ kann dabei nur insofern zum traumatischen Auslöser dieser Wandlung werden, als er auf bereits vorhandene, alternative Prägungen im Individuum trifft. Denn ein unbelastetes Individuum wird auch den stärksten Schrecken als Normalität hinnehmen, wie sich in Simplex’ Kindheitsgeschichte vor seiner Begegnung mit dem Einsiedel zeigte. Es wird ja mehrfach darauf verwiesen, daß trotz aller furchtbaren Erlebnisse auf dem Hof des Knans und auf der Flucht seine Wachstafel leer geblieben und erst durch den Einsiedel beschrieben worden sei. In der Folge wird diese Wachstafel nun sukzessive wieder gelöscht bzw. besser: überschrieben, so daß es in der Folge der weiteren Überschreibungen zu einer parallelen Verfügbarkeit verschiedenster Deutungsmuster von Welt kommt. Im Vorgang des Palimpsestierens bleiben nämlich Spuren der ersten Prägung erhalten. So weist Simplex die Lobrede des Hanauer Secretarius auf die Künste mit dem Argument der Mißbrauchbarkeit jeglicher Kunst zum Nachteil anderer und zur Befriedigung menschlicher Laster zurück und orientiert statt auf Bibliotheken weltlicher Gelehrsamkeit lieber auf die seit der Patristik gängige christliche Lehre vom Buch der Welt, 34 aus welchem man „die Wun- 33 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 145. 34 Diesen Zusammenhang hat Hugo von St. Viktor (1096-1141) als maßgebliche mittelalterliche Autorität gültig zum Ausdruck gebracht: „Diese ganze sinnlich wahrnehmbare Welt ist wie ein Buch, geschrieben vom Finger Gottes, das heißt von der göttlichen Kraft geschaffen, und die einzelnen Geschöpfe sind wie Figuren, die nicht nach menschlichem Beschluß, sondern durch den göttlichen Willen aufgerichtet worden sind, um die Weisheit des unsichtbaren Wesens Gottes zu offenbaren. So aber wie ein Ungelehrter, wenn er ein aufgeschlagenes Buch sieht, Figuren erblickt und die Buchstaben nicht kennt, so sieht der törichte und ungeistige Mensch, der nicht durchschaut was Gottes ist, an jenen sichtbaren Geschöpfen nur außen die Erscheinung, doch erkennt innen nicht die Vernunft. Wer aber vom Geist begabt ist und alles zu unterscheiden vermag, der begreift, gerade indem er außen die Schönheit des Werkes betrachtet, im Inneren, wie sehr die Weisheit des Schöpfers zu bewundern ist. Während der Unverständige an ihnen nur die Erscheinung bestaunt, der Weise aber durch das hindurch, was er außen sieht, nach der tieferen Erkenntnis der göttlichen Weisheit forscht, ist es, wie wenn in ein und derselben Schrift der eine die Farbe oder die Gestalt der Figuren empföhle, der andere jedoch den Sinn und die Bedeutung lobte. Also ist es gut, die göttlichen Werke beharrlich zu betrachten …, damit wir durch das, was wir außen glauben, innen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ Hugo von St. Viktor: Didascalicon. Lib. VII, cap. 3. In: Migne: Patrologia Latina (MPL) 176, 814b. <?page no="106"?> 106 Sabine Seelbach der seines Schöpffers zu betrachten/ und die göttliche Allmacht darauß zu erkennen“ 35 vermöge. An diesem Erkenntnisziel ist wiederum das Wirken der exklusiven Vernunft, die nach dem Absoluten strebt, erkennbar. Diese erscheint allerdings bereits verblaßt, da das Argument in der Not des agonalen Kontexts aus dem Hut gezaubert wird - es geht nur noch darum, im rhetorischen Duell zu obsiegen, nicht mehr um die Wahrheit. Damit vollzieht der Redner Simplex selbst, was er an den Künsten kritisiert, nämlich ihre Reduktion auf partikuläre Zwecke. Die Theodizee-Ebene bleibt also präsent, tritt aber zugunsten der sinnhafter Eigenaufwertung menschlichen Tuns in den Hinter- (bzw. Unter)grund. Der somit transzendental unbehauste Mensch bedarf nunmehr einer neuen (natürlich schlechteren) Metaphysik, welche auch postwendend in der Astrologie als neuer hermeneutischer Gottheit gefunden wird. Eine Beherrschung irdischer Kontingenz ist astrologisch freilich auch nicht möglich. Die Kunst liefert Zukunftsbilder im Ergebnisstadium, aber keine Orientierungen oder tröstlichen Erklärungen mehr. Es hat vielmehr den Anschein, daß Fortuna nunmehr ungebremst wirksam wird. Anekdoten hierfür häufen sich wie etwa in der schwindelerregenden Umverteilung von Kriegsbeute in Kapitel II.16. Ein Kraut bzw. eine Kunst scheint dagegen nicht gewachsen zu sein - selbst die in II.20 bemühten magischen Künste wie die Phisiognomia und Chiromantia können den Beliebigkeitscharakter menschlichen Daseins und dessen mangelnde Steuerbarkeit nur unterstreichen, womit sie unter das Bild des Würfelspiels subsumierbar werden. 36 Damit ist bezüglich der ersten Wachstafelprägung das Gegenextrem erreicht: die exklusive Vernunft versagt vor der Fülle des eigentlich Auszuschließenden - für welches aber eine alternative Rationalisierung auf vergleichbarem Niveau nicht zur Verfügung steht. Das kalte Fatum, das hier übrig bleibt, trägt sophokleische Züge, wie sich paradigmatisch an der Geschichte des alten Herzbruders zeigt: Gerade durch die Vermeidungshandlungen vollendet es sich. 37 Unmittelbar darauf folgt Simplex’ Generaleinschätzung der Astrologie. Sie fördere immerhin zuweilen zutreffende Ergebnisse zutage - dennoch sei sie aber nichtig, denn sie gebe dem Menschen keinerlei Spielraum außer dem der Angst. Der Passus wird abgeschlossen mit dem Gedanken der Sinnlosigkeit vermeintlicher Prädestination durch seine eigene adlige Geburt sowie mit dem Wallenstein-Exempel: Jtem was halffts den von Wallenstein / Hertzogen in Friedland/ daß ihm prophezeyt wurde/ er werde gleichsam mit Säitenspiel zum König gekrönet wer- 35 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 153. 36 Die Überschrift des Kapitels II.20 lautet denn auch: „Ist zimlich lang/ und handelt vom spielen mit Würffeln/ und was dem anhängig“. Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 184. 37 Geschildert wird der Fall im Kapitel II. 24: Dem alten Herzbruder wird der Tod für einen bestimmten Tag vorausgesagt, er sucht dies durch Rückzug aus der Welt zu vermeiden. Gerade im Refugium aber ereilt ihn sein Schicksal. Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 202-204. <?page no="107"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 107 den? Weiß man nicht/ wie er zu Eger eingewieget worden? Mögen derowegen andere ihre Köpff über dieser Frag zerbrechen/ ich komme wieder auff meine Histori. 38 Mit der Astrologie wird nun aber nicht nur ein weiteres Konzept des Umgangs mit sich selbst und der Welt als untauglich abgewiesen. Mit ihr verschwindet gleichzeitig das letzte Moment an providentia im Sinne vorausschauenden, also vor-sichtigen Denkens und Handelns als Teiltugend der prudentia. Zurück bleibt quasi der zeitlose, selbstische Mensch des Augenblicks - der superbus. Der Palimsest verliert/ erhält eine neue Schicht. 3. Der superbus Den Übergang vom 2. zum 3. Buch des Romans bilden zwei Kapitel über die superbia (II,30 und III,1) und den Identitätswechsel des Helden: seine Mutation zum Jäger von Soest (III,1). Mit dem Verlust an transzendentaler Behaustheit sowie jeglicher providentieller Perspektive einher geht der nächste Paradigmawechsel: Den Dingen wird nun anhand dessen, was sie in sich sind, auf den Grund gegangen. Leitwissenschaft ist diesmal die Medizin, strukturierendes Prinzip des dritten Buches das Todsündenschema. Ausgehend von der superbia werden nacheinander der Neid (III,11), der Geiz bzw. die Verschwendung (III,13; II,18) und die Unkeuschheit (III, 18) abgehandelt. Das verknüpfende Band ist das Fortuna-Thema (III,8; III, 16, 17; III, 19). Die nunmehr rein innerweltliche Rationalisierung all dieser Erscheinungen erfolgt am Ende des 3. Buches: Jch lernete […] vornemlich alle Kranckheiten kennen/ so die gröste Kunst an einem Doctor Medicinæ ist/ dann man sagt/ wenn man eine Kranckheit recht erkenne/ so sey dem Patienten schon halb geholfen […] Jch fand Leut/ die waren vor Zorn kranck/ […] Man sagt/ diese Kranckheit komme von der Gall her […]. 39 Der traditionelle Katalog der sieben Todsünden wird nicht mehr allegorisch-heilsgeschichtlich gedeutet, sondern zunächst mittels einer biologistischen Rationalität. Sie spiegelt den auf der Ebene der Phänomene gefangenen Menschen. Doch dies bleibt nicht das letzte Wort. Am Übergang zum 4. Buch wird auch dieser mechanisch-kausale Erklärungsversuch wieder kassiert und durch eine Art sozial-analytischen Ansatz ersetzt. Nicht die Complexion des Menschen sei die Ursache des Übels, sondern seine habitualisierten Züge (falsches Selbstbild als Ursache des Zorns und der Hoffart; schlechte Gewohnheiten als Ursache der Freßsucht etc.) 40 und Gegebenheiten des sozialen Kontexts (Ungleichheit als Ursache von Neid, Mangel an sinnhafter Existenz 38 Ebd., S. 205. 39 Ebd., S. 338. 40 Vgl. ebd., S. 338f. <?page no="108"?> 108 Sabine Seelbach als Ursache der Spielsucht etc.). 41 Beide Ansätze bleiben jedoch immanent, kommen also ohne Metaphysik aus. Über diese Brücke wird mit Buch 4 die nächste gottferne Theoriewelt betreten: die Welt der Gesellschaftstheorien. Nicht von ungefähr geht diesem nächsten Schritt die pekuniäre Verwertung des vorigen parallel: Simplex erfindet sich auf der Grundlage seines in Eile zusammengerafften medizinischen Wissens als Universalheiler und bringt sich mit Betrug von Bauern auf den Märkten durch. Dieser Wandel von einer positiv aufgerichteten Welttheorie hin zu deren desillusionierender Verwertung tritt hier also zum dritten Mal ans Licht. Zuvor war bereits die exklusive Vernunft des Einsiedels zum billigen Argument im rhetorischen Agon verkommen (Übergang Buch 1 zu Buch 2), war die Astrologie ad absurdum geführt worden (Übergang Buch 2 zu Buch 3). Die Halbwertzeiten der Konzepte scheinen sich dabei im Zuge der Beschleunigung der Ereignisse und Schauplatzwechsel sogar zu verkürzen. Das vierte Buch zeigt nun den menschlichen Dschungel in seiner schlimmsten Form. Es schildert die Zeit, in der Simplex die Lebensform des Marodierers Olivier teilt und sich das Rad der Fortuna am schnellsten dreht. Als es einmal auf dem Höhepunkt steht etwa in der Mitte des Buches (Kap. 15) - kommt es zu einem Moment der Reflexion, der in einem Dialog zwischen Olivier und Simplex Gestalt annimmt. Olivier stellt darin die Räuberei als eine legitime Kunst des Adels ohne alle Gleißnerei dar, meint also, der Adelsexistenz nur den idealisierenden Schleier wegzuziehen. Er beruft sich dabei auf Machiavelli, der somit ein weiteres Mal als Vertreter einer skrupellosen Gewaltpolitik mißverstanden wird. In der Tat wird gerade aus der Figurenperspektive die Mißbrauchsgefahr einer Theorie deutlich, in der der traditionelle moralphilosophische Konnex politischen Handelns mit konsensfähiger Allgemeinheit der Zwecke aufgehoben wird. 42 Ergebnis ist dann - so das Gedankenexperiment - die 41 Vgl. ebd., S. 339. 42 Aristoteles war sich der drohenden Gefahr durchaus bewußt und er bemühte sich um Schadensbegrenzung, indem er der politischen Ausprägung der Klugheit - der alten Phronesis - eine grundsätzliche ethische Gestalt verlieh. Die Prinzipien der Handlungen sieht er in ihren Zwecken. (NE 1140b): „Die Tugend macht, daß man sich das rechte Ziel setzt, die Klugheit, daß man die rechten Mittel dazu wählt.“ (NE VI.13, 1144a) All das, was das Maß des „Rechten“ verfehlt, wird aus dem Klugheitsbegriff ausgegrenzt und dem Begriff der Durchtriebenheit (astutia) zugeschlagen. Die Grenze verläuft über die beiden gemeinsame Teilmenge der Geschicklichkeit (deinotes): „Die Klugheit ist nicht die Geschicklichkeit, aber sie ist nicht ohne dieses Vermögen.“ (NE VI, 13, 1144a). An diesem Punkte scheiden sich jahrhundertelang die Geister: Die aus konkreter historischer Erfahrung resultierende Kontroverse zwischen platonischer Abwertung der pragmatischen Vernunft und dem aristotelischen Versuch, der menschlichen Handlungskompetenz von jenem alten Polis-Wissen noch etwas zu bewahren, durchzieht nicht nur die Wissenschaftsgeschichte (vgl. Klugheitsbegriff von der Schule von Chartres bis Thomas von Aquin), sondern vor allem auch die weltlich-volkssprachige Literatur als Ort für Laienphilosophie. Was für unseren aktuellen Zusammenhang aber zählt, ist die zweite große Welle der Aristotelesrezeption, nämlich die durch den Humanismus, der sich in Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Wissenschafts- <?page no="109"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 109 Apologie des Naturrechts in seiner inhumanen Form, nämlich als Recht des Stärkeren. 43 Dagegen hält die andere Figur (Simplex) das „gute“ Naturrecht: Hierauf antwortet ich/ gesetzt/ Rauben und Stelen sey dir erlaubt oder nicht/ so weiß ich gleichwol/ daß es wider das Gesetz der Natur ist/ das da nicht will/ daß einer einem andern thun solle/ das er nicht will/ daß es ihm geschehe. 44 Dieser Grundbestand des Naturrechts wird sodann mit den damit (mehr oder weniger) harmonierenden Teilen des positiven Rechts wie auch des göttlichen Rechts zur Deckung gebracht: So ist solche Unbilligkeit auch wider die Weltliche Gesetz/ welche befehlen/ daß die Dieb gehenckt/ die Räuber geköpfft/ und die Mörder geradbrecht werden sollen; Und letztlich so ist es auch wider Gott/ so das fürnehmste ist/ weil er keine Sünde ungestrafft läst. 45 Eine solche Position zu äußern, entspricht dem Redepart des tragischen Helden etwa im barocken Martyrerdrama, der sich sowohl in Gestalt des Tyrannen als auch des Tyrannenmörders den machiavellistischen Entartungen des Naturrechts gegenüber sieht. Der Dialog könnte einem solchen Drama entnommen sein. Satirischerweise fällt aber hier die Rolle des moralisch Reinen einer Figur zu, die diesem Ideal durchaus nicht entspricht. In der Konsequenz wird damit bereits auch die rationalistische Staatstheorie als Anhaltsbegriff der Spätscholastik intensiver der praktischen Philosophie zuwandte und in diesem Zusammenhang vor allem den politischen Aristoteles neu las (z.b. Lipsius „De constantia“ 1584). In dieser Rezeptionsphase „bildet sich ein Typus des politischen Denkens aus, der von einer der Grundannahmen des Aristoteles Abschied nimmt. Dieser Typus ist vor allem mit dem Namen Niccolo Macchiavellis verbunden.“ Ernst Vollrath: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen. Königshausen & Neumann 1987, S. 86f., mit Bezug auf H. Münkler: Macchiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz. Frankfurt am Main 1982 und J.G.A. Pocock: The Macchiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. Macchiavelli macht Ernst mit der Phronesis als alternativem Rationalitätstyp und vollzieht daher die Trennung von dem bei Aristoteles noch leitenden Eidos-Wissen, d.h. „er trennt radikal den Zusamenhang von Ethik und Politik […] politisches Handeln geht nicht letztlich auf die Verwirklichung des geglückt-gerechten Lebens, sondern erstlich auf die Einrichtung und Bewahrung der politischen Existenz.“ 42 Damit wird politische Philosophie autonom. 43 Nicht zufällig trägt das Kapitel die Überschrift „Wie Olivier seine Busch-klöpfferische Ubelthaten noch wol zu entschuldigen vermeynte“. Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 403. 44 Ebd., S. 407. 45 Ebd. Die Berufung auf das Naturrecht geht davon aus, daß bestimmte Grundsätze schlechthin Geltung beanspruchen können und daher einer Setzung durch bestimmte kodifizierte Rechtsordnungen nicht bedürfen. Diese Grundsätze werden geschichtlich verschiedenen, aber stets vom Menschen unabhängigen Quellen zugeordnet (Gott, Logos, im Individuum wirkendes Naturgesetz etc.). <?page no="110"?> 110 Sabine Seelbach punkt positiver Orientierung verabschiedet. Ihre Halbwertzeit war am kürzesten. 46 4. adeptio divinitatis: Überstiege des Wissens Statt dessen wird das Individuum auf den Fundus seiner eigenen Erfahrungen zurückgeworfen. In der Rückschau, die freilich wieder von einem Standpunkt avancierter ignorantia aus vorgenommen wird, erscheint das, was im Augenblick des Erlebens als Glücksgewinn wahrgenommen wurde, als Gegenteil: der Wegbereiter des Unglücks 47 so die Einschätzung am Beginn des 4. Buches. Nachdem sich im Verlaufe des 4. Buches wichtige Wahrsagungen als ganz anders zutreffend erwiesen, also sich im Verlauf erneut dem lenkenden Zugriff des Menschen entzogen haben (IV,18, 21), bleibt der gequälten Seele kein anderer Weg mehr als zum Modell der providentiellen Fügung durch eine metaphysische Instanz zurückzukehren: ALs Olivier seine Discurs dergestalt vollführete/ konnte ich mich nicht genugsam über der Göttliche Vorsehung verwundern! Jch konnte greiffen/ wie mich der liebe Gott hiebevor in Westphalen vor diesem Unmenschen nit allein vätterlich bewahret/ sondern darzu versehen hatte/ daß er sich vor mir entsetzt […] 48 Diese Erwägungen über die menschlichen Fehlrationalisierungen der Vorsehung bilden das Scharnierstück zum 5. und zunächst einmal letzten Buch des Simplicissimus-Romans. Die Frage nach den Ursachen für solcherart verfehlte Konjekturen wird nun aber anders beantwortet. Waren in den vorangegangenen Erklärungen die objektiven Faktoren (Complexion, soziale Mechanismen etc.) im Fokus, so richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf den menschlichen Charakter. Fortuna gebe doch Zeichen genug, nur der Charakter verweigere deren angemessene Deutung. Der Blick auf das Fatum werde durch Fatuitas (Narrheit) verstellt. 49 Keine irdische Wissensform hat den Menschen aus dieser Narrheit erlösen können. Nachdem Simplex seine Vita in Kurzform Revue passieren läßt kommt er in resümierender Verallgemeinerung zur Erkenntnis, daß all die Erfahrungssplitter sich a posteriori zu einem ganz anderen Bild zusammenfügen als alle früheren Konzepte erwarten ließen. Letztere waren vielmehr nur auf irdischen Gewinn gerichtet, vermochten aber keinen Sinn zu stiften. Die Schlußfolgerung ist bezeichnend: Jch resolvirte mich/ weder mehr nach Ehren noch Geld/ noch nach etwas anders das die Welt liebt/ zu trachten; ja ich name mir vor zu philosophieren/ und mich 46 Andere Aspekte des Machiavellismus bei Grimmelshausen erwägt Andrea Wicke: Grimmelshausens Stellung zu den politiktheoretischen Diskursen seiner Zeit. In: Simpliciana XXVI (2004), S. 297-320. 47 Vgl. Simplicissiumus Teutsch (wie Anm. 1), S. 374. 48 Ebd. S. 426 49 Ebd., S. 457f. <?page no="111"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 111 eines gottseligen Lebens zu befleissen/ zumalen meine Unbußfertigkeit zu bereuen/ und mich zu befleissen/ gleich meinem Vatter seel. auff die höchste Staffeln der Tugenden zu steigen. 50 Das Ich befindet sich also in der boethianischen Ausgangsposition der menschlichen ignorantia. Das heißt, alle Wege waren Irrwege, die aber immerhin dem einen Ziel dienten, sich als solche zu erweisen und eine Orientierung alternativen Stils nahezulegen. Sie erscheinen in der augenblicklichen Rationalisierung also als letzten Endes doch notwendige Schritte, Stufen (staffeln) hin zu dem nun anvisierten Ziel: der Philosophie als höchster Stufe der Tugend. Boethius als für das Mittelalter maßgebliche Autorität hatte diese Entthronung der Kontingenz als autonome Macht gültig vorgeführt, indem sie quasi als Durchgangserfahrung den kognitiven Aufstieg des Menschen zur Ordnung jenseits aller Zufälle leitet, also Werkzeug eines höheren Zwecks ist - der providentia dei. So eröffnet sich der Weg zur „adeptio divinitatis“ 51 - ein philosophischer Erkenntnisweg, verstanden als eine spirituelle Aufstiegsbewegung, die irdisches Wissen schließlich hinter sich läßt, um in dessen Überstiege vorzudringen. Im Simplicissimus-Roman wird dies in der Mummelsee-Passage geleistet. Daß es sich hier um eben diese Problematik menschlichen Wissens handelt, wird anhand eines besonders paradigmatischen Falls von curiösem Verhalten des Helden sinnfällig gemacht. Simplex versucht, der Anderwelt mit messenden Wissenschaften beizukommen. Durch die Sylphen wird er später darauf aufmerksam, daß er sich an Fragen herangewagt hat, die traditionell als dem menschlichen Verstand nicht kompatibel galten. Fragen nach dem Abstand zum Mittelpunkt der Erde, nach Quantität und Verteilung des Wassers etc. markierten bereits seit dem Mittelalter im philosophischen Diskurs die Grenzscheide zwischen dem Wißbaren (cum res aliqua certa ratione percipitur) und der Konjektur (cum incerta res latet). 52 Aus dem Bereich der hohen Wissenschaft sinken diese Fragen dann seit dem frühen 13. Jahrhundert Schritt für Schritt in die Populärkultur hinab und dienen dort der satirischen Kennzeichnung vanitativer Bemühungen des Menschen. 53 Diese satirische Betrachtung menschlicher Ver-messen-heit war durch den zeitgenössischen Leser zweifellos assoziierbar. Als nun Simplex „seine“ Anderwelt vermeint- 50 Ebd., S. 489. 51 Vgl. dazu u.a. Walter Haug: Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. In: Kontingenz. Hrsg. von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard. München 1998 (= Poetik und Hermeneutik Band XVII), S. 151-172, hier S. 154f. mit Verweis auf Boethius: Consolatio philosophiae. Krit. Ausgabe von L. Bieler. Turnholti 1957 (CCSL 94), III, 10, 23. 52 Vgl. den Gesamtzusammenhang bei Loris Sturlese: Die deutsche Philosophie im Mittelalter. München 1993, S. 27-29. 53 Vgl. z.B. die prudentielle Beantwortung der Physik-Fragen in der Bischofs-Episode des Pfaffen Amîs (V.100-180), die dann in wenig abgewandelter Form im Eulenspiegelbuch (28. Historie) wiederkehrt. <?page no="112"?> 112 Sabine Seelbach lich ganz auf sein „Schreibtáfelein“ 54 gebannt hat, muß er feststellen, daß sich sein Wissen in der Tat auf die Oberfläche des Phänomens beschränkt. Als er sie nämlich mittels der Steinwurf-Âventiure herausfordert - letzter Akt des superbus - wird ihm diese Grenzüberschreitung mit dem anfangs zitierten Schrecken vergolten. 55 Der Schock markiert geradezu diese Grenze, hinter welcher die Welt der irdischen Kontingenz als das schlechthin Negative zurückbleibt - so wie am Beginn der Schock die Überschreitung der Grenze hin zu dieser Welt markiert hatte. Zurück bleiben auch die Wissenschaften, die sich anhand der leitmotivischen Wachstafelüberschreibung lediglich als eine Palimpsestierung des Eigentlichen, also eine vielgestaltige, mehrstufige ars oblivionis erwiesen haben. Hier verliert diese ars oblivionis als kunstreiche irdische Selbstvergessenheit des Menschen ihre Macht. Wie in der Forschung bereits festgestellt wurde, gibt es in der Mummelsee-Episode eine auffällige Substitution der Lexik aus dem Sinnbezirk des Verstandes durch solche aus dem Sinnbezirk des Wunders, als dessen unhintergehbarer Ursprung Gott wieder ersteht. 56 Die entstehende Kluft zwischen gottgelenkter providentia und selbst gewählter menschlicher oblivio bietet schließlich den Freiraum zur Entlastung Gottes: „Was kann die Gúte Gottes darvor/ wenn euer einer sein selbst vergisset […].“ 57 So wird auf gut boethianisch die Perspektive der Theodizee wiedergewonnen. Der Aufstieg dorthin ähnelt den Stufen der contemplatio dei, wie sie für das Mittelalter z.B. Richard von St. Viktor entwirft. 58 Er erfolgt von der Wahrnehmung über deren Rationalisierung und die Selbstreflexion des Vernunftspotentials bis hin zum nicht mehr menschlich rationalisierbaren Offenbarungswissen, das einer höheren Logik folgt. Auf dieser Ebene, den Überstiegen des Wissens, „haben die Glaubenssätze über Gott denselben Rang wie unerklärte Naturphänomene.“ 59 Während der scholastische Rationalist jedoch seine Vernunft bis in die höchste Stufe hinauf stets mitzunehmen bestrebt ist, scheint die an den Instrumenten der Wissen- 54 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 490. 55 Vgl. oben, S. 1. 56 Vgl. zuletzt Rosemarie Zeller: Naturwunder, Wunderbücher und ihre Rolle in Grimmelshausens Werk: In: Simpliciana XXVI (2004), S. 77-103, hier S. 91-93. Zeller hat, wie andere vor ihr, auch auf den Zusammenhang dieser Passage des Romans mit dem zeitgenössischen Diskurs der Magia naturalis hingewiesen und teilweise auch präzise Quellen genannt. Vgl. ebd., S. 80 u.ö. Exakte Wissenschaftssystematik sowie Quellennachweise sind - wie verdienstlich auch immer - für die Argumentation nicht relevant, da m.E. die teils eklektisch herangezogenen Versatzstücke einzelner Wissenschaften bzw. Wissenschaftsverbände bei Grimmelshausen lediglich als Chiffren für bestimmte Denk- und Wissensformen fungieren. 57 Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 1), S. 499. 58 Richard von St. Viktor: Benjamin major. Kap. IV, 19. In: Marc-Aeilko Aris: Contemplatio. Philosophische Studien zm Traktat Benjamin major des Richard von St. Viktor. Frankfurt am Main 1976, S. [114]. Zitiert nach Uta Störmer-Caysa: Einführung in die mittelalterliche Mystik. Stuttgart 2004, S. 78 Anm. 24. 59 Uta Störmer-Caysa (wie Anm. 58), S. 81. <?page no="113"?> Kathartischer Schrecken und adeptio divinitatis 113 schaft orientierte ratio für Grimmelshausens Helden nichtig zu sein. Er läßt sie zurück. 5. Schluß und Ausblick Und so sieht sich das Individuum nach seinem Gang durch die Welt wiederum an seine Anfänge zurückverwiesen, d.h. auf jene exklusive Vernunft, die nur die Welt der Kontingenz nicht mehr vor, sondern hinter sich hat. Es ist nunmehr mit allen Wassern gewaschen, und ein jedes hat seine Spur/ Verformung an ihm hinterlassen - vielleicht eine alternative Interpretation der vermeintlichen Chimæra des Titelkupfers. Diese Form der Vernunft hat es nicht vermocht, die Welt in einer Weise sich anzuverwandeln, daß sie dem Menschen praktische Orientierungen zu geben vermochte. Am Ende steht wieder nur jenes „nosce te ipsum“. Und so ist es nur logisch, daß auch das Eremitendasein des Helden am Schluß des Simplicissimus Teutsch keinen festen Grund hat. Der Rückzug aus der Welt als Lebensentwurf des Vaters hat für die nächste Generation keine Tauglichkeit mehr. Diese muß sich dem Leben stellen, für das es kein Konzept gibt. Die folgenden Simplicianischen Schriften zeigen das Individuum als zurückgeworfen auf seine Erfahrung und die Methode des schrittweisen Rationalisierens und Verwerfens. Was für das Zeitalter des Humanismus noch ein optimistischer Weltentwurf war: die Generierbarkeit praktischer Klugheit aus exemplarischer Erfahrung der Geschichte und damit die Beherrschbarkeit von Gegenwart und Zukunft, wird auf das wahrhaft menschliche Maß zurückgestutzt: auf die Unhintergehbarkeit der Kontingenz - schreckliche Erkenntnis! <?page no="115"?> Wolfgang Müller-Funk Mesmerismus und Literatur Methodische Vorbemerkungen Am Ende seiner großen Untersuchung über die neuzeitliche Episteme der westlich-europäischen Kultur Die Ordnung der Dinge, die bekanntlich mit der prophetischen Verkündigung des Todes des Menschen endet, 1 versucht Michel Foucault die besondere Stellung der Psychoanalyse (und der Ethnologie) freizulegen. An einem entscheidenden Punkt überschreite die Psychoanalyse, so Foucault, jene kritische Funktion, wie sie allen Humanwissenschaften - der Autor ruft als Beispiel den Historizismus auf - zukommt, nämlich „die ständige kritische Beziehung für sich zur Geltung zu bringen, die sich zwischen der Geschichte und den Humanwissenschaften bewegt”. Um die Besonderheit der Psychoanalyse hervorzuheben, greift Foucault zu einer Metapher und weitet sie zu einem Tableau. Die Psychoanalyse, die das Unbewusste zur Sprache bringen lässt, schreitet „in der Richtung jenes grundlegenden Gebietes vorwärts, in dem sich die Beziehungen der Repräsentation und der Endlichkeit abspielen”. Die klassischen Humanwissenschaften hingegen gehen den umgekehrten Weg und wählen statt des Vorgriffs den Rückgriff: Während alle Humanwissenschaften mit ihm zugewandten Rücken zum Unbewussten gehen und darauf warten, dass es sich in dem Maße enthüllt, in dem sie gewissermaßen rückwärtsschreitend die Analyse des Bewusstseins vollzieht, zielt die Psychoanalyse direkt, mit Überlegung auf das Unbewusste. 2 Und das ist eben, das, „was […] sich entzieht, was mit der stummen Festigkeit einer Sache, eines in sich selbst abgeschlossenen Textes oder einer freien Stelle in einem sichtbaren Text existiert und was sich dadurch verteidigt”. Im Unterschied zu den klassischen Humanwissenschaften, die den Weg zum Unbewussten rückwärts zurücklegen und damit im Raum des Repräsentierbaren verbleiben, geht die Psychoanalyse nach vorwärts und überschreitet diese „auf der Seite der Endlichkeit”. Sie bleibt auf die „Abgeschlossenheit des Endlichen” hin „geöffnet” und im Hinblick auf die Repräsentation hin in einem dauernden Schwebezustand. 3 1 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 446. 2 Ders., a.a.O., S. 447. 3 Ders., a.a.O., S. 448. <?page no="116"?> Wolfgang Müller-Funk 116 In diesem Gebiet zeichnen sich drei Gestalten ab, die die historischen Humanwissenschaften gleichsam übersteigen: Die Gestalt der „stummen Wiederholung des Todes” im Lebensbereich der Funktionen und Normen. Die Gestalt des „nackten Anfangs der Lust” im Lebensbereich der Konflikte und Regeln. Die Gestalt der Sprache, die gleich Gesetz ist, im Lebensbereich der Bedeutungen und Systeme. 4 Ich möchte also danach fragen, inwieweit der mesmeristische Diskurs, der spätestens seit Stefans Zweigs Deutung als proto-psychoanalytisch interpretiert worden ist, dem Beschreibungsmodell folgt oderwahrscheinlicherquer zu diesem liegt. Zweig hat ja in seinem populären Essay Mesmer als „Winkelried der modernen Seelenkunde” 5 bezeichnet und damit auf die prekäre Außenseiter und Vorläuferrolle Mesmers im Hinblick auf Freud hingewiesen. In Foucaults streng klassifizierendem, synchronen Modell ist für eine solche Geschichte natürlich kein Platz, eine solche Geschichte müsste ja alle Umbenennungen und Umbesetzungen etwa im Sinne eines metaphorologischen Unternehmens, wie es Hans Blumenberg betrieben hat, beschreiben. Eine zweite Einschränkung im Hinblick ergibt sich daraus, dass sich Foucault bei der Beschreibung der Naturwissenschaften vornehmlich auf die Naturgeschichte und die mit ihr verbundene Klassifizierung beschränkt. Nun lässt sich aber im Falle des mesmeristischen Diskurses zeigen, wie dieser seinen Ausgangspunkt nicht von den Humanwissenschaften nimmt, diese in gewisser Weise auch nicht vorwegnimmt, sondern gleichsam einen häretischen, das heißt oftmals im Sinne Foucaults ausgegrenzten- Teils jenes System darstellt, der sich im Spannungsfeld von Medizin und (physikalischer) Naturwissenschaft sich etabliert. Insofern ist Mesmer auch ein „Winkelried” sämtlicher wissenschaftlicher - humanwie naturwissenschaftlicher Diskurse. Daraus ergibt sich auch jener „antimaterialistische Materialismus”, den Bettina Gruber für den späten Mesmerismus, etwa Kerns als so charakteristisch ansieht und der für die Esoterik wie für die Parapsychologie des 20. Jahrhunderts so charakteristisch geworden ist. 4 Ebd. 5 Stefan Zweig, Die Heilung des Geistes, a.a.O., S. 29. <?page no="117"?> Mesmerismus und Literatur 117 Die drei Sprünge des Franz Anton Mesmer: Mehrfachkodierungen und Rekontextualisierungen „Er kam zu früh und zu spät”, hat Stefan Zweig in dem schon erwähnten Essay geschrieben: damit möchte Zweig den kulturgeschichtlichen Ort auf doppelte Weise beschreiben: er kam zu früh im Hinblick auf die moderne Psychologie, genauer die Freudsche Psychoanalyse, und er kam zu spät, insofern seine Methoden an vormoderne magisch-schamanistische Praktiken anknüpfen. Damit wird freilich unhinterfragt eine sehr lineare Geschichte des Fortschritts vorausgesetzt, die Freuds Psychoanalyse, anders als Foucault, humanistisch deutete, als eine Form von Hermeneutik, die Licht ins Dunkel bringt. Wenn Dietrich von Engelhardt, dem wir einige sehr stupende und materialreiche Darstellungen zum Verhältnis von Mesmerismus und Romantik verdanken, im Zusammenhang mit Mesmer von einer „Gestalt der ausklingenden Aufklärung” spricht, dann wird deutlich, dass dessen Theorien und Praktiken schon im Lebenszeitalters dieses Mannes eine dramatische Wandlung erfahren haben. Ich möchte - gewiss vereinfachend und schematisierend - drei Phasen unterscheiden: • einen medizinisch-therapeutischen Mesmerismus, der mit der Philosophie der Aufklärung und mit der Newtonschen Physik operiert. (Wiener Periode, ca. 1773- 1778). • einen vorrevolutionären gesellschaftlichen-therapeutischen Mesmerismus, der die Harmonie von Gesellschaft und Kultur beschwört. (Pariser Periode, ca. 1778-1785, daran schließt sich eine zweite Phase des Mesmerismus durch die Gebrüder Puységur und den Hirten Victor Race, die Peter Sloterdijk in seinem Roman „Der Zauberbaum” verarbeitet hat). • einen romantischen esoterisch-therapeutischen Mesmerismus, sozusagen einen Mesmerismus nach bzw. ohne Mesmer. (Berliner Periode, 1801-1815; danach als zweite Phase - Ausbreitung und zunehmende Esoterisierung seit 1816,: Kerners Publikationen, darunter die Biographie 1856). Für unseren Zusammenhang ist nur die Spätphase der dritten Diskursgeschichte einschlägig. Um sich aber die erstaunliche Wandlungsfähigkeit und die ihr zugrunde liegende Mehrdeutigkeit des mesmeristischen Diskurses und der mit ihm einhergehenden Praktiken zu vergegenwärtigen, scheint es geboten, kurz auf die wichtigsten Merkmale dieser drei Perioden einzugehen. Ganz augenscheinlich startet Mesmer, der 1766 in Wien mit einer Arbeit über den Einfluss der Planeten auf den Gesundheitszustand des Menschen promoviert hatte, als Kind seiner Zeit mit einem durch und durch mechanischen Weltbild, bei dem das Verhältnis der Himmelskörper und die Wirkungsweise des Magneten eine zentrale Rolle spielen. Der „magische Materialist” (Reinhold Schneider), überträgt die Gesetze der Schwerkraft von der <?page no="118"?> Wolfgang Müller-Funk 118 Materie auf die psychischen Phänomene. Dem materiellen Magnetismus im Makrokosmos entspricht ein seelischer geistiger im Mikrokosmos. Das Fluidum dieses tierischen bzw. animalischen Magnetismus identifiziert Mesmer zunächst mit dem Newtonschen Äther. So steht jedes sensible Wesen zu jedem anderen in einem Verhältnis von Anziehung und Abstoßung. Aber zunächst geht Mesmer durchaus nicht davon aus, dass es sich dabei um eine Analogie oder um eine Metapher handelt, vielmehr unterlegt er die psychischen Prozesse gleichsam materialistisch durch die Lehre vom Fluidum, vom feinstofflichen Äther. Deshalb auch lässt er sich durch bestimmte technische Prozeduren beschleunigen und verstärken. Deshalb auch verwendet Mesmer bei seinen frühen „Kuren” extra für seine Therapie konstruierte Eisenmagneten, die den Patienten an Bauch (Solarplexus) und Beine angelegt werden. Theorie und Praxis scheinen sich zunächst glänzend zu bestätigen, bis er bemerkt, dass die konvulsivischen und kathartischen Wirkungen, die er bei Patientinnen und Patienten hervorruft, nicht vom Magneten abhängt, sondern auch durch bloßes Berühren und öfteres Bestreichen, ausgelöst werden kann. Damit ist aber ein Punkt erreicht, an dem die mechanische Wissenschaft seiner Zeit überschritten wird: denn die Wirkung verlagert sich vom „Fluidum” auf den Arzt und dessen spezifische „magnetische” Fähigkeiten: dieser wird gleichsam zum Medium des Mediums, eines Mediums das hier noch nicht als esoterisch verstanden wird; denn Mystik und Esoterik sind Mesmer, der zunächst katholische Theologie studiert, bis er sich nach einem Jus-Studium den Naturwissenschaften und der Medizin zuwendet, zunächst durchaus fremd. In diese Phase fallen die spektakulären Heilgeschichten der jungen Frauen Österlin und Maria Theresia Paradis, einer Musikerin, die er durch seine magnetische Therapie von ihrer Blindheit geheilt haben soll. In seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen medizinisch-naturwissenschaftlichen Diskurs verfängt sich der erfolgreiche Außenseiter in den immer gleichen Fallstricken. Weil er seine Heilmethode im Sinn dieses Diskurses naturwissenschaftlich „beweisen” will, akzeptiert er dessen Logik. Verdächtig ist indessen auch die subjektive Seite der Therapie, die große Nähe zwischen Arzt und Patient, oftmals Patientin, jene Nähe, die ganz offenkundig konstitutiv für die Therapie ist und die man später - in der Psychoanalyse - mit einem dynamischen intersubjektiven Modell der Übertragung und Gegenübertragung beschreibt. Beides zusammen ist für den Logozentrismus der klassischen Aufklärungsepoche zutiefst suspekt. Die Rolle, die der Magnetiseur hier einnimmt, ist, wenigstens vom Selbstverständnis der Beteiligten her betrachtet, die des naturwissenschaftlichen Operators und Manipulators, der sich nicht zuletzt äußerer Gerätschaften, aber auch seiner Hände und Augen bedient. Zwar wurden in der zweiten - Pariser - Periode die rationalistisch mechanische Erklärung des sog. tierischen Magnetismus und bis zu einem gewissen Grad auch die ärztliche Rolle beibehalten, beides findet sich jedoch im <?page no="119"?> Mesmerismus und Literatur 119 Sinn des Als-Ob der Analogie abgeschwächt. Insbesondere aber ändern sich, wie Robert Darnton gezeigt hat, die Ausführung der Therapie und deren gesellschaftliche Bedeutung. 6 Die Behandlung erfolgt nicht selten in einer Gruppe und in einem Salon. Ins Zentrum rückt das Baquet, ein „magnetisiertes” Wasserbecken, mit jede Patientin durch einen Eisenstab verbunden ist. Das Baquet schafft so einen gruppendynamischen Kreis. Aus dem Operator wird ein Arrangeur, eine Art von Zauberkünstler, der das halböffentliche Geschehen arrangiert und manipuliert, durch den Einsatz von Musik (Glasharfe), durch Düfte, durch Lichteffekte und durch eine phantastische Kleidung des Magnetiseurs, wie Carl Alexander Kluge, Professor der Chirurgie an der Königlich-Preußischen medizinisch-akademischen Akademie für das Militär im Rückblick schreibt: Mesmers Kur hatte aber auch wirklich ein sehr mysteriöses Ansehen; denn er wirkte nicht bloß durch eigenhändige Berührung oder durch einen in der Entfernung gehaltenen eisernen Stab, sondern setzte die Kranken auch durch Schnüre mit magnetisierte Bäumen in Verbindung, oder leitete aus verdeckten Wannen die unsichtbaren magnetischen Ausflüsse zu den im Kreise umhersitzenden Kranken, und versetzte sie hierdurch in ganz eigentümliche Zustände, die nicht Schlaf und nicht Wachen, und dennoch beides zugleich waren […] Zur Erhöhung der Wirkung herrschte noch überdies in dem, bis zum Dämmerlichte verdunkelten, dabei aber mit einer Menge Spiegel ausgeschmückten Kursaale eine tiefe, geheimnisvolle Stille, die nur durch den Ton der Harmonika, welche Mesmer selbst meisterhaft spielte, oder durch den eines Flügels unterbrochen wurde. 7 Wieder beginnt der wissenschaftliche Streit um Mesmers Kur und wieder endet der Streit so wie in Wien: Etwas, das es nicht gibt (eben das Fluidum), kann auch nichts bewirken - ähnliche Diskurslogiken kennt man heute z. B. von der Homöopathie. Stärker noch als in der Wien akzentuiert und Gegenstand boshafter Karikaturen, wird aber das sexuelle Moment, das durch die konvulsivischen Entladungen der vorwiegend weiblichen Patienten ungemein verstärkt wird, hervorgehoben. Im Verhältnis der organisierenden, manipulierenden und arrangierenden Mannes und der scheinbar passiven orgiastisch schreienden Frauen spiegelt sich in der Phantasie der Zeitgenossen der Sexualakt schlechthin. Gesellschaftlich präsent war die magnetische Kur auch schon in Wien, insofern sie zu einem allgemeinen Diskurs führte, der heutige Medien entzücken würde. Aber die Kur wird nunmehr kollektiv in Szene gesetzt und sie wird auch als ein stellvertretender gesellschaftlicher Akt verstanden. Mesmer organisiert seine Anhänger in sog. Harmonie-Gesellschaften (Societés d´ Harmonie) und das vorrevolutionäre Frankreich sieht darin so etwas wie ein gesellschaftliches Projekt: die Magnetisierung einer ganzen Gesellschaft auf dem Weg zu einer allgemeinen Harmonie. In diese Periode fällt auch die un- 6 Robert Darnton, Der Mesmerismus, a.a.O. 7 Carl Alexander Kluge, a.a.O., S. 45. <?page no="120"?> Wolfgang Müller-Funk 120 freiwillige Entdeckung der Hypnose durch die Gebrüder Puységur: anstatt in einen kathartischen Schreizustand zu geraten, verfiel ihr Patient, ein Bauernjunge, in einen Wachschlaf, in dem er als Medium wirkte und über die verschiedensten Dinge berichtete. Für beinahe zwei Jahrzehnte wird es still um den Mesmerismus: Der „verkannte, so herabgewürdigte Mesmer”, der aus dem vorrevolutionäten Frankreich ebenso blitzschnell verschwindet wie aus dem kaiserlich-aufgeklärten katholischen Wien, ist vergessen. 1802 schrieb der Mesmerist Wienholt: Die Schriftsteller unter den Ärzten, die die Sache noch der Erwähnung würdigten, sprachen nur mit Widerwillen und Verachtung davon. Im gemeinen Leben dachte man des Magnetismus nur noch, um darüber zu lachen und zu spotten. 8 Aber dann beginnt, ganz unvermutet und nachrevolutionär, der dritte Sprung des Mesmerismus, seine Rekontextualisierung und Neuerfindung durch Naturphilosophie und deutsche Romantik. Magnetiseure und mesmeristische Seancen bevölkern die literarischen Texte eines Jean Pauls, eines Hoffmann, eines Kleist, um nur einige prominente Autoren zu nennen. Eine neue metaphysische nachkantische Weltanschauung hat in Deutschland das Licht der Welt erblickt; die Naturphilosophie, wie sie in Schelling ihren theoretisch schärfsten Programmatiker gefunden hat. Phänomene wie die (unsichtbare) Elektrizität, der Galvanismus und noch immer der Magnetismus führen zu einem ganz neuen Weltbild. An die Stelle eines mechanistischen Weltmodels tritt ein holistisch-organisches, in dem alles mit allem verbunden und die Natur selbst als eine autopoietische Kraft verstanden wird, die von unbewussten Anfängen ihren Ausgang nimmt und sich zu immer höheren und bewussteren Form des Seins aufschwingt. Nicht länger wird Welt als ein Uhr-ähnliches System beschrieben und erfahren, vielmehr wird die Welt, in der Innen und Außen analogisch und zugleich aufeinander bezogen sind, als eine natura naturans, eine selbstgebärende Kraft, selbst als eine Art Mega-Subjekt begriffen. Mit seiner Analogie von Innen und Außen, von Mikrokosmos und Makrokosmos ist dieses pantheistische System wie geschaffen für die Integration des Mesmerismus, der die eigenen Annahmen glänzend zu bestätigen scheint. In dieser ersten Phase der romantischen Periode dominiert zunächst noch ganz und gar die ärztliche Therapie. Aus dem Buch des schon erwähnten Wienholt und der darin enthaltenen Krankengeschichten lässt sich, trotz aller Unterschiede heutiger und damaliger Medizin-Diskurse erschließen, dass es sich bei den Kranken um rund 2/ 3 Frauen (32 von 51) handelte, wobei ein signifikanter Anteil aus jüngeren, kurz vor der Verheiratung stehenden bzw. kurz verheirateten Frauen bestand. Freuds späteres Personal. 9 Die Diagnose der Hysterie ist au- 8 Wienholt, a.a.O. 9 Ebd. <?page no="121"?> Mesmerismus und Literatur 121 genfällig oft, zusammen mit Hypochondrie, Epilepsie, Ohnmacht, Schlaf- und Regelstörungen. Eines ist aber - und das gilt für alle drei Perioden des Mesmerismus - sinnfällig: die Menschen, die sich unter seine Obhut geben - Gesundheit mag dabei ebenso sehr eine Rolle spielen wie Neugierde, Sinnsuche und gesellschaftliche Repräsentanz - sind keine auch nur potentiellen Bewohner jener neuen Kasernen, die Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beschrieben hat. Erst in der zweiten Phase der romantischen Periode, in deren Zentrum eben Kerners Buch über die Seherin von Prevorst steht, wird eben jener letzte dramatische Umschlag des Mesmerismus deutlich, der den Magnetismus zur zentralen Quelle von Okkultismus und Esoterik avancieren lässt. Im Diskurs - das lässt sich anhand von Schellings philosophischer Entwicklung sehr schön aufzeigen - tritt die „gottlose” Naturphilosophie hinter eine esoterische Deutung christlicher Glaubensbefunde zurück. An die Stelle des einen großen Geistes, der in der Natur schlummert, tritt nun eine Natur, die mit Geistern bevölkern ist, mit Engeln, Dämonen und Verstorbenen. Nicht mehr Operator, nicht mehr Arrangeur und Spielleiter, nicht mehr naturphilosophischer Therapeut will nunmehr der animalische Magnetiseur sein, sondern der beredete Zeuge eines selbstläufigen Geschehens. In den Mittelpunkt rückt nunmehr die Kranke selbst, als ein Medium, in dem sich das Dasein einer überirdischen Geisterwelt offenbart. Nicht mehr die Heilung steht im Mittelpunkt, sondern die sensationelle religiöse Verkündung, das Dasein einer Geisterwelt, das wissenschaftlich bewiesen sein will und soll. Der Magnetiseur wird zum Propheten, Aufschreiber und Dokumentaristen und zugleich zum medizinisch-naturwissenschaftlichen Interpreten eines Geschehens, das alle aufklärerische Rationalität übersteigt und sprengt und doch wiederum in kausale Zusammenhänge gebracht wird. Wurde das für die Aufklärung Befremdliche und Anstößige - das Unerklärliche, Wunderbare und Mysteriöse, in ein lückenloses mechanisches vor-hermeneutisches Denksystem integriert, so taucht am Ende - unter Verweis auf die magnetischen Phänomene - ein Diskurs auf, in der das Dasein der Geisterwelt gleichsam wissenschaftlich bewiesen wird. Denn, wie wir noch sehen werden, ist die moderne Esoterik, sozusagen von Kerner bis zum neuen Wassermann-Zeitalter, nicht einfach die Wiederkehr des Alten, sondern in sie ist - als „Stil” - der Gestus des Wissenschaftlichen eingeschrieben. Strukturell kennt dieser Diskurs auch nicht das Geheimnis, im Zentrum steht dessen gleichsam rationale und „empirische” Auflösung. In diesem Sinne muss man Kerners spektakulären Text lesen, der noch heute, in retuschierter und aktualisiert Form im zeitgeistigen Esoterik-Diskurs herumgeistert. Seiner Struktur nach, und dies soll der abschließende Teil zeigen, folgt er weder der Logik der Humanwissenschaften, noch jener der Psychoanalyse, wie sie Foucault beschrieben hat. Er ist zwar vorwärts gerichtet, aber die Schwebelage, wie sie für Foucault für die Psychoanalyse angenommen hat, ist ihm gänzlich fremd. <?page no="122"?> Wolfgang Müller-Funk 122 Mesmerismus als medizinwissenschaftlicher Okkultismus Bereits der sperrige und weitschweifige Titel von Kerners berühmtestem Buch macht die neue Kontextualisierung des Mesmerismus deutlich. In ihm geht es nicht mehr darum, eine unkonventionelle, mit den Methoden der damaligen Medizin unvereinbare Heilmethode zu verteidigen und es geht auch nicht mehr um die Perspektive einer harmonisierten Gesellschaft oder einer wechselseitigen Begründung von romantischer Naturphilosophie und Magnetismus, sondern die magnetischen Phänomene werden zum quasiwissenschaftlichen beweis für die Existenz einer meta-physischen, wenn man so will feinstofflichen jenseitigen Welt. Mit dem Haupttitel Die Seherin von Prevorst wird ein breites Spektrum von Assoziationen sichtbar, das die antike Prophetie ebenso einschließt wie das Phänomen des Visuellen. Der Kernersche Okkultismus präsentiert sich also als eine post-wissenschaftliche Position, die zum einen die Postulate der Wissenschaft (Beweis, Tatsachenerstellung) ernst nimmt und zum anderen die Wissenschaft gleichsam überbietet. Die Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere - so der ausufernden Untertitel, der Subtext, wenn man so will - konstitutiv eine neue Wissenschaft. Der Okkultismus begreift sich als eine Wissenschaft jener Bereiche, die die Wissenschaft bisher ausgegrenzt hat, weil sie sie auf Grund ihrer Logik nicht als ihren Gegenstand begreifen kann. Denn das Wunder - und die in der Seherin beschriebenen Fallgeschichten haben zweifelsohne wunderbaren Charakter - zeichnet sich eben dadurch aus, dass es eigentlich nicht möglich ist, dass es nicht intersubjektiv ist und sich nicht verlässlich ereignet. Das Wunderbare ist, wie Ludwig Tiecks kurze Schrift über Shakespeare anzeigt, 10 - seit den Anfängen der Romantik, aber spielerisch eigentlich bereits on der Spätaufklärung - im symbolischen Raum der Literatur beheimatet. Im Spiel der Illusionen und der Phantasie entfaltet es seine Kraft und lässt den Besucher, die Besucherin des imaginären Raumes für die Dauer des Besuchs „vergessen”, dass er/ sie ein aufgeklärter Mensch ist. Deshalb auch stören wir uns nicht daran, wenn der Geist von Hamlets Vater spricht, zumal uns ja eine psychologische Erklärung zur Verfügung steht, die das Geisterreich als ein inneres psychisches Geschehen - und nur als solches - deutet. Aus dem Diskurs der Wissenschaft ist das Außergewöhnliche, Unwahrscheinliche und Mysteriöse seit der beginnenden Neuzeit ausgeschlossen. Worum es Kerner - im Gegensatz zu einem literarisch-ästhetischen Diskurs über das Wunderbare - geht, ist es hingegen, dieses Übernatürliche, das nicht zufällig zu den Grundbeständen jedweder Religion gehört, in den modernen wissenschaftlichen Diskurs zu integrieren. Dass die Geschichten der Anna Katharina Emmerich (die Visionen und Stigmata jener armen Bäuerin und Nonnen, deren Lebensgeschichte Brentano 1833 in seinem Buch Das bit- 10 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Die Farbe Blau, a.a.O., S. 165-182. <?page no="123"?> Mesmerismus und Literatur 123 tere Leiden unseres Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich, 1833. Fortsetzung 1852 festgehalten hat) so wie jene der Friedericke Hauffe ein derartiges Aufsehen erregten und die damalige (mediale) Öffentlichkeit mobilisierten (wie das nur mit dem Fall Kaspar Hauser zu vergleichen ist), hängt ursächlich damit zusammen, dass sie dem Gemeinverstand einer früh-szientistischen Gesellschaft eo ipso widersprechen. Der Reiz der von Kerner beschriebenen außerordentlichen Fähigkeiten und Begabungen der ungebildeten jungen Frau ergibt sich also gerade aus dem Kontrast zu der spätestens seit dem 18. Jahrhundert etablierten Rationalität. Im Eingang des mehrhundertseitigen Berichtes versammelt der romantische Dichterarzt noch einmal all jene Motive, die für die romantische Kontextualisierung des Mesmerismus so charakteristisch sind. Der Text operiert rhetorisch und strategisch auf mehreren Ebenen. In einer für uns heute überholt erscheinenden Leserstrategie wendet er sich eindringlich an den Leser bzw. die Leserin, appelliert damit an dessen/ deren eigene Erfahrungswelt: „Noch weiter fühlst du, dass vermöge dieses innern Lebens der Mensch in einer alten ewigen Verbindung mit der Natur steht, von der ihn die einseitige Ausbildung des Gehirnlebens nur scheinbar freistellen kann.” 11 (19) Hier wird also, in gut naturphilososphischer Manier, zunächst die Einheit von Mensch und Natur beschworen, die sich nicht aus dem äußeren, sondern vielmehr aus dem „inneren Leben” des Menschen ergibt. Die Pointe besteht darin, dass dieses Innenleben zwar mit dem äußeren geschäftigen Leben des Menschen in Kontrast steht, keineswegs aber mit einer elementaren Außenwelt, die von Steinen, Pflanzen, Tieren, Engeln und Verstorbenen bevölkert ist. Mit dieser „Außenwelt” steht der magnetische Mensch in einem ständigen, wenn auch nicht ganz zuverlässigen Rapport. Insofern also diese Erfahrung nicht als auf einen psychischen Innenraum beschränkt gesehen und nicht als Manifestation einer zwischen Unbewusstem und Bewussten irrlichternden seelischen Binnendynamik verstanden wird, stehen Esoterik und Okkultismus nicht erst seit Kerner in einem konträren Verhältnis zu den Humanwissenschaften wie zur Psychoanalyse, wie sie etwa Foucault bestimmt hat. Diese Natur wird indes nicht nur als eine - latente - Manifestation des Geistes verstanden, sondern darüber hinaus als eine Wohnstatt der Geister gedeutet. Es ist eine Natur, die von Wesen bevölkert ist, die sich der alltäglichen wie der wissenschaftlichen Wahrnehmung entzieht. Sie eröffnet sich nur außergewöhnlichen Wesen, die den Zustand der Hellsicht, der Clairvoyance erreichen. Dieses wird zu einem Kommunikationsmedium, das uns mit einer anderen Welt, der Welt der Geister, d.h. auch der Verstorbenen, verbindet und verknüpft. So schreibt Gotthilf Heinrich Schubert in einem ihm zugeschriebenen und in den Fließtext eingeschobenen Kapitel: 11 Justinus Kerner, Werke, Bd. V, S. 19. <?page no="124"?> Wolfgang Müller-Funk 124 „Die Geschichte des magnetischen Hellsehens und einiger mit diesem verwandten Zustände einer krankhaften Art eröffnet uns einige tiefe Blicke in das Geheimnis des beständigen, lebendigen Verkehrs unsers eigenen Wesens mit den Elementen der der äußern, irdischen Natur.” 12 (101) Schubert benennt noch ein weiteres Moment, das für den romantischen, d.h. post-aufklärerischen Diskurs so entscheidend ist: die veränderte Wahrnehmung der Krankheit, die hier insofern - wie auch in der Kunsteine Aufwertung erfährt, als sie es ist, die außerordentliche Fähigkeiten freisetzt. In einem rationalitätskritischen Diskurs (der den von Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beschriebenen Mechanismus gleichsam subvertiert und umkehrt) wird die Abweichung von der Norm des Rational-Gesunden zum Ausweis einer höheren Erkenntnis: Der „reinste, höchste Grad” des magnetischen Zustandes ist synbzw. transästhetisch, „kein Schauen, Hören, Fühlen, es ist aus allen dreien zusammengesetzt, mehr als alles Dreies, eine Empfindung unmittelbarer Gewissheit, eine Ansicht des wahrhaftesten, eigenen Lebens und der Natur.” 13 (33) Das ist freilich eine Weltschau, die mit dem nüchternen Blick des Rationalismus wie des Empirismus, den beiden freundfeindlichen Brüdern der Philosophie seit der Aufklärung, kontrastiert. Die gesamte Textur verschränkt einen quasi- und hyperwissenschaftlichen Diskurs, der mit Beweisen, Tatsachenfeststellungen und Diagnosen operiert mit einem außerwissenschaftlichen, der direkt an das Empfinden der Leserschaft appelliert. Die strukturell wissenschaftlichen Strategien, die Kerner in seinem bericht verwendet, lassen sich grob folgendermaßen klassifizieren: • Verweis auf historische Fälle in Antike und Mittelalter (1) • Berufung auf Autorität zur Beglaubigung des eigenen Diskurses (2) • Medizinische Diagnose als Ausweis der eigenen Wissenschaftlichkeit (3) • Distanzierte Fallgeschichte aus der Perspektive des teilnehmenden Beobachters (4) • Aufrufung von Tatzeugen, die die jeweiligen Ereignisse verbürgen (5) Ad 1. Zum Beweis der Existenz der beschriebenen Phänomene verweist Kerner auf historische Fälle von Somnambulismus, Hellseherei und prophetischer Gabe in der Antike und im Mittelalter. Dadurch wird sichtbar, dass es eine lange Tradition dieser Phänomene gibt, die nur durch eine kurze Periode eines ungläubigen, engstirnigen Rationalismus unterbrochen worden ist. Der Bericht verweist ausdrücklich auf die Tatsache, dass Frauen mit ähnlichen Gaben wie Friedericke Hauffe im Mittelalter als Hexen verbrannt worden sind. Kerner vermeidet indes eine direkte Polemik mit der rationalisti- 12 Ders., a.a.O., Bd. V, S. 101. 13 Ders., a.a.O., Bd. V, S. 33. <?page no="125"?> Mesmerismus und Literatur 125 schen Schulmedizin seiner Zeit, diese taucht nur indirekt, am Rande auf ebenso wie die Gerüchte, die die Kerners Wunderheilerin hervorruft. Ad 2. Um die Autorität seines Berichtes und des in ihm eingeschriebenen Diskurses zu steigern, beruft er sich auf Autoritäten seiner Zeit, etwa auf Herder und Helmont, vor allem aber auf Ennemoser, Jakob Böhme, Schelling, Eschenmayer und Gotthilf Heinrich Schubert, dem der Bericht übrigens gewidmet ist, ein verfahren, das im wissenschaftlichen und theoretischen Diskurs unserer Tage noch immer gang und gebe ist: wenn das eigene Sprechen riskant und von (wissenschaftlicher) Exkommunikation bedroht ist, dann ist es ratsam, sich auf derlei Autoritäten zu berufen, ja noch besser, sie zum Ort des Geschehens einzuladen, weswegen Weinsberg bzw. das magnetische Medium Friedericke Hauffe zum Besuchsziel aller naturphilosophischen Prominenz wird, die das Ereignis wissenschaftlich und medial beglaubigt. Deren Gutachten werden, wie jenes von Schubert, in den Bericht einbezogen und ergeben sozusagen ein Beziehungsgefüge, das man als einen romantischen Intertext bezeichnen könnte. In diesen sind übrigens auch immer wieder Aussagen der Friedericke Hauffe selbst integriert. Ad 3. Der umfangreiche, in zwei Teile gegliederte Text enthält eine ausführliche Krankengeschichte, wobei auch die periphere Herkunft der jungen Frau im Sinn einer magnetischen Analyse der Topographie erfolgt (Nähe zum Gebirge, Abgelegenheit und Einsamkeit des Ortes). Die Krankengeschichte ist völlig unsensationell und der zeitgenössischen Leserschaft weithin vertraut: Friederike Haufe ist die Tochter aus mittelständischer Familie (Vater: Jäger und Revierförster). Ihre relative beschränkte, auf religiöse Belange eingeschränkte Bildung wird ebenso hervorgehoben wie ihre frühe nervliche Labilität (Veitstänze, Paroxysmen). Die psychische Krise, die zugleich die telepathischen Fähigkeiten freisetzt, wird offenkundig durch das Verlöbnis und die anschließende Verheiratung ausgelöst. Es erfolgt ein Rückzug ins Innere, verbunden mit diversen körperlichen Symptomen, die Kerner scharfsinnig und proto-psychoanalytisch als „Zwang gegen sich” interpretiert, die sich in unerträglichen Kopfschmerzen, Krämpfen und Menstruationsbeschwerden, Schweißausbruch, Durchfall, Fieber, Erschöpfung, Abmagerung aber auch in prophetischen Träumen äußert. Kerner scheut vor der Analyse des interfamiliären Dramas zugunsten einer naturphilosophischen Deutung zurück, die wiederum die ärztliche Diagnostik bewusst überschreitet. Das Leben der Friedericke Hauffe wird selbst zu einer überirdischen Existenz - sie führe das „Leben einer Sylphe” - und ihr Leib lebe von einer fremden Energie, die ihr von außen zuströme. <?page no="126"?> Wolfgang Müller-Funk 126 Sie war ein im Augenblicke des Sterbens durch irgendeine Fixierung zwischen Sterben und Leben zurückgehaltener Mensch, der schon mehr in die Welt, die nun von ihm, als die, die hinter ihm liegt, zu sehen fähig ist. 14 Ad 4: Die Intervention des Nervenarztes, Kerners, wird im Sinne konventioneller, sodann aber auch magnetischer Heilmethoden beschrieben. Dabei tritt zutage, dass diese gleichsam nur den für das zeitgenössische Publikum vertrauten Hintergrund eines Geschehens bilden, von dem Kerner selbst weiß, dass es, längst zum öffentlichen Leben und Gegenstand wissenschaftlicher Kontroverse geworden (weshalb er auch gleich zu Eingang auf die Gefahr der Instrumentalisierung des Falles hinweist), der Logik der Instrumentalisierung unterliegt. Schon bald übernimmt Kerner die Rolle des teilnehmenden und auch teilnahmsvollen Beobachters, ja vermutlich des spirituellen Trainers; die Geschichte ihrer Krankheit tritt ebenso in den Hintergrund wie die Geschichte ihrer - mehr oder minder - erfolglosen Behandlung, die zeitweilig zu einer Stabilisierung und Schmerzlinderung geführt zu haben scheint, aber letztendlich auf der Symptomebene verblieb. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Kerner und das ihn umgebende wissenschaftliche Team unter der Hand, gewiss nicht intentional, gar nicht primär an der Heilung der telepathischen Frau interessiert waren, weil eben die Krankheit und die wundersamen Fähigkeiten der Frau, dieses „frei gewordenen Nervengeistes” zwei Seiten ein und derselben Medaille zu bilden scheinen. Die esoterisch gewordene Ronantik will den Geist nicht austreiben, von dem sie und ihr Publikum zehren. Überhaupt fällt auf, dass Kerner die eigene Rolle in diesem dynamischen Prozess unterschlägt, all jene Phänomene, die Freud später als Übertragung und Gegenübertragung beschreiben wird sowie auch die Tatsache, dass es der Arzt ist, der das das geschehen in einen interpretatorischen Rahmen fügt und dadurch auf doppelte Weise zum Autor wird. In gewisser Weise ist Friederike Hauffe ein Medium im doppelten Sinn, als Zwischenstelle zwischen irdischer Welt und mittlerer Geisterwelt; sie ist aber auch ein Medium ohne dass Kerner nicht schreiben könnte. Die Schilderungen dieser wunderbaren Eigenschaften nehmen den größten Teil in dem Buch ein. Der Körper der lebenden Toten, wird zum Medium von äußeren - natürlichen wie übernatürlichen - Kräften. Ausgangspunkt ist, bei Absenz gegenüber ihrer unmittelbaren Umgebung, die Empfänglichkeit für siderische und magnetische Einflüsse, für Metall und Edelsteine, für die Vorgänge in ihrem Körper, ihr Kontakt mit verstorbenen Menschen und ihr Rapport mit unbekannten Menschen in räumlicher Entfernung. Spektakulär - und das war schon im Fall von Race, dem Patienten der Puységurs, auffällig - ist auch die Tatsache, dass die Patientin eine eigene innere Privatsprache entwickelt, die Kerner auch gleich mit dem Orient als dem Inbegriff des Rätsel- und vexierhaft Fremden in Beziehung setzt. 14 Ders., a.a.O., Bd. V, S. 58. <?page no="127"?> Mesmerismus und Literatur 127 Ad 5: In der Geschichte erfolgt eine dramatische Kehrtwendung insofern, als aus der Patientin eine Wunderheilerin wird, die zum Beispiel eine junge traumatisierte, kurz verheiratete Frau, die immer wieder von Stimmen heimgesucht wird, telepathisch heilt. Spektakulär sind auch einige der sog. Tatsachenberichte im zweiten Teil von Kerners Mitteilungen, wovon der erste vielleicht der spektakulärste ist. Es handelt sich um einen Traum der Patientin, in der diese scheinbar ganz exakt ein Geschehen beschreibt, das sich vor Jahren in dem ihr unbekannten Nachbarhause zugetragen hat: es geht um die Beseitigung von Akten. Auf Grund der Angaben der Frau werden diese Akten, die mit einem Geschäftsbankrott zusammenhängen, denn auch gefunden, was durch ein Protokoll des betreffenden Oberamtsrichters im Buch auch bestätig wird, es ist die Zeugenaussage eines scheinbar Unbefangenen, der weder mit dem Magnetismus noch mit den telepathischen Gaben der Seherin in irgendeinem Zusammenhang steht. Weil diese Phänomene nicht gesetzmäßig und verallgemeinerbar sind, kommt der - aus der juristischen Praxis bekannten - Zeugenaussage so besondere Bedeutung zu. Das Wunder ist wie das kriminelle Geschehen außergewöhnlich, es ist nicht beliebig reproduzierbar wie das naturwissenschaftliche Experiment, es kann höchstens beglaubigt werden. So kommt es zu einem seltsamen Rollenwandel, die Patientin wird zur Prophetin und Wunderheilerin, der Arzt zum vermeintlichen Berichterstatter, der freilich ausblendet, wie weit er im Sinne einer wechselseitigen Übertragung selbst der Mitautor all der wundersamen Erscheinungen ist. Friedericke wird nicht nur zum Medium einer mittleren Welt zwischen irdischer und himmlischer Welt, sondern auch zu einem Medium für einen modernen nach-aufklärerischen Menschentypus, der eine Botschaft empfängt, die ihn - nach der Entzauberung der Welt durch Naturwissenschaft, und skeptische Philosophie - wieder auf scheinbar festem Boden Fuß fassen lässt. Insofern ist die esoterisch gewordene Romantik nur die Zuspitzung eines Versprechens, das schon in der frühen romantischen Naturphilosophie angelegt war: das Versprechen von der Versöhnung von Mensch und Natur. In den 1830er Jahren sind die Einflüsse einer spezifisch christlichen Esoterik unübersehbar: und Friederike Hauffe, das moderne Medium, ist nichts anderes als eine Stimme prophetischer Offenbarung. Esoterik ist der kulturell durchaus nicht unattraktive Versuch, religiöse und spirituelle Bestände in den Symbolbestand der modernen Kultur zu integrieren, indem ihre „wissenschaftliche” Evidenz bewiesen werden soll. Freilich erweisen sich derlei Phänomene als widerständig gegenüber den wissenschaftlichen Zuschreibungen. Das gilt auch vice versa. In diesem Widerspruch lebt die jene Disziplin, die sich selbst als Parapsychologie bezeichnet. Die Struktur des magischen antimaterialistischen Materialismus lässt sich über Theosophie und Anthroposophie bis hin zum New Age verfolgen. Mittlerweile haben sich die Visionen in diesem Bereich global geweitet, so dass uns in diesen unendlichen Welten religiöse Be- <?page no="128"?> Wolfgang Müller-Funk 128 stände aus allen Teilen der Erde begegnen: vermutlich hat Indien, das Nochimmer-Fremde, dem Okzident dabei den Rang abgelaufen. Das Buch Kerners endet indes, anders, als die selbst verordnete gute Laune des Esoterikers unserer Tage damit, dass die Poesie das Schlusswort behält, die die Melancholie des Romantikers (das was Freud als Todessehnsucht bezeichnen wird) zur Sprache bringt, speziell jenem Kerners und eine Absage an das Diesseits impliziert: Leb wohl! Was auch die Menschen sagen, Mich rühret nicht die Erde an, Gar leicht kann ihre Schwere tragen, Wer leicht ihr Nichts erfassen kann. 15 Zuvor aber ist dem Leser noch ein naturwissenschaftlicher Beweis für die Qualität der Hauffeschen Visionen erbracht worden, die noch einmal den Kontrastreichum des romantischen Diskurses über Krankheit, Medizin und Okkultismus zutage fördert: Den Schädel fand Dr. Off bewunderungswürdig schön und vollkommen, dass er behauptete: noch nie ein gesunderes und schöner gebildetes Gehirn in einem Menschen getroffen zu haben. An dem Rückenmark, das seiner ganzen Länge nach untersucht wurde, und an den Nerven der Brust und des Unterleibes war nicht die mindeste krankhafte Veränderung sichtbar. 16 Die Frau mit dem makellosen Gehirn bleibt existent; sie sei, schreibt Kerner, „ nach ihrem Tode wegen einer gewissen Angelegenheit, die eines Schutzgeistes würdig war, siebenmal ihrer ältesten Schwester erschienen. Diese merkwürdige Geschichte ihres Erscheinens eignet sich aber wegen Privatverhältnissen nicht zur öffentlichen Mitteilung . 17 Wie wir, Foucault zufolge Menschen im Zeitalter des verschwindenden Menschen, derartige Mitteilungen interpretieren, ist höchst unterschiedlich. Kaum denkbar, dass wir unter den gegebenen geistigen und kulturellen Bedingungen jemals zu einer Einigung all jener Phänomene gelangen werden, die Kerner - und das ist wohl ein Verdienst des Buches - zum ersten Mal systematisch versammelt und in den Kontext der Medizinwissenschaften seiner Zeit gestellt hat. Weder lassen sie sich verifizieren, noch lassen sie sich widerlegen, eben weil sie quer liegen, quer zu den gesetzmäßigen Erklärungen der Naturwissenschaften, quer zu den interpretierenden Humanwissenschaften, quer zu jener Psychoanalyse, in der das von den Romantikern so beschworene innere Leben eher als ein dynmanisches, aber letztendlich intransparentes Geschehen erscheint, von dem wir angetrieben werden, das sich aber an entscheidender Stelle dem naturwissenschaftlichen Erklären wie dem hermeneutischen Verstehen gleichermaßen entzieht. 15 Ders., a.a.O., Bd. V, S. 245. 16 Ders., a.a.O., Bd. V, S. 244. 17 Ebd. <?page no="129"?> Mesmerismus und Literatur 129 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gegenwärtiger als der Geist der Seherin von Prevorst erscheinen von daher jene Klecksographien Kerners zu sein, die mit dem Unwillentlichen und Willkürlichen spielen, jene teuflischen Nachtschmetterlinge, die Artverwandte von Goyas Monstruos zu sein scheinen: Als ich vor dem Tintenfaß Wieder mit der Feder saß Und mit solcher tief gestochen In die Tinte bis zum Satz, Kam etwas herausgekrochen Wie der Schwanz von einer Katz’. 18 Mit diesem an E.T.A. Hoffmann erinnernden Schreibgestus, nähert sich die Romantik der Psychoanalyse und jener Grenze, die Foucault beschreibt. Es ist die Literatur im Gefolge der Romantik, die diese umgekehrte Bewegung semiologisch, in sprachlicher Mimese, selbst vollzieht, die Foucault auf der semantischen Ebene so charakteristisch für die Psychoanalyse hält. In ihr irrlichtern die Phänomen, die der Arzt Justinus Kerner beschreibt. Man könnte auch sagen, der proto-surrealistische Schreiber und der Arzt aus dem 18. Jahrhundert leben nicht in derselben Welt und in derselben Zeit. 18 Justinus Kerner, Ausgewählte Werke, a.a.O., S. 430. <?page no="130"?> Wolfgang Müller-Funk 130 Literaturverzeichnis Justinus Kerner, Werke, 6 Bde, hrsg. von Raimund Pissin, Berlin-Leipzig: Deutsches Verlagshaus Bong o. J. Das Leben des Justinus Kerner. Erzählt von ihm und seiner Tochter Marie, München: Kösel 1967. Justinus Kerner, Ausgewählte Werke, herausgegeben von Gunter Grimm, Stuttgart: Reclam 1981. Robert Darnton, Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, München: Hanser 1983. Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Aus dem amerikanischen Englisch von Gudrun Theusner-Stampa, 2. verbesserte Auflage, Zürich: Diogenes 1996, S. 89-161. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt/ Main. Suhrkamp 1971. Bettina Gruber, Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur, Paderborn: Schöningh 2000. Otto-Joachim Grüsser, Justinus Kerner 1786-1862. Arzt - Poet - Geisterseher, Berlin- Heidelberg-New York 1987. Justnus Kerner, Marbacher Magazin, Sonderheft, H 39/ 1986. Carl Alexander Ferdinand Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel, Berlin: C. Salfeld 1811. Wolfgang Müller-Funk, Die Farbe Blau. Untersuchungen zur Epistemologie des Romantischen, Wien: Turia&Kant 2000. Heinz Scott (Hg,), Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Wiesbaden: Steiner 1985. Thomas Wolf, Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt, Tübingen: Max Niemeyer 2001, S. 49-114. Arnold Wienholt, Heilkraft des thierischen Magnetismus, 1802. Stefan Zweig, Die Heilung durch den Geist, Frankfurt/ Main: Fischer 1982, S. 29-124. <?page no="131"?> Andrea Rudolph Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive. Politische Metaphern in Heinrich Laubes „Die Bernsteinhexe“ (1844) Mein Beitrag behandelt die bislang kaum diskutierte Indienstnahme der Hexenmotivik für das nationale Drama, genauer die Frage, welchen Platz Laube dem Okkult-Irrationalen in der Gesellschaft anwies. Nachstehende Ausführungen wollen nicht nur Texte heller beleuchten, die bisher im Schatten der Forschung lagen. Indem sie den Umgang Laubes mit magischem Gedächtnisvorrat nachzeichnen, gehen sie der Frage nach, was es für die künstlerische Literatur bedeutet, dass es magische Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit gibt. Eine sorgfältige Lektüre der Einleitung und des vermeintlich durch Marginalität unbedeutenden Dramas kann Fragen explizit machen, die Literaturwissenschaftler meist anderen überlassen haben. Mit seiner Einleitung, die er dem Druck seiner Bernsteinhexe 1846 vorangestellte 1 , bot Laube seiner Leserschaft einen Zugang zu den Konstellationen, die ihn zwei Jahre zuvor bestimmt hatten, Wilhelm Meinholds Novelle Maria Schweidler. Die Bernsteinhexe. Der interessanteste aller, bisher bekannten Hexenprocesse; nach einer defecten Handschrift ihres Vaters, des Pfarrers Abraham Schweidler in Coserow auf Usedom (Berlin, 1843) für die Bühne zu bearbeiten. Vor dem Hintergrund seiner Einleitung gewinnt Laubes stoffliche Bearbeitung an theoretischem Profil, während umgekehrt vor seinem Drama auch sein Einleitungstext gewinnt. Dieser zitiert die Nationaltheaterbewegung mit ihrer sich abzeichnenden Öffnung gegenüber nationalen Stoffen und okkulte 2 Erfahrungen. 1 Siehe Heinrich Laube’s Dramatische Werke. Dritter Band. Die Bernsteinhexe. Leipzig von J.J. Weber 1846. Im laufenden Text und im Fußnotentext wird ohne Seitenangabe aus dieser Ausgabe zitiert. 2 Der Begriff deckt heute ein möglichst breites Spektrum ab. Als Kennwort für die Geheimwissenschaften geht der Begriff Okkultismus auf Agrippa von Nettersheim zurück, der sich 1533 gegen Vorstellungen vom niederem Zauberwesen absetzte, um die Weisheit des esoterischen Wissens, und zwar Astrologie, Alchemie, Kabbala, Theosophie, der hermeneutischen Tradition von dem Verdacht des schwarzmagischen Missbrauchs, des Teufelsumgangs, fernzuhalten. Heute ist diese Grenze verwischt, die A.v. Nettersheim und nach ihm andere ziehen wollten, die dem Okkultismus auch ein philosophisches System zuschrieben. So ist auch der hier in Rede stehende magische Motivkomplex ‚Brauen’, mit dem Volksaberglauben und seinem personalen Milieu verknüpft, nicht mit einer elitärspirituelle Sphäre der ‚geheim zu haltenden esoterischen Wissenschaften’. Freilich hat sich eine begriffsgeschichtliche Trennung zwischen hoch- <?page no="132"?> Andrea Rudolph 132 Bekanntlich reichte die Geschichte der Nationaltheateridee über die Theaterreformbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit hinaus, sie brachte literaturtheoretische Auseinandersetzungen und Realisierungsbemühungen noch im 19. und 20. Jahrhundert hervor. Um 1840 war der Ruf nach nationaler Selbständigkeit und einer praktikablen Nationalliteratur allenthalben vernehmbar. 3 Endlich sollte das Theater zu jener Aufgabe finden, die für seine Anerkennung als Kunstform unabdingbar sei. Laube operierte mit dieser geistigen Programmierung, wenn er den greisen Dresdener Dramaturgen Ludwig Tieck nicht als Geleit- und Leitinstanz würdigte, ihn vielmehr als Dilettanten abwertete, der „immer nur antiquarische Merkwürdigkeit gepriesen, Kurioses versucht“, aber „nirgends ein wirkliches Bedürfnis der Nation erstrebt“ habe. 4 Ihm offenbarten „schwindsüchtige Lustspielereien […] dass wir im wirklichen Boden des Vaterlandes nicht mehr wurzelten, wiewohl auch gerade vom Alldeutschthume gepredigt wurde“. 5 Wohl hatte die Nation schon in Laubes Arbeit an einer Geschichte der deutschen Literatur (1839) eine Rolle eingenommen. Zunächst aber blieb die Entwicklung eines Nationalbewusstseins in den liberalen Schriftstellerkreisen auf die Buchform orientiert, man traute Erzähltexten und bildungspolitischen Texten die nachhaltigere Publikumswirkung zu 6 , auch weil die Widerstände gegen freie Themen und Meinungen auf dem Theater in jedem Fall größer sein mussten als im Buchhandel. Dennoch erfolgte zu Beginn der vierziger Jahre eine Umorientierung auch Laubes vom Roman und von der Publizistik hin zum kulturellem (bürgerlichen) Okkultismus und niederem bäuerlichen Aberglauben, wie sie im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens noch vorgeschlagen wurde (hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli u.a., Berlin, New York 1987, Bd. 6, Mauer-Pflugbrot, Sp. 1224- 1235) im Alltagsverständnis und in der künstlerischen Gestaltung nicht durchhalten können. Laubes Einleitung in seine „Bernsteinhexe“ widerspiegelt Okkultes im weitesten Sinne, wonach Okkultismus „alle Erscheinungen und Praktiken“ zusammenfasst, „die sich auf verborgene, in der Welt und im Menschen wirkende Kräfte beziehen, die der normalen, auf der Information der Sinneserfahrung beruhenden Erfahrung nicht zugänglich sind“. Zit. nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1984, Bd. 6, Mo-O, Sp. 1143. 3 Etwa spricht Karl Gutzkow in „Wullenweber“ (1848) vom historischen Drama, „das sich seit 10 Jahren bei uns zu rühren und zu regen begonnen hat“. In: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts, hg. v. Klaus Hammer, 2 Bde, Berlin 1987, Bd. 1, S. 521. Heinrich Laube wiederum bekennt in „Rokoko (1846). Einleitung“ seine „Vorliebe für Stoffe aus abgeschlossener Geschichtsepoche“. Ebd., S. 490. 4 Siehe: H. Laube: „Rokoko“ (1846). In: Dramatische Schriften des 19. Jahrhunderts, wie Anm. 3, S. 482-507, hier: S. 495. 5 Heinrich Laube, wie Anm. 3, S. 488. 6 Laube erinnert sich später, wie er 1833 auf einen Rat Gutzkows reagierte, Theaterstücke abzufassen: „Dies schien mir unmöglich, weil mir die Interessen der Gesellschaft dergestalt in Gärung schienen, dass Halt und Wirkung im Drama zunächst unmöglich sei. Vom Theater wirkt man doch nicht mit Spekulationen, sondern mit Berührung längst fester Interessen.“ Einleitung zu „Monaldeschi“ (geschr. 1845), abgedr. In: Ausgewählte Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Heinrich Hubert Houben, Leipzig o.J. (1906), Band 2, S. 33. <?page no="133"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 133 Drama und zum Nationaltheater als einem Gegenkonzept zum Hoftheater. Mit dem Roman verband sich die Hoffnung auf seine verdeckt aufklärerische Wirkung. Die Erfahrung, dass man diese überschätzt hatte, Publikationsverbote, aber auch eine Ausdifferenzierung im literarischen Feld, die literarische Journale zum Verschwinden brachten 7 , vor allem aber das Versprechen einer Wiedergewinnung der Vermittlungsfunktion der Literatur zwischen Gruppenbewusstsein und Allgemeininteresse, die durch subjektiv-ästhetische Tendenzen in der Literatur verloren gegangen war, beförderten den Gattungswechsel Anfang der vierziger Jahre. In seine Geschichte der deutschen Literatur von 1839 schrieb Laube bereits: „Die höchsten Interessen der Zeit und des Volkes werden durch ein allgemein typisches Drama in typischem Ausdrucke allgemein, die leidigen Unterschiede werden vernichtet […].Das herrschende Drama ist die unmittelbarste literarische Macht.“ 8 Tonangebend blieb der Wunsch nach gesellschaftlicher Steuerung, was kein Rückzugsprogramm verfolgte, sondern liberale Ziele unter dem Gesichtpunkt, daß die heutige Zeit „auch das deutsche Wesen politisch zu ergänzen und zu erweitern trachtet“. 9 Mit solcher Maßgabe wird auch der Novellenbearbeitung ein belangreicher Sinn zugewiesen. Es wäre wichtig zu verfolgen, wie das Drama allgemein die Ergänzung resp. Erweiterung deutschen Wesens prozessuierte, wie Laube Meinholds Bernsteinhexe nach Maßgabe seiner Anforderung las, das deutsche Wesen politisch zu ergänzen, und seinem zur Aufführung bestimmten Text das Affektive dienstbar zu machen suchte. Aus der Beobachtung französischer Theaterverhältnisse wuchs die Erkenntnis, verhaltenswirksame Unterhaltung erfolge über nationale Stoffe, eine neue Legitimation des Theaters zeichnete sich mithin ab auf einem Feld, auf dem während Jahrzehnten das französische Drama dominierte. Indessen konnte die Klage, die Zensur fördere das Erscheinen französischer Stoffe auf deutschen Bühnen 10 , kaum kaschieren, dass deutsche Stoffe weitherum fehlten. 7 Laube dazu in: „Die schöne Literatur und das Theater in Deutschland. In: Augsburger Allgemeine Zeitung 1845, abgedr. In: Theaterkritiken und dramaturgische Aufsätze, hg. v. Alexander v. Weilen, Berlin 1906, Bd. 2, S. 237: „Die Kritik ist ferner mehr und mehr an die politischen Zeitungen übergegangen, die ästhetischen Journale, eine Eigenthümlichkeit Deutschlands, werden immer machtloser und verschwinden gar.“ 8 Heinrich Laube: Geschichte der deutschen Literatur, Stuttgart 1839, Bd. 1, S. 229. 9 Heinrich Laube. „Struensee“ (1847). In: Dramaturgische Schriften, wie Anm. 3, S. 514. 10 Mit Blick auf die Bühnenverhältnisse hält er drei Jahre später fest: „Nicht bloß der leicht wirksamen Staatseinheit, nicht bloß der dreisten, geistreichen und allbekannten Sitten halber erscheinen in Deutschland so viel französische Stoffe auf der Bühne, nein, sondern darum, weil die deutschen Stoffe eine doppelt schwierige Zensur zu bestehen haben. Ludwig den Vierzehnten und Fünfzehnten auf der französischen Bühne zu sehen ist dort so gewöhnlich und natürlich, wie es bei uns ungewöhnlich, weil verboten ist, einen einheimischen Regenten aufs Theater zu bringen. Dadurch wird dort die Kunst in all ihren Beziehungen vorzugsweise französisch und deshalb mächtig, bei uns aber aus- <?page no="134"?> Andrea Rudolph 134 Die Reformation und der Dreißigjährige Krieg, die als historische Scheidelinie betrachtet wurden, sollten Stoffe für nationale Dramen abgeben. 11 Zwar kam so eine Reduktion des Stoffangebots zustande, aber auch eine Orientierung auf den Norden als Paradigma nationalen Schicksals wie geschichtlicher Erneuerung. 12 Sicher entdeckte Laube in Meinholds Novelle Unterstützendes und Stimulierendes. Die Reformation, der große Krieg, die Bildlichkeit der nördlichen Hemisphäre liegen auf deren Handlungszügen unabstreifbar. Aber auch das Hell-Dunkel seiner Gestalten und Töne, in der Mischung von Wirklichkeit und Magie, ist in seinem Kern deutsch. Insofern konnte Meinholds Text dem Stoffkanon zugerechnet werden. Laube legte den Struensee, an dem er gerade tätig war, nieder und schrieb 1843 in nur fünf Wochen seine Bernsteinhexe, sich damals sagend, was er in seiner Einleitung öffentlich aussprach: „Das soll und wird den meisten Kritikern als alter Stoff und derbe Gestalt nicht gefallen, aber es wird ein kräftiges Theaterstück sein, welches ein tief nationales Thema deutschen Lebens zur Anschauung bringt, und welches auf eine ungeschminkte Schilderung historischen Lebens Anspruch machen kann.“ Davon sprach Laube auch am 28. Oktober 1843 in seinem Brief an den Schauspieler Emil Devrient, den er auf die Intendanz in Dresden einzuwirken bat: ländisch und deshalb unmächtig.“ Siehe Heinrich Laube: „Rokoko“ (1846). Einleitung, wie Anm. 3, hier: 490. 11 So sprach auch Hettner sich gegen die „vollständige Inszenesetzung eines geschichtlichen Handbuches“ aus: „Die Geschichte, die maulwurfsartig fortarbeitende Selbstentwicklung des Menschen, ist rastlos in ihren Bestrebungen: bald nimmt dieser, bald ein anderer Kampf alle Kräfte in Anspruch. Danach wandeln sich naturgemäß für diese geschichtlichen Prinzipientragödien je nach verschiedenen Zeitläuften die passenden Stoffe. Shakespeare allerdings konnte die mittelalterlichen Kämpfe zwischen Fürst und Vasall darstellen […], denn wie er selbst aus der frischesten Erinnerung heraus dichtet, so ist auch seine ganze Zeit noch schmerzvoll durchzittert von den fürchterlichen Nachwehen dieser verheerenden Kämpfe. Heutzutage aber würden Stoffe dieser Art spurlos verhallen: wir haben - Gott sei Dank! - nichts mehr mit diesen Kämpfen zwischen Fürst und Vasall oder zwischen Staat und Kirche gemeinsam […] Immermann […] verweist daher mit großem Recht die Dichter vorzugsweise auf Stoffe der neueren Geschichte. Die Reformation und die ihr unmittelbar vorangegangenen Zeiten bilden die Grenzscheide.“ Hettner hält fest: „Unser eigenstes Herzblut pulsiert nur noch in der neueren Geschichte“. Freilich denkt Hettner dabei an die große Französische Revolution als „der erst furchtbare Anfang einer welterschütternden Umwälzung, die noch heute zermalmend über unsere Häupter dahinrollt.“ Hermann Hettner: Das moderne Drama (1852). In: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, wie Anm. 3, S. 618-637, hier: S. 628f. 12 Siehe die in Fachkreisen noch immer bekannte Dissertationsschrift des Breslauer Germanisten Werner Milch: Gustav Adolf in der deutschen und schwedischen Literatur, Breslau 1928. Milch stützte sich auf Historiker verschiedener Richtungen, verstand Gustav Adolph als Diener des Staates wie Friedrich der Große und die Reformation als ‚deutsche Bewegung“. <?page no="135"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 135 „Das nationale Thema ist stark und konnte meines Erachtens nur in kompakter Weise behandelt werden, ein natürlicher Schreck für Halbgebildete, die was von französischen Blutstücken haben wehen sehen und von Bedeutung geschichtlicher Wahrheit, von heilsamer Macht begründeten Schreckens keine Vorstellung haben.“ 13 Und am 6. November 1843 schrieb Laube, der Berliner Aufnahme mit gemischten Gefühlen entgegensehend, von Leipzig nach Berlin an Wehl: „Vor der Bernsteinhexe werden sich die Hofschranzen, das heißt Hof=Intendanzen, gewiß wieder recht altweiberhaft fürchten - es ist ein feuerrot Stück Geschichte ohne Bemäntelung, und das vertragen die zarten Nerven nicht mehr […] und die unzulängliche Vorkritik dieser Herren ist der Tod unseres aufwachsenden Dramas.“ 14 Natürlich werden wir an die jungdeutsche Kultur des Protestes gegen höfische Präsentation erinnert, wenn Laube beklagt, der Absolutismus hemme in seiner eigenen Sphäre, im Theater, die Entfaltung des Geistes wie des nationalen Lebens. 15 Die Nationaltheaterbewegung setzte auf die Souveränität des Publikums und sah für den Mäzen nur noch eine Sponsorenrolle vor. Zum einen also erheben Laubes negative Attitüden Anspruch auf ein Wahrheit atmendes nationales Drama. Er erhoffte, es werde die Zensur passieren und das Publikum als eine Art Resonanzraum des Volkes kathartisch einigen. Zum anderen aber spricht seine Einleitung ausdrücklich auch von okkulten Erinnerungen, die einen Lockzauber entfaltet hatten. Sie hatten einen schöpferischen Fieberanfall bewirkt, der ihn erregt und vorwärts getrieben hatte, als er die Bernsteinhexe in nur wenigen Wochen fertig stellte. Laube rekapituliert Erlebnisse in empfänglicher Jugend, etwa seine Begegnung mit einem aus Böhmen stammenden Steinklopfer, der sich als Geisterbeschwörer und Schatzgräber ausgab. Stärker noch während der Meinhold-Lektüre ging von den Erlebnissen des zehnbis zwölfjährigen Wach- und Lehrjungen im schwarzen Brauhaus seiner schlesischen Vaterstadt Sprottau ein Erinnerungszauber aus. Er war mit Geschichten angefüllt, die ihm die Wachgenossin, ein altes Mütterchen, erzählte: „Die Eindrücke jener Stunde vor Mitternacht habe ich nie vergessen, und im Gedächtnisse derselben bin ich jederzeit bereit, Gespenster= und Hexengeschichten 13 Zit. nach Heinrich Kleene: Wilhelm Meinholds Bernsteinhexe und ihre dramatischen Bearbeitungen. Vorgelegt zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der Königlichen Westfälischen Wilhelms- Universität zu Münster in Westfalen, Krefeld 1912, S. 53. 14 Zit. nach Heinrich Kleene, wie Anm. 13, S. 60. 15 Insofern ist die Ansicht von Johannes Proelß noch immer frisch: „In der Stoffwahl für […] das Schauspiel „Die Bernsteinhexe“ offenbarte sich Laubes jungdeutsche Eigenart wie seine jungdeutsche Geistesverwandtschaft mit Gutzkow. In: ders: Das junge Deutschland, Stuttgart 1982, S. 788. <?page no="136"?> Andrea Rudolph 136 bis auf einen gewissen Grad andächtig anzuhören. […] Wir können ja doch die Eindrücke unsrer Lebensgeschichte nicht verlieren, wie wenig auch eine später erworbene Bildung dazu stimmen mag. Sie gehören zu unserm Körper, welchen keine Medizin oder Brunnenkur jemals ganz ändern kann, sie gehören zu unsern Anlagen, die niemals ganz überbaut werden können. Jedermann hat solch einen Punkt in sich welcher Wahnsinn genannt wird, sobald er sich einmal unbekümmert um die herrschenden Grundsätze ausbreitet und geltend macht.“ Laubes Geladenheit mit Erinnerungen hatte sich ganz erheblich geltend gemacht. Zwar wurde der Stoff „von außen geboten“, an seiner Lektüre aber war er „mit allen Kräften lebhaft […] betheiligt gewesen“, auch wenn ihm jetzt, „schon nach Verlauf weniger Jahre dieses ganze Thema der Bernsteinhexe und die Dramatisirung desselben wie ein Paroxymus“ vorkam. 16 Dies Vorab führt auf unsere Untersuchungsfrage. Zum einen ist Laube ein Vertreter des politischen Theaters und Vertreter großer Aufklärungsthemen, wie sie durch die Revolutionen von 1789 und 1830 und durch die politisch bewegte Vormärzzeit gebündelt wurden. Er ist Vertreter einer durch Logik wie konsistente ästhetische Kriterien beschriebenen rationellen Dramenorganisation. 17 Ihm ging es noch als Direktor des Burgtheaters (1849-1867) um das Problem, wie die Gesellschaft auf sehr rationale Weise kontrolliert von Ideen geleitet vorwärts gebracht und unterhalten werden kann. Dies alles eingeräumt und ausdrücklich hervorgehoben. Zum anderen aber, so ließe sich geltend machen, weist Laubes Einleitung auch dem Okkulten einen ständigen Raum im Individuum und in der Gesellschaft zu. Auf der einen Seite präsentiert die Einleitung die Sicht des jungdeutschen Aufklärers, auf der anderen Seite eine okkulte Dimension, die ihren Ort in der menschlichen Natur hat, die sich irrational äußert und von der Laube gleichfalls künstlerisch zehrte. Dies führt auf die Frage nach dem Platz magischen Vorrats innerhalb einer rationalen Literaturkonzeption, wie Laube sie explizit vertrat. *** 16 In die Buchausgabe einleitend bedenkt Laube die prinzipiell problematische Aufführung eines Stoffs, der über weite Strecken einen Hexenprozeß bietet. Dem heutigen Leser erscheint an diesen Äußerungen manches klar. Die Bühnenaufführung kennt, was schon Lessing als Gesetz in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ heraushob, nur das Tempus des Präsens, stellt alle Handlung als gegenwärtig vor. Einem auf die Bühne gehobenen Hexenprozeß fehlte in Laubes Gegenwart längst jede zeitgenössische Selbstverständlichkeit. Dem Hexenwesen „mit seinen lockenden und schreckenden Geheimnissen der eigenthümlich mächtigen Persönlichkeit“ hingegen sichert Laube noch in seiner „Einleitung“ bleibende Aktualität zu. Offenbar als Symbol für die Ich- Problematik gehört es in den Ideenkreis seiner Gegenwart. 17 Siehe hierzu seine Theaterkritiken und dramaturgischen Aufsätze, aber auch seine Schriften über das Theater wie „Das Burgtheater“ (1867), „Das norddeutsche Theater“ (1871), „Das Wiener Stadttheater“ (1873). <?page no="137"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 137 Die Lektüre der Bernsteinhexe Meinholds verband sich mit Erinnerungen und ließ eine entlegene schlesische Welt in eine entlegene pommersche hineinleuchten. Im „schwarzen Heidentempel“ der Hexenerinnerungen Laubes herrschte eine Welt der Gegensätze, die sich als Dualismus von Brau- und Malzhaus eingerichtet hatte. Der schwarzen Magie mit ihrer Entbindung dämonischer Mächte im Malzhaus trat im anstoßenden Brauhaus gute Bewirkung durch positive Mächte entgegen. Die im Malzhaus schaffende lange Frau des Brauers galt im Vorurteil als Hexe mit Vermögen zum Bösen und zum Hexenflug und als tödliche Feindin der im Brauhaus wirkenden kleinen Mutter Schönknechten, von der man meinte, dass es sich bei ihr um eine Kraft handeln müsse, der Sprottau sein gutes Bier verdankt. In ihren behänden Gesten, in kürzester Zeit wusch sie mit ihren kurzen Armen jene Fässer reinlich, die eine Substanz aufnahmen, die sich umwandeln und erneuern sollte, schien eine andere Magie zu wirken als in Lenes vom Blocksbergfeuer rot geschwollenen Augen. Hinzu trat die Konnotierung erotischer Nebenbuhlerschaft. Der Brauer hatte die zur bösen Hexensorte gerechnete Lene geheiratet, verhielt sich aber zart rücksichtvoll zur Schönknechten, als habe er sie in frühen Jahren einmal geliebt. Diese Brauhaus-Welten nahm die kleinstädtische öffentliche Meinung als geordnet und aufeinander bezogen. Beide Mächte hielten sich in ihrem Getrennt- und Anderssein dreißig Jahre lang die Waage, die sich erst mit dem Tod der guten Hexe ins Verderben neigte. Mit den mitgeteilten Details treibt Laube ein intellektuelles Spiel. Es ging über den Augenblicksreiz des Genießens hinaus und regte seine Bearbeitung Meinholds an. Textsignale künden davon, daß er kindliche Anschauung zu abstrakter Erkenntnis, zu politischer Bedeutsamkeit organisiert und dem alten magischen Komplex zeitgeschichtliche Bedeutungen vermittelt. Das Reifen des Biers nachts im kalten Brauhause 18 war eine mit Vorsichtsmaßregeln umstellte Zeremonie: Aus Angst vor Dämoneneinwirkung wurde kein Bier gebraut. Fledermäuse dürften nicht ins Brauhaus gelangen, Spukgeschichten durften erzählt werden, Hexengeschichten hingegen waren tabu. Kreuzweis geordnete Besen hüteten die Türschwelle vor Hexen. Das die Würze 19 zu 18 Wichtig ist nun, daß die durch Kochen sterilisierte Würze möglichst rasch auf die gewünschte Gärtemperatur gebracht wird, bei untergängigen Hefen (Pils) auf 5-10° C. Nach Erreichen der angegebenen Gärtemperatur wird der abgekühlten und gefilterten Würze die Hefe beigegeben. Das rasche Abkühlen ist für die Qualität des Bieres sehr wichtig, da sich in der Raumluft „wilde Hefen“ befinden, die zu unerwünschten Fehlgärungen führen können. Während des mehrtätigen Gärvorgangs wird der während des Maischvorgangs erzeugte Zucker in Alkohol umgewandelt und das Jungbier danach in sterilisierte Fässer abgefüllt. Während der folgenden Wochen erhält das Bier einen vollendeten Geschmack, indem es bei einer idealen Lagertemperatur von 8° C einen Reifeprozess durchläuft. Licht und Temperaturschwankungen können hierbei die Qualität beeinflussen. 19 Beim Würzekochen wird der Hopfen in die Würze gegeben und das Ganze sprudelnd gekocht. Durch das Kochen der Würze unter Zugabe von Hopfen werden sämtliche <?page no="138"?> Andrea Rudolph 138 nächtlicher Stunde bereitende Mütterchen und der Lehrjunge Heinrich Laube hatten darüber zu wachen, daß die klärenden und bindenden Impulse des Suds auch wirken konnten. Ihre Wacht sicherte das in Bütten reifende Bier vor Einwirkungen, die über die Schwelle oder durch hohe Fenster krochen. Gleichwohl legt Laubes Witz auf das Set von abergläubischen Vorstellungen eine Metaebene der Reflexion: beider „wunderliche Wacht“ erscheint als „Garantie einer Staatsverfassung“. Spätestens nach solch geistreicher Abstraktion, sie setzt einen kulturellen Code voraus, weiß man Magisches auf gegenwärtig Gesellschaftspolitisches bezogen. Ist die Staatsverfassung gar der Bezugspunkt, sind alte Kollektivsymbole, wie Backen und Brauen sie darstellen 20 , durch neue Konnotationen erweitert. Laube sah in den Brauhaus-Verhältnissen am östlichen Rand Deutschlands zwar nicht den Nabel der Welt, aber untrüglich doch erfahrene Zeit-Widersprüche verdichtet. Er weitete volksmagische Bilder in die soziale Totalität: Niemand in der Stadt habe jemals Bier getrunken, bei dessen Siedung und Brauung nicht die zur guten Hexensorte gerechnete Schönknechten behilflich gewesen wäre. Nicht zufällig behandelt er Bier als einen für Leben grundlegenden Stoff. Nicht zufällig auch weist das komplexe Metaphernfeld „Bierbrauen“ einen kultur-, literatur-, sozial- und philosophiegeschichtlichen Verbreitungsgrad auf, der, weit über schlesische Lokalitäten hinausreichend, auf europäische Politik und Ökonomie deutet. Das Grundbild der Gärung, die - nicht kontrolliert - Brotgetreide zerstören, kontrolliert jedoch veredeln kann, bietet ein Symbol, dem gesamtgesellschaftliche Erfahrungen zugrunde liegen. Malzen ist ein betriebsamer Zerstörungs-, ja Verrottungsprozess von gutem Brotgetreide 21 und Malze das Ergebnis dieses Zerstörungsprozesses; Brauen jene Veredelung, bei welcher das potentiell verdorbene Kulturprodukt in ein Gutes umschlägt. So gesehen ist die untere Stufe Ausdruck zerstörender Naturkräfte, Brauen hingegen Ausdruck ihrer Klärung und Veredelung. 22 Bier geriet nur, Enzyme zerstört. Hierdurch wird die Würze sterilisiert. Die Hopfen-Reste werden aus der Würze entfernt, was man als Hopfenseien bezeichnet. 20 Siehe auch Handwörterbuch des Aberglaubens, hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli, Artikel Butzemann, Backen: Sp. 753-779, und Brauen: Sp. 1513-1518. 21 Folgend werden die hierfür wichtigen Etappen mitgeteilt. Maischen: Die Körner werden durch Befeuchtung zur Keimung gebracht. Das Malz wird mit Wasser erwärmt. In verschiedenen Temperaturstufen mit entsprechenden Ruhephasen wandeln die bei Malzen entstandenen Enzyme die im Malz enthaltene Stärke in Zucker um. Bei der Keimung entstehen Enzyme, die beim späteren Maischen Stärke in Zucker umwandeln. Man spricht von Eiweißrast, Maltoserast und Verzuckerung. Abläutern: Der Sinn des Läuterungsvorgangs ist es, eine klare Würze zu erhalten. Daher werden nach dem Maischen die nicht löslichen Bestandteile aus dem Hauptguss gefiltert. Diese Bestandteile nennt man Treber. Der Nachguss wird über den Treber gegossen, um alle löslichen Bestandteile herauszuwaschen, und fließt in den Hauptguss. Jetzt hat der Brauer die Würze. Nach dem Hauptguss hinzugesetzte Bierhefe löst die alkoholische Gärung aus und steuert sie. 22 Der Brauvorgang verlangt geradezu nach einem Gleichnis. das macht ihn nicht nur für Laube zu einem ergiebigen Thema. <?page no="139"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 139 wenn die bösen Geister nicht ins Brauhaus gelangten. „Zum Malzen wurden sie gebraucht, das Bier verdarben sie.“ Wie Brot entsteht Bier in einem Kräftegleichgewicht, in dem die Dynamik von Entbinden und Binden ausgeglichen wird. Im geschichtlichen Verständnis wurde Gärung mit Revolution assoziiert. 23 Nicht bloß Laube sah die mit der Liberalisierung verknüpfte Anarchie 24 , es gab im ganzen 19. Jahrhundert einen Umgang mit Naturmetaphern, die als Revolutionsmetaphern gedeutet wurden. 25 Seit der Aufklärung hatten sich die alten Ordnungsstrukturen einer feudalen Gesellschaftsordnung aufgelöst, hatten sich Wandlungen in der Selbstdeutung des Menschen vollzogen. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die zuvor verherrlichte Leidenschaft mit Chaos konnektiert, der Individualismus als negativ, manchmal auch als verbrecherisch, beurteilt, wurde - auch mit 23 Bier fungiert als Sozialsymbol, wenn z.B. Wilhelm Meinholds Sidonia von Borcke in seinem gleichnamigen Roman (1847) zum Sturm auf die Brauereien und zum Lynchen der Brauer aufruft. Siehe Andrea Rudolph: Wilhelm Meinholds Hexenroman „Sidonia von Bork“ (1847/ 48) - eine Abrechnung mit der libertinen Frauenemanzipation als ein „Leiden unserer Zeit.“ In: Marion George, Andrea Rudolph: Hexen. Historische Faktizität und fiktive Bildlichkeit. Sorcières. Fait historiques, imagerie et fiction (= Kulturwissenschaftliche Beiträge. Quellen und Forschungen, Bd.3), Dettelbach 2004. Noch Th. Mann greift in seiner Novelle „Luischen“ (1900) diesen Kontext humoristisch auf. Das von Amra zu Ehren des Frühlingsbieres in München gegebene Fest soll mit einem Festprogramm erhöht werden, auf dem ein Vortrag zum Thema gehalten werden soll: „Das Frühlingsbier in seiner sozialen Bedeutung“. 24 So kommentierte er in seinem Buch „Das neue Jahrhundert“: Früher „fühlte Alles nach einer Regel“. Dann aber „kam Alles in Unordnung, Jeder machte seine Richtung geltend […], Jeder wollte als Individuum gelten“. Zeitung für die elegante Welt, Jg. 33, Nr. 3. Zitiert nach Wulf Wülfing: Junges Deutschland. Texte-Kontexte. München 1968, S. 33. 25 Etwa findet sich in Campes Revolutionsschilderung, einem publizistischen Wegbegleiter der Aufklärung in Deutschland, die Metapher von einer Zeit, „da alle Gemüther in aufbrausender Gärung sind“. Siehe Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, Braunschweig 1790, S. 31f. (Nachdruck Hildesheim 1977). Und dort, wo von Rauben und Plündern durch das revolutionäre Volk die Rede ist, wird das Bild des über die Ufer getretenen Flusses gebraucht: „Wer vermag es, den reissenden Strom, der seine Dämme durchbrochen hat, wieder in das alte Bett zurück zu führen“? Friedrich Hebbel spricht vom „ausgetretenen Strom“, der bald in sein „Bett zurückgekehrt“ sein wird, und meint damit die Errungenschaften der konstitutionellen Monarchie, die den revolutionären Schwung im Sinne der liberalen Theorie der Revolution abstoppen soll, damit Revolutionen nicht in die Anarchie des Pöbels münden. Friedrich Hebbel Werke, Säkular-Ausg. 1911-1917, hg. v. Richard Maria Werner, Verlag: Behr, Bd. 10, S. 59. Die Furcht vor dämonischen, in der Tiefe wohnenden Kräften der Revolution spricht sich auch, um einen Schlesier neben Laube zu stellen, in Eichendorffs Gedicht: „Die Altliberalen“ (1848) aus. Dort stehen Bilder des Brauens und brodelnder Gärung und des platzenden Hexentopfs als sichtlich politisch überformte Bilder im Mittelpunkt. Deutlich bestimmen solche die Rezeption der Magie im Vormärz. Zumindest legt die dauernde Präsenz von innerhalb eines anderen Weltbildes eingeführten Argumentationsfiguren wie weiße und schwarze Magie oder gelingendes Brauen, nun als Praktisch-Werden der Vernunft, diese These nahe, was die Forschung im einzelnen zu untersuchen, zu differenzieren oder zu korrigieren hätte. <?page no="140"?> Andrea Rudolph 140 kritischem Seitenblick auf Frankreich - die Bemeisterung der Demokratie als das Gelingen des Sozialen angestrebt und begriffen. Wenn Aufgelöstes nicht mehr gebändigt werden kann, kommt es zur Übergärung, zur verdorbenen Demokratie. 26 Der verdorbene Reichtum an gemeinnützigem Gut wird im verdorbenen Getreide bildhaft. Nur auf dem Wege einer positiven Begrenzung, als gebremster und kontrollierter Fortschritt, entwickelt sich aus dem Aufgelösten nichts Verdorbenes, sondern ein hochwertiges Genussmittel als Ausdruck hoher gesellschaftlicher Kultur. *** Keine Frage nun, daß solche Bedeutungen aus der politischen Erlebnislage und aus der Kulturgeschichte gespeist wurden, in der Laube mit seinen Hexenerinnerungen noch stand. Gab es bei den „primitiven“ Völkern Vorgängerformen von Bier, berauschende Getränke von Bierähnlichkeit, gelangte Bier mit der Entwicklung der Völkerschaften zur Vervollkommnung und erreichte denselben Kulturstatus wie Wein, weshalb es bei den der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres gewidmeten Festen gebräuchlich war. Dies belegen Stellen bei Herodot, Aischylos, Plautus, Plinus, wonach Bier eine dem Wein ähnliche Festkultur hervorgebracht habe. Plautus bezeugt den Gebrauch von Bier bei den Ceresfesten, und er erwähnt die alte Bierstadt Pelusium, eine Stadt an der Nilmündung, von der das Bier seinen Beinamen pelusisches Getränk erhalten habe. In der Neuzeit war die zuvor in den Klöstern gepflegte Bierherstellung eng mit der städtischen Kultur verknüpft, manche Städte wurden durch ihr Bier berühmt. Die Kunst des Bierbrauens, schließlich nach dem Reinheitsgebot, wurde zum Barometer, mit dem der Kulturzustand einer Gesellschaft gemessen wurde. Sie „gestaltete sich in der Neuzeit zu einem hervorragenden, die technischen Errungenschaften im vollsten Maße ausnutzenden Betriebe, dessen Ausdehnung einen großen Antheil an dem Nationalwohlstand der bierbrauenden Länder“ hatte. 27 Mithin entwickelte sich die Bierherstellung historisch von einem noch primitiv zu nennenden Herstellungsverfahren der ersten Völkerschaften über eine kulturelle Blüte im 15. und 16. Jahrhundert im Rahmen städtischer Kultur hin zu industriell betriebenen Verfahren, an deren Spitze Amerika und England als Modernisierungsträger standen. Vollzog sich das Bierbrauen anfangs noch wild, war es ab dem 16. Jahrhundert durch gesetzliche Bestimmungen sozial eingebunden, weshalb der Dreißigjährige Krieg dem Bierbrauen eine Stockung brachte. Gewann das Bierbrauen schon im Humanismus die Bestimmung bürgerliche Kultur, so entwickelte sich der bürgerliche Betrieb in der Neuzeit zu einem die technischen Errungenschaften in vollstem Ausmaße ausnutzenden 26 Johann Ferdinand Roths „Gemeinnütziges Lexikon für Leser aller Klassen“ (1791) verzeichnete „verdorbene Demokratie“ als eine Bedeutungsvariante von Anarchie. 27 Siehe Brockhaus Konversationslexikon, 14. neubearbeitete Auflage, 3 Bde., Leipzig, Berlin, Wien 1894, S. 992-1002, hier: S. 994. <?page no="141"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 141 Betrieb, für den Sauberkeit, Leistungsfähigkeit und Effizienz bestimmend wurden. 28 Wie die Zuckerrübenveredelung wurde Brauen im 19. Jahrhundert zum Zeichen des zivilisatorischen Fortschritts einer Nation, die den Reichtum über die Biersteuer in ihre Nationalökonomie integriert. Dies alles sind geschichtliche Elemente, aus deren weitreichender sozialer Bedeutung sich ablesen läßt, weshalb die Bierherstellung - nicht nur in der Einleitung Laubes - zu einer Symbolmetapher werden konnte. Die alte Kunst des Brauens und die alte Motivik des Hexenwesens waren in der Lage, die technische wie soziale Moderne in sich aufzunehmen. Die auflösenden und klärend-veredelnden Kräfte sind in der bürgerlichen Kultur und Nationalökonomie vorausgesetzt. Sie spielen in idealer Weise zusammen. In dem Moment, wo sich Brauen in die Nationalökonomie integrieren ließ, wurde es zum Reichtum der Nation. Als kontrollierte Gärung veredelte es, als nicht kontrollierte Gärung zerstörte es Brotgetreide. Die intelligente, kontrollierte Nutzung von Magie für den Wohlstand ist eine historisch spezifische Metapher für Technik. Auf die soziale Teilhabe vieler ausgerichtet, ermöglicht diese es einer Gesellschaft, Kultur und Wohlstand zu erlangen. Sicher war es für Laube schwierig, solche Modernisierungsprozesse plastisch zu machen. Doch bot ihm der Blick des Kindes die Möglichkeit, die geschichtliche Welt in die Bildhaftigkeit zurückzuweisen. Der Ambivalenz freigesetzter Naturkräfte konnten Kindheitserinnerungen die Körperlichkeit magischer Bildregie vermitteln. So mag man schon nach an dieser Stelle festhalten: Die Transzendierung magischer Elemente zum Ausdruck von gesellschaftlichen Selbstfindungsproblemen bewirkte deren Vergeistigung, Brauen wurde auch von Laube zur sozialen Metapher umgebildet. Der „Sitz“ dieses Symbols in zwei Diskurstraditionen, in der Magie und im Wirtschaftsleben, impliziert zwei ko-präsente Dimensionen. Gerade die Ambivalenz des Hexens bietet eine Voraussetzung für den hohen literarischen Gebrauchswert dieses Kollektivsymbols. Ambivalenz ermöglicht es, dialektische Spannungen anschaulich werden zu lassen, auch solche des Liberalismus. Ein Teufelspakt ermächtigt Lene, die eine anmaßende Natur hat, zum Malzen, ein Pakt mit den guten Geistern die stille Schönknechten zum Brauen. Sie sitzen beide in mystischen Tiefenräumen, die Laube politisiert. Mithin repräsentiert die alte, mit dem Teufelspakt assoziierte Hexe nicht das alte Weltverhältnis, in dem der Mensch den magischen Kräften unterworfen ist. Ihre magische Potenzierung repräsentiert jene „Frühreife des Selbstbewusstseins“, die Karl Gutzkow „das moderne Unglück“ 29 nannte. Diesem fehlt das Gefühl für die Verbindlichkeit der sozialen Realität. Reinigen und Läutern gehören dagegen zum Katalog positiver Lizenzen. 28 Ebd. 29 Karl Gutzkow: Zur Philosophie der Geschichte (1836). Athenäum Reprints, Frankfurt a. Main 1973, S. 164, 171. <?page no="142"?> Andrea Rudolph 142 Als gleichsam mütterliche Ceres füllt Mutter Schönknechten zu später Abendstunde freigiebig Würze in bürgerliche Füllhörner mit regionalistischem Dekor: in Kaffeekannen aus Bunzlauer Geschirr. Neben städtischer Brauerei blühte das Hausbrauen, welches Hausbesitzern zuerkannt wurde. Befreundete Häuser empfangen den Sud, der die Kraft hat, zu klären, zu binden und zu wandeln. Das städtische Bier, unter dem Namen Schöps bekannt, war - wie der Bunzlauer Topf - kulturgeographisch in Schlesien verankert. 30 Seine Güte und Verbreitung wurde auch besungen. 31 Der Universalismus weltanschaulich-politischer Prägung bricht sich im Einleitungstext Laubes in Bildern mit stark ausgeprägten Partikularismen. Auf dem Hintergrund der Kellerwand bildet sich die Wacht der Schönknechten als wachendes Schlafen ab. Vor dem Versagen ihrer Kontrolle unter den Zwängen sich erforderlich machender Physis, allmählich fallen die Augen zu, bewahrt männliche Kontrolle. Auf der altanartigen Freitreppe fragt der in einen Schafspelz gehüllte Brauer um Mitternacht nach unten, wo die Schönknechten in ihrem Loche sitzt, ob alles in Ordnung sei. „Freilich“ antwortet sie. Seine Scherze aber erwidert sie nie, wohl weisen diese ihr eine sinnliche Natur zu, die mit ihrer als einer Ordnungsmacht inkommensurabel ist. Laubes jungdeutsche Freiheit des Humors ist die Freiheit des geistreichen Spiels. Die humoristische Wahrheit freilich ist die, daß die „Garanten“ der „Staatsverfassung“ dann doch in den Schlaf sanken. Dann mußte Gott „für Alles stehen“. Nachdem die betagte Schönknechten der Tod ereilt, tritt Lene über die Brauhausschwelle - mit fatalen Sozialfolgen. Das Bier verdirbt, die Familie des Brauers zerfällt und ist bald auch ökonomisch ruiniert. Das Brauhaus taugt, um im Zerfall dieser Institution gesellschaftliches Unglück zu spiegeln. Allein die Würze der guten Hexe hatte die Kraft besessen, den Reichtum der beim Malzen entbundenen Naturkräfte zu umgrenzen und in die lokale Ökonomie einbinden. 30 Zuvörderst gilt für den Namen folgende Erklärung: „das Bier habe den Namen Schöps erhalten, weil es so nahrhaft war, wie das damals in Breslau bekannte Schöpfenfleisch. Das Breslauer Schöps wurde nicht nur in Breslau verzapft, sondern war auch ein weithin beliebtes Versandbier.“ Zit nach Thomas Schatzky: Breslau. 600 Jahre Bierstadt. Kretschmerwappen und Siegel verliehen von Albrecht II. von Böhmen, Breslau 1913. S. 17f. 31 Siehe: August Kahlert: Schlesien Antheil an deutscher Poesie (Breslau 1835). In: Maria Katarzyna Lasatowicz, Andrea Rudolph: Literaturgeschichtliche Schlüsseltexte zur Formung schlesischer Identität, Berlin 2005, S. 95, siehe ferner auch: Silesia. Schlesien in historischer, romantischer und malerischer Beziehung, hrsg. von einem Vereine Gelehrter und Künstler, Bd. 1, Glogau 1841, wo auf S. 146 der vorteilhafte Ruf des Schöps mit den folgend zitierten Zeilen eines alten Liedes von Puntzkau belegt wird: „Kein Wirtshaus an der Straßen ist/ Von Breslau an bis nach Leipzig,/ Das sich auf solchen Schöps nicht geschickt./ Zu Nürnberg und auch zu Dresden/ Manch Achtel Schöps ward ausgelesen./ Die Polen hielten Schöps in großem Werth,/ Daß sie ihn holten mit Wagen und Pferd. / Darumb wird er in manches Land/ Geführet und erkauft zur Handt.“ <?page no="143"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 143 *** Dauerhaft blieben Laube seine Erinnerungen erhalten. Sie wurden ihm während der Lektüre zu visionären Bildern, die sich übereinanderlegen: Liese Kolken und die Brauer-Lene, Marie Schweidler und Mutter Schönknechten, der Brauer und der Amtmann Wittich. Laube entwickelt aus diesem Dualismus, der sich schon bei Meinhold in eine Art Kampf verwandelt, das Gesellschaftsproblem seiner Gegenwart. Er vermittelt der Magie ihre potentielle Mehrsinnigkeit, nämlich individualistische Macht wie produktives soziales Vermögen zu sein, und er gestaltet diesen Dualismus in Bezug auf die Vormärzsituation. *** In seiner dem deutschen Lesepublikum vorgelegten Einleitung bedachte Laube selbst Grad und Grenze der Anschlussfähigkeit des Stoffes an die Gegenwart. Das Theater muß, um gelten zu können, Widerspiegelung der Zeit sein, in der es sich ereignet, teilte er klipp und klar mit. Wovon Dichter und Zuschauer heute wieder entzündet werden könnten, das wäre allein das „Hexenwesen“, nicht aber der Hexenprozeß selbst Im Hexenwesen sah Laube einen Zug, mit dem sich der neuere Zeitgeist aus dem Alltäglichen heben und konzentriert darbieten ließ. Nicht zufällig hatte er daher in einem auf den 2. Dezember 1843 datiertem Schreiben den Mimen Devrient so für die Rolle des Wittich zu begeistern versucht: „Wir hatten gehofft, Sie würden sich den Wittich auf vierzig Jahre stellen und sich einen dämonischen Liebhaber daraus machen, eine überaus interessante Erscheinung für ganz Deutschland, denn das Dresdner Theater allein hab’ ich dabei nicht im Auge. -“ 32 Da es Laube bei der Rolle des dämonischen Liebhabers um ein symbolisch zu begreifendes Weltverhältnis geht, setzt er für diesen gesamtdeutsche Repräsentanz voraus, die er durch begrenzte Möglichkeiten der Dresdener Bühne nicht verkürzt sehen will. Wie bei Wilhelm Meinhold schon 33 treten Hexenkonnotationen - projiziert auf das zeitgenössische Vormärzproblem - in ein ethisches Bezugssystem ein. *** 32 Heinrich Kleene, wie Anm. 13, S. 54. Damit ist auch bei Laube jenes umfassendere, nicht nur am Regionalcharakter orientierte Figurenverständnis zu sehen, das es erlaubt, Wittich als epochentypische Erscheinung zu sehen. Die Regionalisierung und wohl auch Provinzialisierung des Stoffs erfolgte durch seine tourismusbetriebliche Inanspruchnahme erst später. 33 Siehe Andrea Rudolph: Provinzen als Sinnräume einer ethischen Moderne. Wilhelm Meinholds Chroniknovelle „Die Bernsteinhexe“. In: Kulturraumformung. Sprachpolitische, kulturpolitische, ästhetische Dimensionen, hg. v. Maria Katarzyna Lasatowicz, Berlin 2004, S. 149-178. <?page no="144"?> Andrea Rudolph 144 Marie und Wittich leben und streben über den prosaischen Ist-Zustand hinaus. Beide haben mit „feiner ausgebildeten Sinnen und Organen“ an Mächten teil, die über ihnen stehen. Beide spiritualisieren die Erscheinungswelt, wobei sie unterschiedliche Wege einschlagen. Marie erhielt die Gabe besonderer Erfahrungs- und Empfindungsfähigkeit von Gott, Wittich von höllischen Kräften. Mit ihr bewirkt sie Viehheilungen. Begreift der wohlmeinende Müllerbursche Birkhahn ihr Überschreiten von Natur als „Fehler“, relativiert Marie diesen als ein Ausnutzen von „Natur, die wir nicht kannten“. Wittich verkörpert die Verabsolutierung des vitalistisch vereinzelten Einzelnen. Die magische Potenzierung der Individualität im Pakt mit dem Bösen symbolisiert in der Literatur des 19. Jahrhunderts ja häufig, dass die in Freiheit gesetzten Individuen sich nicht an soziale Normen gebunden fühlen, dass sie als ‚Verbrecher’ kein positives Verhältnis zu den „Institutionen“ finden, die das Leben in der Gemeinschaft erst ermöglichen und begründen. 34 Als tragische Potenzierung solcher Individualität erscheint auch im Bernsteinhexen-Drama wiederholt der Begriff ‚Leidenschaft’. Seine Charakterveranlagung des ‚Sich geltend-machen-Müssens’ führt Wittich zur Verschuldung. Laubes Bearbeitungseingriff in Meinholds Wittich-Figur ließe sich als Ambiguisierung der Figur, als eine Akzentverschiebung vom Wolllüstling auf den asozialen faustischen Menschen beschreiben. Laube verleiht Wittichs Begehren eine ideelle Qualität, indem er es vom erotischen Begehren abgrenzt. Insofern wird Bedeutung gegenüber dem Meinholdschen Text neu formuliert. Die Selbstausdehnung des Individuums ohne Selbstrelativierung durch soziale Werte und Normen ist gewissermaßen die historisch spezifische Variante des tragischen Fehlers. Wittichs Expansivität entlädt sich im amoralischen Handeln. In einer Sozialordnung, deren Mechanismen er mit schärfster Genauigkeit ins Wort zu setzen wie sich pragmatisch zunutze zu machen versteht, strebt er nach vitaler Selbstbehauptung und Erweiterung seiner Kräfte. Als Verneiner des Gewöhnlichen gehorcht er dem Gesetz seiner starken, unbändigen Persönlichkeit, die den Trieb hat, natürliche Grenzen aufzuheben. Maries Augen und Lippen allein wirken bei ihm nichts. Er sieht ein Mädchen, „das in stiller Mitternacht mit allerlei Genien verkehrt“, daß die Macht hat, „allerlei Wesen an sich zu ziehen“. Er wirbt um ein Mädchen, das „diese Welt wie eine Nebensache behandelt und mit ihren Umgebungen spielen kann, wie sie will“. Dies ist „reizend“. Gebunden hatte Wittich an die 34 „Dies ist freilich eine große Umkehr der Zeiten und Verhältnisse! Warum sind die Institutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grund, als weil sie nichts mehr für uns thun, weil sie […] Alles uns selbst überlassen, die wir freilich denn so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten.“ Karl Gutzkow: Schriften, 3 Bde. Hg. von Adrian Hummel, Frankfurt a. Main 1998, Bd. 1, S. 133f. <?page no="145"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 145 Kolken-Liese einst die „rohe Kraft, die in ihr herrschte“. Maries Kraft erscheint ihm feiner, geistiger, mit ihm näher verwandt. Er sucht jenen „Inbegriff von Zaubermacht“, den er „in diesem Mädchenleibe verschlossen“ wähnt. Ist die existentielle Expansivität des Individuums die über die Figur gelagerte Idee, führt dies zu ihrer Intellektualisierung 35 : „Wir brauchen einander Schweidlerin“ […]. Gieb Dich! […] verbinde Dich mit mir, wir lachen dann der mittelmäßigen Menschen“, dringt Wittich in sie. Sie schaudert vor seinem Immoralismus zurück und spricht von Ahnungen, die keineswegs zur Symbolik seiner Wünsche werden. Sie schlagen eine Brücke zu volksliedhafter Romantik, zu Vaterland und Gott: „Ich will Euch erzählen, was meine Seele bewegt; ich will Euch die Lieder der Hirten, die Lieder der Fischer singen, ich will Euch geleiten unter die Wenden-Eichen des Streckelberges, und Ihr werdet mir lehrreich schildern im Angesichte der ewigen See, was Ihr erlebt und erfahren und gedacht in dieser unermeßlichen Welt des guten Gottes! “ Für sie ist der Streckelberg Ort der Erfahrung von Wahrheit und Schönheit des Göttlichen und der Volkspoesie, auf deutsche Verhältnisse noch in der lokalen Landschaft zurückweisend, die Werte der Nation aufzunehmen in der Lage ist. Die nordische Naturszenerie, in der sich die Anlandung des Schwedenkönigs Gustav Adolf zutrug, ist der Erfahrungsort, in dem sie träumt, während Wittich ein „empfindsam Volk mit Herzen von Brei“, überhaupt den „frommen Kram“ verachtet: „Das alltägliche Pack begnügt sich mit Nippen und Naschen, und läßt sich abweisen, wo es an die letzte Decke des eigentlichen Lebensbornes kommt, und wo allerdings die eigentliche Lebensgefahr beginnt. - Zu diesen Hausthieren auf Erden gehöre ich nicht! - ich muß es erzwingen, daß sich die geheimste Faser dieser Mädchenseele vor mir enthülle.“ Auch der Adoptivsohn Junker Nienkerken wird zum „Pack“ gerechnet. Er ist in Wittichs Sicht blos „nüchtern“ und ein rotbackiger „schwächlicher Knabe“, womit Wittich seinen Egoismus vitalistisch rechtfertigt. Während das Pack in der letzte(n) Decke ein Grenzzeichen sieht, sucht Wittich diese zu durchstoßen. So erhalten Pfarrhaus, Volkslieder und das Urland des Protestantismus eine utopisch-nationale Bedeutung. Sie symbolisieren Werte, die den Lebensanspruch des Individuums übergreifen, mithin die Verbindlichkeit einer natürlich wie historisch gewachsenen sozialen Realität. Der mit ihr konfrontierte vitalistisch vereinzelte Einzelne erblickt in dieser Realität kein Maß seiner Freiheit: nicht in Natur und Geschichte und nicht im anderen. Er steigert seine Expansivität zur Exzessivität, indem er erklärt „Leben und Genuß für 35 Gleichwohl sah Laube das Problem, Wittichs in Verschuldung mündende Charakterveranlagung auf der Bühne sinnlich werden zu lassen. <?page no="146"?> Andrea Rudolph 146 mich, oder Tod für alle! “, das heißt: erlange er Marie nicht, lasse er „ganz Usedom in Feuer und Flammen“ werfen. Folgt solche Steigerung von Macht zur Maßlosigkeit aus seiner individualistischen Charakterveranlagung, resultiert aus Maries Charakter Erschaudern vor einem Lebensanspruch, der kein Gesetz mehr kennt, welches die Individuen verpflichtet und damit auch bindet. Nicht zufällig kennzeichnet Wittich auch die Inkongruenz von Reden und Handeln, wie sie dramaturgisch für die Bühnenfigur des Intriganten, politisiert aber für einen heuchlerischen amtsmißbrauchenden Amtmann üblich ist, der Instinkt für die Instrumentalisierung anderer und Apparaterfahrung besitzt. Nicht zuletzt macht sich Furcht bemerkbar, über Wittichs Zwiesprache mit „den finstern Mächten dieser Erde“ öffentlich zu reden, nachdem dieser bedrohlich-warnend erinnerte: „die Macht allein behält Recht.“ Er habe „die Macht“, „dem Schreier den Hals umzudrehen“. Hierbei stützt er sich auf den korrupten Apparat. So ist der Consul zwar personelles Organ der Wolgaster Regierung, seine Aufgabe ist diesmal die Rechtspflege auf dem platten Land, seine Anwesenheit soll eine ordnungsgemäß verlaufende Verhandlung sichern helfen. Zwar müsste er als Vertreter des Staats auf die gesetzlichen Formalitäten sehen. Doch wo Sachwalter staatlicher Ordnung käuflich sind, kann von einer Integrität staatlicher Handlungen nicht die Rede sein. Dies läuft bei Meinhold wie Laube darauf zu, dass korrupte Beamte das Ansehen des Staats schädigen. Birkhahn hat „mehr als dreimal“ belauscht, wie Wittich auf eine Schuldigsprechung Mariens hinarbeitet. Er gibt vor Gericht über sein Spionieren Auskunft. Der Consul verspricht ihm Zeugenschutz, lässt sich dann aber von Wittich erpressen. Als junger Richter hatte er sich von Wittich mit fetten Aalen bestechen lassen, die inwendig mit Geld gefüllt waren. Wittich scheut sich nicht, den höher Beamteten damit zu erpressen. Fortan sagt oder tut dieser kaum noch etwas, was die Aussagen der präparierten Liese in Frage stellen könnte. Derart verschmilzt Laube Wittichs dämonischen Immoralismus mit dem Typus korrupter Ordnungsmacht. Nienkerken vertritt den besseren Staat. Er lehnt es ab, „eine amtliche Laufbahn“ „auf Kosten“ seiner „Überzeugung“ zu erschleichen; konkret ist er mit der Ständeklausel unzufrieden. Dass sein hochragender Körper in seiner Haltung ungeschickt natürlich wirkt, spricht für Lauterkeit. Doch auch mit der Jugendrevolte seines Stiefsohns geht Wittich eigennützig taktierend, nach außen hin aber um das Wohl des gesellschaftlichen Ganzen besorgt um. Er erwidert dem jungen Mann, daß gesellschaftliche Zwänge und Konventionen sich nicht mit „jungendlicher Zunge“ erledigen lassen. Er gebraucht sein soziales Wissen, wenn er ihm entgegenhält, er werde als sein Sohn sein Amt nur erben können, wenn er keine Mesallinance mit der Pfarrerstochter eingeht. Doch Rüdiger ist bereit, seinem Herzen zu folgen, auch wenn er sich damit die Karriere verscherzen sollte. Zwischen beiden entbrennen sittliche Kämpfe. Nienkerken arbeitet mit der schlagkräftigen Waffe des Moralischen, Wittich mit der zersetzenden Psychologie, wenn er ihn fragt, ob er so leidenschaftlich für ein Ende der Hexenverfolgung strei- <?page no="147"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 147 ten würde, wenn es nicht eine junge, schöne, sondern eine alte Frau zu verbrennen gelte. Als Nienkerken für die Durchsetzung seines Glücksanspruchs einen Volksaufruhr anzetteln will, hält Wittich ihm die Anarchie vor Augen, die das ganze Gesellschaftsgebäude zu zerstören drohe. Dem Zauber sittlicher Kräfte steht die amoralische Kraft entgegen. Wittich bedient sich der Kolken-Liese, die eine Zerstörung der Heilhandlungen Maries betreibt und Marie als Hexe ins Geschrei bringt. Liese will die Magie- Konkurrentin und die von Wittich begehrte erotische Konkurrentin aus dem Wege räumen. Tatsächlich aber ist sie die Kraft, die Wittichs Zerstörung beabsichtigt. Sie will sich an ihm zu rächen, indem sie sein Spiel konsequent zu Ende treiben und Marie brennen sehen will. Doch will sie Marie nicht allein deshalb verderben, weil sie sich als Geliebte verdrängt und durch Maries Zauber-Erfolge um ihre Reputation als „kluge Frau“ gebracht sieht. Sie ist eine Frau, die aus weit umfassenderen Beweggründen teuflisch handelt. Laubes Motivierung ihres Hasses resultiert in eine soziale Anklage, ganz in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels, darin aber Aussagen im Geiste der Frauenemanzipation hervorstoßend, wie Laube sie in den dreißiger Jahren auch niedergeschrieben hatte: „Euch vornehmen Männern ist Alles preis gegeben: der Friede eines schönen Mädchens, die Ruhe und Ehre einer Familie, ja das Leben der armen Leute, die unter Euch stehn. In Wissenschaften und Künsten werdet Ihr spielend unterrichtet und seid uns wißbegierigen armen Gschöpfen bald in allen Stücken überlegen; dann kommt die große Heldenthat unsrer Verführung, und wenn Ihr der Verführten überdrüssig seid, dann kommt der Lohn! Welcher Lohn? Hohn heißt er, vornehmer Hohn! Das ist Euer Lebenslauf mit armen Geschöpfen, und dann wundert Ihr Euch, Ihr frechen Wichte, daß sich Gift in uns aufsammelt, tödtliches Gift! “ Die emotionale Selbststeigerung Lieses zur Sozialrächerin ist Meinhold gegenüber zweifelsohne ein neuer Zug. Neu ist auch, dass Wittich Schweidler als „klägliches Menschenkind“ verachtet, weil er fleht und von Vergeben redet. Auch er ist mit dem Zug ständegesellschaftlicher Unbeweglichkeit ausgestattet, jedoch verkörpert er den steifen und steif gewordenen orthodoxen Glauben. Ihm ist zuwider, daß der Müllerbursche Zabel-Birkhahn nicht an die Zeichen und Wunder glaubt, von denen die Bibel spricht. Auch seinen Ohren ist die lose Zunge junger Burschen ein Missklang. Birkhahns Zunge bewegt sich für Schweidlers Geschmack zu schnell. Vor allem erblickt er in Nienkerken, den Wittich als rotbackigen, „nüchternen, unkundigen Gesellen“ verspottet, einen Gottlosen. Was „man nur sinnlich verursacht sieht […], verfliegt leicht“, hält Schweidler Rüdiger entgegen. Dabei ist Rüdiger weder der Atheist, den Schweidler in ihm vermutet, noch der der platte Rationalist, den Wittich in ihm sieht. Er steht über dem „kindischen Zorn“ weltanschaulicher Polarisierungen, wenn er sagt: „Wo ihr den wunderbaren Zusammenhang in ihr (der Natur) nicht versteht, da erbost Ihr Euch und verfolgt Euch unter einander, wie Kinder einander schlagen aus kindischen <?page no="148"?> Andrea Rudolph 148 Zorne.“ Aufgerissen erscheint eine Kluft zwischen einer Erstarrung von Luthers Lehre und dynamischen Leben, wenn Nienkerkens Verwurzelung im religiösen Naturerleben mit dem antiinstitutionellen Affekt zusammenhängt, auf dem Luthers Lehre eigentlich beruht. Der geistige Über-Standpunkt über den Parteiungen prädestiniert ihn dann auch zur Erlösungsfigur, die im Namen Gottes Marie befreit und sie vor Gott und allem Volke ehelicht. Nicht zufällig wird ja bei Laube herausgehoben, wie die Ankunft des Schwedenkönigs 1630 auf Usedom auf Nienkerken wirkte. Zu Marie bemerkt Nienkerken, er habe sich an jenem Tag in sie verliebt und sei „gesetzt“ geworden. Protestantische wie nationale Werte verschmelzen mit dem Gefühl des zur Reife gelangten Individuums. *** Die Marie verfluchende und verwünschende rohe Menge erwartet deren Höllenfahrt im Scheine düsterer Flammen. Sie erlebt stattdessen einen Blitz, der auf dem Hinrichtungsplatz das haltlose Subjekt fällt. Es wird von den Konsequenzen seines ihm wesensmäßigen Amoralismus eingeholt, allerdings nicht im innerweltlichen Kausalnexus. Den korrupten wie maßlosen Beamten einer an sich guten Wolgaster Regierung ereilt göttliche Strafe. Daraufhin greift Rüdiger auf dem öffentlichen Platz der Richtstatt das ordentliche Gericht und die betriebene Gerichtsprozedur mit Worten an. Er setzt alles auf den Boten des Herzogs und legt, da dieser auf sich warten läßt, selbst Hand an, während das Volk nach dem Schlachtopfer schreit. Tatsächlich setzt Laube Übergärung als Ausbreitung von Anarchie ins Bild. Die Ordnung lässt sich von den alten Kräften ständegesellschaftlicher Reaktion kaum noch halten. Als der Consul sagt, er gäbe, um den Ordnungszustand zu behaupten, der Forderung des stark erregten Volkes nach der Hexe nach, schwingt Nienkerken gegen ihn und den irrationalen Andrang der Menge sein Schwert. Er hebt trotz mobilisierter Gegengewalt von Wächtern und Musketieren Marie vom Scheiterhaufen und befreit sie von ihren Fesseln. Da sein Handeln durch menschliche Natur, durch nationale Geschichte und durch Gott geprägt ist, verändert sich der Stellenwert des „Sich geltend-machen- Müssens“ des in Freiheit gesetzten Individuums ins Positive. Danach erst trifft der von Rüdiger insgeheim ausgesendete Bote mit dem herzoglichen Befehl ein, Marie frei zu lassen. Der Brief legitimiert im Nachhinein die naturrechtliche, durch Liebe bestimmte Auflehnung des Junkers gegen das durch Wächter und Militär geschützte ordentliche, aber bestochene Gericht. Dies ist ein Dramenschluss, der gleich weit entfernt bleibt von freiheitlicher Anarchie wie von konservativer Reaktion und nach Tendenzen einer neuen sozialen Ordnung sucht. Dieser Befund vermag Sichtweisen der Laube- Forschung zu differenzieren, in der man zunehmend eine Distanz Laubes <?page no="149"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 149 zum Jungen Deutschland zu erkennen glaubt. 36 Als Nienkerken dann noch öffentlich bekannt gibt, er werde die Geliebte heiraten, der Consul ihn mahnt, „sie ist nicht von Adel“, wird die Mesallianceproblematik nicht - wie bei Meinhold - vermittels erneuerter Adelsbriefe gelöst 37 . Laubes Nienkerken greift das Gottesurteil auf und überhöht es politisch: „Gott hat sie geadelt, armer Mann! “ Diese Entgegnung des Junkers bezeichnet der Müllerbursche Birkhahn als „brav“, mochte er auch selbst Marie gern haben. In der neuen sittlichen Lebensordnung ist aber auch er „brav“. So herrscht Übereinstimmung als Antwort auf die ständegesellschaftliche Reaktion. Junker und Müllerbursche bekunden einander Respekt - dies unter dem christlichen Theaterhimmel des vormärzlichen Deutschland, unter dem nun auch die protestantische Kirche orthodoxer Prägung wandelbar erscheint. „So segne Euch der alte gute Gott! “, spricht Pfarrer Schweidler, nachdem er zuvor Standesunterschiede für unübersteigbar gehalten hatte. Das Hörbild macht es möglich, auch noch das Volk in die Wandlung einzubeziehen: „(Auf Birkhahn’s Wink neues Trommeln, Volksjubel.)“ Damit schließt sich der Bogen. Das Drama konnte beides ins Verhältnis setzen: Laubes rationale Literaturkonzeption, die zum allgemeinen Bild von Laube gehört und die okkulte Dimension, die dem Drama auch eingeschrieben ist. Kunstreich bildet Laube ab, wie ein korrupter und verlogener Vertreter des Staates den Staat dazu zwingen kann, in seinem Interesse zu funktionieren, wenn die staatliche Aufsicht fern ist. So bietet die Vorführung des Verhandlungsgeschehens (mitsamt seinem Vorfeld) auch eine Entlarvung von Willkür, Amtsmissbrauch und Bestechung. Auch sieht man, dass Laube die Kräfte des Volkes positiv sieht, aber dem Volk keine Geschichtsmacht zubilligen mag. Des Volkes irrationales Schreien nach Hinrichtung einer vermeintlich an allem Unglück Schuldigen hat ebenso seinen Platz in der menschlichen und geschichtlichen Natur wie die moderne Expansivität des Individuums, für die im tragischen Kontext der Begriff „Leidenschaft“ erscheint und welche im Teufelsbündnis sinnliche Gestalt gewinnt. Der Pakt mit dem Teufel symbolisiert die faktische, auch empirisch beobachtete Ausdehnung, Vergrößerung, Steigerung des Individuums, das durch Korruption seinen Macht- und Einflussbereich maßlos erweitert. Laube nutzt Bilder des Dämonischen, das geschichtlich und psychologisch aufgelöst wird. Kehren wir abschließend noch einmal zur Einleitung zurück. Dort bedenkt Laube die prinzipiell problematische Aufführung eines Stoffs, der über weite Strecken einen Hexenprozess bietet. Dem heutigen Leser erscheint an diesen Äußerungen manches klar. Die Bühnenaufführung kennt, was schon Lessing als Gesetz in seiner Hamburgischen Dramaturgie heraushob, nur das Tempus des 36 Zur Laube-Forschung siehe den „Überblick zur neueren Forschung“ in: Jakob Karg: Poesie und Prosa. Studien zum Literaturverständnis des Jungdeutschen Heinrich Laube, Bielefeld 1993, S. 8-12. 37 Der Briefadel nimmt Bezug auf das Reservatsrecht des Kaisers, den Adel zu verleihen. <?page no="150"?> Andrea Rudolph 150 Präsens, sie stellt alle Handlung als gegenwärtig vor. Einem auf die Bühne gehobenen Hexenprozess fehlte in Laubes Schreibgegenwart längst jede zeitgenössische Selbstverständlichkeit. Dem Hexenwesen „mit seinen lockenden und schreckenden Geheimnissen der eigenthümlich mächtigen Persönlichkeit“ hingegen sichert Laube bleibende Aktualität. Als Symbol für die Ich- Problematik gehört es in den Ideenkreis seiner Gegenwart. Nicht zufällig vertraut Laube sein Drama, das auf der flüchtigen Bühne nicht den gewünschten vollen Erfolg feiern konnte, dem auf Dauer stellenden Trägermedium ‚Buch’ an. Wohl kennt er die Räume, die das Buch der Kognition bietet. Hier verknüpft mit einer Einleitung, spielerisch erfolgt der Blick auf ökonomisch-gesellschaftliche Aspekte, entstehen bei einer Transposition von der Bühne ins Buch (Lesedrama), wie generell bei einer Re-Mediatisierung, immer auch neue Räume der Sinngebung. Bekanntlich gehört das Hexenwesen zu Bildern, die, wie alle Mythen, ambivalent sind. Gewisse Gärungs- und Veredelungsprozesse waren daher seit jeher auch konnotiert mit dämonischer Unergründlichkeit und irrationaler Tiefe. Das ermöglichte Laube, solche Bilder gegenwartsbezogen zu transformieren. Beide Akzentuierungen, die Menschenopferforderung des (blinden) Volkes und der schrankenlose Individualismus gehören zur modernen Gärung. Das menschlich und geschichtlich Irrationale wird nun aber bei Laube nicht - wie in der Aufklärung etwa - aus der Gesellschaft als ihr übler und verkommener Teil ausgetrieben. Es hat - ganz im Gegenteil - in der Gesellschaft einen Platz. Es ist gewissermaßen gehende Hefe, treibende Kraft, die Reformen als partielle, zeitliche Lösungspunkte fordert, soll die Gesellschaft nicht übergären und in alles zersetzende Anarchie umschlagen. Damit diese - sich (kathartisch) reinigend - vorwärts kommt, muß das Irrationale in das Rationale eingespannt werden, muß „die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt“ werden. 38 Laube transformierte hierfür den historischen Stoff des Hexenwesens - wie zuvor auf andere Weise Meinhold 39 - in eine Lesart der Moderne. Dabei wird die schwarze Magie produktiv als Motiv für ein nicht kontrolliertes Übergären der Naturkräfte, die weiße Magie für deren positive Begrenzung und Einbindung. Durch Wertebezüge Begrenzen und Klären. - Diese bestimmen sich in Lau- 38 „Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt. 1. Bd. Staatsverfassung, Volksbildung (Göttingen 1835), so lautete der Titel einer Schrift und die Revolutionssicht des liberalen Historiographen Friedrich Christoph Dahlmann, der radikaldemokratische Ansichten nicht teilte und auf Laube eingewirkt hatte. 39 Dies hatten die zeitgenössische Kritik, aber auch spätere Forschung größtenteils verkannt. So lautete etwa R. Gottschalls Urteil kurz zusammengefasst: „Ein dramatisierter Hexenprozeß, über dem die dicke trübe Atmosphäre eines veralteten Fanatismus brütet, ein Stück voll mittelalterlicher Grausamkeit und äußerlicher Tortur, ähnlich einer stürmischen Regennacht am Meere, die durch den Schrei Schiffbrüchiger unterbrochen wird.“ In: ders.: Die deutsche Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts, 4 Bde., Breslau 1902, 7. Auflage, Bd. 3, S. 462. <?page no="151"?> Übergärende Naturkräfte in sozialer Perspektive 151 bes Drama im Protestantismus und im Nationsgedanken, welche dem gesellschaftlichen Entwicklungsgang dort die Richtung weisen. Der ständegesellschaftliche Wittich hatte als vitalistisch vereinzelter Einzelner jeden Halt verloren, wie das abergläubisch-blinde Volk auf andere Weise. Der Dramatiker suchte Haltepunkte in der Gärung und fixierte diese im Individuum mit ethisch-sozialer Selbstbindung, im Protestantischen und Nationalen. Laubes Bernsteinhexe enthält seine Anstrengung, Demokratie und Revolution zu synthetisieren. Das Scheiterhaufenfeuer, das Lise Kolken unter dem Jubelgeschrei der manipulierten Menge aus Sozialrache anzünden lassen will, ist in dieser Lesart die Revolution. Die kontrollierte Naturkraft des Volkes ist in seinem 1843 niedergeschriebenen Stück die Demokratie. Laube bot ein Stück geschichtlicher Realität, für das er in seinem geschlossenen Drama Sinnbildfunktion anstrebte. Das Drama präferiert Wandlung, diese aber eingebunden in den Nationalgedanken und in den Protestantismus. Er war von der Zielvorstellung ausgegangen, vaterländische Bedeutung zu erzeugen und dem Mangel an geeigneten Stücken der nationalen Dramatik abzuhelfen. Seine Bernsteinhexe war sicher auch als Sensations- und Zugstück entworfen, zugleich aber als literarisch ambitionierte vaterländische Gegenwartsdramatik, die sich zu einem liberalen Modernisierungsweg bekannte. Was aber leistet die Verbindung des Hexischen mit sozialethischen wie politischen Fragen für die Hexensymbolik selbst? Indem Kollektivsymbole wie das der Hexe durch neue Konnotationen erweitert und ihre Bewertungen kunstreich verändert werden, bleiben sie, das zeigt die mit ‚remediation’ verknüpfte Reihe an Bernsteinhexen 40 , im historisch-sozialen Wandel lebensfähig. 40 Die Verf. dieses Beitrags bereitet eine kommentierte Edition der „Bernsteinhexen“ Wilhelm Meinholds, Heinrich Laubes und Max Geisslers vor, die u.a. auch die stoffliche Transposition in musikalische Werke und damit verknüpfte Bedeutungsentwicklungen einbezieht. <?page no="153"?> Ester Saletta „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” Brochs Roman „Die Verzauberung” zwischen Ursprung und Innovation eines christlich-satanischen Rituals Wenn man über Okkultismus spricht, denkt man sofort an etwas Geheimnisvolles wie zum Beispiel an das Verborgene, das Undefinierbare und Furchtbare, das verschiedene weltanschauliche Richtungen und Praktiken zusammenfasst. Diese beanspruchen das Wissen und den Umgang mit den unsichtbaren Seiten der Natur und des menschlichen Geistes. Die meisten, die sich schon mit dem Okkultismus in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt haben, verstehen unter diesem Begriff eine Gruppe von spiritistischen Tätigkeiten wie Magie, Pendeln, Wahrsagen oder Kommunikation mit Verstorbenen. Sie vernachlässigen aber den zentralen Aspekt des Okkultismus, nämlich seine vorchristlichen Überlieferungsquellen und seine Machtfunktion in der Gemeinschaft. Neuplatonismus, Kult der Kybele, des Dionysos, des Satans, keltische und germanische Rituale verschmelzen und verbreiten sich damals genauso wie heute in der doppelten Funktion des Okkulten, der „Magie” und der „Mantik”. Wenn die Magie von Parapsychologen mit der Kategorie der Machtausübung assoziiert wird, entspricht die Mantik der Kategorie des Wissens, und beide zusammen entwickeln sich auf derselben Grundlage der dualistisch geprägten Einstellung des Christentums. Mit der Feier des Okkulten durch magische und mantike Rituale, wie Gerhard Zacharias in seiner Studie über den Satanskult schreibt, gelangt in ihm jener Bereich zur direkten, wenn auch verzerrten Erscheinung, der von der christlichen Kollektiv- Einstellung abgelehnt und verfemt worden ist. Okkultismus stellt eine massenhafte Protestäußerung dar, da er extrem antithetische und damit einseitigüberspitzende Züge trägt, woraus sich seine Verzerrung und sein meist destruktiver Charakter ergeben. 1 Neben der von Zacharias beschriebenen zerstörerischen Eigenschaft des Okkulten versteckt sich auch eine weitere alternative Funktion des Unsagbaren, die mehr in die Richtung einer kompensatorischen sozialen Funktion geht. Es gibt soziologische Studien wie z.B. Roland Antholzers Arbeit Mächte der Bosheit, die gezeigt haben, wie Leute, die sich an okkulte Gemeinschaften wenden, von der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung und ihren Normen frustriert sind. Die Praktiken der auf die- 1 Gerhard Zacharias: Satanskultus und schwarze Messe. München: Herbig 1990 S. 20. <?page no="154"?> Ester Saletta 154 se Weise entstandenen okkulten Gemeinden, in denen es regelmäßig zu neuen, gruppeninternen Normbildungen kommt, ermöglichen sowohl den Ausdruck des Protestes als auch die ergänzende seelische Erfüllung der von der institutionalisierten Kultur enttäuschten Erwartungen. Die Bedeutung des aus dem Roman Brochs Die Verzauberung (1936) entstandenen Ausdrucks „dann wird der Irrsinn zur Vernunft“ 2 soll unter dieser sozial-kompensatorischen Funktion des Okkulten verstanden werden, wobei die literarisch-symbolische Valenz des Textes gerade auf dem mythischen und vorchristlichen Kontext des Erzählstoffs beruht, in dem die menschliche Auseinandersetzung mit der äußeren Umgebung aus einer okkulten Basis heraus entsteht, deren referenzieller Sinn der historisch-politischen Dimension auf Brochs Zeit zurückführt. Dies o.g. Zitat aus Brochs Die Verzauberung wird ausgesprochen, als der Ich-Erzähler Miland Irmgard über die Gefährlichkeit aufklärt, den Prinzipien des fremden Marius Rattis zu folgen. Es erinnert an die Rede über eine mögliche Verwandlung vom Irrsinn zur Vernunft oder - metaphorisch interpretiert - vom Bösen zum Guten. So ein Gedanke ist in Brochs Produktion nicht neu. Sein in der Neue[n] Rundschau publizierter Essay Das Böse im Wertsystem der Kunst (1933) fokussiert nicht nur die sozial-historischen Voraussetzungen des Erscheinens des Bösen beim Erwähnen der chaotischen und verzweifelten Natur der menschlichen Gesellschaft in der Zeit des „Nicht-mehr“ und des „Noch-nicht“, sondern auch die funktionale (im Sinne des Ethischen) Notwendigkeit der Darstellung der Spannung zwischen Gut und Böse im Alltag als die reale Spiegelung des menschlichen Daseins. „Der künstlerische Ausdruck der Zeit ist in der ungeheuren Spannung zu sehen, die zwischen dem Guten und dem Bösen innerhalb der Kunst liegt.“ 3 Das Böse, das in Brochs Augen einen Teil der Seele des Menschen konstituiert, stellt ein Element der existentiellen Wirklichkeit der Kunst dar, die „gut“ nur als wahre bzw. vollkommene Reproduktion des Lebens ist. Ohne die künstlerische Darstellung dieser bösen Seite des Lebens wäre das Kunstwerk „kitschig“, d.h. unwirklich, empirisch, nicht repräsentativ für die äußere Welt in all ihren Schattierungen. Wenn das Böse funktional für eine uneingeschränkt ethische Vorstellung des Wertsystems „Leben“ ist, spricht man bei Brochs Lebensphänomenologie von einem „verbrecherischen Bösen“ 4 statt 2 Hermann Broch: Die Verzauberung. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994, S. 228. 3 Hermann, Broch: „Das Böse im Wertsystem der Kunst“. In: Hermann Broch. Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Bd. 9. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1975, S. 123. 4 Ebd. S. 143 „[…] zu jedem beleidigten Wertsystem läßt sich ein ‚außen’ befindliches Oppositionssystem angeben, dem die Verantwortung für solches Tun zuzuschreiben ist, und solange dies geschehen kann, bleibt das Böse im Relativen der Wertsysteme, <?page no="155"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 155 eines „radikalen Bösen“ 5 , das aufgrund seiner systematischen Geschlossenheit keine ethische Funktion in sich trägt. Das „radikale Böse“, das keine Öffnung zum Außen erlaubt, da es um ein geschlossenes Wertsystem geht, bleibt auch unfähig, sich zu modifizieren. In diesem Sinne kann keine „Umformung“ 6 des Bösen ins Gute geschehen. Die beiden Wertsysteme des Bösen und des Guten bzw. des Irrationalen im Sinne von Wahnsinn oder Fremdsein und des Rationalen im Sinne von Vernunft oder Tradition findet man auch in den zwei monadischen, aber dennoch dialogischen, von Marius Ratti und Mutter Gisson vertretenen „Oppositionssystemen“ 7 wieder, wobei die Welt Rattis als das „radikale Böse“ bzw. als der destruktive, aber ethisch funktionale Faktor der Welt als Gegenstück zu Mutter Gissons zu lesen ist. Anfang September 1935 zieht sich Broch nicht nur aus finanziellen Gründen in ein Tiroler Bergdorf zurück, sondern auch, um sich dort inspirieren zu lassen. Er war gerade dabei, einen neuen Roman zu schreiben, Die Verzauberung, dessen Geschichte in einem Bergdorf spielen sollte. Lützeler erzählt in seiner Broch-Biographie, wie der Schriftsteller zuerst zwei Tage in einem Hotel in Seefeld verbrachte, um dann in einen Bauernhof in Mösern zu übersiedeln, wo er ein geräumiges Zimmer auf der Westseite im oberen Stock mit Blick auf das Inntal wählte. Die Bestätigung, dass die neue Unterkunft „ideal“ für seinen literarischen Zweck war, ist in dem Brief an die Frau seines Verlegers, Daisy Spitz Brody, zu lesen. „Hier hätte ich nun einen idealen Arbeitplatz. Völlige Abgeschiedenheit, völlige Einsamkeit, ich ganz allein in einem Bauernhaus, und von meinem Fenster aus übersehe ich das 600 m unter mir liegende Inntal in seiner ganzen Länge bis zum Arlberg, links die Ötztaler und Pitztaler Alpen, rechts das Karwendel- und Wettersteingebirge. Es ist so unbeschreiblich schön, daß ich darf man von ‚Irreleitung’ sprechen, vom ‚einfach Bösen’, ja, vom Verbrecherischen […]“. 5 Ebd. S. 143 „Wenn jedoch ein solches ‚Außen’, das auf die Zerstörung des Systems und die Aufhebung seines Wertzieles hinwirkt, nicht mehr aufzuweisen ist, wenn die Zerstörung zu einer Selbstzerstörung wird, die aus dem System selber und mit den eigenen Mitteln des Systems erfolgt, eine Selbstzerstörung, die also durch keine von außen kommende Verführung entschuldigt wird, dann darf mit Fug von der Wirksamkeit des ‚radikal Bösen’ gesprochen werden. 6 Ebd. S. 128 „[…] und das Ungeformte oder Mindergeformte ist stets das Irrationale: das Irrationale, wo immer und wie immer es auftritt, in seiner Dunkelheit ununterscheidbar von der Dunkelheit des Todes, ist gleichzeitig das Todesschwangere, und seine Formung und Aufhellung wird zur Aufhebung des Todes, wird zu einem Stück Zukunft […]“. 7 Ebd. S. 142 „Es ist also immer ein bestimmtes dialektisches Verhältnis, ein dialektisches Auseinanderhervorgehen, das zwischen zwei sich bekriegenden Wertsystemen zur Gänze oder zu einem Teil vorhanden sein muß: was hier gut ist, hat dort böse zu sein.“ <?page no="156"?> Ester Saletta 156 beinahe fürchte, immerzu nur zum Fenster hinauszuschauen und nichts zu arbeiten […]” 8 Beeindruckt von der atemberaubenden Tiroler Landschaft und „proletarisiert”, wie Lützeler pointiert, lebte Broch in Mösern in absoluter Einsamkeit und Verbindung mit der Natur. Er ging dort einer intensiven schriftstellerischen Tätigkeit nach - er verfasste den Roman Die Verzauberung - und unternahm zwischendurch immer wieder kurze Spaziergänge in der Umgebung. Der Arbeit, die Broch 1936 beendete, gingen zwei frühere unvollendete Versionen voran, der Bergroman (1935) und Demeter (1936), die Teil einer geplanten dreibändigen Trilogie sein sollten. Trotz Felix Stössingers Anstrengung, alle drei Bände in einem einzigen Roman namens Der Versucher zu adaptieren, ist die von Paul Michael Lützeler 1976 herausgegebene Version die glaubwürdigste und bekannteste. Diese Fassung wurde auch als Grundlage für die vorliegende Arbeit gewählt und in den Anmerkungen zitiert. In Brochs Die Verzauberung steht ein Landarzt als Ich-Erzähler im Zentrum der Handlung. Dieser verlässt die Stadt und zieht sich in ein Bergdorf zurück, um eine entscheidende Antwort auf seine existentiellen Frage „Warum empfand ich die Ordnung in der Stadt nicht mehr als Ordnung, sondern nur mehr als Überdruß des Menschen an sich selbst, als ein lästiges Unwissen, während ich hier voll Anteilnahme bin? “ 9 zu finden. „Aufgesaugt von der Zeit und im Nichts verloren“ 10 erinnert Brochs Landarzt an Musils Homo aus der Novelle Grigia, der auch beschließt, seine Frau und seinen kranken Sohn zu verlassen, um an einer Goldbergexpedition im Fersenatal teilzunehmen. 11 In beiden Fällen befindet sich die Hauptgestalt in einer alternativen bäuerlichen Umgebung, in der der Alltag unter dem Zeichen der Ruhe und der reinen Verbindung mit der ursprünglichen Natur steht. Während jedoch das Leben Homos von der Anwesenheit eines fremden Elements wie Grigia positiv destabilisiert wird - Grigia zeigt Homo den Weg der wahren naturhaften Ursprünglichkeit -, wird in Brochs Roman nicht nur das Leben des Landarztes, sondern auch des ganzen Bergdorfes Kuppron durch das Auftauchen eines Fremden namens Marius Ratti in ein „okkultes“ Prozedere geworfen. Rattis plötzliche Präsenz im Dorf Kuppron, in der „eine Aufforderung zum Haß, in seinem freundlichen Ton“ 12 zu finden ist, so dass „in seiner gleißnerischen Gebärde etwas (lag), das hieß: Hasse mich, hasse mich, damit 8 Zit. nach. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1985 S. 193f. 9 Ebd. S. 11. 10 Ebd. S. 9. 11 Robert Musil: Grigia. In: Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1998, S. 215. 12 Hermann Broch: Die Verzauberung. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994, S. 27. <?page no="157"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 157 du mich liebst“ 13 , wird von den meisten Bewohnern des ländlichen Dorfes als Signal einer neuen revolutionären Lebensordnung verstanden. Rattis Wunsch, Kuppron durch ein gewalttätiges Ausbeutungsprogramm der Natur - Goldsuche im Berg in Oberdorf - zu „erlösen“, spaltet die Gemeinschaft Kupprons in zwei Gruppen. Die eine ist mit Rattis Ideologie, den Berg zu „vergewaltigen“, einverstanden, die andere will die Natur nicht zerstören. Die letztere findet ihre Anführerin in der alten Heilkundlerin Mutter Gisson, Rattis Gegenspielerin, deren Naturrespekt und idyllische Kontemplation der Mutter-Erde seit Generationen das Gemeinschaftsleben Kupprons unter dem Zeichen des Mutterrechts geprägt hat. Sinnlos und zu spät sind Mutter Gissons Warnungen vor Rattis Programm, vor seinen manipulierenden Reden, vor seiner hypnotischen Machtausübung sowie vor seiner Verführungstechnik und seinem Verbreiten einer illusorischen Hoffnung, da die meisten Bergleute mit Ausnahme des Ich-Erzählers, der Mutter Gisson, ihres Sohnes Matthias und seines Freundes Suck schon Opfer seiner okkulten mephistophelischen Propaganda geworden sind. Rattis Erlösungsprogramm von Kuppron gipfelt einerseits mit der dramatischen Ermordung von Mutter Gissons Enkelin Irmgard bei einem von ihm organisierten dionysischen Opferfest, das an einem versöhnenden Satanskult erinnert, und andererseits mit der Verbannung Wetchys, ein Agent landwirtschaftlicher Maschinen, durch das Volk. Während Marius Ratti schließlich zum Mitglied der Dorfgemeinschaft ausgerufen wird und Mutter Gisson stirbt, begrüßt die Gemeinschaft Kupprons die Schwangerschaft der Bäuerin Agathe als Zeichen einer wiedergefundenen Seligkeit. „Mutter Gisson ist gestorben, und die Agathe hat ihr Kind. Und es will mir scheinen“, schreibt Broch im Nachwort des Romans, „als ob mit dem Kind der Agathe eher die neue Zeit kommen wird […] als ob sich in Agathens Geist die neue Frömmigkeit vorbereitet, die die Welt braucht und die sie will, und daß Agathens Kind dies einst wird verwirklichen können.“ 14 Der oben bereits kurz skizzierte Romaninhalt, dessen Thematik sich auf die Ungleichheit von „Versöhnung“ und „Erlösung“, auf das Gegeneinander von Mutter Gisson und Marius Ratti sowie auf die Unterschiedlichkeit von Ordnungssystemen wie Matriarchat und Patriarchat konzentriert, lässt verschiedene okkulte Elemente erahnen - sei es die Figur Marius Rattis; sei es das Opfertum Irmgards; sei es die Verbannung Wetchys -, wie Broch in seiner Autobiographie als Arbeitsprogramm (1941) betont. „In den Jahren 1928-35 veröffentlichte ich also meine Romane, ebenso ein Schauspiel, welches in Zürich 1934 aufgeführt wurde. Alle diese Arbeiten liegen in der Richtung, wie sie von den beiden angeführten Gründen vorgezeichnet gewesen war; sie bemühen sich um exoterische Wirkung mit Hilfe dichterischer Mittel. Insbesondere gilt dies für einen Roman Verzauberung, 13 Ebd. S. 27. 14 Ebd. S. 369. <?page no="158"?> Ester Saletta 158 der 1935 begonnen, aber infolge der Zeitereignisse nicht mehr völlig fertiggestellt wurde.“ 15 Das hier erwähnte Wort „Verzauberung“, das mit Rattis Propaganda zu verknüpfen ist, wird in der Ökonomie des Romans insbesondere in Kapitel zwölf vom Landarzt und von Mutter Gisson erneut als negatives Signal einer drohenden immanenten Katastrophe erwähnt. Beide Protagonisten fragen sich: „Wissen wir denn, wann die Verzauberung über uns kommt? “ 16 Sie unterstreichen mit tiefer Traurigkeit und Sorge die Tatsache, „wir können uns ihrer ja nicht erwehren“. 17 Aber der Begriff „Verzauberung“ enthält auch eine positive Bedeutung wenn man ihn als Versöhnung und nicht als Erlösung liest. In diesem Sinne stimmt die Verzauberung nicht mehr mit Rattis satanischem Fluch überein, sondern mit Mutter Gissons Berghochzeitsfeier. Sowohl Rattis hypnotischer Ritus, in dem Irmgard den Tod findet, als auch Mutter Gissons Berghochzeit, in der Irmgard Braut der Berge wird, tragen mythisch-vorchristliche, apollinische und dionysische Aspekte in sich, die an die positive und negative verwandelbare Wirkung des Okkulten als alternative Religion in einer literarischen Dimension mit politisch-sozialen Kehrseiten erinnern. 1. Marius Ratti, Mutter Gisson und Irmgard. Eine Triade für und gegen Okkultismus „In der Dorfstraße traf ich den Fremden. Zwischen einer geschwungenen scharfen Nase und einem schon lange nicht rasierten Stoppelkinn hing ihm ein dunkler Gallierschnurrbart über die Mundwinkel und machte ihn älter aussehend als er es wahrscheinlich war; ich schätze ihn auf dreißig oder etwas darüber. Er beachtete mich nicht, doch als er vorüber war, bildete ich mich trotzdem ein, seinen Blick erhascht zu haben und daß dies ein träumerisch starrer und dennoch kühner Blick gewesen sei. Vermutlich habe ich dies bloß aus seinem Gang erraten, denn dieser Gang war trotz offenkundiger Müdigkeit, trotz miserablen Schuhwerks beschwing und streng zugleich […] Es war nicht der Gang eines Bauern, eher der eines fahrenden Gesellen, und dieser Eindruck war durch eine gewisse ungelüftete Kleinbürgerlichkeit, die hinter der Manne herhebt, verstärkt.“ 18 So beschreibt der Landarzt Marius Ratti den Fremden, als die beiden sich das erste Mal in dem Bergdorf Kuppron treffen. Rattis physisches Aussehen, seine Haltung und sein Gehen tragen deutliche faustianische bzw. mephisto- 15 Glenn Robert Sandberg: The Genealogy of the Massenführer. Hermann Broch’s Die Verzauberung as a religious Novel. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1997 S. 34 16 Hermann Broch: Die Verzauberung. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994, S. 251. 17 Ebd. 252. 18 Ebd. S. 14. <?page no="159"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 159 phelische Merkmale in sich, 19 die Lützeler mit der seelischen Natur des Ich- Erzählers assoziiert, auch wenn er mit Recht betont, dass Brochs Die Verzauberung mit Goethes oder Manns Faust nicht zu vergleichen sei. 20 Trotzdem erscheint Ratti in den Augen des Ich-Erzählers zweifellos auch aufgrund seiner Beziehung zu den Bewohnern Kupprons - deren Gespräche mit dem Landarzt geben Aufschluss über Rattis Verweilen bzw. über sein okkultes Wirken und sie bezeichnen ihn als den „unsichtbaren“ Chaosbringer 21 - dämonisch und geheimnisvoll, provozierend und rebellisch. Bei den Bewohnern Kupprons beginnen Gerüchte über Marius zu kursieren. Er gilt als abergläubisch. Es ist die Rede von einem „hergelaufene[n] Lump“, der Leute „verhext“ und Tiere „behext“. Der Aberglaube im Sinne einer Abweichung vom Standpunkt einer festen religiösen Gebundenheit weist auf die von Broch bereits in seinem historischen Exkurs Zerfall der Werte (7) 22 bei der Schlafwandler-Trilogie benannte religiöse Krise hin 23, die Marius’ Absichten zugute kommt, da seine Verführung nur auf der Strategie des Versprechens, der Berg Kuppron verstecke Gold in sich, basiert. Marius, der den Ich-Erzähler „mit solchem Gehaben wie ein Wanderprediger einer abstinenten Sekte mit kommunistischem Einschlag [verhext], meint [es], so ernst wie eben nur Narren alles ernst meinen.“ 24 Er verkörpert die Rolle des guten, aber vom Volk nicht angehörten und aufgenommenen Hirtens - „Ihr wißt, was der Berg will, und Ihr seid so selbstsicher und selbstgerecht, daß Ihr des Wissens eines andern nicht achtet, geschweige denn, daß Ihr es anerkennen wollt…prüft mich, nehmt mich auf bei Euch dienen und zweifelt nicht von vornherein, ehe Ihr mich geprüft habt.“ 25 -, dessen Botschaft die Proklamation einer neuen Ordnung ist. Es ist das Patriarchat anstatt des Matriarchats der Mutter Gisson, es ist das Böse anstatt des Guten, es ist der Wahnsinn anstatt die Vernunft oder, kurz gesagt, es ist der rationalisierte okkulte Wahnsinn eines klaren Narren. 19 Vgl.Thomas Manns Doktor Faustus. Frankfurt/ Main: Fischer 1990 S. 301 „Ist ein Mann, eher spillerig Von Figur, längst nicht so groß […], aber auch kleiner als ich, eine Sportmütze übers Ohr gezogen, und auf der anderen Seite steht darunter rötlich Haar von der Schläfe hinauf; rötliche Wimpern auch an geröteten Augen, käsig das Gesicht, mit etwas schief abgebogener Nasenspitze; über quer gestreiftem Trikothemd eine karierte Jacke mit zu kurzen Ärmeln, aus denen die plumpfingrigen Hände kommen; widrig knapp sitzende Hose und gelbe, vertragene Schuhe, die man nicht länger putzen kann. Ein Strizzi, Ein Ludewig.“ 20 Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1985, S. 187. 21 Ebd. S. 51. 22 Hermann Broch: Die Schlafwandler. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994, S. 536f. 23 Hermann Broch: Die Verzauberung. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994, S. 226. 24 Ebd. S. 80-81. 25 Ebd. S. 45. <?page no="160"?> Ester Saletta 160 „Mag es ein Narr sein, mag es ein Irrsinn sein…wenn alle an den Irrsinn einmal glauben werden, dann wird der Irrsinn zur Vernunft…aber mit der alten Vernunft geht es eben nimmer weiter…und irgend etwas in uns muß eben Ja sagen, dann wird es schon von selbst vernünftig.“ 26 Nicht nur Ratti verbreitet die Botschaft der Rationalität eines patriarchalischen okkulten Wahnsinns, dessen Wurzel in der gewalttätigen und skrupellosen Naturausbeutung im Namen der Proklamation einer illusorischen gleichwertigen Gerechtigkeit der Massen versinkt, sondern auch die lebendige Inszenierung alter heidnischer und mythischer Traditionen wie die des Dionysos und der Bacchanalen. 27 Die „unsichtbare“ physische Anwesenheit Rattis in der Bevölkerung, die von seiner Eloquenz gegen Mutter Gissons naturhaftes Lebenssystem 28 , sowie von seiner instrumentalisierten Dramatisierung des Wiederbelebens von ursprünglichen mythischen Ritualen zutiefst beeindruckt ist, enthält gerade jenige satanische Heilkraft, die die Leute des Bergdorfs dazu gebracht hat, ein Menschenleben zu opfern. „Als ich auf den letzten Stufen war und den obern Raum überblicken konnte, sah ich Irmgard und Marius inmitten der blankgefegten Tenne stehen; sie schauten einander in die Augen und rührten sich nicht.“29 Mit diesen Worten führt der Ich-Erzähler die Szene des hypnotischen und mörderischen Ratti-Ritus ein, der Irmgard als Opfer und Sündenbock hinstellt, während er Ratti zuerst als Hypnotiseur und dann als Täter sieht. Der Raum, in dem das dionysische Ritual der Hypnotisierung und der Ermordung Irmgards stattfindet, wird aus der Sicht des Ich-Erzählers als finster dargestellt. An der Decke hängt eine Glühbirne und auf der hinteren Seite befindet sich ein geschlossenes Scheunentor. 26 Ebd. S. 228. 27 Glenn Robert Sandbergs Studium über die Phänomenologie des Massenführers fokussiert das Motiv der sozialen und historischen Kontextualisierung dieses Phänomens in der Zeit Brochs mit der mythischen dionysischen Identifikation durch die Darstellung der Berührungspunkte zwischen der literarischen Figur von Marius Ratti und seinen zwei historischen Doppelgängern bzw. Karl Lueger und Adolf Hitler. Vgl. S. 95-127 In diesem Zusammenhang ist auch die okkulte Dimension interessant, die nicht nur die Gestalt Rattis sondern auch die von Dionysos beeinflusst, aber auch die viel diskutierten und untersuchten Verbindungen Karl Luegers und Adolf Hitlers mit dem Okkultismus. Vgl. Ken Andersons Werk Hitler and the Occult.New York: Prometheus Books 1995 S. 107-185. 28 Vgl. Ebd. S. 165 Wenzel, Rattis rechte Hand bei der Verwirklichung des Überzeugungsprogramms in Kuppron, wendet sich an die Angehörigen seiner Gruppe mit Witzen folgender Art. „Kameraden, ich weiß, daß ihr Disziplin zu halten versteht, auch wenn der eine oder andere von euch jetzt irgendwo ein Mädel im Heu liegen hat, die ohne ihn nichts rechtes anzufangen weiß […] Vergeßt nicht, daß ihr einen Eid geschworen habt, einen heiligen und freiwilligen Eid, und daß jeder eine Sau ist, der einen Eid bricht, eine Sau, die man absticht. Leider lassen sich keine Würst draus machen.“ 29 Ebd. S. 210. <?page no="161"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 161 Nur „der Wind pfiff durch die breiten Ritzen der Bretterwände, und mit einem unablässig kratzenden Säuseln bewegten sich die Halmspitzen der aufgestapelten Garben in dem Luftzug. Sonst hörte man nichts.“ 30 Dies sind die Details des Ich-Erzählers, die die düstere Atmosphäre beschreiben, Präludium der Hypnotisierung von Mutter Gissons Enkelin. Das Mädchen, das Ratti als „großes Opfer“ 31 für die Erlösung Kupprons benützt, verkörpert die menschliche Ausrede für die Wiederversöhnung des Himmels mit der Erde: „Mann und Weib […], sie werden wieder eins inmitten ihrer blühenden Felder, wenn ihre Sprache, […] in ihre eigenste Tiefe zurückgekehrt, ihre Einheit wird ausdrücken können“ 32 Das Opfertum Irmgards, in dem „[…] die Jungfrau wieder zum Schoße der Erde und die Mutter zur Tochter (wird) (und) Bitternis und Bösheit in der Festigkeit der Berge (verschwinden werden)“ 33 , so dass Irmgards „Blut zur Erde zurückgeflossen sein wird, bis […] die Mutter dem Vater sich wieder gatten wird“ 34, repräsentiert die Inszenierung einer tödlichen Hochzeit zwischen Irmgard, Symbol für die Reinheit der Mutter-Erde, und Ratti, dem Vater-Himmel, - „Als Vater dich tötend, kehr’ ich als Himmel zu dir, Erde gewordene, als Gatte zurück.“ 35 Es geht um eine Hochzeit des Lebens mit dem Tod, die von Rattis monotonem Singsang gekennzeichnet und vorgesagt wird. Die Szene von Rattis hypnotischer Verzauberung Irmgards oder Irmgards symbolische Hochzeit mit Ratti endet mit der Darstellung des Verführers, der „wie ein Stock in den Getreidehaufen neben dem Trichter“ stürzt und dessen „Hände und Gesicht in den Körnen (vergräbt) als wollte er sein ganzes Sein und sich selbst ihnen vermählen.“ 36 Das durch Rattis Haltung verhexte junge Opfer bleibt bewegungslos und hält seinen Blick in die Ferne gerichtet als ob sie die gerade geschehenen Ereignisse nicht erlebt hätte. Opfer, Täter und Ich-Erzähler, der die ganze Szene von außen beobachtet hat, wären nicht von der hypnotischen Verzauberung Rattis befreit worden, „wenn nicht jetzt mit einem Schlage der Regen eingesetzt hätte und mit weichem Prasseln gegen die Holzwand der Scheune und auf ihr Dach getrommelt hätte.“ 37 Der hypnotische Ritus des Verführers soll den Leser den Weg zu Irmgards Opfer zeigen. Dieser Ritus trägt Elemente in sich wie laute Musik, Tanz und Faschingsmasken, die an dionysische Bacchanalen und an keltische Traditionen erinnern. 30 Ebd. S. 211. 31 Ebd. S. 211. 32 Ebd. S. 111. 33 Ebd. S. 213. 34 Ebd. S. 213. 35 Ebd. S. 213. 36 Ebd. S. 214. 37 Ebd. S. 214. <?page no="162"?> Ester Saletta 162 Mitten im Wald, „wo der Kalte Stein steht […] kühl und unbeachtet […] auf halb eingesunkenem Sockel“ 38 , werden der Ich-Erzähler und Mutter Gisson in einem orgiastischen, unendlichen und wahnsinnigen Tanz hingerissen, in der „die Köpfe und Körper, gleichsam von unsichtbarer, dennoch stürmischer Welle bewegt, gingen auf und nieder; ein brodelnder Kochtopf war dieser Tanzboden, brodelnd von Leiber, und wir tanzten, freilich kaum mehr miteinander, sondern ein jedes von uns tanzte die eigene Unergründlichkeit seines Lebens, tanzte den Herzschlags seines eigenen Seins […]“ 39 Es ist der wilde Tanz der Versöhnung, der orgiastischen Selbstbefreiung und Selbstbefriedigung, den die griechische Welt schon aus der Zeit des Dionysos kennt. Karl Kerényis Beschreibung der Bedeutung dieses Tanzes im Rahmen der griechischen Bacchanalen als einem Trance-Zustand, in dem man oft nicht wusste, wohin dieser nächtliche Tanz auf Bergpfaden führt 40 , erinnert an jene Szene in Schnitzlers Traumnovelle (1925) in der Fridolin die Erfahrung der Orgie beim Maskenball erlebte. „Masken, durchaus in geistlicher Tracht, schritten auf und ab, sechzehn bis zwanzig Personen, Mönche und Nonnen. Die Harmoniumklänge, sanft anschwellend, eine italienische Kirchenmelodie, schienen aus der Höhe herabzutönen. […] Wieder streifte ihn ein Arm. Diesmal war es der einer Nonne. Wie die andern hatte auch sie um Stirn, Haupt und Nacken einen schwarzen Schleicher geschlungen, unter den schwarzen Seidenspitzen der Larve leuchtete ein blutroter Mund. Wo bin ich? Dachte Fridolin. […] Bin ich in die Versammlung irgendeiner religiösen Sekten geraten? “ 41 Masken, Musik, verkleidete Frauen in Faschingskostümen, ein Gefühl der Desorientierung, der Gefahr und des Verlustes der Vernunft konnotieren nicht nur Schniztlers Fridolin, sondern auch Brochs Landarzt, der „behext vom Tanze, behext von (seinem) Blute, in dem (er) Geburt und Tod fühlte“ 42 , die Umgebung rund um ihn herum in absoluter Verzweiflung wahrnimmt. Getrieben „mit der erbitterten Hartnäckigkeit von Besessenen […], mit einer verbissenen Leidenschaft, die mit üblichen Faschingsvergnügungen nichts mehr gemein hatte, von einer magischen Woge“ 43 gleich einem hypnotischen Fluch verwandeln sich die Leute unter dem Einfluss des Alkohols und des Tanzes in einen hysterischen, wahnartigen orgiastischen Taumel. 44 38 Ebd. S. 254. 39 Ebd. S. 254. 40 Karl Kerényi: Gedanken über Dionysos. In: Studi e materiali di storia della religione. Zit. nach Glenn Robert Sandberg: The Genealogy of the Massenführer. Hermann Broch’s Die Verzauberung as a religious Novel. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1997, S. 40-41. 41 Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Frankfurt/ Main: Fischer 2000, S. 40f. 42 Hermann Broch: Die Verzauberung. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994, S. 255. 43 Ebd. S. 255. 44 Ebd. S. 255. <?page no="163"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 163 Der immer rasender werdende Tanzrhythmus korrespondiert hier zum Zeichen der Verwandlung des Kollektivs in eine anonyme Masse eine „zunehmende, merkwürdig maschinelle Schweigsamkeit“ 45 , die das so entstandene Gemeinschaftsgefühl als trügerisch entlarvt und die in Besinnungslosigkeit kulminierende Auflösung der Subjektivität des Einzelnen anzeigt. In diesem ausbrechenden Wahnsinn wird das Kollektiv zur Herde, die auf die Erlösung wartet. Ohne es zu bemerken wird auch der Ich-Erzähler von der tanzenden Menge bis zum Kalten Stein geschleppt, wo er die dunklen Schatten eines Wesens auf dem keltischen Opfertisch sieht. Es ist Marius Ratti, dessen Erscheinen beim Kalten Stein die frühere apollinische Atmosphäre des Festes in eine echt dionysisch-satanische verwandelt. Eine musiklose Prozession mit wilden und furchtbaren Geistern verstärkt diese trübe Darstellung. „In der Tat, die Geister waren auch erschreckend genug anzuschauen: mit Tüchern und Masken und Bärten vor den Gesichtern, mit Strohmänteln umhängt, die ihnen die Gestalt von wandelnden Negerhütten gaben, mit Mistgabeln wie Teufel bewaffnet, die Köpfe mit Geiß- und Kuhhörnern bewehrt, […] so waren sie da aufgepflanzt und bewegten bloß leise drohend ihre Waffen.“ 46 Die Stille rund um die bedrohlichen verkleideten Geister wird von einem „sehr entsetzlichen Lärm“ 47 unterbrochen, und die Geister beginnen mit Ketten und Kuhglocken zu rasseln. „Sie schlugen ihre Waffen und Geräte aneinander, und unter läppischen und doch unheimlichen Sprüngen umzingelten sie den Tanzboden.“ 48 Die Musik fängt wieder an, auch wenn der frühere harmonische Klang der Ziehharmonika durch „zwei recht mißtönende kratzende, dennoch klagende Geigen“ 49 ersetzt wird. Es ist der Beginn des Hexen-Prozesses von Kuppron, in der ein Junge in „Weiberkitteln“ 50 mit einer Hexenmaske auf einen Besen reitet, während ein anderer mit einem weißen Bart und einer Art Bischofsmütze als Oberpriester erscheint. Unter dem Motto „Die Mütter die bösen/ die häßlichen Hex’/ verkaufen die Jungfrau/ an Schlang’ und Eidechs’„ 51 entwickelt sich der Ritus für die Proklamation der Schuld der Hexe, die eine Jungfrau dem Drachen als Tribut geopfert hat und zugelassen hat, „daß die Riesen den Himmel von der Erde weggehoben haben, damit die Erde verdorre. Falschen Regen“ hat die Hexe „(ge)lassen, Drachenregen, aus dem das giftige Kraut sprießt.“ 52 45 Ebd. S. 257. 46 Ebd. S. 260. 47 Ebd. S. 260. 48 Ebd. S. 260. 49 Ebd. S. 260. 50 Ebd. S. 260. 51 Ebd. S. 265. 52 Ebd. S. 265. <?page no="164"?> Ester Saletta 164 Die Hexe muss ihre Schuld büßen, damit die Jungfrau wiederkommen kann, und die Versöhnung zwischen Erde und Himmel wahr werden kann. In diesem Augenblick erscheinen plötzlich Irmgard und Marius in der Nähe des Kalten Steins als Symbol der Wiederherstellung des Gleichgewichts von Gut und Böse sowie des Übergangs von der Legende zur Realität. Ratti wiederholt in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit des Opfers einer Jungfrau als Zeichen der ewigen Erlösung Kupprons von dem Bösen, wie er es schon damals in der Tenne bei der Hypnotisierung Irmgards proklamiert hatte. „Irmgard, mit ausgebreiteten Armen über den Stein geworfen, schaut verzückten Auges auf zu einem Himmel, der unsichtbar war vor dem weißen Licht des Azetylens. […] Ja, sie lag da, und im scharf abgezirkelten Kreise des Lichtkegels, in sich gekehrt und verknospet, dennoch aufgeblättert, weit ausgebreitet Arme und den Kopf auf den Stein gesenkt. […] Miland ließ das Steinmesser fallen.“ 53 Wie der biblische Isaac bereit ist, seinen Sohn Gott als Lamm der Versöhnung zu opfern, ist auch Irmgards Mutter, Miland, bereit, ihre Tochter wie ein Tier zu schlachten, damit die Erde das Blut der Reinheit wiedertrinken und Gerechtigkeit und Kraft wieder in sich vereinigen kann. 2 Marius Ratti, Irmgard und Mutter Gisson: Protagonisten der Naturreligion im Zeichen von Dionysos und Demeter Sowohl die Szene der Hypnotisierung Irmgards als auch die ihrer Ermordung sehen Marius Ratti beziehungsweise Irmgard als Personifikationen der mythischen Figur des Dionysos und der Kore. Glenn Robert Sandberg hat die griechische Triade Dyonisos/ Demeter/ Kore in seinem Traktat über die Rolle des Massenführers im sozial-historischen Kontext der Zeit und der Kunst Brochs unter dem Blickwinkel der klassischen Intertextualität dargestellt, wobei er Werke von Euripides und Herodot mit Werken von Nietzsche und Kerényi vergleichend untersucht hat. Ziel dieser Arbeit ist im Gegensatz dazu eine Darstellung der o.g. Triade in Richtung ihrer Symbolnatur. Ratti, Mutter Gisson und Irmgard sollen hier in ihrem Aussehen analysiert werden, deren Merkmale die mythische griechische Triade wiederspiegeln. Ein Beispiel ist die geographische Herkunft Rattis, die der des Dionysos entspricht. Marius kommt aus dem Süden, möglicherweise aus Italien: „In den Dolomiten, dort ist der Großvater noch ansässig“ 54 . Euripides (Bacchae, 37-39) betont, dass auch Dionysos vom Süden nach dem Norden Griechenlands gekommen ist. Dionysos ist in der Antike als Frauengott par excellance beschrieben. Er ist umgeben von Göttinnen und Bacchantinnen. Gleichermaßen hat Ratti die Milandin, Zäzilie und Irmgard um sich versammelt. Er hat sie in einer bacchant-artigen Dimension versklavt. Nicht zu vergessen ist 53 Ebd. S. 274. 54 Ebd. S. 41-42. <?page no="165"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 165 auch das Naturelement des Dionysos, das Wasser. Auch Broch erwähnt in Rattis Beschreibung die „Feuchte“ seiner Hosen, die „ihm vor Nässe an den Beinen kleben.“ 55 Zweifellos ist schließlich Rattis Familiarität mit einem alten Feuersteinmesser, das an das von Kerényi erwähnte „Messer der Titanen“ erinnert. 56 Die bedeutendste Kennzeichnung Rattis ist diejenige eines dämonischen Magiers oder Demagogen, der die Volksagitation nach Belieben durch antike Symbole aus der Mythologie oder der keltischen Tradition verstärkt, um die Masse zu manipulieren, - er propagiert auf dieser Basis eine Blut- und Bodenideologie, die die Wiederbelebung germanischer Kulte thematisieren. Ein anderes Prozedere findet man in Mutter Gissons Welt, deren Haltung ähnlich der Demeters, der Mutter-Erde ist. Es ist eine definitive Ähnlichkeit zwischen Demeter und Mutter Gisson vorhanden. Deutlich und sicher nicht ungewöhnlich ist die Kombination zwischen Irmgard und Kore auf der Basis ihres Opfertums, die ihre höchste Verwirklichung in der Berghochzeit findet. Das Bedürfnis nach religiös fundierter Neubegründung auf Seiten der Bewohner Kupprons spornt die Inszenierung eines heidnischen, vorchristlichen Rituals wie dieses der Berghochzeit an, in der man „die Welt versöhnen (soll), daß sie wieder fruchtbar werde.“ 57 Alte Prozessionslitaneien und Zauberworte werden wiederentdeckt; die Häuser im Oberdorf werden mit Laubzweigen besteckt, die Straße mit Gras bestreut, ein primitiver Straßenaltar wird errichtet, ein Bretteraufbau mit roten Tüchern, von einem Madonnenbild überragt und bedeckt. All das wird inszeniert, damit die Menschheit sich mit der Natur versöhnt. Die Zeremonie sieht auch eine Prozession von geschmückten Dorfmädchen in Begleitung des Dorfpfarrers vor, die auf die Bergbraut, „die Brautkrone im Haar, Blumen im Arm und geschmückt wie nur eine“ 58 warten. Mutter Gisson, „in ihrem schönen seidenen Feiertagskleid, von der Bergbraut (gefolgt), die zu meiner Überraschung, Irmgard (war)“ - wie der Ich-Erzähler berichtet - stand neben dem Ministranten „mit dem langen schwarzen Holzkreuz, das bei Versehungen und Prozessionen benützt wird“ 59 und „de[m] Pfarrer im Ornat.“ 60 Es war halb acht, als die Gruppe mit Irmgard in der Mitte den Versöhnungsritus begann. „Gelobt sei Jesus Christ/ Was im Berg gefangen ist/ Durch ihn befreit werden solle/ Vertrieben Satan und Unholde/ Alles Böse weiche von dannen/ In Jesu und Marien Namen“ 61 sind die Wor- 55 Ebd. S. 40. 56 Glenn Robert Sandberg: The Genealogy of the Massenführer. Hermann Broch’s Die Verzauberung as a religious Novel. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1997, S. 56. 57 Ebd. S. 271. 58 Ebd. S. 88. 59 Ebd. S. 89. 60 Ebd. S. 89. 61 Ebd. S. 90. <?page no="166"?> Ester Saletta 166 te, die Irmgard vor dem Priester aussprach, als sie ihm ihren Blumenstrauß übergab. Mutter Gissons Berghochzeits-Zeremonie findet nicht in einer keltischen wie bei Rattis Dionysosfest, sondern in einer christlichen Atmosphäre statt. Direkt im Wald, in einer Kapelle mit Kerzen, die wie Sterne im Morgenlicht leuchteten und mit einer Gipsmadonna im blauen Sternenmantel, auf deren Füßen Steine - jene Steine, um derentwillen die ganze Zeremonie der Steinsegen heißt -, lagen, heiratet Irmgard den Berg Kupprons. „ […] da stand nun die Bergbraut mit dem Rücken zum vermauerten Schachteingang, vor ihren Füßen befand sich die Truhe mit der Mineralienkollektion, und die Mädchen hatten, an den Händen sich haltend, einen Halbkreis um sie herum gebildet, als wollten sie Braut und Mineralien schützen.“ 62 Sowie bei Rattis Ritus als auch hier beginnen die Feiernden eine Litanei - „Niemand darf heran sich trauen/ An des Riesen feste Burg/ Oder bring ihm eine Jungfrau/ Daß er dir nichts Böses tu“ 63 - aufzusagen und kurz später das Lied „kommt der Christ die Welt zu lösen/ Aus des Satans groß Rachen/ Müssen fliehen alle bösen/ Ungetiere und Drachen“ 64 anzustimmen. Auf die Knie fallend und die Worte „Du hast mich erlöst, nimm meine Blumen“ 65 sprechend bekommt Irmgard das Kreuzeszeichen über ihrem Haupt. Die hier erwähnten unterschiedlichen Rituale, die Hypnotisierung und Ermordung Irmgards durch Rattis Hand beziehungsweise die von Mutter Gisson organisierte Berghochzeit, stellen eine doppelte widersprüchliche Dimension der Feier der menschlichen Versöhnung mit der Natur und der Wiederentdeckung der ursprünglichen Wurzel der Menschheit dar. Einerseits konfrontiert der Mensch sich mit einem okkulten parapsychologischen Phänomen wie der Hypnotisierung, deren Wirkungen bis zum Tod des Opfers führen und andererseits setzt man sich mit der ontologischen Purifikation der Erbsünde bzw. die Hochzeit der Natur mit der Menschheit und ihrer Wiedervereinigung mit Gott auseinander. Im Zentrum beider Rituale steht das konstante menschliche Bedürfnis nach einer alternativen Religion, nach einem Wiederaufbau einer verlorenen Ordnung. Es geht um die menschliche Suche nach der Überwindung des Zustands der Desorientierung der Moderne. Ratti verkörpert den modernen verzweifelten Menschen, der trotz seiner Orientierungslosigkeit den Weg zu einer utopischen und nur vorläufigen Auferstehung in seiner Eigenschaft der Selbstdetermination und ideologisierten Rationalität findet. Die Selbstrettung Rattis ist skrupellos und basiert auf der Beseitigung eines unschuldigen Wesens wie Irmgard. 62 Ebd. S. 103. 63 Ebd. S. 104. 64 Ebd. S. 104. 65 Ebd. S. 105. <?page no="167"?> „Dann wird der Irrsinn zur Vernunft.” 167 Anders ist hingegen die Reaktion Mutter Gissons der menschlichen Ordnung gegenüber. Sie wählt die Waffe der matriarchalischen Tradition, der Hochzeit der Erde mit dem Symbol der Reinheit und Jungfräulichkeit bzw. die unschuldige Irmgard und sieht in Agathes Schwangerschaft, d.h. in einem neuen Leben, die Hoffnung für die Zukunft. Beide Haltungen sind ähnlich. Die menschliche Auferstehung wird durch das Opfertum eines unschuldigen Wesens gelöst. Dennoch teilen sie zwei widersprüchliche Botschaften für die Überwindung des Wert-Weltzerfalls mit. Der Botschaft des Todes steht die Botschaft des Lebens gegenüber, der Dimension der geheimnisvollen und dunklen Wahrheit des Okkulten steht die Dimension des offensichtlichen und hellen Lichtes der Tradition gegenüber und schließlich steht das Patriarchat dem Matriarchat gegenüber. Literaturverzeichnis: Anderson, Kern: Hitler and the Occult. New York: Prometheus Books 1995. Antholzer, Roland: Mächte der Bosheit. Berneck: Schwengler 1998. Binder, Gerda: Thematisierung und Ästhetisierung des Bösen in moderner deutscher Literatur. Thomas Mann, Hermann Broch, Ödön von Horváth und Peter Handke im Vergleich. Salzburg: Diplomarbeit 2004. Broch, Herman: Das Böse im Wertsystem der Kunst. In: Hermann Broch. Schriften zur Literatur 2. Theorie. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Bd.9. 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Neben Beiträgen von Hans-Jürgen Schlütter 1 , Georg Braungart 2 , Moritz Baßler 3 und Monika Fick 4 hat kürzlich insbesondere Priska Pytlik 5 eine detaillierte Studie vorgelegt, in der der Glaube an das Übersinnliche als eine wesentliche Komponente im Denken und Schreiben Rilkes 6 gesehen wird. Pytlik lenkt dabei den Blick vor allem auf die poetologischen und ästhetischen Konsequenzen dieser geistigen Orientierung und betrachtet Motive wie Gespenster und andere 1 Hans-Jürgen Schlütter: Fragwürdiges in hochrangiger Prosa. Die parapsychologischen Motive in Rilkes ‘Aufzeichnungen…’ und Thomas Manns ‘Zauberberg’. In: Begegnung mit dem ‘Fremden’. Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Hrsg von Eijiro Iwasaki. Bd. 11. München 1991, S. 177-183. 2 Georg Braungart: Spiritismus und Literatur um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Hrsg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs und Manfred Koch, Bd II, Paderborn 1998, S. 85-92. 3 Moritz Baßler: Maltes Gespenster. In: Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Hrsg. von Moritz Baßler und Hildegard Châtellier. Straßburg 1998, S. 239-253. 4 Monika Fick: Spiritismus, Okkultismus, Gnostizismus und Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Europäische Jahrhundertwende - Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium. Hrsg. von Werner Frick und Ulrich Mölk. Göttingen 2003, S. 127-142. 5 Priska Pytlik: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Paderborn u.a. 2005; zu Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge siehe S. 167-194. 6 Ebd. S. 167. <?page no="170"?> Barbara Hindinger 170 okkulte Erscheinungen als „feste[n] Bestandteil des gesamten Motivkomplexes“. 7 Eher selten sind hingegen noch die Untersuchungen der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge aus der Perspektive der Männerforschung. Hier sieht Walter Erhart 8 die „>kranke< Männlichkeit des Neurasthenikers Malte“ 9 als den „vielleicht wichtigsten Subtext“ 10 des Romans und bei Stefanie von Schnurbein 11 spielen die Kategorien Geschlecht oder Männlichkeit die zentrale Rolle als Analyseinstrumente 12 . Eine bislang noch weitgehend unbeachtete Dimension ist eine Verknüpfung dieser beiden Motivstrukturen. Die vorliegende Untersuchung hat die Frage nach der Position des „Mannseins“ in der Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen zum Thema. Es geht dabei jedoch nicht um die Festschreibung übersinnlicher Kommunikation als geschlechtsspezifischer Eigenschaft, sondern um die Wirkungsmacht des kulturell vorherrschenden Maskulinitätsideals auf die Männerfiguren bei der Begegnung mit okkulten Erscheinungen. Zur Untersuchung dieses Problemfelds werden die Männerfiguren herangezogen, die mit der immateriellen Sphäre konfrontiert und zu einer unmittelbaren Reaktion gezwungen sind: Graf Brahe, Maltes Vater, der Major (Maltes Onkel), Erik und Malte. Anhand dieser Männerfiguren soll gezeigt werden, ob es eine einheitlich „männliche“ Position im Umgang mit dem Übersinnlichen gibt oder ob die Reaktionsweisen der Männer variieren. Dabei soll transparent werden, inwiefern „Männlichkeit“ als soziokulturelles Konstrukt individuell-psychisch auf die Wahrnehmung, auf die innerliche und äußerliche Verarbeitung sowie auf die sprachliche Wiedergabe von übersinnlichen Erlebnissen wirkt. Es gilt zu diskutieren, wie das vorherrschende Männlichkeitsideal in die Denkmuster der Männer eingelassen ist, wie die Männer tatsächlich disponiert sind, welche Spannungsverhältnisse sich daraus ergeben und ob sich Veränderungsprozesse abzeichnen. Es sind insbesondere drei Episoden relevant: Der Auftritt der Wiedergängerin Christine auf Urnekloster, der in erster Linie die unterschiedlichen Reaktionsweisen und Verhaltensstrukturen der Männerfiguren sichtbar macht, der Abschnitt um den Bericht von Maltes Mutter über die unsichtbare Er- 7 Ebd. S. 172. 8 Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001; zu Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge siehe S. 360-378. 9 Ebd. S. 362. 10 Ebd. S. 362. 11 Stefanie von Schnurbein: Krisen der Männlichkeit. Schreiben und Geschlechterdiskurs in skandinavischen Romanen seit 1890. Göttingen 2001; Über die männliche Identität und deren Krise in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge im Vergleich mit Hans-Jorgen Nielsens Fodboldenglen, siehe S. 131-237. 12 Ebd. S. 135. <?page no="171"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 171 scheinung der toten Ingeborg, der Hinweise auf die geschlechtsspezifische Zuschreibung von Kommunikationsverhalten gibt und Maltes Begegnung mit der Geisterhand, die zum Ausdruck bringt, dass der das vereinseitigte und veräußerlichte Maskulinitätsideal internalisierende Malte der Kindheit dem Bereich des Okkulten anders begegnet als der seine Geschlechtsidentität reflektierende und seine eigene Innerlichkeit entdeckende Erwachsene. 2 Der Auftritt der Wiedergängerin Christine Die Christine-Episode aus der 15. Aufzeichnung zeigt den unterschiedlichen Umgang der Männerfiguren mit einer Geistererscheinung und gibt Hinweise auf die sprachliche Verarbeitung des Unerklärlichen. Während eines Besuchs auf Urnekloster, dem Stammsitz der Brahes, tritt der weibliche Revenant Christine insgesamt viermal bei den abendlichen Mahlzeiten auf, die Malte zusammen mit Graf Brahe, seinem Großvater mütterlicherseits, mit seinem Oheim, einem verabschiedeten Major, mit Mathilde Brahe, einer entfernten Cousine der Mutter, mit dem etwa gleichaltrigen Erik, dem kleinen Sohn einer Cousine und mit seinem Vater einnimmt. Alle anwesenden Männerfiguren nehmen die Geistererscheinung wahr, die unmittelbaren Reaktionen und die Verhaltensweisen variieren jedoch stark. Es wird zu zeigen sein, dass die Verflochtenheit in das kulturell vorherrschende Maskulinitätsideal hier eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Maltes Oheim verlässt sofort den Saal, nachdem Graf Brahe die Ankunft der Geistererscheinung Christines angedeutet hat. Der Major signalisiert durch dieses sich distanzierende Verhalten zunächst eine emotionslose, nicht weiter vertiefte Absage an so rätselhafte Phänomene wie Wiedergängerinnen. Die Reaktion des Majors beim letzten Auftritt Christines macht jedoch deutlich, dass diese Emotionslosigkeit nur Fassade ist: „Mein Nachbar, der Major, machte eine heftige, kurze Bewegung, die sich in meinen Körper fortpflanzte, aber er hatte offenbar keine Kraft mehr, sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht wendete sich von einem zum andern, sein Mund stand offen, und die Zunge wand sich hinter den verdorbenen Zähnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort, und sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme lagen wie in Stücken darüber und darunter, und irgendwo kam eine welke, fleckige Hand hervor und bebte.“ (479) 13 Der Major flieht vor der immateriellen Sphäre. Er lehnt das Übersinnliche ab, hat Angst, wehrt sich und versucht sich zu schützen. Das heißt, er ist für die Geisterwelt empfänglich. Er nimmt diese Sphäre ernst, will sich aber nicht damit auseinandersetzen. Rilke schließt das Innere des Majors nicht näher 13 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werden zitiert nach der Ausgabe: Rainer Maria Rilke. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl, Bd. 3, Frankfurt am Main und Leipzig 1996 1 , S. 453-660. Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen. <?page no="172"?> Barbara Hindinger 172 auf und es fehlt ein Hinweis darauf, inwiefern sich der Major in seinem Kontext als „Mann“ bedenkt. Die Bezeichnung „Major“ weist jedoch auf seine militärische Vergangenheit hin, das heißt auf einen äußeren Rahmen, in dem die als „urmännlich“ angenommenen Maxime vom rationalen, aktiven, körperlich starken und belastbaren Mann ausschlaggebend waren, der mutig sein Leben wagt und opfert. 14 Unaufgearbeitete individuelle Spannungsverhältnisse zwischen idealisierten und identitätsstiftenden Vorstellungen eines militarisierten Mannes und tatsächlicher Befindlichkeit mögen beim Major die Ursache dafür sein, sich nicht auf die immaterielle Sphäre einzulassen und seine damit verbundenen Zweifel und Ängste zuzugeben. Anstatt sich zu öffnen, verschließt sich er sich emotional und sprachlich. Maltes Vater zeigt ähnliche Verhaltensstrukturen. Auch er lehnt die immaterielle Sphäre ab. Er hat Angst vor der Geisterwelt, wehrt sich und versucht der Situation zu entfliehen. Das heißt, auch er nimmt das Übersinnliche ernst. Maltes Vater reagiert jedoch im Gegensatz zum Major aktiv mit Aggression und Zorn: „(…) und ich sah meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht, mit herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging. (…) Dann fiel mir mein Vater ein, und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut, aber der Großvater, dessen Finger wie eine weiße Kralle meines Vaters Arm umklammerten, lächelte sein maskenhaftes Lächeln. (…) Er sagte: ‘Du bist heftig, Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre Beschäftigungen gehn? ’ ‘Wer ist das? ’ schrie mein Vater dazwischen. ‘Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe.’ - Da entstand wieder jene merkwürdig dünne Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riß sich mein Vater mit einer Bewegung los und stürzte aus dem Saale. Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn auch ich konnte nicht schlafen.“ (476f.) Individualpsychologisch interpretiert deutet nach Josef Rattner diese zornige Emotionalität auf den Versuch der Wiederherstellung einer gebrochenen Werteordnung hin. 15 Im Zorn werde, so Rattner, nicht nur die Selbstbehauptung in Frage gestellt, sondern es würden entscheidende Werte als verletzt angesehen. Die innere Dynamik des Zorns sage aus, dass in diesem Affekt „eine im Übermaß belastend gewordene Situation“ 16 aufgelöst werden solle. Seine Dringlichkeit erhalte der Affekt „durch eine situative Entwicklung, in der sich der Zürnende oder Wütende in seiner Selbstachtung oder Selbstbehauptung bedroht fühlt. Unterschwellig oder manifest dringt Angst in die Situation ein und führt zu Gefühlen der Beklemmung, der Enge und des An- 14 Vgl. die Ausführungen zur Militarisierung des Mannes bei Wolfgang Schmale: Männlichkeit in Europa (1450-2000). Wien, Köln, Weimar 2003, S. 195. 15 Josef Rattner: Aggression und menschliche Natur. Individual- und Sozialpsychologie. der Feindseligkeit und Destruktivität des Menschen. Frankfurt am Main 1972, S. 85ff. 16 Ebd. S. 86. <?page no="173"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 173 gegriffenseins.“ 17 Das macht transparent, was Maltes Vater mit seiner zornigen Reaktion bezwecken will: den Versuch der Korrektur und der Rückgängigmachung eines Ereignisses, das sein konventionelles Welt- und Wirklichkeitsverständnis in Frage stellt. Unerklärliche Phänomene und Gespensterfurcht passen nicht zur äußeren sozialen Identität von Maltes Vater als einem Mann, der als äußerlich kühl, rational und verschlossen beschrieben wird und als jemand, der auf „Konsequenz und Klarheit“ (478) angelegt ist. Häufig gekennzeichnet als Uniformträger versucht er nach außen hin die militärischen Männlichkeitskomponenten zu perpetuieren, wie sie sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt haben: körperliche Stärke und Belastbarkeit, Disziplin und Gehorsam, Tapferkeit und Mut. 18 Die Furcht vor Gespenstern kompromittiert jedoch die männliche Geschlechtsrolle, wie eine frühere Fassung des Anfangs der Aufzeichnungen deutlich macht: „(…) er konnte niemals essen während sie vorübergingen; seine Hände zitterten, sein Gesicht verzerrte sich auf eine fremde und fürchterliche Art. Und doch war er ein mächtiger und starker Mann, zu dem die Abenteuer aller Länder kamen wie Frauen oder Tiere, angezogen von seinem Mute, seiner Schönheit und Entschlossenheit.“ (641) Maltes Vater ist eine gespaltene Männerfigur. Einerseits innerlich empfindsam und empfänglich für die Geisterwelt aber auch voller Furcht vor ihr, stellt er sich andererseits unter ein soziokulturell konstruiertes Diktat einer männlichen Geschlechtsrolle, die Angst und Furcht nicht zulässt. Der Kampf mit der Polarität von äußerer männlicher Rolle und innerem „Anderssein“ ist der zentrale Punkt im Verhalten von Maltes Vater. Er ist nicht wirklich der starke, mutige und entschlossene Held, den er nach außen hin zu verkörpern sucht, sondern der unsichere und emotionale Mensch, der seiner Wahrnehmung einer immateriellen Sphäre hilflos gegenübersteht. Nicht rational genug, um der Geisterwelt eine Absage zu erteilen und so auch seine Gespensterfurcht ad absurdum zu führen, aber auch nicht bereit, die Geisterwelt als existent zu akzeptieren, versucht er schließlich, seine Schwierigkeiten, Zweifel und Ängste hinter einer Fassade von Disziplin zu verbergen, um wenigstens der militärischen Männlichkeitskomponente der „Mannszucht“ 19 genüge zu tun: „Hatte er, der leidenschaftlich war und auf Konsequenz und Klarheit angelegt, sich zwingen wollen, in Fassung und ohne zu fragen, dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne zu begreifen, wie er mit sich kämpfte, ich erlebte es, ohne zu verstehen, wie er sich endlich bezwang.“ (478) 17 Ebd. S. 86. 18 Schmale (2003), S. 195. 19 Schmale (2003), S. 195. <?page no="174"?> Barbara Hindinger 174 Maltes Vater hält diesem selbstauferlegten Zwang jedoch nicht stand. Unfähig, mit seinen Emotionen, seiner Furcht und seinem Inneren umzugehen und sich nachhaltig mit dem Problem der Beziehung von Geist und Materie auseinanderzusetzen oder sich gar durch Kommunikation Erleichterung zu verschaffen, flieht er zurück in die Welt des Konventionellen, wo „man sich so vorsichtig im Verständlichen vertrug.“ (524) Graf Brahe, der Großvater Maltes, reagiert völlig anders auf die Erscheinung Christines. Er nimmt die immaterielle Sphäre wahr, akzeptiert sie und erkennt sie wie selbstverständlich als etwas Seiendes an. Sein Umgang mit der Geisterwelt ist vertraut und furchtlos. Dem konventionellen Welt- und Wirklichkeitsverständnis eine Absage erteilend gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und keinen Unterschied zwischen Lebenden und Toten. Die Wiedergängerin Christine behandelt er wie eine Lebende und stellt sie gleichwertig neben alles Wirkliche. Während sich der Major und Maltes Vater gegen die Wahrnehmung der Geisterwelt wehren, lässt Graf Brahe die immaterielle Sphäre zu und sehnt sie sogar herbei. Dieser vollkommen andere Umgang mit dem Übersinnlichen wird durch einen Blick in die 44. Aufzeichnung erklärbar. Graf Brahe will sich nur mehr damit beschäftigen, was ihm persönlich wichtig ist. Das soziokulturelle Diktat der männlichen Geschlechtsrolle und der daraus resultierende gesellschaftliche Druck, das Kriegerische ins Zentrum des männlichen Biographieverlaufs zu stellen sowie das soldatische Ideal auf den zivilen Bereich zu übertragen, hat für Graf Brahe, den ehemaligen General, keine Bedeutung mehr: „Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß Graf Brahe seine Memoiren schriebe, hatten nicht völlig unrecht. Nur daß es sich nicht um politische oder militärische Erinnerungen handelte, wie man mit Spannung erwartete. ‘Die vergesse ich’, sagte der alte Herr kurz, wenn ihn jemand auf solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es war ganz in der Ordnung, seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, daß sie, wenn er seinen Blick nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht, gesteigert und schlaflos.“ (559) Was die Gesellschaft von ihm erwartet ist für Graf Brahe unwesentlich. Wichtig ist, was er selber will. Nicht auf eine bestimmte soziale Rolle mit äußeren Normen festzulegen, verkörpert er eine von gesellschaftlichen Festlegungen befreite Individualität: „Es gab Leute, die diesen schwerhörigen und herrischen alten Herrn Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben ihm den Titel General. Und er besaß gewiß auch alle diese Würden, aber es war so lange her, seit er Ämter bekleidet hatte, daß diese Benennungen kaum mehr verständlich waren. Mir schien es überhaupt, als ob an seiner in gewissen Momenten so scharfen und doch immer wieder aufgelösten Persönlichkeit kein bestimmter Name haften könne.“ (473) <?page no="175"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 175 Dieser Versuch der Hinwendung zum eigenen Inneren steht in einem sehr engen Zusammenhang mit der Konzentration auf die Geisterwelt, um die sich die Erinnerungen des Grafen dann in der Hauptsache drehen. Diese Beschäftigung mit der immateriellen Sphäre wird unabhängig von allen konventionellen gesellschaftlichen Erwartungen zu seinem ausschließlichen Lebensinhalt. Was Graf Brahe trotzdem schwerfällt, ist die Verbalisierung seines Inneren. Er erkennt das Unerklärliche zwar als Teil von sich an, aber er hat Probleme, eine angemessene Sprache für die ihn bewegende Auseinandersetzung mit der immateriellen Sphäre zu finden, als er Abelone seine Memoiren diktiert: „Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, daß sie flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder durchgestrichen werden, und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem nilgrünen, seidenen Schlafrock. (…) Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte Abelone ‘Eckernförde’ nicht schreiben. (…) Der Graf, der im Grunde schon lange einen Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war für seine Erinnerungen stellte sich unwillig. ‘Sie kann es nicht schreiben’, sagte er scharf, ‘und andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da sage? ’ fuhr er böse fort und ließ Abelone nicht aus den Augen.“ (559f.) Es zeigt sich, wie später noch zu sehen sein wird, eine Parallele zum erwachsenen Malte. Beide Männerfiguren wenden sich zum eigenen Inneren, richten u.a. den Blick auf die eigene Kindheit und konzentrieren sich auf die immaterielle Sphäre. Während der erwachsene Malte jedoch mit dem Schreiben ein Mittel findet, sich aus der sprachlichen Eingeschlossenheit zu befreien, bleibt Graf Brahe unfähig, sein Inneres auszudrücken. Erklären lässt sich diese Sprachblockade damit, dass sich Graf Brahe nicht wie der erwachsene Malte in seinem Kontext als „Mann“ bedenkt. Er setzt sich nicht mit der unbewussten Internalisierung des vorherrschenden Maskulinitätsideals auseinander, das Härte, Leistung und Außenorientierung, die Verleugnung des Privaten sowie eine Distanz von emotionalen, kommunikativen und sozialen Bedürfnissen fordert. 20 Graf Brahe reflektiert nicht, inwiefern er sich bewusst oder unbewusst äußeren soziokulturell konstruierten Normen unterworfen hat, die seine Verschlossenheit und Beziehungslosigkeit herbeigeführt haben. Das ist möglicherweise die Ursache für seine Unfähigkeit, sich frei und offen auszudrücken. Graf Brahe kann weder über seine Kommunikationsblockaden noch über sein Unvermögen und seine quälenden Zweifel im Hinblick auf die beliebige und allgemeingültige Reproduzierbarkeit von immateriellen Erscheinungen reden und sich dadurch Erleichterung verschaffen, sondern registriert nur seine Nicht-Leistung und betrachtet seinen Geist als Maschine, die zu funkti- 20 Vgl. Walter Hollstein: Männerdämmerung. Von Tätern, Opfern, Schurken und Helden. Göttingen 1999, S. 37ff. <?page no="176"?> Barbara Hindinger 176 onieren hat. Er ist abhängig von der Bestätigung des „Gesehenen“ durch andere. Anstatt sich mit sich selbst zu konfrontieren verkrampft er, verlagert seine Unfähigkeit nach außen, verfällt in Aggressivität und lässt im Bewusstsein des eigenen Unvermögens andere, in diesem Fall Abelone, seine Unzufriedenheit mit sich selbst entgelten. So fällt auf, dass Graf Brahe auch im Rahmen der „Christine-Episode“ in der Erinnerung Maltes hauptsächlich damit beschäftigt ist, Maltes Vater zu fixieren und zu beherrschen, anstatt dessen Ablehnung der Geisterwelt ebenso „gelassen“ zu akzeptieren wie die Geistererscheinung selbst. Unfähig, über die Geisterwelt zu kommunizieren, setzt sich Graf Brahe auch weder verbal mit Maltes Vater über dessen Probleme mit der immateriellen Sphäre auseinander noch versucht er, sich dem verzagten kleinen Malte, der mit der Konfrontation der immateriellen Sphäre völlig überfordert ist, anzunähern und ihm mit einem verstehenden Dialog zu helfen. Der Wiedergängerin selbst begegnet Graf Brahe durch seine bewusste Hinwendung zum eigenen Inneren und seiner damit verbundenen gewollten Konzentration auf die Geisterwelt freilich mit „vornehme[r] Gelassenheit“ (641), wie Malte es in er zweiten Fassung des Romananfangs beschreibt. Gegenüber seiner real existierenden Familie jedoch verhält er sich keineswegs tolerant. Da Graf Brahe verschlossen bleibt, kann nur vermutet werden, dass er versucht, seine vorhandenen inneren Ohnmachtsgefühle durch äußere Dominanz zu kompensieren. Er ruht durch die fehlende Selbstreflexion noch nicht wirklich in sich selbst, weshalb er auch immer noch eine „Maske“ (479) trägt. Der kleine Erik nimmt genauso wie Graf Brahe wie selbstverständlich die immaterielle Sphäre als etwas Seiendes an. Er ist derjenige, der sogar nonverbal mit der Wiedergängerin kommuniziert: „In diesem Augenblick bemerkte ich, daß es der kleine Erik war, der mit einer tiefen Verbeugung diese Türe hinter der Fremden schloß.“ (477) Des Weiteren geht aus der 34. Aufzeichnung hervor, dass Erik bereits gemeinsam mit der Wiedergängerin Christine deren verschwundenes Bildnis in der Ahnengalerie auf Urnekloster gesucht, also mit der Geisterwelt interagiert hat. Eriks Umgang mit der Geisterwelt erscheint vertraut, furchtlos, unkekümmert und unreflektiert. Im Unterschied zu seinem Großvater Graf Brahe besinnt er sich jedoch tatsächlich auf sich selbst und braucht nicht die Anerkennung seiner übersinnlichen Erlebnisse durch andere. Eriks äußere Beschreibung als kleiner, schwächlicher und zerbrechlicher Knabe mit den Zügen seiner Großmutter, wie Mathilde Brahe es wiederholt versichert, widerspricht sehr stark den soziokulturell konstruierten Normen angehender „Männlichkeit“. Er trägt sehr „weibliche“ Züge. Wenngleich das Erkennen übersinnlicher Phänomene in den Aufzeichnungen des Maltes Laurids Brigge nicht geschlechtsspezifisch festgeschrieben ist - Männer und Frauen nehmen gleichermaßen immaterielle Wesen wahr -, lässt sich dennoch fol- <?page no="177"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 177 gende Tendenz erkennen: Diejenigen Männerfiguren, die sich vom vorherrschenden Maskulinitätsideal, das dem Mann Aktivität und Rationalität gebietet und ein nach außen gerichtetes öffentliches Leben vorschreibt, lösen, lassen die immaterielle Sphäre zu und akzeptieren die Wahrnehmung von unerklärlichen Phänomenen als Teil von sich. Was bei Erik jedoch genauso wie bei Graf Brahe fehlt, ist die verbale Auseinandersetzung mit dem „Gesehenen“. Genauso wie Graf Brahe ist auch der kleine Erik unfähig oder unwillig, mit dem verzweifelten Malte einen konstruktiven Dialog zu führen. Obwohl er äußerlich „weiblich“ wirkt, bleibt er „männlich“ distanziert, unabhängig und verschlossen. Er ist Malte auch später nicht das, was er sucht: ein verständnisvoller, einfühlsamer und tröstender Gesprächspartner und Freund, der lebenstragende Geborgenheit und Wärme vermittelt. Da Rilke den Blick in die innere Gedankenwelt Eriks nicht freigibt, kann der Grund für diese mangelnde Kommunikationsfähigkeit nur vermutet werden: ähnlich wie bei Graf Brahe fehlt die Reflexion einer bewussten oder unbewussten Internalisierung äußerer soziokulturell konstruierter Männlichkeitsnormen. Der kleine Malte ist als einziger der Anwesenden zunächst nicht für die immaterielle Sphäre empfänglich. Während Mathilde Brahe zum Beispiel bereits im Vorfeld die Ankunft der Spukgestalt spürt und deswegen nicht an der abendlichen Mahlzeit teilnimmt, weiß Malte die Situation noch nicht einzuschätzen. Der Auftritt der Wiedergängerin trifft ihn dann umso unerwarteter und unvorbereiteter. Er nimmt etwas Unerklärliches wahr - „(…) während ich mit einem ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung hinsah, trat in das Dunkel der Türöffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu.“ (476) -, ist mit diesem übersinnlichem Erlebnis jedoch völlig überfordert, wie es seine sich anschließende Reaktion deutlich macht. Malte ist unruhig, verzweifelt und fürchtet sich, da er niemanden hat, der ihm durch verstehende Kommunikation hilft, sein Erlebnis mit dem Übersinnlichen zu verarbeiten. Er ist ängstlich und hilflos und getraut sich nicht, seine Emotionen zu zeigen: „Aber plötzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus irgend etwas Schlafähnlichem und sah mit einem Entsetzen, das mich bis ins Herz hinein lähmte, etwas Weißes, das an meinem Bette saß. Meine Verzweiflung gab mir schließlich die Kraft, den Kopf unter die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und Hülflosigkeit zu weinen. Plötzlich wurde es kühl und hell über meinen weinenden Augen; ich drückte sie, um nichts sehen zu müssen, über den Tränen zu. Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, kam lau und süßlich an mein Gesicht, und ich erkannte sie: es war Fräulein Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und ließ mich trotzdem, auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter trösten; ich fühlte zwar, daß die Güte zu weichlich sei, aber ich genoß sie dennoch und meinte sie irgendwie verdient zu haben. ‘Tante’, sagte ich schließlich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Züge meiner Mutter zusammenzufassen: ‘Tante, wer war die Dame? ’“ (477f.) <?page no="178"?> Barbara Hindinger 178 Hier wird implizit die Wirkungskraft des kulturell vorherrschenden Maskulinitätsideals deutlich. Der kleine Malte hat Angst vor Gespenstern. Aber seine Erziehung zur Einhaltung der vorherrschenden soziokulturellen Norm von Männlichkeit verbietet ihm diese Emotion. Er hat internalisiert, dass das vorherrschende Maskulinitätsideal den Männern im emotional-persönlichen Bereich wesentliche Teile des Menschseins abspricht 21 und getraut sich deswegen nicht, seine Sensibilität offen auszuleben und entschieden um weiterreichende Hilfe zu bitten, weil der Zwang in ihm überwiegt, einem Maskulinitätsideal zu entsprechen, das diese individuelle Empfindsamkeit abwertet. Ist Angst und Furcht für den kleinen Malte eindeutig weiblich konnotiert - „und habe mein Licht brennen lassen und mich geängstigt wie eine junge Frau“ (573) -, so beschneidet er sich in seiner Ganzheit, um von der Gesellschaft nicht als „unmännlich“ verachtet zu werden. Malte lässt sich gerne von Mathilde Brahe trösten, aber als ein durch sein Geschlecht geprägter Knabe suggeriert er sich gleichzeitig die geschlechtsspezifisch bedingte Unangemessenheit dieser „Weichheit“. Unfähig, seinem Erlebnis mit der Spukgestalt und seinen damit verbundenen Ängsten nachhaltigen sprachlichen Ausdruck zu geben, bleibt seine Begegnung mit der immateriellen Sphäre unverarbeitet. Es zeigt sich, dass in der Episode auf Urnekloster keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Wahrnehmung und der Reaktion auf die Geisterwelt geprägt werden. Mathilde Brahe verhält sich nicht viel anders als der Major oder Maltes Vater, wenn sie sich von vornherein fern hält oder vom Tisch aufspringt und davonläuft. Entgegen Otto Weininger, der der Frau „die übersinnliche Persönlichkeit“ 22 abspricht und auch entgegen Wolfgang Schmale, der „die positiv bewertete Befähigung zur magischen Kommunikation“ 23 mehr als ein Charakteristikum von Männlichkeit als von Weiblichkeit sieht, sind Männer und Frauen bei Rilke gleichermaßen für die immaterielle Sphäre empfänglich. Das Maskulinitätsideal bestimmt jedoch die emotionale und sprachliche Verarbeitung des Unerklärlichen bei den Männerfiguren. Die Männer sind unfähig oder unwillig, miteinander über ihr Inneres zu reden und die Probleme zu erfassen, unter denen sie leiden. Eine einheitliche „männliche“ Position im Umgang mit dem Okkulten existiert nicht. Männer wie Graf Brahe und Erik nehmen die immaterielle Sphäre wie selbstverständlich an. Männer wie der Major oder Maltes Vater nehmen das Übersinnliche zwar wahr, wollen aber nichts damit zu tun haben. Hinter diesem variierenden Umgang mit 21 Vgl. Willi Walter: Männer entdecken ihr Geschlecht. Zu Inhalten, Zielen, Fragen und Motiven von Kritischer Männerforschung. In: BauSteineMänner (Hrsg.): Kritische Männerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie. Berlin, Hamburg 1996, S. 18. 22 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. (Nachdruck der 1. Auflage, Wien, Mai 1903) München 1997, S. 239. 23 Schmale (2003), S. 90. <?page no="179"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 179 Geistererscheinungen steht eine unterschiedliche Verflochtenheit ins Maskulinitätsideal. Während bei Graf Brahe und Erik ansatzweise die freilich unreflektierte Aufsprengung der vereinseitigten ideellen Männlichkeitsnormen und die Reintegration der abgespaltenen „weiblichen“ Seiten erkennbar ist, stellen sich insbesondere Maltes Vater und der Malte der Kindheit sehr stark unter das soziokulturell konstruierte Diktat einer männlichen Geschlechtsrolle, die Irrationalität und Emotionalität verbietet. Alle Männerfiguren nehmen Geistererscheinungen wahr, je stärker aber eine Verstrickung in die ideelle Norm von Männlichkeit besteht, desto weniger wird die immaterielle Sphäre zugelassen. Geschlechtsspezifische implizite Zuschreibungsdifferenzen zwischen Männern und Frauen kristallisieren sich in den Momenten heraus, in denen es um die emotionale und sprachliche Verarbeitung des Unerklärlichen bei anderen geht. Während die Männerfiguren sich verbal verschließen und beziehungslos bleiben, kümmert sich zum Beispiel Mathilde Brahe in ihrer ideell normierten Rolle als weiche und einfühlsame Frau um den verängstigten Malte, setzt sich an sein Bett, spricht auf ihn ein, tröstet ihn und vermittelt Liebe, Güte, Verständnis, Geborgenheit und Pflege. Dennoch kommuniziert auch sie als Frau nicht so mit Malte, dass er mit ihr über sein eigentliches Problem offen sprechen kann. 3 Der unsichtbare Auftritt der toten Ingeborg Der Bericht von Maltes Mutter über die unsichtbare Erscheinung der toten Ingeborg aus der 28. Aufzeichnung gibt Hinweise über die implizite geschlechtsspezifische Zuschreibung von Kommunikationsverhalten. Maltes Mutter macht deutlich, dass sie als Frau, in Malte einen verständnisvollen Zuhörer erkennend, fähig ist, über ihr übersinnliches Erlebnis mit Ingeborg und ihre damit verbundenen emotionalen Probleme zu sprechen. Sie verbalisiert dabei nicht nur das Erlebte, sondern kommuniziert auch über eine momentane unerklärliche Sprachlosigkeit ihrerseits: „Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir plötzlich nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig vergessen.“ (517) Die Männer bleiben im Vergleich zu den Frauenfiguren stumm. Graf Brahe geht zum Beispiel mit seinem Enkel Erik zwar „Hand in Hand“ (473), jedoch „ohne zu sprechen“ (473), Erik verschließt sich vor Malte - „er hatte sich nach unserem nächtlichen Gespräch wieder ganz vor mir zugeschlossen“ (518) - und Maltes Vater drückt ohnehin an keiner Stelle verbal sein Inneres aus. Der Malte der Kindheit würde zwar im Anschluss an den Bericht seiner Mutter gerne über sein eigenes übersinnliches Erlebnis mit der Geisterhand sprechen und sich dadurch Erleichterung verschaffen. Es gelingt ihm jedoch <?page no="180"?> Barbara Hindinger 180 keine befriedigende Kommunikation. Die Furcht vor der Reaktion der Mutter blockiert ihn: „Und ich fürchtete mich trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich gesehen habe“ (518). Das offene emotionale Sprechen der Mutter über deren übersinnliches Erlebnis ermuntert Malte zwar zunächst, sich von einem übergroßen psychischen Druck zu befreien und seine emotionalen Probleme sowie seine unaufgelösten Ängste einzugestehen. Unmittelbar vor Beginn seines Berichts zieht sich Malte jedoch zurück. Er suggeriert sich, die Mutter schonen zu müssen. Tatsächlich aber fehlt ihm zur Preisgabe des eigenen Inneren, seiner Ängste und Gefühle eine angemessene Sprache. Der Grund dafür ist seine Erziehung. Wer wie Malte dazu erzogen wurde, sich einer Männlichkeitsnorm zu unterwerfen, die verlangt, Gefühle zu beherrschen und Inneres für sich zu behalten, anstatt es auszudrücken und zu leben - „ich lag da, überhäuft mit mir, und wartete auf den Augenblick, da mir befohlen würde, dies alles wieder in mich hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach“ (521) -, kann sich nicht mehr unreflektiert auf emotional-persönlicher „weiblicher“ Ebene öffnen. 24 Die 42. Aufzeichnung unterstreicht dieses Unvermögen Maltes, sich sprachlich über die immaterielle Sphäre mit der Mutter auszutauschen. Beide nehmen das abgebrannte Schloss der Schulins als Geistererscheinung wahr. Obwohl sich eine wechselseitige emotionale Vertrautheit zeigt, kann Malte sein vorhandenes Einfühlungsvermögen nur nonverbal zum Ausdruck bringen: „Sie saß eigentümlich gerade da, mir kam vor, daß sie auf mich wartete. Kaum war ich bei ihr und fühlte, daß sie innen zitterte, so wußte ich, daß das Haus jetzt erst wieder verging. (…) Aber wir ließen einander nicht los und ertrugen es zusammen; und wir blieben so, Maman und ich, bis das Haus wieder ganz vergangen war.“ (556) Gegenüber Erik könnte Malte Jahre später zwar eine Sprache finden, aber dieser weist ihn, unfähig und unwillig, ein intensives und verständnisvolles Gespräch zu führen, ab: „Und gerade deshalb wollte ich ihm von der >Hand< erzählen. Ich bildete mir ein, ich würde in seiner Meinung gewinnen (und das wünschte ich dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm begreiflich machen könnte, daß ich das wirklich erlebt hatte. Erik aber war so geschickt im Ausweichen, daß es nicht dazu kam.“ (518) Es zeigt sich, dass Geschlecht auf die sprachliche Verarbeitung von übersinnlichen Erlebnissen wirkt. Während die Frauen trösten, Gefühle zeigen und sich im Sprechen offenbaren, erstarren die Männer in Sprachlosigkeit. Dennoch regen auch die Frauen keinen verständnisvollen Dialog mit Malte an, 24 Vgl. Hollstein (1999), S. 37f. <?page no="181"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 181 sondern bleiben im Monolog verhaftet. Grund dafür mag sein, dass auch die Frauen die vorherrschenden Normen der Männlichkeit verinnerlicht haben, die dem Mann wesentliche Teile im emotional-persönlichen Bereich absprechen. Der Mann wird als emotional beschnitten wahrgenommen, woraus eine entsprechende sprachliche Eingeschlossenheit unhinterfragt abgeleitet wird. Ein aktiver Ansatz zur Befreiung des Mannes aus dieser emotionalen Eingeschlossenheit durch die Frau erfolgt nicht. Insbesondere bei Malte wird deutlich, wie sehr das Maskulinitätsideal den Sprachgebrauch steuert. Der die männlichen Normen internalisierende Malte der Kindheit ist unfähig, eine „weibliche“, emotional-persönliche Sprache zu benutzen, weil es ihm aberzogen wurde, das eigene Innere zu erfassen sowie „unmännliche“ Gefühle wie Angst und Furcht auszudrücken. Als Kind nimmt sich Malte noch nicht bewusst als ein durch sein Geschlecht geprägter Mensch wahr. Er erkennt und versteht die psychodynamischen Hintergrundstrukturen für seine Sprachlosigkeit nicht und kann diese Barriere deswegen erst als ein sein Geschlecht reflektierender Erwachsener auflösen. 4 Maltes Begegnung mit der Geisterhand Anhand von Maltes Bericht über sein Kindheitserlebnis mit der Geisterhand in der 29. Aufzeichnung kommt zum Ausdruck, dass der das vereinseitigte und veräußerlichte Maskulinitätsideal internalisierende Malte der Kindheit dem Bereich des Okkulten anders begegnet als der seine eigene Innerlichkeit entdeckende und seine Geschlechtsidentität reflektierende Erwachsene. Als Kind war Malte beim Zeichnen ein Buntstift auf den Boden gefallen. Er hatte unter dem Tisch gesucht. Da kam ihm plötzlich aus der Wand eine fremde „größere, ungewöhnlich magere“ (520) Hand entgegen und half ihm „von der anderen Seite her“ (520) suchen. Das Kind Malte ist unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen. Er weiß nicht, wie er sein übersinnliches Erlebnis erzählen und sein Inneres ausdrücken soll: „(…) denn nun wollte ich es erzählen. Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff.“ (520f.) Der erwachsene Malte hat diese Blockade überwunden und eine angemessene Sprache für sein damaliges Erlebnis gefunden, auch wenn er es sich nur selber erzählen kann: „So ist es, wunderlich genug, das erstemal, daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine Begebenheit erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit.“ (518) Um diese sprachliche Befreiung Maltes aus der emotionalen Eingeschlossenheit verstehbar zu machen, ist ein Blick auf den Faktor notwendig, der diese <?page no="182"?> Barbara Hindinger 182 Veränderung bewirkt: Maltes Individuationsprozess in Verbindung mit der Selbstwahrnehmung als ein durch sein Geschlecht geprägter Mensch. Während das Kind Malte noch kein Gefühl für sein eigenes inneres Selbst hat und nur auf die äußerste Schicht der Persönlichkeit fixiert ist, beginnt der erwachsene Malte im Rahmen eines Individuationsprozesses die Ganzheit seines Lebens zu erkennen und zu den tieferen Schichten seiner Persönlichkeit vorzudringen. 25 Er löst sich von seiner übertriebenen Außenorientiertheit und richtet seinen Blick nach innen: „Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ (456) Loren E. Pedersen hat sich mit der psychologischen Ergründung dieser Hinwendung von Männern zum eigenen Inneren auseinandergesetzt. 26 Unter Berücksichtigung der Theorie C.G. Jungs kommt Pedersen zu dem Ergebnis, dass „die Psyche durch die Individuation - das heißt, das menschliche Wesen erkennt nach und nach die Ganzheit seines Lebens - eine Neigung zum Wachstum und eine natürliche Bewegung in Richtung auf die Integration der Persönlichkeit“ 27 zeigt: „Die Psyche hat eine angeborene und natürliche Tendenz, nach ‚Ganzheit’ zu streben. Doch dieser Weg erfordert die Teilnahme des Individuums. Es muß sich der archetypischen Prozesse bewußt werden, die sich durch das Unbewußte mittels Bildern und machtvoller sie begleitender Emotionen bemerkbar zu machen versuchen.“ 28 Bei Malte steht dieser Blick nach innen in einem sehr engen Zusammenhang mit der Akzeptanz der Geisterwelt. Wird in der endgültigen Romanfassung zwar nicht mehr mit der Intensität einer früheren Fassung des Eingangs der Aufzeichnungen darauf hingewiesen, dass die Selbst-Bewusstwerdung allein aus der Annahme der immateriellen Sphäre resultiert, so finden sich dennoch auch hier Textpassagen, die eindeutig darauf hinweisen, dass Individuation und Akzeptanz unerklärlicher übersinnlicher Phänomene untrennbar miteinander verbunden sind: „Es ist natürlich Einbildung, wenn ich nun behaupte, ich hätte in jener Zeit schon gefühlt, daß da etwas in mein Leben gekommen sei, geradeaus in meines, womit ich allein würde herumgehen müssen, immer und immer. Ich sehe mich in meinem kleinen Gitterbett liegen und nicht schlafen und irgendwie ungenau voraussehen, daß so das Leben sein würde: voll lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und die sich nicht sagen lassen.“ (521) Der erwachsene und zu sich selbst findende Malte sieht mit dem Mittel des Schreibens einen Weg, sich aus der sprachlichen und emotionalen Eingeschlossenheit zu befreien. Damit befreit er sich aus der Anonymität - „Ich schrieb, ich hatte mein Leben“ (578) - und beginnt die bewusste Auseinan- 25 Pedersen (1991), S. 15. 26 Pedersen (1991), S. 7ff. 27 Pedersen (1991), S. 15. 28 Pedersen (1991), S. 15. <?page no="183"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 183 dersetzung mit der Geisterwelt. Malte löst sich reflektierend von der Konzentration auf die äußere Schicht seiner Persönlichkeit und damit auch von seiner ursprünglich sehr starken Verflochtenheit in das veräußerlichte soziokulturell konstruierte Diktat einer männlichen Geschlechtsrolle, die dem Mann Innerlichkeit, Irrationalität, Emotionalität und das Bedürfnis nach Kommunikation abspricht. Er reintegriert damit bewusst die aus dem eindimensionalen Anforderungsprofil von Männlichkeit abgespaltenen „weiblichen“ Teile des Menschseins. Stefanie von Schnurbein spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verweiblichung“ Maltes, die das Schreiben ermöglicht: „Malte stilisiert vielmehr seine >Entmannung<, seine Verweiblichung, zu einer besonderen Gabe, zur Voraussetzung seines künstlerischen Schaffens.“ 29 Während Graf Brahe nach wie vor Schwierigkeiten hat, sein Inneres auszudrücken, kann sich der erwachsene Malte mit dem Mittel des Schreibens aus der sprachlichen und emotionalen Eingeschlossenheit befreien. Dass Malte im Unterschied zu Graf Brahe eine Sprache findet, mag mit der Reflexion Maltes über sich selbst und seine Geschlechtsidentität in Zusammenhang stehen. Während Graf Brahe eigene Gefühle, Verhaltensweisen und Kommunikationsprobleme nicht reflektiert und sich nicht mit der Internalisierung des vorherrschenden Maskulinitätsideals auseinandersetzt, beginnt Malte bewusst die Werte und Gefühle auszudrücken, die einzig und allein für ihn selbst von Bedeutung sind. Der erwachsene Malte steht zu seinen Emotionen. Hat das Kind Malte zum Beispiel internalisiert, dass Furcht oder vielmehr Gespensterfurcht etwas „Weibliches“ ist und die soziokulturell konstruierte Männlichkeitsnorm kompromittiert, wird der erwachsene Malte im Rahmen seines Individuationsprozesses fähig, Furcht als Teil seines eigenen Selbst zu akzeptieren und sich durch das Schreiben aus seiner sprachlichen und emotionalen Eingeschlossenheit zu befreien: „Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben“ (464). Das Maskulinitätsideal verliert an Wirkungskraft. Während das Kind Malte in der Pflicht lebt, seine „Männlichkeit“ zu bestätigen und Emotionen zu unterdrücken, setzt sich der erwachsene Malte reflektierend mit seiner subjektiven Fühlweise auseinander, steht zu seiner Furcht und zu seiner Angst und erkennt sich als ein durch sein Geschlecht geprägter Mensch: „Warum soll ich tun, als wären jene Nächte nicht gewesen, da ich aufsaß vor Todesangst und mich daran klammerte, daß das Sitzen wenigstens noch etwas Lebendiges sei: daß Tote nicht saßen. (…) Da ich ein Knabe war, schlugen sie mich ins Gesicht und sagten mir, daß ich feige sei. Das war, weil ich mich noch schlecht 29 Schnurbein (2001), S. 223. <?page no="184"?> Barbara Hindinger 184 fürchtete. Aber seitdem habe ich mich fürchten gelernt mit der wirklichen Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt, die sie erzeugt.“ (571) Auch mit seiner Weinerlichkeit geht der erwachsene Malte anders um. Strengt sich der kleine Malte an, seine Tränen zurückzuhalten - „es schien mir schon viel, daß ich nicht weinte“ (612) -, reflektiert der erwachsene Malte implizit die Sinnhaftigkeit geschlechtsrollenspezifischer Normen, die dem Mann die Emotionalität absprechen - „dein Herz ist hinter dir her (…) und dein bißchen obere Härte und Anpassung ist ohne Sinn“ (506f.) -, und lässt seine Tränen offen und bewusst zu: „Ich habe geweint.“ (504). Dem Kind Malte wird beigebracht, seine innere Welt zu verleugnen und gemäß einem konventionellen äußeren gesellschaftlichen Männlichkeitsmuster zu leben. Freilich hält seine Mutter ihn nach dem Erlebnis mit der „Hand“ tröstend in den Armen, aber sie ist unfähig oder unwillig, auf Maltes tatsächliche psychische Verfassung einzugehen und ihm durch verstehende Kommunikation zu helfen. Sie nimmt Malte nicht als Mensch mit einem eigenen schwerwiegenden Problem im Umgang mit der Geisterwelt wahr. Für den kleinen Malte bedeutet das, dass er einen Teil seines Selbst unterdrücken muss und sich überfordert, was der Grund dafür ist, körperlich krank zu werden: „Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die darauf ausgingen, mir zu beweisen, daß dies nicht das erste eigene Erlebnis war.“ (521) Der erwachsene Malte emanzipiert sich durch seinen Individuationsprozess von diesem Prägungs- und Erwartungsdruck. Er lässt sich auf sich selbst und auf die Ursachen seiner Leidenssituation ein, indem er seine tatsächliche innere Verfassung sowie seine Irrationalität als Teil von sich annimmt und seine eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit im Umgang mit der immateriellen Sphäre schriftlich fixiert. Rilke skizziert in Malte eine Männerfigur, die dem kulturell vorherrschenden Maskulinitätsideal in keiner Weise tatsächlich entspricht. Dabei ist zu beobachten, dass das Kind Malte den soziokulturell konstruierten Standards nacheifert und nach außen hin implizit „Männlichkeit“ zur Schau stellt, indem er zum Beispiel entweder einen „sehr deutlichen Ritter“ (519) zeichnet oder an den Nachmittagen seiner Genesung nach den Krankheiten mit Soldaten spielt: „Später, wenn die Kräfte wiederkamen, wurden die Kissen hinter einem aufgebaut, und man konnte aufsitzen und mit Soldaten spielen; aber sie fielen so leicht um auf dem schiefen Bett-Tisch und dann immer gleich die ganze Reihe; und man war doch noch nicht so ganz im Leben drin, um immer wieder von vorn anzufangen. Plötzlich war es zuviel, und man bat, alles recht rasch fortzunehmen, und es tat wohl, wieder nur die zwei Hände zu sehen, ein bißchen weiter hin auf der leeren Decke.“ (523) Der erwachsene Malte macht mit der reflektierenden Niederschrift seiner Gedanken deutlich, wie gesellschaftliche vorgegebene Männlichkeit zur Fas- <?page no="185"?> „Männliche” Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Okkulten 185 sade verkommt und nur mehr Anforderung ist, mit der sich der Mann innerlich nicht mehr identifizieren kann und will. Der kleine Malte leidet unbewusst unter den „männlichen Vereinseitigung“, funktioniert aber dennoch so, wie die Gesellschaft es von ihm erwartet, indem er mit Soldatenfiguren spielt. Der erwachsene Malte weiß, was er selber will und revoltiert bewusst gegen jene ideell normierte Männlichkeit, die den Mann in seiner Ganzheit beschneidet. Das Kind Malte übernimmt und verinnerlicht unhinterfragt das kulturelle Leitbild von Männlichkeit. Der erwachsene Malte reflektiert nicht nur das belastende Spannungsverhältnis zwischen Stereotyp und subjektiver Erfahrung des Mann-Seins, sondern er sucht das Leitbild an sich zu verändern. Er beginnt implizit, das soziokulturelle Konstrukt aufzulösen, die aus dem vorherrschenden Männlichkeitsideal verbannten „weiblichen Seiten“ zu reintegrieren und einen Wandel von Männlichkeit zu initiieren: „Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns zu nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal ein Stück echter Spitze fällt und freut und nicht mehr freut und endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenem, schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert.“ (550) Diese Überlegungen Maltes kündigen eine Auflösung des vorherrschenden soziokulturell konstruierten Leitbilds von Männlichkeit an, das in der Aufklärungsepoche entworfen 30 und im Laufe des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich verfestigt wurde. Ist „Männlichkeit“ einerseits immer als ein historisch wandelbares, soziokulturell konstruiertes Bündel von Normen und Idealen zu verstehen, so steht diese normative Maskulinität andererseits immer in einem mehr oder weniger starken Spannungsverhältnis zu individuellen Verhaltensweisen und Gefühlszuständen. Eine Diskrepanz von normativer Maskulinität und individuellem „Anderssein“ wie sie in der Figur des Malte erkennbar ist, lässt sich in der Literatur zwar als Kontinuum fixieren, das so alt ist wie die Norm selbst. In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gewinnt diese Diskrepanz jedoch eine neue Dimension. Es geht nicht mehr nur um individuelle und soziale Konflikte mit der übergeordneten Macht eines ideologischen Konzepts, sondern um das Konstrukt an sich, das in Frage gestellt und der Veränderbarkeit preisgegeben wird. Der von Rilke dargestellte Individuations- und Veränderungsprozess Maltes legt einen unterschiedlichen Umgang mit okkulten Erscheinungen 30 Schmale (2003), S. 152. <?page no="186"?> Barbara Hindinger 186 offen. Das den Normen der Männlichkeit nacheifernde Kind Malte unterdrückt die Auseinandersetzung mit dem Unerklärlichen. Der sich vom Maskulinitätsideal befreiende erwachsene Malte nimmt die übersinnlichen Erlebnisse als Teil von sich selbst an. Durch das bewusste Hinterfragen eines soziokulturell konstruierten Mannseins, das die erzwungene Distanz von emotionalen und kommunikativen Bedürfnissen beinhaltet, erarbeitet sich Malte zudem über Graf Brahe hinaus die Fähigkeit, die eigene Hilflosigkeit im Umgang mit dem Okkulten in Worte zu fassen und sich damit auch endgültig von der quälenden sprachlichen und emotionalen Eingeschlossenheit zu befreien. 5 Zusammenfassung An keiner Stelle wird eine Aussage darüber gemacht, dass die Wahrnehmung des Unerklärlichen grundsätzlich ein Charakteristikum von Männlichkeit oder Weiblichkeit ist. Männer und Frauen sind gleichermaßen für die immaterielle Sphäre empfänglich, die Reaktion auf die Geisterwelt ist nicht geschlechtsspezifisch geprägt. Geschlechtsspezifisch implizite Zuschreibungsdifferenzen zwischen Männern und Frauen kristallisieren sich nur in den Momenten heraus, in denen es um die sprachliche Verarbeitung übersinnlicher Erlebnisse geht. Sind die Frauen zwar auch nicht wirklich dialogfähig, so gelingt ihnen zumindest ein Monologisieren über das Unerklärliche wie es das Beispiel von Maltes Mutter zeigt. Die Männer hingegen verharren in Sprachlosigkeit, und nur der bewusst sich selbst und seine Geschlechtsidentität reflektierende Malte findet mit dem Schreiben ein Mittel, sich aus der sprachlichen Eingeschlossenheit zu befreien. Die Männerfiguren registrieren allesamt Geistererscheinungen. Eine einheitlich „männliche“ Position im Umgang mit der immateriellen Sphäre gibt es jedoch nicht. Männer wie Graf Brahe oder Erik nehmen die Geisterwelt wie selbstverständlich an, Männer wie der Major oder Maltes Vater verhalten sich abwehrend. Dahinter verbirgt sich eine unterschiedliche Verflochtenheit der Männer in das vorherrschende Maskulinitätsideal. Je stärker eine Verstrickung in die ideelle Norm von Männlichkeit besteht, desto weniger wird die immaterielle Sphäre zugelassen. Bei Malte zeigt sich dies besonders deutlich. Der das Maskulinitätsideal internalisierende Malte der Kindheit unterdrückt Emotionalität, Innerlichkeit und die Auseinandersetzung mit der immateriellen Sphäre, der seine Geschlechtsidentität reflektierende erwachsene Malte erkennt das Sehen unerklärlicher Phänomene als Teil von sich an. <?page no="187"?> Peter Mario Kreuter „Auf dem Karlsplatze war es still.“ Die Inszenierung Prags als Ort des Okkulten bei Leo Perutz und Paul Leppin „Magisches Prag“ 1 … Kaum eine Stadt in Europa wird mit Attributen wie magisch, verwunschen oder auch okkult so in Verbindung gebracht wie die Hauptstadt Böhmens. Selbst ein Werk wie das Habsburger Sammelsurium von Harald Havas kommt nicht umhin, dem ach so magischen Prag seine Reverenz zu erweisen, auch wenn allein das „Prag zur Zeit von Kaiser Rudolf II.“ ins Auge gefaßt wird, das „viel an Geheimnisvollem und Mystischem, aber auch Reichliches an internationaler Prominenz aus Kunst und Wissenschaft zu bieten“ hatte. 2 Daß der Kaiser selbst zu Alchemie und Astrologie neigte, erfahren wir ebenso wie den Umstand, daß Johannes Kepler in Prag arbeitete und „sich auch für astrologische Berechnungen nicht zu schade“ 3 war, was eine spaßige Formulierung darstellt, war das Erstellen von Horoskopen damals noch eine für einen Astronomen ehrenvolle Aufgabe, die ja auch einen guten Teil seines Einkommens sicherte. Von Wallenstein und Rabbi Löw samt Golem wird kurz berichtet, und selbst der jüdische Kaufmann und kaiserliche Finanzier Mordechai Meisl findet Erwähnung. Doch dabei beläßt es der Autor dieses spaßigen Büchleins nicht, er ist sogar so frei, dem geneigten Leser ein Buch ans Herz zu legen, das man leider zu den vergessenen Meisterwerken der deutschsprachigen Literatur rechnen muß. „Eine schöne, traumhafte Widerspiegelung dieser und vieler anderer Personen sowie des damaligen Prag überhaupt findet sich in dem aus 14 Novellen bestehenden, sehr empfehlenswerten Roman Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz.“ 4 Hätte sich Harald Havas nicht ausdrücklich auf das Prag des 16. Jahrhunderts kapriziert, so wäre seine Literaturempfehlung möglicherweise eine andere gewesen. Gustav Meyrinks Der Golem dürfte da immer noch das Buch der Wahl sein, wenn es darum geht, die literarische Aufarbeitung des unheimlichen, okkulten Prag zu dokumentieren. So aber hat er einen der schönsten Romane von Leo Perutz, der 1953 zum ersten Mal veröffentlicht worden war, ins rechte Licht gerückt, dem hier Paul Leppins Severins Gang in 1 Harald Havas: Habsburger Sammelsurium. Wien-Graz-Klagenfurt 2006, S. 123. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd. <?page no="188"?> Peter Mario Kreuter 188 die Finsternis von 1914 zu Seite gestellt sei, um anhand beider Werke dem okkulten Prag und seiner Darstellung in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts nachzugehen. Auf den in Prag geborenen Leo Perutz (1882-1957) wurde der Verfasser dieser Zeilen durch die Lektüre von Friedrich Torbergs 1975 erstmals erschienener Anekdotensammlung Die Tante Jolesch aufmerksam, genauer gesagt bei der Beschreibung der Tarockpartien, an denen der legendäre Wiener Rechtsanwalt Dr. Hugo Sperber teilnahm. 5 Dieser pflegte die Abrechnung der Verlustsummen eines Tarockabends gerne unter Anwendung der „Lex Perutz“ vorzunehmen, wonach grundsätzlich eine Abrundung der Verlustsumme vorzunehmen sei, die im Extremfall, „unter drakonischer Anwendung der Lex Perutz“, fast einen ganzen Schilling ausmachen konnte. 6 Auch an anderer Stelle kommt Torberg mehrmals auf Leo Perutz zu sprechen 7 und beläßt es dabei nicht mit Schnurren aus dessen Leben, sondern erlaubt sich auch eine Charakterisierung des Schriftstellers, nach der dieser „zu den Meistern des phantastischen Romans gehört - er könnte einem Fehltritt Franz Kafkas mit Agatha Christie entsprossen sein.“ 8 Perutz’ Romane folgen oftmals dem Schicksal einzelner Figuren und sind mit Elementen des Phantastischen angereichert. Die Frage ‚Was ist real? ’ ist für ihn bedeutsam, und so ist es kein Wunder, daß in der 7. Novelle seines Buches, die titelgebend Nachts unter der steinernen Brücke lautet, zwar jene steinerne Brücke in Prag, die Karlsbrücke heißt, ganz real den Ort des rein irdischen Geschehens markiert, die Handlung selbst aber in einem Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit stattfindet. Doch der Reihe nach. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm Leo Perutz von Palästina aus, wohin er mit seiner Frau 1938 geflohen war, Kontakt mit seinen Bekannten in Österreich auf. An eine Rückkehr dachte er zunächst jedoch nicht, denn der mittlerweile über sechzigjährige Perutz scheute nicht nur die Mühen eines abermaligen Ortswechsels, sondern hatte auch große Angst vor den Nachkriegswirren. Hinzu kam, daß er sich mittlerweile in Tel Aviv recht wohl fühlte und die orientalische Atmosphäre seiner neuen Heimat genoß, auch wenn er darunter litt, daß ihn hier niemand kannte und seine Bücher kaum zu bekommen waren. 9 Doch nach dem Abzug der britischen Verwaltung und der Proklamation des Staates Israel 1948 begann er sich zunehmend unwohl zu fühlen. Postzensur und Ausreiseverbot, beides von der neuen Regierung verhängt, waren hierfür gewichtige Gründe, doch war vor allem es sein ausgeprägter Widerwille ge- 5 Die hier verwendete Ausgabe ist Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlands in Anekdoten. München 22 1999. 6 Ebd., S. 157. 7 Ebd., S. 140-145. 8 Ebd., S. 141f. 9 Ulrike Siebauer: Leo Perutz - „Ich kenne alles. Alles, nur mich nicht“. Eine Biographie. Gerlingen 2000, S. 250f. <?page no="189"?> „Auf dem Karlsplatze war es still.” 189 gen Nationalismus und Blutvergießen, der ihm den neuen Staat samt dessen Politik gründlich verleidete. „Ich hatte Palästina gerne, aber es hat sich in einem Jahr sehr geändert. Die Araber in dem zu uns gehörenden Teil sind so gut wie verschwunden. Jerusalem, die einzigartige Stadt, ist im Begriff, ein Groß-Rechawia zu werden (Rechawia heißt das moderne jüdische Viertel in Jerusalem). Ich mag auch das Nationalgefühl nicht und auch nicht den Patriotismus, beide sind schuld an jedem Unheil, das seit 150 Jahren über die Welt gekommen ist. Mit Nationalgefühl beginnt’s und mit Cholera und Ruhr und Diktatur endet es. Ich will also fort, sowie ich kann, aber dabei weiß ich, daß mir ewig nach Palästina, und sogar nach Tel Aviv bange sein wird. So geht es einem, der allzuviel Vaterländer hat. Ich habe deren drei gehabt, und alle drei wurden mir wegeskamotiert.“ 10 1950 schließlich gelang es Perutz, für sich und seine Frau Einreisevisa nach Österreich und Großbritannien zu erhalten. Seine Eindrücke in Wien und St. Wolfgang waren durchaus gemischt. Während ihm das Wiener Theaterleben gut gefiel und der Besuch im Kaffeehaus zur wahren Freude geriet, empfand er den Zustand der Stadt Wien selber eher als bedauernswert. Auch die Grenzformalitäten haben ihn sehr gequält, und so nahm Perutz 1952 wieder die österreichische Staatsbürgerschaft an. Bis zu seinem Tod verbrachte er nun die Winter- und Frühjahrsmonate in Tel Aviv, die Sommer- und Herbstmonate dagegen in Europa, davon stets vier Wochen im Salzkammergut, meist in seinem Freundeskreis, zu dem u.a. Alexander Lernet-Holenia, Hilde Spiel und Peter de Mendelssohn gehörten. In Bad Ischl ist er schließlich gestorben und begraben worden. In diese Zeit fiel auch sein literarischer Neuanfang. 1936 war zuletzt ein Werk von ihm in den Druck gegangen, nämlich das Komödie Warum glaubst du mir nicht? , die er zusammen mit Paul Frank verfaßt hatte. Nun beendete er ein Werk, an dem er schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert gearbeitet hatte. Im Juli 1924 notierte er in sein Notizbuch, daß er mit einer Buchprojekt namens Meisls Gut begonnen habe, und schon einen Monat später vermerkte er den Abschluß einer Novelle, die er Ghettolegende nannte und die 1925 im Neuen Merkur abgedruckt wurde. 11 Daß diese Novelle von Perutz schon damals als Teil des Buchprojekts Meisls Gut angelegt wurde, illustriert die 1930 erschienen Novellensammlung Herr, erbarme Dich meiner, denn in diese wurde sie nicht aufgenommen. Diese erste Novelle fand beim Publikum großen Anklang, doch noch ehe sich Perutz daran machen konnte, an den weiteren Novellen zu arbeiten, nahmen ihn andere Romanprojekte in Anspruch. So blieben die Ideen und Skizzen zu Meisls Gut für längere Zeit liegen, und die weiteren geschichtlichen Ereignisse waren einem solch delikaten, weil von 10 Brief von Leo Perutz an Annie und Hugo Lifczis, Tel Aviv, 2. Oktober 1948, zitiert nach Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. Wien-Darmstadt 1989, S. 346 (Kat.-Nr. 442). 11 Der schließlich verwendete Titel lautete „Legende aus dem Ghetto“, in Der neue Merkur 8 (1924/ 25), S. 247-256. <?page no="190"?> Peter Mario Kreuter 190 der Konzeption her verschachtelten Buch nicht gewogen. Die Machtübernahme der Nazis in Deutschland, der Anschluß Österreichs, die Besetzung der Tschechoslowakei und schließlich die Emigration nach Palästina sorgten dafür, daß das Prag des 16. Jahrhunderts, das in den Skizzenbüchern und den Sammelmappen vor sich hinschlummerte, noch lange in diesem Dornröschenschlaf verharren sollte. Im April 1943 nahm er schließlich die Arbeit an Meisls Gut wieder auf. Seine Arbeit als Versicherungsmathematiker verlangte nach einem Ausgleich, und Novelle um Novelle wurde fertiggestellt. Sein Wiedersehen mit Europa 1950 hat ihm noch einmal einen Energieschub gegeben, und so arbeitete er unverdrossen weiter, bis er im März 1951 in einem Brief an Freunde berichten konnte, daß das Werk vollbracht sei. „Mir haben seit Jahren drei Kapitel zu ‚Meisls Gut’ gefehlt, sie schienen mir zu schwierig, zu wenig durchdacht, zu substanzlos, und so traute ich mich nicht an sie heran. Aber ich kam aus Europa mit einer immensen Arbeitswut geladen zurück und habe drei Kapitel in einem Zug geschrieben, und sie, wie auch das ganze Buch, sind so geworden, wie ich es mir immer erhofft habe. Ich habe das Maschinoskript vor einer Woche zu Zsolnay geschickt, und wenn der - zum Teil - jüdische Inhalt des Romanes für einen deutschen Verlag von heute nicht ein handicap darstellt, so werde ich Ihnen vielleicht schon Ende des Jahres wieder ein neues Buch zuschicken können. Ich glaube, das Buch ist mir wirklich gelungen, schade nur, daß ich es nicht vor 20 Jahren geschrieben habe. Kisch und Werfel hätten es gewürdigt, aber wo sind die beiden! Ich nannte den Inhalt ‚zum Teil jüdisch’, denn der größere Teil des Buches spielt auf der Prager Burg, bei Rudolf II. und seinem Hof.“ 12 Leider stellte der „jüdische Inhalt“ des Romans für den Zsolnay Verlag dann doch „ein handicap“ dar, und erst 1953 wurde er von der Frankfurter Verlagsanstalt unter dem Titel Nachts unter der steinernen Brücke veröffentlicht, ein Titel, auf den sich Autor und Verlag geeinigt hatten. Die schon 1925 veröffentlichte Novelle eröffnet diesen aus 14 Novellen und einem Epilog bestehenden Roman und heißt nun Die Pest in der Judenstadt. Die Kritik war mehr als positiv, Friedrich Torberg, Friedrich Sieburg, Hans Reimann oder Hilde Spiel sparten nicht mit Lob und Anerkennung. Der Erfolg bei der Leserschaft indes blieb aus, was auch dem Zusammenbruch der Frankfurter Verlagsanstalt und dem daraus resultierendem Verlagswechsel zuzuschreiben war. Die in ruhigeren Bahnen verlaufende Neuauflage erlebte Perutz nicht mehr. 13 In Nachts unter der steinernen Brücke vermischt Perutz auf mehreren Ebenen phantastische und historische Elemente. Der Text stellt an sich Geschehnisse im Prag Kaiser Rudolfs II. dar, wobei vier Hauptfiguren direkt oder 12 Brief von Leo Perutz an Annie und Hugo Lifczis, Tel Aviv, 15. März 1951, zitiert nach Leo Perutz 1882-1957 (wie Anm. 10), S. 367 (Kat.-Nr. 478). 13 Zu den diversen Schwierigkeiten, die Leo Perutz bei der Publikation seines Romans hatte, verweise ich auf Sebauer: Leo Perutz (wie Anm. 9), S. 284f. <?page no="191"?> „Auf dem Karlsplatze war es still.” 191 indirekt immer wieder auftauchen. Einmal ist es Rudolf II. selbst, dann sein Finanzier, der Kaufmann und Mäzen Mordechai Meisl, dann dessen Frau Esther Meisl, und schließlich der Rabbi Löw. Der Zeitraum, in dem die Novellen spielen, erstreckt sich von 1571 bis 1621. Mehrere Ebenen der Vermischung von Phantastik und Historizität wurden vom Verfasser dieser Zeilen bereits angedeutet, und die erste betrifft die Anordnung der Kapitel. Jedes der 14 Kapitel bildet eine in sich abgeschlossene, mit eigenen Protagonisten versehene und in einem eigenen sozialen Umfeld spielend Novelle, die allerdings in Beziehung mit den anderen Novellen steht. Allesamt sind sie untereinander einer chronologischen Ordnung verpflichtet. Diese Ordnung wird von Perutz jedoch durchbrochen, da er die Anordnung der Novellen eben nicht dieser Chronologie entsprechend vorgenommen hat. Bewußt hat er die Schlüsselerzählung Nachts unter der steinernen Brücke als 7. Kapitel in die Mitte des Romans gestellt, so daß die Rahmenhandlung des ersten Kapitels, die die Handlung dieses 7. Kapitels grausam beendet, zunächst einmal recht geheimnisvoll bleibt. Und erst das 14. Kapitel enthüllt im Gespräch des Rabbi Löw mit dem Engel Asael viele Details dieses durch die Magie des Rabbis erst ermöglichten Verhältnisses zwischen dem Kaiser und Esther Meisl. Nur die Lektüre des gesamten Romans offenbart das zeitliche Verhältnis, in dem die einzelnen Novellen zueinander stehen. So war es auch von Perutz ganz ausdrücklich gewollt: „Es ist, wie Sie sehen werden, ein Roman mit einem etwas eigenwilligen Aufbau. Die einzelnen Kapitel sehen aus und lesen sich wie selbständige Erzählungen, und es dauert einige Zeit, ehe man darauf kommt, daß man Kapitel einer eigentlich ziemlich straffen Romanhandlung vor sich hat, die aber nicht chronologisch erzählt wird. So ist der Beginn der Handlung erst im letzten, dem 14. Kapitel zu finden, während das erste seinen Stoff aus der Mitte der Handlung sich holt. Und doch erscheint mir diese Anordnung nicht willkürlich, sondern als die einzig denkbare und mögliche.“ 14 Im Kern dreht sich der Roman um die Liebe des Kaisers zur schönen Esther Meisl, Frau eben jenes Kaufmannes und kaiserlichen Finanziers namens Mordechai Meisl. Rudolf II. erblickte diese Schönheit bei einem Ausritt, und von tiefer Liebe ergriffen, zwang er den Rabbi Löw, seine magischen Fähigkeiten einzusetzen, um diese Liebe verwirklichen zu können. So pflanzte der Rabbi eines Nachts unter der Karlsbrücke einen Rosenstrauch und einen Rosmarin und ließ die Seelen des Kaisers und der schönen Jüdin nun jede Nacht, wenn diese träumten, in die beiden Blumen fahren, die des Kaisers in die Rose und die der Esther in den Rosmarin. Doch nach einiger Zeit muß Rabbi Löw diese Beziehung für immer beenden: Er gräbt den Rosmarin aus und wirft ihn in die Moldau. Noch in dieser Nacht stirbt Esther Meisl, und der Kaisers fährt mit einem Schrei aus dem Schlaf und beginnt, schwermütig 14 Brief von Leo Perutz an Paul Zsolnay, Tel Aviv, März 1951, zitiert nach Hans-Harald Müller: Leo Perutz. München 1992, S. 132. <?page no="192"?> Peter Mario Kreuter 192 zu werden. Mordechai Meisl erfährt erst nach Jahren von diesem Ehebruch, und seine Rache am Kaiser ist ebenso raffiniert wie wirkungsvoll. Kinderlos, wie er ist, hatte er den Kaiser als Erben eingesetzt, und so nimmt er nun dadurch Rache, daß er sich als Mäzen und Philanthrop betätigt und im Judenviertel von Prag auf seine Kosten Gebäude erreichten und Spenden verteilen läßt. Ein Teil der Gebäude wird einmal als Meisls Gut bezeichnet werden, und so hätte der Roman ja auch ursprünglich heißen sollen. Die verdrehte und verschachtelte Chronologie wurde schon angesprochen als eine der Ebenen, vermittels derer Phantasie und historisches Geschehen miteinander verwoben werden. Eine zweite ist der Wechsel von Novellen, die auf historischen Fakten und Persönlichkeiten bzw. auf altüberlieferten Sagen beruhen, zu solchen, die frei erfundene Geschichten erzählen. Die 8. Novelle Der Stern des Wallenstein ist ein Beispiel für eine Geschichte, die mit Johannes Kepler und Albrecht von Wallenstein historisch verbürgte Protagonisten hat, auch wenn die Handlung der Novelle um die Wirrungen, die schließlich Wallenstein seine erste Frau finden lassen, reine Fiktion ist. Zumindest werden Wallensteins Glaube an die Astrologie und Keplers Broterwerb, das Erstellen von Horoskopen, ironisch, doch durchaus ihrer Zeit entsprechend dargestellt. Dem hingegen sind die Spaßmacher Koppel-Bär und Jäckele-Narr, die dem Leser gleich in der ersten Novelle begegnen (und im weiteren Verlauf auch wieder auftauchen), ganz klar von Perutz erfunden. Dennoch sind sie in die Handlung um die Liebesbeziehung zwischen Rudolf II. und Esther Meisl, die schon im 19. Jahrhundert literarisch verarbeitet worden ist, eingewoben, stellen die beiden Spaßmacher doch die Protagonisten derjenigen Novelle dar, die in die zentrale Handlung des Romans einführt. Es existiert daneben noch eine dritte Ebene, die Historizität und Phantastik zu vermischen hilft. Denn es gibt noch eine Rahmenerzählung für den gesamten Roman, und auch diese ist kunstvoll angelegt. Niedergeschrieben wurde der Roman vorgeblich von einem nicht näher beschriebenen Sprecher, doch habe er lediglich zu Papier gebracht, was ihm der eigentliche auktoriale Erzähler, der cand. med. Jakob Meisl, an vielen Winternachmittagen von Meisls Gut berichtet hatte. Dieser Jakob Meisl war sein Nachhilfelehrer, wohnte in der Judenstadt und war als Nachfahre von Mordechai Meisls Bruder, aber auch als Medizinstudent und Verehrer der Aufklärung wie geschaffen, die Geschichten aus dem alten Prag mit einer rationalen Betrachtungsweise zu verbinden und dabei durch seine verwandtschaftlich begründete Verbundenheit mit Mordechai Meisl selbst in die Vergangenheit hinüberzuleuchten. Konkretisiert hat Perutz diese zweischichtige Erzählperspektive von auktorialem Erzähler und nachträglichem Niederschreiben durch einen Ohrenzeugen nur am Ende der zweiten Novelle Des Kaisers Tisch und im Epilog. Ansonsten beschränkt sich diese Rahmenerzählung auf gelegentliche Kommentare des Jakob Meisl, so in der ironisierenden Kommentierung der Astrologiegläubigkeit des Albrecht von Wallenstein. <?page no="193"?> „Auf dem Karlsplatze war es still.” 193 Die kunstvolle Vermischung von historischen Fakten und erzählerischer Phantasie sollte nun deutlich geworden sein. Wie nun aber dient Leo Perutz die Stadt Prag selbst dazu, diesem phantastischen, mehrmals auch ins Okkulte hinüberdriftendem Roman zu seiner Atmosphäre zu verhelfen? Zumindest nicht durch ausführliche Beschreibung der jeweiligen Örtlichkeiten. Damit unterscheidet er sich auffällig von Gustav Meyrink, der in seinem Golem nicht nur genau die Orte der Handlung lokalisiert, sondern gerade am Anfang des Romans den Häusern oder Plätzen Prags durch Anthropomorphisierung ein regelrechtes Eigenleben zugesteht. „Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können - es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern.“ 15 Oder: „Der abblätternde Bewurf einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich die Züge starrer Gesichter.“ 16 Leo Perutz hingegen hat lediglich im Epilog seines Romans eine Beschreibung des Prager Judenviertels eingefügt, die geeignet ist, in der Phantasie des Lesers Bilder zu evozieren, die Verwunschenheit und Magie der Judenstadt deutlich unterstreichen. „Aneinander gedrängte altersschwache Häuser, Häuser im letzten Stadium des Verfalls, mit Vor- und Zubauten, die die engen Gassen verstellten. Diese krummen und winkeligen Gassen, in deren Gewirr ich mich auf das hoffnungsloseste verlaufen konnte, wenn ich mich nicht vorsah. Lichtlose Durchlässe, düstere Höfe. Mauerlücken, und höhlenartige Gewölbe, in denen Trödler ihre Waren feilhielten, Ziehbrunnen und Zisternen, deren Wasser von der Prager Krankheit, dem Typhus, verseucht war, und in jedem Winkel, an jeder Ecke eine Spelunke, in der sich die Prager Unterwelt zusammenfand.“ 17 Im Unterschied zu Meyrink beschreibt Perutz aber nicht das Prag, in dem seine Geschichten spielen, also nicht das Prag um 1600, sondern jenes Judenviertel, das sein berichtender Sprecher durcheilen mußte, um zu seinen Nachhilfestunden zu kommen. Es ist des Viertel Josefov, kurz vor seiner Demolierung und Komplettsanierung in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Und es fehlt auch jede Dämonisierung durch Anthropomorphisierung. Es ist die düstere, doch recht sachliche Beschreibung eines heruntergekommenen Stadtviertels, nicht mehr und nicht weniger. 15 Gustav Meyrink: Der Golem. Prag 1995, S. 27. 16 Ebd., S. 47. 17 Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans-Harald Müller. Knaur 1994, S. 261. <?page no="194"?> Peter Mario Kreuter 194 Das Prag, das Leo Perutz in Nachts unter der steinernen Brücke zum Schauplatz auserkoren hat, präsentiert sich dem hingegen eher am Rande der Handlung. Keine Ghettoatmosphäre wird da durch verlebendigte Häuser und Gassen aufgebaut, und auch die Burg hoch über der Moldau oder die Häuser, in denen sich Teile der Handlung abspielen, bleiben das, was sie sind: eine Burg und Häuser. Die Beschreibungen beschränken sich auf das Notwendige, der Ort allein erzeugt noch keine phantastische oder okkulte Stimmung. Der Abstand, den Perutz zum Ort des Geschehens hat, verdeutlicht geradezu exemplarisch der Umstand, daß die 1925 vorveröffentlichte erste Novelle ja gerade unter dem Titel Legende aus dem Ghetto gedruckt wurde und damit bereits im Titel der Unwirklichkeitscharakter der Erzählung sowie eine rationalistische Betrachtungsweise unterstrichen werden. 18 Allein die titelgebende Karlsbrücke wird immer dann, wenn sie zum Schauplatz der Handlung wird, ins rechte Licht gerückt. Als „steinerne Brücke“ wird sie dabei stets bezeichnet, das harte, solide Material also sehr deutlich hervorgehoben. 19 Und nur sie wird atmosphärisch in Zusammenhänge gestellt, die der wundersamen Handlung angemessen zu sein scheinen. „Der hohe Rabbi aber verließ sein Haus und ging einsam durch die nächtlichen Gassen des Ghettos hinab zum Fluß und dem Ufer entlang, an den Fischerhütten vorüber, bis er zur steinernen Brücke kam. […] Schwarze Wolken jagten über den Himmel, das bleiche Licht des Mondes hing an den Pfeilern und Bogen der steinernen Brücke. Der Hohe Rabbi trat an das Ufer und warf den Rosmarin hinab in den Fluß, daß er dahintrieb mit den Wellen und in den rauschenden Tiefen versank.“ 20 Wenn Prag bei Perutz einen phantastischen und bisweilen okkult angehauchten Rahmen abgibt, dann deshalb, weil das Personal seines Romans zu einem guten Teil der Magie, der Alchemie und der Kabbala verpflichtet ist. Prag hat eben diese Gestalten hervorgebracht oder sie doch zumindest angezogen, den Astronomen Johannes Kepler, Alchemisten wie Jakobus van Delle, den Rabbi Löw und den Kaiser Rudolf. Sie leben und arbeiten in Schreibstuben, Laboratorien, einfachen Wohnhäusern oder in einer stattlichen Burg. Die Schilderung des Ghettos, bei Meyrink ein unheimlicher, sich selbst in eine Art Ungeheuer verwandelnder Ort, ist bei Perutz, wie bereits erwähnt, sachlich, nüchtern, wenn auch stimmungsvoll. Es bildet eben den passenden Hintergrund für die phantastischen Geschichten und Legenden und erhält nur als Konkretisation der erzählten Vergangenheit eine gewisse, symbolbeladene Bedeutung. Das Okkulte tritt erst dann in diese Welt, wenn der Rabbi 18 Vgl. hierzu auch die Dissertation von Verónica Jaffé Carbonell: Leo Perutz. Ein Autor deutschsprachiger phantastischer Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. München 1986, S. 200. 19 Perutz: Nachts (wie Anm. 17), S. 22, wo es allein dreimal kurz hintereinander „steinerne Brücke“ heißt. Auch im 14. Kapitel, S. 258, wird explizit auf das Material der Brücke verwiesen. 20 Ebd., S. 22. <?page no="195"?> „Auf dem Karlsplatze war es still.” 195 Löw die Seele eines kleinen, früh verstorbenen Kindes beschwört, um zu erfahren, wie er der Pest in der Judenstadt ein Ende setzen kann, es wird sichtbar, wenn Rose und Rosmarin sich innig einander zuneigen und ein Gespräch führen, und es wird greifbar im Laboratorium des Alchemisten van Delle oben in der Prager Burg. Doch hat dieser ein Laboratorium wie andere Alchemisten auch. Perutz weiß um die Bedeutung des Namens Prag, und er weiß um die Personen, die seine Romanwelt bevölkern. Dies kreiert und definiert die okkulte Stimmung in Nachts unter der steinernen Brücke, nicht jedoch ein besondere Herausarbeitung des Mythos vom phantastischen Prag. Bei Paul Leppin (1878-1945) sieht dies doch anders aus. Der in Prag geborene Sohn eines Uhrmachers und einer Erzieherin wuchs in recht ärmlichen Verhältnissen auf und konnte aufgrund der angespannten finanziellen Lage der Familie nach bestandener Matura nicht studieren, sondern mußte sich nach einem Brotberuf umsehen. So trat er alsbald in den Dienst der Post- und Telegraphendirektion, wo er bis zu seiner krankheitsbedingten Frühpensionierung im Jahre 1928 arbeitete und es bis zum Rechnungsobersekretär brachte. Anders als Leo Perutz hat er Prag so gut wie nie verlassen, die Stadtteile Vinohrady und Pankrác bildeten seine topographischen Bezugspunkte. Sein bürgerliches Berufsleben zwang ihm einen geregelten Tagesablauf auf, und so war sein ganzes literarisches Schaffen von Anfang auch eine Möglichkeit, aus dem Korsett des stupiden Büroalltags auszubrechen und wenigstens zum Teil einer antibürgerlichen, der Prager Bohème zugewandten Auffassung vom Leben folgen zu dürfen. Leppin war bereits ein anerkannter Schriftsteller, als er im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs einen Gespensterroman, wie es im Untertitel hieß, veröffentlichte, in dem kein Gespenst vorzukommen scheint, zumindest keines klassischer Prägung: Severins Gang in die Finsternis. Severin, ein 23jähriger Büroangestellter, leidet an der Monotonie seines Lebens. Langeweile und Trostlosigkeit erfüllen ihn, und den meisten Menschen, die er kennt, geht es ähnlich. Da ist der Antiquar Lazarus Kain, ein alter Jude, der es bedauert, wenn er ein Buch aus seinen Beständen verkaufen muß, und „nur zwei Wesen liebte er mehr wie diese Bücher: den Raben Anton, ein altes und zerzaustes Tier, das ihm seit Jahren in seinem Buchladen Gesellschaft leistete, und sein Tochter Susanna.“ 21 Severin wird Susanna verführen und dann allein mit ihrer Schwangerschaft zurücklassen. Da ist Dr. Konrad, der die Leere des Lebens, solange er sich dies finanziell leisten kann, überspielt und schließlich Selbstmord begeht. Karla, eine früher berühmte Sängerin, die von Severin angehimmelt wird, muß ebenso hierzu gezählt werden wie Nikolaus, den er auf einem Fest bei Dr. Konrad kennengelernt hatte. Das Gerücht, daß Nikolaus einen Mord begangen habe, reizt Severin, sich mit ihm zu befreunden, und endlich glaubt er zu erfahren, was das wirk- 21 Paul Leppin: Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman. Mit einem Nachwort von Hugo Rokyta. Prag 1998, S. 21. <?page no="196"?> Peter Mario Kreuter 196 liche Leben ist, das er bislang vergeblich gesucht hatte. Nikolaus, der „okkultistische Liebhabereien betrieb“ 22 , gibt ihm Gift und damit die Macht, Schicksal zu spielen. Severin vergiftet damit den Raben des Lazarus Kain, doch als er sich daranmacht, auch Lazarus selbst zu töten, hält ihn der Anblick von Susanna davon ab. Verwirrt darob flüchtet er sich in die Arme seiner tschechischen Freundin Zdenka, und mit ihr verbringt er einen glücklichen Sommer. Doch bald langweilt ihn auch diese Beziehung, und Severin trennt sich von ihr. Karla hat zwischenzeitlich mit ihrem neuen Freund Nathan Meyer ein Lokal eröffnet, in dem sich der ehemalige Kreis um Dr. Konrad einfindet. Dort trifft Severin die Sängerin Mylada, die es wie keine versteht, ihm seine Wünsche zu erfüllen. Vergebens warnt ihn Nathan Meyer, Mylada sei sein Werkzeug, um Menschen zu zerstören, denn er hasse die Welt. Aber Severin ist schon umgarnt, und erst als Mylada ihn verläßt, rafft er sich auf, Nathan Meyer zu stoppen. Mit einer Granate aus Meyers Vorräten will er das Lokal sprengen, doch bei seiner Ankunft wird ihm in einer Tombola die Gunst Myladas für eine Nacht zugelost. Mit diesem Gewinn erlischt der letzte Rest von Entschlußkraft, und er gibt sich endgültig auf. Wie in keinem seiner anderen Werke erfaßt Paul Leppin mit Severins Gang in die Finsternis das Gefühl von Sinn- und Hilflosigkeit, auch des Ekels, das für so viele seiner Generation, namentlich im Bürgertum und in den gebildeten Kreisen der großen Städte, spürbar war und anscheinend durch den Ersten Weltkrieg endlich beseitigt werden konnte. 23 Es ist das Lebensgefühl der Dekadenz, das sich in Leppins Roman Bahn bricht. Monotonie prägt ein sinnentleertes, doch sehnsuchtsvolles Leben. Paul Leppin gibt dieses Lebensgefühl sehr treffend wieder, und er erreicht dies vor allem dadurch, daß er in seinem Roman so gut wie keine Handlung zuläßt. Statt dessen findet man Stimmungen, an die Stelle von Bewegung tritt die Schilderung eines Zustandes, und immer wieder hält Severin inne, um ein Gespräch mit sich selbst zu führen und sein (Nicht-) Handeln zu reflektieren. Otto Pick brachte dies alles in seiner Rezension von 1914 sehr gut zum Ausdruck. Wenn Severin „durch die Straßen taumelt, gleicht er einem Fetzen dieser geheimnisvoll schillernden, zwecklos verderbten Luft, er, Severin, der Suchende, wird zum Entgleitenden, er ist ein Stück Prag, welches zu entschwinden droht: er ist der letzte Romantiker Prags, der letzte Dekadent, gleich seinem Dichter.“ 24 Und das, was als Handlung doch vorhanden ist, läßt sich eher als zielloses Hinschleppen bezeichnen, oftmals an das Totschlagen von Zeit erinnernd. 22 Ebd., S. 43. 23 Die Hurrastimmung der Augusttage 1914 war mit Sicherheit echt und keine Fiktion, aber sie war auch ein Phänomen städtischer Zentren. In der Provinz, bei der bäuerlichen Bevölkerung konnte davon keine Rede sein. Vgl. hierzu den 17. Band der Neuausgabe des Gebhardt aus der Feder von Wolfgang J. Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918. Stuttgart 2002, S. 35f. 24 Otto Pick, Ein Prager Gespensterroman von Paul Leppin. In: Prager Tagblatt, Jg. 39, Nr. 62 vom 5.3.1914, S. 8. <?page no="197"?> „Auf dem Karlsplatze war es still.” 197 „Er kam sich vor wie einer, der mit der Schaufel in einer Grube steht. Er gräbt und schaufelt, aber der feine, bewegliche Sand rinnt immer wieder nach und verschüttet die Grube.“ 25 Daher nimmt es auch kein Wunder, daß die politischen Wirren des Sommers 1914 überhaupt keinen Niederschlag in diesem kleinen Roman finden. Nationale Spannungen scheinen nicht zu existieren, die kriegerischen Ereignisse der Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden nicht einmal dezent angedeutet. Severin hat eine Zeitlang eine tschechische Freundin, verkehrt bei einem jüdischen Antiquar, zugleich ist er in die deutschsprachige Bohème Prags eingebunden. Alle leiden unter der Sinnentlehrtheit der menschlichen Existenz - welchen Stellenwert kann da das Nationale haben? So plätschert Severins Existenz dahin, und ein Gutteil der düsteren, bar jeder Hoffnung geschilderten Umwelt in Leppins Roman ist dieser Verweigerung von Handlung und zielgerichteter Reflexion geschuldet. Doch noch etwas trägt zur Atmosphäre des Romans entscheidend bei: die Stadt Prag selbst! Denn das Prager Milieu ist kein lebloses Bühnenbild, vor dem sich das Schicksal Severins abspielt. Es ist ein voll integrierter und immer wieder von Leppin ins Bewußtsein gerufener Bestandteil des Romans. Man betrachte nur einmal die knappe Schilderung der Spaziergänge, die Severin mit Zdenka unternimmt. „Sie ging mit Severin in der Stadt umher, wie er es seit Jahren gewohnt war. Sie bekam jene Feinhörigkeit für die Geräusche und fernen Rufe in ihr, die ihm innewohnte und die er sie lehrte. An dem Geruche der Steine und des Pflasters erkannte sie die Straße, in der sie schritt, wenn sie die Augen schloß und sich von ihm führen ließ. Er erschloß ihr die monotone Schönheit in der Landschaft der Vorstädte, die Schauer des Wyschehrad mit den großen Steintoren, wo das Denkmal des heiligen Wenzeslaus stand. Sie lernte die Moldau lieben, wenn in der Dunkelheit die Lichter des Ufers auf dem Wasser schwankten, und den Duft des Teers auf den Kettenbrücken. Sie saß mit ihm in den Wirtshäusern der Kleinseite und war bezaubert von der breitspurigen Gemächlichkeit der alten Herren, die hier ihren Schoppen tranken. In dem dicken Zigarrenrauche verschwammen die Bogenwölbungen der niedrigen Decke, die Napoleonbilder an den Wänden in einem farblosen Grau. Sie besuchte mit ihm die Vikarka auf dem Hradschin, wo ein paar Armlängen von der Türe entfernt der Dom in die Höhe ragte, wunderliches Mauerzierat und Steinfiguren in den Nischen. Sie verstand allmählich die stille Sprache der Stadt, die Severin geläufiger war als dem Tschechenmädchen.“ 26 Es ist stets die Perspektive Severins, die bei der Beschreibung Prags dem Leser eröffnet wird. Prag ist ein regelrechter Teil von ihm; nicht genug damit, daß er ihre „stille Sprache“ verstand, „er spürte ihren Blutlauf noch immer im eigenen Leibe, aber es ängstigte ihn nicht mehr.“ 27 Dieses Prag scheint ihn zu liebkosen: 25 Leppin, Severins Gang (wie Anm. 21), S. 14. 26 Ebd., S. 29f. 27 Ebd., S. 80. <?page no="198"?> Peter Mario Kreuter 198 „Lag es an dieser Stadt mit ihren dunklen Fassaden, ihrem Schweigen über großen Plätzen, ihrer abgestorbenen Leidenschaftlichkeit? Es war ihm immer, als ob ihn unsichtbare Hände streiften.“ 28 Dieses Prag ist lebendig, „die elektrische Straßenbahn fuhr mit gelben Augen vorüber“ 29 , und zumindest vermag die Stadt in Severin den Gedanken an etwas Animalisches hervorzurufen, „hie und da brannten noch ein paar Lichter wie die Augen eines schläfrigen Tigers in der Ferne.“ 30 Daß die Weinstube, die Karla gemeinsam mit ihrem Freund Nathan Meyer eröffnet, in der Schwarzen Gasse (Černá) liegt, ist natürlich kein Zufall. Das Etablissement bekommt auch bald einen Namen, „Die Spinne“ wird man es heißen 31 , und so lautet dann auch der Titel des zweiten und letzten Kapitels von Paul Leppins Roman. Auch hier gibt Leppin einem Gebäude durchaus biologische, lebendige Züge. „Der kurzgeschorene Kopf Nathans tauchte in dem Rauche seiner Zigarette unter, und Severin sah statt seiner sekundenlang ein Bild vor sich, das ihn beklemmte. Da war die Stadt, riesengroß, mit tiefen Straßen und tausend Fenstern. Und mitten darin das Weinhaus in der schwarzen Gasse. Die Lampe über dem Eingang glotzte wie ein Auge und vor der Türe drängten sich die Leute. Sie kamen einer nach dem andern, wie die Mücken zum Licht.“ 32 Und hier können wir noch eine Erzähltechnik Paul Leppins feststellen, die er zu zur Inszenierung Prags anwendet. Abgesehen von den Protagonisten bleiben die Menschen in Prag eine nicht näher bestimmte Masse. „Nur einige Liebespaare flüsterten hinter dem Gebüsch“ 33 , Zdenkas süßes Gesicht „grüßte ihn lächelnd aus der Menge“ 34 , Lazarus Kain erinnert sich in einem Lokal an die Zeit, „wo hier die Mediziner zusammenkamen und am Abende mit den Hebammen tanzten.“ 35 Bei der Beerdigung von Dr. Konrad scheinen nur einzelne Personengruppen, doch keine Individuen anwesend zu sein, „junge Akademiker in abgeschabten Überziehern, die frostroten Hände in den Taschen vergrabend“, „Bummler mit Künstlerhüten und verwahrlosten Gesichtern“, selbst „elegante Frauen mit Pelz und ungeheuren Müffen, und Herren mit sorgfältig gebügelten Zylinderhüten“ 36 treten nur im Plural auf, ebenso wie die zu ihnen gehörenden Accessoires. Es gibt keine Individualisierung, niemand tritt aus diesen Gruppen hervor. Selbst die Protagonisten werden, wenn überhaupt, nur sehr spärlich beschrieben. Was wir über Severin, Zdenka oder Nathan Meyer erfahren, entstammt entweder den Dialogen, die sie 28 Ebd., S. 12. 29 Ebd., S. 64. 30 Ebd., S. 72. 31 Ebd., S. 103. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 15. 34 Ebd., S. 17. 35 Ebd., S. 20. 36 Ebd., S. 61. <?page no="199"?> „Auf dem Karlsplatze war es still.” 199 miteinander führen, oder ihren Gedanken, die uns in ihre subjektive Wahrnehmung einführen. Was in Gespräch oder im Nachdenken nicht Erwähnung findet, bleibt amorph und dunkel. So sind selbst die Protagonisten in weiten Teilen schemenhafte Gestalten, und all die Menschen, die sie umgeben, nichts als Masse, wabernde, sich bewegende, doch völlig uninteressante Staffage des Romans. 37 Die Orte, die in Prag zum Schauplatz auserkoren werden, sind dagegen immer per Adjektiv oder Adverb näher charakterisiert. „Auf dem Karlsplatz war es still“ 38 , Severin sieht „die Wolschaner Straße mit ihrem trüben und einförmigen Panorama“ 39 , die Niklaskirche auf der Kleinseite wird in einem dramatischen hell-dunkel-Kontrast geschildert, außen beherrscht von der grünen Kuppel und dem brennenden Tageslicht, innen von „dem farbigen Dunkel“ 40 , in das der Kirchenraum getaucht ist. Selbst das Weinlokal von Karla und Nathan Meyer wird ausführlich beschrieben. „Bei der Ausstattung der Räume hatte Karla den fruchtbaren und eleganten Geschmack des jungen Nikolaus zu Rate gezogen, den man auch jede Nacht unter ihren Gästen sah. Sie selbst hatte dann durch zügellose Dissonanzen eine aufreizende und besondere Schönheit in das Ganze eingebracht, die ihrem Wesen entsprach und die sie nicht missen mochte. Zwar schüttelte Nikolaus nachdenklich den Kopf, als er zum ersten Male das Zimmer betrat. Der tiefe Ton der Tapeten ertrank in dem scharlachfarbenen Brande der Portieren, und über den geliebten schwarzblauen Samt der Tischläufer und Diwandecken hatte die Laune Karlas ein unruhiges und bizarres, blutrotes Herzmuster gestickt.“ 41 In solcher Ausführlichkeit wird dem Leser nicht einmal Severin selbst vorgestellt. Prag, das ist ein düsterer, steinerner, unheimlicher Ort, ein Ort mit einem gewissen Maß an Eigenleben, so zumindest empfindet es Severin. Die Mitmenschen hingegen bleiben weitgehend unbekannt, in der Nichtigkeit ihrer Existenz verborgen. Sie sind uninteressant, primär für den vom Leben gelangweilten Severin, aber auch für den Fortgang der Handlung. Wer aber ist das Gespenst, das von Paul Leppin im Untertitel angedeutet wird? Ein Gespensterroman ohne Gespenst? Severin wird von Mylada einmal als „Geisterseher“ 42 apostrophiert, und in der Tat könnte man Severin als das eigentliche Gespenst des Romans identifizieren. Nicht nur, daß er eine nichtige, monotone, sinnentleerte Existenz führt, ein „armes, in der Tretmühle zerriebenes Leben“ 43 , er ist auch für die wenigen Mitmenschen, mit denen 37 Dierk Hoffmann spricht von „Schemen, oft von einem Geheimnis umwoben, das nie gelüftet wird“, vgl. seine Dissertation Paul Leppin. Ein Beitrag zur Prager deutschen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Clausthal-Zellerfeld 1973, S. 74. 38 Leppin, Severins Gang (wie Anm. 21), S. 15. 39 Ebd., S. 62. 40 Ebd., S. 84. 41 Ebd., S. 85f. 42 Ebd., S. 114. 43 Ebd., S. 91. <?page no="200"?> Peter Mario Kreuter 200 er überhaupt in Kontakt tritt, eher eine Heimsuchung und ein Unglück als ein mitfühlendes menschliches Wesen. Er vergiftet den Raben seines Freundes Lazarus Kain, verführt und schwängert dessen Tochter Susanna, ohne sich um das Kind zu kümmern, das ihn erst interessiert, als es im Findelhaus gestorben war, er entledigt sich auf völlig gefühllose Weise seiner Freundin Zdenka - Severin kann nicht menschlich auf seine Umwelt reagieren, da er selbst sich selber gegenüber nur Überdruß und Ekel verspürt. Doch wäre dies zu kurz gegriffen. Ein Prager Gespensterroman ist Severins Gang in die Finsternis vor allem deshalb, weil er in Prag spielt, einem Prag mit durchaus animalischen, zumindest aber verlebendigten Zügen, im Gegensatz zu den Menschen, die in diesen Mauern leben. Die Stadt verdient stets eine genauere Beschreibung, die Menschen sind irgendwelche Leute, höchstens durch ihren Beruf einmal gekennzeichnet, immer in unbestimmter Anzahl. Leo Perutz und Paul Leppin - zwei Prager, die ihre Romane in Prag spielen ließen. Für Leo Perutz war es eine Kulisse im 16. Jahrhundert, bevölkert von seltsamen Menschen, die erst die magische und okkulte Stimmung der Stadt ausmachen. Für Paul Leppin hingegen ist es die zeitgenössische Stadt selbst, die für die dunkle, spukhafte Atmosphäre verantwortlich ist. Die Bewohner Prags sind nichts als Lebewesen, die halt dort leben, ohne jede Konsequenz für diesen Ort. Leppin greift das magische Prag als solches auf, für Perutz wird es erst durch seine dort lebenden Menschen dazu. <?page no="201"?> Hans Richard Brittnacher Zeit der Apathie. Vergangenheit und Untergang in Alfred Kubins „Die andere Seite“ Am Ende des vielleicht meistinterpretierten Romans der Weltliteratur ruft der Erzähler einen Text in Erinnerung, der sich in bewegender Duldungsbereitschaft dem vernichtenden Sog der Zeit widersetzt. Mit den Worten „Und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte“ 1 stellt sich ein Schiffbrüchiger in den Dienst und Schutz Hiobs, um eine archetypische Geschichte zu erzählen, in der ein besessener Einbeiniger gegen ein weißes Meeresungeheuer wütete, das ihn verstümmelt und ihm das Seelenheil geraubt hat. Als der Walfänger havariert und sinkt, treibt der junge Matrose, der letzte Überlebende der Besatzung, tagelang auf dem Meer, unaufhaltsam angesogen von dem Strudel, den das untergehende Schiff bildet, wie ein auf ewig ans Rad des Schicksals geketteter mythischer Held. 2 Doch bevor ihn der Malstrom verschluckt, gibt die Hölle selbst das Mittel zur Rettung frei in Gestalt eines Sarges, den sie aus dem Bauch des untergegangenen Schiffs an die Oberfläche des Meeres emporspeit. Was bestimmt war, einen Toten zu bergen, wird dem Schiffbrüchigen zur rettenden Planke. So treibt er auf dem Wasser, begleitet und beschützt von den Haien, den „Habichten der See“, 3 bis ein Rettungsschiff den Unglücklichen an Bord nimmt. Als Überlebender, der sich fortan neu definiert - „Nennt mich Ismael“ 4 - tritt er zu Beginn des Romans dem Leser als Chronist der Geschichte vom Kapitän Ahab und dem weißen Wal Moby-Dick entgegen. Sein unerhörtes narratives Kapital bezieht Melvilles Roman aus der mythischen Figur des Überlebenden - wer den Untergang gesehen hat, muss ein verlässlicher Kronzeuge der Wahrheit sein. Von einem, der davongekommen ist, erzählt auch Kubins Roman Die andere Seite. Auch er hat gesehen, was vor ihm keiner sah, auch er wurde Zeuge eines archetypischen Zweikampfes, den sich ein amerikanischer Millionär mit einem Potentaten aus Asien lieferte. In den Rollen von Satan und Antichrist und wechselnden Masken, mal Marionette, mal Regisseur, haben sie den unversöhnlichen Konflikt zwischen Veränderung und Beharrung ausgetragen. Namenlos ist auch der Erzähler in Kubins Roman, Fremdkörper in einer Schöpfung, in der er 1 Herman Melville: Moby-Dick oder Der Wal. München, Wien 2001, S. 865. Buch Hiob 1,15. 2 „[U]m und um kreiste ich, ein zweiter Ixion“. Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 33. <?page no="202"?> Hans Richard Brittnacher 202 nicht vorgesehen ist. Seine Welt geht wie Ahabs Schiff in einem gewaltigen Paroxysmus unter, und auch der Erzähler entkommt nur mit Mühe dem Malstrom, der durch den Untergang entsteht: „Unter gurgelndem Sausen bildete sich mitten im Wasser ein gähnender Trichter, und ein schwarzes Loch saugte den Strom in sich.“ (252) 5 Wo den Helden Melvilles die „Habichte des Meeres“ beschützten, ist es hier ein Zug heiliger Männer, der den Erzähler vor dem Untergang bewahrt. Verwundet und vernarbt, aber als Überlebender, entkommt auch er mit der Absicht, „wahrheitsgetreu, wie es sich für einen Augenzeugen gehört, zu schildern.“ (7) Aber wo bei Melville einer, der die Welt buchstäblich er-fahren hat, wie der Benjaminsche Erzähler, aus der Ferne wiederkehrt als einer, der Rat weiß, 6 amalgamiert der namenlose Held in Kubins Roman mit einer Figur, den die Rhetorik der Erzählkunst als unreliable narrator, als unzuverlässigen Erzähler, identifiziert hat, 7 der kaum weiß, wie seine Aufzeichnungen zustande kamen: „[W]ährend ich gewissenhaft meine Erlebnisse niederschrieb, ist mir unmerklich die Schilderung einiger Szenen unterlaufen, denen ich unmöglich beigewohnt und die ich von keinem Menschen erfahren haben kann.“ (7) Sogar das Privileg des Autors über Informationen aus erster Hand muss dieser Erzähler an den Leser abtreten: „Gänzlich enthüllt haben sich mir die letzten Zusammenhänge niemals; ich kann alles nur so beschreiben, wie ich es selbst erlebt und aus den Mitteilungen anderer Traumleute entnommen habe (…) vielleicht weiß einer oder der andere Leser bessere Erklärungen.“ (49) 8 Melvilles Held bleibt gezeichnet an Leib und Seele zurück, aber seine Narben bezeugen den Reichtum seiner Erfahrung. Kubins Held hingegen bleibt auch nach seiner Rettung namenlos, eher ein eben noch Davongekommener, kein Überlebender. Er muss, nachdem er den Untergang seiner Welt physisch überstanden hat, nun auch noch um sein Seelenheil kämpfen: Immer wieder erfasst ihn „ein Weinkrampf“ (270), es kostet ihn Jahre, sich wieder „an das Sonnenlicht“ (273) zu gewöhnen, von Träumen heimgesucht droht er seine Identität zu verlieren. Während Ismael der Mann der Stunde ist, der seinen Zuhörern ein archaisches Epos erzählt, in dem die Mächte der Vergangenheit ihr verdientes Ende gefunden haben, überlässt sich Kubins Held, unfähig zum Neubeginn, dem Sog der Regression, in dessen Konsequenzen er sich in „Erlebnisse meiner Ahnen“ (276) zurückphantasiert, dann 5 Ich zitiere den Roman im laufenden mit bloßer Seitenzahlangabe nach der Ausgabe: Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. München 1974. 6 W. Benjamin: Der Erzähler. In: W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main 1977, S. 438-465. 7 Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst. 2 Bde. Heidelberg 1974, v.a. Bd. 2, S. 214-244. 8 Insbesondere der dritte Teil des Romans enthält Textpassagen, in denen die Anwesenheit von Augenzeugen ausgeschlossen ist. Vgl. dazu Jan Stottmeister: Der Erzähler in Alfred Kubins Roman Die andere Seite. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 6 (1999), S. 83-131. <?page no="203"?> Zeit der Apathie 203 in „Tierexistenzen“ (276) und schließlich sogar in „Urelemente“. (276) Er ist ein Held, der „zu gar nichts mehr tauglich“(276) ist, den nur noch der Gedanke „an das Hinschwinden, an den Tod“ (276) erquickt. 9 Das Abenteuer, das der Erzähler nur lebensmüde überstanden hat, hatte vielversprechend begonnen, stellte es doch nach dem verbreiteten Muster zeitüblicher exotischer Abenteuerromane 10 dem Helden, einem zivilisations- und fortschrittsmüden Europäer, das Leben in einer geheimnisvollen, fremden Welt in Aussicht. Patera, ein früherer Schulfreund des Erzählers, hat es dort zu einem unermesslich reichen Nabob gebracht und sich den Traum von einer Welt erfüllt, in der die Zeit angehalten ist: „Die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bildeten die äußerste Grenze.“ (18) 11 Die Kontingenz der Moderne soll aus diesem goldenen Zeitalter einer vorindustriellen Welt konsequent ausgeschlossen bleiben. 12 Nach Auskunft des Gesandten Gautsch, 9 Es ist daher problematisch, in der Entwicklung des Helden, auch wenn er nach seinem Aufenthalt in der Heilanstalt zu einer Lebensanschauung gelangt, die Tod und Leben auszubalancieren vermag, eine geglückte Initiation zu sehen, wie Kraft vorgeschlagen hat. Eher ist mit Schumacher von einer gescheiterten Initiation zu sprechen. Vgl. Herbert Kraft: „Der Demiurg ist ein Zwitter“. Aspekte der Initiation im Roman ‚Die andere Seite’ von Alfred Kubin. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche 8 (1989), S. 58-73; Hans Schumacher: „Die andere Seite“ von Alfred Kubin. In: Spiegel im dunklen Wort: Analysen zur Prosa des frühen 20. Jahrhunderts, hg. von Winfried Freund und Hans Schumacher, Frankfurt/ Main 1983, S. 9-34. Zur gescheiterten Initiation als gattungskonstitutivem Merkmal der Phantastik vgl. Hans Richard Brittnacher: Gescheiterte Initiationen. Anthropologische Dimensionen der literarischen Phantastik. In: Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, hg. von Clemens Ruthner, Ursula Reber und Markus May, Tübingen 2004, S. 15-30. 10 Die gattungsspezifische Präferenz spielt bei der kaum noch zu überblickenden Deutungsgeschichte von Kubins Roman eine bestimmende Rolle: Neben der Akzentuierung der exotischen Elemente wurde dabei vor allem die Nähe zu den Modellen der Utopie bzw. Dystopie, die durch das Dekadenzinventar bedingte Nähe zum Fin de siècle- Roman, das alte Motiv der Unterweltreise, der Katabasis - auch in der säkularisierten Version als Abstieg ins eigene Seelenleben -, die Schematik des Initiationsromans, die Argumentation des antimodernistischen Diskurses, die ästhetische Heterogenität der Groteske und schließlich die literarische Veranschaulichung zeitphilosophischer und esoterischer Tendenzen hervorgehoben. Einen synthetisierenden Überblick der vielfältigen Forschungsbeiträge zu Kubins Roman liefert Clemens Ruthner: Traumreich. Die fantastische Allegorie der Habsburger Monarchie in Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1908/ 09). In: Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns, hg. von Amália Kerekes, Alexandra Millner, Peter Plener und Béla Ràsky. Tübingen und Basel 2004, S. 179-198, hier S. 186ff. 11 Das Datum 1860 erinnert an den Beginn vom Ende der Habsburger Monarchie (die vernichtende militärische Niederlage Österreichs bei Solferino 1859), aber wohl auch an 1848 und damit an das Ende der Restaurationsepoche, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, das Biedermeier als die Wunschzeit des Traumreiches anzunehmen. Vgl. Ruthner, Die fantastische Allegorie (wie Anm. 10), S. 192. 12 Vgl. Jörn Ahrens: Vom Verschwinden der Träume - Der Rausch von Tod und Verwandlung in Alfred Kubins Die andere Seite. In: Literatur für Leser 1986, H. 4, S. 312-322, hier v.a. S. 314. <?page no="204"?> Hans Richard Brittnacher 204 der dem Erzähler die Staatsbürgerschaft im Traumreich und seiner Hauptstadt Perle anträgt, hegt Patera „einen außerordentlich tiefen Wiederwillen gegen alles Fortschrittliche.“ (9) Während das Europa der vorletzten Jahrhundertwende seine Waren aus den Kolonien des Fernen Osten importierte, Chinoiserien goutierte und sich im ästhetischen Japononism von fernöstlichem Packpapier inspirieren ließ, erzählt Kubin davon, wie umgekehrt ein geheimnisvoller Magnat aus Asien europäische Antiquitäten aufkauft, um damit seinen Traumstaat im Tibet zu möblieren. Dieser ist gedacht als „Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen“. (9) Die Wachen an der Stadtmauer tragen daher Sorge, „dass nur gebrauchte Sachen das Tor passieren“. (37) Nichts wollen die Bürger des Traumreichs wissen „von der Welt da draußen mit ihren Fortschritten und großartigen Erfindungen“. (141) Die Bewohner inmitten „dieser oxydierten alten Sachen“ (73) tragen offenbar „die Kleider der Eltern und Großeltern auf“ (57), die Männer „unmoderne geschweifte Zylinder“ (57), die Frauen „Krinolinen und seltsam altmodische Frisuren“. (57) Seinem Freund Fritz berichtet der Erzähler, in einem „Dorado für Sammler“ zu leben: „Diese Stadt ist geradezu ein Museum (…) hier lebt man vom Trödel.“ (74) Wie man in dem „schon historischen Möbelzeug“ (164) unschwer den „Urväter-Hausrat“ erkennen kann, mit dem sich nach Nietzsche das allzu vergangenheitsselige 19. Jahrhundert ausstaffiert hat, 13 so lässt sich auch im melancholischen Traumreich und seiner Hauptstadt Perle das untergehenden Habsburger Reich mit einer seiner Metropolen, ob nun Wien, Prag oder Salzburg, entdecken. 14 Wohl fühlen sich an diesem „Second-Hand-Mitteleuropa“ 15 vor allem die in der alten Welt an der Moderne erkrankten „Menschen von übertriebener feiner Empfindlichkeit“, (52) die „früher zu den ständigen Gästen der Sanatorien und Heilanstalten“ (21) gehörten. Sie leiden an „fixen Ideen wie Sammelwut, Lesefieber, Spielteufel, Hyperreligiosität und alle d[en] tausend Formen, welche die feinere Neurasthenie ausmachen.“ (52) Bei den Frauen zeigt sich - wie bei einem 1909 erschienen Roman kaum anders zu erwarten - die „Hysterie als häufigste Erscheinung“. (52) 13 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, II,3. In: F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, Frankfurt/ Main 1981, S. 114. 14 Vgl. dazu: Wendelin Schmidt-Dengler: Kakanische Traumreiche: Alfred Kubins ‚Die andere Seite’ und Fritz von Herzmanovsky-Orlandos ‚Das Maskenspiel der Genien’. In: Österreichische Literatur und Kultur: Tradition und Rezeption, hg. von Alexandr W. Belobratow, Petersburg 2003, S. 44-56; zu Salzburg als dem vermutlichen topographischen Vorbild Perles vgl. Johann Lachinger: Trauma und Traumstadt. Überlegungen zu Kubins biographisch-topographischen Projektionen im Roman ‚Die andere Seite’. In: Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantastik, hg. von Winfried Freund, Johann Lachinger und Clemens Ruthner. München 1999, S. 121- 130; für Prag als Urbild plädiert Marija Joukova: „Die andere Seite“ von A. Kubin: entsicherter Raum. In: Österreichische Literatur und Tradition, a.a.O., S. 78-86. 15 Ruthner, Die fantastische Allegorie (wie Anm. 10), S. 184. <?page no="205"?> Zeit der Apathie 205 Die Angehörigen der unteren Schichten sind nach dem Gesichtspunkt „des Abnormen oder einseitig Entwickelten ausgewählt: (…) mit sich und der Welt zerfallene Unglückliche, Hypochonder, Spiritisten“. (52) Der seelischen Reizbarkeit und Überempfindlichkeit entspricht nach der um 1900 verbreiteten Überzeugung eine biologische Schwäche, die sich in der mangelnden Reproduktion der Traumleute niederschlägt: „Kinder waren nicht besonders beliebt.“ (55) 16 Die versponnenen Sonderlinge und Exzentriker, die mit ihrem Spleen das Traumreich bevölkern, entsprechen jenen in der literarischen Dekadenz so verbreiteten „Dämmerungswesen (…), wie sie am Ende alter, verbrauchter Familien aufzutreten pflegen.“ 17 Sie sind die letzte Blüte jenes melancholischen Typus, dem der Symbolismus Baudelaires eine literarische Heimat lieferte. Stefan George hat Baudelaires Spleen de Paris der Sache nach durchaus zutreffend mit Trübsinn und Vergeistigung übersetzt. Aber auch in Patera, dem Monarch des Traumlandes, der anrüchige Objekte und exzentrische Menschen der Alten Welt in seinem okkulten Vater-Land 18 eingesammelt hat, konnte der Leser eine der zentralen, freilich ins Überdimensionierte gesteigerte Kulturfiguren des europäischen Ästhetizismus erkennen, den Sammler, der sich mangels eigener ästhetischer Produktivität der konservatorischen Treue zum Gewesenen verschrieben hat. 19 Der Traum von einer in der Gegenwart immer noch unangefochten gültigen Vergangenheit hat freilich der derealisierenden Energie des Onirischen seinen Tribut zu entrichten: In Perle herrschen die fahlen Farben des Traums: „nie schien die Sonne, nie waren bei Nacht der Mond oder Sterne sichtbar (…) das blaue Firmament war allen verschlossen (…).“ (49, H.i.O.) Das Leben erscheint in Perle „matt und stumpf“, (70) die vorherrschenden Farben sind grau und braun, nirgends ist „saftiges Grün (…) zu sehen“, (50) das Wetter ist „anhaltend trüb und schlecht“, (50) die Stadt gewöhnlich „tot, leer, träge.“ (90) Hier wird, wie Ernst Jünger schon beobachtet hat, „eher geflüstert als gesprochen“. 20 Die düstere Phantasie des Zeichners kann im Anblick der fahlen Verkommenheit Perles schwelgen, „der dumpfigen Höfe, der verborgenen Dachkammern, der schattigen Hinterzimmer, staubigen Wendeltreppen, 16 Zur Charakteristik der Dekadenz vgl. Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München 1986. 17 Ernst Jünger: Nachwort zum Briefwechsel mit Alfred Kubin. In: E. Jünger: Sämtliche Werke Bd. 14, Essays VIII, Stuttgart 1978, S. 20-32, hier S. 25. 18 Vgl. Clemens Ruthner: Die andere Seite der Literaturgeschichte. Kubin und die Phantastik - eine Einführung. In: Magische Nachtgesichte. Alfred Kubin und die phantastische Literatur seiner Zeit, hg. von Johann Lachinger und Regina Pintar, Salzburg 1995, S. 9-24, hier S. 23. 19 Nach einer Beobachtung Nietzsches trägt der Sammler durch seine Pietät den Dingen gegenüber „gleichsam den Dank für sein Dasein ab.“ Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 13), S. 114. 20 Jünger, Nachwort (wie Anm. 17), S. 34. <?page no="206"?> Hans Richard Brittnacher 206 verwilderten, nesselbestandenen Gärten (…).“ (140) Der visuellen Trübung entspricht auch eine olfaktorische Wahrnehmung des Abgelebten: als ein Geruch, der an „eine leichte Mischung von Mehl und getrocknetem Stockfisch“ (70) erinnert. Nietzsche hat eindringlich vor den Gefahren einer erbaulichen Geschichtsversenkung gewarnt. „Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft (…).“ 21 Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der grands recits, einer mit stupender Gelehrsamkeit und imponierendem epischen Atem betriebenen historiographischen Vergegenwärtigung des Gewesenen - man denke an so glänzende Stilisten wie Theodor Mommsen oder Johann Gustav Droysen. Die Obsession, mit der im Traumreich die Gegenstände, das Personal und die Kleidung der Vergangenheit archiviert werden, erscheint als literarischer Reflex auf die historische Leidenschaft der mitteleuropäischen Welt des 19. Jahrhunderts. 22 Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr, der in Perle ästhetisch realisiert wird, entwertet zugleich die Geschichte: „In der Idee der ewigen Wiederkunft überschlägt der Historismus des 19ten Jahrhunderts sich selbst. Ihr zufolge wird jede Überlieferung, auch die jüngste, zu der von etwas was sich schon in der unvordenklichen Nacht der Zeiten abgespielt hat. Die Tradition nimmt damit den Charakter einer Phantasmagorie an (…).“ 23 Die Welt des Traumreichs erscheint unter der Feder Kubins als die Traumhölle eines Historismus, dem sein Optimismus abhanden gekommen ist. In der Beschreibung einer veralteten, verstaubten, verbrauchten, abgestandenen Welt realisiert Kubins Roman das beklommene Lebensgefühl des Fin de siècle. Niemand hat prägnanter sein melancholisches Selbstverständnis formuliert als Hugo von Hofmannsthal, gewissermaßen ein Wiener Bewohner von Kubins Traumreich. In seinem ersten D’Annunzio-Essay, einem Gründungsdokument der literarischen Moderne, hat Hofmannsthal 1897, also 12 Jahre vor Kubins Roman die Situation einer Generation beschrieben, die mit vollem Händen vor einem Leben steht, das ihr leer erscheint: „man hat manchmal die Empfindung, als hätten unsere Väter (…) und unsere Großväter (…) als 21 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 13), S. 117. 22 Gegen eine Lektüre der „Anderen Seite“ als Allegorie auf den Untergang der Habsburger Monarchie hat Michael Koseler energisch protestiert: M. Koseler: Die sterbende Stadt. Décadence und Apokalypse in Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“. In: Magische Nachtgesichte (wie Anm. 18) S. 45-56, hier v.a. S. 54. Clemens Ruthner, Die fantastische Allegorie (wie Anm. 10), hat demgegenüber die Möglichkeit einer postkolonialen Lektüre von Kubins Roman eindrucksvoll ins Recht gesetzt. 23 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. Gesammelte Schriften Bd. V,1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/ Main 1991, S. 174. <?page no="207"?> Zeit der Apathie 207 hätten sie uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen; hübsche Möbel und überfeine Nerven.“ 24 Von beidem gibt es in Perle überreichlich. Das Arrangement des eigenen Lebens im Horizont des Gewesenen, vis à vis der Vergangenheit, muss, hat es das Bewusstsein einer ihm aufgetragenen historischen Mission aufgeben müssen, auch an Elan verlieren: Vor den Dokumenten der Vergangenheit, einer vom historischen Verlauf zum Schweigen gebrachten, aber einst mächtigen Zeit, erfahren die Spätgeborenen ihre Bedeutungslosigkeit. Die Geschichte mag sie als Günstlinge auf die Rechnung gesetzt haben, verdient haben sie sich ihre Erbschaft nicht: Sie sind nur die kümmerlichen Söhne starker Väter, ihr Reichtum verdankt sich der musealen, historiographischen oder ästhetischen Beerbung und Ausbeutung eines einstmals Großen. Dem von der Geschichte besessenen 19. Jahrhundert ist die Melancholie eingeschrieben, sich diese vormals vitale Welt nur noch im Modus ästhetischer oder erinnernder Erfahrung aneignen zu können. Ihm bleibt fremd, was es bewundert, und vorenthalten, was es ersehnt: „So empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen.“ 25 Nicht zufällig geistert der Vampir als Gespenst einer lebensmüden Vergeblichkeit durch das Bewusstsein einer ganzen Generation, die mit ihrer Lebenskraft dafür bezahlen muss, sich nicht anders denn parasitär auf ihre eigene Geschichte beziehen zu können: „Es ist, als hätte die ganze Arbeit dieses feinfühligen, eklektischen Jahrhunderts darin bestanden, den vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben einzuflößen. Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen (…).“ 26 Wegen dieser eigentümlichen Kraftlosigkeit sind die Zeitgenossen Hofmannsthals und die Bewohner Perles - „Im großen und ganzen war es hier ähnlich wie in Mitteleuropa (…)“, (49) bekräftigt der Erzähler 27 - zu jener Paralyse verurteilt, in der Hofmannsthal das charakteristische Symptom seiner sterbenskranken Zeit gesehen hat: „Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdopplung.“ 28 So ist es denn auch kein Zufall, dass in Perle zumal jene Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts leibhaftig oder zumindest in effigie präsent sind, deren leidvolles Leben und fehlende politische Fortune dem sentimentalen Pathos der Zeit das ikonische Inventar liefern: der in Mexiko 24 Hugo von Hofmannsthal: „Gabriele d’Annunzio“. In: Gesammelte Werke Bd. 8: Reden und Aufsätze 1, hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/ Main 1979, S. 174-184, hier S. 174. 25 Ebd., S. 175. 26 Ebd., S. 174. 27 … und doch wiederum sehr verschieden“, beendet der Erzähler seinen Satz. Die Nähe liegt in der Vergleichbarkeit von Ort und Personal, der Unterschied im historischen Abstand, der das Wien der Jahrhundertwende von seinem eigenen Biedermeier und dem des Traumreichs trennt. 28 Hofmannsthal, D’Annunzio (wie Anm. 24), S. 174f. <?page no="208"?> Hans Richard Brittnacher 208 füsilierte Maximilian (47), der unter dubiosen Umständen im Starnberger See ertrunkene Ludwig II. von Bayern (222) oder der bei Königgrätz so unglücklich agierende österreichische Feldherrn Benedek (47). Kubins Beschreibung der Traummenschen stimmt auffällig überein mit Hofmannsthals Selbstcharakteristik, die wiederum eine Bestätigung in Benjamins Beobachtung von den „Etuimenschen“ des 19. Jahrhunderts gefunden hat, den Bewohnern des Intérieurs, die sich in ihrem Zuhause ein Bild der äußeren Welt geschaffen haben. In Perle ist das Intérieur zur Erscheinungsform der Außenwelt geworden, in ihm sind die Dinge „von der Fron frei, nützlich zu sein“. 29 Mit Blick auf Nietzsches Historismuskritik diagnostizierte Foucault es als das Schicksal des späten 19., Jahrhunderts sei, „inmitten fremder Dekorationen“ 30 leben zu müssen. Zwar gibt es in Perle ein Theater, aber besucht wird es kaum - wozu auch, wenn das „ganze Zeitalter (…) den Charakter einer Theateraufführung“ hat. 31 Museen fehlen ganz - schließlich ist doch Perle selbst ein toter Ort voller toter Dinge. 32 Der melancholische Gestus, mit dem das museale Bewusstsein des Fin de siècle die unwiederbringliche Geschichte bannt, um in ihrem Schatten der eigenen Nichtigkeit zu gedenken, findet in den atmosphärischen und klimatischen Bedingungen Perles die idealen Voraussetzungen: Das permanente Dämmerlicht lässt Konturen verschwinden, löst die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Steinernem und Organischem auf: Die Mühle „zitterte wie lebendig, unscharf und verwischt in einem Dunstschein, wie aus einer gallertartigen Substanz bestehend, kam sie mir vor (…).“ (118) Der mit seinen gedämpften Farben und düsterem Charme anfangs noch melancholisch-bezaubernde Ort erweist sich zunehmend als frühexpressionistischer Vorort zur Hölle. „Häuser ragten schief und winklig in die Straßen (…).“ (89) Für geschärfte Sinne „taten sich schauerliche Abgründe (…) auf. Aus den vergitterten Fenstern und Kellerlöchern klagte und stöhnte es in allen Tonarten. Hinter halb geöffneten Türen hörte man ein gepreßtes Ächzen, so dass man unwillkürlich an Erdrosselungen und Verbrechen denken musste.“ (89) Die Inschrift auf Dantes Höllenportikus - „Voi ch’entrate lasciate ogni speranza“ - könnte auch auf dem düsteren Stadttor Perles stehen. Denn kaum hat er es passiert, überkommt den Erzähler „wie auf einen Schlag ein ganz unbekanntes, gräßliches Gefühl“, (42) das sich bei seiner Frau zur Todesahnung verdichtet: „Nie mehr komme ich da heraus.“ (42) „[I]n diesem Lande der Unsicherheit“, (111f.) geht mit der allmählichen Amorphisierung von Menschen und Dingen auch die Geltung des Identitätsparadigmas verloren: Die neu im Traumreich Angekommenen finden nicht zufällig „hier schon ihren Doppelgänger vor (…) es liefen 29 Walter Benjamin, Das Passagenwerk (wie Anm. 23), S. 53. 30 Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 19896, S. 69-90, hier S. 84. 31 Ebd. 32 Vgl. dazu Koseler, Die sterbende Stadt (wie Anm. 22), S. 49. <?page no="209"?> Zeit der Apathie 209 sozusagen zwei Alfred Blumenstiche, zwei Brendels, zwei Lampenbogens herum.“ (162) Kurz nach dem Tod seiner Frau begegnet dem Erzähler „eine Dame, die meiner verstorbenen Frau wie ein Auge dem anderen glich.“ (163) 33 Der konservative Bewohner des Traumreichs, der vor der rumorenden politischen Tektonik des 19. Jahrhunderts in die restaurative Idylle Perles geflüchtet ist - „Ja, mein Lieber, wir sind konservativ“, (74) schreibt der Erzähler seinem Brieffreund Fritz - , zieht indes solche Wiederholungen der Abweichung vor, bestätigen sie doch seinen historistischen Relativismus: „man findet eben immer wieder dieselben Gesichter auf der Welt.“ (46) Perle zerfällt, lange bevor ein Eindringling Unheil anrichten kann, von innen, denn „die exzessive Wiederholung setzt jene Kategorien von Original und Fälschung außer Kraft, die für Perle vornherein staatskonstituierend waren, da nur ‚Originale’ aus der Vergangenheit in Traumreich erlaubt sind.“ 34 So wie die Verdopplung und Verfielfältigung das Paradigma der Identität bedroht, so tut dies nicht minder auch sein Gegenteil, der permanente Wechsel. Wo kein Platz für Veränderung ist, wird sich die am Ausdruck gehinderte, auf Entwicklung drängende Vitalkraft des Lebens in der Akkumulation des Gleichen oder aber in einer Entfesselung von Metamorphosen entäußern müssen. Wie die vielen Doppelgänger dienen daher auch die vielen Gestaltwandel des Romans keinem erkennbaren Zweck mehr, sie bedeuten nur sich selbst: den verzweifelten Wunsch, anders sein zu wollen und gleich bleiben zu müssen. Die Zugeherin des Erzählers und seiner Frau, ein „älteres Weib“ (86) scheint sich merkwürdig zu verändern: „Tags zuvor hatte uns eine rüstige Frau in mittleren Jahren bedient, und heute stellte eine geschäftige Alte mit einem Greisengesicht die Schüsseln auf den Tisch.“ (86) Die geheimnisvollen Metamorphosen der Zugehfrau sind erste Vorboten einer umfassenden Erosion der Identität, die sich in der Verwandlung der epileptischen Proteusfigur Pateras vollendet: „Die Augen schlossen sich wieder, ein grauenhaft schreckliches Leben trat in dieses Gesicht. Das Mienenspiel wechselte chamäleonartig - ununterbrochen - tausend, nein hunderttausendfach. Blitzschnell glich dieses Antlitz nacheinander einem Jüngling - einer Frau - einem Kind - und einem Greis. Es wurde fett und hager, bekam Auswüchse wie ein Truthahn, schrumpfte winzig klein zusammen (…) Jetzt erschienen Tiergesichter: das Antlitz eines Löwen, dann wurde es spitz und schlau wie ein Schakal - es wandelte sich in einen wilden Hengst mit geblähten Nüstern - wurde vogelartig - dann wie eine Schlange.“ (121) 33 Zum wiedergängerischen Charakter dieses Phänomens vgl. die erhellenden Beobachtungen von Katrin Schumacher: Femme fantôme. Poetologien und Szenen der Wiedergängerin um 1800/ 1900. Tübingen 2007, S. 239. 34 Ebd., S. 240. <?page no="210"?> Hans Richard Brittnacher 210 Doppelgänger und Metamorphosen sind die Symptome einer „Krise der Nicht-Unterscheidung“, 35 einer ins Ungeheure gesteigerten Entdifferenzierung 36 von „farbloser Einförmigkeit“ (50), in der nicht nur die Grenzen von Nacht und Tag verschwimmen. Scheinbar ist sich alles gleich, und doch ist auf nichts Verlass. Kaum glaubt der Erzähler, endlich die Manipulationen Perles durchschaut zu haben, als er sich auch schon der Erfahrung der Ungewissheit des eigenen Selbst ausgesetzt sieht: „Da fand ich zu meinem Schrecken, dass mein Ich aus unzähligen ‚ichs’ zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem anderen auf der Lauer stand. Jedes erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden meinem Begreifen im Schatten.“ (148) Der Wert von Dingen scheint den der Menschen zu überwiegen: „Die Häuser spielten da eine bedeutende Rolle. Oft war es mir, als ob die Menschen nur ihretwegen da wären und nicht umgekehrt.“ (69) . Die Entropie des mit bric à brac überfüllten Ortes und seiner verbrauchten Menschen findet ihr Pendant in einer undurchschaubaren Geldwirtschaft, in der sich Kostbares zu Schleuderpreisen erwerben lässt, Belangloses aber unerschwinglich teuer sein kann. Die ökonomische Situation gibt das krisenhafte Lebensgefühl zwischen Unsicherheit und Indifferenz wieder: „Bald hatte man hunderte in der Tasche, dann wieder nichts.“ (63) Die Bewohner Perles führen eine sekundäre, von Illusion und Täuschung gespeiste Existenz: „Und darauf kam es in diesem Land an: etwas vorzustellen, irgend etwas.“ (61) Dem Trug und der Zeitlosigkeit entspricht die fehlende Ausdehnung im Raum: Verlangsamung und Verzögerung sind die charakteristischen Bewegungsformen im Traumreich. 37 Die episodische Struktur des Romans, die auf eine straffe Teleologie verzichtet, reproduziert noch in der Form des Romans den Stillstand der Körper im Raum. 38 Das musealisierende Zusammenraffen der Vergangenheit integriert auch die Gewalt als elementaren Bestandteil der alteuropäischen Lebenswelt in das Traumreich. Die Häuser, die Patera kauft - „alle von beträchtlichem Alter und verwohnt“ (17) - hat er „in den ekelhaftesten Teilen der Großstädte“ (167) erstanden, darunter bevorzugt solche, die Schauplatz eines schrecklichen Verbrechens waren, wie eine Mühle, an der „seit zweihundert Jahren das Blut eines Brudermords“ (167) klebt. Spukhäuser, die ein einmal verübtes Verbrechen bis ans Ende aller Tage der Phantasie als Schauspiel zur Ver- 35 Den Begriff übernehme ich von René Girard: Mythos und Gegenmythos. Zu Kleists ‘Erdbeben in Chili’. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili’. München 1987, S. 130-148, hier S. 135f.: „Das Erdbeben - wie eine Seuche oder Flut - stellt eine Krise der Nicht-Unterscheidung dar, in der nicht bloß die sozialen Unterschiede verschwinden, sondern auch der Unterschied zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Ordnung.“ 36 Vgl. dazu Claudia Gerhards: Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins „Die andere Seite“ und Ernst Jüngers Frühwerk. Würzburg 1999. 37 Vgl. Koseler, Die sterbende Stadt (wie Anm. 22), S. 45. 38 Vgl. dazu auch Schmidt-Denger, Kakanische Traumreiche (wie Anm. 14) S. 54. <?page no="211"?> Zeit der Apathie 211 fügung stellen, 39 reproduzieren den Grundgedanken des Historismus: Vergangenheit durch beständige Wiederholung präsent zu halten. Im Sinne von Nietzsches abgründigstem Gedanken hat Dietmar Kamper die Anhäufung toter Gegenstände als Machergreifung des Todes gedeutet: „Die ewige Wiederkehr der immer gleichen Bilder ist ein unbeliebiger Effekt des Willens zur Macht, mit dem sich das Reich des toten Gottes ausbreitet.“ 40 Ob es der Mord eines Müllers an seinem Bruder oder aber ein Selbstmord ist, auf den seine kryptischen Worte anspielen - in jedem Fall dominiert das Gesetz der Wiederholung: „‘Ich hab’ es getan! Schon zum vierten mal hab’ ich es getan und ich werde es immer wieder tun.’ (…) Er nahm eine Prise, zog ein Rasiermesser heraus, probierte die Klinge und schnitt sich die Gurgel durch.“ (215, H.i.O) Patera radikalisierte den Historismus des 19. Jahrhunderts: Indem er der Vergangenheit Leben schenkt, soll das Vergehen der Zeit aufgehalten werden. Diese ganze konservatorische Arbeit fällt in sich zusammen, als der ferngehaltene Fortschritt schließlich doch in Perle ankommt und der schlafenden Zeit die ihr so lange vorenthaltene historische Violenz zurückerstattet. Das unter der Oberfläche nur mühsam gebändigte, vibrierende Chaos der geschichtlichen Energie, dessen unterdrückte Gebärden und Laute die sensitiv begabten Bewohner Perles beständig sahen und hörten, bricht mit der Ankunft Herkules Bells in einer gewaltigen Eruption aus. Schon der Name des Widersachers ist verheißungsvoll: Der Vorname erinnert an den Helden der Antike, der das Traumreich der Mythologie, den Augiasstall, ausmistete, der Nachname an Alexander Graham Bell, den Heros des modernen Kommunikationszeitalters, der an die Stelle jener stummen Telepathie, mit der Patera über die Traumleute herrscht, die technischen Bedingungen zur Möglichkeit des wechselseitigen Gesprächs gesetzt hat. Auch der Pökelfleischkönig aus Amerika ist ein Experte in Sachen Haltbarkeit, widersteht doch eingesalzenes Fleisch länger der natürlichen Verwesung. Bell jedoch setzt sein Wissen um konservierende Praktiken im Geist des Profits ein, während sich Patera in einem ruinösen Akt der großen Verausgabung verschwendet. 41 Bell agiert als Herausforderer, Aufrührer und Antichrist, der im verstaubten Perle das Credo des amerikanischen Wirtschaftsliberalismus heimisch machen will. 42 Auf Demokratie und Modernisierung reagiert das historisch überlebte, ideell und materiell unterlegene Traumreich, um seinem Widersacher den Triumph eines Sieges, gar einer Kapitulation, zu versagen, nicht mit Wider- 39 Vgl. H. R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/ Main 1994, S. 90ff. 40 Dietmar Kamper: Im Souterrain der Bilder. In: fiktion/ non-fiction. Weltanschauungen zwischen Vorstellung und Realität. (Ausstellungskatalog), hg. von Peter Asssmann u. Peter Kraml, Salzburg 1995, S. 9-12, hier S. 11. 41 Ahrens, Vom Verschwinden der Träume (wie Anm. 12), S. 319. 42 In ihm verkörpert sich nach Auskunft von Kubins Zeitgenossen Hermann Esswein „die rohe Tüchtigkeit unserer Ära des Intellekts.“ Vgl. H. Esswein: Alfred Kubin. Der Künstler und sein Werk. München 1911, S. 82. <?page no="212"?> Hans Richard Brittnacher 212 stand, sondern mit Selbstauslöschung: Patera beginnt zu sterben, und das sympathetisch mit ihm verbundene Perle folgt ihm in die Auflösung. 43 Bell versteht Pateras Selbstauslöschung durchaus als militärische Aggression: „Den Amerikaner erfaßte ein Schauder. Er mußte sich auf einen Steinhaufen setzen. Matt und kraftlos preßte er die Worte heraus: ‚Patera überläßt seinem Nachfolger nur die Exkremente.’“ (247) Aber auch Bell kann sich der Magie des Ortes, d. h. der Last der Vergangenheit, nicht entziehen: Er ist in allem so sehr das Gegenteil von Patera, dass er in einem Raum der Unterschiedslosigkeit zuletzt mit seinem Gegenüber identisch werden muss. 44 Der eben vom tröstlichen Versprechen Pateras, ihm zu helfen, begütigte Erzähler steht zu seiner Überraschung plötzlich dessen Widersacher gegenüber: „Ein Lachen der Hölle riß mich in die Höhe … Im grell strahlenden Raum stand an der Stelle Pateras der Amerikaner vor mir …“. (199) Dass Bell einen Verein „Luzifer“ gründet, als dessen Oberhaupt er ein Kopfgeld auf seinen Widersacher, „auf das Haupt dieses Satans“ (166), aussetzt, dass er, ein Unternehmer, Hasardeur und Kraftkerl mit magnetischem Charisma, der im Roman in den unterschiedlichsten Rollen auftritt, mal im Frack, mal in der Montur eines Heizers, seinen Gegner einen „Schwindler, einen Hochstapler, einen Magnetiseur“ (166) nennt, zeigt die ironische Textur von Kubins Roman, die eindeutige Perspektiven konsequent unterminiert. 45 Bell bezichtigt Patera des systematischen Ankaufs von Häusern mit dem Odeur des Verbrechens, aber beschäftigt selbst einen „Schwarm dunkler Existenzen“ (169), die sich um den übelbeleumdeten Jacques scharen. Zwar wendet sich Bell bei seinem Ersuchen um militärische Intervention an England als das Mutterland der Demokratie, an die „erklärten Feinde jeder entwürdigenden Sklaverei“ (172), aber das Mandat zum Eingreifen erhält Russland, in dem bis 1861, als die im Traumreichs konservierte Zeit endet, noch die Leibeigenschaft bestand und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans noch ein Zar regierte. Am Ende verschmelzen 43 Dass Patera seine Traummenschen telepathisch unterdrückt, hat Hewig als Reflex auf die Philosophie von Julius Bahnsen gedeutet. Vgl. dazu Anneliese Hewig: Phantastische Wirklichkeit. Kubins ‚Die andere Seite’. München 1967. 44 Vgl. dazu auch Stottmeister, Der Erzähler (wie Anm. 8), S. 120; zur Aufteilung satanischer und christlicher Attribute auf Bell und Patera vgl. Peter Cersowsky: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts: Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der „schwarzen Romantik“ insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka. München 1983, S. 77f. 45 Der Synkretismus des Romans bedeutet in letzter Konsequenz die Unmöglichkeit einer kohärenten Interpretation. Eine Deutung, die größere Verbindlichkeit beansprucht als die hier vorgelegte, hätte zudem die wechselseitige Kommentierung von Text durch Bild und Bild durch Text in diesem Werk zu berücksichtigen. Vgl. dazu auch Stottmeister, Der Erzähler (wie Anm. 8). <?page no="213"?> Zeit der Apathie 213 Bell und Patera in einem titanischen Zweikampf zu einer „unförmigen Masse“. (265) 46 Bevor es zu diesem Zweikampf kommt, geht Perle in einer Apokalypse von denkwürdigem literarischem Ausmaß unter. Unter den Dutzenden von Weltuntergangsromanen im ersten Jahrhundertdrittel 47 nimmt Kubins Roman nicht nur wegen der detaillierten Beschreibung der Erosion der Welt und der Dekomposition des Lebens eine Sonderstellung ein, 48 sondern auch wegen seines grotesken Humors: Die Widersprüchlichkeit, die für das Traumreich charakteristisch ist - „Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen“ (277) - verwandelt auch seinen Untergang in ein Spektakel, dessen tragikomische Züge der Roman mit furioser Lust schildert. 49 In einem Akt beispielloser Zerstörung wird am Ende des Romans die Traumwelt mitsamt ihrer historischen Apathie weggeschwemmt. Über 70 Seiten zieht sich diese Apokalypse hin, die sich sogar der morbiden Zustimmung der Traumleute gewiss sein darf: „Mich wunderte nur“, teil der erstaunte Chronist des Untergangs mit, „woher die Traumleute immer noch ihre gute Laune schöpften.“ (228) Wer auf verlorenem Posten steht, hält es mit der Macht, um ihr nicht zu erliegen. Welche Erleichterung, als das Traumreich Perle mit all seinen monströsen Gestalten endlich untergeht, welches Aufatmen über die Flut, die verschlingt, was nicht sein darf, über die Schlammlawine, die begräbt, was sich am Leben versündigt hat, über den Rost, der zerfrisst, was nicht sein soll. 50 In die Darstellung des Ent- 46 Dass sich dabei der kopflastige Amerikaner in einen „über alle Möglichkeiten großen Phallus“ (263f.) verwandelt, der in eine Erdspalte eindringt, während der Schädel des sinnlichen Pateras im Nichts zerstiebt, verrückt noch im Moment des Todes der beiden Antagonisten die zuvor eingenommenen Rollen. 47 Um nur einige der bekanntesten zu nennen: Gustav Meyrink: Das grüne Gesicht (1916); Meyrink: Walpurgisnacht (1917); Otto Soyka: Eva Morsini - die Frau, die war (1923); Alfred Döblin: Beere, Meere und Giganten (1924); Leo Perutz: Der Meister des jüngsten Tages (1924); L. Perutz: St: Petri Schnee (1932); Karl Hans Strobl: Eleagabal Kuperus (1910). 48 Vgl. dazu Claudia Gerhards, Apokalypse und Moderne (wie Anm. 36), S. 47. 49 Auf die Verschränkung des Heterogenen als einer seine Poetik fundierenden epistemischen Grundüberzeugung hat der Autor in seiner Autobiographie hingewiesen: „Die ‚andere Seite’ steht im Wendepunkt einer seelischen Erkenntnis, dass nicht nur in den bizarren, erhabenen und komischen Augenblicken des Daseins höchste wert liegen, sondern dass das Peinliche, Gleichgültige und Alltäglich-Nebensächliche dieselben Geheimnisse enthält.“ Alfred Kubin: Dämonen und Nachtgesichte. Eine Autobiographie. München 1959, S. 40. 50 Kubins eigene Einschätzung seines Untergangsromans ist ambivalent. In einem Brief an Ernst Jünger sieht er sich als „faktisch so eine Art Totengräber des alten K.K. Österreichs“, distanziert sich von dieser Verantwortung aber wenig später in einem anderen Brief. Vgl. dazu Clemens Brunn: Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodelle bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin, Oldenburg 2000, S. 154. In seiner Erinnerung an Kubins Werk attestiert Ernst Jünger der ‚Anderen Seite’ besondere seismographische Qualitäten: „Kubin erkennt am Untergang der bürgerlichen Welt, an dem wir tätig und <?page no="214"?> Hans Richard Brittnacher 214 setzens mischen sich immer wieder jene Töne, die dem Roman sein unverwechselbares groteskes Gepräge geben: Beim Untergang des großen Tempels bleiben die meisten der wohlbeleibten Mönche verschont: „Infolge ihres Fettes leicht, konnten sie sich durch Schwimmen retten.“ (211) Eine in der heißen Asche aufgefundene Mumie entpuppt sich als die noch lebende Tante eines Offiziers der russischen Interventionstruppen. Der von seinen Patienten gepfählte und am Spieß gebratene Doktor Lampenbogen lässt nach Auskunft des Erzählers kulinarisch zu wünschen übrig: „Nur an den Seiten war er richtig gebräunt“ (240) usf. Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte hat Karl Marx in pointierter Überspitzung einer schon bei ihrem Urheber Hegel bitteren Beobachtung ein galliges Aperçu formuliert, das eine profunde historische Skepsis des Propagandisten der Revolution verrät: „Hegel bemerkt irgendwo, dass alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ 51 Kubin löst diese Beobachtung literarisch ein und überbietet sie: bei ihm vollzieht sich die Tragödie selbst als Farce. Zugleich liefert Kubin in einer - dem mit kakanischen Gepflogenheiten vertrauten Leser nicht unbekannten - Parallelaktion eine Darstellung der Apokalypse, die einerseits genau den theologischen Intertexten folgt, andererseits aber auch der Logik psychischen Verfalls und sexueller Enthemmung entspricht. Der religiösen Lesart entspricht es, dass am Beginn der Apokalypse der Auftritt fremder Propheten steht, während sonderbare Zeichen am Himmel den Sturz der Zeit ankündigen: „Nächtlicherweise zuckten bleichsilbrige Erscheinungen in Serpentinen über den Himmel, lange, zarte Spitzenbänder wie Nordlichter. Eremiten, Derwische, Fakire kamen aus den Sandwüsten und von den Bergen und verkündeten auf offenem Markte, daß der letzte Tag herannahe.“ (205) Schriftgemäß nimmt der Untergang die Gestalt einer Naturkatastrophe an, der nur die Gerechten entkommen. Die immer schon unheimliche Geräuschkulisse Perles steigert sich im Kapitel „Hölle“ zur Weheklage verdammter Seelen: „Von verschiedenen Leuten wurde mir über merkwürdige Rufe berichtet, über schauerliche Flüche, jammervolle Gebete, dumpfes Gebrüll, das sie aus den verschiedenen Gossen und Kanälen gehört haben wollten.“ (231) Das Motiv der Hure Babylon, in der mittelalterliche Sekten eine Vision der Papstkirche zu erkennen glaubten, wird in Gestalt leidend teilnehmen, die Zeichen der organischen Zerstörung, die feiner und gründlicher wirkt als die technisch-politischen Fakten, die auf der Oberfläche angreifen.“ Ernst Jünger: Die Stabdämonen. In: E. Jünger: Sämtliche Werke (wie Anm. 17), S. 33-38, hier S. 38. Dass Ernst Jüngers Besprechung von Kubins Roman im „Widerstand“, der Zeitschrift des Frontkämpfers und Nationalbolschewisten Ernst Niekisch erschien, zeigt, dass die apokalyptische Botschaft der Zertrümmerung auch in den ultrareaktionären Kreisen ein lebhafte Resonanz fand. 51 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Berlin 1946, S. 11. <?page no="215"?> Zeit der Apathie 215 eines Patera-Papstes zitiert. „[E]ine spitze Tiara auf dem Haupte, angetan mit einem grünsamtenen Mantel“, (248) wird Patera in einer Sänfte auf den Platz getragen, aber erweist sich einmal mehr als eine jener vielen Attrappen, die Perle bevölkern. Hatte Perle schon zuvor, im Bann seines Herrschers, unter erhöhter Schläfrigkeit gelitten, die im Büroschlaf der Traumstadtbeamten auch eine satirische Wendung gegen die K.u.K.-Bürokratie erkennen ließ, wird Perle nun zum Opfer einer umfassenderen Narkolepsie, die nach Berechnung des Friseurs, gestützt auf das Bartwachstum seiner Kunden, in parodistischer Anspielung auf das Schöpfungsgeschehen sechs Tage dauert. 52 Im eingeschlafenen Perle ist für den Menschen kein Platz mehr: Die zweite der drei von Freud festgestellten großen Kränkungen, Darwins Einsicht, dass der Mensch nur ein Lebewesen unter anderen sei, dessen biologische Überlegenheit sich erst noch zu bewähren habe, erfährt angesichts der Invasion der Tierwelt in Perle eine erkennbar pessimistische Bestätigung. Die alles niedertrampelnden Büffelherden auf den Tomassevicfeldern, die scharenweise auftretende Affen und die schon aus der Bibel bekannten Heuschrecken und Ameisen übernehmen die Herrschaft im Land. Dass Gewesenes auch Verwesendes ist, diese depleurable biologische Grundlage des historischen Fortschritts macht Kubin überdeutlich in seinem Requiem auf das alte Europa. Die Musealisierung der Dinge hat den natürlichen Prozess des Zerfalls verlangsamt. Die Revokation dieses Prozesses muss in entsprechender zeitlichen Beschleunigung und materialer Gründlichkeit verlaufen: Kubin nennt dies die „Zerbröckelung“. (187) Es ist die „Krankheit der leblosen Materie“, die alles, was dem an Besitz und Verfügung so interessierten 19. Jahrhundert wert und teuer war, systematisch entwertet. „[I]n allen Mauern [traten] Sprünge auf, wurde das Holz morsch, rostete alles Eisen, trübte sich das Glas, zerfielen die Stoffe.“( 187) Der „Mauerschwamm“ setzt das von der Zerbröckelung begonnene Werk der Erosion fort: „aus Fenstern und Türen wucherte er und deformierte den ganzen Bau (….).“ (212) Perle geht „buchstäblich ‚zu Grunde’“. 53 Am Ende bahnt sich eine Flammenwalze ihren Weg durch das verschlammte Perle, und in einem Blutozean verwest alles, was je im Traumreich atmete. Auch das Bewusstsein der Bewohner Perles wird in den Sog einer rasanten Beschleunigung gezogen, die den einst bedächtigen Europäer des Bie- 52 Herbert Kraft, der in Perle eine psychiatrische Anstalt, und im Geschehen des Romans die Phantasie eines Wahnkranken erkennen will, deutet die höchstinstanzlich verordnete Schlafkur als therapeutische Maßnahme - ein anschauliches Beispiel für die Freudlosigkeit freudianischer Interpretationen, die den phänomenalen nihilistischen Reichtum des Romans entschlossen ignorieren. Vgl. Herbert Kraft, „Der Demiurg ist ein Zwitter“ (wie Anm. 9). 53 Kamper, Im Souterrain (wie Anm. 40), S. 11. <?page no="216"?> Hans Richard Brittnacher 216 dermeier- und Restaurationszeitalters in einen empfindsamen décadent verwandelt. Was immer das lange - und vielleicht deshalb auch so langsam sterbende - 19. Jahrhundert an neuen Krankheitsbildern ausgebildet und an alten wiederbelebt hatte, in Perle haben sie zuletzt epidemisches Ausmaß angenommen: „Als Folge der Debauchen und Schwelgereien war die Nervenzerrüttung im Traumland eine furchtbare geworden. Die bekannten Geistes- und Nervenkrankheiten, Veitstanz, Epilepsie und Hysterie, traten jetzt als Massenerscheinungen auf. (…) Platzangst, Halluzinationen, Melancholien, Starrkrämpfe mehrten sich in besorgniserregender Weise, aber man tollte fort.“ (169) Die ohnehin schon morbide Konstitution der Bewohner Perles entgrenzt unter den Bedingungen der Agonie ins Psychotische. Schlimmer noch als die dekadente Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer ist die beim Anblick des Leids erlebte Steigerung der Vitalität: „und je mehr sich die grauenhaftesten Selbstmorde häuften, umso wüster trieben es die Überlebenden.“ (169) Es gehört zu den Stimulationstechniken der sinnlich ertaubten décadents, sich die abhanden gekommene Empfindungsfähigkeit künstlich zurückzuerobern: „Äther und Opium lösten bisweilen den Alkohol ab, öffentlich machte man sich Injektionen, um die erschlafften Nerven durch sie aufzupeitschen oder zu beruhigen.“ (170) „Störungen des Sehvermögens“ (248) treiben das in Perle ohnehin schon inflationäre Doppelgängerunwesen zu weiteren Exzessen: „Ihnen [den Menschen mit Sehstörungen] entgegenkommende Menschen verdoppelten oder vervielfachten sich (…).“ (248) Am Ende dieser Form kollektiver psychischer Desorientierung steht konsequenterweise keine einzelne Verzweiflungstat, sondern der „Massenselbstmord“. (248) Die wenigen Überlebenden haben zuletzt „das Vermögen der Sprache verloren“ (251) und stapfen wie atavistische Rohlinge nackt durch „eine gigantische Kloake, in welcher man mit letzter Kraft einander würgte und biß und schließlich vollendete.“ (251) Was üblicherweise den Bestand des Lebens sichert, die Sexualität, erscheint in der verkehrten Welt der Apokalypse Perles als ihr Gegenteil, dem Massaker näher als der Liebe: „Trotzdem sich alles gegenseitig auffraß, vermehrten sich die Vierer- und Sechsfüßler in unheimlicher Weise.“ (182) Wieviel auch vernichtet werden mag, schneller wird gezeugt: „In allen dunklen Ecken, im Wasser und in der Luft, gatteten sich die verschiedensten Geschöpfe. Aus den Ställen drang Wiehern, Meckern und Grunzen.“ (189) Kubin ist nicht nur ein gelehriger Schüler der sinnlichen Askese Schopenhauers, sondern auch des Sexualhasses eines Weininger. Es dürfte wohl keinen Roman des 20. Jahrhunderts geben, dessen offensichtliche Geringschätzung der Sexualität sich so sehr Schopenhauers Negation des Vitalismus angenähert hat wie Kubins Die andere Seite: Was immer sich liebt und vereinigt, fordert den bösen Blick des Erzählers heraus: „Und wie mit einem Male ein Strom heranbraust, fielen die Geschlechter übereinander her. Nichts wurde ver- <?page no="217"?> Zeit der Apathie 217 schont, weder Familienbande noch Krankheit noch Jugend. Kein menschliches Wesen konnte sich dem elementaren Trieb entziehen, man suchte gierig vorgequollenen Auges einen Körper, um sich an ihn anzuklammern.“ (208) Noch bevor Melitta Lampenbogen, die Femme fatale des Romans, 54 an den Folgen einer venerischen Krankheit, deren Symptome sie mit Schminke und Puder zu überdecken sucht, sterben kann, wird sie in ihrem Schlafzimmer neben einer „kolossalen“, (233) tollwütigen Dogge mit „zerrissenem Leib“ (233) aufgefunden. Unmissverständlicher hätte die Exekution leichtfertiger Erotik kaum ausfallen können. 55 Und als sei die Zerfleischung Melittas nicht genug Strafe, wird ihr Haupt von dem wahnsinnigen Brendel noch als nekrophiler Fetisch mitgeschleppt. Der Kopf der betörend schönen Melitta hat sich in ein entsetzliches Medusenhaupt verwandelt, dessen Blick den Tod in sich trägt. Der Erzähler erkennt in dem sonderbaren Gegenstand in Brendels Hand „einen verwesten Kopf, an dem dickes, langes, kastanienbraunes Haar hing. Er schien zu leben. Es regte sich in den Augenhöhlen und um die wie angeklebten Lippen - ein Gewimmel von Maden.“ (227) * Von den meisten Texten der Dekadenz unterscheidet sich Kubins Roman durch den konsequenten doppelten Verzicht auf Schönheit und Hoffnung. Während sich Hofmannsthal und seine ästhetizistischen Zeitgenossen aus der Vermorschung und dem agonalen Fäulnisglanz noch ästhetisches Kapital erborgten, beschreibt Kubin aus der Perspektive eines beklagenswerten Helden eine hoffnungslos vergangene Welt, die ihren Tod nicht wahrhaben will. Ihr Untergang wird nicht minder begrüßt als gefürchtet - Anlass zu Hoffnungen bietet er in keinem Fall. Noch in den melancholischsten Gedichten Hofmannsthals oder Georges brachte sich in Akten einer hochfahrenden Grausamkeit immer wieder ein Dezisionismus zur Geltung, der die ihm zugedachte passive Rolle nicht hinzunehmen willens ist. Kubins Apokalypse hingegen kennt keinen chiliastischen Index mehr - sie ist allein einer Poetik der Auslöschung verpflichtet. 56 Darin besteht ihre anhaltende Aktualität. 54 Vgl. P. Cersowsky, Phantastische Literatur (wie Anm. 44), S. 83ff. 55 Zur negativen Sicht auf die Sexualität vgl. auch Jan Stottmeister, Der Erzähler (wie Anm. 8), S. 93f. 56 In dieser historischen Skepsis sieht Stefan Greschoning auch die Modernität des Romans, der Einsichten des (post-)anthropologischen Diskurses des späten 20. und des 21. Jahrhunderts bereits visionär vorwegnimmt. Steffen Greschoning: „Die andere Seite“ des Menschen. Raum, Zeit und Posthumanismus bei Alfred Kubin. In: Weimarer Beiträge 53 (2007), S. 267-276. <?page no="219"?> Franz Rottensteiner Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson Paul Busson (1873-1924) gehört zu jenen österreichischen Autoren, die fast völlig in Vergessenheit geraten sind und von denen die Literaturgeschichten nichts wissen, jene Geschichten von ihm, die nicht völlig vergessen sind, gehören der Phantastik an, was wieder einmal beweist, dass phantastische Bücher, auch wenn sie vielleicht selten Bestseller sind, doch immer wieder Leser finden. Aber selbst in Büchern über deutschsprachige Phantastik ist er kaum vertreten. Niteen Gupte 1 erwähnt ihn nicht, Gero von Wilpert 2 und Winfried Freund 3 nennen ihn nur en passant. Ausführlich und verständnisvoll geht Marianne Wünsch 4 auf ihn ein. Die umfassendste Darstellungen zu Busson bis dato stammen von E.F. Bleiler 5 und Robert N. Bloch 6 . Busson schrieb Lyrik, Theaterstücke, naturalistische und expressionistische Skizzen, historische Novellen, Jagd- und Naturschilderungen, autobiographisch gefärbte Romane und schwächliche Feuilletons; seine Ausflüge ins phantastische Genre publizierte er im Zuge der neuromantischen Wiedergeburt der deutschen Phantastik, zumeist erst nach dem Ersten Weltkrieg, wie Egmont Colerus, Leonhard Stein, Franz Spunda und andere, nach Gustav Meyrink, Alfred Kubin, Oskar Panizza, Hanns Heinz Ewers und Karl Hans Strobl. Mit seinem bekanntesten Roman, Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921) schrieb er jedoch einen der Klassiker der Gattung, der bis in die Gegenwart immer wieder aufgelegt wird 7 und der auch im Rahmen des Guten- 1 Niteen Gupte, Deutschsprachige Phantastik 1900-1930. Studien und Materialien zu einer literarischen Tendenz. Essen: Verlag die Blaue Eule 1991. 2 Gero von Wilpert, Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv - Form - Entwicklung, Stuttgart: Kröner Verlag 1994, S. 393, erwähnt nur „Die Kleinodien des Tormento“ als seltene erotische Spuknovelle. 3 Winfried Freund, Deutsche Phantastik Die deutschsprachige phantastische Literatur von Goethe bis zur Gegenwart. München: W. Fink 1999. Er sagt lediglich, dass er „in dem Roman ‚Die Wiedergeburt des Melchior Dronte’ (1921) in reißerischer Weise Spekulationen in Zusammenhang mit der Seelenwanderung verarbeitet“). 4 Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne. München: Wilhelm Fink 1991. 5 E.F. Bleiler, Introduction to Paul Busson”, in: Gustav Meyrink, The Golem; Paul Busson, The Man Who was Born Again. Two German Supernatural Novels. Edited with a new introduction by E. F. Bleiler. New York: Dover Publications, Inc. 1976, S. xviii-xxiv. 6 Robert N. Bloch, „Paul Busson“, in: Joachim Körber, Hrsg., Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Meitingen: Corian-Verlag 18. Erg. Lfg. Juni 1989. 7 Erstausgabe 1921 im Wiener Rikola-Verlag, mindestens fünf Auflagen 1921, am häufigsten ist die Halbleinenausgabe 7.-27. Tsd. 1922. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Roman 1954 unverändert vom Verlag Kremayr & Scheriau neu aufgelegt, hatte 1955 auch <?page no="220"?> Franz Rottensteiner 220 berg-Projekts digitalisiert wurde 8 . Der Erzählungsband Seltsame Geschichten 9 enthält mit einer Ausnahme, die Werwolf-Geschichte Der Schuss im Hexenmoos 10 , Bussons kürzere Phantastik-Geschichten, sein zweiter wichtiger Roman Die Feuerbutze ist vor allem ein historischer Roman. Ein vorangegangener Science-Fiction-Roman F.A.E. 11 ist eines der revanchistischen Tendenzwerke, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg im Schwange waren und in denen das „Versailler Diktat“ durch edle deutsche Einzelkämpfer mittels neu erfundener Superwaffen korrigiert werden, in diesem Fall mit Radiummotor betriebene ferngesteuerte gläserne Kleinflugzeuge, die fast unsichtbar sind und die Bomben von ungeheurer Sprengkraft und ein Pflanzen verdorrendes Mittel abwerfen können 12 . Damit will der aus dem Gefängnis frei gekommene Spartakist Kirchner im Dienste des Physikers Professor Wode, der sich F.A. Erdmann (F.A.E.) nennt, den Weltfrieden erzwingen - F.A.E. = Frieden auf Erden. 13 Der besondere Hass des Autors in diesem Roman gilt den Franzosen, und diese Einstellung ist auch in Die Wiedergeburt des Melchior Dronte 14 eine Buchklubausgabe bei Donauland. 1980 erfolgte eine bearbeitete Neuauflage in den „Phantastischen Romanen“ des Paul Zsolnay Verlages, 1982 Buchklubausgaben bei den Bertelsmann-Klubs, eine Taschenbuchausgabe erschien 1984 bei Moewig in Rastatt. Zur Zeit ist der Roman unter dem Titel Der Seelenwanderer: Die Wiedergeburt des Melchior Dronte im Grasmück Verlag, Altenberg, in dritter Auflage (1. Auflage 2001, „Mysterien des Übersinnlichen“, Band 3) lieferbar. Unter dem Titel The Man Who Was Born Again wurde das Buch mit dem Untertitel „A Romance“ auch ins Englische übersetzt; London: Heinemann 1927 und New York: John Day 1927. Diese Ausgabe ist um etwa ein Viertel gekürzt. Eine um die fehlenden Stellen ergänzte amerikanische Ausgabe wurde 1976 von E.F. Bleiler zusammen mit Meyrinks The Golem in New York als Dover- Paperback neu aufgelegt, versehen mit einem ausgewogenen, informativen Vorwort Bleilers. 8 http: / / gutenberg.spiegel.de/ busson/ dronte/ dronte.htm. 9 Graz, Wien Leipzig: Jos. A. Kienreich 1919 246 S. (Bücherei österreichischer Schriftsteller, Band 3). 10 Der Schuß im Hexenmoos/ Der Lockruf/ König Kaspar. Wien: Verlag Steyrermühl 1923 48 S. (Tagblatt-Bibliothek Nr. 16), 9.-11. Tsd. 1925. Zuletzt abgedruckt in Ingeborg Vetter, Das Erbe der „Schwarzen Romantik in der deutschen Décadence. Studien zur „Horrorgeschichte“ um 1900. Passau: Erster Deutscher Fantasy Club e.V. 2004, S. 99-113, (Sekundärliterarische Reihe Band 51, Fantasia 178). 11 F.A.E. Ein deutscher Roman. Wien, Berlin: Wiener literarische Anstalt 1920, 400 S. 12 Bleiler urteilt: „As an idea, of course, the theme of F.A.E. is old-hat, and had been done many times previously in English, nor does Busson’s poverty of scientific imagination help the story. When a revanchist spirit and an insipid melodramatic romance are added to these weaknesses, the result is a rather disappointing novel.”(„Introduction to Paul Busson”, in Gustav Meyrink, The Golem, Paul Busson, The Man Who was Born Again. Two German Supernatural Novels, a.a.O., S. xxiii.). 13 Eine Besprechung des Romans findet sich in Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur, hrsg. von Franz Rottensteiner und Michael Koseler (Meitingen: Corian-Verlag, 36. Ergänzungslieferung August 2002). 14 Dort schreibt der Arzt Dr. Kaspar Hedrich, der Empfänger des Manuskripts von Sennon Vorauf: „Nach dem entsetzlichen Kriege, nach allem Unglück, das dunkle Mächte über mein Volk gebracht haben…“ (MD, S. 412). In der Zsolnay-Ausgabe sind die <?page no="221"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 221 und vor allem in Die Feuerbutze sehr ausgeprägt, wo die Unterdrücker der Tiroler die Franzosen Napoleons sind, in deren Auftrag die Bayern handeln. Diese Haltung überrascht bei einem Mann, dessen Familie väterlicherseits französischer Abstammung ist. 15 Erste Versuche im Phantastischen findet man in den als „Novelletten“ bezeichneten expressionistisch angehauchten Skizzen des Bandes Aschermittwoch 16 (1903): „Rettungslos“ und „Wahnsinn“; die erste Geschichte präsentiert die verzweifelten Gedanken eines Scheintoten, der erkennt, dass er lebendig begraben worden ist (jene Furcht, die E.A. Poe im „Prematural Burial“ nicht viel eindrucksvoller beschwor), die zweite die eines Irren, der sich für geistig gesund hält und auf Rache an seinem Wärter sinnt. Arme Gespenster 17 enthält keine Gespenstergeschichten, sondern von der Decadènce geprägte ziemlich morbide historische Novellen, die in manchen auf die historischen Schilderungen in Die Wiedergeburt des Melchior Dronte voraus verweisen, etwa in der Schilderung einer Hexenverbrennung („Die Hexe“), der Brutalität der Henkersknechte bei der Folterung eines Juden, die die Bewährungsprobe für den Nachwuchs ist („Das Probestück“), oder der grausigen Räderung in „Sebaldusnacht“, wo der Held vom entlaufenen Jäger „Käsperlin Rodderbusch“ dazu gebracht wird, einen Hingerichteten, der ein Papier mit einem Schatzversteck bei sich trägt, unter Riskierung seines Lebens vom Rad abzunehmen, und erfahren muss, dass es sich um seinen eigenen Bruder handelt, den er eben wegen dieses Schatzversteckes gesucht hat. Und vor allem „Die Bonbonnière“, die an die Hinrichtung Melchior Drontes „dunklen Mächte“ geändert worden zu „Haß und Dummheit“ und „Volk“ zu „Land“ (S. 333). Busson litt schwer unter der Zerschlagung der Österreichisch-ungarischen Monarchie und ihrer Vielfalt in Freiheit, die sie innerhalb ihrer Landesgrenzen bot, aber er fühlte sich als Deutscher. Eine weitere Stelle ist noch chauvinistischer und setzt offen rassistisch schwarze Soldaten mit Affen gleich: „Unser Volk war in Gefahr. Auch die Gewalthaber drüben fragten ja keinen. - Wie hätten sie sonst wohl Krieg führen sollen gegen das verhasste Deutschland? Wie mit Negern und Gorillas im Bunde, Rache nehmen können an uns, weil wir tüchtiger, besser und fleißiger waren? (S. 420) In der Zsolnay-Ausgabe und den nachfolgenden Lizenzausgaben geändert zu: „Unser Land war in Gefahr. Auch die Gewalthaber drüben fragten ja keinen. - Wie hätten sie sonst wohl Krieg führen sollen? Wie Rache nehmen können an uns, weil wir tüchtiger und fleißiger waren? “ (S. 340). 15 Camilla Peinlich berichtet, dass der Urgroßvater Bussons zur Zeit der französischen Revolution nach Westfallen auswanderte. Bussons Vater Dr. Arnold Busson wurde 1844 in Münster geboren und studierte dann in Innsbruck und Göttingen, wo er 1866 als Historiker promovierte. Dreiundzwanzigjährig begann er seine akademische Lehrtätigkeit an der Universität Innsbruck, wo er 1871 außerordentlicher Professor und 1872 Ordinarius für Allgemeine Geschichte wird. Paul Busson wurde am 9. Juni 1873 als erstes Kind von insgesamt sieben Jungen und drei Mädchen geboren. 1891 übersiedelte der Vater mit seiner Familie nach Graz, wo er Ordinarius für allgemeine Geschichte wurde und bereits 1892 an einer heimtückischen Krankheit starb. 16 Aschermittwoch. Novelletten. München: Albert Langen 1903. 17 Arme Gespenster. Historische Novellen. München: Albert Langen 1909. <?page no="222"?> Franz Rottensteiner 222 auf der Guillotine erinnert. In dieser Geschichte richtet der Verurteilte seine letzten Blicke auf das Bild einer geliebten Frau, so wie sich Dronte auf das geistige Bild des Ewli konzentriert. Wie im Melchior Dronte und Die Feuerbutze dient die Geschichte vor allem als Folie um zu zeigen, dass die Zustände in der Vergangenheit vielleicht noch schlimmer waren als in der tristen Gegenwart nach der Katastrophe des Weltkriegs. Nicht alle Erzählungen in Seltsame Geschichten 18 (1919) sind phantastisch, es gibt dort auch kitschige zeitgenössische Texte wie „Einer vom Zirkus“. „Bills schwarze Ostern“ (ein Einbrecher lässt die Beute zurück, weil die Kinder der Familie, bei der er eingebrochen ist, ihn für den Osterhasen halten) oder „In der heiligen Nacht“ (in der ein hartherziger Gutsbesitzer beim Anblick eines neugeborenen Kindes zu einem besseren Menschen wird). Eine eingehende Besprechung aller Geschichten stammt von Robert N. Bloch 19 , eine sehr negative Einschätzung dieser Erzählungen hat E.F. Bleiler geliefert 20 . Bestätigt wird Bleilers Urteil von einer konventionellen Geschichte über die „orientalische Gefahr“ wie „König Nurredin“. Ein dunkler Hindu, der die Protagonistin Eva in der Oper anstarrt, soll ein Königssohn sein, der den unheimlichen „Traumzauber“ beherrscht; in einem ihr gesandten Traum hat er sich mit dem Mädchen verlobt und unternimmt später einem missglückten Anschlag auf den reichen Engländer, mit dem sich Eva verlobt hat, weil er sie nach der „Traumverlobung“ als seinen Besitz empfindet. Einige Motivkreise kommen in dem Band öfters vor, so vor allem Femme fatales und die belle dame sans merci, nicht nur in „Einer vom Zirkus“, in der ein Zirkusclown von seiner grausamen Frau ruiniert wird, und „Die Tigerin“ (verschiedene Männer, die mit der blonden Frau, die wegen zweier braunen Strähnen im Haar die „Tigerin“ genannt wird, eine Affäre hatten, kommen nach der Trennung von ihr ums Leben), sondern vor allem in der häufig nachgedruckten Geschichte „Die Kleinodien des Tormento“ 21 , eine zum Alptraum gewordene Männerphantasie von allzeit bereiten, schönen Frauen. Auf dem Totenbett erzählt der Selbstmörder Jerome Kerdac seine Geschichte. Dieser reiche, von der bürgerlichen Gesellschaft gelangweilte und in okkulten Dingen erfahrene Lebemann erwirbt von einem Trödler ein Kästchen mit 18 Seltsame Geschichten. Graz, Wien, Leipzig: Jos. A. Kienreich 1919. 19 Paul Busson, Seltsame Geschichten, in Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur. Meitingen: Corian-Verlag, 32. Ergänzungslieferung Januar 2001. 20 „Equally disappointing [wie der Roman F.A.E.] are the fantastic stories in Seltsame Geschichten (1919) und Der Schuss im Hexenmoos (1923). Among the concepts that Busson handled here are survival of primitive men in caves beneath the Alpine glaciers, reincarnation of various sorts, and rather materialistic ghosts. In level and technique they are reminiscent of similar lower-grade fiction being published in Great Britain and the United States at the same time. They are ancestral rather than intrinsically important.” Bleiler, „Introduction to PAUL BUSSON”, a. a. O., S. xxiii. Zumindest für „Die Kleinodien des Tormento” und „Der Schuss im Hexenmoos” mutet dieses Urteil zu hart an. 21 Zuerst abgedruckt in Österreichische Rundschau 3 (1905). <?page no="223"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 223 zwölf Halbedelsteinen und eine Maske. Jeder dieser Steine entspricht einem Monat, in jedem in die Maske eingesetzten Stein erblickt er einen schönen Succubus, der ihm höchste Wonnen bringt, Göttinnen wie Selene, Astarte und andere, nur die zwölfte, Naheme darf er nicht rufen. Er missachtet die Warnung, die zwölfte Dämonin ist die schönste, aber sie altert von Nacht zu Nacht sichtbar und wird zu einer Vettel mit faltiger Haut, deren Liebesbezeugungen für ihn eine Folter sind. Sie fordert seinen Selbstmord, damit sie sich verjüngen kann. Er gehorcht ihr. Freundlicher ist der weibliche Revenant aus „Die Dame mit der Scharlachmaske“; dieses Gespenst der Yvonne von Ronceray, deren Porträt der Erzähler auf einer Reise sah, will ihn nur bewegen zu verhindern, dass ihr Grab aufgelassen wird, allein zu spät. In einigen Geschichten haben Wesen aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart überlebt. Ein Forscher, der in alle Gletscherspalte fällt, entdeckt „Unter dem Eis“ eine unterirdische, von Steinzeitmenschen bewohnte Welt, in der einen dieser Menschen mit einem Steinbeil erschlägt. Möglicherweise hat der Mann, der rechtzeitig gefunden und ins Krankenhaus gebracht wird, alles nur in einem Fiebertraum geträumt; dagegen spricht ein Steinzeitbeil und dass eine Pflegerin, die aus jenem Tal stammt, auf ein aufgeschnapptes Wort in jener Steinzeitsprache schreiend davonläuft. Ein altes Manuskript aus dem Jahre 1691 verkündet vom Überleben eines griechischen Satyrs in den Tiroler Bergen, der sich beschwerte, dass ihm keine Opfer mehr gebracht wurden, weil ihn die Bauern für einen „gehörnten Teufel“ hielten; er fiel schließlich einem Steinschlag zum Opfer. Das dominierende phantastische Motiv, das für Paul Busson die größte Bedeutung hatte, über das literarische Spiel mit einer Vorstellung hinaus, war unzweifelhaft jenes Fortleben über den Tod, das als Metempsychose 22 , Seelenwanderung oder Reinkarnation 23 bekannt ist. Die älteste Andeutung von Seelenwanderung scheint es bereits in der Erzählung „Die Bonbonnière“ in Arme Gespenster zu geben, wo es dem zum Tode auf der Guillotine verurteilten Magloire so ist, als spräche das Bildnis eines ovalen Kindergesichts, das in einer ererbten goldene Bonbonnière enthalten ist, das ihm bekannt vorkommt, obwohl er nicht weiß, woran sie ihn erinnert, zu ihm: „Es war eine Art von dumpfem Fühlen, das Anhänger der Seelenwanderungstheorie als Erinnerungen aus einer früheren Existenz bezeichnen.“ 24 22 „METEMPSYCHOSIS Literally, the changing of SOULS: transmigration of souls to new bodies (human, animal or even vegetable) after DEATH“ - The Encyclopedia of Fantasy, hrsg. von John Clute und John Grant. New York: St. Martin’s Press 1997, S. 642. 23 Laut Horst E. Miers, Lexikon des Geheimwissens. München: Goldmann 1976, S. 367, ist der von Busson Begriff „Seelenwanderung“, der in der älteren indischen Mythologie üblich war, in Theosophie und Anthroposophie verpönt, wo vielmehr der Begriff „Reinkarnation“ verwendet wird. Auch The Encyclopedia of Fantasy, a. a. O., zieht den Begriff Reincarnation vor. 24 Paul Busson, Arme Gespenster, a. a. O., S. 86 <?page no="224"?> Franz Rottensteiner 224 Voll entwickelt kommt die Seelenwanderung in der Tiergeschichte „Abdon“ vor. Der Jäger Schröck hat einen Hund, der nach dem früh verstorbenen geliebten Kind des Försters Abdon genannt wird, weil er blaue Augen und eine verkrüppelte Pfote hat - der Sohn des Försters hatte blaue Augen und einen verkrüppelten Arm. Der Förster ist fest davon überzeugt, dass die Seele seines Sohnes in dem Hund fortlebt. Der Hund ist seinem Herrn treu ergeben, während er die Frau des Försters nicht leiden kann. Die vernachlässigte Frau fängt ein Verhältnis mit dem Gehilfen des Försters an, misstrauisch beäugt von dem Hund, der, scheint es, die Ehe seines Herrn bewacht. Als der Jagdgehilfe den Hund erschießt, kehrt er als Gespenst wieder, sein Knurren verfolgt den Mann, und diese Heimsuchung endet erst mit dem Tod des Försters. Eine Art Metempsychose kommt selbst in F.A.E. vor, wo etliche Hauptfiguren sogar mit aus Walhall herabgestiegenen germanischen Göttern wie Odin oder Loki assoziiert werden; hier dient das im Zusammenhang groteske „beiläufige Reinkarnationspostulat der Behauptung eines Sinnes bzw. einer leitenden Instanz in der deutschen politischen Geschichte“. 25 Seelenwanderung in eine Tiergestalt wird auch in „Der Schuss im Hexenmoos“ angesprochen. Ein schwarzer Hirsch, den der Erzähler im Moor röhrend fliehen gesehen hat, soll der „elendige“ Wilderer Heinrich Mückenzähler sein, und der schwarze Hund Balthasar des seltsamen Alten der ehemalige Forstgehilfe Balthasar Hirnschöll, der wie der Mückenzähler die Sünde des Selbstmords begangen hat und deshalb dazu verurteilt sei, in Tiergestalt zu büßen, bis seine Zeit um ist. Und auch im Melchior Dronte kommt ein solcher Fall vor: in einem bösartigen Papagei erkennt Dronte eine arme menschliche Seele (S. 319), der er baldige Erlösung wünscht, worauf dem Vogel Tränen über den Schnabel kollern. Die Reinkarnation in eine Pflanze wird in „Hadschi Husseins Maulbeerbaum“ thematisiert. Hadschi Hussein ist der Überzeugung, dass die Seele seines Sohnes, der vor diesem Baum füsiliert wurde, in dem Baum aufgegangen sei. Außer der Metempsychose in Tiergestalten finden sich in der Erzählung „Der Schuss im Hexenmoos“ (1923) andere phantastische Motive: Werwolf und femme fatale in Personalunion, 26 denn der Werwolf ist in dieser Geschichte eine schöne, starke Frau, die Witwe Hildegardis des Grafen Kröttlin, die ihre Trauerzeit auf dem einsamen Schloß Birkenzweyer verbringen will, 25 Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, a. a. O., S. 201. 26 Vgl. Christian Stiegler, Vergessene Bestie. Der Wertwolf in der deutschen Literatur. Wien: Braumüller 2007, S. 93: „Die Komplexität der femme fatale, die Herrschsüchtigkeit, Niedertracht und Egoismus mit sexueller Energie verkörpert, wird von Paul Busson mit einem Werwolfkörper verbunden. Die Darstellung eines Tieres, das sexuelle Kraft auszustrahlen vermag, ist ungewöhnlich für die Figur, die sonst nur zu gerne als plump und unberechenbar animalisch dargestellt wird wie etwa bei Watzliks Darstellung des Ungetüms.“ <?page no="225"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 225 wo sie zu Lebzeiten ihres Mannes nie war. Ein Wanderer, kommt in eine atmosphärisch dicht gezeichnete düstere Gegend, ein Hochmoor mit altem Baumbestand und dunklen Tümpeln, und er sucht Zuflucht in der einsamen Hütte eines furchteinflößenden alten Mannes, eines ehemaligen Jägers, der sich in dunklen Andeutungen ergeht und vielleicht nicht ganz bei Verstande ist, so verrückt muten seine Ansichten an von den oben erwähnten Reinkarnationen an. Er ist auch der Überzeugung, dass sich im Sturm, der an jenem Namenstag der Hildegaris um die Hütte braust, die Schlossherrin selbst kundtue, und er erzählt dem Wanderer eine ganz und gar phantastische Geschichte. Die Gräfin hatte ein Verhältnis mit ihm, ihrem damals jungen Förster Martin angefangen, sich dann aber dem Wilddieb Mückenzähler zugewandt, dem der Förster seit langem vergebens nachstellte. Verschiedene schreckliche Ereignisse, u. a. wird ein junges Mädchen von einem Raubtier zerfleischt, und Spuren im Schnee - Abdrücke von Damenstiefeln gehen unvermittelt in Wolfsspuren über - lassen im Förster einen schrecklichen Verdacht gegen seine Herrin reifen, und als es ihm endlich gelingt, den riesigen Wolf zu stellen und zu erschießen, liegt dann die tote Frau vor ihm. Ihr Liebhaber, der Mückenzähler, schießt auf ihn und verwundet ihn schwer, dann erhängt er sich, und amtlich wird dann der Mord an der Gräfin dem Wilderer zugeschrieben. Die genaue Kenntnis des Waidwerks, die Busson auch in seinen Jagd- und Tiergeschichten (1924) 27 , die posthum von Erwin H. Rainalter herausgegeben wurden, unter Beweis gestellt hat, trägt wesentlich zur Eindrücklichkeit dieser Erzählung bei. Frank Rainer Scheck urteilt, sie sei „eine der besten deutschsprachigen Werwolf-Geschichten, übertroffen wohl nur noch von Martin Luserkes Der Wolf auf Spoeksand (1936). Auch der englische Sprachraum hat dem Topos selten Besseres abgewonnen.“ 28 Die Metempsychosen in „Der Schuß im Hexenmoos“ mögen vielleicht nur in der Phantasie eines alten Mannes existieren, und auch in Die Feuerbutze (1923), Bussons zweitem wichtigen Roman, ist die Metempsychose höchstwahrscheinlich nur Wahn und Einbildung. Der Onkel Martin Storck des Erzählers, der in Tiroler Bergeinsamkeit den Mithras-Kult als dessen Priester wieder belebt hat, hält sich für den wiedergekehrten Aemillianus Sagittarius, Tribun der ersten norischen Legion, und seine Tochter Julia, die er im Rahmen seines Kultes als jungfräuliche „Sonnenläuferin“ vorgesehen hat, für dessen wiedergeborene Tochter Julia. Im Kontext des Romans erscheint es, anders als in Die Wiedergeburt des Melchior Dronte, extrem unwahrscheinlich, dass wirklich eine Metempsychose stattgefunden hat. Der Gedanke der Wiedergeburt ist besonders eng mit dem Hinduismus (ab 700 v. Chr.) und dem Buddhismus verbunden, in durchaus verschiedener 27 Wien: Steyrermühl 1924 (Tagblatt-Bibliothek Nr. 149/ 150). 28 Frank Rainer Scheck, „Paul Busson, Der Schuß im Hexenmoos“, in Franz Rottensteiner und Michael Koseler, Hrsg., Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur (Meitingen: Corian-Verlag, 13. Ergänzungslieferung Januar 1994. <?page no="226"?> Franz Rottensteiner 226 Form. Häufig in Verbindung mit den Begriffen Samsara (dem Kreislauf von Wiedergeburten) und Karma (der Abhängigkeit von der Qualität der Vorexistenzen, je nach Richtung entweder passives Erleiden oder aktives Handeln), aber er war auch den alten Griechen nicht fremd. Vor allem bei Pythagoras, Empedokles und Platon wird die Reinkarnation angedacht. Die Wiedergeburt erfolgt entweder aus innerer Notwendigkeit oder aus zum Zweck der moralischen Läuterung in einer neuen Daseinsform, die auch tierischer oder pflanzlicher Natur sein kann. Im Judentum findet man den Reinkarnationsgedanken zwar nicht in der Bibel, er ist aber ein entscheidendes Element der Kabbala 29 und der jüdischen Mystik und wird schon im Talmud erörtert. Wie die Hauptrichtungen des Christentums und des Judentums lehnt auch der Islam die Idee der Reinkarnation ab, doch kommt sie in verschiedenen mystischen Nebenströmungen wie dem Sufismus vor. Eines der beiden der Wiedergeburt des Melchior Dronte vorangestellten Motti beruft sich auf die „Geheimlehre der Bektaschi“. Der Orden der Bektaschi 30 entstand in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im seldschukisch beherrschten Kleinasien, als sein Begründer gilt der Turkmene Hadschi Bektasch Veli. Der Orden verbreitete sich in Anatolien und über den ganzen Balkan. Sultan Orhan I, der Gründer der Janitscharen soll Hadji Bektasch Veli nach einem Namen für seine Elitetruppen gebeten haben. Bektaschi-Derwische lebten ab dem 16. Jahrhundert in der Nähe der Janitscharen- Garnisonen, um die Soldaten geistig zu leiten. 1826 löste Mahmud II. die Janitscharentruppe auf und ordnete die Schließung aller Bektaschi-Tekkes (Ordenshäuser) an, doch erreichte der Orden anschließend seine höchste Blüte, vor allem in Albanien, bis die Griechen in den Balkankriegen von 1912/ 13 an die achtzig Prozent aller Tekkes zerstörten. Busson dürfte den Bektaschi-Orden während seiner Reisen auf dem Balkan kennen gelernt haben. Nach seiner Militärdienstzeit, genesen von einer schweren Krankheit, unternahm er, damals schon Mitarbeiter des Neuen Wiener Tagblatts (dessen Feuilletonredakteur er 1914 nach dem Tod von Eduard Pötzl wurde) und des Simplicissimus, einen mehrmonatigen Ritt durch Bosnien, Serbien und Bulgarien, von wo er an das Neue Wiener Tagblatt berichtete. 1908 bereist er, nach ausgedehnten Reisen im übrigen Europa, als Berichterstatter neuerlich den Balkan. In neueren okkulten Strömungen wie der Theosophie der Helena Petrovna Blavatsky und Annie Besant wurde die Reinkarnationslehre der östlichen Religionen mit dem Konzept der Evolution verbunden - dieser Auffassung nach entwickelt sich die Einzelseele von Leben zu Leben weiter und steigt zu immer höheren Seinszuständen auf. Das Ziel dieser Höherentwicklung ist 29 Ein phantastischer Roman einer jüdischen Inkarnation ist etwa Hermann Blumenthals Gilgul. Ein Roman aus dieser und jener Welt. Wien: Interterritorialer Verlag Renaissance 1922. 30 Der Orden hat heute sogar eine Internet-Seite: www.bektashi.net. <?page no="227"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 227 gewöhnlich eine Vervollkommnung des Individuums, das anders als im Buddhismus nicht in einem Nirwana aufgeht. In der Anthroposophie Rudolf Steiners ist es die Kraft von Jesus Christus, die in verschiedenen Inkarnationsreihen eine Höherentwicklung des Individuums bewirkt. 31 In der phantastischen Literatur wurde die Idee der Reinkarnation von Autoren, die ihre Bücher auf Spiritualismus und Theosophie basieren, begierig aufgegriffen. Oft in Form von „karmic romances“ - „whose troubled characters are deemed to be atoning for sins committed in former lives. Many karmic romances insist that true LOVE has the power to transcend TIME, the subgenre thus overlaps with the TIMESLIP romance.” 32 Konstellationen aus der Vergangenheit kehren zwanghaft in der Gegenwart wieder. Gerne kommen solche reinkarnierten Seelen aus Atlantis oder dem alten Ägypten. Zu den prominenten Vertretern von Reinkarnationsromanen zählen Henry Rider Haggard - vor allem She (1887), der klassische Roman dieser Untergattung - Dion Fortune, Joan Grant, Marie Corelli, Warwick Deeping (I Live Again, 1942) und die Romane Die Zwangsjacke (The Star Rover, 1915) von Jack London, The Reincarnation of Peter Proud (1974) von Max Ehrlich. Im deutschen Sprachraum ist der bekannteste Roman Der Pilger Kamanita (Pilgrimen Kamanita, 1906, deutsch vom Autor selbst 1907) des dänischen Autors (und Nobelpreisträgers von 1917 (gemeinsam mit Henrik Pontoppidan) Karl Gjellerup (1857-1919). Phantastische deutsche Geschichten sind etwa „Metempsychose“ 33 von Otto Marschalek, Der Engel vom westlichen Fenster und Der weiße Dominikaner von Gustav Meyrink - und natürlich Die Wiedergeburt des Melchior Dronte, der die Reinkarnation selbst darstellt, was die große Ausnahme ist. 34 Paul Busson zeigt eine persönliche Neigung zum Übernatürlichen, das scheint in der Familie gelegen zu haben, aber er war kein Prediger okkulter Theorien, sein Roman schreitet in atemberaubenden Tempo durch Handlung voran, auf Theoretisieren lässt er sich nicht ein. Von seiner Mutter schreibt Kamilla Peinlich: „Sie hatte eine reiche Phantasie und litt oft unter Einwirkung von Träumen und Vorahnungen.“ 35 Eine Urgroßmutter väterlicherseits soll die Gabe des zweiten Gesichts besessen haben und Unglücksfälle im Haus voraussehen haben können. 36 Busson selbst war von typischen Ge- 31 Siehe dazu Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, a. a. O., S. 200-204. 32 The Encyclopedia of Fantasy, a. a. O., S. 898. 33 Die Tiefen von Mangalore. Phantastische Novellen. Wien, Leipzig: Rikola Verlag 1926. 34 Einen umfassenden Überblick bietet Marianne Wünschs „Das Modell der «Wiedergeburt» zu «neuem Leben» in erzählender Literatur 1890 - 1930“. In Karl Richter und Jörg Schönert, Hrsg., Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess (Walter Müller Seidel zum 65. Geburtstag). Stuttgart: Metzler 1983, S. 379-408. 35 Kamilla Peinlich, Paul Busson, a. a. O., S. 6. 36 Vergleiche Aus der Jugendzeit. Erinnerungen und Träume aus alten Tagen. München: Albert Langen 1920, 7. Kapitel. <?page no="228"?> Franz Rottensteiner 228 spensterlokalitäten wie alten Kirchen, verfallenen Gräbern und Denkmälern tief beeindruckt: „Ich glaube, dass ich damals von Gespenstern am hellen Tage umgeben war. Ich rief sie und sie zeigten sich mir, lächelten aus den Hollerbüschen und nickten […]“ 37 Er las die Dichtungen der Romantiker, vor allem Joseph Eichendorff, und er hatte die romantische Fähigkeit hinter den Erscheinungen zu blicken und die Sehnsucht nach dem „Unbekannten, Geheimnisvollen, Unfassbaren“ 38 zu sehen. Die Geschichte des Melchior Dronte wird in der Rahmenerzählung dem Erzähler Sennon Vorauf in bildhaften Gesichten zuteil, die er als „Spiegelbilder von Schicksalen“ erkennt, die seine „Seele in einem anderen Leibe erlitt“ (S. 8), und zwar noch vor Geburt seines jetzigen Körpers. Das okkultphantastische Thema des Romans ist die Metempsychose, die bereits im Untertitel angesprochene Seelenwanderung, die in den Grundzügen der christlich geprägten Richtung folgt - das Durchwandern des irdischen Jammertals in einer Vorexistenz, eine Art Vorhölle auf Erden zur Läuterung des individuellen Charakters. Voraufs Aufzeichnungen werden dem Arzt Dr. Kaspar Hedrich übersandt, der sie der Öffentlichkeit übergibt. Melchior Dronte - ein erfundener Name - ist der Sohn eines brutalen Edelmannes des 18. Jahrhunderts. Den sensiblen Knaben will der Vater genau zu solch einem gefühllosen adelsstolzen Menschen erziehen, wie er es ist, und wenn er Mitglied mit geschundenen Kreaturen zeigt, wird er streng bestraft. In der Schule gibt es einen bürgerlichen Prügelknaben, der immer für das Nichtwissen der Noblesse geschlagen wird, und als Melchior gegen den Lehrer tätlich wird, muss er die Schule verlassen und wird streng bestraft; noch strenger, als er dem Vater die Reitgerte wegnimmt, mit der einen Bediensteten züchtigt. Und der Vater zwingt ihn auch, zur Abhärtung in einer johlenden schaulustigen Menge der Räderung eines Schmiedes zuzusehen, der sich gegen die ungerechte Obrigkeit aufgelehnt hat. Melchior verschmäht es auch, mit einer der Dienstbotinnen zu schlafen, die ihn im Auftrag des Vaters zum Mann machen sollen, tut es aber dann mit der Jugendfreundin Lore. Er liebt inniglich und romantisch seine Base Aglaja, die allerdings in jungen Jahren stirbt, bitterlich von ihm beweint. Diese Frau trifft er in verschiedenen Gestalten wieder, als Zephyrine, die er aus der Gewalt eines teuflischen Doktors Postremo rettet und heiratet, die aber bei der Geburt eines monströsen Kindes mit zwei Köpfen stirbt. Und er trifft sie wieder in Gestalt der Prinzessin Lamballe, die während der französischen Revolution zur Hinrichtung geführt wird und die er vergebens zu retten versucht. Er wird nur selbst verhaftet und endet schließlich unter dem Fallbeil, wie ihm von einer Wahrsagerin prophezeit wurde. 37 Aus der Jugendzeit, a. a. O, S. 14, zitiert nach Peinlich, a. a. O., S. 9 38 So zitiert Peinlich a. a. O. S. 17 Roderich Müller-Guttenbrunn nach einer Sendung von Radio Wien aus dem Jahre 1928. <?page no="229"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 229 Bis dahin hat er ein bunt-abenteuerliches, von Entbehrungen und Leiden, aber auch von Ausschweifungen und Buße gekennzeichnetes Leben hinter sich. Der Erziehung seines Vaters kann er sich nicht völlig entziehen, er wird genauso gewalttätig und dem Trunk ergeben wie er, benutzt die Frauen und verachtet das gemeine Volk. Als er aber gegen einen Adeligen, der seine Mutter beleidigt hat, handgreiflich wird, und sich weigert, sich bei dem Manne, von dem sein Vater abhängig ist, zu entschuldigen, verstößt ihn der Vater. Er wird Student von jener Sorte, die nie einen Hörsaal von innen sieht, sondern das Leben mit Saufen und Raufhändeln verbringt. Als er im Duell einen Kontrahenten tötet, muss er fliehen und lässt sich zu den Soldaten Friedrich des Großen anwerben, wo er neuerlich die geisttötende Barbarei des Drills, den rauen Umgang der Vorgesetzten mit ihren Untergebenen und der Soldaten untereinander und die Schrecken des Krieges kennen lernt, bis es ihm gelingt zu desertieren. An den Mittellosen und Kranken, Drontes Vater ist inzwischen verstorben, vom Erbe ist kaum etwas übrig, tritt der Versucher, „Fangerle“ nennt er ihn, ein Unterteufel, den er schon bei der grausamen Hinrichtung des Schmiedes gesehen hat, an ihn heran und verspricht ihm Geld, wenn er einem in einer Kapelle aufgebahrten Toten das Kruzifix entreißt. Dazu ist er nicht imstande. Auf dem Friedhof nimmt Dronte von seiner Mutter und Aglaja endgültig Abschied. Und auf einem Grab sieht er wieder den abscheulichen „Fangerle“ sitzen, das Böse selbst, der dort „Seelenmäuse“ einfängt. Für Drontes Kugeln ist er unverwundbar. Melchior Dronte verliert oder verprasst seinen ganzen Besitz, aber zweimal wird ihm durch Zufall oder auf übernatürliche Weise Reichtum zuteil. In einer Burgruine findet er einen Schatz, was ihn dem Verdacht aussetzt, einer Räuberbande anzugehören, der Mitglieder gehängt werden. Und im Spielsaal erscheint ihm der Tote, dem er das Kreuz nicht rauben konnte, als Gespenst im Rollstuhl und bringt ihm Glück, so dass er mit reichem Gewinn abzieht. Sein weiterer Weg führt ihn zunächst in die „Kugelmühle“, ein Räuberwirtshaus 39 , in der die Gäste von dem mörderischen Wirt mit einem Mühlstein im Schlafraum zerquetscht und dann ausgeraubt werden, und in ein Spukschloss, wo ein von Gewissensqualen, die er nur mit Alkohol ertränken kann, geplagter Freund und Zechgenosse seines Vaters sich einen Schreiber wie einen Sklaven hält, dem er zur Flucht verhilft, und in das revolutionäre Paris, wo er okkulte Praktiken studiert, aber auch die Raserei der entmenschten Massen kennen lernt und schließlich unter dem Fallbeil stirbt, weil er es verschmäht, sich durch eine Lüge zu retten. 39 Zum Motiv des Räuberwirtshauses siehe R. Schenda, Volk ohne Buch. Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann, S. 300 ff. und dasselbe, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977, S. 383-386 (dtv Wissenschaftliche Reihe 4282). <?page no="230"?> Franz Rottensteiner 230 Die Wiedergeburt des Melchior Dronte ist ein Erziehungsroman, die Leiden des Helden in seiner irdischen Existenz im 18. Jahrhundert sind die Stationen eines Kreuzweges zur Läuterung, denn auch für ihn gilt, was auf einem Grab im Friedhof geschrieben sieht: „Non omnis moriar“ - „ich werde nicht ganz sterben“. Zwei übernatürliche Gestalten, die offenbar sowohl Projektionen oder Aspekte seiner Persönlichkeit sind, aber auch eine äußere Existenz besitzen, begleiten den Weg des Melchior Dronte. Der gute Begleiter, ein Derwisch, erscheint Dronte auch, wenn er mutlos und verzweifelt ist, um ihn aufzumuntern: „Nur du allein kannst dir helfen, denn ich bin du“ 40 . Den „Mann aus dem Morgenlande“, den „Ewli“, sieht er zuerst als fünfjähriges Kind. Die in Wachs bossierte Gestalt eines mohammedanischen Mönchs oder Derwischs, hat ein Verwandter als Geschenk aus Venetien mitgebracht. Diese Gestalt mit den schönen dunklen Augen und den sanften Zügen fällt ihm als Kind auf, als sie ihn zu sich winkt - und damit das Leben rettet, denn der Teil der Decke, unter dem er gestanden hatte, stürzt ein, er wird aber nur von einem Splitter getroffen und erleidet einen Schnitt zwischen den Augenbrauen, der eine Narbe hinterlässt. Von da an erscheint der Ewli immer wieder an entscheidenden Punkten seines Lebens, auch vor seinem Tod. Der Tod auf der Guillotine ist ein notwendiges Ereignis für seine Läuterung, damit die Seele in höherer Form wiedergeboren werden kann, darum nimmt er diesen Abschluss seiner Pilgerfahrt im ersten Leben auf sich. Ist der „Ewli“ die gute Seite, ist die andere, schlechte der „Seelenfänger“ Fangerle, eine aus der Romantik bekannte Gestalt des Bösen, der sich immer wieder zeigt, um ihn in Versuchung zu führen oder zu verhöhnen. Dronte erlebt seine eigene Hinrichtung von außen als körperlose Seele 41 , wird zum Wiedergekommenen, dem Ewli, im Körper eines Menschen, Sennon Vorauf heißt. Er wächst auf, als einsames Kind, weil er wegen seiner Wachträume und Visionen als seltsam gibt. In seinem Leben gibt es andere seltsame Ereignisse, er kann sich außerhalb seines eigenen Körpers versetzen und während er im somnambulen Zustand daheim liegt, rettet er in einer Außer-dem-Körper-Erfahrung einem Schulkameraden, der im Eis eingebrochen ist, das Leben. Er sieht auch Aglaja wieder, am Fenster eines vorüberfahrenden Zuges. Im Ersten Weltkrieg verschwindet Vorauf dann spurlos im albanischen Tirana, gegen ihn wird die Desertionsanzeige erstattet. Er hat dort ein (verschlossenes) Haus, eine „Tekkeh“ der Halweti-Derwische 42 be- 40 Die Wiedergeburt des Melchior Dronte, a. a. O., S. 281. 41 Auch K.H. Strobl schildert in „Der Kopf“ (1899, wiederabgedruckt u.a. in Phantastisches Österreich, hrsg. von Jean Gyory, Wien-Hamburg: Paul Zsolnay Verlag 1976) die Eindrücke und Gedanken einer Seele, die den Körper nach der Hinrichtung verlässt, die aber von wilden Rachegelüsten erfüllt ist, während Melchior Dronte bewusst an Läuterung und Reinkarnation auf einer reineren Stufe der menschlichen Existenz denkt. 42 Die der Legende nach von Ömer Halweti aus Täbris gegründete sufische, dem Asketismus und weltabgewandtem Leben zugeneigte Halweti-Sekte entstand nach dem 14. <?page no="231"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 231 treten, das er nie mehr verlassen hat, herausgekommen ist nach einiger Zeit ein schöner Derwisch mit einem kleinen Bart und einer braunen Kutte. Das letzte Stadium von Drontes Weg ist die Metamorphose in ein höheres Wesen. Auf Befragen antworten die Einheimischen nur mit „syrr“ (Geheimnis) und „Dejischtirme! “ (Umtausch, Transformation, eine „Verwandlung bei lebendes Leib“, S. 425). E.F. Bleiler nennt die Rahmenhandlung einen „unnecessary let-down“ (S. 94), und die Vorzüge des Romans liegen in erster Linie auch in den vielfältigen, detailreich geschilderten historischen Situationen, in die ungemein geschickt das okkulte Gedankengut mit seinem Reichtum an Geisterspuk, Vorahnungen, Voraussagen, Fernwirkungen, Materialisationen, Hexensabbat, Teufelserscheinungen und übernatürlichen Schicksalsfügungen integriert ist, aber der Roman würde auch ohne das Okkulte funktionieren. Eine ähnliche Lebensreise, die reich an magischen Vorkommnissen ist, schildert später Rudolf Slawitschek in Hans Adam Löwenmacht (1939). Im Roman bezieht sich Dr. Hedrich auf Vorlesungen über psychische Phänomene bei einem Professor Schelder, die Hauptquelle Bussons dürfte der deutsche Parapsychologe Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) gewesen sein, den Busson mit großem Interesse las 43 , und der Roman greift auch auf die wohl meistverbreitete okkulte Erscheinung zurück, das Wahrsagen, und diese Wahrsagungen gehen auch in Erfüllung. In der Familie Bussons sollen echte Fälle von Vorahnungen vorgekommen sein. Vorauf besitzt auch die Gabe der Teleportation, denn er versteht es, einem Kameraden, der sonst sterben würde, das dringend benötigte Chinin aus einem fernen Militärdepot herbeizuschaffen. Aber das Okkulte ist bei Busson keinen so großen Raum ein wie etwa in Gustav Meyrinks Romanen oder bei Franz Spunda 44 , ist aber stärker ausgeprägt als in den historischen Romanen von Leo Perutz, deren wahrhaft phantastische Schicksalsfügungen ganz ohne das Rüstzeug des Okkulten auskommen. Zu Recht hält Marianne Wünsch fest: „Die okkultistischen Theorien sind der fantastischen Literatur der Zeit allenfalls ein Material, dessen sie sich mit beliebigen Transformationen, mit beliebigen Kombinationen, mit belie- Jahrhundert, breitete sich im Osmanischen Reich weit aus und war in Albanien nach den Bektaschi die am meisten verbreitete mohammedanische Sekte, im Kossovo die meistverbreitete Derwisch-Sekte überhaupt. Die verschiedenen Sekten lebten friedlich miteinander. Das vom Scheich Ali Pazari (1851-1615) gegründete Tekke war eines der wichtigsten in Albanien. Im kommunistischen Albanien verfolgt, wurde diese Glaubensrichtung 1990 neu gegründet. 43 Camille Peinlich berichtet, dass Bussons Witwe ihr gegenüber eine diesbezügliche Äußerung machte. A. a. O., S. 130. 44 Frank Rainer Scheck schreibt zu Recht: „Unverkennbar unterfüttert das Konzept der Seelenwanderung, grundlegend schon für Bussons Roman Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921), die phantastische Dimension der vorgestellten Erzählung - hier wie dort freilich ohne alle aufdringliche oder gar lehrhaft-okkultistische Insinuation.“ Scheck, a. a. O., S. 4. <?page no="232"?> Franz Rottensteiner 232 bigen Neuinventionen bedienen.“ 45 Das gilt besonders auch für Busson, der den Gedanken der Reinkarnation, den er Rückgriff auf okkulte Doktrin nach eigenem Gutdünken gestaltet, mit dem christlichen Gedanken des Lebens als Prüfung, der Lebensreise als Sinnsuche und der seelischen Höherentwicklung bis zur Erlösung sowie einer orientalischen Lichtgestalt verbindet und mit farbigen phantastischen Vorfällen aus dem Volksglauben wie der Literatur anreichert, was zusammen ein farbiges Panorama des Lebens im 18. Jahrhundert ergibt, und so ein zeitloses Werk der phantastischen Literatur geschaffen hat, das aus einem Guss ist wie Leo Perutz’ Der Marques von Bolibar. Literatur: Primärliteratur: Arme Gespenster. Historische Novellen. (München: Albert Langen 1909 148 S.). Aschermittwoch. Novelletten. München: Albert Langen 1903 115 S. (Kleine Bibliothek Langen Band 57). Aus der Jugendzeit. Erinnerungen und Träume aus alten Tagen. München: Albert Langen 1920, 196 S. F.A.E. Ein deutscher Roman. Wien, Berlin: Wiener literarische Anstalt 1920, 400 S. Die Feuerbutze. Wien: Rikola-Verlag 1923 436 S. u.d. Titel Feuer auf den Gletschern. Roman aus der Zeit der Tiroler Freiheitskämpfe von 1809. Wien, Leipzig: Speidel 12.-14. Auflage 1931, 411 S. Der Schuß im Hexenmoos/ Der Lockruf/ König Kaspar (Wien: Verlag Steyrermühl 1923 48 S. [Tagblatt-Bibliothek Nr. 16], 9.-11. Tsd. 1925). Zuletzt abgedruckt in Ingeborg Vetter, Das Erbe der „Schwarzen Romantik in der deutschen Décadence. Studien zur „Horrorgeschichte“ um 1900. Passau: Erster Deutscher Fantasy Club e.V. 2004, S. 99-113 (Sekundärliterarische Reihe Band 51, Fantasia 178). Seltsame Geschichten. Graz, Wien Leipzig: Jos. A. Kienreich 1919 246 S. (Bücherei österreichischer Schriftsteller, Band 3). Die Wiedergeburt des Melchior Dronte. Der Roman einer Seelenwanderung. Wien, Berlin, Leipzig, München: Rikola-Verlag 1921, 426 S. Sekundärliteratur: Robert N. Bloch, „Paul Busson“, in: Joachim Körber, Hrsg., Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur (Meitingen: Corian-Verlag 18. Erg.Lfg. Juni 1989) 4 S. + 18 S. Bibliographie. Robert N. Bloch, „Paul Busson, Seltsame Geschichten”, in: Franz Rottensteiner und Michael Koseler, Hrsg. Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur. Meitingen: Corian-Verlag 32. Erg.Lfg. Januar 2001 4 S. E. F. Bleiler, The Guide to Supernatural Fiction. Kent, OH: Kent State University Press 1983, S. 93-94. E.F. Bleiler, Introduction to Paul Busson”, in: Gustav Meyrink, The Golem; Paul Busson, The Man Who was Born Again. Two German Supernatural Novels. Edited 45 Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, a.a.O., S. 180. <?page no="233"?> Die „Seelenwanderungen“ des Paul Busson 233 with a new introduction by E.F. Bleiler. New York: Dover Publications, Inc. 1976, S. xviii-xxiv. Hermann T. Hierl, Die Konstruktion der Identität in der deutschsprachigen phantastischen Literatur des Fin de Siècle. Diss. Univ. Wien 2002, S. 123-140. Ada Koellner-Ther, Paul Busson als Erzähler. Diss. Univ. Wien 1941. 150 S. Ralph Marko, Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte. Seminararbeit WS 2004/ 2005 Philosophische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medien. Kamilla Peinlich, Paul Busson. Eine Monographie. Diss. Univ. Wien 1932. 164 S. Franz Rottensteiner, „Paul Busson, F.A.E. Ein deutscher Roman“, in: Franz Rottensteiner und Michael Koseler, Hrsg., Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur. Meitingen: Corian Verlag 36. Erg.Lfg. August 2002, 5 S. Nessun Sapra, Lexikon der deutschen Science Fiction & Fantasy 1919-1932 (Oberhaid: Utopica 2007), S. 58-9. Frank Rainer Scheck, „Paul Busson, Der Schuß im Hexenmoos“, in: Franz Rottensteiner und Michael Koseler, Hrsg., Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur. Meitingen: Corian-Verlag, 13. Ergänzungslieferung Januar 1994, 4 S. Christian Stiegler, Vergessene Bestie. Der Werwolf in der deutschen Literatur. Wien: Braumüller 2007, 171 S. Ingeborg Vetter, Ingeborg Vetter, Das Erbe der „Schwarzen Romantik in der deutschen Décadence. Studien zur „Horrorgeschichte“ um 1900. Passau: Erster Deutscher Fantasy Club e.V. 2004, S. 99-113, (Sekundärliterarische Reihe Band 51, Fantasia 178). Ursprünglich Diss. Universität Graz 1976. Marianne Wünsch, „Das Modell der «Wiedergeburt» zu «neuem Leben» in erzählender Literatur 1890-1930“. In Karl Richter und Jörg Schönert, Hrsg., Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess (Walter Müller Seidel zum 65. Geburtstag). Stuttgart: Metzler 1983, S. 379-408. <?page no="235"?> Angela Reinthal „Alchemie des Poeten“ John Dee (1527-1608) in Gustav Meyrinks Roman „Der Engel vom westlichen Fenster“ (1927) 1 Im Mittelpunkt von Meyrinks letztem Roman Der Engel vom westlichen Fenster 2 steht der frühneuzeitliche Philosoph, Mathematiker, Naturforscher, Astronom und Alchemiker John Dee, einer der bedeutendsten Gelehrten des Elisabethanischen England. Zwei Zeit- und Raumebenen − England und Böhmen des 16. Jahrhunderts bzw. Wien zur Zeit Meyrinks − werden im Roman zunächst nebeneinander gestaltet, überschneiden sich dann, werden durch vielfältige Verweise und Bezüge ineinander verwoben und verschmelzen letztlich miteinander. Dee, „Adept der wahren Alchemie”, strebt nach dem ewigen Leben und scheitert − vorerst. Sein Nachlass wird vom letzten Erben des Geschlechts, Baron Müller, dem Ich-Erzähler des Romans, aufgearbeitet. Diese Tätigkeit setzt eine Reihe zunächst unerklärlich scheinender Phänomene in Gang. Die Handlung kulminiert in der Aufnahme des mittlerweile mit John Dee identisch gewordenen Baron Müller in die „Bruderschaft von der Goldenen Rose“, einem Bund von „Laboranten des ewigen Lebens”, so dass der angestrebte alchemische Wandlungsprozess des sterblichen Menschen in das „Unsterbliche” schließlich doch noch gelingt. Die alchemische materia, um die es geht, ist die menschliche Seele. 3 Seine Spannung bezieht der Roman vor allem aus dem für Meyrinks Werke typischen polaren Verhältnis zwischen „guten” und „bösen” Mächten. Dem Adepten begegnen mannigfache Gefahren, es stehen ihm aber auch einige Helfer zur Seite. Die intellektuelle Aktivität des Lesers wird herausge- 1 Leicht überarbeitete Version aus: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der frühen Neuzeit. Festgabe für Joachim Telle zum 60. Geburtstag. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, S. 221-239. Ich danke den Herausgebern sowie dem Verlag für die freundliche Erlaubnis, den Aufsatz wieder abdrucken zu dürfen, außerdem Prof. Dr. Joachim Telle für Ergänzungen und Annette Ziegler für technische Hilfe. 2 Für freundliche Unterstützung bei der Abfassung dieses Beitrags danke ich Gabi Einsele, Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Erik Leibenguth, Barbara Potthast, Robert Seidel und Corinna Watier. − Gustav Meyrink: Der Engel vom westlichen Fenster. München 1984 (= Knaur-Taschenbuch Bd. 4125). Der Roman wird im Folgenden nach dieser Taschenbuchausgabe, die auf den Erstdruck Leipzig 1927 zurückgreift, im Haupttext mit dem Kürzel M und der Seitenzahl in Klammern zitiert. 3 Vgl. David Meakin: Hermetic Fictions. Alchemy and Irony in the Novel. Staffordshire 1995, S. 141. <?page no="236"?> Angela Reinthal 236 fordert durch die modifizierte Wiederholung der Figurenkonstellation, in deren Mitte im 16. Jahrhundert John Dee stand und die sich um Baron Müller erneut, jedoch mit einigen Abwandlungen, konstituiert. So erscheinen beispielsweise Dees Laborant Robert Gard(e)ner als Müllers Freund Theodor Gärtner bzw. als Laborant des ewigen Lebens, und Dees zweite Frau, Jane Fromond, als Müllers Haushälterin Johanna Fromm wieder. Für das Gelingen des alchemischen Experiments spielen sie eine entscheidende Rolle. Eine erschöpfende Inhaltswiedergabe dieses Roman-Kosmos mit seinem dicht gesponnenen Figurennetz würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. Der Blick richtet sich im Folgenden auf die poetische Präsentation John Dees in Meyrinks Roman. 4 In der einschlägigen Forschung hat das Werk zwar bereits Beachtung gefunden, 5 und auch die Rolle Dees wurde zusammenfassend beschrieben. 6 Soweit ich sehe, beschäftigte sich aber bisher nur Eduard Franks 7 kleine Studie mit der Frage, aus welchen Quellen Meyrink seine Kenntnisse über den hist. Dee (im Folgenden: hist. Dee) bezog, und − darüber hinaus − wie Meyrink sich zur historischen Überlieferung verhält. Bisher kaum Beachtung fand Meyrinks Rezeption frühneuzeitlicher Werke. Der vorliegende Beitrag macht sich zur Aufgabe, anhand einlässlicher Betrachtung ausgewählter Textpassagen den kompositorischen Prinzipien und der erzählerischen Strategie Meyrinks, die seinen Umgang mit den Quellen beeinflussten, genauer nachzugehen. Darüber hinaus sollen Wege für eine umfassende Analyse des Romans angedeutet werden. 4 Für die folgende Darstellung sind Vereinfachungen des Handlungs- und Personengeflechts bzw. die Isolation einzelner Motive unumgänglich. Der Roman bietet ausreichend Materialfülle für eine umfassende Untersuchung, die aber bisher, soweit ich sehe, noch nicht geleistet worden ist. 5 Vgl. Florian F. Marzin: Okkultismus und Phantastik in den Romanen Gustav Meyrinks. Essen 1986 (= Germanistik in der Blauen Eule; Bd. 6), spez. S. 101-122; außerdem Meakin (wie Anm. 3), spez. S. 138-150, 207. Weitere Literaturhinweise bei Evelin Aster: Personalbibliographie von Gustav Meyrink. Bern etc. 1980 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe l, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 355), s. v. (Register). Hinzuweisen ist darüber hinaus auf das ausführliche Nachwort von Marianne Wünsch: Auf der Suche nach der verlorenen Wirklichkeit. Zur Logik einer fantastischen Welt. In: Meyrink (wie Anm. 2), S. 528-568. Vgl. nun auch Christine Maillard: Die „mythologisch apperzipierende Wissenschaft“. Alchemie in Theorie und Literatur (1890-1935): Das sonderbar anhaltende Fortleben einer „unzeitgemäßen“ Wissenschaft. In: Christine Maillard, Michael Titzmann (Hg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935. Stuttgart, Weimar 2002, S. 165-191, spez. S. 178-180, 183-185. 6 Vgl. Frans Smit: Gustav Meyrink. Auf der Suche nach dem Übersinnlichen. München 1990. (= Knaur-Taschenbuch Bd. 2396), spez. S. 241-259; außerdem Florian F. Marzin: Die Beurteilung Gustav Meyrinks in der Literatur. 1. Teil. In: Quarber Merkur 59 (August 1983), S. 8-31 bzw. ders.: Die Romane Gustav Meyrinks. 2. Teil: Der Weg nach innen. In: Quarber Merkur 60 (Dezember 1983), S. 3-23, hier spez. Teil 2, S. 14-20. 7 Eduard Frank: John Dee und Gustav Meyrinks „Engel vom westlichen Fenster“. In: Neue Wissenschaft. Zeitschrift für Parapsychologie 6 (1956/ 57), Heft 8/ 9, S. 272-278. <?page no="237"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 237 In Meyrinks Kommentar zu seinem Roman Der Engel vom westlichen Fenster steht zu lesen: 8 Sir John Dee of Gladhill! Ein Name, den wohl wenige in ihrem Leben gehört haben! Als ich vor ungefähr 25 Jahren seine Lebensgeschichte las - ein Schicksal, so abenteuerlich, phantastisch, ergreifend und furchtbar, daß ich kein ähnliches ihm an die Seite zu stellen wüßte, da fraß sich in mein Gemüt das Gelesene so tief ein, daß ich bisweilen des Nachts hinaufwanderte in die Alchemistengasse Prags auf dem Hradschin als junger Mensch und mich in die romantische Idee hineinträumte, aus einer der verfallenen Türchen des einen oder anderen der kaum mannshohen Häuser könnte mir John Dee leibhaftig entgegentreten in die mondscheinnasse Gasse, mich anreden und mich verwickeln in ein Gespräch über die Geheimnisse der Alchemie; nicht jener Alchemie, die das Rätsel ergründen will, wie aus unedlem Metall Gold gemacht wird, sondern jene verborgene Kunst, wie der Mensch selbst zu verwandeln sei aus Sterblichem in ein Wesen, das das Bewußtsein seiner selbst nimmermehr verliert. […] Was wir von Dees Schicksalen wissen, ist ergreifend genug in den dürren überlieferten Tatsachen, wie ergreifender erst müssen die Erlebnisse gewesen sein, die er hatte und von denen wir nicht wissen! Bei der hier erwähnten Lebensgeschichte John Dees handelt es sich um Carl Kiesewetters 1893 erschienene Studie, 9 auf die Meyrink durch Friedrich Alfred Schmid Noerr aufmerksam gemacht wurde. 10 John Dees Tagebuch, auf das Kiesewetter sich immer wieder beruft, dürfte Meyrink wohl nur auf diesem Weg bekannt geworden sein. 11 Dies gilt auch für die von Casaubon 8 Gustav Meyrink: Mein neuer Roman. In: Der Bücherwurm. Monatsschrift für Bücherfreunde, Leipzig 1927, Heft 8, S. 236-238. Wieder in: ders.: Der Engel vom westlichen Fenster (wie Anm. 2), S. 525-527, das Zitat S. 525 bzw. 527. 9 John Dee[,] ein Spiritist des 16. Jahrhunderts. Kulturgeschichtliche Studie von Carl Kiesewetter. Mit dem Protokoll der ältesten bekannten spiritistischen Sitzung vom 28. Mai 1583 und den noch nicht veröffentlichten Portraits von Dr. John Dee und Edward Kelley. Leipzig 1893. Das Buch wird im Folgenden im Haupttext zitiert mit Kürzel K und der Seitenzahl in Klammern. − Meyrinks Rezeption der Studie schlug sich im Titel der Neuausgabe nieder: Karl Kiesewetter: John Dee und der Engel vom westlichen Fenster. Korrigierte Fassung der Ausgabe Leipzig 1893 herausgegeben und eingeleitet von Michael Kuper. Berlin 1993. Das Nachwort von Adam Schwarz: Der Engel vom westlichen Fenster, ebd., S. 122-133, enthält keine für die literaturwissenschaftliche Interpretation von Meyrinks Roman relevanten Informationen. Im Vorspann der Ausgabe, S. 7-53, referiert Michael Kuper u. a. das literarische Nachleben Dees; hier, S. 43-45, auch knappe Bemerkungen zu Meyrink, die im Folgenden unberücksichtigt bleiben können. 10 Vgl. Smit (wie Anm. 6), S. 246. Gero von Wilpert rechnet den Roman „Der Engel vom westlichen Fenster“ den Werken Schmid Noerrs zu; vgl. Gero von Wilpert: Deutsches Dichterlexikon. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literaturgeschichte. Dritte, erweiterte Auflage Stuttgart 1988 (= Kröners Taschenausgabe; Bd. 288), S. 709. Zur Frage der (Mit-)Verfasserschaft Schmid Noerrs hat Smit, S. 241-246, das Nötige ausgeführt. Diese Diskussion wird hier nicht weiter berücksichtigt. 11 The Private Diary of Dr. John Dee, and the Catalogue of his library of manuscripts. From the original manuscripts in the Ashmolean Museum at Oxford, and Trinity College Library, Cambridge. Edited by James Orchard Halliwell. London 1842. Bei Kiesewetter (wie Anm. 9), S. 9, findet sich die falsche Jahreszahl 1852. <?page no="238"?> Angela Reinthal 238 überlieferten Protokolle von Dees „Engelsgesprächen”, 12 was sich daran ablesen lässt, dass die Engelsbeschwörungen im Roman auf Passagen bei Kiesewetter zurückzuführen sind. Meyrink verfügte über diese frühneuzeitlichen Quellen wohl nur mittelbar. Vor allem für diejenigen Romanpassagen, die sich auf der Zeitebene des 16. Jahrhunderts abspielen, stellte Kiesewetters Werk die Hauptquelle für Meyrink dar. Darüber hinaus flicht Meyrink völlig unabhängig von Kiesewetter seine Kenntnisse okkulter Geheimlehren und hermetischer Traditionen sowie „eigene Realisierungserlebnisse“ 13 in den Roman ein. Beispielsweise inszeniert er eine Begegnung Dees mit Rabbi Löw (1520-1609) in Prag. Der hist. Dee kam im August 1584 in Prag an, hätte also dem Rabbi durchaus begegnen können. 14 Aber weder Kiesewetter noch Dees Private Diary verzeichnen ein solches Zusammentreffen. Schließlich: Da der Erlösungsweg des auserwählten Adepten im Roman zur »Bruderschaft der Goldenen Rose« führt und John Dee die „Chymische Hochzeit“ mit seiner Königin Elisabeth (1533-1603; reg. seit 1558) erstrebt, wird der Blick auf eine der drei Grundurkunden der Rosenkreuzer gelenkt: Johann Valentin Andreaes (1586-1654) Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459 […], zuerst gedruckt in Straßburg 1616. 15 Aus Kiesewetters Buch geht über eine mögliche Verbindung Dees mit den Rosenkreuzern nichts hervor. Meyrink verfügte auf diesem Gebiet weit über Kiesewetter hinaus über historische Quellenkenntnisse, die ihm wohl durch zeitgenössische Abdrucke in Zeitschriften vermittelt wurden und die sich in seinem Roman niedergeschlagen haben. Das Verhältnis Meyrinks zur Bruderschaft der Rosenkreuzer wird später eingehender beleuchtet werden. 16 12 Meric Casaubon: True and faithful Relation of what passed for many yeares between Dr. John Dee and some spirits […]. London 1659. 13 Frank (wie Anm. 7), S. 276. Zur Frage nach einem autobiographischen Bezug des Romans, der von Meyrink selbst hergestellt wird (vgl. Meyrink: Mein neuer Roman [wie Anm. 8], S. 526: »Ob ich selbst jener Lebende [Baron Müller] bin? Ich könnte bejahen und könnte auch verneinen.«), vgl. auch Smit (wie Anm. 6), S. 254f. 14 Auch Yates hält eine Begegnung für möglich; vgl. Frances A. Yates: Die okkulte Philosophie im elisabethanischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Adelheid Falbe. Amsterdam 1991 (zuerst engl. 1979), S. 101. 15 Die drei Gründungsschriften der Rosenkreuzer sind versammelt in: Johann Valentin Andreae: Fama Fraternitatis (1614). Confessio Fraternitatis (1615). Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459 (1616). Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen. Stuttgart 1973 (= Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, Band 6). Vgl. zusammenfassend zum Stand der Forschung den Artikel von Wilhelm Kühlmann: Rosenkreutzer. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. XXIX. Berlin/ New York 1998, S. 407-413; außerdem Roland Edighoffer: Die Rosenkreuzer. München 1995 (= Beck’sche Reihe; Bd. 2023: C. H. Beck Wissen). 16 Die Alchemie Meyrinks wurde nun erstmals genauer konturiert von Joachim Telle: Dichter als Alchemiker. Vier Briefe von Gustav Meyrink an Alexander von Bernus. In: Fenster zur Welt: Deutsch als Fremdsprachenphilologie. Festschrift für Friedrich Strack zum 65. Geburtstag von seinen Freunden und Kollegen. Hg. von Hans-Günther Schwarz, Christiane von Stutterheim und Franz Loquai. München 2004, S. 357-379. <?page no="239"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 239 Nach einem knappen Referat des Werks von Kiesewetter resümiert Eduard Frank: 17 Das ist in grossen Umrissen der äussere Lebensweg Dees und Kelleys, dem Kiesewetter sehr genau und gründlich nachgegangen ist. Für uns aber ist wesentlich wichtiger, was Gustav Meyrink aus diesem historischen Vorwurf gemacht hat. Beim Vergleichen finden wir, dass er die Arbeit Kiesewetters gut gekannt hat. Hält man aber sein Buch als Ganzes neben die Studie Kiesewetters, dann hat man den Eindruck, als ob eine esoterische neben einer exoterischen Biographie stünde. Die eine geht den äusseren Stationen eines Geschehnisablaufs nach, die andere zeichnet die innere Wahrscheinlichkeit auf. Diesen Unterschied macht auch Meyrink in der bereits zitierten Passage, wenn er von „dürren überlieferten Tatsachen“, also der „exoterischen Biographie“, spricht und ihnen Dees „Erlebnisse, die er hatte und von denen wir nicht wissen“, also die „esoterische […] Biographie“ oder „innere Wahrscheinlichkeit“, gegenüberstellt. Getreu dem Aristotelischen Diktum, dass es Aufgabe des Dichters sei, mitzuteilen, was geschehen könnte, also das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche, 18 entwickelt Meyrink im Roman eine innere Biographie des John Dee. Hierbei lassen sich bestimmte Erzählstrategien beobachten, die nach dem Grad der Fiktionalisierung gegliedert werden können. Auf der untersten Stufe stehen − zum Teil wörtliche − Übernahmen Meyrinks aus Kiesewetters Buch, worauf Frank bereits hingewiesen hat. 19 Einen höheren Stellenwert haben Bearbeitungen, Raffungen, Umstellungen der Kiesewetterschen Vorlage. Hier wird nach dem sich dahinter verbergenden Kompositionsprinzip genauer zu fragen sein. Auf der höchsten Ebene der Fiktionalisierung ist die esoterische Botschaft des Romans anzusiedeln. Für bestimmte Strömungen innerhalb der Meyrinkforschung ist diese Ebene die einzig relevante. Franks Fazit lautet: 20 […] vergleicht man die historisch belegten Ereignisse und Szenen aus dem Leben John Dees mit den von Meyrink in tieferem Sinne „erfundenen“, dann gewinnt man immer mehr den Eindruck, dass das dokumentarisch Belegbare durchaus nicht das Entscheidende ist. Zwar hätte sich mit dem Stoff der Fabel leicht ein historischer Roman um das Leben dieses englischen Alchemisten bauen lassen, denn Material liegt genügend vor. Doch das, was Meyrink schuf, hat seinen Wert zuallerletzt im rein Historischen (so eng er ihm auch da und dort folgen mag), sondern im Visionär-Transzendenten. Damit ist aber der eigentliche Standort des „Engels vom westlichen Fenster“ unmissverständlich sichtbar geworden. 17 Frank (wie Anm. 7), S. 274. 18 Auch für Baron Müller stand eine historische Person Pate, nämlich der Hamburger Hermeticus Alfred Müller-Edler (Smit [wie Anm. 6], S. 246). Die gattungstypologische Frage, ob „Der Engel vom westlichen Fenster“ als historischer Roman gelesen werden kann, wäre Gegenstand einer eigenen Abhandlung. 19 Frank (wie Anm. 7), S. 276. 20 Ebd., S. 277f. <?page no="240"?> Angela Reinthal 240 Für diese „esoterische” Lesart plädiert auch Smit, wenn er empfiehlt, „man sollte […] das Buch für sich selbst sprechen lassen und es als Kraftquelle benutzen, statt als Probierstein für den analytischen Verstand“. 21 Wider diesen Rat wird Der Engel vom westlichen Fenster in diesem Beitrag als literarisches Werk von bemerkenswerter ästhetischer Qualität betrachtet, einer Qualität, die im übrigen auch Smit anerkennt, der diesen Roman im Blick auf „Komposition, Spannungsaufbau und Wahl der Motive“ für Meyrinks „bestes Werk“ hält. 22 Eher für den fiktiven als für den historischen John Dee zeitigt seine Verbindung mit dem betrügerischen Edward Kelley (1555 oder 1561 - bald nach 1597) verhängnisvolle Auswirkungen. Im Interesse der konflikthaften Zuspitzung der Handlung hat Meyrink verschiedene überlieferte Tatsachen so konzentriert, dass Dee fast ausschließlich von Kelley abhängig wird, ja, der Engel verlangt, Dee solle sich Kelley bedingungslos unterwerfen (M, S. 237). Die Konstellation sei anhand der ersten Engelsbeschwörung skizziert. Der historische Dee interessierte sich bereits in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts für Engelsmagie, begann aber erst in den 80er Jahren mit ihrer praktischen Ausübung. 23 Die erhaltenen Tagebücher und Protokolle der „Gespräche” mit den Engeln umfassen den Zeitraum von 1555 bis 1607 (K, S. 5). Für die Engelsbeschwörung benutzte der hist. Dee die Steganographia des Johannes Trithemius (1462-1516), die zwar erst 1606 gedruckt wurde, aber in Abschriften bereits vorher in Umlauf war. Es gelang Dee, 1563 in Antwerpen eine Kopie der Steganographia zu erwerben. 24 Trithemius’ Schrift enthält detaillierte Anweisungen zur Anrufung der Engel. 25 Im Roman verfügt allein Kelley über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten; ihm ist der Engel erschienen, der versprach, ihnen − Kelley und Dee − „das Geheimniß der Bereitung des Steins zu offenbaren“ (M, S. 227). „Der Engel, so sagte er [Kelley], habe ihm kund getan, die Zeit sei gekommen, da ich [Dee] eingeweiht werden solle und das letzte Geheimniß erfahren“ (M, S. 227). Woher Kelley sein Wissen bezieht, wird nicht weiter ausgeführt. An keiner Stelle erwähnt Meyrink Trithemius. Bei Kiesewetter ist nur einmal von ihm die Rede: Als sich bei einer Sitzung ein weiblicher Geist für einen Engel ausgibt, entgegnet Dee, „daß nach Trithemius die Engel nur in männlicher Gestalt erschienen“ (K, S. 39); ein Hinweis auf die Steganographia findet sich aber auch hier nicht. Nicht nur aufgrund des zitierten Hinweises hätte Meyrink eine Verbindung zwischen Dee, Kelley, Trithemius und der Engelsbeschwörung herstel- 21 Smit (wie Anm. 6), S. 257. 22 Ebd., S. 241. 23 Peter J. French: John Dee. The World of an Elizabethan Magus. London 1972, S. 36, 110. 24 Ebd., S. 36. 25 Ebd., S. 36f. <?page no="241"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 241 len können: Kiesewetter druckt zwei „noch nicht veröffentlichte Portraits“ von Dee und Kelley, wobei die Behauptung, die Bilder seien unpubliziert, nicht korrekt ist. Die Portraits stammen vom Frontispiz des 1659 in London erschienenen, von Meric Casaubon (1599-1671) herausgegebenen Sammelbandes, der unter anderem Dees Tagebuch über die magischen Operationen vom 28.5.1583 bis 7.9.1607 enthält. 26 Auf dem Frontispiz finden sich Mahomed, Apollonius von Tyana, Roger Bacon, Paracelsus, Edward Kelley und John Dee. 27 Das Dee-Portrait ist bei Kiesewetter ebenfalls als Frontispiz [S. 2] wiedergegeben, das Kelley-Porträt ist hier auf Seite 24 abgedruckt. Auf diesem Bild hält Kelley ein aufgeschlagenes Buch in Händen, auf dessen einer Seite deutlich der Name „Trithemius“ lesbar ist − weder Kiesewetter noch Meyrink haben dem eine Bedeutung beigemessen; ob aus Unkenntnis oder im Interesse der Erzählstrategie muss dahingestellt bleiben. Das Dee-Portrait erscheint bei Meyrink am Ende des Romans als „Elfenbeinminiatüre“ innerhalb eines fiktiven Zeitungsartikels, der vom Brand des Hauses von Baron Müller berichtet, bei dem nur das Bild übrig blieb (M, S. 519-523). Meyrink verwendet hier den beispielsweise auch von E. T. A. Hoffmann eingesetzten Kunstgriff der sich selbst beglaubigenden Fiktion. Der Realitätsanspruch des Zeitungstexts, der auf den hist. Dee verweist (M, S. 522), und der auf Casaubon zurückgehenden Abbildung (M, S. 523) strahlt rückwirkend auf den gesamten Roman aus und gibt ihm den Anschein von Wahrscheinlichkeit. 28 Der historische Dee erwähnt Kelley in seinem Private Diary zuerst unter dem Datum vom 22.11.1582 (so auch K, S. 21). Bereits vorher hatte Dee, ohne Kelley, seit dem 22.12.1581 29 spiritistische Sitzungen mit Engelsgesprächen durchgeführt. Für den 8.3. sowie den 3. und 4.8.1579 vermerkt Dees Tagebuch zum Teil heftige Klopfgeräusche. Im Roman findet die erste Engelsbeschwörung in der Nacht vom 21. auf den 22.11.1582 statt, nachdem Kelley von Dee in seinem Haus aufgenommen wurde. Die Vorbereitungen zur Engelsbeschwörung werden nach Kelleys Anordnungen getroffen, so z. B. die Herstellung eines besonderen Tisches, dessen Beschreibung im Roman (M, S. 228) auffällig von jener bei Kiesewetter (K, S. 23) abweicht. 30 Dee war also, so suggeriert es der Roman, vor Kelleys Ankunft zu einer Engelsbeschwörung gar nicht in der Lage, denn diese findet eben erst im zeitlichen Zusammenhang mit Kelleys Ankunft statt, und Kelley hatte schon vorher Erscheinungen des grünen Engels, Dee aber eben nicht. Dass Meyrink die historische Vorlage auf die Konstellation zwischen Dee und Kelley konzentriert, zeigt sich auch daran, dass Dee im Roman erst nach Kelleys Ankunft Klopfgeräusche wahrnimmt − wobei Dee den warnen- 26 Casaubon (wie Anm. 12); vgl. Kiesewetter (wie Anm. 9), S. 8. 27 Abbildung bei French (wie Anm. 23), S. 134; vgl. auch Kiesewetter (wie Anm. 9), S. 8. 28 Anders Meakin (wie Anm. 3), S. 143. 29 French (wie Anm. 23), S. 36. 30 Es ist mir nicht gelungen, eine Begründung hierfür zu finden. <?page no="242"?> Angela Reinthal 242 den Charakter dieses Vorzeichens wie auch vieler anderer verdrängt, während zugleich die Anspannung des Lesers gesteigert wird. Gerade anhand der Szene, in der die Beschwörung des Engels vom westlichen Fenster − einer der Höhepunkte des Romans − geschildert wird (M, S. 228-239), lässt sich verfolgen, wie Meyrink die Anregungen, die er durch Kiesewetters Buch empfing, verarbeitet hat. In diese einzelne Romanszene fließen mehrere spiritistische Sitzungen des hist. Dee ein, aus dessen Protokollen Kiesewetter ausführlich zitiert. Dies beginnt mit der Bezeichnung des Engels. Zur Sitzung Dees vom 24.4.1587[? ] heißt es bei Kiesewetter (K, S. 73): Als Dee am 24. April eine Sitzung abhielt, erschien zuerst eine Flamme in dem großen Krystall; ein plötzlicher Windzug schien von dem südlichen Fenster [! ] herzukommen, und ein „geistiges Wesen“ hob den Krystall erst eine Hand breit, dann hoch in die Höhe, daß er ihren Augen entschwand. Diese Passage hat Meyrink möglicherweise zu dem Beinamen des Engels „vom westlichen Fenster“ angeregt. Der Name macht unmissverständlich klar, dass es sich bei dem Engel um ein Wesen handelt, das dem Bereich des Dämonischen zuzurechnen ist. Der Westen, die Sonnenuntergangsseite, ist der Ort von Finsternis, Kälte, Tod, aus dem Westen kommen die Dämonen. 31 Kälte ist auch eine Eigenschaft des Engels bei Meyrink: „Kälte, daß mir die Finger erstarrten, ging von dem Engel auf mich aus“ (M, S. 237). Vor der Erscheinung des Engels materialisiert sich im Roman aber erst noch ein anderes Wesen: Madini. Dieses kleine Mädchen steht im Mittelpunkt des historischen Protokolls der Sitzung vom 28.5.1583, das Kiesewetter vollständig wiedergibt (K, S. 33-38). Meyrink hat die Beschreibung des Mädchens fast wörtlich von Kiesewetter übernommen. 32 Aus dem überlieferten Gespräch Madinis mit den Sitzungsteilnehmern erscheint aber nur ein einziger Satz im Roman. 33 Madini war an fast allen Sitzungen des historischen Dee beteiligt, und dieser war von ihr so angetan, dass er seine Tochter am 5.3.1590 auf den Namen „Madinia“ taufen ließ (K, S. 35). Bei Meyrink erscheint Madini nur dieses eine Mal, und ein Teilnehmer der Sitzung, Talbot, 34 glaubt in ihr sein bald nach der Geburt gestorbenes Kind wiederzuerkennen. Im Roman stellt Dee daraufhin eine Überlegung an, die für den Leser wichtige Fingerzeige zum Verständnis des weiteren Geschehens gibt (M, S. 234): „Ob es nicht ein Bild ist, tief in seinem [Talbots] Innern, das da gespiegelt ist in die Luft hinein, das sich losgelöst hat irgendwie und uns jetzt sichtbar er- 31 Wörterbuch der Symbolik. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler herausgegeben von Manfred Lurker. Fünfte, durchgesehene und erweiterte Auflage Stuttgart 1991 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 464), S. 310 (s. v. Himmelsrichtungen). 32 So auch Frank (wie Anm. 7), S. 276. 33 Vgl. ebd., S. 276. 34 Auch Talbot hat ein historisches Vorbild gleichen Namens; vgl. Kiesewetter (wie Anm. 9), S. 20. <?page no="243"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 243 scheint? “ Unmittelbar darauf manifestiert sich der Engel in einem fahlgrünen Glanz. Auf die Frage, wer er sei, lautet die Antwort (M, S. 235): „Il bin ich, der Bote vom westlichen Tor.“ Für Dee klingt die Stimme des Engels, „als sei sie ein Echo tief aus meiner eigenen Brust“ (M, S. 235). Dem aufmerksamen Leser wird der Verdacht kommen, der am Ende des Romans bestätigt wird: Der Engel ist ein Phantom, eine Projektion des eigenen Innern, „ein Echo, sonst nichts! “ (M, S. 514). So wie Madini eine Projektion Talbots ist, so ist der Engel das Spiegelbild der Wünsche, Hoffnungen und Ängste, die Kelley und Dee bewegen. Dee wird in seinem Vertrauen, das er trotz allem in den Engel setzt, scheitern, der Warnung seines Laboranten Gardener entsprechend (M, S. 226 f.): […] es sei vergeblich und gefährlich Bemühen, den Stein der Unsterblichkeit chymisch herzustellen, wenn der geheimnisvolle Weg der geistigen Wiedergeburt nicht vorher vollendet sei, auf den die Bibel in verhüllten Worten anspielt. Diesen Weg solle ich [Dee] vorher ergründen und wandeln, sonst fiele ich von einer Grube in die andere und von einem Leid ins andere, als ob ein Irrlicht mein Führer wäre. Auf dieses Stichwort hin berichtet Kelley von seinen Erscheinungen des grünen Engels (M, S. 227). Damit ist der Irrweg Dees im Roman vorgezeichnet. Da der grüne Engel „die Summe der Fragen, des Wissens und des magischen Könnens, das verborgen in euch [v. a. Dee und Kelley] gewohnt hat und von dem ihr nicht ahntet, daß es euer war” (M, S. 514) ist, erscheint im Roman konsequenterweise auch immer dasselbe Wesen, während der historische Dee nach den Protokollen bei Kiesewetter mit den verschiedensten Engeln kommunizierte. Im Roman stand für Dee hinter dem Engel Bartlett Green (M, S. 514). Ebenso wie Robert Gardener wird auch der historische Bartlett Green bei Kiesewetter nur knapp erwähnt, während Meyrink für das Romangeschehen wichtige Figuren aus ihnen formt. Green war während Dees Inhaftierung dessen Zellengenosse und wurde als Ketzer verbrannt (K, S. 13). Auf die faszinierende Gestaltung Bartlett Greens bei Meyrink (v. a. S. 53-70 und S. 85- 110) zum Anhänger der bösen Mächte, die den Vollzug der chymischen Hochzeit hintertreiben wollen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Meakin verweist darauf, dass Green eine frühe bzw. überwundene Phase auf Dees Weg repräsentiert. 35 Er gehört in die Zeit, als Dees tumultreiches Leben von religiöser Konfusion und Reformationskonflikten geprägt war. Das gefährliche Stadium der Auflösung, von dem aus das alchemische Werk seinen Anfang nimmt, wird als nigredo bezeichnet. In den hermetischen Texten stehen die Krähe oder der Rabe als Symbol für die nigredo. Green ist im Roman Anführer einer Bande von Abtrünnigen, die sich „Ravenheads” nennen (M, S. 22 f.) und mit denen Dee sympathisierte. Noch ein anderes mit Green verbundenes alchemisches Symbol deutet darauf hin, dass Green ein falscher 35 Vgl. für den ganzen Abschnitt Meakin (wie Anm. 3), S. 140. <?page no="244"?> Angela Reinthal 244 Freund Dees ist: Als Geschenk der Isa s, der Repräsentantin der bösen Gegenkräfte im Roman, trägt Green den „silbernen Schuh”. Der „silberne Schuh” ist Aussatz, Lepra (M, S. 92), und Lepra ist das alchemische Symbol für die Unreinheit von Metallen. Festzuhalten bleibt, dass Meyrink möglicherweise aus dem Namen des Ketzers Green, dessen Begegnung mit Dee historisch verbürgt ist, die pejorative Besetzung der Farbe Grün abgeleitet hat. In diesem Roman deutet grün immer auf das Böse bzw. den Irrweg hin, während Meyrink beispielsweise in seinem Werk Das grüne Gesicht (1916) mit dieser Farbe das Positive verband. 36 Zu differenzieren ist Smits These, dass grün in „Grön-Land” positive Bedeutung habe. Der hist. Dee versuchte, das Besitzanrecht Königin Elisabeths an Grönland, Estland und Friesland nachzuweisen (K, S. 17). Im Roman plant Dee ebenfalls die Eroberung Grönlands und erhofft damit zugleich die Krone Englands (M, S. 33). Später ergibt sich, dass die Ausrichtung der Interessen auf das konkrete Grönland ein Irrtum war (M, S. 162). Komplementär zum Grün steht die Farbe der Bruderschaft, in die Dee im Roman schließlich aufgenommen wird: das Rot der Rosen, der Farbe des Lebens. Der grüne (! ) Engel trägt den Namen „Il“. Marianne Wünsch deutet dies wie folgt: 37 So ist „Il“, der grüne Engel, das gemeinschaftliche Produkt der unbewußten Kräfte derer, die ihn beschwören. Als „Er“ erscheint, was „Ich“ ist − ist es Zufall, daß „Il“ das französische Wort für „er“ ist? Diese Beobachtung ist zwar zutreffend, näher liegt jedoch eine Entlehnung Meyrinks aus Kiesewetters Werk: „Il“ ist der Name des Engels, der in der Sitzung vom 26.6.1583 erscheint (K, S. 42). Meyrink kombiniert also die Madini-Passage aus der Sitzung vom 28.5.1583 mit der Erscheinung „Ils“ vom 26.6.1583 und mit dem Wesen vom „südlichen Fenster“ vom 24.4.1587 und verlegt alles auf die Nacht vom 21./ 22.11.1582. Der gute Engel „Il“ aus der historischen Séance wird im Roman zum unheilbringenden Geist umgedeutet. „Il“ warnte den hist. Dee (K, S. 43 f.): Unternehmt nichts Gottloses, Böses und Ungerechtes. Denn so oft ihr Böses tun werdet, sei es aus Nachlässigkeit oder Unkenntnis, aus Verachtung oder übergroßem Aberglauben, so wird, wie geschrieben steht, den Lügengeistern Macht gegeben. Nach der Wiedergabe des Sitzungsprotokolls kommentiert Kiesewetter: „In Wirklichkeit bringen die somnambulen Medien zum Vorschein, was in ihrem Innern schlummert“ (K, S. 45). Sicherlich haben diese Sätze auf Meyrink inspirierend gewirkt. Zu bedenken ist schließlich, dass das Protokoll der Sitzung vom 26.6.1583 in englischer und lateinischer Sprache abgefasst ist. Es beginnt mit Dees Worten (K, S. 42): 36 Vgl. Marzin (wie Anm. 6), Teil 2, S. 17, und Smit (wie Anm. 6). S. 185f. 37 Wünsch (wie Anm. 5), S. 540. <?page no="245"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 245 Wir waren in meinem Studierzimmer bei einander, und ich stand an meinem Tisch, als E. K. [Kelley] eine runde Kugel von weißem Dampf über meinem Haupte erscheinen sah. Sogleich empfand ich die Gegenwart eines guten geistigen Wesens, und sofort erschien der gute Engel Il. (Englisch.) Eine Übersetzung des Namens aus dem Englischen ergibt zunächst „I’ll“ (= ich will), das an Dees Devise „Ich zwings! “ (M, S. 214) erinnert, dann aber auch „ill“ (= böse, übel, schlecht, krank), was dem Wesen des Engels im Roman entspricht. Gestalt und Charakter Kelleys werden bei Kiesewetter ausführlich vorgezeichnet. Im Roman finden sich alle diese Züge wieder. 38 Der Beschreibung Kelleys bei Kiesewetter − und damit auch bei Meyrink − liegt vor allem der „1673 zu Hamburg in Oktav gedruckte Brief des berühmten Historikers Daniel Georg Morhof (1639-1691) an den Holstein’schen Leibarzt Joel Langelottus De Transmutatione Metallorum Epistola zu Grund“ (K, S. 25), 39 den Kiesewetter auszugsweise wiedergibt (K, S. 25 f.). Hier geht es unter anderem darum, wie Kelley zu einem „Buch in alter walisischer Sprache, die er wohl verstand, über den Stein der Weisen“ sowie zu einer Elfenbeinkugel mit der „weißen Tinktur” und Resten eines roten Pulvers aus einer zweiten, zerbrochenen Kugel kam: Er erwarb diese alchemischen Schätze von einem Wirt in Wales für ein Pfund Sterling (K, S. 26). In einer Vorstadt von London eingetroffen, ließ Kelley „seinen ehemaligen Nachbar“ Dee zu sich kommen, fragte ihn, was Projektion sei, und gemeinsam experimentierten sie mit den Pulvern, wobei es ihnen gelungen sein soll, Blei in Gold zu verwandeln (K, S. 26). Im Roman lässt Kelley Dee nicht zu sich rufen, sondern sucht ihn mit dem Buch und zwei intakten Kugeln, einer roten und einer weißen, in dessen Haus in Mortlake auf und fragt, ob Dee ihm erklären könne, „was eine Projektion sei? “ (M, S. 216). Die Beschreibung Kelleys entspricht derjenigen in Morhofs von Kiesewetter zitiertem Brief (K, S. 25): Kelley war kein englischer Edelmann, wie manche meinten, sondern ein bürgerlicher Notar und Rechtsanwalt in London. Derselbe hatte, da er der alten englischen Sprache sehr mächtig war, gewissen Personen zu Liebe Urkunden verfälscht, weshalb man ihm die Ohren abschnitt und ihn aus London verbannte […]. Im Roman schildert Dee Kelley wie folgt (M, S. 222): Er [Kelley] war, wie ich [Dee] erfuhr, ein Winkelnotar in London gewesen, dann fahrender Apotheker und Quacksalber geworden, als er wegen Fälschung von Urkunden mit Abschneiden der Ohren durch den Stockmeister des Gefängnisses öffentlich bestraft wurde. Kelley scheint hier nicht rechtmäßig in den Besitz von Buch und Kugeln gekommen zu sein (M, S. 221): 38 So auch Frank (wie Anm. 7), S. 277. 39 Die typographischen Auszeichnungen im Original wurden nicht übernommen. <?page no="246"?> Angela Reinthal 246 „Und Ihr [Kelley] habt sie dem Geheimagenten [Vorbesitzer] vor seinem Tode abgekauft? “ forschte ich [Dee]. „N-nein“ − der Fremde wich meinem Blick aus und sah zur Seite, faßte sich jedoch rasch und sagte lauter, als nötig gewesen wäre: „er hat sie mir geschenkt.“ Ich fühlte deutlich, daß der Mann log, und es wollte mich der geschlossene Handel fast reuen. Hatte er vielleicht den alten Kuppler ermordet, um in den Besitz des Buches und der Kugeln zu gelangen? Auch zagte und schwankte ich sehr, denn das in der Nacht gehabte seltsame Gesicht von einem Menschen ohne Ohren wollte mir plötzlich wie eine Warnung scheinen. Da Dee sich jedoch von Kelley wichtige Aufschlüsse verspricht, ignoriert er alle warnenden Vorzeichen − eine spannungsgeladene Konstruktion, die ihre Wirkung auf den Leser nicht verfehlt. Meyrink stilisiert Kelley zu einem Betrüger und Scharlatan, macht ihn zum Antipoden Dees und wertet ihn damit gegenüber der historischen Vorlage, in der Kelley eine weniger bedeutsame Rolle für Dee spielte, markant auf. Darüber hinaus operationalisiert Meyrink diese Konstellation, indem er Kelley und Dee zu Repräsentanten der verwerflichen Schwarzkünstlerei (Kelley) bzw. der wahren „Alchimie der Seele“ (Dee; M, S. 192) − Zentralthema Meyrinks − macht. Im Roman experimentieren Dee und Kelley gemeinsam mit den Pulvern aus den beiden Kugeln, und der Versuch „gelang weit über Erwarten: wir gewannen bei schon ganz geringer Projektion aus zwanzig Unzen Blei fast zehn Unzen Silber und aus demselben Quantum Zinn nicht viel weniger als zehn Unzen reines Gold“ (M, S. 222). Dee und Kelley setzen aber nun unterschiedliche Erwartungen in die alchemischen Substanzen: Dee, seinem Selbstverständnis nach „Laborant des ewigen Lebens“, steht im Gegensatz zu Kelley, der sich, von Gier nach Gold getrieben, dass seine Mausaugen wie im Fieber glitzern (vgl. M, S. 222), nur an der irdischen Metallverwandlung interessiert zeigt. Hiermit ist eine Konfliktlage angedeutet, die nicht nur Dee und Kelley, sondern ganze Generationen von Alchemikern beschäftigte. Auch durch Meyrinks Leben und Werk zieht sich wie ein roter Faden die Vorstellung der „wahren Alchemie”. Eine Definition, verbunden mit der topischen Abgrenzung gegenüber der „falschen Alchemie”, gibt Meyrink in seinem Essay Unsterblichkeit: 40 Neben diesem Weg des Yoga läuft noch ein anderer, höchst seltsamer − der Weg der Alchemie genannt: es ist die Kunst, aus „Blei“ etwas Besseres zu machen, nämlich „Gold“. Eine Mißgeburt dieses Strebens war die alte Goldmacherkunst, die ihrerseits die heutige Wissenschaft der Chemie ins Leben rief. Die wahre Alchemie hat dergleichen nie beabsichtigt; ihr Ziel war, dem Menschen eine eigentümliche Art Unsterblichkeit zu geben. […] [Es handelt sich um] das Geheimnis, eine Form 40 Gustav Meyrink: Unsterblichkeit. In: ders.: Fledermäuse. Erzählungen, Fragmente, Aufsätze. Hg. von Eduard Frank. Frankfurt/ M., Berlin 1992 (= Ullstein-Taschenbuch 22800), S. 291-297, das Zitat S. 296. <?page no="247"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 247 zu gewinnen, die nicht kerkerartig beschaffen ist, wie der gewöhnliche Menschenleib, und nicht den Elementen untertan, sondern ähnlich dem, was das neue Testament unter „Auferstehungsleib“ versteht. Im Engel vom westlichen Fenster heißt es unter erneuter Verwendung des Wortes „Auferstehungsleib“ (M, S. 223): Ich [Dee] selbst aber nahm mir fest und heilig vor − und sagte es ihm [Kelley] auch unumwunden −, daß ich für meinen Teil nun und nimmer auch nur ein geringes von den köstlichen Pulvern dazu verwenden wolle, mich irdisch zu bereichern, sondern nur danach trachten, das Buch des Heiligen Dunstan auf das Geheimnis der Herstellung des Steins der Weisen hin zu erforschen, und wenn ich erst einmal wüßte, wie die rote Tinktur anzuwenden sei zur Projektion auf den unverweslichen Auferstehungsleib, sie zu nichts anderem als zu solchem Zweck gebrauchen wolle. Wozu der Kelley wahrscheinlich nur heimlich die spitze Nase gerümpft hätte. Das unrühmliche Ende, das der historische Kelley in Prag angeblich nahm, wurde durch das Gedicht, das „der aus Vitri im Mailändischen gebürtige Kammerdiener Kaiser Rudolphs II., Mardochäus de Delle, auf Kelley geschmiedet hatte“, in die Welt gesetzt, das bei Kiesewetter abgedruckt ist (K, S. 30 f.) 41 und das seinen Niederschlag auch bei Meyrink findet (M, S. 429 f.). 42 Dies kann uns hier nicht weiter beschäftigen. Über das Ende des hist. Dee allerdings schreibt Frank: „Sein Lebensausklang bleibt irgendwie eine offene, unbeantwortete Frage. Hier aber setzt Meyrink ein.“ 43 Nach Kiesewetter (K, S. 77) ging Dee im November 1604 nach Mortlake zurück, wo er immer noch Engelserscheinungen beschwor. In der letzten Sitzung am 7.9.1607 versprach ihm der Engel Raphael (K, S. 77): […] daß er ihm [Dee] nun bald den Stein der Weisen nach St. Dunstans Methode zu bereiten lehren und die tieffsten Geheimnisse Gottes […] offenbaren werde. Zugleich befahl er ihm, sein undankbares Vaterland, wo man ihn noch immer für einen Teufelszauberer halte, zu verlassen und in die Welt zu gehen, wobei er ihn […] leiten und führen werde. Nicht lange nach dieser letzten Erscheinung, als Dee schon alles zu einer zweiten Reise nach Deutschland geordnet hatte, gesellte „der Tod den Achtzigjährigen zu seinen Geistern“ (K, S. 77). 41 Der von Kiesewetter als „Kammerdiener“ bezeichnete Mardochaeus de Delle (auch: Mordechai de Nello/ Nelle) war ein Rabbi und Alchemicaverfasser, der an den Höfen von Kurfürst Augusts in Sachsen und von Rudolph II. eine Rolle spielte. Ob er aber die um 1610/ 20 entstandenen Verse über Kelley und andere Transmutationsalchemiker verfasste, ist unsicher. 42 Zweifelhaft ist Kelleys „unrühmliches“ Ende. An der Verhaftung durch kaiserlichen Befehl ist nicht zu rütteln, aber über sein Ende informieren keine stichhaltigen Belege, vgl. Oswald Croll: Alchemomedizinische Briefe 1585-1597. Hg., übers. u. erl. v. Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Stuttgart 1998 (= Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit; 6), S. 189-191. 43 Frank (wie Anm. 7), S. 277. <?page no="248"?> Angela Reinthal 248 Der historische Dee führte also bis kurz vor seinem Tod Engelsbeschwörungen durch, wobei ihm die verschiedensten Engel erschienen, hier beispielsweise Raphael. Bei Meyrink ist das Erscheinen des grünen Engels vom westlichen Fenster an die mediale Mitwirkung Kelleys gebunden. Deswegen hatte Dee konsequenterweise im Roman keine Engelserscheinung mehr, nachdem sich seine und Kelleys Wege in Böhmen getrennt hatten: „Auf einmal wird mir [Dee] klar: seit jener grauenvollen Sitzung im Höhlenkeller des Doktors Hajek in Prag hat sich der Gründe nicht mehr vor mir blicken lassen“ (M, S. 433). Daraufhin beschwört Dee den toten Kelley, der sich trotz Sträubens den Formeln fügen muss. Schließlich verwandelt sich Kelleys Geist in den grünen Engel. Dee verlangt von ihm „die Erfüllung jahrzehntelanger Verheißung“, er verlangt „den Stein“, und der Engel antwortet: „In drei Tagen sollst du ihn haben. Bis dahin: Rüste dich zum Aufbruch und zur neuen Reise. Die Zeit deiner Prüfung ist um. Du bist gerufen! “ (M, S. 437). Die Szene ist deutlich der Schilderung Kiesewetters verpflichtet: Hier wie dort erscheint ein Engel, verspricht „den Stein“ und fordert zu Reisevorbereitungen auf. Im Roman jedoch tritt nun Robert Gardener in seiner Eigenschaft als wahrer Adept auf, Laborant des ewigen Lebens und Mitglied der Bruderschaft von der Goldenen Rose. Ein Robert Gardner war Laborant des hist. Dee und wird bei Kiesewetter kurz erwähnt (K, S. 19). Auch im Roman erscheint er als Laborant - und Warner - Dees, der sich aber zurückzieht, als Kelley auf den Plan tritt (M, S. 210-214). In der Sterbestunde Dees erscheint Gardener und erinnert an die Fehler, die Dee auf seiner Suche gemacht hat, vor allem die Ungeduld, die sich in der Devise „Ich zwings! “ ausdrückt. Gardener hatte davor gewarnt, „den Stein der Unsterblichkeit chymisch herzustellen, wenn der geheimnisvolle Weg der geistigen Wiedergeburt nicht vorher vollendet sei“ (M, S. 226). Dem Sterbenden sagt Gardener: „Der Weg findet dich, nicht du findest den Weg! “ (M, S. 441). Gardener „trägt einen weißen Mantel aus Leinwand, darein in der Höhe der linken Brust eine rotgoldene Rose eingestickt ist“ (M, S. 441). Dieser Aufzug, seine Worte und noch andere Attribute Gardeners verweisen auf die Bruderschaft der Rosenkreuzer. Meyrink hat hier Kenntnisse eingebracht, die sich nicht auf Kiesewetters Dee-Monographie zurückführen lassen. Zu den vielen Kontakten, die Meyrink mit esoterischen Gruppierungen unterhielt, gehörte auch sein zeitweiser Anschluss an die Rosenkreuzer- Sekte, die Alois (später: Johannes) Mailänder 1890 in der Nähe von Darmstadt gründete. 44 Meyrink gehörte seit dem 23.10.1892 insgesamt „dreizehn Jahre dieser Gruppe an und führte während dieser Zeit die vorgeschriebenen Übungen eifrig aus“. 45 Mindestens ebenso bemerkenswert wie Meyrinks 44 Vgl. Smit (wie Anm. 6), S. 151. 45 Ebd., S. 152; vgl. auch Meyrink, Die Verwandlung des Blutes. In: ders.: Fledermäuse (wie Anm. 40), S. 205-290, spez. S. 228-234. <?page no="249"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 249 Mitgliedschaft in diesem hessischen Rosenkreuzer-Orden sind seine Kontakte zur englischen „Societas Rosicruciana“, von deren „Supreme Magus“ W. Wynn Westcott Meyrink im November 1893 einen Brief erhielt. 46 Über seine englischen Verbindungen gelangte Meyrink an das Manuskript eines Rosenkreuzerromans, Dhoula Bel von Pascal Beverly Randolph, den er ins Deutsche übersetzte. 47 Die Namen einiger Personen in Meyrinks Erzählung Die vier Mondbrüder sind „einem Werk über die Brüderschaft des Rosenkreuzes entlehnt“. 48 Zwar gab Meyrink seine grundsätzlich kritische Einstellung auch gegenüber den Rosenkreuzer-Bruderschaften nicht auf, 49 fest steht jedoch, dass ihn der Gedanke einer solchen Gemeinschaft zeitlebens beschäftigte. Bei Meyrinks umfassender Kenntnis auch auf dem Gebiet des esoterischen Christentums ist nicht auszuschließen, dass er Andreaes Chymische Hochzeit kannte. Als Quelle kann ihm die 1913/ 22 veröffentlichte Ausgabe von Ferdinand Maack gedient haben. 50 Denkbar ist auch, dass Meyrink auf die Chymische Hochzeit Andreaes aufmerksam wurde, weil sie im ersten Jahrgang der von Alexander von Bernus herausgegebenen Zeitschrift »Das Reich« wieder abgedruckt wurde. 51 Auch Rudolf Steiner, dessen Arbeiten Meyrink verfolgte und dessen Vorträge er besuchte, 52 beschäftigte sich in einem Aufsatz mit Andreaes Chymischer Hochzeit. 53 Kiesewetter schließlich hatte auch einen Aufsatz über die Rosenkreuzer verfasst, der 1886 erschienen war und in dem Andreaes Chymische Hochzeit in einer Weise charakterisiert wird, die Meyrinks Neugierde geweckt haben könnte: 54 46 Smit (wie Anm. 6), S. 154; vgl. Aster (wie Anm. 5), S. 66. 47 Smit (wie Anm. 6), S. 154 bzw. S. 261. „Dhoula Bel. Ein Rosenkreuzerroman“ erschien als Bd. 3 der von Meyrink herausgegebenen Reihe „Romane und Bücher der Magie“, Wien etc. 1923. 48 Smit (wie Anm. 6), S. 237; dort noch weitere Hinweise. 49 Ebd., S. 156. 50 Van Dülmen, in: Andreae (wie Anm. 15), S. 13. 51 Das Reich. Vierteljahresschrift. Herausgegeben in München und Heidelberg von Alexander Freiherr von Bernus. 1. Jahr (1916/ 17), S. 49-70, 224-245, 380-402, 570-590. 52 Vgl. Smit (wie Anm. 6), S. 165. Rudolf Steiner sollte als Vorbild für Hesekiel in Meyrinks Roman „Das grüne Gesicht“ dienen, ein weiteres Beispiel für die Verarbeitung historischer Personen in Meyrinks Werk; vgl. Manfred Lube: Gustav Meyrink. Beiträge zur Biographie und Studien zu seiner Kunsttheorie. Graz 1980, S. 60; zum Verhältnis Meyrink-Steiner vgl. auch das Nachwort von Eduard Frank, in: Meyrink, Fledermäuse (wie Anm. 40), S. 399-444, spez. S. 402f. 53 Rudolf Steiner: Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz. In: Die Drei. Monatsschrift für Anthroposophie, Dreigliederung und Goetheanismus. Hg. von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, 7 (1927), S. 161-175, 243-255 und 317-330. Der Aufsatz erschien im gleichen Jahr im Druck wie Meyrinks Roman. Denkbar wäre, dass Steiner einige Zeit vorher seine Überlegungen in einem Vortrag dargelegt hat, den Meyrink hörte. 54 Carl Kiesewetter: Die Rosenkreuzer, ein Blick in dunkle Vergangenheit. In: Sphinx. Organ der Theosophischen Vereinigung und der Deutschen Theosophischen Gesellschaft 1 (1886), S. 42-54, das Zitat S. 49. Ob Meyrink den Aufsatz kannte, ließ sich nicht nachweisen. <?page no="250"?> Angela Reinthal 250 Die „chymische Hochzeit“ ist ein ganz abstruses alchymistisches Buch, worin unter dem Bild einer Hochzeit der alchymistische Universalprozeß gelehrt wird. Die Darstellung ist jedoch eine so bizarre, jeden Bezugs auf chemische Vorgänge entbehrende, daß niemand − d. h. von den gegenwärtig Lebenden − auch nur den mindesten erträglichen Sinn hineinbringen kann, und daß einen Auszug aus derselben zu geben weder möglich noch überhaupt der Mühe wert wäre. Wie auch immer - fest steht, dass Meyrink nicht nur in diesem Roman rosenkreuzerisches Gedankengut verarbeitet hat. Im Engel vom westlichen Fenster fällt das Stichwort bereits auf einer der ersten Seiten: Als Baron Müller das John Dees Nachlass enthaltende Paket öffnet, entdeckt er darin unter anderem „vergilbte Pergamente in rosenkreuzerischer Chiffreschrift“ (M, S. 8). Eine wichtige Helferfigur, Adept der Bruderschaft der „Goldenen Rose“ − John Dees Robert Gardener bzw. Baron Müllers Theodor Gärtner − beschäftigt sich als „Gärtner” mit der Veredelung von Rosen (M, S. 186), eine selbstverständlich symbolisch aufzufassende Tätigkeit. Meyrink führt mit dem Rosenmotiv ein Symbol ein, dessen vielfältige Ausdeutungsmöglichkeiten hier kaum ansatzweise verfolgt werden können. 55 Es sei nur erwähnt, dass die Rose in der Alchemie als Blume der Weisheit und der Weisen (flos sapientium) gilt und als freimaurerisches Symbol auf ein höheres Leben verweist. 56 Die Vereinigung von Rose und Kreuz ist das namengebende Sinnbild der Bruderschaft der Rosenkreuzer, 57 wobei der christliche Ursprung dieser historischen Geheimgesellschaft für Meyrink und seine Zeit eine untergeordnete Rolle spielt. 58 Deswegen erscheint im Engel vom westlichen Fenster auch nicht eine Rosenkreuzerbruderschaft, sondern die Bruderschaft der „Goldenen Rose“, wobei sich im Attribut „golden“ der alchemische Symbolgehalt verrät. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass Dee im Roman nach einer Art Seelenwägung (M, S. 447) in einem kreuzförmigen Sarg bestattet wird, und auf seinem Grab hat „Gardener, der sonderbare Laborant, […] einen starken, 55 Vgl. im weiten kulturhistorischen Umblick Gerd Heinz-Mohr und Volker Sommer: Die Rose. Entfaltung eines Symbols. München 1988. Zur Rose als Metapher in alchemischer Literatur vgl. Joachim Telle: Der Alchemist im Rosengarten. Ein Gedicht Christoph von Hirschenberg für Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und Graf Wilhelm von Zimmern. In: Euphorion 71 (1977), S. 283-305, außerdem: „Rosarium philosophorum“. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. Faksimile der illustrierten Erstausgabe Frankfurt 1550. Hg. und erläutert von Joachim Telle. Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt von Lutz Claren und Joachim Huber. 2 Bde., Weinheim 1992. 56 Lurker (wie Anm. 31), S. 630 (s. v. Rose). 57 Ebd., S. 631 (s. v. Rosenkreuzer). 58 Marzin (wie Anm. 6), Teil 2, S. 18, meint, dass die Erscheinung des Engels im Roman auf den christlichen Glauben verweise, der Zweck dieser Anspielung bleibe aber im Dunkeln. Da der Engel Dee im Roman in die Irre führt, könnte man interpretieren, dass das Christentum für Meyrink ein Irrweg sei. Näher liegt der Hinweis auf Meyrinks Vorlage: Im Roman erscheint ein Engel, weil sich der historische John Dee mit Engelsbeschwörungen beschäftigte. <?page no="251"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 251 jungen Rosenstamm an neuem, zierlich geschnittenem Pfahl aufgerichtet“ (M, S. 445 bzw. S. 449). 59 Nur an einer Stelle findet sich die Verbindung von Kreuz und Rosen: an einer Mauerpforte der Ruine Elsbethstein − dem Ort, an dem sich der im Roman geschürzte Knoten löst (M, S. 466): „[…] ein bemoostes Wappen über dem Türsturz in Stein gehauen. Es ist ein Werk aus dem sechzehnten Jahrhundert [! ] und trägt ein schräggelegtes Kreuz, aus dessen Arm eine Rosenranke emporwächst“. Hier, auf Elsbethstein, der Ruine mit dem sinnträchtigen Namen, vollzieht sich letztlich die Vermählung mit der Königin Elisabeth, 60 die „chymische Hochzeit“. Die „chymische Hochzeit“ Dees mit seiner Königin wird nur an zwei Stellen im Roman expressis verbis genannt, nämlich kurz vor bzw. nach der ersten Engelsbeschwörung (M, S. 224 bzw. 262). Die „Hochzeit”, 61 alchemisches Bild für die Vermischung bestimmter Substanzen im Schmelztiegel bzw. für die Vereinigung von König und Königin erscheint hier als Bedingung für den Erlösungsweg des männlichen Protagonisten, der zur Bruderschaft der „Goldenen Rose“ führt. 62 Bei der Vereinigung des männlichen Prinzips mit dem weiblichen entsteht normalerweise der Hermaphrodit, Sinnbild der Vollkommenheit. 63 Bei Andreae wird das Brautpaar der „Chymischen Hochzeit“ […] durch den alchemistischen Prozeß auf eine Art und Weise vereinigt, die wahrhaftig „arctius copulet quam maritus 59 Aus dieser gärtnerischen Tätigkeit erklärt sich wohl auch, warum Meyrink von den bei Kiesewetter (wie Anm. 9), S. 19f., nur kurz erwähnten Laboranten gerade Gardner im Roman so stark aufgewertet hat, und nicht beispielsweise Roger Coke, Clerkson oder Talbot, die weniger sprechende Namen tragen. Vielleicht hat auch die Erwähnung eines „geistigen Wesen[s] in Gestalt eines Gärtners“, das dem hist. Dee am 19.4.1586 erschien (Kiesewetter [wie Anm. 9], S. 61), auf Meyrink inspirierend gewirkt. − Der paradiesische Garten bzw. der „unsichtbare Gärtner“ werden auch in anderen Werken Meyrinks ersehnt; vgl. Eduard Frank: Nachwort. In: Gustav Meyrink: Fledermäuse (wie Anm. 40), S. 399-444, spez. S. 403. 60 Auch die Gestaltung der besonderen Beziehung zwischen John Dee und Königin Elisabeth hat historische Grundlagen und ist ebenfalls Kiesewetter verpflichtet. Wie Meyrink mit dem historischen Vorwurf verfährt, konnte hier leider nicht genauer verfolgt werden. 61 Zur alchemischen Deutung der Hochzeit vgl. Joachim Teile: Sol und Luna. Literar- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Mit Text- und Bildanhang. Hürtgenwald 1980 (= Schriften zur Wissenschaftsgeschichte; Bd. II). 62 In bildlichen Darstellungen halten „König und Königin zum Zeichen ihrer Verbindung langstielige Blumen, offenbar Rosen, über Kreuz“; vgl. Bernhard Koßmann: Alchemie und Mystik in Johann Valentin Andreaes „Chymischer Hochzeit Christiani Rosencreütz“. Köln 1966, S. 48, eine entsprechende Abbildung ebd., S. 47. 63 Der Hermaphrodit spielt in Meyrinks Werken, vor allem im „Golem“ eine bedeutende Rolle; vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Wien 1986 (= Literatur und Leben; N. F., Bd. 3), S. 242-245. Zur Bedeutung des Hermaphroditen in der alchemischen Bildersprache vgl. ders.: Zum Hermaphroditen in der Sinnbildkunst der Alchemisten. In: Christoph Meinel (Hg.): Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 1986 (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 32), S. 179-200. <?page no="252"?> Angela Reinthal 252 est uxori copulatus“. Sie werden buchstäblich zu „unum carnem et os“, und zwar im Gegensatz zur sexuellen Vereinigung dauernd und untrennbar. Die beiden Substanzen haben sich im chemischen Prozeß völlig durchdrungen. Nach der Hochzeit auferstehen [! ] sie zwar wieder als Paar, als zwei getrennte Wesen, aber auf ewig »zusammengeleimt« wesentlich . 64 Bei Meyrink bleibt John Dee am Ende ohne weibliches Pendant. Die „chymische Hochzeit“ vollzieht sich im Vergleich zu Andreae unspektakulär (M, S. 516 f.): Elisabeth steht vor mir. Nahe. Jetzt so nahe, daß Auge sich mit Auge zu berühren scheint; so nahe jetzt, daß Elisabeth unsichtbar für mein Sinnenauge geworden ist und unsichtbar auch dem vorübergleitenden Haupte des Baphomet. − − Alle meine Fibern und Nerven und Gefühle und Gedanken wissen, daß Schnitt und Vermählung der beiden Kometen sich vollzogen haben. - Nirgends mehr suche ich, nirgends mehr finde ich; … die Königin ist in mir. In der Königin bin ich: Kind, Gemahl, Vater seit Anbeginn. − − − Das Weib ist nicht mehr! Und der Mann ist nicht mehr, so jubeln in mir Chöre von seligen Gedanken. Die höhere Welt der Bruderschaft stellt zwar eine entsexualisierte Sphäre dar, doch die Worte „Gemahl, Vater“ sind verräterisch. Dazu bemerkt Marzin: 65 Meyrinks Hermaphrodit ist ein männlicher, es ist ein Alchemist und für Johanna, die den weiblichen Weg gegangen ist, besteht keine Möglichkeit, dieser Welt anzugehören. Wenn also nur Männer erhöht werden können, kann es zu keiner echten Verbindung des Weiblichen mit dem Männlichen kommen. Der Auserwählte erfährt, dass er berufen ist, „ein Helfer der Menschheit zu sein“, aber auch, dass er nicht in das „Reich des ewigen Lebens“ eingetreten ist (M, S. 517). In dieses Reich ist Jane/ Johanna eingegangen, die sich für John Dee geopfert hat, wie Dee von Gardener eröffnet wird (M, S. 518): Jane ist den weiblichen Weg des Opfers gegangen. Er führt dahin, wohin wir ihr nicht folgen können und auch nicht folgen wollen, denn wir sind alle Alchemisten in dem Sinne, daß wir hierbleiben, um zu verwandeln. Sie aber ist auf dem Wege der Weiblichkeit dem Sein und dem Nichtsein entronnen, indem sie deinetwegen alles, was sie war, abgestreift hat. Wäre sie nicht gewesen, du stündest nicht hier! Männliche und weibliche Sphäre sind am Ende des Romans also unerreichbar weit voneinander entfernt; John Dee bleibt der Erde zugewandt, während Jane 66 die „Schwelle des ewigen Lichtes“ (M, S. 517 f.) überschritten hat. Marzins Thesen, 67 dass die Frau bei Meyrink nicht in der Lage sei, den Weg 64 Regine Frey-Jaun: Die Berufung des Türhüters. Zur „Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz“ von Johann Valentin Andreae (1586-1654). Bern etc. 1989 (= Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700; Bd. 3), S. 96. 65 Marzin (wie Anm. 6), Teil 2, S. 17. 66 Auch diese Figur wurde wohl von einer historischen Gestalt inspiriert, der Dichterin Elizabetha (Elizabeth) Joanna (Jane) Westonia (Weston), Stieftochter E. Kelleys, die ebenfalls in Prag lebte. 67 Marzin (wie Anm. 6), Teil 2, S. 13. <?page no="253"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 253 der Auserwählten zu beschreiten, dass sie nicht Bedingung für die Erhöhung des Mannes sein könne und dass das männliche Prinzip das einzig erfolgreiche sei, gelten damit nicht für den Roman Der Engel vom westlichen Fenster. Abschließend sei noch ein Blick auf weitere bemerkenswerte Bezüge zwischen Meyrinks Roman und Andreaes Chymischer Hochzeit gerichtet. Die Romanhandlung wird so inszeniert, dass der Erlösungsweg John Dees als alleiniges Movens erscheint. Dies gilt entsprechend für Andreaes Chymische Hochzeit, die sich aus der Perspektive Christiani Rosencreutz als Geschichte seiner Berufung in das geistliche Amt präsentiert. 68 Dem sterbenden Dee sagt Gardener: „Der Weg findet dich, nicht du findest den Weg! “ (M, S. 441). Bei Andreae stehen Christian Rosencreutz mehrere Wege zur Wahl, die er aber alle aufgrund seiner Unwürdigkeit nicht für geeignet hält. Er verzweifelt fast und denkt ans Umkehren, als ihm die Entscheidung abgenommen wird: Er will eine Taube vor einem Raben schützen und gerät dabei unwissentlich auf einen der Wege zum Königspalast. 69 „Entscheidend jedoch ist, wie Rosencreutz seinen Weg nicht findet: nicht, indem er die verschiedenen Wege abwägt und aus Verstandesgründen den bestmöglichen auswählt. Den Weg zum mystischen Erlebnis weist ihm nicht der Verstand.“ 70 Nach der Aufnahme des Auserwählten John Dee in die „Kette“, 71 in die Bruderschaft der „Goldenen Rose“ (M, S. 510 f.), betritt er mit Gardener den Turm von Elsbethstein, der von einer Mauer umgeben ist. Oben befindet sich in einem mächtigen Gewölbe eine Alchemikerküche (M, S. 513). Dies erinnert an den „Thurn Olympi“ bei Andreae, in dessen Laboratorium die chymische Hochzeit vollzogen wird. 72 Der Auserwählte Christian Rosencreutz wird zum Ritter des Goldenen Steins erhoben. 73 Er trägt sich mit der auf Sokrates zurückgehenden Devise „Summa scientia nihil scire“ in das Ordensbuch ein. 74 So lautete auch das Lebensmotto Meyrinks in den späten Jahren seines Lebens. 75 Im Engel vom westlichen Fenster besteht das Ziel im „Nicht mehr Wissen, alles Können“ (M, S. 515), im vollkommenen Nichtwissen (M, S. 514 f.). 68 Vgl. Frey-Jaun (wie Anm. 64), S. 74. 69 Vgl. Andreae (wie Anm. 15), S. 54f. 70 Koßmann (wie Anm. 62), S. 79. 71 Zum Motiv der »Kette«, das auch im „Weißen Dominikaner“ (1921) und im „Grünen Gesicht“ (1917) erscheint, vgl. Eduard Frank: Gustav Meyrinks Leben und Werk im Lichte der Grenzfragenpsychologie. In: Neue Wissenschaft. Zeitschrift für Parapsychologie 5 (1955), S. 150-162, spez. S. 161f. Smit (wie Anm. 6), S. 178f., vermutet, Meyrink habe mit der freimaurerischen „Bruderschaftskette“ eine persönliche Erfahrung im Roman verarbeitet. 72 Andreae (wie Anm. 15), S. 104 (Thurn Olympi); die Beschreibung der alchemischen Prozedur ebd., S. 105-116. 73 Ebd., S. 121. 74 Ebd., S. 122; vgl. Frey-Jaun (wie Anm. 64), S. 155. 75 Vgl. Lube (wie Anm. 52), S. 152. <?page no="254"?> Angela Reinthal 254 Eine Verbindung John Dees mit einer rosenkreuzerischen Geheimgesellschaft, wie sie Meyrink im Roman inszeniert, entbehrt nicht der historischen Perspektive, auch wenn sich weder in Kiesewetters Monographie noch in seinem Rosenkreuzer-Aufsatz von 1886 entsprechende Anhaltspunkte finden lassen. Denn manche Rosenkreuzer, so neuere Forschungen, vereinnahmten den historischen Dee als einen der ihren, obwohl zu Lebzeiten Dees rosenkreuzerische Gruppen noch nicht existierten. 76 Immerhin erscheint Dees „Monas hieroglyphica“ genanntes alchemisches Symbol in Andreaes Chymischer Hochzeit wieder. 77 Meyrink hat besonders in diesem Roman zentrale Anliegen der abendländischen Philosophie und Theologie verarbeitet. Die Frage nach Unsterblichkeit bzw. ewigem Leben, nach Sinn und Ziel der Existenz gehört zum Kernbestand menschlichen Denkens. Der Einschätzung Smits, der Engel vom westlichen Fenster biete „ein Stück europäischer Geistesgeschichte in dichterischer Form“, 78 ist zuzustimmen. Der Weg des einzelnen Menschen steht bei Meyrink im Mittelpunkt, und so überrascht es nicht, dass sich in seinem Werk jene Strömungen der europäischen Geistesgeschichte wiederfinden lassen, die ihre jeweiligen Erlösungsvorstellungen nicht innerhalb der institutionalisierten Kirche, sondern in der individuellen Sinnsuche zu verwirklichen hofften. Die Frage, auf welchem Wege die „Transmutation des Sterblichen in das Unsterbliche” zu erreichen sei, ließe sich aber auch so beantworten: in der poetischen Vergegenwärtigung. Die Verwandlung des frühneuzeitlichen 76 Vgl. French (wie Anm. 23), S. 14. Kiesewetter geht allerdings in seinem Aufsatz davon aus, dass „sehr große Zeiträume und das Zusammenwirken sehr vieler geistig hochentwickelter Männer“ zur Herausbildung des Rosenkreuzertums nötig waren, und er bezeichnet „landläufige Hypothesen, welche den Ursprung des Rosenkreuzerordens an einzelne […] Persönlichkeiten, wie an […] Valentin Andreä, knüpfen wollen“, als „gänzlich verfehlt“. Demnach könnte auch John Dee zu den „geistig hochentwickelten Männern“ gerechnet werden, auch wenn Kiesewetter ihn in diesem Aufsatz nicht erwähnt; vgl. Kiesewetter, Die Rosenkreuzer (wie Anm. 54), S. 42. Über die erste Blüte des Rosenkreuzertums in England informiert umfassend Ron Heisler: Rosicrucianism: The First Blooming in Britain. In: The Hermetic Journal. Edited by Adam McLean. Oxford 1989, S 30-61. 77 Vgl. Andreae (wie Anm. 15), S. 46. Zur Bedeutung dieser alchemischen Zeichenkombination vgl. Yates (wie Anm. 14), S. 96f. und S. 102, außerdem Edighoffer (wie Anm. 15), S. 129, sowie auch Karl Hoheisel: Die Symbolik der Rosenkreuzerbruderschaft und ihr Weiterwirken in neueren rosenkreuzerischen Gruppen. In: Symbolon. Jahrbuch für Symbolforschung N. F. Bd. 6 (1982), S. 79-94, spez. S. 86. 78 Smit (wie Anm. 6), S. 271. Ergänzend sei bemerkt, dass sich auch Erkenntnisse asiatischer Geheimlehren im Roman niedergeschlagen haben; gedacht ist hier an die tibetischen Dugpa-Mönche; vgl. ebd., S. 133 ff., spez. S. 136. <?page no="255"?> „Alchemie des Poeten“ John Dee 255 Gelehrten John Dee in eine lebendige literarische Gestalt ist Meyrinks Verdienst in diesem Roman - Alchemie des Poeten. 79 79 Vgl. die Rezension von Fritz Engel: Alchimie des Poeten. Gustav Meyrink: „Der Engel vom westlichen Fenster“. In: Berliner Tageblatt 263, 5.6.1927, 7. Beiblatt (Rubrik: Literarische Rundschau). <?page no="257"?> Robert Ziegler The Grammar and the Key: Magic, Literature, and Faith in Péladan’s „Le Vice suprême“ In his biography of Joséphin Péladan, Christophe Beaufils describes the chaotic scene at the opening of the Salon de la Rose-Croix in 1891. The turbulent crowds, the circus atmosphere, the exotic pageantry of the proceedings contributed to the air of festive artificiality that accompanied the Sâr in all his public appearances. Enshrining the religious art Péladan claimed to promote, the Salon began with a daybreak Mass at the Chapel of the Virgin at Notre- Dame. Afterward, despite exorbitant entry fees charged to the curious, the throngs of artists, gawkers, and sophisticates „espérant voir le fameux Sâr dont la presse avait tant parlé” (Beaufils 90) lined up at the gallery door. So numerous were the onlookers, so choking the congestion that omnibus traffic between the Opéra and Montmartre had to be suspended temporarily. By the following day, over 22,000 visitor’s cards had been left at the gallery reception. Celebrity artists at the Salon included such noteworthy figure as Verlaine, Willy, Zola, and Puvis de Chavannes. And while bemusement often greeted the exhibition of the Salon’s mystically erotic canvases - while the Parisian press treated the event with its customary condescension - the response to Péladan’s Salon was generally serious and admiring. Today, the reaction to Péladan’s work is one of ignorance, contempt, or apathy. With his flowing togas, chamois books, and prodigious beard oiled and perfumed, as Beaufils says, in harmony with the revolution of the planets, Péladan’s identity as a public oddity has largely eclipsed his reputation as an author, occultist, and art connoisseur. To be sure, Péladan’s stridently reactionary politics, his virulent anti-feminism, his bombast, and neologistic turgidity have detracted from what can justifiably be regarded as his historically revelatory ideas. On the one hand, Péladan’s grandiosity and unbounded self-regard, his advocacy of „divine prostitution” (the recommendation that women be exploited as sexual vessels for male geniuses), his monograph on spermatorrhea, have earned the dismissive ridicule with which posterity has treated him. On the other, Péladan’s role in the debate about religion, magic, and literature - his exploration of occultism from the perspective of esthetics and epistemology - have established him as an important innovator in turn-of-the-century France. As with Villiers de l’Isle- Adam, Péladan’s gravitation toward Rosicrucianism was motivated by an interest in using fiction to communicate metaphysical insights. For all his reliance on stagecraft and self-dramatization, Péladan sought to reconcile <?page no="258"?> Robert Ziegler 258 magic and literature in the hope of adding a supernatural dimension to art so that it became a potent spiritual force. As this paper argues, the asymptotic path described by Péladan’s career shows him initially drawn to esotericism with its exalted exclusivity, then moving on to an embrace of Catholicism requiring self-effacement and solidarity. Magic, whose adepts displayed intellectual pride and a predilection for solitude, was abandoned in favor of religious service characterized by cooperation and community. Both Péladan’s fiction and the magical arts it depicts are shown to be defensive weapons used against transgression and evil. Like the thaumaturge who combats vice by learning to withstand its seductions, the author evokes the world of decadent depravity the better to impugn its dangerous glamour. Péladan’s image of himself as a magus, as a champion of spiritually avantgarde art, casts him as an enemy of popular taste, conventional thinking, and democratic ideals. Only when Péladan neared completion of his fictional Ethopée, did he relinquish this view of himself as a superior man whose genius counteracted vulgarity. No longer posing as a visionary - a fighter against iniquity and ignorance - Péladan accepted a more modest role in the collectivity of Catholic apologists working together in the defense of their faith. In Péladan’s inaugural novel, he elaborates on the appeal and utility of magic, suggesting how the acquisition of hidden knowledge satisfies the seeker’s curiosity while elevating him above the riffraff whom he openly despised. Arguably, interest in Péladan’s fiction is aroused for similar reasons, as readers motivated by a wish to learn the secrets the author imparts hope to enjoy access to the circle of initiates of which the Sâr was a privileged member. Yet even in Le Vice suprême, Péladan alludes to magic’s disappointing inadequacies: its failure to act as a positive force, its limited value in punishing evildoers, its inability to safeguard the innocent and to stave off the end of the world. Even uncertain access to an exclusive coterie of initiates and adepts cannot rescue the magus from a lonely existence bereft of worldly comforts - denied the blessings of love, lacking the consolation of friendship. In a pivotal scene in Le Vice suprême, where the thaumaturge and priest forge an alliance, Péladan offers an adumbration of his later subordination of magic to Catholic doctrine. No longer isolated in his intellectual aerie, above the world of struggle and passion, the magus joins with other artists in creating inspirational masterpieces, reigniting the faith of the wayward believer, disseminating the word of the Gospels. <?page no="259"?> The Grammar and the Key 259 The Seduction of Magic In his early fiction, Péladan’s emphasis is on the appeal of magic as a specialized discipline, one immersing the practitioner in the world of vice that he is bent on reforming, giving him the enviable cachet of possessing rare wisdom and inexplicable powers. Certainly, it is Péladan’s familiarity with the accoutrements of magic that gives his work its appeal, as readers are seldom left unaffected by Péladan’s acquaintance with the occult sciences. Indeed, Péladan’s immersion in astrology, magnetism, alchemy, and astral travel, can be traced back to his father, Louis-Adrien Péladan, who was himself a student of magic, believing in the predictive reliability of the writings of Nostradamus. From his father, Péladan also inherited an authoritarian ideology that reinforced his commitment to the ultramontanist cause. Péladan endorsed the views of Eliphas Lévi, popularizer of hermeticism whose teachings informed his work, believing that „[t]out ce qui s’accomplit hors de l’autorité s’accomplit hors de la nature, qui est la loi positive de l’autorité éternelle” (Dogme et ritual de la haute magie 31). Like Lévi, Péladan confronted a troublesome issue that he wrestled with throughout his career, namely the Church’s longstanding condemnation of necromancy as heretical and idolatrous. Apologists like Barbey, who generally defended Péladan’s ideas and lauded his work, took issue with his glorification of the thaumaturge in both his fiction and his life, complaining that esotericism was incompatible with Catholic orthodoxy. Like Péladan, Lévi notes that the Magi were present at the birth of the Savior - that the Church’s „mystérieux fondateur a été salué dans son berceau par les trois mages” (Lévi 40) and that magic therefore predated the religion that transcended it. For Lévi, the magus incurs condemnation for choosing to discover secret knowledge rather than accepting revealed truths. Lévi believed that disseminating occult teachings dispelled superstition, whence his mission to explain the principles and rituals of magic, to publish "ce que les les anciens sages appelaient la clavicule” and to disclose „ce que les gens de la campagne appellent encore le grimoire” (53) For Péladan, the unreconstructed elitist, magic’s attraction was as a rarefied discipline, and its value, as shown in his early novels, was to protect adepts from spiritual evil. However, over the course of his multi-volume Ethopée, the dialectical interplay of necromancy, art, and faith began with the initiate’s fantasy of limitless power and ended with his celebration of beauty as a manifestation of the divine. Mérodack, the central character in Le Vice suprême, is the heroic magus as spiritual combatant, a man living in the midst of the corruption and vice he alleges he wants to eradicate. For Péladan, the decline of Occidental culture - finis Latinorum - is evidenced by the spread of democracy and sexlessness, the prevalence of undifferentiation and homogeneity. Lawlessness, solipsism, androgyny cheapen a society unstructured by hierarchy. Once directed at other people or external objects, illicit <?page no="260"?> Robert Ziegler 260 desires are internalized. One fantasizes of adultery yet refrains from its commission. One dreams of sacrilege or sexual violence, but in the absence of the act, there are only transgressions of the mind. When evil is intellectualized, no person is hurt or violated. But, for Péladan, morbid delectation, imaginary misdeeds, are a refinement of taboo behavior and represent the most pernicious crime: „Il y a de l’aveuglement dans la satisfaction de l’instinct, et de la démence dans la perpétration du méfait, mais concevoir et théoriser exigent une opération calme de l’esprit, qui est le Vice suprême” (210). Multiplied as the agent, locus, and inspiration of the sin, Péladan’s decadent malefactor is harmful only to himself. Artistes sans faire, godless metaphysicians, anachronistic aristocrats, Péladan’s villains are purveyors of blasphemous witticisms, dazzling with their nihilistic witticisms. Living in the midst of these intellectual cynics, censoring their excesses, condemning their pride, Mérodack uses magic to prove his superiority over those who believe themselves an elite. The true decadents whom Péladan repudiates are mediocre, passive, and indolent like the audience of sophisticates that Péladan’s priestly hero, Father Alta, excoriates in a sermon. Too cynical and lazy to achieve true Luciferianism, they display a moral otiosity undeserving of damnation: „petits vos vices, idiote votre vie; nulle votre pensée, et l’enfer vous dédaignera pour votre inanité même dans le mal” (292). It is magic that allows Mérodack to distinguish himself from these aristocrats of vice. Whereas they are plunged in „le nirvana du passivisme” (76), he attempts to use his secret knowledge as a moral corrective. In a society in which ideas are decoupled from their implementation, thoughts assume a magically operational power. Overseen by a coterie of Kabbalists and visionary priests, the world that Péladan evokes is governed by a supra-rational causality, one articulated by an elaborate system of secret rituals and arcane ceremonies. Adopting the lexical distinction made by Eliphas Lévi, the magus Mérodack privileges rules over principles, grimoire over clavicle. Péladan’s novel is filled with allusions to necromantic practices. Adept at chiromancy, conversant with astrology, Mérodack registers disturbances on the astral plane, employs somnambulists to see into the past, parries sword thrusts by using magnetism to induce temporary paralysis in his adversaries, practices insufflation to erase traumatic memories in innocent victims. Péladan’s allusions to the techniques of magic may be part mystery and part mystification, leaving readers to wonder whether his treatment of thaumaturgy deserves dismissal or serious appraisal. However, Péladan engages readers not just by promising to impart the secrets of esotericism. It was also Péladan’s evocation of the hothouse world of Parisian esthetes and intellectuals that drew readers to his book. As Beaufils remarks: „la description d’un milieu de pervers mondains sur un canevas délicieusement romanesque” was a failsafe strategy for ensuring for his novel „un succès immédiat” (31). <?page no="261"?> The Grammar and the Key 261 A titillating overview of the lushly sacrilegious indecencies of urban artists and aristocrats, Le Vice suprême counterbalances its prurient exposé of decadent mores with a serious defense of magic, offering a glimpse into a world of upper-class evil, while encouraging readers to reject it as Mérodack does. The narrative encourages reader identification with Péladan’s hero, satisfying their curiosity while simultaneously affording them a position of moral superiority. Opposing the vain conceits of science, which replaces mystery with determinism, Péladan uses Mérodack to show the appeal of hermeticism with its inaccessibility and grandeur. Repelled by materialism and money, Mérodack sees bodies purified by abstraction, sublimated into luminous sidereal auras, a world where the crassness of the deed gives way to the immaculacy of its inspiration. Itself a paean to obliterative idealism, Péladan’s text is „about Thought, not activity” (Kohn 247). Characterized by his mystic superciliousness, Péladan’s hero flees from Schopenhauer’s entangling webs of illusion and desire, and situates himself instead in a place accessible only to an aristocracy of creativity and genius. Péladan’s characters eschew contamination by human interaction, preferring to perform as stars in moral or metaphysical dramas. Ordinarily accessible to everyone, objects in Péladan are distilled into mystic symbols. Private spaces are deserted in favor of the temple or the theater. Prophylactic in its application, yet destructive in its effects, magic in Péladan is deterrent or retributive, discouraging malicious acts or punishing sins already committed. Immersed in a stifling atmosphere of corrosive intellectual cynicism, Péladan’s magus is no hermit fastidiously cloistered in solitary contemplation. Consorting with perverted painters whose minds are haunted by androgyny, innovators in crime and cynicism, merchants of aphrodisiacs, Mérodack joins in Prince de Courtenay’s circle of dominicaux, intellectuals who convene „au sabbat du Verbe […] pour profaner et souiller l’Idée” (210). The hyperacuity of their sacrilegious ingenuity raises them above the plane of commonplace evil. Cleansed of its interpersonal application, consigned to the realm of playful conversation, supreme vice appears innocuous in its practical inconsequentiality. Disconnecting sinful acts from transgressive conceptualization, Prince de Courtenay’s associates are sober in their celebration of theoretical fornication and regicide. Without the detergent property of sacred art, their words are diabolical invocations, „leur pensée étant une page écrite par l’enfer, pour l’enfer” (210). Accompanying the character, readers take their own voyeuristically detached tour of Péladan’s cool world of evil imagined but unpracticed, experiencing what Jean Lorrain calls „hypothétiques luxures” (Monsieur de Bougrelon). „[S]ort[ant] leurs idées comme des lames du fourreau” (213), the Prince’s friends practice outrage as escrime. Consummated in the privacy of their brains, confined to the elegant precincts of aristocratic drawing rooms, l’esthétique du mal achieves a specialized refinement, affecting no one but the connoisseur pleased with his scandalous virtuosity. <?page no="262"?> Robert Ziegler 262 Consuming Péladan’s fiction is analogous to ingesting poison, as evil absorbed in doses of entertaining social realism is neutralized by the administration of supernatural obscurantism. Cultivating sinful impulses without ever really indulging them, Mérodack braves temptation by watching the beautiful Leonora d’Este undress, steeling himself against instinctuality and lust, risking the pollution of his astral light, and then proclaiming: „Je suis Mithridate” (258). In Péladan, the initiate strives to annihilate corruption through the application of his will. In a society devolving into moral chaos, Mérodack introduces magic as a principle that classifies and stratifies. The dynamism animating Péladan’s novel comes from the use of magic that transmutes and ennobles, alchemy that purifies base matter, astrology that maps. Unlike the horizontality of evil that moves from brutishness to demoniality, magic appeals to Péladan with its hierarchical ordering, ranks its practitioners by gradients of knowledge, power, and virtue. Vice takes an individual as a unique utterance by God and makes him indistinguishable from all those who are obedient to instinct. Syntactically arranging human elements in the divine text, magic suggests the etymological link between the occult sciences and language, with grimoire as grammar ordering symbols in order to supply meaning. Fleeing the snare of desire and lust, Mérodack uses magic in his practice of detachment and chastity. Indeed, in Péladan, occult skills work in the opposite sense of sexual desire, which results in degradation, reflexivity, and a relinquishment of self-mastery. Codified in the formulas of ancient ceremonies, the logomantic power of spells and incantations derives from the male prerogative of naming as knowing - recalling that among all the creatures in the Garden, Adam alone possessed the nominative authority to classify and differentiate. Rescued from their gratuitous materiality, objects are revalorized as symbols written as lines of a grimoire. Through magic, what appear to be ephemeral events are acts inscribed on the invisible page of the astral plane, becoming a text of consequence that permanently implicates its author. In Péladan, the world of the magus is one of inflated semiosis. Evolving into an elaborate system of ritual defenses, magic in Péladan protects against a surrender to riot and spontaneity. Repressing the promiscuous confusion of democracy, fleeing the id-dominated realm of pleasure and compulsivity, the magus ascends to the plane of order and authority, where satisfaction comes from self-denial. Evil is overcome when it is analyzed and resisted, when objects are made less terrifying by being understood and not desired, when one realizes the „la femme n’est elle-même que l’allégorie pratique du Désir” (229). In charting Mérodack’s development as a magus, Péladan characterizes him as a man intent on steeling himself against taboo behaviors by the practice of exposure and inoculation. Mérodack rises above the excremental plane of appetite and instinct: „Embourbé un moment dans la fange passionnelle, il s’en dégagea avec […] fureur” (158). Detached from woman depersonalized <?page no="263"?> The Grammar and the Key 263 as allegory, he gravitates toward magic with its majesty and mystery. Subject to apotelesmatic explanation, his life is laid out on a grid of zodiacal signs, which foretell an angry return of the repressed. Representing the sun’s twelve houses, the book of Mérodack’s destiny announces the triumph of passion over intellect, predicting that, at the end, he will become an „assassin par amour” (159). In his account of Mérodack’s initiation into the arcane arts, Péladan’s narrative remains as opaque as its material. Recalling the divinatory methods of the gematria, Mérodack had practiced numerology, „demanda[nt] leurs lois aux nombres, aux lettres leur ésotérisme” (159). Shunning life, he experiences it only through a disintegrative analysis of its building blocks. Magic with its emphasis on secret names, unalterable rituals, fights against the deterioration of things into muddle and confusion. But entanglement in the infinitesimally small, an obsession with the ceremonial minutiae of necromantic teachings, risks leaving the seeker lost in a maze of ominously unreadable signs and portents. Yet despite Mérodack’s cultivation of psychic quietism, he is afforded no isolation or withdrawal, but is instead required to expose himself to desire in order to overcome it. To resist the sin of pride, he goads a weak man into slapping him, encourages the insults of an adversary who taxes Mérodack with cowardice. Assigning vengeance to the Lord, he endures the discipline of humility, and then paradoxically is proud when shame’s redness becomes his crown, „[le] rubis sur son front” (161). In order to combat sloth, he cultivates a life of self-indulgent indolence, then devotes eighteen-hour days to writing turgid metaphysical treatises. Lust, the sin polluting the astral light with larval shadows, is neutralized when Mérodack is left unaffected by the spectacle of undressed women. Mérodack visits brothels, pays court to society ladies, remains unmoved by female nudity, displaying „une continence monstrueuse” (163). The prophylactic discipline that Mérodack adopts differs only in its goals from morbid delectation. For the Decadents, perversion is intellectualized out of fastidious refinement. Anemic sinners, they imagine the vices they are too exhausted to engage in. Yet For Mérodack, temptation is summoned and then dismissed, leaving him hard and cold and strong: „La Bête était vaincue dans tous ses protéismes” (163). Péladan’s writing may be intended as a similar exercise in temerity, evoking and mastering social evils seen as dangerous and toxic. As the magus performs secret ceremonies, replacing disorder with lucidity, the writer observes the rites of literature in his attainment of self-mastery. As Lévi writes, „chasser les ombres de ce chaos et lui faire donner des formes parfaites à nos pensées, c’est être homme de génie, c’est créer, c’est avoir triomphé de l’enfer” (95). Inspired by Lévi, Péladan extols magic as a celebration of the transitivity of the Logos, le Verbe, which when spoken by God, is efficacious, embodied <?page no="264"?> Robert Ziegler 264 in creation. Equating expectoration and speech, food and words, associating orality and language, Péladan establishes a hierarchy of things put in the mouth and expelled from the lips. Profaning God’s sacred utterance, the man who commits sins of the mouth swallows the primordial dirt of the uncreated, desecrating art’s sacramental purpose. Mérodack excoriates the members of Prince de Courtenay’s jaded brotherhood, recoiling from the stink of goat’s kisses on their breath, the mephitic odor of le Bouc: „Vos lèvres, à vous, au lieu de l’Eucharistie, ne connaissent que l’hostie sacrilège. Coprophages! qui ne savez que la parole qui blasphème et le baiser qui pue” (235). In the novel, Péladan offers his own post-lapsarian allegory of desire - telling the story of Corysande d’Urfé, an orphaned protégée of Prince de Courtenay, an incarnation of femininity as immaculacy and innocence. Living among the dominicaux in the vitiated atmosphere of their cynicism, she remains untainted by their exchanges of blasphemous persiflage. The plot to drug and rape the virgin constitutes the novel’s only action, providing a symbolic reenactment of the banishment from Eden, nature’s corruption through its permeation by treacherous intelligence. Daughter of no one, Corysande is absolved of the guilt of family history, becoming an angel or a Muse inspiring chastely superannuated romances (114). Adopted by the prince, watched over by the magus, she proleptically embodies purity as loss, representing anachronistic goodness persisting in an era of universal depravity. Péladan’s allegory of virtue’s murder is the culminating moment of the novel, signaling the irreversible movement toward the collapse of Western culture. Since magic is ineffective in preserving righteousness and innocence, Mérodack can draw from his arsenal of esoteric weapons only to sanction the evildoer. The Limitations of Magic Despite endowing the magus with terrifying power, Péladan thus emphasizes the inadequacies of the necromantic arts. Mérodack is pictured as becoming increasingly isolated, and his presecience, his capacity to foresee disasters that are looming, only deepens his frustration at being unable to avert them. Ordinarily, in Péladan’s conception of the moral universe, sin incurs its own punishment. Projecting on the astral plane „ses miasmes et ses molécules invisibles” (Lévi 93), evil deeds rebound onto the perpetrator and exacerbate his obsession. Thus, an immodest actress on stage becomes „un magnétiseur inconscient” (259), drawing the audience’s lecherous gaze, kindling their obscene fantasies, so that though „un effet de choc en retour,” desire is redirected toward its source. Evil’s subtle residue envelopes and saturates the malefactor, and through what Lévi variously refers to as “une lumière <?page no="265"?> The Grammar and the Key 265 latente or un fluide”, causes guilty ideation to return and haunt the mind of the transgressor. Péladan’s definition of magic incorporates a similar economy, connecting consequence to action, locking the sinner in his private hell. Thus, the imperious femme fatale, Princess Leonora d’Este, is obsessed by the wish to seduce the morally unassailable Father Alta, yet „elle voit revenir contre elle tout le fluide nerveux qu’elle a émis” (320). Adopting Lévi’s term goetia as demonic infestation - chaos preceding the ordering of the world by the Word - Péladan shows how psychic turmoil is the consequence of sinful acts. A brain tenanted by ghosts, bedeviled by self-hatred is the stage on which the addiction to punishment is played out. Becoming a retributive force, the desired object „reste à l’état de larve fluidique dans l’atmosphère astrale” as its infects the victim’s mind „et le pousse à récidiver” (96). Similarly, Mérodack remonstrates with de Courtenay’s colleagues about the toxicity of their iniquity, explaining how a painter obsessed with androgyny is incapable of lofty visions, how a cynic deprived of hope foregoes the possibility of temporal renewal. Only rarely can an evildoer operate with impunity, requiring the magus to try to intervene and use his power to right the balance. But when the fateful moment comes, even though he is equipped with special skills, Mérodack is unable to prevent the misfortune that is impending. In Péladan’s loss of innocence fable, the Marquis de Donnereux is the consummate despoiler, oily, old, leering, methodical in his acquisition of rare pornography. The antipathetic enemy of everything clean and uncontaminated, he is a degenerate in whom is concentrated the principle of cultural decay. Using a chambermaid to administer a potent sleep-inducing agent, he violates Corysande in a darkly necrophilic scene - pausing before he begins his work to pollute his victim with his gaze, resembling „[l]a limace [qui] contemplait la rose avant d’y baver” (325). More sacrilegious than Leonora’s project to corrupt a priest, virtue’s murder elicits the retaliatory outrage of the magus who, using his powers, identifies the perpetrator and then administers heaven’s vengeance. Traveling astrally, Mérodack employs a somnambulist to witness a reenactment of the crime, drawing on magic to reverse the narcotic effects of the potion, substituting sleep as lucidity for unconsciousness as helplessness. In the final chapters, Péladan shows the magus deploying the full repertoire of his arcane skills, inducing sleep clairvoyance, practicing insufflation to soothe the anxious victim, casting a spell that visits punishment on the assailant. Using techniques that Lévi classifies as divinatory or thaumaturgic, Mérodack practices somnambulistic mediation, astral travel, breath as anesthesia, spell-casting as a means of enacting superhuman justice. Having identified Corysande’s attacker, Mérodack dispels her alarm, and by breathing on her temples, induces soothing dreams („L’insufflation froide <?page no="266"?> Robert Ziegler 266 apaise les douleurs,” as Lévi writes [326]). Using metonymy as magic, he fashions a wax doll of the marquis, affixes a head band on the effigy, and - as the somnambulist reports - implacably tightens the serre-tête, causing the rapist to thrash and scream, until Mérodack crushes the figurine and thereby executes God’s punishment. It does not matter that the magus tries to spare the sensibilities of his protégée; Corysande worries as a consequence of the lacuna in her memory. Intuiting the truth of the attack and her ensuing pregnancy, she catches a mortal chill that kills both her and her unborn baby. In the novel, magic is shown as operating in similar fashion, causing evil to miscarry when it is already too late. Apart from the envoûtement that sanctions the violent theft of innocence, Mérodack’s supernatural abilities serve to counteract or neutralize - taking the reality of evil and undoing it with the word or breath. Assassin par amour, Mérodack is limited in his power and, because of his limitations, can only destroy what threatens love. In Le Vice suprême, a concatenation of seemingly unrelated misfortunes underlines the true powerlessness of the magus. A hapless, well-intentioned speculator, practicing the profane alchemy of investment, wishing to restore the sovereignty of king and nobles, loses everything in a market crash - plunging Prince de Courtenay into ruin and causing him to die at his own hand. Unable to stand the stain of shame, Corysande survives only briefly, then goes to join the others guilty of the mortal sin of suicide. The magus, adept at chiromancy, reading lines of text on hands and foreheads, does not prophesy but is instead inscribed in the book of his own destiny. Péladan’s necromancer cannot initiate change, cannot innovate or build but only minimizes the injury wrought by all-pervasive evil. Magic and faith In the confrontation of ochlocracy and elitism, Péladan shows the necessity of prodigal children again becoming answerable to a disciplinarian whose law had gone unenforced for too long. Like other reactionary Decadents, Péladan yearned for a restoration of the established order, a reaccession of the king, a return to the veneration of Catholic doctrine, relief from repressed guilt born of oedipal insubordination. Among this group, as Michelle Besnard-Coursodon asserts, „le crime qu’ils partagent, c’est le meurtre du Père. Nietzsche l’avait proclamé en 1885: Dieu est mort. Péladan ne cesse de le rappeller, et de vitupérer: une société d’où est evacué le Père - peuple sans chef, corps sans tête, est une société […] vouée à l’Apocalypse. Tel est le sens du FINIS LATINORUM qui termine Le Vice suprême” (122). In Péladan’s later novels, the metaphysically constructive role not discharged by the initiate is assumed by officers and soldiers of the church. In his generally laudatory preface, Barbey taxes Péladan with endorsing magic, <?page no="267"?> The Grammar and the Key 267 an error which Barbey says is „absolument contraire […] à l’enseignement de l’Eglise” (Préface de Barbey d’Aurévilly xvii). By glorifying a knowledge system that exalted human pride, Péladan, according to Barbey, had resorted to sensationalism in order to generate interest in the book, making his narrative implausible by introducing „un merveilleux extra-humain” (xix). But in the hierarchical order which Péladan supported, the magus occupies an intermediate place between the layman and the priest. Rejecting the characterization of magic as heretical, Péladan shows Mérodack volunteering to work in the interests of the church. Characterizing the alliance forged between the hierophant and cleric, he describes Mérodack visiting Alta in the cloister of Notre-Dame. In a profession of mutual admiration, they acknowledge a common cause: „le Prodige de la Grâce et le Prodige de la Volonté, le Moine et le Mage s’embrassèrent” (291). Up until the conclusion of Péladan’s Ethopée, Mérodack and Alta strive together to recreate a world structured by discipline and virtue, subordinating selfishness to idealism, subjecting impulse to control, substituting hierarchy for randomness, placing the child beneath the father. Alta sees hereditary aristocracy as an obsolete institution, but says that the crusaders who once set out to liberate the Holy Sepulcher must now pledge to defend the sacred cause with philanthropy and art. Fulminating against the irreligion of his congregants, he summons his audience to again take up the sword: „prenez la plume, le compas, la parole, magnifiez le Verbe dans une oeuvre, futelle seulement utile” (293). Originally, there is the indivisibility of the creator and his work, primordial stuff, raw material unprocessed by intelligence. Before the artist applies his hand and mind, there is the empty page, the lump of clay. Then comes the discovery of the mission, which is expressive and transformative, further clarifying the Logos by human exegesis. What is life’s purpose for the magus, as Péladan’s narrator inquires? „il ne peut être […] que l’occasion et le moyen de faire un chef d’oeuvre de ce bloc d’âme que Dieu lui a donné à travailler” (246). For the members of the Rose-Croix who collaborate in La Vertu suprême, producing a masterpiece is the prime objective of artists, geniuses, priests. It is work combining a spiritual, ethical, and esthetic component, creation whose purity is incompatible with procreation. Inheritors of the Albigensians who reject materiality and marriage, they believe, as Péladan’s visionary says: „Ceux qui engendrent de l’esprit ne doivent pas engendrer selon le corps” (385). For Péladan, the goal of the writer, monk, and alchemist is to make matter as good as gold through ordering refinement: „Chercher l’idéal dans la perfection de son coeur, n’est-ce pas l’art suprême? ” (Le Vice suprême 51). In Alta’s admonition to his congregants, he expresses Péladan’s conception of a sanctified esthetic, in which privilege is the equivalent of merit. Nobility does not depend on ancestry or fortune. Consecrated by their actions, there is only one higher race, les Aristes - the best - who through achieve- <?page no="268"?> Robert Ziegler 268 ment, do God’s work on earth and postpone the extinction of the race. „Génie et vertu,” as Alta says, „voilà les aristocraties éternelles de ce monde et de l’autre” (293). Commenting on magic, Péladan’s insists on the historical supersession of hermeticism by the Gospels: „L’adoration des Mages signifie l’abdication des ésoterismes devant l’Incarnation de la Vérité. Ce qu’il y a de vrai, de fecond dans la magie, se trouve dans les paroles que Jésus a prononcées, et l’Evangile annule les clavicules et des grimoires, puisqu’il les surpasse” („L’Occultisme contemporain,” qtd. In the Préface by Jean-Pierre Bonnetot, vi). A confederate of Father Alta, Mérodack may display a supernatural prescience that allows him to promote Catholic doctrine in a way the priest cannot: „Moine,” as he apostrophizes his ally, „les mages vinrent adorer Jésus alors que les prêtres ignoraient sa naissance.” Thus, he says, „ce sont les mages qui feront arriver le règne de Dieu” (392). Yet it is also foreknoledge that proves to be Mérodack’s greatest curse, the ability to see the future while remaining powerless to prevent it. In Péladan’s novel, the magus’s most salient feature is this disenchanting wisdom, the ethical superiority that isolates and estranges. Living in the midst of philosophers and poets, Mérodack is condemned to remain alone, since because of his moral absolutism, he is confined to his role as admonitory judge. Like the author, Mérodack deplores the revolutionary principle of solidarity, insisting that in place of freedom, equality, and brotherhood, there are the obligations accompanying rank. Incumbent on the writer/ magus is the responsibility to help his inferiors, whence his position in a paternalistic system of generosity and debt. As Péladan writes, „le vrai nom de liberté, c’esr DEVOIR; le vrai nom d’égalité, c’est HIERARCHIE; le vrai nom de fraternité, c’est CHARITE” (391). The same dutes assumed by the aristes are what determine their lonely moral pedigree. As Beaufils maintains, magic for Péladan „consiste à être totalement maître de soi, de ses impulsions, à rejecter la grossiereté bourgeoise d’un pays démocratique, et surtout à cultiver […] son orgueil pour faire de soi une personnalité intraitable” (89). Péladan therefore complements his picture of esotericism - secret teachings that offset evil, punish crime, and thwart disaster - with a positive image of religious faith as a creative principle inspiring hope. The sacerdotal brotherhood of which Alta is a member is negatively imaged in Prince de Courtenay’s brotherhood of dominicaux, and mirrored in the Society of the Rose-Croix as it appears in La Vertu suprême. But because Mérodack refuses to compromise on his insistence on sexual purity, he is alienated from his allies and left to set out alone. While the magus is isolated by his ideological intransigence, the priest participates collectively in advancing the institutional agenda of the church. In Le Vice suprême, it is Alta who articulates Péladan’s conception of a new confederation of artist/ seers committed to sacred goals, an association that <?page no="269"?> The Grammar and the Key 269 Péladan sought to found by constituting la Société de la Rose-Croix. Along with working to reintegrate the Greek Orthodox and Roman Church, Alta dreams of establishing „un tiers ordre tout intellectuel de poètes, d’artistes et de savants, une armée du Verbe; imposant par la force du chefd’oeuvre et du document le sceau catholique à toutes les manifestations du génie humain” (341). At the conclusion of Péladan’s final volume, Alta continues to advance the same agenda, enjoining artists of virtue to sculpt the bloc d’âme they were given to shape, doing God’s work, and fulfilling his word in the creation of a masterpiece. „Qui de nous,” as he asks of his Rosicrucian brothers, „serait l’ombre de lui-même, sans le livre, le monument, la statue et le tableau? Miroirs profonds, nous avons retenu le rayonnement du chefd’oeuvre, mais de lui nous est venue la lumière; devenons lumineux: oeuvrons” (La Vertu suprême 391). Conclusion However, Péladan’s dream of a reconciliation of art and religious faith, as outlined in La Vertu suprême, remained an unattainable ideal. Péladan quarreled with the leaders of the other Rosicrucian faction, Papus and Stainlas de Guaita, who disavowed the Sâr’s beliefs. He witnessed the dissolution of the Société de la Rose-Croix, whose achievements were far less spectacular that their fictional counterparts’. Seeing himself as Moses condemned to die before reaching the promised land, he resolved to leave his work as a map for the seekers who would follow: „puisque notre volonté n’étreint pas l’événement,” as Alta says, „que notre esprit illumine les volontés prédestinées et prochaines” (La Vertu suprême 391-2). On the one hand, Péladan envisaged a literature designed to enlighten and proselytize. As Beaufils writes, for „l’homme moderne [qui] avait perdu la foi, „the writer’s mission „serait de promouvoir la sensibilité par l’oeuvre d’art” (77). On the other hand, since, its highest form, art remained inaccessible to the profane, Péladan’s fiction, with its florid style, its arcane references, and rare vocabulary, was intended for consumption by a restricted and elite audience. Like magic, whose secret teachings appealed to readers yet remained obscure and elusive, Péladan’s fiction may also seem to promise knowledge that it ultimately does not deliver. The question remains as to what determines the value of Péladan’s work. Are his novels hollow and overblown? Is there no substance beneath the jargon and melodrama? Or is the merit of Péladan’s text dependent on the assiduousness of audience inquiry, such that the sincerity of the quest for meaning is rewarded with extraordinary disclosures? At the conclusion of Le Vice suprême, Péladan casts doubt on the value of magic. Is it an authentic secret discipline that rewards practitioners with spe- <?page no="270"?> Robert Ziegler 270 cialized knowledge? Or it it imposture, an empty promise that bring only loneliness and disappointment? A sense of pessimism accompanies the image of wise men helpless to rescue humanity. In the final chapter, the historical and institutional father - the earthly spokesman for a God who had withdrawn from decadent society - is reintroduced in the character of Mérodack’s fellow Kabbalist, Rabbi Sichem. Questioning the benefits of the rare insight he possesses, Sichem paints a dispiriting picture of the decadent society he is powerless to reform - deploring the relaxation of discipline, bemoaning the diffuseness of authority, complaining that trespasses are committed without real pleasure or enthusiasm. Like Péladan, Sichem considers magic as correctional and reactive: „le mal est offensif,” he says, „et le bien seulement défensif” (388). Despite the timeless teleological arc suggesting fulfillment of the messianic promise - despite the conversion of the rabbi „à qui le Kabbale avait prouvé l’Evangile” (384) - the efficacy of magic in hastening the return of king and Savior remained problematic for Péladan, whose readership was limited. While offering an encomium to art that reveals a sacred truth, Péladan’s fiction descends from an exclusive literature characterized by its inaccessibility - apostolic in its goals, yet aristocratic in its expression. So while the Salon de la Rose-Croix provided the „forum for an extraordinary artistic showcase” (Kohn 253), Péladan’s incongruous persona detracted too often from his message. As Kohn writes, Péladan’s „meridional expansiveness, overbearing nature, effusive mannerisms, and […] decadent prose inspired impatience, doubt, and exasperation; how could one take the Sâr seriously? ” (251). Unsettled, the question remains whether magic is real, its benefits tangible. Ambivalence is not a strong enough word to describe the prevalent reaction to Péladan. A showman, a visionary, an esthete, a charlatan, a buffoon: Péladan addresses present-day audiences on the same dual register as he did his contemporaries. Readers experiencing his treatment of magic as mystification and illusion risk displaying the inertia that Péladan complained of in his peers. Secret teachings are not transmitted without affecting the initiate. Magic literature is not assimilated without ennobling its reader. Péladan’s novels are intended to uplift and illuminate, serving as signposts for „les volontés prédestinées et prochaines.” Servile bourgeois art aspires only to reproduce its model, „alors qu’il devrait le transfigurer,” as Péladan recommends (La Décadence esthétique I, L’art ochlocratique, Dalou, 1882, qtd. In Besnard-Coursodon 133). It is by trying to grasp the principles of thaumaturgy that one unriddles its mystic formulas, by studying its precepts that one disentangles the grimoire. Péladan’s insistence on hierarchical ordering distinguishes true seekers from lazy dilettantes, elevating the genius over the imbécile, separating the virtuous from the cowardly. Judging his magic paraphernalia as futility and silliness, Péladan’s detractors dismiss his fiction with its clutter of conjurations and astral voyages. But the Fool is the most accessible and mysterious of the Arcana, the Juggler <?page no="271"?> The Grammar and the Key 271 whose eyes turn heavenward and who is crowned with the symbol of infinity. To be sure, Péladan is an overwrought stylist, a self-anointed hierophant, a hirsute clown, but one can learn his secrets only if one approaches his writings seriously. Clavicle and grimoire: magic as edifice and blueprint: if readers are willing to look beneath his novel’s surface meretriciousness, they chance on seeing its mystic gibberish resolve itself as meaning - finding that if they learn the rules of grammar, he may deliver them the key. Works Cited Barbey d’Aurévilly, Jules. Préface to Le Vice suprême. By Joséphin Péladan. Geneva: Slatkine, 1979, vii-xx. Beaufils, Christophe. La Sâr Péladan 1858-1918: Biographie critique. Paris: Aux Amateurs de Livres, 1986. Besnard-Coursodon, Michèle. „Nimroud ou Orphée: Joséphin Péladan et la société décadente.” Romantisme 13.42 (1983): 119-136. Kohn, Ingeborg M. „The Mystic Impresario: Joséphin Péladan, Founder of Le Salon de la Rose+Croix. Secret Texts: The Literature of Secret Societies. Eds. Marie Mulvey Roberts and Hugh Ormsby-Lennon. New York: AMS Press. 1995, 228-257. Lévi, Eliphas. Dogme et Rituel de la Haute Magie. Paris: Editions Niclaus N. Buissière. 1972. Péladan, Joséphin. La Vertu suprême. Paris: Ernest Flammarion, 1900. ---. Le Vice suprême. Geneva: Slatkine, 1979. <?page no="273"?> Marco Frenschkowski Charles Godfrey Leland (1824-1903) und die Ursprünge der Wicca-Religion 1. Charles Godfrey Leland: eine biographische Skizze 2. Leland als Sammler: „Zigeuner”, Indianer, Hexen 3. Lelands religionsgeschichtliches Paradigma 4. „Vecchia religione”: Lelands Beitrag zur Hexenforschung 5. Wicca: Lelands Vermächtnis? Anhang: Lelands Buchpublikationen - eine Bibliographie 1. Charles Godfrey Leland: eine biographische Skizze 1 Charles Godfrey Leland 2 verdient ein ehrenvolles Gedenken als ein unermüdlicher Sammler von Erzählungen, Liedern, Legenden, Zaubersprüchen, verschollenen Sprachen und Bräuchen, in mancher Hinsicht von allem, was die bürgerliche Gesellschaft des späten 19. Jhdts. als sprachliches bzw. narratives Überbleibsel vergangener Kulturepochen in ihrer Mitte ansah. 1 Die folgenden Zeilen sind Nebenprodukt einer Studie über die Wurzeln der neopaganen Wicca-Religion im 19. Jahrhundert, die ich an anderem Ort vorzulegen beabsichtige. Diese Interessenlage hat dazu geführt, dass ich von Lelands Bedeutung für die „neuen Hexen” ausgegangen bin und nur allmählich seines Gesamtwerkes ansichtig wurde. Das ist insofern symptomatisch, als praktisch die gesamte neuere (spärliche) Sekundärliteratur zu Leland je nur einen kleinen Ausschnitt seines Lebenswerkes im Blick hat. Eine monographische Darstellung im Kontext der Folklore-Bewegung des 19. Jhdts. wäre von erheblichem Interesse, wie die folgenden Andeutungen m. E. zeigen werden. 2 Die wichtigsten Quellen zur Biographie Lelands sind seine autobiographische Schrift „Memoirs“ (London 2. Aufl. 1894; zuerst in 2 Bänden London 1893) sowie die zweibändige umfängliche und sorgfältige Biographie „Charles Godfrey Leland“, an der seine Nichte, die angesehene amerikanische Kunstkritikerin Elizabeth Robins Pennell (1855- 1936) schon zu seinen Lebzeiten gearbeitet hatte und die schließlich drei Jahre nach Lelands Tod Boston und New York 1906 erschien. Elizabeth Pennell kannte Leland von ihrer Kindheit an und hat ihn noch vielfach in seinen letzten Lebensjahren in Italien besucht. Förmlich mit der Abfassung einer Biographie ihres Onkels betraut, hatte sie freien Zugang zu allen privaten Aufzeichnungen Lelands. Gemeinsam mit ihrem Mann Joseph Pennell (1857-1926), den sie 1884 geheiratet hatte, war sie auch wesentlich an der wachsenden öffentlichen Anerkennung für den Maler James McNeill Whistler beteiligt, dessen Biographie das Ehepaar gemeinsam 1908 und erweitert 1929 (nur unter dem Namen Elizabeth Pennells) publizierte. Elizabeth Pennell war ohne Frage eine exzellente Biographin mit feinem Gespür für die facettenreiche Persönlichkeit Lelands. Eine Reihe autobiographischer „Memoranda“ Lelands sind unpubliziert, aber bei Pennell bereits berücksichtigt. <?page no="274"?> Marco Frenschkowski 274 Dabei richtete sich sein immenser Fleiß gerade auf jene magischen bzw. superstitiösen Subkulturen, die einerseits längst Gegenstand gesellschaftlichen Mißtrauens und gesellschaftlicher Überlegenheitsattitüden geworden waren, die aber andererseits in der 2. Hälfte des 19. Jhdts. auch als archaisches Fascinans wiederentdeckt wurden. Seine Informanten waren dabei Menschen, die sich am Rande der viktorianischen Gesellschaft bewegten (bzw. ihres Gegenstückes in den USA und in Italien) - seien sie Zigeuner und anderes „fahrendes Volk“, Algonkin-Indianer an der amerikanischen Ostküste, oder Wahrsagerinnen, Kartenlegerinnen und „Hexen“ in der italienischen Toskana. Zu ihnen fand er leicht Zugang - eine Begabung, die ihm Türen öffnete, die zum Teil kaum ein anderer Sammler seitdem durchschreiten konnte. Im besonderen suchte er systematisch nach narrativen und volksmagischen Traditionen, die in der zeitgenössischen Volkskunde noch nicht bearbeitet waren, und die in einem christlichen Bezugsrahmen nicht recht zu verstehen waren. Dabei wurde er zum Entdecker eines breiten Stratums paganer Traditionen insbesondere in Italien, der „vecchia religione“. Seine Materialien sind freilich in vielen Fällen in ihrer Authentizität umstritten, was dazu beigetragen hat, dass sie in der neueren volkskundlichen Forschung nur noch wenig Beachtung gefunden haben. Dieses Problem wird uns später ausführlicher beschäftigen, ist jedoch für die Frage von Lelands Rezeption in der neopaganen Bewegung nicht ausschlaggebend. Daneben war Leland als Journalist, Übersetzer deutscher Literatur ins Englische (u.a. Heinrich Heines) 3 und Verfasser humoristischer Gedichte, vor allem aber als Vorkämpfer einer pädagogischen Erneuerung des amerikanischen Schulwesens (Integration von praktisch-handwerklichen Fertigkeiten in das Schulcurriculum) in vieler Hinsicht ein geachteter Mann der Kulturszene. Auch zu Themen der Frauenbewegung des 19. und frühen 20. Jhdts. hat er einen beachtlichen Beitrag geleistet, der vielleicht von der Forschung noch einmal ausgiebiger wiederentdeckt werden wird 4 . Seine volkskundliche Sammeltätigkeit war nur ein Ausschnitt aus einem facettenreichen Leben, innerhalb dessen sie gewürdigt sein will. 3 Jeffrey L. Sammons, Charles Godfrey Leland and the English-Language Heine Edition, Heine-Jahrbuch 1998; auch in: ders., Heinrich Heine. Alternative Perspectives 1985- 2005. Würzburg 2006. 4 Vgl. seine Schrift „The Alternate Sex, or, The Female Intellect in Man, and the Masculine in Woman“, London 1904 (posthum erschienen), die eine von Lelands letzten Arbeiten darstellt und bis in viele Details C. G. Jungs Vorstellungen von Animus und Anima als kreativen gegengeschlechtlichen Archetypen im Unbewussten vorwegnimmt. Ein Zusammenhang des Themas der Wiedergewinnung des „Weiblichen“ im Manne und des „Männlichen“ in der Frau mit der Emanzipationsbewegung wird explizit hergestellt, wie das Buch überhaupt mit erstaunlich modernen Gedanken überrascht, bedenkt man, dass Leland im konservativen Amerika der 1820er und 1830er Jahre sozialisiert wurde. Lelands eigene Bücher werden im folgenden nur mit Kurztiteln zitiert; vgl. jeweils das Gesamtverzeichnis am Ende dieser Studie. <?page no="275"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 275 Heute erinnert man sich seiner weithin vor allem als eines Ahnherren der „neuen Hexen“, der Wicca-Religion, obwohl er auch in den Annalen der amerikanischen Literatur einen soliden Platz innehat. Für das letztliche „Umkippen“ des traditionellen Hexenparadigmas (aus den „bösen“ Hexen der Vergangenheit wurden „gute“ Hexen, die sich geradezu als Identifikationsfiguren des esoterischen Segments der Frauenbewegung anbieten) ist Leland ohne Frage eine Schlüsselfigur gewesen. Dabei hat die Wicca-Gemeinde Leland gegenüber durchaus ein ambivalentes Verhältnis, wie zu zeigen sein wird. Leland ist ein respektierter, aber nicht unbedingt geliebter „Vater“ im neopaganen Raum. Seine eigene Faszination mit Themen des Okkulten hat er selbst durchaus ambivalent gesehen. Gerne hat er eine Episode berichtet, die er nur aus späteren Erzählungen seiner Familie kennen konnte: „I should mention that my first nurse in life was an old Dutch woman named Van der Poel. I had not been born many days before I and my cradle were missing. There was a prompt outcry and search, and both were soon found in the garret or loft of the house. There I lay sleeping, on my breast an open Bible, with, I believe, a key and knife, at my head lighted candles, money and a plate of salt. Nurse Van der Poel explained that it was done to secure my rising in life - by taking me up to the garret. I have since learned from a witch that the same is still done in exactly the same manner in Italy, and in Asia. She who does it must be, however, a strega or sorceress (my nurse was reputed to be one), and the child thus initiated will become deep in darksome lore, an adept in occulta, and a scholar. If I have not turned out to be all of this in majoribus, it was not the fault of my nurse.“ 5 Der selbstironische Tonfall gegenüber der öffentlichen persona eines Gelehrten für allerlei obskure und okkulte Ränder der Gesellschaft ist Leland zeit seines Lebens geblieben; er hat nie aus dem Blick verloren, wie andere seine Leidenschaft für Zigeuner, Indianer und Hexen wahrnehmen mussten, gerade im viktorianischen England, das in vieler Hinsicht stärker als seine Heimat Amerika den Bezugsrahmen seines späteren Wirkens ausmachte. Leland selbst war entschieden kein Okkultist. Sein Blick ist der des faszinierten Sammlers, nicht der des selbst teilnehmenden Praktizierenden der Magie. 6 Nur spielerisch konnte er z. B. demonstrieren, dass er die Kunst des dukkerin (des zigeunerischen Lesens aus den Handlinien, das auf genauer und 5 Memoirs, 4. 6 In der neopaganen Szene wird gelegentlich behauptet, Leland habe sich selbst als Magier verstanden oder sei ein Eingeweihter“ der Hexenwesens gewesen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Den angeführten Indizien (spielerischen Formulierungen über „unsere noble Kunst“ u.ä.) stehen lange und präzise Passagen gegenüber, die Lelands eigenen Standpunkt beschreiben; dazu s. im folgenden. Anders z. B. Raven Grimassi, Hereditary Witchcraft. Secrets of the Old Religion. St. Paul, Minnesota 2003, 220f. Allerdings ist es zutreffend, dass die romanhafte Essaysammlung „Flaxius. Leaves from the Life of an Immortal“ (London 1902), eines der letzten Bücher Lelands, in die Figur des weise-spöttischen unsterblichen Magiers Flaxius autobiographische Züge einbezogen hat. <?page no="276"?> Marco Frenschkowski 276 intuitionsgeleiteter Beobachtung des Gegenübers beruht) in Perfektion begriffen hatte. 7 Leland gehört als einer der letzten in jene Schar von Gentleman- Sammlern und Forschern, die im 19. Jhdt. der zunehmenden Professionalisierung der Volkskunde und Ethnologie erst den Weg gebahnt haben. Obwohl von seiner Herkunft her Amerikaner, ist sein kultureller Ort Europa, wo er die uns interessierenden späteren Jahre seines Lebens nicht nur geistig, sondern auch ab etwa 1870 in persona meist verbracht hat, in Großbritannien und Italien. Richard M. Dorson hat der britischen volkskundlichen Bewegung ein liebevolles Porträt geschaffen 8 : Thomas Keightley und Thomas Wright, Andrew Lang und Edwin Sidney Hartland, Alfred Nutt und George Laurence Gomme, Edward Clodd und Francis Hindes Groome, Joseph Jacobs, John Francis Campbell of Islay und John Rhys sind nur einige einige der Namen, an die man hier denken wird. Sie alle haben die Volkskunde nicht als „Beruf“ betrieben, sondern als gebildete Laien ihre Zeit und ihr Vermögen in die Etablierung einer Wissenschaft investiert, die zu dieser Zeit noch nahezu keine akademische Absicherung hinter sich hatte. 9 Zugleich sind sie - nicht immer als Einzelpersonen, aber als Bewegung - jenen Weg vorangegangen, der sich aus der kolonialen Situation ergab. Das kulturell Fremde begegnete ihnen zwar primär im Brauchtum und in der Sage des eigenen Volkes bzw. seiner bäuerlich-ländlichen Basis (als Engländer, Schotten, Waliser oder Iren), aber parallel dazu auch in den Kulturen des britischen Empire, namentlich Indiens. Beide „Fremdheiten“ - die des eigenen Volkes und die der kolonialen Begegnung - interpretieren sich gegenseitig. Diese große Entdeckung ist heute vor allem mit dem Namen James George Frazer (1854-1941) 10 verbunden, dessen intellektueller Weg von der klassi- 7 The Gypsies, 61-63. 8 Richard M. Dorson, The British Folklorists. A History. Chicago 1968 (da Leland Amerikaner und kein Brite war, wird er nur 234. 272. 300f. 307 en passant erwähnt). Für das intellektuelle Milieu, in dem volkskundliches Sammeln im viktorianischen Großbritannien vonstatten ging, bleibt dieses Buch grundlegend. Ergänzend hat Dorson eine Textanthologie ediert: Peasant Customs and Savage Myths. Selections from the British Folklorists. 2 Bände. Chicago 1968. 9 Hauptwerke der Bewegung sind etwa Andrew Lang, Myth, Ritual and Religion. 2 Bände. London 1887, Rev. Ed. 1899; Edwin Sidney Hartland, The Science of Fairy-Tales. London 1891; George Laurence Gomme, Ethnology in Folklore. London 1892; ders., Folklore as an Historical Science, London 1908, oder - als ein heute vergessener, aber wesentlicher Weggenosse Frazers - E. S. Hartland, The Legend of Perseus. 3 Bände. London 1894-1896. Die geistige Grundbewegung aller dieser Studien ist die Weitung des Blicks von der Volkskultur der britischen Inseln auf das ethnologische Parallelmaterial, das sich in der kolonialen Situation erschloß. In Anfängen wurde auch bereits reflektiert, wie der koloniale Blickwinkel die Wahnehmung der eigenen Volkskultur einfärben mochte. 10 Vgl. Robert Ackerman, James George Frazer: His Life and Work. Cambridge 1987. Neuausgabe Basingstoke 2002; ders., The Myth and Ritual School: J. G. Frazer and the Cambridge Ritualists. New York 1991. <?page no="277"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 277 schen Philologie über die Erforschung von Folklore, Brauchtum und Mythologie zur Kulturanthropologie führen sollte. Aber Frazer hatte Weggenossen und Vorläufer im Zusammendenken von „Eigenem“ und „Fremdem“. Der intellektuelle Weg führte von der antiquarischen Volkskunde über die Völkerkunde zur Kulturanthropologie. Sie alle - Volkskundler, Ethnologen, Anthropologen - standen letztlich nach wie vor im Schatten Jakob und Wilhelm Grimms: ohne die immense Inspiration, die von der Entdeckung der Kreativität des Volkes selbst durch die Brüder Grimm ausging, wäre auch in Großbritannien (und in den USA) die Volkskunde nicht in jener Gestalt und Intensität möglich gewesen, die sie Ende des 19. Jhdts. erreicht hatte. Neu war gegenüber der Epoche der Grimms die sehr viel intensivere Einbeziehung des ethnologischen Vergleichsmaterials. Gerade die britische viktorianische Gesellschaft brachte der Arbeit der entstehenden Volkskunde ein erhebliches Interesse entgegen, als sie sich mit der Ethnologie verband. Die europäischen Gesellschaften hatten im 19. das Volk als kreatives Subjekt seiner eigenen Kultur entdeckt; Lelands Beitrag hierzu ist es, den von der Bildungselite her gesehen äußersten Rand dieses Subjektes in den Blick genommen zu haben. Man interessierte sich für Ideen, Bräuche, Geschichten: die soziologischen Fragestellungen eines Marcel Mauss, Bronislaw Malinowski und Émile Durkheim liegen noch in der Zukunft. Zugleich ist der Historismus prägend: das historistische Paradigma mit seiner Rahmenthese der fundamentalen Geschichtlichkeit von Kultur verband sich mit dem nationalen Interesse an den Eigenarten der Völker und ihrem jeweiligen Charakter. In diesem allgemeinen Rahmen werden wir auch Lelands Arbeit zu verstehen haben. Zum Sammelbecken der Bemühungen um das, was in jüngerer Zeit europäische Ethnologie heißen sollte, wurde ab 1878 die Folk-Lore Society (heute Folklore Society), der auch Leland angehörte. Sein Lebensgefühl den gesammelten Materialien gegenüber war dabei das einer Rettung zu letzter Stunde: bald werde das narrative Gut der Zigeuner und „Tinker“, der italienischen Hexen und Kartenlegerinnen, der toskanischen Bauern ebenso endgültig verloren sein 11 wie das der neuenglischen Indianervölker, deren Aussterben Leland in Amerika zum Teil miterlebt hatte. In der Zukunft liegt für Lelands britisches und amerikanisches Lesepublikum weithin noch die Idee einer Reintegration des Verdrängten: die Attitüde kultureller Überlegenheit ge- 11 „It will come to pass, and that at no very distant day, when--although there will be no lack of people who will understand this book perhaps better than I do--there will not be a soul living who can feel it. For a copy may be kept in some library, even unto the time when there will be no more wild woods, or wildernesses, either rural or human; when every tree and rock will be recorded, and every man and woman be well educated--and all the better for them--probably into something far more sensible than sentimentalism or superstition, but the ancient spirit in which the past was lived will be irrecoverably lost. I have no fear that the outlines, or drawing, of my humble pictures will perish, but I know that the colours will inevitably fade, and yet it is the colour which most impresses me as I now write.“ Etruscan Roman Remains, 123. <?page no="278"?> Marco Frenschkowski 278 genüber dem „Bäuerlichen“ und „Primitiven“ ist noch (beinahe) ungebrochen. Leland sollte hier, wenn auch nur in behutsamen Ansätzen, zum Vordenker werden, wenn sich sein direkter Einfluss nach seinem Tod auch rasch verlor. Schlüsselbegriff der gesamten Bewegung wurde „folklore“ (in seinem Bedeutungsspektrum deutlich von deutsch Folklore zu unterscheiden). „Folklore is the science of tradition“ lautet eine klassische Definition. 12 Der Begriff bezeichnet also sowohl die Gegenstände wissenschaftlichen Sammelns als auch die wissenschaftliche Reflexion des Gesammelten. Er partizipiert an den Obertönen, die im 19. Jhdt. - in Großbritannien durchaus in anderer Form als in Deutschland - dem Wortfeld „Volk, Nation“ anhaften; das müssen wir hier nicht vertiefen. Eine Besonderheit nicht weniger Gentleman- Volkskundler des späten 19. Jhdts., die sie markant von ihren akademischen Nachfolgern im 20. Jhdt. (z. T. aber auch von ihren Vorgängern, den antiquarischen Sammlern des 18. und frühen 19. Jhdts.) unterscheidet, ist ihr Interesse auch für Parapsychologisches: 1882 wurde v.a. von Gelehrten des Trinity College, Cambridge die Society of Psychical Research gegründet; auch sie gehört zum geistigen Umfeld Lelands, wenn auch nur in einem weiteren Sinn. 13 Die großen, mit immensem Aufwand betriebenen Befragungen weiter Kreise der Bevölkerung durch die SPR über „okkulte“ Erfahrungen sind bis heute wertvoll. 12 E. S. Hartland, Folkore: What Is It and What Is the Good of It? London 1899, 7. Vgl. zum Hintergrund im Lebenswerk Hartlands R. M. Dorson, The British Folklorists, 239-248. 13 Im Gegensatz zur eher marginalen Position der Parapsychologie heute bewegte sich die Arbeit der SPR in ihren ersten Jahren im Mittelpunkt gesellschaftlichen Interesses, zumal ihre führenden Köpfe bedeutende Figuren der britischen Bildungselite waren. Der immense gesellschaftliche Rang der britischen SPR spiegelt sich in ihren ersten Präsidenten: 1882-1884 der Philosoph Henry Sidgwick (1838-1900), 1885-1887 der Physiker Balfour Stewart (1827-1887), 1888-1892 wieder Henry Sidgwick, 1893 Arthur Balfour (1848-1930), der spätere Premierminister Großbritanniens (bekannt durch die Balfour- Declaration), 1894-1895 der große amerikanische Psychologe und Philosoph William James (1842-1910), 1896-1897 der Chemiker und Physiker Sir William Crookes (1832- 1919), 1900 der klassische Philologe Frederick William Henry Myers (1843-1901), 1901- 1903 der Physiker Sir Oliver Lodge (1851-1940), 1904 der Physiker Sir William Fletcher Barrett (1845-1926), 1905 der französische Physiologe und Nobelpreisträger Charles Richet (1850-1935), 1906-1907 der Politiker Gerald Balfour (1853-1945), 1908-1909 die Parapsychologin Eleanor Sidgwick (1845-1936), 1910 der Jurist Henry Arthur Smith (*1848), 1911 der Volkskundler und Kulturjournalist Andrew Lang (1844-1912), 1912 Bischof W. Boyd Carpenter (1841-1918), 1913 der französische Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur Henri Bergson (1859-1941), 1914 der Philosoph Ferdinand Canning Scott Schiller (1864-1937), 1915-1916 der klassische Philologe George Gilbert Aime Murray (1866-1957), 1917-1918 Lawrence Pearsall Jacks (1860-1955), Professor für Philosophie in Oxford, 1919 schließlich der Physiker und Nobelpreisträger John William Strutt, 3. Baron Rayleigh (1842-1919), um die Liste nur bis hierher fortzusetzen. <?page no="279"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 279 Lelands Interesse am „Okkulten“ teilt er mit Männern wie Andrew Lang 14 oder William James. Doch war sein Blickwinkel gegenüber den „psychic researchers“ ein anderer. Sein Anliegen war nicht die etwaige Faktizität von Phänomenen, die in der magischen Subkultur 15 tradiert wurden, sondern die imaginative Funktion dieser magischen Traditionen, ihr Wert für die Identitätsstiftung von Menschen am Rand der etablierten Gesellschaft, nicht zuletzt für Frauen der sozialen Unterschicht. In seiner Leidenschaft, die Abgründe und Seitenpfade der Gesellschaft auszuloten, gleicht Leland mutatis mutandis dem unermüdlichen Sammler des Rotwelschen und der sogenannten „Gaunersprachen“, dem Lübecker Obergerichtsprokurator und späteren Schriftsteller Friedrich Christian Avé-Lallemant (1809-1892), dessen monumentales Werk „Das deutsche Gaunertum in seiner sozialpolitischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande“ (4 Teile in 3 Bänden. Leipzig 1858-1862; spätere Drucke sind meist nur Teilausgaben) Leland ohne Frage begeistert hätte (es ist mir nicht bekannt, ob Leland Avé- Lallemant kannte). Beide verkörpern den musealen Sammelfleiß des 19. Jahrhunderts, angewandt auf Subkulturen, denen ihre Zeitgenossen nur verachtungsvoll begegneten. Beide begegneten den Menschen, deren narrative Welten und Sprachen sie dokumentierten, zwar mit Respekt, aber durchaus auch Abstand. Leland war kein Okkultist und auch kein Erneuerer der Magie; trotz Sympathie für die Menschen, deren Traditum er sammelt, bleibt dieses doch immer eben ihre Tradition. Insofern gehört Leland nicht direkt in die Ahnenreihe der Wicca-Religion. Als „wizard“ hat sich Leland nur spielerisch bezeichnet: Mit Eliphas Levi oder Aleister Crowley verbindet ihn kaum etwas. Umso mehr hätte es Leland erstaunt, dass aus hundertjährigem Abstand betrachtet seine eigentliche epochemachende Bedeutung gar nicht in seinen emsigen volkskundlichen Sammlungen liegen würde, sondern in einem schmalen Büchlein - keineswegs einem Hauptwerk innerhalb seines umfangreichen Oeuvres - das zum Quellpunkt einer der erfolgreichsten religiösen Neugründungen des 20. Jhdts. werden würde. Ohne „Aradia, or, The Gospel of the Witches“ ist die neomagische Szene der Gegenwart kaum denkbar, obwohl heutige Praktizierende fast durchgehend ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesem Text haben. Wir werden versuchen, dieses Buch im Kontext von Lelands Lebenswerk und kulturellem Umfeld zu verstehen. Geboren am 15. August 1824 in Philadelphia, Pennsylavania, entstammt der Autor einer gutbürgerlichen Familie: der Vater Charles Leland ist Kaufmann, die Mutter Charlotte geb. Godfrey ebenfalls von bürgerlichem Hintergrund. Obwohl ein begabter Schüler, ist Leland durch zahlreiche Krank- 14 Lang (1844-1912) war 1888/ 89 Präsident der Folklore Society und 1911 Präsendent der SPR. Vgl. Venetia Newall, Art. Lang, Andrew, EM 8 (1996), 766-770. 15 Über die Theosophie der Helena Blavatsky und ähnliche Bewegungen hat sich Leland immer nur mit Distanz, ja teilweise Verachtung ausgesprochen. Mit Olcott, den er stärker respektierte, war er übrigens persönlich bekannt. <?page no="280"?> Marco Frenschkowski 280 heitsphasen immer wieder auf sich selbst und seine inneren Ressourcen zurückgeworfen. Nach dem Besuch verschiedener Schulen in den USA studierter Leland an der Princeton University sowie in Heidelberg und München Jura. Ausgesprochen sprachbegabt, erlernte er nicht nur die alten Sprachen, sondern auch Französisch, Italienisch und Deutsch. Im Französischen liebt er ähnlich dem ein Menschenleben später geborenen Arthur Machen (1863- 1947), mit dem ihn viel verbindet, vor allem Rabelais und Villon. Daneben liest er metaphysische, hermetische und neuplatonische Literatur, deutsche Philosophie, aber auch Populäres und eignet sich überhaupt eine erstaunliche Bildung auf vielen entlegenen Gebieten an. 1848 will er seine Studien an der Sorbonne fortsetzen, wird aber als strikter Republikaner in die Konflikte um die Monarchie hineingezogen und nimmt auch an Barrikadenkämpfen teil. Nach Reisen durch mehrere europäische Länder kehrt er in die USA zurück, absolviert seine juristischen Examina, eröffnet aber nur für kurze Zeit eine eigene Rechtsanwaltspraxis. Bald betätigt er sich lieber als Schriftsteller und Journalist. In dieser Eigenschaft schreibt er für „The Illustrated News“ in New York und „The Evening Bulletin“ in Philadelphia. Für „Graham´s Magazine“ und verschiedene Zeitungen in Philadelphia übernimmt er editorische Verantwortung. (Zur Erinnerung: Edgar Allan Poe, 1841/ 42 Book review editor für Graham´s, war kurz zuvor - 1849 - gestorben). 1856 heiratet Leland Eliza Belle „Isabel“ Fisher, die ihm in kinderloser Ehe bis an sein Lebensende eine treue Begleiterin werden sollte. Sie starb am 9. Juli 1902; 16 danach lebte Leland selbst nur noch wenige Monate. Früh betätigt er sich als Sammler, Dichter und Essayist. Bereits seine beiden ersten Bücher markieren die formale Ausrichtung seiner späteren Arbeit. „The Poetry and Mystery of Dreams“ (1856) ist eine thematisch geordnete Zusammenstellung antiker und mittelalterlicher Traumdeutungen mit Dichterzitaten (meist aus der englischen und deutschen Literatur). Obwohl das Werk als lockere und unterhaltsame Anthologie auftritt, ist die darin bezeugte Gelehrsamkeit erheblich. Nicht nur antike (Artemidor), sondern auch byzantinische (Astrampsychos, Nikephoros) und islamische (Achmet) Traumbücher werden benutzt. In der Welt der Dichter bewegt sich Leland mit völliger Souveränität. „Meister Karl´s Sketch-Book“ (1855) ist eine Sammlung von Essays, die Leland zwischen seinem 16. und seinem 25. Lebensjahr geschrieben hatte. Viele dieser kleinen Texte sind Reisereflexionen aus Europa, wobei Deutschland (insbesondere Heidelberg und Frankfurt, die sehr lebendig porträtiert werden) und Italien im Mittelpunkt stehen. Neben üblichen Themen der Reiseliteratur wie Lebensgewohnheiten der Einheimischen, Architektur, Kunst etc. behandelt Leland bereits viel Skurriles und vor allem Volkstümliches. Auch Lelands Neigung zum Humor ist bereits sehr ausgeprägt, wobei er freilich kein Satiriker ist. Sein Humor ist niemals bissig oder 16 Vgl. E. R. Pennell, Charles Godfrey Leland 2, 414-419. <?page no="281"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 281 bösartig, was ihn aus heutiger Sicht eher „brav“ erscheinen lässt. Dafür ist der gedankliche Gehalt seiner Essays und Gedichte hoch, vor allem in ihren feinen Beobachtungen menschlichen Lebens. Seine im Dialekt der deutschen Einwanderer geschriebenen „Breitmann“-Balladen werden später Lelands erfolgreichste literarische Kreation, 17 und auch seine zahlreichen Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische bewegen sich oft im Bereich humorvoller Dichtung. 1863 tritt Leland in die Armee der Nordstaaten ein, nachdem er zuvor bereits den „Continental Monthly“ herausgegeben hatte, eine politisch engagierte Zeitschrift mit dem Anliegen der Sklavenbefreiung. Der Begriff „emancipation“ anstelle des vorher üblichen „abolition“ wird von Leland als erstem in die journalistische Sprache eingeführt. Mai 1869 kehrt Leland nach Europa zurück und wohnt nach längeren Reisen 1870- 1880 in London. Oft lebt er mit seiner Frau monatelang in Hotels, eine Lebensweise nicht weniger wohlhabender Amerikaner in Europa. Auch Lelands Bruder Henry Perry Leland (1828-1868) war ein weitgereister Autor, Zeichner und Journalist; bemerkenswert sein „Americans in Rome“ (New York 1863). Als Journalist schreibt Leland in den 1860er und 1870er Jahren Bücher und Artikel zu vielen Bereichen amerikanischen und später britischen Lebens (vgl. die am Ende dieser Studie abgedruckte Bibliographie), hat aber sein „eigenes“ Thema offenbar noch nicht recht gefunden. Seine exzeptionelle Sprachbegabung - die ihn später zu einem der großen Namen in der Zigeunerforschung machen sollte - richtete sich nicht nur auf die literarischen Sprachen, sondern vor allem auch auf Volkssprachen und Dialekte, Pidgin- und Kreolsprachen und auch auf Überreste verlorener Sprachen. Diese Sammeltätigkeit (zuerst mehr an Philogischem als an Narrativem interessiert) tritt immer mehr in den Mittelpunkt seiner Arbeit. So benutzt er jede Gelegenheit, die gesprochene Sprache und das Erzählgut aller Bevölkerungsgruppen zu untersuchen und zu sammeln, mit denen er in Kontakt gerät. Besondere Liebe erfasst ihn zu allem fahrenden Volk. Schon in den USA und später in Europa erlernt er das Romani, das er in völliger Geläufigkeit sprechen kann. Muttersprachler des Romani können es nicht fassen, dass er keiner der Ihren sein soll (zumal er in späteren Jahren mit langem Bart, schäbiger Kleidung und wettergegerbter Haut auch äußerlich einem „Gypsy“ nicht unähnlich sieht). Kleine Geschenke von Rum und Tabak hat er immer bei sich, um jederzeit eine Kommunikation ermöglichen zu können. Matty Cooper, „King of the Gypsies in England“, wird ein Freund Lelands. Diese Forschungen münden in eine Zahl zigeunerkundlicher Arbeiten, insbesondere „The English Gipsies and Their Language“ (1873) und „The Gypsies“ (1882). 17 Vgl. seine Würdigung durch David F. C. Coldwell, in: The Encylopedia Americana 17. Danbury 2001, 192. <?page no="282"?> Marco Frenschkowski 282 Einer seiner größten Triumphe sollte auf diesem Gebiet 1876 die Wiederentdeckung einer vormals unbekannten Sprache in Großbritannien werden, des nur noch von wenigen Tinker-Familien gesprochenenen Shelta. Leland hatte gesprochenes Shelta zuerst in Bath gehört, später aber auch andere Sprecher ausfindig machen können, und konnte 1882 ein erstes Wörterverzeichnis der von früheren Forschern völlig übersehenen Sprache vorlegen. 18 Er sah im Shelta ein Relikt einer der alten Dichtersprachen Irlands (die in irischen Texten als eine Art Geheimsprachen beschrieben werden), worin ihm u.a. der führende Keltologe Kuno Meyer gefolgt ist 19 . Seit Lelands wegweisenden Arbeiten sind weitere kurze Texte, zahlreiche Sprichwörter, einige wenige Erzählungen und weiteres Material in Shelta publiziert worden, so dass der Gesamtcharakter der Sprache heute besser verstanden werden kann, als es Leland möglich war. Dieser hatte den altkeltischen Anteil überschätzt, den Romani-Anteil dagegen wohl unterschätzt. Insgesamt ist das Shelta an seinem spezifischen sozialen Ort mit Sondersprachen wie dem Rotwelsch oder dem Jenisch vergleichbar. Der große Keltologe Robert A. Stewart Macalister (der spätere Herausgeber des Lebor Gabála Érenn) hat 1937 eine Grammatik mit Wörterbuch vorgelegt. 20 Leland bleibt der Ruhm, mitten in Europa eine unbekannte Sprache entdeckt zu haben. 21 Daneben sammelt und publiziert er Sprachproben vieler Dialekte und Mischsprachen (z.B. des Pidgin der chinesischen Hafenarbeiter: „Pidgin-English Sing-Song“, 1876). Höhepunkt seiner philologischen Arbeit wird das monumentale „Dictionary of Slang, Jargon and Cant“, das er in zwei Bänden 1889 (verbessert 1897) zusammen mit Albert Barrère publiziert, und das für die Soziolekte der britischen und amerikanischen Unterschicht das zu leisten versucht, was der berühmte „Hobson-Jobson“ 22 für das Anglo-Indische geschaffen hatte. Barrère wurde später u.a. als Erforscher militärischer Sondersprachen bekannt. Heute ist das „Dictionary of Slang, Jargon and Cant“ durch neuere Slangwörterbücher ersetzt, aber als Leistung von nur zwei Verfassern bleibt es beachtlich. 18 The Gypsies, 354-372. 19 Kuno Meyer, The Irish Origin and the Age of Shelta, Journal of the Gypsy Lore Society 2 (1891), 257-266. Über Meyer vgl. Seán Ó Lúing, Kuno Meyer 1858-1919. A Biography. Dublin 1991. 20 Robert A. Stewart Macalister, The Secret Languages of Ireland. Ogham, Hisperic, Bearlagair na Saer, Bog-Latin, and Cryptography, with Special Reference to the Origin and Nature of the Shelta Language. Cambridge 1937 = St. Hélier/ Amsterdam 1976, bes. 130- 224 (mit Forschungsgeschichte von Leland bis 1937). 21 Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Lelands Entdeckung als Anregung hinter den fiktiven magischen Sprachen in Arthur Machens Erzählung „The White People“ von 1899 steht, in der es um das Überleben dörflicher Hexenpraxis geht. 22 Henry Yule, A. C. Burnell, Hobson-Jobson. A Glossary of Colloquial Anglo-Indian Words and Phrases, and of Kindred Terms, Etymological, Historical, Geographical and Discoursive. New Edition Edited by William Crooke. London 1903 (Erstausgabe London 1886), ein Werk, dessen Wert für die Geschichte orientalisch-europäischer Sprachkontakte bis heute durch kein zweites übertroffen wird. <?page no="283"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 283 Breitere Kreise kannten Leland in Großbritannien v.a. als Zigeunerforscher: seit dem beispiellosen Erfolg der Bücher von George Borrow (1803- 1881) - veritablen Bestsellern - hatte dieses Thema immer einen Platz in der populären Imagination der Briten. Mit anderen Zigeunerforschern dieser Jahre wie dem besagten George Borrow, Heinrich von Wlislocki, Francis Hindes Groome (1851-1902), John Sampson und dem schon erwähnten David MacRitchie verbindet ihn manches, freilich auch ein leises, aber unübersehbares Konkurrenzverhältnis. Peinlich achtet er darauf, die von diesen bearbeiteten Gebiete und Themenfelder nicht erneut aufzusuchen: Leland will Pionierarbeit leisten. An Anerkennung fehlt es nicht: 1888 wird Leland erster Präsident der neu gegründeten Gypsy-Lore Society 23 ; er gilt damit als die führende Autorität zum Thema. Daneben beschäftigen ihn Fragen der Weiterentwicklung des Erziehungswesens. Eine besondere Neigung hat er zu handwerklicher Kunst, d.h. zu dem, was heute Design heißen würde. Nicht nur experimentierte er selbst unablässig mit den unterschiedlichsten Medien; auch seine Handbücher über künstlerische Holz- und Metallverarbeitung werden vielfach aufgelegte Klassiker mit hohen Auflagen. Im Kontext der Arts and Crafts Movement beteiligt er sich an der Home Arts and Industries Association, deren Bemühung um Ästhetik im Alltag normaler Menschen ihm nahe ist. In Philadelphia überredet er 1880 die oberste Schulbehörde, künstlerische und handwerkliche Tätigkeiten in das allgemeine Schulcurriculum aufzunehmen; er selbst muss für die Kosten der ersten Lehrer aufkommen. Schließlich gründet er 1881 die Public Industrial Art School in Philadelphia. Das Projekt ist erfolgreich; Oscar Wilde zeigt sich auf seiner Amerikareise 1882 davon fasziniert 24 . Leland freilich ist schon bald wieder in Europa: seine Ruhelosigkeit sollte sich erst in seinen letzten Jahren in Florenz legen. Eine genaue Chronik seiner Reisen ist schwierig; auch seine Biographin Pennell kann über manche Zeiten nur vage Angaben machen. Die zahlreichen Beiträge, die er für europäische Zeitungen schreibt, sind niemals vollständig gesammelt worden. 23 Zu den Hintergründen s. E. R. Pennell, op. cit. 2, 197-210. R. M. Dorson, The British Folklorists, 270f. überschätzt die Bedeutung Groomes für die Entstehung der Gypsy Lore Society. 24 Vgl. E. R. Pennell, op. cit. 2, 112f. (Lelands eigener humorvoller Bericht über Oscar Wildes Besuch in der Public Industrial Art School). Einem Reporter sagt Wilde: „I would have a workshop attached to every school…I have seen only one such school in the United States, and that was in Philadelphia, and was founded by my friend Leland. I stopped there yesterday, and have brought some of their work here to show you.“ (Report of Wilde’s New York Lecture, Montreal Daily Witness, May 15, 1882). Ein Brief Wildes an Leland vom Mai 1882 ist erhalten: „When I showed them the brass work and the pretty bowl of wood with the bright arabesques at New York they applauded to the echo, and I have received so many letters about it and congratulations that your school will be known and honoured everywhere, and you yourself recognised and honoured as one of the great pioneers and leaders of the art of the future.“ (MS, Yale University). <?page no="284"?> Marco Frenschkowski 284 Ab 1888 lebt Leland mit seiner Frau in Florenz. Die Stadt zieht ihn nachhaltig in ihren Bann: und hier begegnet er den „Hexen“, die seine letzten großen Werke prägen sollten. Wir besitzen Schilderungen über seine Zeit in Florenz nicht nur aus den verschiedenen Büchern, die er der Stadt selbst gewidmet hat (vornehmlich den beiden Bänden „Legends of Florence“, 1895/ 96), sondern auch aus Berichten anderer. Ein besonderen Rang nehmen hier neben den Aufzeichnungen von Elizabeth Robins Pennell (s.o.) die beiden autobiographischen Schriften einer Dame der gehobenen Gesellschaft ein, die Leland gut kannte und Sympathien für seine besonderen Interessen aufbringen konnte: Lady Roma Lister, in Rom geborene Engländerin, die zum Zentrum eines Zirkels volkskundlich und überhaupt kulturell Interessierter wird (erst in Florenz, später in Rom), und welche die Begabung besaß, allerlei Berühmtheiten in ihren Kreis zu ziehen. In „Reminiscences - Social und Political“ (London 1926) und „Further Reminiscences: Occult and Social“ (London 1927) schildert sie Leland respektvoll und mit Sorgfalt. Bedeutung hat sie auch, weil sie neben Leland auch dessen hauptsächliche Gewährsfrau „Maddalena“ persönlich kannte (ihr wahrer Name war nach Roma Lister freilich Margherita), die mit der Entstehung von Lelands „Hexenbüchern“ untrennbar verbunden ist. Margherita bzw. Maddalena beanspruchte, von einer Familie etruskischer Zauberer und Hexen abzustammen; obwohl persönlich nicht wohlhabend, hatte sie die Ausstrahlung einer „großen Dame“. Zur Zeit ihrer Bekanntschaft mit Roma Lister wohnte sie in einem alten Turm am Ponte Vecchio und konnte den Arno von ihren Fenstern aus überblicken (leider ist ihre genaue Anschrift nicht bekannt). 25 Unermüdlich sammelt Leland in den 1890er Jahren das magische und abergläubische Traditionsgut in Florenz und Umgebung (dazu später ausführlicher). Am 20. März 1903 stirbt Leland in Florenz, nachdem er die letzten Jahre schon sehr geschwächt gewesen war und das Haus kaum noch verlassen konnte. Auch plagte ihn seit langem die Gicht. Lelands Asche wurde nach Philadelphia überführt, wo er auf dem Laurel Hill Cemetary neben seiner Frau bestattet liegt. 26 2. Leland als Sammler: „Zigeuner”, Indianer, Hexen Als Sammler volkstümlicher Überlieferungen hat Leland in Deutschland nur wenig Beachtung gefunden 27. Bevor wir uns speziell Lelands Studien zur Glaubenswelt toskanischer „Hexen“ zuwenden, lassen wir kurz sein Gesamtwerk Revue passieren. Lelands Sammlungen lassen sich in vier große Bereiche einteilen: 25 Roma Lister, Reminiscences - Social & Political. London 1926, 123f. 26 Ob sein Grab noch existiert, weiß ich nicht. 2006 waren Angestellte des Friedhofs nicht imstande, das Grab zu lokalisieren. 27 EM widmet ihm keinen eigenständigen Artikel. <?page no="285"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 285 1. Sprachliches, v.a. zu Slang, Cant, Jargon, Zigeunersprachen, Pidginsprachen, Shelta (davon war bereits die Rede). 2. Indianerüberlieferungen. Hier sind v.a. zu nennen die Bände „The Algonquin Legends“ (Boston 1884) und „Kulóskap the Master“ (In Collaboration with Professor J. Dyneley Prince. New York & London 1902). Beide gehören zu den unentbehrlichen Quellensammlungen indianischer Überlieferungen. Einige Erzählungen wurden von Leland auf den Einfluss früher europäischer Siedler (Wikinger) zurückgeführt, eine Idee, die in den letzten Jahren heftig angegriffen wurde, weil sie für Native Americans ihre Kreativität zu schmälern schien. Das ist jedenfalls nicht Lelands Absicht gewesen 28 ; entsprechend sollten seine Erwägungen sine ira et studio geprüft werden. In jedem Fall behalten die Bände Wert als umfängliche Materialsammlungen, und werden als solche in der Sekundärliteratur zu indianischen Religionen und Mythologien auch nach wie vor benutzt. 3. Zigeunerüberlieferungen 29. Lelands langjährige persönliche Kontakte mit Sinti und Roma mündet u.a. in die Bände „The English Gipsies and Their Language“ (London 1873. 4. Aufl. London 1893), „The Gypsies“ (Boston 1882) und schließlich „Gypsy Sorcery and Fortune-Telling“ (London 1891). Alle Bände enthalten eine bunte Mischung von sprachlichen Zeugnissen, Erzählgut, Brauchtum, autobiographischen Erlebnisberichten Lelands und poetischen Passagen, welche die Faszination des Themas „Zigeuner“ zu ergründen versuchen. Der letztgenannte Band leitet bereits zu Lelands letztem großen Sammelgebiet hinüber. Kleinere Arbeiten (leider nie in Sammelbänden zusammengestellt) flankieren die größeren Publikationen (z. B. „The Original Gypsies and Their Language.“ Wien 1899, Separatdruck aus dem VII. Internationalen Orientalisten-Congress). 4. Ausgehend von Sammlungen des in Florenz umlaufenden Erzählgutes („Legends of Florence Collected from the People“. 2 Bände. London 1895-96) lernt Leland die Welt der toskanischen Wahrsagerinnen, volkstümlichen Heilern und Heilerinnen, Kartenlegerinnen und überhaupt der magischen „Subkultur“ kennen. Aus diesen Kontakten entstehen die Bände „The Hundred Riddles of the Fairy Bellaria“ (London 1892), „Etruscan-Roman Remains in Popular Tradition“ (London 1893; in Nachdrucken ohne Bindestrich geschrieben), „Aradia, or, the Gospel of the Witches“ (London 1899) sowie schließlich „The Unpublished Legends of Virgil“ (New York 1900). Fast alle 28 Sein Respekt vor indianischen Überlieferung erhellt aus seinem Vorwort zu „Kulóskap the Master“: „Very few persons are aware that there has perished, or is rapidly perishing, among the Red Indians of North America, far more poetry than was ever written by all the white inhabitants and that this native verse is often of a very high order. For the Indian sagas, or legends, or traditions were, in fact, all songs; as is the case to this day with similar lore in Italy“. 29 Ich verwende den im 19. Jhdt. gängigen Ausdruck. Das Problem angemessener Bezeichnung der Sinti und Roma muss hier außen vor bleiben, da es nur um die Tätigkeiten der Sammler des 19. Jhdts. geht. <?page no="286"?> Marco Frenschkowski 286 Bücher erscheinen parallel in britischen und amerikanischen Ausgaben. „Etruscan Roman Remains“ ist dabei das eigentliche Hauptwerk, eine umfassende Sammlung des (nach Leland vorchristlichen) Traditionsgutes der toskanischen „Hexen“. Leland sammelt an vielen Stellen und von ganz unterschiedlichen Menschen, aber Hauptgewährsfrau für seine italienischen Sammlungen wird zunehmend eine gewisse „Maddalena“, die er 1886 kennenlernt (ihren vollen bürgerlichen Namen teilt er nicht mit) und der er schließlich auch das Manuskript des „Hexenevangeliums“ (s.u.) verdankt. 30 Dazu schreibt er: „The manner in which these stories were collected was as follows: In the year 1886 I made the acquaintance in Florence of a woman who was not only skilled in fortunetelling, but who inherited as a family gift from generations, skill in witchcraft that is, a knowledge of mystical cures, the relieving people who were bewitched, the making amulets, and who had withal a memory stocked with a literally incredible number of tales and names of spirits, with the invocations to them, and strange rites and charms. She was a native of the Romagna Toscana, where there still lurks in the recesses of the mountains much antique Etrusco-Roman heathenism, though it is disappearing very rapidly. Maddalena such was her name soon began to communicate to me all her lore. She could read and write, but beyond this never gave the least indication of having opened a book of any kind; albeit she had an immense library of folk-lore in her brain. When she could not recall a tale or incantation, she would go about among her extensive number of friends, and being perfectly familiar with every dialect, whether Neapolitan, Bolognese, Florentine, or Venetian, and the ways and manners of the poor, and especially of witches, who are the great repositories of legends, became in time wonderfully well skilled as a collector. Now, as the proverb says, „Take a thief to catch a thief,“ so I found that to take a witch to catch witches, or detect their secrets, was an infallible means to acquire the arcana of sorcery. It was in this manner that I gathered 30 Ein Foto Maddalenas findet sich bei E. R. Pennell, op. cit. 2, gegenüber S. 310. Leider ist nur einer ihrer Briefe an Leland erhalten (vom 17. Juni 1895). Schmerzlich zu spüren ist v.a. der Verlust des Originalmanuskriptes des „vangelo“ (Lelands eigenes Manuskript ist erhalten, und erlaubt einige Rückschlüsse auf seine Arbeitsweise). Ihr bürgerlicher Name ist zufolge ihrer Unterschrift Maddalena Talenti. Vgl. Robert Mathiesen, Charles G. Leland and the Witches of Italy: The Origin of Aradia, in: Charles G. Leland, Aradia or the Gospel of the Witches. A New Translation by Mario Pazzaglini, Ph.D. and Dina Pazaglini with Additional Material by Chas S. Clifton, Robert Mathiesen, Robert E. Chartowich. Foreword by Stewart Farrar. Blaine, Washington 1998, 25-57, hier 32 (diese Studie ist der wichtigste Einzelbeitrag zur Entstehungsgeschichte von „Aradia“). Nach Raven Grimassi wäre ihr bürgerlicher Name Taleni oder Zaleni gewesen (die Unterschrift ist schwer lesbar; zu ihrem Vornamen s.o. - vielleicht benutzte sie den Namen „Maddalena“ als eine Art Künstlernamen). Später heiratete sie nach unklaren Quellen (deren Diskussion hier zu weit führen würde) angeblich einen Mann namens Lorenzo Bruciatelli und wanderte in die USA aus. Nähere Details sind mir nicht bekannt. Das uns greifbare Leben Maddalenas endet mit der Übergabe des Manuskriptes des „vangelo delle streghe“ am 1. Jan. 1897. Leland hat sie danach nicht wiedergesehen. Weiteres Material über Maddalena enthält neben Lelands eigenen Angaben v.a. E. R. Pennell, op. cit. 2, passim. Grimassi faßt seine Position zusammen unter http: / / www.stregheria.com/ leland.htm (1. Mai. 2007). <?page no="287"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 287 a great part of the lore given in my „Etruscan-Roman Remains.“ I however collected enough, in all conscience, from other sources, and verified it all sufficiently from classic writers, to fully test the honesty of my authorities. The witches in Italy form a class who are the repositories of all the folk-lore; but, what is not at all generally known, they also keep as strict secrets an immense number of legends of their own, which have nothing in common with the nursery or popular tales, such as are commonly collected and published. The real witch-story is very often only a frame, so to speak, the real picture within it being the arcanum of a long scongiurazione or incantation, and what ingredients were used to work the charm. I have given numbers of these real witch-tales in my „Etruscan-Roman Remains,“ and a few, such as „Orpheus and Eurydice,“ „Intialo,“ and „ II Moschone,“ in this work.“ 31 Über den Ursprung des Bandes „Aradia, or, The Gospel of the Witches“ schreibt Leland in einem „Appendix. Comments on the Foregoing Texts“: „So long ago as the year 1886 I learned that there was in existence a manuscript setting forth the doctrines of Italian witchcraft, and I was promised that, if possible, it should be obtained for me. In this I was for a time disappointed. But having urged it on Maddalena, my collector of folk-lore, while she was leading a wandering life in Tuscany, to make an effort to obtain or recover something of the kind, I at last received from her, on January 1, 1897, entitled Aradia, or the Gospel of the Witches. Now be it observed, that every leading point which forms the plot or centre of the Vangel, such as that Diana is Queen of the Witches; an associate of Herodias (Aradia) in her relations to sorcery; that she bore a child to her brother the Sun (here Lucifer); that as a moongoddess she is in some relation to Cain, who dwells as prisoner in the moon, and that the witches of old were people oppressed by feudal lands, the former revenging themselves in every way, and holding orgies to Diana which the Church represented as being the worship of Satan--all of this, I repeat, had been told or written out for me in fragments by Maddalena (not to speak of other authorities), even as it had been chronicled by Horst 32 or Michelet; therefore all this is in the present document of minor importance. All of this I expected, but what I did not expect, and what was new to me, was that portion which is given as prose-poetry and which I have rendered in metre or verse. This being traditional, and taken down from wizards, is extremely curious and interesting, since in it are preserved many relics of lore which, as may be verified from records, have come down from days of yore. Aradia is evidently enough Herodias, who was regarded in the beginning as associated with Diana as chief of the witches. This was not, as I opine, derived from the Herodias of the New Testament, but from an earlier replica of Lilith, bearing the same name. It is, in fact, an identification or twin-ing of the Aryan and Shemitic Queens of Heaven, or of Night and of Sorcery, and it may be that this was known to the earliest myth-makers. So far back as the sixth century the worship of Herodias and Diana by 31 Legends of Florence 1, VIIf. 32 Leland meint die klassische, um Quellentexte bereicherte Studie: Georg Conrad Horst (1769-1832), Zauber-Bibliothek oder von Zauberei, Theurgie und Mantik, Zauberern, Hexen und Hexenprocessen, Dämonen, Gespenstern und Geistererscheinungen: zur Beförderung einer rein-geschichtlichen, von Aberglauben und Unglauben freien Beurtheilung dieser Gegenstände. 6 Bde. + Registerband. Mainz 1821-26. Neuausgabe: Mit einer Einführung von Herbert Krempf. Freiburg i. Br. 1979. <?page no="288"?> Marco Frenschkowski 288 witches was condemned by a Church Council at Ancyra 33 . Pipernus 34 and other writers have noted the evident identity of Herodias with Lilith. Isis preceded both. Diana is very vigorously, even dramatically, set forth in this poem as the goddess of the godforsaken and ungodly, of thieves, harlots, and, truthfully enough, of the „minions of the moon,“ as Falstaff would have fain had them called. It was recognised in ancient Rome, as it is in modern India, that no human being can be so bad or vile as to have forfeited all right to divine protection of some kind or other, and Diana was this protectress. It may be as well to observe here, that among all free-thinking philosophers, educated parias, and literary or book-Bohemians, there has ever been a most unorthodox tendency to believe that the faults and errors of humanity are more due (if not altogether due) to unavoidable causes which we cannot help, as, for instance, heredity, the being born savages, or poor, or in vice, or unto „bigotry and virtue“ in excess, or unto inquisitioning--that is to say, when we are so overburdened with innately born sin that all our free will cannot set us free from it. It was during the so-called Dark Ages, or from the downfall of the Roman Empire until the thirteenth century, that the belief that all which was worst in man owed its origin solely to the monstrous abuses and tyranny of Church and State. For then, at every turn in life, the vast majority encountered downright shameless, palpable iniquity and injustice, with no law for the weak who were without patrons. The perception of this drove vast numbers of the discontented into rebellion, and as they could not prevail by open warfare, they took their hatred out in a form of secret anarchy, which was, however, intimately blended with superstition and fragments of old tradition. Prominent in this, and naturally enough, was the worship of Diana the protectress--for the alleged adoration of Satan was a far later invention of the Church, and it has never really found a leading place in Italian witchcraft to this day. That is to say, purely diabolical witchcraft did not find general acceptance till the end of the fifteenth century, when it was, one may almost say, invented in Rome to supply means wherewith to destroy the threatening heresy of Germany. The growth of Sentiment is the increase of suffering; man is never entirely miserable until he finds out how wronged he is and fancies that he sees far ahead a possible freedom. In ancient times men as slaves suffered less under even more abuse, because they believed they were born to low conditions of life. Even the best reform brings pain with it, and the great awakening of man was accompanied with griefs, many of which even yet endure. Pessimism is the result of too much culture and introversion. “ 35 Hier lassen sich bereits viele Grundideen Lelands erkennen, die uns später noch beschäftigen werden. Schüler in einem engeren Sinn hatte Leland nicht. Allenfalls kann man die Amerikanerin Mary Alicia Owen (1858-1935) so bezeichnen, deren erste Publikationsbemühungen Leland förderte. Ihr bis heute wertvolles und umfängliches Buch „Old Rabbit the Voodoo, and Other Sorcerers“ (London 1893) 33 Leland folgt hier noch der falschen Datierung des Canon Episcopi. Dazu s. u. 34 Pietro Piperno (Pipernus) ist ein hexenkundlicher Autor des 17. Jhdts. (gest. 1682? ), dessen Darstellung der angeblichen Hexen von Benevento Leland tief beeinflusst hat. Vgl. sein „Della superstitiosa noce di Benevento“ (Neapel 1640. Faksimile-Reprint Sala Bolognese 1984 u. 2003). 35 Aradia, 101-105. <?page no="289"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 289 über die Glaubenswelt schwarzer Amerikaner in Missouri wurde von Leland mit einem Vorwort versehen. Mary Owens nachhaltiges Interesse an magischen Subkulturen, Voodoo, Hexerei, magischen Pflanzen, Talismanherstellung etc. ist offenkundig durch Leland beeinflusst (beide standen in regem Briefverkehr, und kannten sich auch persönlich 36 ). Im Gegensatz zu Leland hat Miss Owen ihre Texte jeweils im Dialekt ihrer Gewährspersonen aufgezeichnet, was heutige Lektüre sehr erschwert (einige ihrer Bücher erschienen auch unter dem Pseudonym „Julia Scott“). Eine sorgfältige und ausgereifte Kritik an Lelands Sammeltätigkeit hat Thomas C. Parkhill vorgelegt, wenn auch nur für den Bereich indianischer Überlieferungen. 37 Er verordnet Leland in der US-amerikanischen Auseinandersetzung mit der Kultur der Indianer, und geht seinen präzisen Quellen nach. Mit Recht unterstreicht er Lelands Gefühl einer persönlichen Affinität zu seinen Abenaki und Micmac-Gewährsleuten, die es ihm gelegentlich erschwerte, „Eigenes“ und „Fremdes“ klar zu unterscheiden. Zugleich referiert er die gegenwärtige radikale Diskussion um die Klischees und Stereotypen der „weißen“ Erforschung der Traditionen von native Americans. 38 Gegenüber (leider ganz nicht seltenen) Extrempositionen, die Nicht-Indianern jedes Recht zur Beteiligung an der Erforschung „einheimischer“ Traditionen absprechen wollen, nimmt er eine vermittelnde Position ein. Wir brauchen dies alles nicht weiter zu diskutieren. Die grundsätzliche Authentizität von Lelands indianischen Materialien steht außer Frage. Gegenstand heftiger Angriffe wurden auch weniger Lelands indianische oder zigeunerische Sammlungen (oder seine linguistischen Arbeiten), sondern seine toskanischen Aufzeichnungen. Leland habe sich von Maddalena beschwatzen lassen, nicht gemerkt, dass sie Erzählungen frei erfinde oder auch selbst eigenes hinzugefügt. So schreibt Ronald Hutton: „Now, since its publication, no historian or folklorist or (indeed) modern witch has uncovered any trace of the sort of hereditary cult in Tuscany which Leland claimed to exist. And experts in medieval Italian literature have found no similarities in it to his so-called Vangelo, which he claimed to be fourteenth-century. It reads, in fact, like an unmistakably nineteenth-century work. It does at least seem to be an original composition, so that Leland cannot be accused of plagiarism. He can, however, very easily be accused of forgery. To suggest that he was duped in turn by the mysterious ‘Maddalena’ and her pals, is to do him an injustice: a man of Leland´s energy, enterprise, flu- 36 Memoirs, 334, wo Leland Mary Owen als die international führende Autorität über Voodoo (so die damals gängige Schreibung) bezeichnet. 37 Thomas C. Parkhill, Weaving Ourselves into the Land. Charles Godfrey Leland, „Indians“, and the Study of Native American Indians. Albany, NY 1997. Nicht zugänglich ist mir die unpublizierte Dissertation von Angela-Marie Joanna Varesano, Charles Godfrey Leland: The Eclectic Folklorist. Diss. University of Pennsylvania 1979, die Parkhill jedoch ausgiebig referiert. 38 Vgl. Fergus M. Bordewich, Killing the White Man´s Indian: Reinventing Native Americans at the End of the Twentieth Century. New York 1996. <?page no="290"?> Marco Frenschkowski 290 ency and barefaced cheek was quite capable of producing such a work upon his own. It has never been taken seriously by any conscientious scholar of the Middle Ages.“ 39 Hutton hat sich später von diesem in hohem Maße ungerechten Pauschalurteil explizit distanziert. 40 Doch gibt er nur wieder, was die Mehrheitsmeinung des volkskundlichen Konsenses ist oder zumindest war. 41 Im 19. Jhdt. haben sich Standards für volkskundliche Sammlungen erst allmählich herausgebildet. Die Brüder Grimm haben ihre Märchen bekanntlich einer christianisierenden Redaktion unterzogen und auch sonst literarisch gestaltend eingegriffen, wie z. T. erst in der jüngeren Forschung recht deutlich wurde. Von den 22 795 Versen der endgültigen Ausgabe von Elias Lönnrots Kalevala (1849) stammen etwa 600 vom Herausgeber Lönnrot (1802-1884) selbst und auch die Komposition der Einzelgedichte zu einem Gesamtepos ist sein Werk. Für italienische und französische Märchentexte ist die gängige Praxis der redigierenden Bearbeitung im 18. und 19. Jhdt. kürzlich zusammenfassend dargestellt worden. 42 Ähnlich hat Leland in seine Texte eingegriffen. Dies ist nicht weiter auffällig und macht ihn als Sammler nicht grundsätzlich verdächtig, zumal er vielfach ausführlich auf seine Redaktionstätigkeit zu sprechen kommt. 43 Wörtliche Aufzeichnungen mit präzisen Angaben über die Erzählsituation und die Tradenten bilden sich zwar im 20. Jhdt. als Standard volkskundlichen Sammelns heraus, aber dies ist im 19. Jhdt. noch Ausnahme. Leland hat nach eigenen Angaben das Erzählgut geglättet und vor allem gekürzt. Etwa in Hinsicht auf die Hexenerzählungen in „Aradia, or, the Gospel of the Witches“ bemerkt er selbst, wie er im Falle der Erzählung „The House of the Wind“ aus etwa 20 Seiten 5 Seiten macht, also die novellistischen Bemühungen seiner Quelle wieder zurücknimmt 44 . 39 Ronald Hutton, The Pagan Religions of the Ancient British Isles. Their Nature and Legacy. Oxford 1991, 301. 40 Vgl. id., The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft. Oxford 1999, 141-149 und die explizite Retractatio S. 438 A. 66 (dieses mit Recht mittlerweile berühmte Buch ist die erste brauchbare - wenn auch noch nicht fehlerfreie - Geschichte der britischen Wicca-Religion; Hutton ist selbst kein „initiate“). Durchaus falsch ist nach wie vor Huttons Behauptung, „Etruscan Roman Remains“ sei „absolutely standard European folklore“ (143). Dieses Werk enthält bereits alle wesentlichen Thesen von „Aradia“, wenn auch nur verteilt in der Fülle des ausgebreiteten Brauchtums und sonstigen Materials, sozusagen im „Kleingedruckten“. 41 Dies färbt auch auf die Wahrnehmung von Lelands zigeunerkundlichen Arbeiten ab. Donald Kenrick, Art. Sinti, Roma, EM 12 (Lief. 2, 2006), 730-748 erwähnt Leland nur beiläufig 733, noch dazu ohne Beleg für das angegebene Zitat. Dabei wird die Arbeit der Gypsy Lore Society, deren 1. Präsident Leland war, von ihm ausführlich gewürdigt. 42 Nancy Canepa, Out of the Woods: The Origins of the Literary Fairy Tale in Italy and France. Detroit 1997. 43 Tatsächlich hatte sich Leland gegen Rezensenten zu wehren, die ihm vorwarfen, seine Text zu wenig literarisiert zu haben, und die bäuerlich-naive Diktion mancher Passagen nicht verändert zu haben: Aradia, 77. 44 Aradia, 70. <?page no="291"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 291 Dies ist natürlich nicht unproblematisch, jedoch offenbar ein Extremfall. An anderen Stellen kürzt er die Redundanz der Sprache; viele Texte lesen sich als Handlungsresümees, wie sie in volkskundlichen Werken auch sonst nicht unüblich sind. Gelegentlich macht er auf Fehler und Versehen in seinen Vorlagen aufmerksam, etwa auf mögliche Textausfälle 45 (Maddalenas Texte zu „Aradia“ z. B. lagen Leland ja schriftlich vor, s.o. ). Leland hat seine schriftstellerische Arbeit an den Texten auch keineswegs verschleiert, sondern erwähnt sie passim. In einer Reihe von Fällen betont er ausdrücklich, eine wörtliche, unbearbeitete Niederschrift einer Überlieferung zu geben. Der erwähnten Kritik an Lelands Sammeltätigkeit stehen daher auch andere Stimmen entgegen. Gerade seine Behauptung, Reste etruskischer Religion (insbesondere die Namen etruskischer Göttinnen und Götter für volkstümliche Dämonengestalten) in der Toscana aufgespürt zu haben, ist im allgemeinen stärkster Skepsis begegnet. Führende Etruskologen warfen ihm pauschal vor, kein ausgemachter Fachmann für etruskische Fragen zu sein (M. R. Corso, G. Furlani, R. Bloch), jedoch ohne je Lelands Material selbst eingehend zu diskutieren. Auch in der italienischen Volkskunde selbst war in der Zwischenzeit eine Professionalisierung eingetreten, die sich keinesfalls von einem Ausländer über übersehenes Material belehren lassen wollte, das von religionsgeschichtlicher Bedeutung sein könnte. Gerade der heftige Nationalpatriotismus der italienischen Forscher nach Lelands Tod (1903) verhinderte in Italien (im Grunde bis heute) jede ernsthafte Erforschung des Materials. Vorsichtige, Leland gegenüber freundlichere Stimmen (Raffaele Pettazzoni, 1883-1959) 46 konnten sich nicht hörbar machen. 1975 trat dann der beste nichtitalienische Kenner etruskischer Religion Ambros Josef Pfiffig - Verfasser der bis heute umfassendsten Studie zum Thema - dieser Blickverengung entschieden entgegen, ohne an der Gesamtsituation in der italienischen Volkskunde etwas ändern zu können. 47 Er würdigt das von Leland gesammelte Erzählgut und Brauchtum ausführlich 48 und hält eine Kontinuität der Überlieferung bis in die Antike zumindest für möglich. Gegenüber Lelands italienischen Kritikern betreibt er Ideologiekritik, indem er ihnen vorwirft, unfaire und sachlich unzutreffende Argumente (z.B., das Maddalena eine schwindelhafte Zigeunerin gewesen sei, was nicht zutrifft) gegen den „Ausländer“ Leland zu verwenden. Leland selbst war sich selbstverständlich 45 Z. B. Aradia, 31. 46 Vgl. das Referat bei Ambros Josef Pfiffig, Religio Etrusca. Graz 1975, 383. 47 Eine volkskundlich kommentierte italienische Ausgabe von „Aradia“ existiert nicht. Die einzige vorliegende Ausgabe (I canti di Aradia. Il Vangelo delle streghe Italiane. Übersetzt von Scardova Claudio. Brescia 2005) erschien bei einem kleinen esoterischen Verlag (Aradia Edizioni) und enthält außer dem übersetzten Text nur einige neopagane Beigaben, aber trotz eines knappen Vorwortes keinerlei volkskundliche oder religionsgeschichtliche Würdigung. Der Herausgeber hält Aradia für eine reale Person des 14. Jhdts. 48 A. J. Pfiffig, Religio Etrusca, 383-389. <?page no="292"?> Marco Frenschkowski 292 auch des Problems von Suggestivfragen bei volkskundlichen Erhebungen wohl bewußt. An einer Reihe von Götter- und Dämonengestalten (Tigna, Turanna, Faflon, Tago, Téramó u.a.) zeigt Pfiffig detalliert auf, dass Lelands Nachrichten - obwohl nicht durch andere Quellen bestätigt - sich genau in das fügen, was sich auch sonst über die Metamorphosen antiker mythologischer Gestalten im neuzeitlichen Volksglauben nachweisen lässt. Er lässt seine sorgfältigen Erwägungen in einen Appell einmünden, der von der vorliegenden Studie mitgetragen wird: „Es wäre nötig, dass berufene Folkloristen und Religionshistoriker, die sich nicht scheuen, auch den ‘platten Aberglauben’ des kleinen Volkes, besonders des Landvolkes, zu studieren, sich dieses Materials annähmen - falls es nicht schon zu spät ist. Auch wenn solche Studien für die Paradefragen der Etruskologie nichts ergeben, sind sie doch nicht ohne wissenschaftlichen Wert. Es würde sich aber auch zeigen, ob die Stellung, die man gegenüber Leland einnahm, richtig war.“ 49 Last not least sollte beachtet werden, dass Lelands Bücher für ein Publikum geschrieben sind, das weniger wissenschaftliche, sondern bibliophile und ästhetische Interessen hatte: seine „Etruscan Roman Remains“ erschienen bei T. Fisher Unwin zuerst in einer prachtvollen Ausgabe von nur 100 Exemplaren auf handgeschöpftem Papier, vom Autor signiert und in jedem Exemplar mit einer Originalzeichnung versehen (eine „trade edition“ folgte freilich sofort). Unterstreichen wir abschließend noch einmal, dass die Frage der Authentizität des von Leland dargebotenen hexenkundlichen Materials mit derjenigen nach seiner Rezeption nicht vermischt werden darf. 3. Lelands religionsgeschichtliches Paradigma Leland war kein systematischer Denker. Doch zwischen den Zeilen seiner volkskundlichen Sammlungen wird eine vielschichtige Theorie der Religionsgeschichte teils entfaltet, teils vorausgesezt, die nur im Kontext ihrer Zeit zu verstehen ist. Innerhalb des katholisch-christlichen Italien lebe - wie mutatis mutandis auch in anderen europäischen Ländern - ein Substratum volkstümlicher Magie. Diese existiert nun zufolge Leland in zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Formen. Innerhalb der christlichen Volkskultur haben sich viele ältere Elemente erhalten, verlassen aber nicht den grundsätzlich christlich-katholischen Bezugsrahmen. Daneben stehen nun in geringen Resten (nach Leland v.a. bei den „Hexen“) Traditionen eines fast ungebrochenen Heidentums. Dieses reiche in Italien über die römische Epoche hinaus bis in die etruskische Zeit zurück, ja noch weiter bis in eine schamanistische Vorzeit 50 . Im Schamanismus sah Leland die älteste erreichbare 49 A. J. Pfiffig, op. cit. 389. 50 Diesen letzteren Gedanken deutet Leland nur an (z. B. Gypsy Sorcery and Fortune- Telling, XIIIf. und 1-11). Eine entfaltete Deutung des Hexenwesens aus dem Schamanismus (Hexensabbat als Tranceerfahrung einer Jenseitsreise) im Sinne von Carlo Ginz- <?page no="293"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 293 Phase der Religionsgeschichte 51, wobei seine Kenntnis des eigentlichen (arktischen) Schamanismus v.a. durch die Arbeiten von Hinrich Johannes Rink (1819-1893) vermittelt war 52. In der Glaubenswelt der toskanischen „Hexen“ begegneten die beiden Systeme zwar gelegentlich gemischt 53 , aber doch inhaltlich deutlich differenzierbar. Erhebliche Teile des von ihm gesammelten Materials hätten keine Bezüge zum Christentum, und stammten aus vorchristlicher Zeit. Lelands philosophisches Weltbild schwankt zwischen materialistischpositivistischen Aussagen und Gedanken, die aus der Naturmystik und dem deutschen Idealismus stammen. Systematisch durchdacht war dieses Weltbild nicht - hier lag kein spezifisches Interesse Lelands. Wie viele Amerikaner stand er der katholischen Kirche extrem kritisch gegenüber, der er die Hauptschuld der Hexenverfolgungen anlastet 54 . Man wird an den hierin gut vergleichbaren amerikanischen Chronisten der Hexenprozesse und der Inquisition Henry Charles Lea (1825-1909) erinnern dürfen, dessen Polemik freilich heftiger ist als diejenige Lelands. 55 Wichtig ist, dass Leland kein spezifisch christliches Weltbild oder eine deutlichere protestantisch-kirchliche Bindung zu erkennen gibt. Seine Faszination mit den paganen Relikten in Italien gerät daher nicht in Konflikt mit seiner eigenen Religion. Andererseits gibt es keinerlei Indizien dafür, dass Leland sich etwa selbst als Anhänger burg findet sich bei Leland noch nicht, doch verdient es Beachtung, dass er der erste ist, der diesen Gedanken zumindest ausspricht. Seine Identifikation eines schamanistischen Fetischismus (was immer er darunter versteht) mit der Urreligion der Menschheit (l.c.) ist freilich einem eher kruden Evolutionismus zuzuschreiben. Leland hat in späteren Büchern nicht mehr in diese Richtung weitergedacht. 51 Dazu ausführlich Algonquin Legends, 334-379, bes. 336. 52 Tales and Traditions of the Eskimo. Edinburgh u. London 1875 (Neuausgabe Mineola, New York 1997). Dieses Buch hat Leland tief beeindruckt. Vgl. Inge Kleivan, Art. Rink, Hinrich Johannes, EM 11 (2004), 702-705. Rink teilt Lelands Überzeugung, dass im Hexenwesen (hier demjenigen Grönlands und Labradors! ) Reste älterer Religionen erhalten seien, die von den Angekoks (Schamanen) der etablierten Religion verfolgt werde, welche sich als „Kämpfer gegen die Hexen“ verstehen (Tales, 42 vgl. 53. 458. 466). Man sieht, wie solche Theorien in der Luft lagen. 53 Vgl. etwa Etruscan Roman Remains, 202. 54 R. Hutton, The Triumph of the Moon, 146 beobachtet zu Recht, dass es im ungebrochendirekten Einflußbereich der Päpste in Mittelitalien kaum Hexenverfolgungen gegeben hat, und wirft Leland polemische Einseitigkeit vor. Wie vielschichtig-ambivalent das Verhältnis des Machtzentrums der katholischen Kirche gegenüber den Hexenverfolgungen tatsächlich war, zeigt jetzt erneut Rainer Decker, Die Päpste und die Hexen. Darmstadt 2003. 55 Lea und Leland sind fast gleichzeitig in Philadelphia aufgewachsen, wo Leas Vater Besitzer des ältesten Verlagshauses der USA war; beide waren später freundschaftlich verbunden, obwohl Leas bibliotheksorientierter Arbeitsstil demjenigen Lelands diametral entgegengesetzt ist. Vgl. Edward Peters, Henry Charles Lea and the Libraries Within a Library, The Penn Library Collections at 250 from Franklin to the Web. Philadelphia 2000, 33-59 (35 zur Freundschaft mit Leland). Zu Lelands Katholizismuskritik vgl. etwa Etruscan Roman Remains, 72f. 98. 153. 186f. 190f. 197f. 316 u.o. <?page no="294"?> Marco Frenschkowski 294 neopaganer Gedanken gesehen hätte, obwohl dies in wicca-interner Literatur gelegentlich behauptet wird. Äußerlich war er Zeit seines Lebens Mitglied der anglikanischen Kirche (d.h. „Episcopalian“). Schlüsselbegriff der zugrundeliegenden Sichtweise für Überlieferungsprozesse wurde in der Anthropologie des späten 19. Jhdts. „survival“. 56 Der hierin angelegte Blickwinkel war v.a. durch Edward Burnett Tylor (1832- 1917) geprägt. Dabei ist hier weniger an die heute meist mit dessen Namen verbundene Animismus-Theorie zu denken, sondern vor allem an die zentrale Position des Konzeptes „survival“. Tylor definiert: „survivals (…) are processes, customs, opinions, and so forth, which have been carried on by force of habit into a new state of society different from that in which they had their original home, and they thus remain as proofs and examples of an older condition of culture out of which a newer has been evolved.“ 57 Unter neuen Rahmenbedingungen können „survivals“ neue kulturelle Kraft gewinnen: „survival passes into revival“ 58 . (Dies ist es, was mit dem Hexenparadigma Lelands geschehen ist - ohne dass dieser ein solches Revival vorhergesehen hätte.) Tylor untersucht diachron - darin ganz im historistischen Geist des 19. Jhdts. - Survivals in allen Bereichen der Kultur (Sprache, Mathematik, Mythologie, Rituale u.a.). En passant interessiert er sich auch bereits für das Fortleben der klassischen Antike im Volksglauben und Brauchtum Italiens und Griechenlands. 59 Der gesamte Bereich des Magischen und Okkulten wird von Tylor in der modernen Gesellschaft als Survival interpretiert; in diesem Kontext wird auch das Hexenwesen thematisiert. 60 Das stärker erwachende Interesse an Ritualen im frühen 20. Jhdts. gegenüber dem vorherrschenden Interesse an Ideen und Motiven im 19. Jhdts. kann als Fortsetzung dieses Ansatzes gesehen werden: die Tenazität des Rituals war dann eben ein Beispiel für „survival“ unter veränderten Rahmenbedingungen. Auch in anderen europäischen Sprachen war ein massives Leitinteresse für das Sammeln volkstümlichen Erzählungsgutes die Sichtung des in diesem mutmaßlich erhaltenen gedanklichen Materials aus vorchristlicher Zeit. So publiziert der bedeutendste französische Sammler dieser Jahre Paul Sébillot (1843- 1918) Paris 1908 sein Werk „Le paganisme contemporain chez les peuples celto-latins“, wo sich freilich bereits synchrone Fragestellungen vor die herkömmlichen diachronen schieben. Gerade das untergründige Nachleben der griechischen und römischen Antike faszinierte zahlreiche Gelehrte der Jahre um die Jahrhundertwende (als Lelands wichtigste Arbeiten erschienen), so 56 Der Art. Survivaltheorie der EM liegt zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Studie noch nicht vor. Vgl. auch Richard M. Dorson, Art. Anthropologische Theorie, ebd. 1 (1977), 586-591. 57 Edward B. Tylor, Primitive Culture. 2 Bände. 6. Aufl. London 1920 (Erstausgabe 1871), hier 1, 16. 58 Op. cit. 1, 17. 59 Op. cit. 2, 121. 171. 60 Op. cit. 1, 112-159 und speziell zum Hexenglauben 136-142. <?page no="295"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 295 versuchte in Deutschland Albrecht Dieterich ein Fortleben römischer Satyrspiele im italienischen Volkstheater zu beweisen, 61 und 1898-1900 sammelte John Cuthbert Lawson 62 das Material, welches das bis heute wichtigste Buch zum Überleben altgriechischer Mythologie im neugriechischen Volksglauben ermöglichte. Beide Bücher stehen an Spekulationsfreude kaum hinter Leland zurück, um nur zwei Beispiele für Anwendungen der Survivaltheorie auf die klassische Antike zu nennen. Die Probleme und Ambivalenzen dieses Konzeptes waren am Ende von Lelands Leben schon deutlich sichtbar. „Survival“ ist eben auch ein Interpretament der Distanzierung von Aspekten der eigenen Kultur: sie werden auf diese Weise zu Anachronismen erklärt. Andrew Lang schreibt: „In answer to all that has been urged here, anthropologist are wont to ejaculate that blessed word ‘survival’. Our savage, and mediaeval, and Puritan ancestors were ignorant and superstitious; and we, or some of us, inherit their beliefs, as we may inherit their complexions.“ 63 Leland war wie viele Zeitgenossen von „survivals“ fasziniert. Anders als viele Viktorianer sah er in ihnen aber nicht ein stilles Bedrohungspotential der Gesellschaft aus ihrer Vergangenheit heraus 64 , sondern ein bleibendes Faszinans, dessen vermutlichen Untergang er mit Melancholie konstatiert. Dabei scheint er - was hier beiläufig erwähnt werden soll - an einer bestimmten Variante des Survival-Motifs nur ein geringes Interesse gehabt zu haben, nämlich an der zwischen 1880 und etwa 1910 außerordentlich breit diskutierten These, Überlebende „archaischer“ Völker und früher Menschheitsformen (z. B. Neandertaler) hätten sich in den Rückzugsgebieten der Zivilisation bis in die Gegenwart erhalten. Die volkstümlichen Erzählungen von „Little People“, „Fairies“, „Good People“, die gelegentlich Kinder steh- 61 Albrecht Dieterich, Pulcinella. Pompeianische Waldbilder und römische Satyrspiele. Leipzig 1897. 62 John Cuthbert Lawson, Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion. A Study in Survivals. Cambridge 1910 = New Hyde Park, NY 1964. 63 Andrew Lang, Cock Lane and Common-Sense. 2. Aufl. London, New York, and Bombay 1896, XIVf. Dieser Band ist bis heute eine der reflektiertesten Analysen der wechselseitigen Berührungsängste zwischen Volkskunde, Ethnologie und dem, was heute Parapsychologie heißt. 64 Der Darwinismus hatte das nicht zuletzt literarische Motiv eines möglichen „Zurücksinkens“ der Kultur in ihre animalischen oder barbarischen Wurzeln inspiriert, eines der zentralen Schreckszenarios der spätviktorianischen Gesellschaft. Robert L. Stevenson hatte in „The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1886) das Auseinanderfallen des Menschlichen und des Vor- und Nichtmenschlichen mitten im modernen Leben thematisiert. Erschreckend war offenbar v.a. die Vorstellung, die Vertreter des „Animalischen“ und „Barbarischen“ seien unerkannt mitten in der Gesellschaft gegenwärtig. Leland hat diese Ängste - die z. B. bei den Ereignissen um „Jack the Ripper“ 1888 zum Tragen kamen - offenbar nicht geteilt. Sein Survival-Begriff ist von Befürchtungen dieser Art gänzlich unberührt. Vgl. auch Susanne Scholz, Kulturpathologien. Die „seltsamen Fälle“ von Dr. Jekyll und Mr. Hyde und Jack the Ripper. Paderborner Universitätsreden 88. Paderborn 2003. <?page no="296"?> Marco Frenschkowski 296 len und ansonsten in den Klüften und Bergen von Wales und Schottland, weitab der Zivilisation, leben, wurden auf letzte Vertreter dieser urtümlichen Völker gedeutet, die bis in die Gegenwart überlebt hätten. Anthropologen und Historiker nahmen diese Theorie überaus ernst; ein programmatischer und vielbeachteter Vertreter ist etwa der Archäologe David MacRitchie (1861-1925) 65 . MacRitchie sieht in den Fairies Verwandte der Finnen und Eskimos, die auf einer steinzeitlichen Kulturstufe stehengeblieben seien und sich bis in die jüngste Vergangenheit am Rande der britischen Zivilisation hätten verborgen halten können, vom Volk abergläubisch gefürchtet. Er hat diese These in der ihm eigenen eifrig-enthusiastischen Art in vielen Publikationen vertreten. Viele Literaten haben dieses Motiv aufgenommen und gestaltet, z. B. Arthur Machen („The Novel of the Black Seal“, 1895; „The Red Hand“, 1906, u.ö.) und John Buchan („No Man’s Land“, 1898). Der große französische Erforscher des Phantastischen Michel Meurger hat der Idee eine sorgfältige Studie gewidmet. 66 Noch der Begründer der Wicca-Bewegung Gerald Gardner war von der Theorie überzeugt, die Fairies und Goblins der englischen Volkssage seien eigentlich Erinnerungen an die steinzeitliche Bevölkerung Großbritanniens, und auch Margaret Murray hat diese Vermutung geteilt. Leland hatte an einer solchen „Kryptoanthropologie“ des Magischen nur wenig Interesse 67 , während z. B. sein volkskundlicher Kollege George Laurence Gomme (1853-1916) beide Survival-Theorien (die inhaltliche und die personenbezogene) verbinden konnte: „witchcraft is the survival of pre-Aryan aboriginal beliefs from aboriginal sources, fairycraft the survival of beliefs about the aborigins from Aryan sources“. 68 Wir wenden uns Lelands eigener Sicht des Magischen zu. Etappenweise dringt er zu immer mehr Klarheit in seinen Unterscheidungen durch, wobei er freilich keine zusammenhängende Theorie entwirft. Lelands Magiebegriff ist zwar natürlich auch durch die Okkultisten der frühen Neuzeit geprägt 65 The Testimony of Tradition. London 1890; Pygmies in Northern Scotland. Edinburgh 1892; The Underground Life. Edinburgh 1892; The Northern Trolls. Chicago 1893; Underground Dwellings. Aberdeen 1900; Fairy Mounds. London 1900; Hints of Evolution in Tradition. London 1902, und zahlreiche weitere Titel. Vgl. vor MacRitchie z. B. schon Grant Allen, Who Were the Fairies? , Cornhill Magazine 43 (1881), 335-348. Eine spätere sorgfältige Diskussion der Frage ist J. A. MacCulloch, Were Fairies an Earlier Race of Men? , Folk-Lore 43 (1932), 362-375. In der jüngeren anthropologischen Forschung wird die These zwar noch gelegentlich erwähnt, aber kaum mehr vertreten. Vgl. etwa Leslie V. Grinsell, Folklore of Prehistoric Sites in Britain. Newton Abbot 1976, 29. 66 Michel Meurger, Le thème du Petit Peuple chez Arthur Machen et John Buchan, in: ders., Lovecraft et la S.-F., Band 1. Cahier d’études Lovecraftiennes III. Amiens 1991, 111-150. Vgl. auch die freilich durch ihre extreme „political correctness“ behinderte Arbeit von Carole G. Silver, Strange and Secret Peoples. Fairies and Victorian Consciousness. New York u. Oxford 1999, Rev. ed. 2003. 67 Doch s. immerhin seine grundlegende Zustimmung zu MacRitchie in Gypsy Sorcery and Fortune-Telling, 70 (wo er auf „The Testimony of Tradition“ verweist). 68 Ethnology in Folklore. London 1892, 63. <?page no="297"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 297 (Agrippa v. Nettesheim nennt er regelmäßig), weist aber doch deutlich über diese hinaus. Während Magie in diesen älteren Traditionen wesentlich durch den kundigen Umgang mit „Mächten“ und „Kräften“ geschieht, treten in der Esoterik des 19. Jahrhunderts die Elemente von Willen und Imagination in den Mittelpunkt. Exemplarisch wird man an Eliphas Levi Zahed (Alphonse Louis Constant, 1810-1875) und seinen britischen Adeptenschüler Edward Bulwer-Lytton 69 (1803-1873) denken, die hier Wegbereiter sind. Bulwer- Lyttons ambivalente und innerlich komplexe Magiergestalten haben für das englischsprachige Lesepublikum das ältere Faustparadigma in der populären Imagination des Magischen abgelöst. Ausschlaggebend ist die imaginative Funktion der Magie, die eine Veränderung der Lebensqualität ermöglicht: „If any of my readers want to know something of sorcery, I can tell them that among its humblest professors it is perfectly understood that pleasure or enjoyment is one of its deepest mysteries or principles, as an integral part of fascination. (…) For if you could sway life and death, and own millions, or walk invisible, you could do no more than enjoy; therefore you had better learn to enjoy much without such power. Thus endeth the first lesson! “ 70 Magie ist hier Inbegriff einer ekstatischen Daseinssteigerung, ein Gedanke, der älteren Traditionen jedenfalls in dieser Form durchaus fremd ist. Die antike Magie 71 etwa ist auf schlichte und fast immer klar definierte pragmatische Ziele ausgerichtet; sie hat mit der spätromantischen Ausweitung des Magiebegrifs, die wir im Blick haben, kaum etwas gemeinsam. Auch der Gedanke der magischen Bemächtigung, die faustische Fantasie potentieller Allmacht, tritt ganz zurück. Zwar können die Hexen Lelands sehr wohl einen Rachezauber ausüben, oder sich um einen Liebhaber streiten - aber sie bleiben doch immer im Rahmen des Menschenmöglichen und Irdischen. Sie wollen weder den Himmel stürmen noch der Hölle ihre Geheimnisse entreißen. Sie erfreuen sich vielmehr ihres verborgenen, geheimen Lebens und seiner kleinen Freuden: „So he married his beautiful lady, and all lived the hidden life of witches and wizards from that day, and now are in Fairy Land“ 72 , endet eine seiner Erzählungen. Die Idee der Freude als magischer Grundqualität finden wir dann freilich wenig später (1904) auch etwa bei Aleister Crowley wieder: „I give unimaginable joys on earth: certainty, not faith, while in life, upon death: peace unutterable, rest, ecstasy; nor do I demand aught in sacrifice.“ (The Book of the 69 Vgl. mit weiterer Literatur Marco Frenschkowski, Art. Bulwer-Lytton, Edward, in: S. T. Joshi u. Stefan Dziemianowicz (Hrg.), Supernatural Literature of the World: An Encyclopedia, 3 Bände, hier Bd. 1, Westport, CT 2005, 182-184. 70 Memoirs, 133. 71 Neueste Übersicht: Marco Frenschkowski, Art. Magie, in: Reallexikon für Antike und Christentum (im Druck). Dort auch zusammenfassend zur Geschichte der Magietheorien. 72 Aradia, 132. <?page no="298"?> Marco Frenschkowski 298 Law I, 58) „Remember all ye that existence is pure joy; that all the sorrows are but as shadows; they pass & are done; but there is that which remains.“ (l. c. II, 9). Lelands Freude ist allerdings diejenige der Unterdrückten, denen die Magie einen Ausweg aus ihrer Unterdrückung bietet (s. dazu weiter im folgenden), während Crowley einem Nietzscheanischen Glauben an Kraft, Macht und einen nicht weiter begründungs- oder legitimationsbedürftigen Willen huldigt 73 . Auch sonst unterscheidet sich das Magieverständnis Lelands diametral von demjenigen Crowleys. Das Enfant terrible des britischen Bürgertums - der die Magie Zeit seines Lebens zur Emanzipation von seinen sauertöpfischfrommen Eltern instrumentalisierte - stellt die Kulmination und zukunftsweisende Innovation der zeremoniellen Magie dar, deren Renaissance im Großbritannien des 19. Jhdts. mit Francis Barrett, „The Magus“ (London 1801) beginnt und im Hermetic Order of the Golden Dawn kulminiert. Diese zeremonielle Magie ist (damals) essentiell ein Oberschichtsphänomen, und steht ganz in der Gefolgschaft des Gelehrtenokkultismus der Renaissance. Mit der Volksmagie, die Leland sammelte, hat sie kaum Berührungen, wie sich Leland für zeremonielle Magie auch kaum interessiert zu haben scheint. Crowleys Magiebegriff - welche die zeremonielle Magie in der Moderne ankommen lässt - geht zudem locker-entspannt mit der Frage nach der Realität des Magischen um; in manchem ist Crowley, der bedeutendste Okkultist des 20. Jhdts., bereits geradezu postmodern. Folgende von Crowley an hervorgehobener Stelle erzählte Anekdote macht das deutlich: „There is the story of the American in the train who saw another American carrying a basket of unusual shape. His curiosity mastered him, and he leant across and said: „Say, stranger, what you got in that bag? “ The other, lantern-jawed and taciturn, replied: „mongoose“. The first man was rather baffled, as he had never heard of a mongoose. After a pause he pursued, at the risk of a rebuff: „But say, what is a Mongoose? “ „Mongoose eats snakes“, replied the other. This was another poser, but he 73 „Beauty and strength, leaping laughter and delicious languor, force and fire, are of us. We have nothing with the outcast and the unfit: let them die in their misery. For they feel not. Compassion is the vice of kings: stamp down the wretched & the weak: this is the law of the strong: this is our law and the joy of the world. Think not, o king, upon that lie: That Thou Must Die: verily thou shalt not die, but live. Now let it be understood: If the body of the King dissolve, he shall remain in pure ecstasy for ever. Nuit! Hadit! Ra-Hoor-Khuit! The Sun, Strength & Sight, Light; these are for the servants of the Star & the Snake. I am the Snake that giveth Knowledge & Delight and bright glory, and stir the hearts of men with drunkenness. To worship me take wine and strange drugs whereof I will tell my prophet, & be drunk thereof! They shall not harm ye at all. It is a lie, this folly against self. The exposure of innocence is a lie. Be strong, o man! lust, enjoy all things of sense and rapture: fear not that any God shall deny thee for this. I am alone: there is no God where I am.“ (The Book of the Law II, 20-23). Solche Sätze - Keimzelle der thelemitischen „Magick“ - wären bei Leland undenkbar. Den Liber AL vel legis („Book of the Law“) zitiere ich nach: Aleister Crowley, Magick. Liber ABA. Book Four. Parts I-IV. Edited, Annotated and Introduced by Hymenaeus Beta. York Beach, Maine 1994, 303-318 (Erstausgabe des Textes in vier Bänden, Paris 1929-30). <?page no="299"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 299 pursued: „What in hell do you want a Mongoose for? “ „Well, you see“, said the second man (in a confidential whisper) „my brother sees snakes“. The first man was more puzzled than ever; but after a long think, he continued rather pathetically: „But say, them ain’t real snakes“. „Sure“, said the man with the basket, „but this Mongoose ain’t real either“. This is a perfect parable of Magick. There is no such thing as truth in the perceptible universe; every idea when analysed is found to contain a contradiction. It is quite useless (except as a temporary expedient) to set up one class of ideas against another as being „more real“. The advance of man towards God is not necessarily an advance towards truth. All philosophical systems have crumbled. But each class of ideas possesses true relations within itself. It is possible, with Berkeley, to deny the existence of water and of wood; but, for all that, wood floats on water. The Magician becomes identical with the immortal Osiris, yet the Magician dies. In this dilemma the facts must be restated. One should preferably say that the Magician becomes conscious of that part of himself which he calls the immortal Osiris; and that Part does not „die“.“ 74 Dieser in manchem in der Tat schon postmoderne Realitätsbegriff ist bei Leland noch nicht zu finden. Sein Realitätsbegriff ist - sit venia verbo - der romantische. Die Realität hat ein stabiles „Skelett“, das allein wissenschaftlicher Forschung zugänglich ist, entgrenzt sich aber in Magie (und Religion). Medium dieser Entgrenzung ist die dichterische und magische Imagination. Die Idee eines fundamentalen Zusammenhanges zwischen dichterischer und magischer Imagination liegt für Leland immer nahe. Magie definiert sich über Willen und Imagination. Damit kann sie dann auch soziale kompensatorische Funktionen wahrnehmen. Leland folgt hier dem sozialen Verständnis des Hexentums, das der französische Historiker Jules Michelet (1798-1874) entwickelt hatte (die Hexe als soziale Rebellin der Unterschicht), 75 aber Leland vertieft die Analyse weit über Michelet hinaus, und verbindet sie mit der Gegenwart (die Michelet nicht im Blick hat). An Magie in einem übernatürlichen Sinn hat Leland nicht geglaubt. „You may tell me if you will that prophecies are all rubbish and magic a lie, and it may be so, - nay, is so, but the awful mystery of the Unknown without a name and the yearning to penetrate it is, and is all the more, because I have found all prophecies and jugglings and thaumaturgy fail to bridge over the abyss. (…) That gypsy fortune-teller, sitting in the shadow, is, moreover, interesting as a living manifestation of a dead past.“ 76 Lelands Magie ist Ausdruck des unbewußten Willens; sie inszeniert sozusagen in Ritualen und Geschichten die Bedürfnisse des Unbewußten. „Magic is the production of that 74 Aleister Crowley, Magick, 241. 75 Jules Michelet, La sorcière. Leipzig 1862 bzw. Paris 1862. Eine kritische Ausgabe dieses wichtigen Textes ist: La Sorcière. Ed. orig. publ. avec notes et variantes par Lucien Refort. 2 Bände. Paris 1952-56. Über Michelet und seinen Einfluß auf Leland vgl. R. Hutton, The Triumph of the Moon, 137-141. 76 The Gypsies, 291. Zu Lelands persönlicher Mischung aus Rationalismus und Idealismus vgl. auch R. Hutton, The Triumph of the Moon, 142. <?page no="300"?> Marco Frenschkowski 300 which is not measured by the capacity of the conscious working will“ 77 , definiert er in einer seiner wenigen stärker theoretischen Passagen zur Sache. Die Idee eines „wahren Willen“ verbindet andererseits mit Crowley. 78 Um Lelands grundlegende Sicht der etruskisch-römisch-italienischen Religionsgeschichte und insbesondere des Hexenwesens zu verstehen, folgt hier ein etwas längerer Passus aus der Einführung in sein erstes großes Werk zum Thema, den „Etruscan Roman Remains“ (1892), die auch für „Aradia“ das religionsgeschichtliche Paradigma definieren: „There is in Northern Italy a mountain district known as La Romagna Toscana, the inhabitants of which speak a rude form of the Bolognese dialect. These Romagnoli are manifestly a very ancient race, and appear to have preserved traditions and observances little changed from an incredibly early time. It has been a question of late years whether the Bolognese are of Etrurian origin, and it seems to have been generally decided that they are not. With this I have nothing whatever to do. They were probably there before the Etruscans. But the latter at one time held all Italy, and it is very likely that they left in remote districts those traces of their culture to which this book refers. The name Romagna is applied to their district because it once formed part of the Papal or Roman dominion, and it is not to be confounded with La Romagna proper. Roughly speaking, the region to which I refer may be described as lying between Forli and Ravenna. Among these people, stregeria, or witchcraft--or, as I have heard it called, „la vecchia religione“ (or „the old religion“)--exists to a degree which would even astonish many Italians. This stregeria, or old religion, is something more than a sorcery, and something less than a faith. It consists in remains of a mythology of spirits, the principal of whom preserve the names and attributes of the old Etruscan gods, such as Tinia, or Jupiter, Faflon, or Bacchus, and Teramo (in Etruscan Turms), or Mercury. With these there still exist, in a few memories, the most ancient Roman rural deities, such as Silvanus, Palus, Pan, and the Fauns. To all of these invocations or prayers in rude metrical form are still addressed, or are at least preserved, and there are many stories current regarding them. All of these names, with their attributes, descriptions of spirits or gods, invocations and legends, will be found in this work. Closely allied to the belief in these old deities, is a vast mass of curious tradition, such as that there is a spirit of every element or thing created, as for instance of every plant and mineral, and a guardian or leading spirit of all animals; or, as in the case of silkworms, two--one good and one evil. Also that sorcerers and witches are sometimes born again in their descendants; that all kinds of goblins, brownies, red-caps and three-inch mannikins, haunt forests, rocks, ruined towers, firesides and kitchens, or cellars, where they alternately madden or delight the maids--in short, all of that quaint company of familiar spirits which are boldly claimed as being of Northern birth by German archæologists, but which investigation indicates to have been thoroughly at home in Italy while Rome was as yet young, or, it may be, unbuilt. Whether this „lore“ be Teutonic or Italian, or due to a common Aryan or Asian origin, or whether, as the new school teaches, it „growed“ of itself, like Topsy, spontaneously and sporadically everywhere, I will not pretend to determine; suffice to say that I shall be satisfied 77 Gypsy Sorcery and Fortune-Telling, 169. 78 Magie als Manifestation eines tieferen, unbewussten Willen findet sich schon in Lelands frühen Publikationen, z. B. Algonquin Legends, 39. 214. 350. <?page no="301"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 301 should my collection prove to be of any value to those who take it on themselves to settle the higher question. Connected in turn with these beliefs in folletti, or minor spirits, and their attendant observances and traditions, are vast numbers of magical cures with appropriate incantations, spells, and ceremonies, to attract love, to remove all evil influences or bring certain things to pass; to win in gaming, to evoke spirits, to insure good crops or a traveller’s happy return, and to effect divination or deviltry in many curious ways--all being ancient, as shown by allusions in classical writers to whom these spells were known. And I believe that in some cases what I have gathered and given will possibly be found to supply much that is missing in earlier authors--sit verbo venia. Many peasants in the Romagna Toscana are familiar with scores of these spells, but the skilled repetition and execution of them is in the hands of certain cryptic witches, and a few obscure wizards who belong to mystic families, in which the occult art is preserved from generation to generation, under jealous fear of priests, cultured people, and all powers that be, just as gypsies and tramps deeply distrust everything that is not „on the road,“ or all „honest folk,“ so that it is no exaggeration to declare that „travellers“ have no confidence or faith in the truth of any man, until they have caught him telling a few lies. As it indeed befell me myself once in Bath, where it was declared in a large gypsy encampment that I must be either Romany or of Romany blood, because I was the biggest liar they had ever met--the lie in this case having been an arrogant and boastful, yet true, assertion on my part, that though penniless at the moment to stand treat, I had, at home, twenty-four gold sovereigns, eighteen shillings in silver, and twopence in bronze. „And I don’t believe,“ added the gypsy, „that he had a d----d sixpence to his name. But he’s all right.“ So these travellers on the darkened road of sorcery soon recognised in the holder of the Black Stone of the Voodoo, the pupil of the Red Indian medaolin, and the gypsy rye (and one who had, moreover, his pocket always full of fetishes in little red bags)--a man who was worthy of confidence--none the less so since he was not ungenerous of pounds of coffee, small bottles of rum, cigars, and other minor requisites which greatly promote conviviality and mutual understanding in wisdom. Among these priestesses of the hidden spell an elder dame has generally in hand some younger girl whom she instructs, firstly in the art of bewitching or injuring enemies, and secondly in the more important processes of annulling or unbinding the spells of others, or causing mutual love and conferring luck. And here I may observe that many of the items given in this book are so jealously guarded as secrets, that, as I was assured, unless one was in the confidence of those who possess such lore, he might seek it in vain. Also that a great portion has become so nearly extinct that it is now in articulo mortis, vel in extremis, while other details are however still generally known. An interesting and very curious portion of my book consists of a number of Occult remedies, still preserved from remote antiquity among the mountain peasantry. Marcellus Burdigalensis, court physician to the Emperor Honorius made a collection, in the fourth century, of one hundred magical cures for disorders, such as were current in his time among the rural classes. He gathered them, as he informs us in a work entitled De Medicamentis Empiricis, „ab agrestibus et plebeis“ („from rustics and common people“). The collection has been edited by Jacob Grimm in a work entitled Über Marcellus Burdigalensis, Berlin, 1849. 79 These „charms“ were very ancient even in the 79 Lelands Aussage trifft nicht ganz zu. Jakob Grimm hat in zwei Studien über Marcellus Burdigallensis volkskundliches Material aus diesem gesammelt, aber den Autor selbst <?page no="302"?> Marco Frenschkowski 302 time of Marcellus, and, like most early Roman magic, were probably of Tuscan or Etrurian origin. Of these one hundred sorceries I have found about one-half still in current use, or at least known. As given by Marcellus they are often imperfect, many incantations being wanting. Some of these I have been able to supply, and I think that no critical reader, who will compare all that I have collected, will doubt that these Italian formulas contain at least the spirit of antique originals. 80 In addition to this I have included a number of curious tales, anecdotes, and instances, many of which are identical with, or allied to, much which is narrated by Ovid, Virgil, Pliny, Cato, Varro, and others--the result of it all being that a careful comparison of the whole can hardly fail to convince us that the peasantry of the Romagna Toscana, who have lived with little change since prehistoric times, have preserved, through Etruscan, Latin, and Christian rule, a primæval Shamanism or a rude animism--that is, worship of spirits--and a very simple system of sorcery which can hardly fail to deeply interest every student of ethnology. The result of my researches has been the collection of such a number of magic formulas, tales, and poems as would have exceeded reasonable limits, both as to pages and my readers’ patience, had I published them all. What I have given will, I believe, be of very great interest to all students of classical lore of every kind, and extremely curious as illustrating the survival to the present day of „the Gods in Exile“ in a far more literal manner, and on a much more extensive scale than Heine ever dreamed of. And I think that it will be found to illustrate many minor questions. Thus, for example, Müller in his great work on the Etruscans could hardly have doubted that the Lases were the same as the Lares, had he known that the spirits of ancestors are still called in the Romagna, Lasii, Lasi, or Ilasii. (…) As regards truthfulness or authenticity, I must observe that the persons from whom these items were obtained were in every instance far too illiterate to comprehend my real object in collecting. They were ignorant of everything classical to a degree which is supposed to be quite unusual in Italy. I have read many times lists of the names of Roman deities without having one recognised, till all at once I would be called on to stop--generally at an Etruscan name--there would be a minute’s reflection, and then the result given. It was the same with regard to accounts of superstitions, tales, or other lore--they were very often not recognised at all, or else they would be nicht ediert: „Über Marcellus Burdigallensis“ (1847) und „Über die marcellischen Formeln“ (1855) (beide Studien sind zusammengestellt in: Jakob Grimm, Kleinere Schriften 2. Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde (1865). Neuausgabe Hildesheim u.a. 1991, 114-151 bzw. 152-172). Außerdem hat bereits Grimm gezeigt, dass Spruchgut, das wir aus Marcellus kennen, jahrhundertelang auch offenbar unabhängig von diesem tradiert wurde. Dies bleibt bis heute eines der eindrücklichsten Zeugnisse für die Kontinuität volksmagischen und volksmedizinischen Spruchmaterials, die oft behauptet wird, aber kaum je über so weite Zeiträume belegt werden kann. Als beste Ausgabe liegt vor: Marcellus Über Heilmittel. Hrg. von Max Niedermann. Zweite Aufl. besorgt von Eduard Liechtenhan. Üb. von Jutta Kollesch und Diethard Nickel. 2 Bände. Berlin 1968 (Corpus Medicorum Latinorum V, 1+2: Marcelli de medicamentis liber). Marcellus ist auch ein wichtiger Zeuge für die volksmagische Tradierung gallischen Sprachgutes zu einer Zeit, als das Gallische bereits durch das Römische verdrängt war. Dazu s. jetzt: Wolfgang Meid, Heilpflanzen und Heilsprüche. Zeugnisse gallischer Sprache bei Marcellus von Bordeaux. Innsbruck 1996 (unter keltologischen Leitfragen). 80 Die gallisch-römischen Zauberformeln des Marcellus Burdigallenis (oder Empiricus) enthalten keine für mich erkennbaren etruskischen Anteile. <?page no="303"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 303 recalled with very material alterations. Had there been deceit in the case, there would have been of course a prompt „yes“ to everything. But in most cases my informants gave me no answer at the time, but went to consult with other witches, or delayed to write to friends in La Romagna. Thus it often happened that I was from weeks to years in collecting certain items. The real pioneer in folk-lore like this, has always a most ungrateful task. He has to overcome difficulties of which few readers have any conception, and must struggle with the imperfect language, memories, and intelligences of ignorant old people who have half-forgotten traditions, or of more ignorant younger ones who have only half learned them. Now I have been, as regards all this, as exact as circumstances permitted, and should any urge that nihil est, quod cura et diligentia perfici haud possit, I can only reply that in this work I exhausted mine. And it is unfortunately true that in collecting folk-lore, as in translation, the feeblest critic can pick out no end, of errors as he will, or show how he could have bettered it, in reviewing the very best books on the subject--which is one great cause in this our day why many of the best books are never written. For truly there is not much money to be made thereby, and if discredit be added thereunto, one can only say as the Scotch „meenister“ did to his wife: „If ye have nae fortune, and nae grace, God knows I have got but a sair bairgain in ye.“ It should be observed that all these superstitions, observances, legends, names, and attributes of spirits are at present far from being generally known. Much of the lore was originally confined to the strege, or witches--who are few and far between--as constituting secrets of their unlawful profession. Again, of late, the younger generation have ceased to take any interest in such matters, and as regards the names of certain spirits, it is with difficulty that a few old people, or even one here and there, can be found who remember them. Mindful of this, I took great pains to verify by every means in my power the authenticity of what I have given, especially the names and attributes of spirits or gods. My most intelligent collector did her best to aid by referring to more than one vecchia, or old woman. An intelligent young contadino was specially employed at this work. He went on market days when the peasantry came down in numbers from the mountains, and asked the old women and men from different places, if they knew this or that spirit. He was eminently successful in verifying nearly all the names which I have here given. But he declared that he found it very difficult as regarded some of them, firstly, because only a very few old people knew the names which I was specially desirous of confirming, such as those of Tinia, Faflon, and Téramó, and that, secondly, these people were very averse to communicating what they knew, because such subjects are scongiurati, or prohibited by the priests. Adhering closely to the letters of his instructions, he however not only obtained the verifications, but induced a number of old peasants to write certificates, or fogliettini, as to what they had affirmed. These, written on strips of writing-paper of different colours, have a curious effect, looking something like testimonials of character of the ancient deities, as if the latter were seeking situations or charity. The following are specimens of these documents: -- „The Lasii are spirits of our ancestors, and are known at Santa Sofia. „AUGUSTO FIERRARI. „March, 1891.“ „Fafflond (Faflon) or Fardel is the spirit of wine. He is known at Politeo (i.e., Portico). „OTTAVIO MAGRINI.“ <?page no="304"?> Marco Frenschkowski 304 „Tigna, the great spirit of lightning, has been generally known here in Dovadola from ancient times. „V. DEL’ VIVO.“ „Teramo is the spirit of merchants, thieves and messengers. He is known at San Benedetto, where the deeds of this spirit have been related for many years. „TITO FORCONI. „March, 1891.“ Enrico Rossi testifies of Mania della Notte--the nightmare--that, „She was remembered once by many, but now it is a long time since any one at Galeata has spoken of her.“ I have more of these certificates; suffice it to say that the youth, aided by his father and friends, succeeded in abundantly verifying all the names, save three or four. I should say, however, that these agents were exceptionally well qualified for the task, there being a very wise woman--in fact two--in the family. In some few cases they varied the orthography of the names. Thus „Peppino“ declares in a letter that the correct name of Faflon is Faflo, and that the Lasii are Ilasie. What I would say is that I took all the pains in my power to verify the truth as to the actual existence of the names and attributes of these spirits, as well as of the other subjects of folk-lore given in this work. There is another difficulty or contradiction to be noted. Many superstitions and observances are recorded as if they were still in familiar current use, or well known, which are in reality almost forgotten; while others again are tolerably familiar to the multitude. I have often spoken of things as living which are rapidly becoming obsolete because my informants did so, after the fashion of old people--ut est à nobis pauloantè commemoratum. I have been told that these stories and rites are perishing very rapidly, that twenty years ago an incredibly vast and curious collection of them could have been made, and that ten years hence it will probably be impossible to find the names of the old deities, or more than a mere fragment of what I have preserved, and that a great deal has perished or vanished from among the people even since I first began to collect it. For all of this I crave due allowance. I have also to request it for what may strike some readers as a defect. A great deal of this folk-lore came from persons who had learned it long ago, and who, consciously or unconsciously, had often only a dim recollection of a song or incantation, and so, voluntarily or involuntarily, repeated it, perhaps imperfectly, just as it would have been done among the contadini, who are by no means accurate in such matters, and yet are endowed with a great gift for improvising, That the motive or tradition existed in every case, and that its sense is preserved, I am sure. I simply urge that I have collected and published as well as I could, doing my best to select from a terribly mixed and confused mass of material, and that I can do no more. Further sifting must be done by those better qualified than I am.“ 81 Dieser längere Abschnitt definiert Lelands italienische Sammeltätigkeit, stellt klar seine leitenden Interessen heraus, und gibt zudem deutliche Auskunft über seine angewandte Methodik. Er verwendet einheimische Sammlerinnen und Sammler - die er auch bezahlt 82 - und die ihrerseits möglichst weitausgreifende Umfragen veranstalten. Leland wird nicht müde zu beto- 81 Etruscan Roman Remains, 1-7. 82 Dies war im späten 19. Jhdt. gängige Praxis, und kaum zu umgehen. Der Aufwand an Zeit und Energie, den Leland von seinen Gewährsmännern und -frauen erwartete, war umsonst nicht zu haben. Er benutzte sie gegenseitig zur Kontrolle des Materials. <?page no="305"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 305 nenen - auch in seinen anderen Büchern über das italienische Hexenwesen - dass er nicht den „Mainstream“ italienischer Folklore sammelt, 83 sondern spezielles heidnisches Material, das nur noch bei sehr wenigen alten Tradenten bzw. Tradentinnen greifbar sei. Er rechnet damit, dass 20 Jahre später vielleicht nichts mehr direkt greifbar sein könnte. Damit hat er in jedem Fall recht behalten. Neuere Sichtungen italienischer volksmagischer Traditionen in Italien bewegen sich jedenfalls fast ausschließlich in jenem Bereich katholischer Subkultur, den Leland von der Hexentradition gerade radikal unterschieden hat. 84 Daher sind ihre „Aktanten“ der Teufel und seine Dämonen, die Engel und Heiligen, Gott und die Menschen, und nicht mehr wie bei Leland die Götter des etruskischen Heidentums, Diana und Aradia, Kain und Luzifer (der ganz als heidnischer Lichtgott, als Avatar Apolls erscheint). Wir wenden uns der inhaltlichen Seite von Lelands Hexenforschungen zu. 83 Daher gibt es kaum Berührungen zwischen den von Leland gesammelten Materialien und den von Giuseppe Pitrè (1841-1916) oder - für die Toskana - G. Siciliano edierten Volkserzählungen. 84 Der im deutschen Sprachraum meistbeachtete neuere Titel ist Thomas Hauschild, Magie und Macht in Italien. Über Frauenzauber, Kirche und Politik. Gifkendorf 2002. Hauschild beschreibt ausführlich, aus (intensiv) teilnehmender Beobachtung heraus, Hexen und Wahrsagerinnen in dem lukanischen Dorf Ripacandida. Dabei verschwimmt insbesondere jede herkömmliche Unterscheidung zwischen Religion und Magie, wofür folgender Passus exemplarisch zitiert sein mag: „Ähnlich erging es mir mit meiner Fragerei bei Lucietta. Die alte Frau hätte es spielend mit einem religionswissenschaftlichen Seminar aufnehmen können. Statt auf einem Besenstiel ritt sie gerne auf dem Unterschied zwischen Magie und Religion herum. Die sind nur dazu da, die Gnade der Heiligen zu ersuchen, diese Sachen, aber man muss die genauen Worte wissen, sonst wirkt es nicht. Die herkömmliche wissenschaftliche Definition von Magie ist: Ausübung von Zwang gegen übernatürliche Mächte. Religion nennen manche Forscher im Gegensatz dazu die demutvolleren Formen der Kontaktaufnahme mit dem Übernatürlichen. (…) Aber bei Lucietta würden sich die Theoretiker von Religion und Magie die Zähne ausbeißen. Für die Alte gingen magischer Zwang und religiöse Demut in eins. Mit diesen Begriffen kam ich bei ihr nicht weiter.“ (S. 277). Es ist Konsens der neueren Religionswissenschaft, dass Unterschiede zwischen Magie und Religion nicht kulturübergreifend gegeben sind, sondern selbst Ausdruck spezifischer religiöser (und magischer) Konstruktionen von Wirklichkeit darstellen, also Aspekte (nämlich Ausgrenzungs-, Dissoziierungs- und Delegitimationsstrategien) eines je spezifischen religiösen Systems. Lelands Material bietet zahlreiche Bestätigungen dieser Überschneidungen und Grenzverwischungen, wodurch er sich namentlich von seinem Zeitgenossen J. G. Frazer unterscheidet, der ein aus heutiger Sicht sehr viel naiveres Magiekonzept vertritt. Vgl. allgemein zu Erforschung des italienischen volkstümlichen Erzählgutes die Bibliographie von Alessandro Falassi, Italian Folklore: An Annotated Bibliography. New York 1985. <?page no="306"?> Marco Frenschkowski 306 4. „Vecchia religione”: Lelands Beitrag zur Hexenforschung Lelands bleibendster Beitrag - nahezu der einzige, der seinen Namen in der Gegenwart lebendig erhält - ist derjenige zur Hexenforschung. Auch hier tritt Leland nicht als Historiker oder Theoretiker auf, sondern als Sammler volkstümlicher Materialien. „Etruscan Roman Remains“ ist ein veritables Grimoire der Hexenmagie, und „Aradia, or, The Gospel of the Witches“ ist eine „Theologie des Hexentums“, wie Leland es interpretiert hat. Im Mittelpunkt stehen die Figuren der Diana, der Königin (oder Göttin) der Hexen, und des von ihr ausgesandten weiblichen Messias (explizit: „female messiah“ 85 ) Aradia, der Begründerin der Hexenreligion. Als wandernde Predigerin lehrt Aradia zu einer unbestimmten Zeit im Mittelalter (14. Jhdt.? ) unterdrückte Frauen und Männer die Hexenkunst, damit diese nicht wehrlos den Mächtigen ausgeliefert sind, dazu Heilkunde und andere magische Künste. Insbesondere stiftet sie als eine Art Sakrament den Hexensabbat, der nichts mit Teufelsverehrung zu tun hat, sondern einen beglückenden orgiastischen Dianakult darstellt. Im Anschluss an dieses „basic ritual“ bietet der Band „Aradia, or, The Gospel of the Witches“ noch mythologische und legendäre Erzählungen und Brauchtum, die Leland beigefügt haben will, weil sie dem Charakter des Grundtextes entsprechen. Der wesentliche Unterschied zwischen der katholisch-christlichen Konstruktion „Hexerei“ und der „alten Religion“ besteht nach Leland darin, dass diese keinerlei Bezug zur christlichen Figur des Teufels habe. Dieser kommt zwar beiläufig in Erzählungen vor, ist aber nicht die mythologische Mitte der Vecchia religione. Diese Mitte wird vielmehr durch die Göttin Diana und ihre Tochter Aradia verkörpert. Das Vorstellungsgeflecht um den Teufelspakt fehlt in der paganen „Hexerei“ vollständig, die darin eben antike Vorbilder fortführe. Der Grundtext (etwa Kap. 1-3; die Abgrenzung ist schwierig) wurde Leland von Maddalena übergeben, die selbst angeblich jahrelang ein Exemplar suchen musste. Im Volksmund sei der Text als das „Evangelium der Hexen“ bekannt (vangelo delle streghe), eine erstaunlich passende Bezeichnung, denn die Geschichte der Aradia ist eine Erlösungs- und Befreiungsgeschichte. Das „vangelo“ ist, theologisch gesprochen, ein soteriologischer Text, etwas völlig neues in der Hexenliteratur, das nicht einmal durch Michelet vorbereitet ist. Es bestand niemals ein Zweifel daran, dass der Name Aradia von biblisch Herodias abgeleitet ist (Mt. 14, 1-12 par.). Diese - eine der „bösen Frauen“ der Überlieferung - wurde in Sage und Legende offenbar bereits in altkirchlicher Zeit zu einer Dämonengestalt, dabei wahrscheinlich mit ihrer Tochter kontaminiert (so dass sie selbst zur archetypischen lüsternen „Tänzerin“ wurde). Im germanischen und keltischen Kulturraum trat sie an die Seite der Diana, die Leland als „Königin“ und „Göttin“ der Hexen sah. Sie gehört da- 85 Aradia, VIII. <?page no="307"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 307 mit wie Diana in das Umfeld der „wilden Jagd“, das eine der Wurzeln des mittelalterlichen Hexenglaubens ist. Allerdings ist auffällig, dass in Italien ihr Name gewöhnlich Erodiade geschrieben wird. 86 Die Geschichte der Namensform Aradia ist noch nicht aufgeklärt, obwohl es Parallelen in anderen Sprachen gibt. Dazu habe ich einiges Material gesammelt, das hier vorzulegen aus Platzgründen nicht möglich ist. Das vom „Himmel herabgefallene Bild“ der Diana-Artemis von Ephesus wird auch im Neuen Testament erwähnt (Apg. 19, 24-28). Artemis ist damit die einzige im NT erwähnte heidnische Göttin, was den üblen Ruf ihres Namens befördert haben mag. Im lateinischen Sprachraum hieß sie durchgehend Diana. Die altitalische Göttin Diana (wohl von dius „taghell, leuchtend“) ist wahrscheinlich nur sekundär, aufgrund ihrer Anpassung an die griechische Artemis, zur Jagdgöttin geworden. Von Hause aus scheint sie eher mit Funktionen der Geburt und des weiblichen Lebens verbunden gewesen zu sein. In den römischen Provinzen wurde sie mit diversen Göttinnen identifiziert (im keltischen Raum etwa mit Britomartis, Abnoba, Arduinna u.a.). Erstaunlich ist eine auf diversen Inschriften bezeugte Gleichsetzung mit Hekate, wie sie auch trivia und triformis heißt, was Hekate-Attribute sind. Auch mit Nemesis wird sie zusammengestellt. Apoll und Diana sind regelmäßig Sol und Luna. 87 Warum gerade Diana ins frühe Mittelalter überlebte, ist schwer zu sagen. Unbestreitbar jedoch ist, dass ihr Name mit einer Reihe heidnischer „Relikte“ und bis weit in die christliche Zeit überlebender Kulte verbunden war. Ob diese selbst den Namen Diana verwendet haben, oder dieser nur gelehrte Chiffre war, wissen wir nicht. 88 Jedoch deutet das Überleben des Namens in den Mundarten der südfranzösischen Schweiz 89 und verschiedener Ortsnamen mit dem Element „Diana“ an, dass es wohl tatsächlich zumindest mancherorts im romanisch-germanischen Raum noch in christlicher Zeit Diana-Kult gab. 585 n. Chr. zerstört Wulfilaich einen Dianatempel bei Trier (Gregor v. Tours, Historia Francorum VIII, 15). Am wirk- 86 Vladimiro Macchi (Hrg.), I Dizionari Sansoni Inglese-Italiano Italiano-Inglese. 4. Aufl. Mailand 2003, s.v. 87 Vgl. mit Belegen Georg Wissowa, Art. Diana, PW V, 1, Stuttgart 1903=1958, 325-338, hier bes. 337f. (Kult in den Provinzen); Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte. München 2. Aufl. 1967, 169-173. 88 Vgl. schon H. Naumann, Art. Diana, HDA 2 (1930), 196f. und aus der reichen neueren Literatur z. B. die Diskussion bei Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt a. M. 1985, 267-269 A. 29 und Carlo Ginzberg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Frankfurt am Main 1993, 441 Reg. s. v. Diana. Belege für Diana auf spätantiken Inschriften des ehemals keltischen Raums sind z. B. gesammelt bei Alfred Holder, Alt-celtischer Sprachschatz 1. Leipzig 1896 = Graz 1961, 1279f. S. auch Gustav Henningsen, „The Ladies from Outside“: An Archaic Pattern of the Witches“ Sabbath. In: European Witchcraft: Centers and Peripheries, hrg. v. Gustav Henningsen und Bengt Ankarloo. Oxford 1993, 191-215. 89 E. Tappolet, Survivance de Diana dans les patois Romans, Archives suisses des traditions populaires 22 (1918/ 19), 225-231. <?page no="308"?> Marco Frenschkowski 308 mächtigsten wurde jedoch ihre Erwähnung im „Canon episcopi“, der sich als Canon 371 bei Regino von Prümm, De synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis erhalten hat. Dieser Text spricht explizit von einem paganen Diana- Kult. Man hat ihn im Mittelalter mit der altkirchlichen Synode von Ankyra in Zusammenhang gebracht, da Canon 370 „ex concilio Anquirensi“ stammen will. Diese Zuschreibung ist jedoch sicher falsch; vermutlich stammt der Text aus einem karolingischen Kapitular oder Synodalstatut. (Auch die Erwähnung in der pseudoaugustinischen Schrift De spiritu et anima ist erst nach Reginos Sammelwerk zu datieren). Die entscheidenden Sätze lauten: „Illud etiam non omittendum, quod quaedam sceleratae mulieres, retro post Satanam conversae daemonum illusionibus et phantasmatibus seductae, credunt se et profitentur nocturnis horis cum Diana paganorum dea, et innumera multitudine mulierum equitare super quasdam bestias, et multa terrarum spatia intempestae noctis silentio pertransire, eiusque iussionibus velut dominae obedire, et certis noctibus ad eius servitium evocari.“ 90 Einige (offenbar spätere) Handschriften lesen hinter „cum Diana“ „vel cum Herodiade“. Es geht hier nicht so sehr um die Bedeutung dieses Textes zur Vorgeschichte des Motives des Hexensabbats, sondern um die Verbindung dieser Hexen mit den Göttinnen Diana und Herodias. Im Referat der Passage bei Burkhard von Worms, Corrector (Decretum XIX), 5 § 70 heißt die Anführerin der nachtfahrenden Frauen „striga holda“ (§ 170 u. 171 allerdings „striga unholda“): 91 der Name war variabel. Nun soll nicht bestritten werden, dass es im frühen Mittelalter in manchen Gegenden Relikte eines paganen Dianakultes gegeben hat. Für Regino von Prümm und überhaupt die früheren mittelalterlichen Autoren zum Hexenwesen sind diese Relikte nicht etwa Spuren einer gefährlichen „Hexensekte“, sondern anachronistische Überbleibsel eines hinterwäldlerischen Köhlerglaubens. Die Verschwörungsfantasie einer Hexensekte entsteht erst später, in Etappen vom 13.-15. Jahrhundert; dieser Prozess ist oft beschrieben worden. Die meisten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Passagen zu einem Diana- und Herodiaskult sind direkt - d.h. literarisch - durch den Canon episcopi beeinflusst. 92 Das mindert ihren Wert als Zeugnisse beträchtlich. Gerade neopagane Schriftsteller bemerken in ihren Übersichten zur „verborgenen Geschichte“ der Dianaverehrung öfters nicht, dass sie faktisch die Geschichte der Zitate des Canon episcopi bieten. Weitergehende Versuche, Aradia als historische Person des Spätmittelalters zu verstehen, hat u.a. Raven Grimassi vorgelegt, der selbst ein praktizie- 90 Text bei: Joseph Hansen, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter. Mit einer Untersuchung der Geschichte des Wortes Hexe von Johannes Franck. Bonn 1901, 38. Hansens monumentale Quellensammlung bleibt der wichtigste Einzelband zur Geschichte der europäischen Hexenverfolgung. Vgl. zum Canon episcopi auch Christa Tuczay, Magie und Magier im Mittelalter. Überarbeitete Neuausgabe München 2003, 126-128. 91 Text: J. Hansen, op. cit. 40. 92 Vgl. die zahlreichen Belege bei J. Hansen, op. cit. 678 Register s. v. Diana. <?page no="309"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 309 rendes Mitglied der Wicca-Bewegung ist und innerhalb dieser einen sozusagen „italienischen Zweig“ begründet hat. 93 Aradias Wanderungen wären dann im Rahmen der erheblichen Mobilität zu sehen, die in der jüngeren Forschung gerade für die norditalienische Gesellschaft ausgemacht worden ist. 94 Er bleibt allerdings im Bereich freischwebender Vermutungen. Aradia wäre dann mit der 1300 als Häretikerin verbrannten Mayfreda Visconti vergleichbar, die von der Sekte der Guglielmiten als „Päpstin“ verehrt wurde und als Nachfolgerin der Guglielma (Vilemína) von Böhmen galt (gest. Mailand 1279), die ihrerseits als weibliche Inkarnation des Heiligen Geistes verehrt worden war. Guglielma war aus Böhmen nach Italien gekommen, hatte dort weibliche Priester und Kardinäle eingesetzt und eine Bewegung begründet, die als radikale feministische Variante des Joachimismus gelten kann. 95 Aber als Hexen galten diese Frauen wohl allenfalls ihren Gegnern. Sehr viel sorgfältiger und methodischer hat Sabina Magliocco 96 einen möglichen spätmittelalterlichen kulturellen Hintergrund zwar nicht für eine historische Aradia (eine solche bleibt unbeweisbar), aber für eine Aradia- Legende plausibel gemacht. Ihre Argumente sollen hier nicht wiederholt werden: künftige Arbeiten werden zu prüfen haben, ob in diese Richtung ein Erkenntnisfortschritt möglich ist. Zusammenfassend schreibt sie: „What can we conclude from this evidence about the legend of Aradia? The evidence I have examined and presented here suggests that the legend of Aradia has roots in archaic, pre-Christian materials concerning societies of healers who trafficked with spirits in order to cure. Healing may have involved trance-journeys as well as ecstatic dancing. These ancient materials combined with Classical legends of Diana and Hecate, and during the Middle Ages became attached to the New Testament story of Herodias, the eternal dancer. By the 11th century, these elements had become part of a widespread legend complex in Europe that may have involved episodes of ostension, or the enactment of certain legend motifs, probably for the purposes of healing. As clerical and popular attitudes towards the nature of nighttime spiritual journeys changed, these legends merged with parallel folk materials about maleficent witches, and became the building blocks of the 93 Raven Grimassi, Hereditary Witchcraft. Secrets of the Old Religion. St. Paul, Minnesota 2003, 191-194; id., Italian Witchcraft. The Old Religion of Southern Europe. St. Paul, Minnesota 2000, 252f. u.ö. 94 Uwe Israel, Fremde aus dem Norden. Transalpine Zuwanderer im spätmittelalterlichen Italien. Bibliothek des DHI in Rom 111. Tübingen 2005 (Habilitationsschrift Göttingen 2003). Außerdem ist natürlich an die vielen Formen des „fahrenden Volkes“ zu denken, an denen das späte Mittelalter zu allen Zeiten keinen Mangel hat: Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelfeld. Bielefeld 1995; Wolfgang Hartung, Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Darmstadt 2003. 95 Vgl. Luisa Muraro, Vilemína und Mayfreda. Die Geschichte einer feministischen Häresie. Freiburg i. Br. 1987 (aus dem Italien.); Peter Dinzelbacher, Art. Wilhelmina v. Böhmen, Lexikon des Mittelalters 9 (1998), 196f. 96 Sabina Magliocco, Who Was Aradia? The History and Development of a Legend, The Pomegranate: The Journal of Pagan Studies, Issue 18, Feb. 2002. Auch im Internet unter: http: / / chass.colostate-pueblo.edu/ natrel/ pom/ pom18/ aradia.html. <?page no="310"?> Marco Frenschkowski 310 subversion myth of the diabolical sabbat, responsible for the death of tens of thousands of innocent women and men between 1300 and 1750. What Leland collected from Maddalena may represent a 19th century version of this legend that incorporated later materials influenced by medieval diabolism: the presence of „Lucifero,“ the Christian devil; the practice of sorcery; the naked dances under the full moon.“ Das ist eine ansprechende Theorie, die nicht in einem bloßen Aufsatz geprüft werden kann, sondern monographischer Bearbeitung bedarf. Immerhin: so könnte es gewesen sein. Kaum je durchdacht wurde in der bisherigen Forschung dagegen das Verhältnis zwischen Aradia und Maddalena. Aradia als „ideale Hexe“ ist das überhöhte Alter ego Maddalenas. Leland mag das instinktiv gespürt haben. Diese Interpretationslinie muss hier nicht vertieft werden. Bisher hat es keine ernsthafte Analyse oder auch nur potentielle Kontextualisierung der Texte des „Vangelo“ in Verbindung mit mittelalterlichhäretischem Material gegeben. Die folgenden Zeilen verstehen sich als erster Versuch, mögliche traditionsgeschichtliche Affinitäten des Materials zu benennen, die jedoch dann wiederum zwei ganz unterschiedliche Interpretationen ermöglichen. Synchron können die Ähnlichkeiten als vergleichbare Tätigkeiten einer mythologischen bzw. mythopoetischen Imagination verstanden werden. In diesem Fall sind keine kommunikativ vermittelten historischen Abhängigkeiten zu vermuten, sondern strukturelle Affinitäten, die mit vergleichbaren gesellschaftlichen und religiösen Rahmenbedingungen zusammenhängen mögen. Oder andererseits haben wir vielleicht tatsächlich mit sehr weitläufigen Traditionslinien zu rechnen, die bis in die gnostischdualistischen oder sonst häretischen Theologien des Mittelalters fühen. Eine Entscheidung zwischen beiden Möglichkeiten scheint bei heutigem Erkenntnisstand nicht möglich. Lässt sich das „Gospel of the Witches“, wie es Maddalena Leland übergeben hat, rekonstruieren - unabhängig von der Frage, was ihr eigener Anteil an dem Text gewesen sein mag? Um diese Frage haben sich Mario Pazzaglini, Dina Pazzaglini, Chas S. Clifton, Robert Mathiesen und Robert E. Chartovich verdient gemacht. 97 V.a. Robert Mathiesen hat aus einer genauen Analyse von Lelands handschriftlichem Manuskript Rückschlüsse zu ziehen versucht, die meist hohe Plausibilität haben. Als möglicher Text von Maddalenas Manuskript ergibt sich - wenn man alle Kommentare Lelands streicht, und nur die englischsprachigen Passagen abdruckt (Leland zitiert alle poetischen Texte auch auf Italienisch) - etwa folgender Text, der hier zum ersten Mal im Zusammenhang abgedruckt sein soll (die Kapiteleinteilungen sind von Leland eingeführt und hier daher fortgelassen): „This is the Gospel (Vangelo) of the Witches: Diana greatly loved her brother Lucifer, the god of the Sun and of the Moon, the god of Light (Splendor), who was so proud of 97 Aradia. A New Translation, passim. <?page no="311"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 311 his beauty, and who for his pride was driven from Paradise. Diana had by, her brother a daughter, to whom they gave the name of Aradia. In those days there were on earth many rich and many poor. The rich made slaves of all the poor. In those days were many slaves who were cruelly treated; in every palace tortures, in every castle prisoners. Many slaves escaped. They fled to the country; thus they became thieves and evil folk. Instead of sleeping by night, they plotted escape and robbed their masters, and then slew them. So they dwelt in the mountains and forests as robbers and assassins, all to avoid slavery. Diana said one day to her daughter Aradia: ‘Tis true indeed that thou a spirit art, But thou wert born but to become again A mortal; thou must go to earth below To be a teacher unto women and men Who fain would study witchcraft in thy school Yet like Cain’s daughter thou shalt never be, Nor like the race who have become at last Wicked and infamous from suffering, As are the Jews and wandering Zingari 98 , Who are all thieves and knaves; like unto them Ye shall not be…. And thou shalt be the first of witches known; And thou shalt be the first of all i’ the world; And thou shalt teach the art of poisoning, Of poisoning those who are great lords of all; Yea, thou shalt make them die in their palaces; And thou shalt bind the oppressor’s soul (with power); And when ye find a peasant who is rich, Then ye shall teach the witch, your pupil, how To ruin all his crops with tempests dire, With lightning and with thunder (terrible), And the hall and wind…. And when a priest shall do you injury By his benedictions, ye shall do to him Double the harm, and do it in the name Of me, Diana, Queen of witches all! And when the priests or the nobility Shall say to you that you should put your faith In the Father, Son, and Mary, then reply: „Your God, the Father, and Maria are Three devils…. „For the true God the Father is not yours; For I have come to sweep away the bad, 98 Diese gegenüber den von Leland to tief geliebten Zigeunern abfällige und polemische Passage macht allein schon die Idee unmöglich, Leland selbst habe diesen Text verfasst. <?page no="312"?> Marco Frenschkowski 312 The men of evil, all will I destroy! „Ye who are poor suffer with hunger keen, And toll in wretchedness, and suffer too Full oft imprisonment; yet with it all Ye have a soul, and for your sufferings Ye shall be happy in the other world, But ill the fate of all who do ye wrong! “ Now when Aradia had been taught, taught to work all witchcraft, how to destroy the evil race (of oppressors) she (imparted it to her pupils) and said unto them: When I shall have departed from this world, Whenever ye have need of anything, Once in the month, and when the moon is full, Ye shall assemble in some desert place, Or in a forest all together join To adore the potent spirit of your queen, My mother, great Diana. She who fain Would learn all sorcery yet has not won Its deepest secrets, them my mother will Teach her, in truth all things as yet unknown. And ye shall all be freed from slavery, And so ye shall be free in everything; And as the sign that ye are truly free, Ye shall be naked in your rites, both men And women also: this shall last until The last of your oppressors shall be dead; And ye shall make the game of Benevento, Extinguishing the lights, and after that Shall hold your supper thus: The Sabbat: Treguenda or Witch-Meeting--How to Consecrate the Supper. Here follows the supper, of what it must consist, and what shall be said and done to consecrate it to Diana. You shall take meal and salt, honey and water, and make this incantation: The Conjuration of Meal. I conjure thee, O Meal! Who art indeed our body, since without thee We could not live, thou who (at first as seed) Before becoming flower went in the earth, Where all deep secrets hide, and then when ground Didst dance like, dust in the wind, and yet meanwhile Didst bear with thee in flitting, secrets strange! Here follows the Conjuration of the Salt. <?page no="313"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 313 Conjuration of the Salt. I do conjure thee, salt, lo! here at noon, Exactly in the middle of a stream I take my place and see the water round, Likewise the sun, and think of nothing else While here besides the water and the sun: For all my soul is turned in truth to them; I do indeed desire no other thought, I yearn to learn the very truth of truths, For I have suffered long with the desire To know my future or my coming fate, If good or evil will prevail in it. Water and sun, be gracious unto me! Here follows the Conjuration of Cain. The Conjuration of Cain. I conjure thee, O Cain, as thou canst ne’er Have rest or peace until thou shalt be freed From the sun (i.e.: moon) where thou art prisoned, and must go Beating thy hands and running fast meanwhile: I pray thee let me know my destiny; And if ‘tis evil, change its course for me! If thou wilt grant this grace, I’ll see it clear In the water in the splendour of the sun; and thou, O Cain, shalt tell by word of mouth Whatever this my destiny is to be. And unless thou grantest this, May’st thou ne’er know peace or bliss! Then shall follow the Conjuration of Diana You shall make cakes of meal, wine, salt, and honey in the shape of a (crescent or horned) moon, and then put them to bake, and say: Conjuration of Diana. I do not bake the bread, nor with it salt, Nor do I cook the honey with the wine, I bake the body and the blood and soul, The soul of (great) Diana, that she shall Know neither rest nor peace, and ever be In cruel suffering till she will grant What I request, what I do most desire, I beg it of her from my very heart! And if the grace be granted, O Diana! In honour of thee I will hold this feast, <?page no="314"?> Marco Frenschkowski 314 Feast and drain the goblet deep, We, will dance and wildly leap, And if thou grant’st the grace which I require, Then when the dance is wildest, all the lamps Shall be extinguished and we’ll freely love! And thus shall it be done: all shall sit down to the supper all naked, men and women, and, the feast over, they shall dance, sing, make music, and then love in the darkness, with all the lights extinguished: for it is the Spirit of Diana who extinguishes them, and so they will dance and make music in her praise. And it came to pass that Diana, after her daughter had accomplished her mission or spent her time on earth among the living (mortals), recalled her, and gave her the power that when she had been invoked… having done some good deed… she gave her the power to gratify those who had conjured her by granting her or him success in love: To bless or curse with power friends or enemies. To converse with spirits. To find hidden treasures in ancient ruins. To conjure the spirits of priests who died leaving treasures. To understand the voice of the wind. To change water into wine. To divine with cards. To know the secrets of the hand (palmistry). To cure diseases. To make those who are ugly beautiful. To tame wild beasts. Whatever thing should be asked from the spirit of Aradia, that should be granted unto those who merited her favour. And thus must they invoke her: Thus do I seek Aradia! Aradia! Aradia! At midnight, at midnight I go into a field, and with me I bear water, wine, and salt, I bear water, wine, and salt, and my talisman--my talisman, my talisman, and a red small bag which I ever hold in my hand con dentro, con dentro, sale, with salt in it, in it. With the water and wine I bless myself, I bless myself with devotion to implore a favour from Aradia, Aradia. The Invocation to Aradia Aradia! my Aradia! Thou who art daughter unto him who was Most evil of all spirits, who of old Once reigned in hell when driven away from heaven, Who by his sister did thy sire become But as thy mother did repent her fault, p. 17 And wished to mate thee to a spirit who Should be benevolent, And not malevolent! Aradia, Aradia! I implore <?page no="315"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 315 Thee by the love which she did bear for thee! And by the love which I too feel for thee! I pray thee grant the grace which I require! And if this grace be granted, may there be One of three signs distinctly clear to me: The hiss of a serpent, The light of a firefly, The sound of a frog! But if you do refuse this favour, then May you in future know no peace notjoy And be obliged to seek me from afar, Until you come to grant me my desire, In haste, and then thou may’st return again Unto thy destiny. Therewith, Amen! “ Ob der folgenden Abschnitt aus Maddalenas Manuskript stammt, oder Lelands ersten Anhang darstellt, ist unklar; ich halte letzteres für wahrscheinlich. „To find a stone with a hole in it is a special sign of the favour of Diana. He who does so shall take it in his hand and repeat the following, having observed the ceremony as enjoined: -- Invocation to the Holy-Stone. I have found A holy-stone upon the ground. O Fate! I thank thee for the happy find, Also the spirit who upon this road Hath given it to me; And may it prove to be for my true good And my good fortune! I rise in the morning by the earliest dawn, And I go forth to walk through (pleasant) vales, All in the mountains or the meadows fair, Seeking for luck while onward still I roam, Seeking for rue and vervain scented sweet, Because they bring good fortune unto all. I keep them safely guarded in my bosom, That none may know it--’tis a secret thing, And sacred too, and thus I speak the spell: „O vervain! ever be a benefit, And may thy blessing be upon the witch Or on the fairy who did give thee to me! “ It was Diana who did come to me, All in the night in a dream, and said to me: „If thou would’st keep all evil folk afar, Then ever keep the vervain and the rue Safely beside thee! “ Great Diana! thou <?page no="316"?> Marco Frenschkowski 316 Who art the queen of heaven and of earth, And of the infernal lands--yea, thou who art Protectress of all men unfortunate, Of thieves and murderers, and of women too Who lead an evil life, and yet hast known That their nature was not evil, thou, Diana, Hast still conferred on them some joy in life. Or I may truly at another time So conjure thee that thou shalt have no peace Or happiness, for thou shalt ever be In suffering until thou grantest that Which I require in strictest faith from thee! “ Einen Einschub (heute Kap. 3) bietet wohl der folgende Text, auf den wir später ebenfalls zurückkommen werden: „How Diana Made the Stars and the Rain Diana was the first created before all creation; in her were all things; out of herself, the first darkness, she divided herself; into darkness and light she was divided. Lucifer, her brother and son, herself and her other half, was the light. And when Diana saw that the light was so beautiful, the light which was her other half, her brother Lucifer, she yearned for it with exceeding great desire. Wishing to receive the light again into her darkness, to swallow it up in rapture, in delight, she trembled with desire. This desire was the Dawn. But Lucifer, the light, fled from her, and would not yield to her wishes; he was the light which files into the most distant parts of heaven, the mouse which flies before the cat. Then Diana went to the fathers of the Beginning, to the mothers, the spirits who were before the first spirit, and lamented unto them that she could not prevail with Lucifer. And they praised her for her courage, they told her that to rise she must fall; to become the chief of goddesses she must become a mortal. And in the ages, in the course of time, when the world was made, Diana went on earth, as did Lucifer, who had fallen, and Diana taught magic and sorcery, whence came witches and fairies and goblins--all that is like man, yet not mortal. And it came thus that Diana took the form of a cat. Her brother had a cat whom he loved beyond all creatures, and it slept every night on his bed, a cat beautiful beyond all other creatures, a fairy: he did not know it. Diana prevailed with the cat to change forms with her, so she lay with her brother, and in the darkness assumed her own form, and so by Lucifer became the mother of Aradia. But when in the morning he found that he lay by his sister, and that light had been conquered by darkness, Lucifer was extremely angry; but Diana sang to him a spell, a song of power, and he was silent, the song of the night which soothes to sleep; he could say nothing. So Diana with her wiles of witchcraft so charmed him that he yielded to her love. This was the first fascination, she hummed the song, it was as the buzzing of bees (or a top spinning round), a spinning-wheel spinning life. She spun the lives of all men; all things were spun from the wheel of Diana. Lucifer turned the wheel. Diana was not known to the witches and spirits, the fairies and elves who dwell in desert place, the goblins, as their mother; she hid herself in humility and was a mortal, but by her will she rose again above all. She had such passion for witchcraft, and be- <?page no="317"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 317 came so powerful therein, that her greatness could not be hidden. And thus it came to pass one night, at the meeting of all the sorceresses and fairies, she declared that she would darken the heavens and turn all the stars into mice. All those who were present said-- „If thou canst do such a strange thing, having risen to such power, thou shalt be our queen.“ Diana went into the street; she took the bladder of an ox and a piece of witch-money, which has an edge like a knife--with such money witches cut the earth from men’s foot-tracks--and she cut the earth, and with it and many mice she filled the bladder, and blew into the bladder till it burst. And there came a great marvel, for the earth which was in the bladder became the round heaven above, and for three days there was a great rain; the mice became stars or rain. And having made the heaven and the stars and the rain, Diana became Queen of the Witches; she was the cat who ruled the star-mice, the heaven and the rain.“ 99 Seitdem ich diese Texte kenne, hat mich die Strukturähnlichkeit der sich in ihnen bekundenden Imagination mit katharischen und anderen mittelalterlich-dualistischen Texten beschäftigt. Malcolm Lamberg charakterisiert die leider nur spärlich erhaltene narrative Literatur dieser Strömungen: „Was diese Geschichten - ob sie nun ein Beispiel des gemäßigten oder des radikalen Dualismus darstellen - gemeinsam haben, ist ihre literarische Kraft, ihre Tendenz zu einem derben Realismus, ein Interesse an sexuellen Themen und ein ausgesprochener Hang zur Phantasie. Die Interrogatio Johannis beschreibt, wie Satan das Problem löste, Adam und Eva - in irdische Leiber gefesselte Engel - dazu zu überreden, miteinander Geschlechtsverkehr zu betreiben: sie malt aus, wie er im Paradies ein Schilfbett bereitete, aus seinem eigenen Speichel eine Schlange erschuf, dann in die Schlange hineinfuhr, um mit der Hilfe ihres Schwanzes mit Eva geschlechtlich zu verkehren. (…) Dieselbe literarische Eigenart und das freie Spiel des Erzählerischen wird an den Geschichten über den Engelsturz erkennbar (…). Die Geschichten spielten offenbar eine bedeutende Rolle im Katharertum, denn die Mitglieder der Sekte gaben sie eifrig weiter, und stellten aus der Menge des verfügbaren Materials neue zusammen“ 100 . Gerade die Interrogatio Ioannis mit ihrem freien und fantastisch-ungezügelten Umgang mit biblischen Figuren und ihrer radikalen Umwertung der Satansfigur erinnert stark an die mythologischen 99 Nach Aradia, 1-20 (alle zitierten Texten). Zur Einzelbegründung der Rekonstruktion s. R. Mathiesen, passim (s. im Text). Kleine Abweichungen können hier nicht begründet werden. 100 Malcolm Lambert, Ketzerei im Mittelalter. Häresien von Bogumil bis Hus. Augsburg 2002, 183f. 185 (zuerst engl. London 1977). Aus der Fülle weiterer Literatur über die Katharer nenne ich exemplarisch Michael Hanssler, Katharismus in Südfrankreich. Struktur der Sekte und inquisitorische Verfolgung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Aachen 1997; Lothart Kolmer, Ad capiendas vulpes. Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens. Bonn 1982; Malcolm Lambert, Geschichte der Katharer. Aufstieg und Fall der großen Ketzerbewegung. Darmstadt 2001. <?page no="318"?> Marco Frenschkowski 318 Texte im „Evangelium der Hexen“. 101 Diese weithin mündliche, in Ansätzen aber auch schriftliche Erzählkultur schöpfte aus den Apokryphen der Tradition (etwa der Visio Isaiae), verband sie mit volkstümlichen Schöpfungssagen und schuf daraus - geleitet von einem Interesse v.a. am Kosmogonischen und Anthropogonischen und an dämonologischen Themen - einen Fundus an Erzählungen, die weitab von jeder großkirchlichen Theologie lagen. Es ist v.a. der Charakter der Fantasie, die hier am Werk ist, der uns an „Aradia“ erinnert. Wie mögen katharische Texte in Südfrankreich und Norditalien volkstümlich weitergelebt haben? Kann es Berührungen radikal-feministischer Sekten wie der erwähnten (norditalienischen! ) Wilhelmiten mit gnostischkatharischen Gedanken gegeben haben, und sei es in einem bäuerlichen Milieu, wo Häretisches lange Zeit eher als in der Stadt verborgen bleiben konnte? An schriftliche Tradierung ist kaum zu denken. Eher wird man an ein allmähliches Zusammenwachsen mit anderen kosmogonischen und dämonologischen Traditionen zu rechnen haben. Es ist ja schon lange aufgefallen, dass gerade im Bereich des Schöpfungsglaubens, der Angelologie und Dämonologie und v.a. der Tierätiologien in Südeuropa (v.a. freilich auf dem Balkan) ein dualistisches Substratum existiert, das entschieden nichtchristliche Quellen hat und in dem der Teufel zu einer Art Mitschöpfer wird. Diese Texte sind klassisch von Oskar Dähnhardt gesammelt worden (der sie aus dem Iran ableiten wollte) 102 . Hannsjost Lixfeld hat sie monographisch untersucht 103, und im Einzelnen gezeigt, wie sich hier bogomilische (katharische) Motive mit vorchristlichen Mythologien berührt haben. Überaus auffällig ist der gänzlich unchristliche Charakter der Teufelsgestalt in diesen Erzählungen, und der dualistische Grundzug des Schöpfungsgeschehens. Die Frage, wie groß der untergründige bogomilische Einfluss tatsächlich gewesen ist, lässt Lixfeld offen. Vielleicht kann „Aradia“ hier eine bemerkenswerte Parallele für die Tradierung und partielle christianisierende Interpretation vorchristlicher Schöpfungsmythen und anderer Stoffe darstellen. „Aradia“ wäre dann sozusagen ein Parallelfall für die katharischen Mythen und Legenden, zu dem diese als eine Art Katalysator beigesteuert haben könnten, auch wenn „Aradia“ aus anderen Traditionen schöpft. Innerhalb dieses Vergleichhorizontes ergeben sich gewisse interpretatorische Linien, die ich an dieser Stelle nur skizziere. Diana und Aradia sind zwei Avatare der gnostischen Sophia. Sie haben ihren Ursprung im kosmogonischen Kontext, wirken aber in die geschichtliche Existenz der Menschen. Diana ist eine Schwester Luzifers, des Lichtbringers. Dieser hat kaum Züge des christlichen Teufels, sondern ist ganz eine kosmogonische Potenz, ähn- 101 Der Text ist ediert bei Edina Bozóky, Le livre secret des Cathares. Interrogatio Iohannis. Apocryphe d’origine bogomile. Édition critique, traduction, commentaire. Paris 1980. 102 Natursagen 1. Sagen zum Alten Testament. Leipzig u. Berlin 1907, 1-111. 103 Gott und Teufel als Weltschöpfer. Motive. Freiburger Folkloristische Forschungen 2. München 1971. Vgl. Marco Frenschkowski, Art. Schöpfung, EM 12 (2007), 170-180. <?page no="319"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 319 lich wie bei den Katharern. 104 Diana und Luzifer sind gemeinsam ein kosmogonisches Geschwisterpaar, wie Izanagi und Izanami im japanischen Mythos, oder wie Apoll und Diana in der römischen Tradition. „Diana greatly loved her brother Lucifer, the god of the Sun and of the Moon, the god of Light (Splendor), who was so proud of his beauty, and who for his pride was driven from Paradise. Diana had by, her brother a daughter, to whom they gave the name of Aradia“. Diese Eingangssätze des Vangelo bewegen sich ganz im Bezugrahmen eines dualistischen Mythos. Nur setzt er eine Umwertung des christlichen Wertesystems voraus. Luzifer (das hebräische „Satan“ wird vermieden) ist zwar aus dem Paradies verbannt, aber er ist doch der Lichtbringer und der Gott der Sonne und des Mondes, also allen astralen Lichtes (von der Erschaffung der Sterne ist später im Vangelo in einem sehr eigentümlichen Mythos die Rede). Die geschichtliche Existenz, in die hinein Aradia menschliche Gestalt annimmt, ist durch Leid und Unterdrückung geprägt. Es ist dies eine dezidiert düstere, gnostische Sicht der vorfindlichen Wirklichkeit. „In those days there were on earth many rich and many poor. The rich made slaves of all the poor. In those days were many slaves who were cruelly treated; in every palace tortures, in every castle prisoners. Many slaves escaped. They fled to the country; thus they became thieves and evil folk. Instead of sleeping by night, they plotted escape and robbed their masters, and then slew them. So they dwelt in the mountains and forests as robbers and assassins, all to avoid slavery.“ Dies ist nicht nur eine sozialkritische Passage; es ist die Übersetzung einer grundsätzlich pessimistischen Sicht der Welt in die Sprache sozialer Devianz. Die Menschen - Pneumatiker in gnostischer Terminologie - deren Vertreterin Aradia werden wird, sind voller Hass und Ressentiments. Sie sind „Fremde“, unterdrückt und in ihren Lebensmöglichkeiten extrem beschränkt. Aradia - die Tochter Dianas und Luzifers - wird nun in einer wohlgeplanten Aktion ihrer Mutter auf die Erde geschickt, um den jämmerlichen Zuständen abzuhelfen. Aradia ist also - wie der kirchliche Christus-Logos (Joh. 1, 1-18; Phil. 2, 5-11) - präexistent. Vor allem: in ihrer Sendung wird sie zu einem weiblichen Messias, einem femininen Gegenstück zum kirchlichen Christus. Als eine Art magischer Kulturheros begründet sie eine Counterculture, welche den unterdrückten Menschen zu neuer Freiheit verhilft. Diese Geschichte ist so ungewöhnlich, dass sie ernsthafte Erforschung verdient - selbst wenn sie von Maddalena stammen sollte (was ich nicht glaube). Ein älterer Ursprung des Materials in „Aradia“ wird auch dadurch nahegelegt, dass Leland fast parallel einen Band mit Sagen zum Zauberer Virgilio (Ver- 104 Zur Geschichte der Teufelsfigur in volkstümlichem Erzählgut und ihre Metamorphosen s. meine Zusammenfassung in: Art. Teufel, Enzyklopädie des Märchens (im Druck). <?page no="320"?> Marco Frenschkowski 320 gil) vorlegt, dessen Texte in ihrer Authentizität viel unproblematischer sind. 105 Auch hier war Maddalena die Sammlerin für Leland. 106 Lelands positives Hexenparadigma ist allerdings bereits in seinen Schriften klar greifbar, bevor er in der Toskana das Studium der italienischen Hexentraditionen begann. So heißt es in „The English Gipsies and Their Language“ (1873) in Hinsicht auf Zigeuner: „But behind it all, when the inner life came out, was the wild Rommany and the witch-aura - the fierce spirit of social exile from the world in which they lived (the true secret of all the witch-life of old) and the joyous consciousness of a secret tongue and hidden ways. To those who walk in the darkness of the dream, let them go as deep and as windingly as they will, and into the grimmest gloom of goblin-land, there will never be wanting flashes of light, though they be gleams diavoline, corpsecandlelights, elfin sparkles, and the unearthly blue lume of the eyes of silent nighthags wandering slow. In the forgotten grave of the sorcerer burns steadily through long centuries the Rosicrucian lamp, and even to him whose eyes are closed, sparkle, on pressure, phosphorescent rings. So there was Gipsy laughter; and the ancient wicca and Vala flashed out into that sky-rocketty joyousness and Catherine-wheel gaiety, which at eighty or ninety, in a woman, vividly reminds one of the Sabbat on the Brocken, of the ointment, and all things terrible and unearthly and forbidden.“ 107 Sehr deutlich ist in dieser evokativen und poetischen Passage, dass Leland bereits bei den Zigeunern eine magische Freiheit, eine Autarkie äußerlich und innerlich ungebundenen Lebens sucht, die er dann bei den toskanischen Hexen in noch sehr viel höherem Maße gefunden zu haben meinte. (Man beachte auch Lelands wegweisenden Gebrauch des alten angelsächsischen Wortes wicca). Tatsächlich bietet schon Lelands erstes eigenes Buch „Meister Karl´s Sketch-Book“ (1855) Bausteine des neuen Hexenparadigmas, lange vor der Publikation von Michelets Buch. Zwar ist dieser Band in erster Linie eine Sammlung rabelaisscher Extravaganzen (er steht auch unter einer Widmung aus Rabelais). Aber neben vielen Passagen über das Studentenleben in Deutschland, Reisenotizen, Kunstgeschichtlichem, Skurrilem, getragen von einer villonesken Freude an Wein, Weib und Gesang, finden sich neben einer Hexensatire 108 ein langer Abschnitt über Vergil als Zauberer im italienischen 105 The Unpublished Legends of Virgil. New York 1900. Vgl. zum Material über „Virgilio“ als Zauberer Domenico Comparetti, Virgilio nel medio evo. 2 Bände. Florenz 1896 (das Werk eines italenischen Senators, mit dem Leland bekannt war, der aber für die Gegenwart v.a. aus neapolitanischen Traditionen schöpft); Karl Schambach, Vergil ein Faust des Mittelalters, in: Königliches Gymnasium zu Nordhausen Ostern 1904-1906. Wissenschaftliche Beigaben I, 3-33; II, 3-45; III, 3-46, sowie aus der späteren Literatur John Webster Spargo, Virgil the Necromancer. Studies in Virgilian Legend. Cambridge, Mass. 1934; Christa Tuczay, Magie und Magier im Mittelalter. Überarbeitete Neuausgabe München 2003, 210-220 u.ö. 106 The Unpublished Legends of Virgil, XV. 79. 86. 179. 185. 107 The English Gipsies and Their Language, 156f. 108 Meister Karl’s Sketch-Book, 44f. <?page no="321"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 321 Volksglauben, eine lange Literaturliste zu diesem Thema 109 und eine Art Enkomion auf das weibliche Geschlecht 110 , das den feministischen Aspekt von „Aradia“ antizipiert, und überhaupt manches, was an den Blickwinkel der späteren Bücher erinnert. Der reisende Gelehrte, Künstler und Bohémien „Meister Karl“ ist ein Alter ego Lelands, wie es später auch Hans Breitmann werden sollte. Das frühe Kinderbuch „Johnnykin and the Goblins“ (1877) ist eine magische Initiationsgeschichte, entfernt vergleichbar Arthur Machens „The White People“. 111 Auch hier begegnen wir bereits einer guten Hexe. Dies alles beweist nicht, dass Leland sein Material gefälscht hat, aber doch sicher, dass er bereits in früheren Jahren eine besondere Affinität zu den Stoffen besaß, die Maddalena ihm lieferte, oder dass er diese in seinem Sinn umformte. Wir besitzen damit widersprüchliche Indizien zur Frage der „Authentizität“, und dabei wird es vielleicht bleiben müssen. In einigen Fällen kennen wir mehrere Fassungen einer Erzählung. Leland beschreibt in den „Legends of Florence“, wie er die Existenz einer „dianischen“ Tradition der Hexen entdeckt habe, um dann eine sehr erstaunliche Sage folgen zu lassen: „It was not from books, but from a fortune-teller and witch in Florence, that I first learned that Diana is regarded as queen of all the witches; but I soon found that a number of writers in Latin, German, and Italian had recorded the same as a matter of popular belief from the fifth to the sixteenth century.“ Es folgt ein Hinweis auf den Canon episcopi und seine Rezeption. „Having asked a witch in Florence to find out what she could on the subject of Diana, I received the following, which I translate verbatim: Diana was a very beautiful lady, who fell in love with her own brother, but he could not comply with her desire. Then she had recourse to sorceresses, and one of these, hearing her complaint, and the wholy story of her wild passion, instead of reproving, applauded her, and advised her to become a witch, saying that by so doing all her wishes would be gratified. Diana was much pleased at this, and said she would very willingly become one of her friends, and she took to witchcraft with her whole heart and soul, going daily to meetings of fairies (fate) 112 and witches. And it soon occurred to her that her beloved brother had a very beautiful cat, which he loved extremely, and which slept every night on his bed. Then Diana changed forms with the cat, and managed it so she had her will. And when in the morning the brother found 109 Op. cit., 149-154. 110 Op. cit., 22-25. 233f. 111 Vgl. Marco Frenschkowski, Arthur Machens „The White People“. Eine magische und erotische Initiation. In: Das schwarze Geheimnis. Magazin für unheimliche und phantastische Literatur 1 (1994), 9-30. 112 Der Zusammenhang Hexenzusammenkünfte - Treffen der Elfen (Fairies) spielt auch im französischen, englischen und schottischen Volksglauben eine Rolle, weniger jedoch im deutschen. Nach Leland hat M. Murray diese Beobachtung zu deuten versucht. Ein berühmtes historisches Beispiel ist der „Elfenbaum“ im Prozess der Jean d’Arc, unter dem sie ihre ersten Offenbarungen empfangen haben will, und der als Indiz für ihre Affinität zum Hexenwesen interpretiert wurde. <?page no="322"?> Marco Frenschkowski 322 out the truth he was indeed angry, but Diana contrived with her wiles to so charm him that he yielded to her love. Now Diana had such passion for witchcraft, and became so mighty in it, that one night, at the meeting of all the sorceresses, she declared she would darken the heavens and turn all the stars into mice. The all the fate, or witches, said: If thou canst do that, thou shalt be indeed queen of us all. Then Diana went forth into the street, and took the bladder of an ox and a (certain) coin, wherewith witches cut the ground whereon passers-by have trodden, and with such cut-earth and many mice she filled the bladder, and going into a wood she blew the bladder till it burst, and lo! a great wonder! for the earth became heaven, and for three days there was a grat rain of mice, and the mice became stars or rain. And thus Diana made the heaven and stars and the rain, so great was her power, out of earth and mice, and so it was she became queen of the witches.“ 113 (Man beachte Lelands Hinweis auf wörtliche Übersetzung seiner Vorlage). Dieser Text ist ohne Frage die Keimzelle der Mythologie, die in „Aradia, or, the Gospel of the Witches“ ausführlicher entfaltet wird. Dort bietet Leland den gleichen Mythos in einer divergierenden Fassung, die er später von seiner Gewährsmännin Maddalena erhalten haben will: „Diana greatly loved her brother Lucifer, the god of the Sun and of the Moon, the god of Light (Splendor), who was so proud of his beauty, and who for his pride was driven from Paradise. Diana had by, her brother a daughter, to whom they gave the name of Aradia [i.e. Herodias] (…)“, dazu einige Seiten später die Fortsetzung: „How Diana Made the Stars and the Rain. Diana was the first created before all creation; in her were all things; out of herself, the first darkness, she divided herself; into darkness and light she was divided. Lucifer, her brother and son, herself and her other half, was the light. And when Diana saw that the light was so beautiful, the light which was her other half, her brother Lucifer, she yearned for it with exceeding great desire (…)“ 114 (s. den Text vollständig oben). Interessant ist das Inzestmotiv (das beiden Fassungen gemeinsam ist). Leland hat ganz treffend bereits daran erinnert, dass Sonne und Mond in zahlreichen archaischen Mythologien als inzestuöses Geschwisterpaar beschrieben werden (die Sonne verfolgt den Mond, kann ihn aber nicht erreichen). Die Tabuverletzung geschieht exemplarisch 115 : sie inszeniert ein grundsätzliches Verlassen vorgegebener gesellschaftlicher Normen. Im Gegensatz zu fast allen christlich-volkstümlichen Inzesterzählungen folgt kein Strafwunder. Leland sieht im Hexenwesen eine Umwertung der Werte, die über einen sozialrevolutionären Anteil hinausgeht. Damit überschreitet er auch den Deutungshorizont, den Jules Michelet definiert hatte. Leland verfällt zum Text auch nicht in die in den 1890er Jahren noch verbreiteten naturmytholo- 113 Legends of Florence 2, 209f. 114 Aradia, 1 bzw. 18-20. 115 Inzesterzählungen sind volkstümlich nicht selten; in Italien bietet bereits Basiles „Pentamerone“ 3, 2 (AaTh 706) ein Beispiel. Vgl. Ion Talo, Art. Inzest, EM 7 (1993), 229-241 (insbesondere 235 zu Sonne und Mond als inzestuösem Geschwisterpaar). <?page no="323"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 323 gischen Plattitüden, deren Hauptvertreter im englischen Sprachraum der Oxforder Indologe deutscher Herkunft Friedrich Max Müller (1823-1900) war. Ein wichtiger Hauptunterschied beider Versionen ist, dass Dianas Bruder in der erstpublizierten Fassung namenlos bleibt (aber solare Bezüge hat), in der Fassung des Vangelo aber mit Lucifer, dem „Lichtbringer“ gleichgesetzt wird. Die erstere Fassung klingt ohne Frage archaischer, mehr volkstümlicher Diktion entsprechend, aber die zweite könnte sich dem ebenfalls volkstümlichen Dualismus vieler aitiologischen Sagen verdanken (s.o.), und muss darum nicht jünger sein. Leland betont zu beiden Fassungen, nichts am ihm vorgegebenen Text geändert zu haben. Möglicherweise haben wir in der Fassung mit Satan die gnostisch-katharische Interpretation eines antiken Mythos vor uns. Die Aufwertung Dianas zu einer Muttergottheit nach Art der griechischen Gaia, die aus sich heraus erst Licht und Finsternis entstehen lässt und also in einen vor-dualistischen kosmogonischen Bereich verweist, muss nicht unbedingt „archaisch“ sein, sondern wäre z.B. auch in der Antikerezeption der Renaissance denkbar. Selbstverständlich können beide Fassungen im 19. Jhdt. „gedichtet“ sein: aber nichts in ihnen erzwingt eine solche Annahme, und sie scheint mir insgesamt eher unwahrscheinlich. Auch die Gesamtkomposition von Aradia (Theogonie - Kosmogonie - Legitimationslegenden - Kultanweisungen - eventuell Anhänge) ist hochaltertümlich 116 und kaum mit Leland in Zusammenhang zu bringen. Die Psychologie der angesprochenen „Umwertung der Werte“ wird zum ersten Mal religionsgeschichtlich präzise entfaltet in einem Kapitel über die Kainsgestalt in Lelands „Legends of Florence“. Aus Kain dem Brudermörder, der dennoch göttlichen Schutz empfängt, wird eine sehr viel positiver besetzte Figur, in der sich ruhelose Seelen wiederfinden können. Dazu bietet Leland wieder eine Erzählung: „Abele e Chaino. They were two brothers. Abel greatly loved Cain, but Cain did not love so much the brother Abel. Cain had no great will to work. Abel, however, on the contrary, was greatly disposed (si ingegnava) to labour, because he had found it profitable. He was industrious in all, and at last became a grazier (mercante dimanzi). And Cain also, being moved by jealousy (per astia), wished to become a grazier, but the wheel did not turn for him as it did for Abel. And Cain also was a good man, and set himself contentedly to work, believing that he could become as rich as his brother, but he did not succeed in this, for which reason he became so envious of Abel, that it resulted in tremendous hate, and he swore to be revenged. Cain often visited his brother, and once said to him, ‘Abel, thou art rich and I am poor; give me the half of thy wealth, since thou wishest me so well! ’ Then Abel replied: ‘If I give thee a sum which thou thyself couldst gain by industry, thou shouldst still labour as I do, and I will give thee nothing, since, if thou wilt work as I do, thou wilt become as rich.’ One day there were together Cain, Abel, and a merchant, whose name I forget. And one told that he had seen in a dream seven fat oxen and seven lean. 116 Vgl. Marco Frenschkowski, Art. Theogonie, EM (im Druck). <?page no="324"?> Marco Frenschkowski 324 And the merchant, who was an astrologer or wizard, explained that the seven fat oxen meant seven years of abundance, the seven lean as many years of famine. And so it came to pass, as he foretold - seven years of plenty and seven of famine. And Cain hearing this, thought: ‘During the seven years of plenty Abel will lay by a great store and then, I will slay him, and possess myself of all his goods, and thus I will take care of myself, and my brother will be dead.’ Now, Cain greatly loved God; he was good towards God, more so than Abel, because Abel, having become rich, never spoke more unto the Lord; and Abel would gladly have become a wizard himself. Then Cain began to think how he could slay Abel and become a merchant in his place, and so went forth to cut wood. One day he called his brother Abel, and said to him: ‘Thou art so rich while I am poor, and all my work avails me little.’ And with that he gave Abel a blow with a knife, and dressed himself in his garments, and took a bundle of thorns on his back, and thus clad he took Abel’s place as merchant, believing that no one would recognize him as Cain. And while thus bying and selling he met the merchant-wizard who had foretold the seven years of famine and of abundance. And he said: ‘O, good day, Abel’ to make Cain believe that he was not discovered. But the oxen who were present all began to chant in chorus 117 : ‘Do not call that person Abel; / It is Cain, do you not see it? / Cain, who, for the greed of money, / Treacherously slew his brother, / And then clad him in his garments. / Now, o Cain! thou wilt be summoned / Speedily unto the presence / Of the Lord, who has condemned thee / Unto death for thy great avarice.’ Cain came before God. ‘O great God of endless mercy, / Thou who art so good and mighty, / Grant, I pray thee, grant me pardon / For the good I did while living! / Truly once, but for an instant, / I forgot myself, but deeply / I since then have long repented / That I slew my brother Abel.’ But God replied: ‘A punishment thou shalt have because thou didst slay thy brother from a desire to become rich. Likewise thou didst meddle with witchcraft and sorceries, as did thy brother. And Abel made much money and was very rich, because he did not love God, but sorcerers. Albeit, ever good he never did evil things, and many good, wherefore God pardoned him. But thou shalt not be pardoned because thou didst imbrue thy hands in human blood, and, what is worse, in thy own brother´s blood. The punishment which I inflict is this: The thorns which thou didst put upon thy brother are now for thee. Thou shalt be imprisoned in the moon, and from that place shalt behold the good and the evil of all mankind. And the bundle of thorns shall never leave thee, and every time when any one shall conjure thee, the thorns shall sting thee cruelly; they shall draw thy blood. And thus shalt thou be compelled to do that which shall be required of thee by the sorcerers or by conjuring, and if they ask of thee that which thou wilt not give, then the thorns shall goad thee until the sorceries shall cease.“ 118 Diese apokryphe Fassung des Kain-und-Abel-Stoffs ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Die motivliche Vermischung mit der Josephsnovelle (Gen. 37-50) ist nicht weiter auffällig (sieben fette und sieben magere Jahre), demonstriert aber die Distanz der Erzählerin gegenüber kirchlicher Bildung. Kain und Abel sind gleichermaßen ambivalente Figuren. Die Verkleidung Kains und seine Hoffnung, durch diese Finte nicht ertappt zu werden, 117 Wie bei Leland üblich, werden die poetischen (gesungenen) Passagen der Erzählungen auch im italienischen Original geboten. Auf die Wiedergabe des italienischen Textes wird hier verzichtet. 118 Legends of Florence 1, 263-266. <?page no="325"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 325 ist ein naiver Zug - in einer Kunstdichtung wäre er jedenfalls in dieser Form schwer vorstellbar. Die biblisch-apokryphe Geschichte mündet in die Sage vom Mann im Mond. Diese Verbindung ist seit mittelalterlicher Zeit belegte, wie schon zu Lelands Zeit gut erforscht war 119 . Leland vergleicht passend Dante, Inferno 20, 123 und Paradiso 2, 50. Trotz dieser vertrauten Stoffe und Motive ist der Gesamtduktus der Fassung erstaunlich und in hohem Maße befremdlich. Abel - ein Heiliger des christlichen Festkalenders - empfängt keinerlei Sympathie, Kain wird zwar nicht entschuldigt, ist aber doch in höherem Maße Sympathieträger und geradezu Identifikationsfigur. Die Geschichte scheint sozusagen in nichtchristliche Hände geraten zu sein. Leland hat diese Fremdheit sehr poetisch zur Sprache gebracht: „This is clearly enough no common popular nursery tale, such as make up collections of Tuscan tales or popular legends, gathered from pious or picturesque peasants. Through it all runs a deep current of dark heresy, the deliberate contravention of accepted Scripture, and chiefly the spell of sorcery and deadly witchcraft. It is a perfect and curious specimen of a kind of forbidden literature which was common during the Middle Ages, and which is now extremely rare.“ 120 Entsprechend spielt die Kain-Figur dann auch in „Aradia, or, The Gospel of the Witches“ eine wichtige Rolle. Leland will nun über solche Bezüge hinaus eine innere Affinität zur gnostischen Splittergruppe der Kainiten finden, von der wir aus Quellen des 2.-4. Jhdts. gelegentlich hören 121 . Wie viele altkirchliche Gnostiker kehren auch sie alttestamentlich-biblische Wertungen um: die Schlange des Paradieses ist eine Erlöser- und Erleuchterfigur, der Schöpfergott von Gen. 1 ist in Wahrheit ein minderer Demiurg, Kain, Kore und andere Übeltäter der Bibel werden zu Helden einer religiösen „Anti- Geschichte“, einer „alternate history“, welche das Erlösungs- und Erleuchtungsgeschehen gerade nicht in der jüdisch-alttestamentlichen Linie finden will, sondern in deren „Schatten“. Solche radikalen Umwertungen finden in der Religionsgeschichte in bestimmten Krisenzeiten nicht selten statt; sie lassen sich weltweit nachweisen. Auch Lelands „Kain“-Stoffe machen einen eher mittelalterlichen Eindruck; wie sollten sie aus dem 19. Jhdt. heraus zu 119 Leland verweist selbst auf Timothy Harley, Moon Lore. London 1885, 5-53, bes. 32. Auch schon Jakob Grimm hatte in der „Deutschen Mythologie“ über das Motiv gehandelt (4. Aufl. Berlin 1875-1878, hier 2, 600), ebenso Sabine Baring-Gould, Curious Myths of the Middle Ages. Neuausgabe London 1884 (zuerst in kürzerer Form 1867) = New Hyde Park, NY 1967, 190-208, hier 194f., zwei Werke, die Leland gut kannte. Weiteres Material z. B. bei Oskar Dähnhardt, Natursagen 1. Leipzig u. Berlin 1907, 254-256; Paul Sartori, Art. Kain, HdA 4 (1932), 913. 120 Legends of Florence 1, 266. 121 Über die historischen Kainiten ist das bekannte Quellenmaterial zusammengestellt bei Clemens Scholten, Art. Kainiten, Reallexikon für Antike und Christentum 19 (2000), 972-982. Eine Kontinuität der Gruppe über die Antike hinaus ist nicht bezeugt und sachlich wenig plausibel. <?page no="326"?> Marco Frenschkowski 326 erklären sein, und wie sollte man sie als Erfindungen Maddalenas oder Lelands verstehen können? Es hat sich ein zwiespältiges Bild ergeben. Lelands Hexen sind nicht ausschließlich in einem naiven Sinn „gut“: auch sie stiften durchaus noch Schadenszauber, auch sie kennen Rache und die dunklen Seiten der Magie. Dennoch sind sie Trägerinnen unserer Sympathie, sie werden zu Identifikationsfiguren. Das Hexenparadigma ist grundsätzlich gegenüber der frühen Neuzeit gekippt. Damit ist der Boden bereitet für das Witchcraft revival der 1950er Jahre, das unvermindert bis in die Gegenwart andauert. In welchem Umfang Leland aus lokalen Traditionen der Toskana schöpft, und wie alt diese sind, bleibt weiter ungeklärt. Das Material verdient ernsthafte Erforschung, weit über die Möglichkeiten eines Aufsatzes hinaus. 5. Wicca: Lelands Vermächtnis? Lelands Sammlungen entsprechen nicht heutigen Standards an „Authentizität“. Das ist hinreichend deutlich geworden. Ihr vermutetes Oszillieren zwischen Volkstümlichem und (eigener? ) Dichtung hat ihre Würdigung sowohl im einen als im anderen Bereich behindert. So besitzt die Enzyklopädie des Märchens, die alle großen Sammler volkstümlicher narrativer Stoffe im 19. und 20. Jhdt. in biographischen Beiträgen würdigt, keinen Artikel über Leland. Umgekehrt erwähnt auch die umfassendste Studie über englischsprachige Kunstmärchen im 19. Jhdt. Leland nicht einmal 122 , trotz einschlägiger Bücher wie „Johnnykin and the Goblins“ (1877), die ohne Folkloreansprüche, als reine Kunstmärchen auftreten. Leland hätte aber in beiden Bereichen - als Sammler und als Dichter - Beachtung verdient. Einer sehr viel präziseren und umfassenderen Erforschung, als sie in dieser Skizze geleistet werden konnte, bedarf Lelands Beitrag zur späteren Wicca-Bewegung. Für Leland ist das Magische ein bleibendes Faszinans. Wieviel von seinen mehreren hundert magischen Erzählungen auf Maddalena oder ihre Quellen, oder wieviel auch auf ihn selbst zurückgehen mag: Lelands „Hexengeschichten“ sind von einem bleibenden poetischen Charme, der sie m.E. in jedem Fall auf eine Ebene mit den Kunstmärchen Andersens oder den stark literarisierten Märchen eines Ludwig Bechstein stellt. In ihrem ideellen Gehalt sind sie zudem zukunftsweisend gewesen, wie es diese kaum waren. Sie haben einem Paradigmenwechsel vorweggenommen, der 50 Jahre nach Lelands Tod zur Entstehung einer neuen Religion geführt hat, der einzigen, die je auf dem Boden Großbritanniens begründet wurde. Es ist nicht einfach die Idee der „guten Hexe“, nicht einfach die Aufwertung von Wicca. Es ist die Reintegration des Magischen in die Moderne, wie es in den verschiede- 122 Dieter Petzold, Das englische Kunstmärchen im neunzehnten Jahrhundert. Tübingen 1981. <?page no="327"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 327 nen europäischen Gesellschaften in je unterschiedlicher Weise stattgefunden hat. Nur auf dem Boden Großbritanniens wurde daraus eine eigene Religion. Das war 1951, als die Aufhebung des „Witchcraft Act“ es zum ersten Mal straffrei machte, sich selbst öffentlich als Hexe zu bezeichnen. Leland war der erste, der eine spezifische Form des Hexenglaubens als eigene Religion bezeichnet hat. 123 Die Bedeutung Lelands für Wicca liegt darüber hinaus in zwei weiteren Punkten. Er hat die Praxis der Hexen von jeder Form von Satanismus unterschieden; und er hat als einer der ersten den Unterschied zwischen dem Hexenwesen und der zeremoniellen Magie begriffen, der nicht nur in ihrem unterschiedlichen sozialen Performanzort liegt. Damit hat er Fragestellungen der neueren Gender Studies vorweggenommen, die noch lange nicht hinreichend bearbeitet wurden. Zugleich hat er über das Täter-Opfer-Szenario hinaus den Blick auf die Psychologie des Hexenwesens gelenkt. 124 Gerald Brosseau Gardner (1884-1964), der Begründer der modernen Form von Wicca, hat Lelands Schriften gut gekannt, und diskutiert ihn ausführlich in seinen Büchern. 125 Margot Adler, die Historiographin der amerikanischen neopaganen Bewegung der 1960er und 1970er, hat darauf hingewiesen, dass Teile von Ritualtexten der gardnerschen „Craft“ - ohne Hinweis auf die Autorschaft - aus Lelands Büchern übernommen sind. 126 Davor - in den Jahren zwischen den Kriegen - war es vor allem die Ägyptologin und Anthropologin Margaret Alice Murray (1863-1963) gewesen, die im Mittelpunkt der britischen Hexenforschung stand. Ihre Thesen waren im Gegensatz zu denen Lelands ausschließlich aus schriftlich vorliegenden Prozessakten und ähnli- 123 Etruscan Roman Remains, 78. 144. 167. 196. 239; Aradia, VIII und passim; auch schon Gypsy Sorcery and Fortune-Telling, XIV u.ö. 124 Das mögliche Maximum an Sympathie und Verständnis für „Hexen“ noch innerhalb eines ungebrochenen Hexenglaubens stellt vielleicht das Theaterstück „The Witch of Edmonton“ von William Rowley, Thomas Dekker und John Ford (Erstpublikation 1658. Neuausgabe, hrg. von Peter Corbin u. Douglas Sedge. Revels Student Editions. Manchester u. New York 1999) dar. Hier wird in einer subtilen Charakterstudie inszeniert, wie eine alte, geschlagene und ausgebeutete Frau, die allgemein (zu Unrecht) als Hexe gilt, eben dadurch sozusagen dem Teufel in die Arme getrieben wird, sich tatsächlich an einer Invokation Satans versucht und zur Hexe wird. 125 Gerald Gardner, The Meaning of Witchcraft. London 1959. Nachdruck (mit verschiedenen Beigaben) Lake Toxaway, North Carolina o. J., 10f. 107. 110. 116f. 127. Über Gardner ist jetzt grundlegend: Philip Heselton, Wiccan Roots: Geralds Gardner and the Modern Witchcraft Revival. Freshfields, Chieveley, Berks. 2000; ders., Gerald Gardner and the Cauldron of Inspiration. An Investigation into the Sources of Gardnerian Witchcraft. Milverton 2003. Die einzige bis heute vorliegende Biographie Gardners ist Jack L. Bracelin, Gerald Gardner: Witch. London 1960. Der tatsächliche Autor dieses wichtigen Buches war, wie seit längerem bekannt, der Sufimeister Idries Shah (vgl. R. Hutton, The Triumph of the Moon, 205. 445 A. 1. 449f. „Note“). Shah legt ganz Gardners eigene Erinnerungen zugrunde, so dass der Band nahezu eine Autobiographie darstellt. 126 Margot Adler, Drawing Down the Moon. Witches, Druids, Goddess-Worshippers and Other Pagans in America Today. Revised and Expanded Edition. New York 1986, 56-59. <?page no="328"?> Marco Frenschkowski 328 chen Quellen geschöpft. Von Leland übernimmt sie jedoch das Konzept und den Begriff der „alten Religion“ 127 . Die historischen Hexenverfolgungen sieht sie als organisierte Unterdrückung einer vorchristlichen Minoritätsreligion durch die neue Religion des Christentums. Der Hexensabbat sei der fantastisch überzeichnete Reflex der tatsächlichen Zusammenkünfte dieser Religion, dem ein Mann mit archaischer Tiermaske vorgestanden hätte. 128 Dieser sei erst im christlichen Bezugsrahmen als „Teufel“ interpretiert worden. Die „covens“ dieser Religion seien allmählich im Zuge der frühen Neuzeit ausgelöscht worden. Diese These hatte für viele Zeitgenossen außerordentliche Plausibilität, zumal M. Murray ihre Quellen ausführlich zu Wort kommen ließ (immer im Original) und auch anthropologische Kenntnisse besaß. Verbunden mit einem sozialgeschichtlichen Ansatz schien hier ein verständlicher Schlüssel für das Rätsel der großen epidemischen Hexenverfolgungen gefunden. Das außergewöhnliche Ansehen, das M. Murray genoss, wird noch aus dem Vorwort deutlich, das Sir Steven Runciman - der bedeutendste britische Mediävist - einem Nachdruck ihres Hauptwerkes „The Witch-Cult in Western Europe“ 1962 zukommen ließ. 129 Heute gelten ihre Arbeiten als methodisch ungenügend, da sie systematisch das „fantastische“ Element der Hexenberichte ausklammert, also ihre Quellen nur selektiv benutzt, und auch sonst die geschichtlichen Zusammenhänge und geographischen Differenzierungen zu wenig beachtet. 130 Ihre Grundthese gilt als widerlegt - ob zu Recht, muss hier nicht diskutiert werden. Immerhin hielt sie den Begriff der „alten Religion“ für das Hexenwesen am Leben, ohne freilich Leland jemals ausführlicher zu diskutieren. Außerdem trug sie zu der stetig gesellschaftlich wachsenden Sympathie für die „Hexen“ bei - und in hohem Alter schrieb sie noch das Vorwort zu Gerald Gardners „Witchcraft Today“ (London 1954). 131 So berühren sich die Traditionslinien. 127 Margaret Murray, The Witch-Cult in Western Europa. Oxford 1921 = 1962 (mit einem neuen Vorwort von Sir Steven Runciman), 19 u.ö.; Ronald Hutton, The Pagan Religions of the British Isles. Their Nature and Legacy. 1991, 305. 128 In ihrer Autobiographie hat M. Murray die plötzliche intuitive Erkenntnis, dass der „Teufel“ des Hexensabbats ein mit archaischen Tierattributen verkleideter Mensch ist, als Keimzelle ihrer Hexenforschungen bezeichnet: My First Hundred Years. London 1963, 104. 129 M. Murray, op. cit. 3-5. Vgl. Jacqueline Simpson, Margaret Murray: Who Believed Her and Why? , Folklore 105 (1994), 89-96. 130 Zur Kritik an M. Murray s. Caroline Oates u. Juliette Wood, A Coven of Scholars: Margaret Murray and Her Working Methods. Folklore Society Books. Archive Series 1. London 1998; R. Hutton, The Pagan Religions of the British Isles, 301-306; Carlo Ginzberg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichern Geschichte, 21-23. 131 Eine spätes Echo haben Gedanken M. Murrays (mehr noch als solche J. G. Frazers) in dem bedeutenden Film „The Wicker Man“, Großbritannien 1973 gefunden (um von dem unendlich törichten Remake USA 2006 zu schweigen). Vgl. zur Analyse Benjamin Franks, Stephen Harper, Jonathan Murray u. Lesley Stevenson (Hg.), The Quest for the Wicker Man. History, Folklore and Pagan Perspektives. Edinburgh 2006 (Sammlung von Studien zu den religiösen Hintergründen des Films). <?page no="329"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 329 Der hochgelehrte Außenseiter Montague Summers (1880-1948) zitiert Leland gelegentlich mit Respekt, beruft sich aber nie ausführlicher auf ihn. Beider Blickwinkel war grundverschieden. In den 1960er Jahren war es in Großbritannien v.a. der Archäologe und Parapsychologe Thomas Charles Lethbridge (1901-1971) 132 , der das Andenken an Lelands „Gospel of the Witches“ wachgehalten hat. Ähnlich vielen neueren esoterischen Autoren hält er Aradia für eine geschichtliche Gestalt 133 , und vertritt ansonsten ganz die Linie Margaret Murrays, auch als sich die akademische Forschung von dieser schon deutlich abgewandt hatte 134 . In der Religion der Hexen sieht er schlicht eine (wenn auch nicht die einzige) vorchristliche Religion Europas. In den 1970er Jahren verschwindet neben Margaret Murray auch Leland endgültig aus der im engeren Sinn kulturgeschichtlichen Fachliteratur zum Thema Hexen. Carlo Ginzberg - dessen Zusammenstellung des Hexenglaubens mit schamanistischen Erfahrungen in „Storia notturna. Una decifrazione del sabba“ (Turin 1989) zum einflußreichsten „Hexenbuch“ seit M. Murray werden sollte - hat sich von dieser deutlich distanziert, ihr aber doch wichtige Teileinsichten zugestanden 135 . Leland wird von Ginzburg nicht diskutiert, vielleicht, weil er sein Werk nicht hinreichend kannte. Mit dem Siegeszug der feministischen Variante von Wicca (also deutlich nach Gardners Tod, etwa in den 1970er Jahren) geriet Leland zwar nicht in Vergessenheit, aber die archaischen Züge seiner Hexen befremdeten. Vor allem nahmen viele „neue Hexen“ daran Anstoß, dass bei Leland die Götter und Göttinen bedroht werden, ja ihnen der Entzug kultischer Verehrung, zum Teil sogar Gewalt angedroht werden, wenn der Zauber nicht wirken sollte. 136 Die letztlich eben doch aus dem amerikanischen Christentum stammende - wenn auch transferierte - Frömmigkeit speziell der amerikanischen Wicca-Bewegung fand das unerträglich, wie auch die Bezüge zum Schadenzauber, der in „Aradia“ nach wie vor selbstverständlicher Teil der Hexenwesens ist. Auch die Gewalttätigkeit des italienischen Liebeszaubers - die kei- 132 Über Lethbridge, den langjährigen Keeper of Anglo-Saxon Antiquities am Cambridge University Museum of Archeology and Anthropology und exzellenten Erforscher angelsächsischer, schottischer und arktischer (Eskimo-)Altertümer vgl. die beiden unsignierten Nachrufe in Antiquaries Journal 52, 1972, 448f. und The Times vom 2. Okt. 1971. Seine parapsychologischen Arbeiten (meist aus seinen letzten Lebensjahren) werden ausführlich, wenn auch unkritisch besprochen bei Colin Wilson, Mysteries. An Investigation into the Occult, the Paranormal and the Supernatural. London 1978, 47-176. 133 T. C. Lethbridge, The Legend of the Sons of God. A Fantasy? London 1972, 79. In seiner früheren Studie „Witches. Investigating an Ancient Religion“ hatte er Aradia noch mit der walisischen Göttin Arianrod verglichen (London 1962, 7). Lethbridge würdigt in diesem Band Leland ausführlich (6-18 u.ö.). 134 Das Verschwinden des Murrayschen Paradigmas aus der Forschung beschreibt R. Hutton, The Triumph of the Moon, 199-201. 272-286. 362 u.ö. 135 C. Ginzberg, op. cit. 22f. 136 Vgl. z. B. Aradia, 24. Vgl. Lelands Bemühungen, l. c., das Motiv der Drohungen gegen die Gottheit zu verstehen; ähnlich The Unpublished Legends of Virgil, 42. <?page no="330"?> Marco Frenschkowski 330 nen Widerspruch oder eigenen Willen des Verzauberten duldet - befremdet heute natürlich. 137 Dabei sind solche Passagen - die auch Leland nur mit Mühe verstehen konnte - ein exzellenter Beweis dafür, dass die magischen Traditionen der toskanischen Hexen nicht aus dem 19. Jhdt. stammen, und damit für die Authentizität von Lelands Quellen. „Drohungen“ gegen Götter für den Fall der Nichterfüllung des im magischen Ritual Geforderten sind in hohem Maße charakteristisch für die Magie der antiken Zauberpapyri und schon für die magischen Texte Altägyptens vielfach bezeugt. 138 In der neueren stark sozialgeschichtlich orientierten „seriösen“ Hexenforschung spielt Leland keine Rolle mehr. 139 Ob damit das letzte Wort zur Sache gesagt ist, wurde in obenstehenden skizzenhaften Erwägungen ernstlich bezweifelt. Was nicht zweifelhaft bleibt, ist sein faktischer Einfluss auf die erwachende Bewegung der „neuen Hexen“. Leland hat nicht zuletzt als erster moderner Autor das alte angelsächsische Wort „wicca“ („Zauberer“, ursprünglich lautet das femininum dazu wicce; von witan „wissen“) in einen gegenwärtigen „Hexendiskurs“ eingeführt. 140 Tatsächlich lassen sich die allermeisten Beschreibungen von Ritualen und religiösen Vorstellungen in der Wicca-Religione Gardners bereits bei Leland nachweisen, bis zu der durchaus nicht selbstverständlichen Vorliebe für Nacktheit im Zeremonialgeschehen. Wesentliche Rituale in beiden Traditionen werden „sky-clad“ (Gardners Begriff) ausgeführt, also in einer Atmosphäre vollständigen Vertrauens und großer Verletzlichkeit unter allen Teilnehmenden. Ein in einer Gruppe nackt durchgeführtes Ritual wird in hohem Maße aus dem Bereich des Alltäglichen enthoben; es signalisiert in sehr deutlicher Weise einen eigenen „heiligen Raum“ der im Ritual konstituierten Liminalität. Wicca steht damit in einer eigentümlichen Verbindung zu den wenig bekannten adamitischen Gruppen in der Christentumsgeschichte, die im Gottesdienst ebenfalls Nacktheit prak- 137 Ein Liebeszauber wie derjenige Aradia, 35-37, bei dem eine Frau gegen ihren Willen in einen Hund verwandelt wird, damit sie unerkannt das Haus des sie verhexenden Mannes erreichen kann, ist heute selbstverständlich in hohem Maße „politically incorrect“ und macht eine stärkere Identifikation „neuer Hexen“ mit Aradia unmöglich. Gerade dieser Zauber hat interessante altertümliche Züge, z. B. vergisst die Frau nach dem Zauber, was sie gegen ihren Willen getan hat. 138 Aus der Fülle der Literatur nenne ich nur exemplarisch Fritz Graf, Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike. München 1996, 198-201. Wolfgang Fauth, Götter- und Dämonenzwang in den griechischen Zauberpapyri. Über psychologische Eigentümlichkeiten der Magie im Vergleich zur Religion, ZRGG 50 (1998), 40-60. 139 Die augenblicklich international wohl führende Darstellung des Forschungsstandes zum Thema „Hexen und Hexenverfolgungen“ (auch außerhalb des abendländischen Raums) erwähnt Leland nicht (und M. Murray nur knapp): Wolfgang Behringer, Witches and Witch-Hunts. A Global History. Cambridge 2004. Auch das neueste Lexikon zum Thema hat weder einen Artikel über Leland noch über Aradia (und ist auch sonst trotz seines Umfanges erstaunlich materialarm): Richard M. Golden (Hrg.), Encyclopedia of Witchcraft. The Western Tradition. 4 Bände. Santa Barbara, CA u.a. 2006. 140 Zuerst, mit ausführlicher Diskussion, in Gypsy Sorcery and Fortune-Telling, 66. <?page no="331"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 331 tiziert haben und diese als Wiederkehr des verlorenen Paradieses sahen. Dieser Aspekt kann hier nicht eingehender diskutiert werden. 141 Die Verbindung zu Erd- und Fruchtbarkeitsriten liegt auf der Hand, überhaupt das pagane Element einschließlich der Verehrung einer großen Göttin. Leland hat lange vor Gardners Arbeiten, die hierin kaum wegweisend sind, und weit über Michelet hinaus das feministische Potential des Hexenthemas entdeckt. Vor allem hat Leland das Hexenwesen als eine (zumindest für die Imagination) tief befriedigende, ästhetisch anziehende Religion der sozial Entrechteten qualifiziert, die für viele Neuheiden beiderlei Geschlechts Plausibilität und spirituelle Beheimatung bietet. 142 Auch in der heftig umstrittenen Frage nach den „pre-Gardnerian covens“, also möglichen Vereinigungen moderner „Hexen“ in der Zeit etwa 1850- 1950 143 spielt Leland eine Rolle, deren Diskussion hier beiseite gelassen werden soll. 141 Vgl. Ronald Hutton, A Modest Look at Ritual Nudity, in: ders., Witches, Druids and King Arthur. London und New York 2003, 193-214. Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund (Nacktheit in Ritualen) vgl. Josephus Heckenbach, De nuditate sacra sacrisque vinculis. Gießen 1911; Hans Leisegang, The Mystery of the Serpent (1939), in: Joseph Campbell (Hrg.), The Mysteries: Papers from the Eranos Yearsbooks. Princeton 1955, 194-260; Jonathan Z. Smith, The Garments of Shame, History of Religions 5 (1965/ 66), 217-238; Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, 2. Aufl. Göttingen 1980, 266; Rolf Hurschmann u.a., Art. Nacktheit, Der Neue Pauly 8 (2000), 674-678. Auch die arabisch-islamische Überlieferung kennt nackte Hexen: Julius Wellhausen, Reste arabischen Heidentums. Berlin 2. Aufl. 1897 = 3. Aufl. 1961, 159. 195. Vgl. allgemein Christine Goldberg, Art. Nackt, Nacktheit, EM 9 (1999), 1128-1137. Nacktheit darf nicht mit Erotik verwechselt werden; auch im Märchen ist Nacktheit oft gänzlich ohne erotische Komponente. Die intensive Reflexion über sexuelle Handlungen in magischen Ritualen, zentral für den deutschen und britischen OTO (Ordo Templi Orientis) und andere neomagische Orden des 20. Jhdts., datiert erst nach Leland (obwohl ihre Wurzeln auch in den USA ins 19. Jhdt., etwa in den Zirkel um Randolph zurückreichen). 142 Der Tenor zahlreicher Interviews, die mit Mitgliedern der Wicca-Bewegung publiziert worden sind, ist dieses Gefühl einer Beheimatung, „zuhause angekommen zu sein“, etwas immer schon Vertrautes gefunden zu haben. Eine religionspsychologische Analyse der Wicca-Bewegung liegt bisher nicht vor. Für den deutschen Sprachraum vgl. Gisela Graichen, Die neuen Hexen. Gespräche mit Hexen. Erweiterte Neuausgabe München 1999 (Erstausgabe 1986). 143 Eine zentrale Rolle spielt die Diskussion über den Magier George Pickingill (1816-1909), der in der Wicca-Tradition als Gründer zahlreicher Hexenzirkel v.a. in Essex gilt. Vgl. die sorgfältige Studie von E. W. Liddell, The Pickingill Papers. George Pickingill and the Origins of Modern Wicca. Edited with an Introduction and Notes by Michael E. Howard. Chieveley, Berks. 1994. Auch die Zusammenhänge zwischen Gardners „craft“ mit der Szene zeremonieller Magie (Aleister Crowley) sind mittlerweile recht gut erforscht. Gruppen, die zeremonielle Magie betrieben, wie der 1889 in Chicago gegründete Order of the Magi, sollten nicht als Vorläufer von Wicca reklamiert werden. (Über diesen vgl. Aidan A. Kelly, Art. Order of the Magi, in: James R. Lewis (Hrg.), The Encyclopedia of Cults, Sects and New Religions. Amherst, NY 2. Aufl. 2002, 549). <?page no="332"?> Marco Frenschkowski 332 Für Leland hat die Magie der „Hexen“ ihr kümmerliches Leben verwandelt, und ihnen einen Anteil an Glanz und Herrlichkeit gegeben. Dieser Gedanke ist bereits 1877 in einem frühen Gedicht Lelands ausgesprochen, der den Hexensabbat bereits als bemerkenswerte Metapher für eine wenn auch vorübergehende soziale Befreiung bietet: „The Toads Over the forest and far away, Where the hills are green and the rocks are grey, There´s a place which only the fairies know, Where once a year the toads all go. And there they are changed to ladies fair, With great black eyes and curly hair; And have fawn-skin dresses and silver rings, And coral beads and beautiful things. There they dance and there they play, Where the hills are green and the rocks are grey, But it only lasts till there falls a rain, And they all are turned into toads again.“ 144 Der leise melancholische Klang dieses kindlich schlichten Liedes (es steht ja auch in einem Kinderbuch) entspricht Lelands eigener Überzeugung, dass die verwandelnde Kraft der Volksmagie eine Sache der Vergangenheit ist, nicht der Zukunft. Aus „toads“ werden „fair ladies“, aber diese Verwandlung ist nicht auf Dauer, sie hebt die vorfindliche Welt nicht auf: das ist in gewisser Hinsicht die Quintesssenz des Hexenwesens, wie Leland es sah. Er konnte nicht vorhersehen, dass die Hexe zu einer wichtigen Identifikationsfigur der emanzipatorischen Frauenbewegung werden würde. Aber mit seiner Rehabilitation der Hexen und ihrer Interpretation nicht nur als Vertreterinnen einer „alten Religion“, sondern als Verfechterinnen einer inneren und magischen Freiheit von Unterdrückung in jeder Form wurde er zu einem Vordenker der neopaganen Wicca-Religion namentlich in ihrer feministischen Ausprägung. Er gehört damit als Meilenstein in die Religionsgeschichte der abendländischen Moderne, völlig unabhängig von der Frage, wie „authentisch“ seine Aufzeichnungen aus dem Sagengut toskanischer Hexen gewesen sein mögen. 144 Johnnykin and the Goblins, 148f. <?page no="333"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 333 Anhang: Bibliographie der Buchpublikationen Lelands Aufgeführt sind primär Erstausgaben in Buchform, meist nach Exemplaren in meinem Besitz. Spätere Ausgaben sind nur genannt, wenn sie eigenen Wert haben, also nicht bloße Reprints sind. Lelands Übersetzungen aus dem Deutschen sind im 19. Jhdt. vielfach nachgedruckt worden, ebenso die Hans Breitmann-Balladen. Eine vollständige Bibliographie ist hier nicht möglich, ebensowenig ein Vergleich der englischen und amerikanischen Ausgaben. Insbesondere wurden auch die vielen hundert Zeitschriftenbeiträge Lelands nicht erfasst. Ausführlichere Angaben bietet Joseph Jackson (1867-1946), A Bibliography of the Works of Charles Godfrey Leland. Philadelphia 1927 (129 S.). Dieses Buch ist ein Nachdruck der vormals bereits in: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 49 (1925), 261-288. 329-348; 50 (1926), 38-63. 149- 162. 254-266. 367-379 publizierten Bibliographie (vgl. dazu die Rezension von Alberto Menarini, Italica: Journal of the American Association of Teachers of Italian 25, 1 (1948), 88-92). In den letzten Jahren sind zahlreiche Werke Lelands v.a. bei neopaganen und Esoterik-Verlagen nachgedruckt worden. Für vorliegende Studie konnten jedoch weithin die Erstausgaben benutzt werden. The Poetry and Mystery of Dreams. Philadelphia: E. H. Butler & Co. 1856 145 . Meister Karl’s Sketch-Book. Philadelphia: Parry & MacMillan 1855. Pictures of Travel and Book of Songs, from the German of Heine. Philadelphia: Weik 1855 (zahlreiche Neuausgaben). Sunshine in Thought. New York: George P. Putnam 1863. Centralization versus State Rights. A Pamphlet. 1863. Ye Book of Copperheads. In Collaboration with his Brother, Henry Perry Leland. A Pamphlet. Philadelphia: F. Leypoldt 1863. Legends of the Birds. Philadelphia: Frederick Leypoldt 1863. The Art of Conversation. New York: Carleton 1864. Mother Pitcher´s Poems. Philadelphia: Frederick Leypoldt 1864. The German Mother Goose, from the German. Philadelphia: Frederick Leypoldt 1864. Memoirs of a Good-for-Nothing, from tue German of Baron J. von Eichendorff. Philadelphia: Frederick Leypoldt 1866. The Union Pacific Railway, or Three Thousand Miles in a Railway Car. A Pamphlet. Philadelphia: Ringwalt & Brown 1867. Hans Breitmann´s Ballads. Five Parts: London: Trübner & Co. 1869-1971. In one volume 1871 (zahlreiche Separatausgaben einzelner Teile). France, Alsace, and Lorraine. A Pamphlet. London: Trübner & Co. 1870. The Music Lesson of Confucius. London: Trübner & Co. 1872. Gaudeamus, from the German of Scheffel. Boston: James R. Osgood & Co. 1872. The English Gipsies and Their Language. London: Trübner & Co. 1873. 4. Aufl. London: Kegan Paul, Trench, Trübner & Co. 1893. The Egyptian Sketch-Book. London: Trüber & Co. 1873. 145 Vermutlich gab es bereits einen früheren Druck von 1855, von dem kein Exemplar erhalten zu sein scheint (vgl. E. R. Pennell, op. cit. 2, S. 429f. A. 1). Leland bezeichnete die Anthologie „The Poetry and Mystery of Dreams“ als sein erstes Buch. Die oben angegebenen Jahreszahlen entstammen den Exemplaren in meinem Besitz. <?page no="334"?> Marco Frenschkowski 334 Fusang, or the Discovery of America by Chinese Buddhist Priests in the Fifth Century. London: Trübner & Co. 1875. Pidgin-English Sing-Song. London: Trübner & Co. 1876. Red Indiana. Published in Temple Bar. London 1875/ 1876. Johnnykin and the Goblins. London: Macmillan & Co. 1877. Abraham Lincoln. New Plutarch Series. London: Marcus Ward & Co. 1879. The Minor Arts. Arts at Home Series. London: Macmillan & Co. 1879. Ebenezer: A Novel. Published in Temple Bar. London 1879. The Gypsies. Boston: Houghton, Mifflin & Co. 1882. Industrial Art in Schools. Circular No. 4, Published by Bureau of Education in Washington, 1882. Art Work Manuals. A Series of Twelve, Edited, and Most of the Numbers Written, by C. G. Leland. New York: The Art Interchange Co. 1881-82. The Algonquin Legends. Boston: Houghton, Mifflin & Co. 1884. Brand-New Ballads. London: Fun Office 1885. Snooping. London: Fun Office 1885. Practical Education. Treating of the Development of Memory, the Increasing Quickness of Perception, and Training the Constructive Faculty. London: Whittaker & Co. 1888. 3. Aufl. 1889. A Dictionary of Slang. In Collaboration with Professor F. Barrère. 2 Vols. London: George Bell & Sons (Privately Printed) 1889. Revised Edition 1897. Drawing and Designing. Chicago: Rand, MacNally & Co. 1889. Manual of Wood Carving. London: Whittaker & Co. 1890. Gypsy Sorcery and Fortune-Telling. London: T. Fisher Unwin 1891. The Works of Heinrich Heine. Translated from the German. London: William Heinemann 1891-1893. The Life and Adventures of James P. Beckwourth. New Edition. Edited, with Preface, by Charles Godfrey Leland. London: T. Fisher Unwin 1892. The Hundred Riddles of the Fairy Bellaria. London: T. Fisher Unwin 1892. Leather Work. London: Whittaker & Co. 1892. Etrusco-Roman Remains in Modern Tuscan Tradition, in: The International Folklore Congress, 1891. Papers and Transactions, London: Jacobs and A. Nutt 1892, 185-201. The Folklore of Straw, Journal of American Folklore 5 (1892), 186-188. Another ‘Witch´s Ladder’, Journal of American Folklore 5 (1892), 70. The Family Life of Heinrich Heine. Translated from the German of Baron of Emboden. London: William Heinemann 1893. Alegonda, the Fairy of Joy - an Italian Tale, Journal of American Folklore 6 (1893), 228- 231. Due leggende etrusche,Rivista delle tradizioni popolari italiane 1 (1893), 21-29. Memoirs. 2 Vols. London: William Heinemann 1893. Zweite Auflage in 1 Band ebd. 1894. Etruscan-Roman Remains in Popular Tradition. London: T. Fisher Unwin 1893. Hans Breitmann in Germany, Tyrol. London: T. Fisher Unwin 1893. Elementary Metal Work. London: Whittaker & Co. 1894 (2. Aufl. 1900). Songs of the Sea and Lays of the Land. London: Adam and Charles Black 1895. Legends of Florence Collected from the People. 2 Vols. London: David Nutt 1895-96. A Manual of Mending and Repairing. London: Chatto & Windus 1896. The Original Gypsies and Their Language. Wien: Hölder 1899 (Separatdruck aus dem VII. Internationalen Orientalisten-Congress). <?page no="335"?> Charles Godfrey Leland und die Ursprünge der Wicca-Religion 335 Aradia, or, the Gospel of the Witches. London: David Nutt 1899. Have You a Strong Will? London: George Redway 1899. The Unpublished Legends of Virgil. New York: Macmillan 1900. Flaxius. Leaves from the Life of an Immortal. London: Philip Wellby 1902. Kulóskap the Master. In Collaboration with Professor J. Dyneley Prince. New York & London: Funk & Wagnall´s Co. 1902. The Alternate Sex, or, the Female Intellect in Man, and the Masculine in Woman. London: Philip Wellby 1904 (1902 wenige Monate vor Lelands Tod abgeschlossen und posthum von seiner Nichte E. R. Pennell herausgegeben). The Breitmann Ballads. MacLean, Virginia o. J. (um 2000). Neugesetzt nach der Ausgabe London: Trübner 1889. Bisher nicht veröffentlicht ist der als Manuskript erhaltene Band „The Witchcraft of Dame Darrel of York“. <?page no="337"?> Christian Stiegler Mythenbildung, Fakten und der Nationalsozialismus als politische Religion. Zum Einfluss okkulter Vorstellungen im Dritten Reich Rudolf von Sebottendorff (eigentlich Adam Alfred Rudolph Glauer), Freimaurer, Abenteurer und Gründer der Thule-Gesellschaft, ist eine lebenslange Verbindung zum Nationalsozialismus nachzuweisen. In seinem 1933 erstmals veröffentlichten Buch Bevor Hitler kam erwähnt er sein Treffen zu Adolf Hitler relativ spät, wobei dieses aber keine vordergründige Rolle in einer Analyse einnehmen sollte. Vielmehr sind seine Erläuterungen zuvor ausschlaggebend, welche sich explizit auf seine Tätigkeit in der Thule- Gesellschaft und die Einflussname seiner Ideen auf den Nationalsozialismus und das Dritte Reich beziehen. Um 1916/ 17 entstand die Thule-Gesellschaft als rassistisch und okkulte Geheimgesellschaft aus dem Germanenorden und während sie das `Studium für germanisches Altertum´ nach außen als ihr Ziel verkündete, war sie eigentlich eine freimaurerische Tarnorganisation des Germanenordens. Ihre Mitglieder, die allesamt höhere Ämter im Staat bekleideten, strebten nach politischer Einflussnahme und Propagierung rassistischer und antisemitischer Ideen. Die Verbindung zum Nationalsozialismus wird an Sebottendorffs Buch deutlich: er erwähnt nicht nur die Entstehung der Thule-Gesellschaft, sondern verwendet auch Schlagwörter wie Treue, Ariertum und Feuer, während das Hakenkreuz auf einem Dolch zum Symbol der Thule-Gesellschaft avancierte und das Deckblatt des Buches kleidete. In einer Rede vom 9. November 1919 instrumentalisiert er wichtige Symbole für die spätere nationalsozialistische Denkanschauung: Ich aber, ich versichere es Euch und schwöre es bei diesem uns heiligen Zeichen, höre es du fliegende Sonne, ich halte Euch ebenso die Treue. Vertraut mir, wie ihr mir bisher vertraut habt! Unser Kampf wird scharf nach beiden Fronten geführt werden. Auf der inneren, denn es heißt tüchtig und hart werden! Auf der äußeren: es heißt, alles befehden, was undeutsch ist! Unser Orden ist ein Germanenorden, Germanisch ist die Treue. Unser Gott ist Walvater, seine Rune ist die Aarune. Und die Dreiheit Wodan, Wili, We ist die Einheit der Dreiheit. Nie wird ein niederrassiges Gehirn diese Einheit in die Dreiheit begreifen. Wili ist wie We die Polarisation Walvaters und Wodan das göttliche immanente Gesetz. Die Aarune bedeutet Arier, Urfeuer, Sonne, Adler. Und der Adler ist das Symbol der Arier. Um die Fähigkeit der Selbstverbrennung des Adlers zu bezeichnen, wurde aus rot ausgeführt, dann nannte man ihn den <?page no="338"?> Christian Stiegler 338 Rüttelweih. Meine Freunde, von heut ab ist der rote Adler unser Symbol, er soll uns mahnen daß wir durch den Tod gehen müssen, um leben zu können . 1 Die Symbolik des Nationalsozialismus wird von Sebottendorff bewusst eingesetzt: Sonne und Adler werden zusätzlich instrumentalisiert, der Rückbezug auf die germanischen Götter und Phönix als Symbol für Wiedergeburt und Unsterblichkeit sind weitere Konsequenzen daraus. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Programm der Thule-Gesellschaft und der nationalsozialistischen Bewegung, daher hoffte Sebottendorff sicherlich auch auf eine höhere Stellung im Dritten Reich. Was Forscher allerdings weitaus mehr beschäftigt ist die Verifizierung von Thesen und die Beurteilung bzw. Unterscheidung von Fakten und Mystifizierung. Obwohl seit den 20er Jahren immer wieder vor allem Hitler und die NSDAP in direkte Verbindung zum Okkultismus gestellt werden, bleibt die Faktentreue von ökonomischen und sozialen Blickpunkten in den Vordergrund gerückt. Dies führt in weiterer Folge zu einem Zwiespalt von realpolitischen Maßnahmen bzw. deren Folgen und der Mythenbildung, die zwischen esoterischen Glaubensrichtungen (u.a. der Rolle der indischen Priesterin Savitri Devi in Bezug auf Hitler oder Heinrich Himmler 2 ) der oben erwähnten okkulten Traditionen pendelt. Sebottendorffs Buch Bevor Hitler kam zeigt jedoch auch den Zwiespalt zwischen esoterischer Lehre und politischer Einflussnahme, denn es ist voll von hetzerischen, eitlen und propagandistischen Kampfesansagen, wobei bemerkenswert ist, dass er auch eine Reihe Bücher ohne politische Kommentare verfasst hat. Was in weiterer Folge eine Flut an Werken über die okkulte Seite des Nationalsozialismus verursacht, führt schließlich zu widersprüchlichen Ergebnissen, Verschwörungstheorien und mehr oder weniger glaubhaften Narrationen über die Ereignisse bzw. den sogenannten Drahtziehern hinter dem Nationalsozialismus. Es ist also mit Vorbehalt zu genießen, was sich alles als historischer Tatsachenbericht über die okkulten Hintergründe dieser Zeit verkaufen möchte. Die Komplexität der Ereignisabfolge wird dabei zumeist zusätzlich bei einer Aufbereitung vernachlässigt. Sie führt vor dem Hintergrund des aufblühenden Okkultismus des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts zu einer Skepsis gegenüber der Moderne und einer Abneigung gegen den Positivismus der Zeit. Dies mündet nicht selten in eine Flucht zu okkulten Geheimbünden mit vagen Heilsversprechungen und anti-christlicher Welterklärung. Okkultismus war damals nicht mehr als heute auch: ein Versuch des Menschen sich und seine Umwelt besser zu verstehen. Daher kann auch auf den folgenden Seiten nicht jede okkulte Strömung zur Zeit des Nationalsozialismus aufgezählt und bewertet werden. Es soll jedoch 1 Rudolf von Sebottendorff: Bevor Hitler kam. Urkundliches aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung. 2. Aufl. - München: Deukula 1934, S. 58-59. 2 Vgl. hierzu Victor und Victoria Trimondi: Hitler, Buddha, Krishna: eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute. - Wien: Ueberreuter 2002, S. 342f. <?page no="339"?> Mythenbildung, Fakten und Nationalsozialismus als politische Religion 339 eine kritische Überblickssituation über die Einflussnahme okkulter Wertvorstellungen im Dritten Reich ermöglicht werden. In einem weiteren Schritt soll auch ein Blick auf die `wahren´ Okkultisten getätigt werden, denen nachgesagt wird, vor allem Hitler und Himmler beeinflusst zu haben. Diese haben den Nationalsozialismus nicht begründet, ihn jedoch aber auf jeden Fall begleitet und in einzelnen ideologischen Punkten sogar begünstigt. Hitler und Himmler: ihre religiösen und spirituellen Einflüsse „Die Szene lebt also und wuchert.” 3 Der Einfluss der oben erwähnten Thule- Gesellschaft konnte bereits nachgewiesen werden, jedoch steht der Faktor der Intensität in Frage. Jeden Einfluss der Thule-Gesellschaft auf den Nationalsozialismus zu leugnen, wäre eine simplifizierte These. Auf der anderen Seite wiederum wäre es eine übertriebene Meinung, die Ideologie der Thule- Gesellschaft hätte direkt in die Gründung der NSDAP gemündet. Es scheint aus dieser Ambivalenz auf den ersten Blick am einfachsten zu sein, die Führerpersönlichkeiten des Nationalsozialismus mit Okkultismus in Verbindung zu bringen. Wenn man dies tut, wird man dabei rasch an rhetorische Muster stoßen, die sich okkulter Vorstellungen bedienen und dabei vielfältige Symbolik bis hin zur Polarisierung verwenden. Das eingangs erläuterte Zitat von Rudolf von Sebottendorff soll als Ausgangsposition zur Erläuterung folgender Fragen dienen: lässt sich die Einflussnahme okkulter Wertvorstellungen auf den Nationalsozialismus an erkennbaren Faktoren ausmachen und welche Folgen hat der Okkultismus für realpolitische Maßnahmen der NS-Zeit? Diese beiden Fragestellungen scheinen am sinnvollsten, da sie zum einen anhand von Reden die Vorstellungen der führenden Persönlichkeiten beider Gruppierungen vergleichbar und dann natürlich auch die daraus resultierenden realpolitischen Folgen analysierbar machen. Heinrich Himmler und seine okkulten Neigungen sind belegt, da er als „horoskophörig und der Magie verhaftet” 4 galt. Der Reichsführer-SS glaubte an die Reinkarnation, die Bedeutung von Séancen bzw. der Kontaktaufnahme mit den Toten und schließlich soll er sich als geistige Inkarnation von Sachsenkönig Heinrich I. (875-936) angesehen haben 5 . Interessant bleibt hierbei der Verweis, dass Himmler seine okkulten Vorstellungen nur selten ausleben konnte, da sich Hitler gegenüber den Kirchen als sehr solidarisch erwies. Dies bedeutete, dass Himmler seine antichristliche Seite nie stärker betonen durfte, obwohl er sie in Reden immer wieder aufscheinen ließ: „Mit 3 Eduard Gugenberger: Hitlers Visionäre. Die okkulten Wegbereiter des Dritten Reichs. - Wien: Ueberreuter 2001, S. 17. 4 Michael H. Kater: Das Ahnenerbe der SS 1935 - 1945. - München: Oldenbourg 1997, S. 50. 5 Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS. - Augsburg: Weltbild 1995, S. 141. <?page no="340"?> Christian Stiegler 340 dem Christentum, dieser größten Pest, die uns in der Geschichte anfallen konnte, müssen wir fertig werden.” 6 Aus diesem Grund sah sich der Reichsführer-SS auch viel näher beim Buddhismus und Hinduismus, anderen indischen Religionspraktiken und dem Spiritualismus. Unbestritten bleibt auch Himmlers germanische Vorstellung vom Ur-Arier, der als Gottmensch vom Himmel herab gestiegen sein soll, wie folgender Auszug einer Rede vom 13. Juli 1941 vor Ersatztruppen der Waffen-SS belegt: „Das ist ein Weltanschauungskampf und ein Kampf der Rassen. Bei diesem Kampf steht hier der Nationalsozialismus, eine auf dem Wert unseres germanischen, nordischen Blutes aufgebaute Weltanschauung, steht eine Welt, wie wir sie uns vorstellen: schön, anständig, sozial gerecht, die vielleicht im Einzelnen mit manchen Fehlern noch behaftet ist, aber im Ganzen eine frohe, schöne, kulturerfüllte Welt, so wie unser Deutschland eben ist. Auf der anderen Seite steht ein 180- Millionen Volk, ein Gemisch aus Rassen und Völkern, deren Namen schon unaussprechlich sind und deren Gestalt so ist, daß man sie bloß ohne Gnade und Barmherzigkeit zusammenschießen kann.“ 7 Ähnlich wie Sebottendorff ist Himmlers Rhetorik an zwei Gegensätzen festzumachen: der `guten´ und der `schlechten´ Seite (bei Sebottendorff `innen´ und `außen´). Auf diese Weise wird eine schematische Polarisierung vorgenommen, die auf zwei einfachen Gegensätzen beruht und der einfach zu folgen ist. Hier das Gute, Schöne, Arische, Deutsche - dort das Schlechte, Niederrassische, Jüdische und wie im Falle Himmlers das Russische. Wie jedoch passt diese brachiale Rhetorik zu Himmlers Begeisterung für indische Religionsvorstellungen? Dies wird durch die Verbindung des gesellschaftlichen Glaubens an Zusammenhalt und inneren Spiritualismus in Indien begründbar. Indiens Könige mussten spirituelle Praktiken, Gefühlskontrolle und Meditation beherrschen, und das auch obwohl sie eigentlich Kriegsherren waren. Himmler wollte sich an dieser östlichen Geisteshaltung orientieren, suchte den standfesten Gleichmut und die Kontrolle des Geistes. „Himmler, der Abertausende von Menschen umbringen ließ und der mit der Einrichtung und Verwaltung der Konzentrationslager die Hölle auf Erden schuf, war nicht nur mit den spirituellen Lehren Asiens vertraut, sondern auch ein überzeugter Vegetarier und passionierter Tierfreund.” 8 Himmlers Neigung zu indischen Religionstheorien, hier im Besonderen Buddhismus und Hinduismus, findet sich daher an mehreren Punkten: zum einen in den rhetorischen Ausformungen, zum anderen in der Apotheose der realpolitischen Maßnahmen, wobei beide Punkte miteinander verknüpft scheinen. Die Aufspaltung in zwei Seiten des Gegensatzes ist für die Übermittlung einer Botschaft eine Notwendigkeit im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda. 6 Bernd Wegner: Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933 - 1945. - Paderborn: Schöningh 1982, S. 51. 7 Richard Breitmann: Heinrich Himmler - Der Architekt der Endlösung. - Zürich [u.a.]: Pendo 2000, S. 254. 8 Victor und Victoria Trimondi: Hitler, Buddha, Krishna. S. 33. <?page no="341"?> Mythenbildung, Fakten und Nationalsozialismus als politische Religion 341 Gut und Schlecht werden zu zwei unverzichtbaren Gegensätzen. Dies führt in weiterer Folge zu einer religiösen Apotheose, wenn Himmler etwa Adolf Hitler, indem er ein Zitat aus dem hinduistischen Text Bhagavadgita verwendet, mit dem indischen Gott Krishna vergleicht: „Diese Stelle ist direkt auf den Führer zugeschnitten.”: 9 „Sooft der Menschen Sinn für Recht und Wahrheit verschwunden ist und Ungerechtigkeit die Welt regiert, wird ich aufs Neu geboren, so will es das Gesetz. Ich trage kein Verlangen nach Gewinn” (Bhagavadgita, Gesang IV, Vers 7-8). Hier ist der historische Hintergrund von Bedeutung. Zahlreiche Persönlichkeiten der NSDAP gehörten okkultistischen Zirkeln an, die in mehrere Strömungen aufzuteilen sind. Hierzu zählte die Ariosophie, welche die Theosophie der Helena Blavatsky (1831 - 1891) aufnahm und stark auf ihre rassistische Lehren bezog, nach welcher die arische Rasse jene sei, die am weitesten entwickelt ist und die durch die Nähe zum Neopaganismus die Lehre um magisch-okkultistische Praktiken anreicherte. Guido von List (1848-1919), Gründer der Ariosophie, oder sein Nachfolger Jörg Lanz von Liebenfels (1874-1954) wollten die vorchristliche Religion etwa als Ausdruck der `Volksseele´ verstanden wissen. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg (1893-1946) sah ähnliche Wurzeln im Nationalsozialismus verborgen: der ursprüngliche Germane sei ein `Gottmensch´, der durch die Verdrängung des Gefühlslebens, welches durch die Christianisierung in den Vordergrund gerückt wurde, alte Rituale wieder aufleben lassen und einen vorchristlichen Zustand herstellen könnte. Verbindungen zu faschistischem Gedankengut sind nicht zu leugnen, jedoch nicht maßgeblich allein für den Führerkult dieser Zeit verantwortlich. Es ist aber die Nähe zu der spiritualistischen Vorstellung eines Gottmenschen, die sich in den Ideologien der okkulten Glaubensrichtungen wiederfindet. Offensichtlich war dies gerade Hitler bewusst: „Der Kurator des SS-Ahnenerbes [Houston Stewart Chamberlain] war sich ebenso wie Hitler über die Spärlichkeit des germanischen „Ur-Wissens“ völlig im Klaren. So schuf er eine deutliche Rangordnung der „arischen Glaubensrichtungen« […]” 10 Die rhetorischen Facetten von Hitler und seine Fähigkeit den Menschen sich als einer von ihnen zu präsentieren, lässt eine Verbindung zu spirituellen Glaubensvorstellungen zu, die wiederum auf den Rückzug des Individuum zugunsten der Gemeinschaft basieren und religiöse Verbindungspunkte ermöglichen. „Wenn wir uns hier treffen“ , erklärte Adolf Hitler in einer Rede am 11. September 1936, 9 Felix Kersten: Totenkopf und Treue - Heinrich Himmler ohne Uniform. - Hamburg: Robert Mölich 1952, S 189. 10 Victor und Victoria Trimondi: Hitler, Buddha, Krishna. S. 43. <?page no="342"?> Christian Stiegler 342 „dann erfüllt uns alle das Wundersame dieses Zusammenkommens. Nicht jeder von euch sieht mich und nicht jeden von euch sehe ich. Aber ich fühle euch und ihr fühlt mich! Es ist der Glaube an unser Volk, der uns kleine Menschen groß gemacht hat, der uns arme Menschen reich gemacht hat, der uns wankende, mutlose, ängstliche Menschen tapfer und mutig gemacht hat; der uns Irrende sehend machte und der uns zusammenfügte.“ 11 Dieser Auszug ist ein prägendes Beispiel für die religiösen Einflüsse, die wiederum insbesondere im Kastensystem des Hinduismus auffindbar sind. Grundsatz der Kastenordnung ist, dass die Lebewesen von Geburt an nach Aufgaben, Rechten, Pflichten und Fähigkeiten streng voneinander getrennt sind. Obwohl das Kastensystem für indische Hindus abgeschafft wurde, hat es immer noch soziale Bedeutungen. Im Hinduismus ist die gottgewollte Rangordnung maßgeblich. Wenn Himmler Hitler als die Reinkarnation des Gottes Krishna bezeichnet, der wiederum die achte Reinkarnation von Vishnu ist, deutet dies an, wie tief der spirituelle Leitfaden in den religiösen Vorstellungen der NS-Ideologen verhaftet ist. Dies sollte Hitler gottgleich, die Zusammengehörigkeit und Rollenaufteilung der Gesellschaft im Sinne des Kastensystems deutlich und die Führerrolle wirksam machen. Cornelia Epping-Jäger konstatiert die Stimmgewalt der NSDAP-Rhetorik unter genau jenem Aspekt zur Bindung der Gemeinschaft: „[…] deren Funktion vor allem darin bestand, die Verinnerlichung der Macht als akustische Erlebnisform einer Volksgemeinschaft zu organisieren, die sich in der synchronen Ubiquität der Führerstimmen und ihrer Gemeinschaftsresonanz medial konstituierte.” 12 In Hitlers Fall ist die Verbindung jedoch weitaus raffinierter. Besonders auffällig erscheint bei einer psychologischen Studie der Führerpersönlichkeit Adolf Hitler der Drang nach der Erschaffung einer eigenen, arischen Ideologie: Hitler sees himself not only as Germany’s greatest strategist and war lord but as the chosen instrument of God, the savior of the German folk, and the founder of a new spiritual era which will endure, as Christ’s Kingdom was designed to endure, for a thousand years. It is not to be wondered at, therefore, that Hitler has often identified himself with Christ, […] 13 11 Max Domarus (Hg.): Hitler, Reden und Proklamationen 1932 - 1945. - Würzburg: Süddeutscher Verlag 1963, S. 1558. 12 Cornelia Epping-Jäger: Stimmgewalt. Die NSDAP als Rednerpartei. - In: Doris Kolesch und Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. - Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006 (= stw 1789), S. 150. 13 Henry A. Murray: Analysis of the Personality of Adolph Hitler. With Predictions of His Future Behavior and Suggestions for Dealing with Him Now and After Germany’s Surrender. Section 3: Detailed Analysis of Hitler’s Personality. Zitiert nach: [Stand: 08.09.2006] http: / / library.lawschool.cornell.edu/ donovan/ hitler/ Hitler-Section3.pdf [Zugriff: 19.01.2007], S. 175. <?page no="343"?> Mythenbildung, Fakten und Nationalsozialismus als politische Religion 343 Es wird deutlich, dass in den NS-Ideologien aufgrund der vielfältigen religiösen, spirituellen und okkulten Einflüsse, seien es nun fernöstliche bzw. westliche Religionsformen oder okkultistische Geheimbünde, vermischt Relikte auffindbar werden. Trotzdem sind okkulte und mythische Zusammenhänge mit dem Nationalsozialismus lange von der Geschichtswissenschaft übergangen worden. Erst in späterer Folge, im Zuge einer `Esoterisierung´ der Gesellschaft, wurden spirituelle Faktoren, insbesondere ein nicht-messbarer Wert wie die Beeinflussung des Menschen, auch mit dem Dritten Reich und Adolf Hitler in Verbindung gebracht. 14 Die These, dass der Nationalsozialismus eine politische Religion darzustellen vermochte, wurde kaum aufgestellt. Doch schon zu Lebzeiten Hitlers wurde der Versuch gestartet den Führer zu vergöttlichen. Das Schwarze Korps, eine Zeitschrift der SS, stellte fest: „Wenn du unseren Führer siehst, ist es wie ein Traum. Du vergisst alles um dich. Es ist, als ob Gott zu dir kommt.” 15 Das Erlöserprinzip kooperiert eng mit der oben beschriebenen gnostischen Weltanschauung von gut und schlecht bzw. arisch und jüdisch, der Erschaffung eines Übermenschen (`Gottmenschen´), der Wiederaufstehung des Führers und der Einplanung eines Weltuntergangs im Sinne der Apokalypse. Wie an Hitlers und Himmlers Redeauszügen aufgezeigt, kommen die Symbolisierung und Sakralisierung des Krieges und des Blutes bzw. der Symbolik von Sonne und Adler und der Verherrlichung von Terror und Gewalt zu den weiteren Faktoren einer Bildung der Ideologie des Nationalsozialismus, die einer Religion zu gleichen hat. Trotzdem vermied Hitler in seinen Reden und Aufzeichnungen allzu viele religiöse Anspielungen. Okkulte Aussagen sind so gut wie nicht belegbar. Nach außen galt für ihn die politische Richtlinie, obwohl esoterische Hoffnungen und religiös-spirituelle Strömungen in seinen Reden und Absichten wiederzufinden sind. Kritisch ist dabei aber die sehr unbedachte Vermischung von religiösen Traditionen und spirituellen Gedanken mit rassistischen und politisch orientierten Vorstellungen zu betrachten. Wenn auch die Verwendung in politischen Reden, hier besonders die rhetorischen Verwendungszwecke, zu bemerken ist, muss der realpolitische Zwecknutzen, der dahinter steht, im Kontext dazu betrachtet werden. So sehr sich führende NS-Ideologen auch religiöses Gedankengut bis hin zu okkultistischen Vorstellungen angeeignet haben, so sehr haben sie auch nur jene Elemente missbraucht, die ihrem realpolitischen Wahn als nützlich erschienen. 14 Für weitere Ausführungen siehe Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Aus dem Englischen übertragen von Susanne Mörth. - Graz, Stuttgart: Stocker 1997. 15 Das Schwarze Korps v. 30.01.1941, S. 4. <?page no="344"?> Christian Stiegler 344 Okkulte Elemente in der Politik des Nationalsozialismus Die wohl spannendste Frage ist sicherlich jene nach der tatsächlichen Beeinflussung okkultistischer Glaubensvorstellungen auf die reale Politik des Dritten Reichs. Sie ist, wie so vieles dieser Zeit, nicht eindeutig zu klären. Ein zweiseitiges Denken, nach dem gnostischen Prinzip, welches Himmler und Hitler in ihren Reden verwendet haben, ist hier nicht anwendbar. Dafür spielen zu viele verschiedene Komponenten mit, die von der realen Situation und der Hoffnung der Menschen, okkultistischen und religiösen Utopien bis hin zu dem Rassenwahn der NS-Ideologen reicht. Hier setzt auch die Problematik der wissenschaftlichen Forschung an: während die esoterische Seite zwar akzeptiert wird, bleibt sie hinter ökonomischen und sozialen Aspekten zumeist verborgen. „Die irrationale Ebene, aus der sich jedoch die Wunschträume und Utopien der Menschen speisen und die dann wiederum ihr Handeln beeinflussen, bleibt weitgehend ausgespart oder wird […] ausschließlich an Einzelpersonen, wie Heinrich Himmler und Adolf Hitler, gebunden.” 16 Wenn man aber bei den NS-Ideologen verweilt, erkennt man rasch Faktoren, die ein Zusammenspiel erkennen lassen: spirituelles Gedankengut verbunden mit politischen Zielen des Nationalsozialismus und übermittelt durch Sprache und Symbole. Okkulte Theorien und Symbolik des Spiritualismus, seien sie esoterischer oder religiöser Natur, sind weniger anhand tatsächlicher politischer Entscheidungen festzustellen, sondern vielmehr anhand der Selbstdarstellung des Regimes und seiner Führer. Dies ist in Elementen der Kunst, allen voran Film, Musik, Symbolen, Fotografie und Architektur, aber auch im gesprochenen und geschriebenen Wort, zu bemerken. Aus einem solchen Blickwinkel wird deutlich, wie es dazu kommen konnte, dass Himmler sich für die Reinkarnation Heinrichs I. hielt. Der Faktor der Wiedergeburt findet sich in fernöstlichen Religionen wieder, dies bleibt aber im Hintergrund. Im Vordergrund präsentiert sich die Verbindung zu einer Herrscherpersönlichkeit, die für Ahnentreue und Blutsverwandtschaft zu stehen hat. Dies ist wiederum eng in Verbindung mit dem symbolischen Wert von Blut im Dritten Reich zu sehen: Um den wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, dass er tatsächlich der wiederauferstandene König Heinrich I. sei, ließ Himmler durch Mitarbeiter der SS-Ahnenerbe die Gruft aufbrechen, um dessen Gebeine vermessen zu lassen. Zwar wurden die Gebeine des Heinrich nicht gefunden, aber andere als diese interpretiert und Himmlers These auf diesem Wege in dessen Sinne bestätigt. 17 Dass die tatsächlich wissenschaftliche Fundierung seiner These nur zum Schein war, dürfte Himmler egal gewesen sein. Einzig und allein zählte für 16 Kerstin D. Stutterheim: Okkulte Weltvorstellungen im Hintergrund dokumentarischer Filme des „Dritten Reiches“. - Berlin: Weißensee 2000, S. 136. 17 Ebd., S. 145. <?page no="345"?> Mythenbildung, Fakten und Nationalsozialismus als politische Religion 345 ihn die Möglichkeit einer Reinkarnation eines germanischen Vorfahrens. Ein weiterer Faktor war sicherlich auch das Moment der Repräsentation: Himmler ließ 1936 das Grab Heinrichs öffnen, dies war genau 1000 Jahre nach dessen Tod und eine Anleihe ans Tausendjährigen Reich ist nicht zufällig. Außerdem soll Heinrich die `Heilige Lanze´ besessen haben, eines der Reichskleinodien der römisch-deutschen Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Verborgen für das öffentliche Auge blieb aber auch die Ambivalenz hinter dieser Tat: Himmler, der den Reinkarnations-Gedanken als undiskutable Tatsache darstellte, nutzte gleichzeitig die `Heilige Lanze´ als wichtiges Symbol seines germanischen Vorfahrens, obwohl dieses der Legende nach so bedeutsam war, weil es ein Stück des Nagels vom Kreuz Jesu Christi enthielt. Dass Himmler vom Christentum aber eigentlich nicht viel hielt, schien dabei keine Rolle mehr zu spielen und war, ähnlich wie die zweifelhafte wissenschaftliche Fundierung, sekundär. 18 Hitler wiederum ließ die Lanze 1938 nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich von Wien, wo er sie 1908 das erste Mal gesehen hatte, nach Nürnberg bringen. 19 Der oben erwähnte Elitegedanke, der zu einem Aufbau einer solchen verwendet wurde, lässt sich an der Ähnlichkeit okkultistischer Geheimbünde markieren. Himmler gründete 1929 die Schutzstaffel, ergänzte sie durch die Allgemeine SS und gründete 1933 die SS-Totenkopfverbände, die ab Kriegsbeginn zur Waffen-SS wurde. Die SS war für Himmler ein Orden, wie er in einer Rede von 1937 ausführt: Es wird nun die Frage aufgeworfen, die SS sagt, sie sei ein Orden. Die Partei sagt auch, sie sei ein Orden. Das schließt sich gegenseitig gar nicht aus. Wir sind, ganz klar gesprochen, ein nationalsozialistischer Orden - und nun kommt die rassische Bestimmung - nordisch bestimmter Männer und eine beschworene Gemeinschaft ihrer Sippen. Wir sind erstens ein soldatischer Orden, nicht der, sondern ein nationalsozialistischer soldatischer Orden, zuchtmäßig, blutsmäßig gebunden an das nordische Blut, eine Sippengemeinschaft, wenn sie es wollen. Früher hätte man gesagt, eine Adelsgenossenschaft. Diesen Ausdruck nehme ich absichtlich nicht. Ich will aber damit sagen, unsere Aufgabe geht ins Menschenzüchterische, während die Aufgabe des politischen Ordens in das Führungsmäßige geht. 20 Wenn man den militärischen Aspekt beiseite lässt, lassen sich Analogien zu okkulten Ordensgemeinschaften wie der Thule-Gesellschaft finden: allen voran Kernaussagen betreffend des „Menschenzüchterischen” und der „ras- 18 Eine solche ist kein Einzelfall: der englische König Heinrich II. ließ etwa das angebliche Grab König Arturs in Glastonbury öffnen, um sich selbst als der neue König Artus zu präsentieren. 19 Die Alliierten fanden die Lanze 1945 in einem Stollen und brachten sie zurück nach Wien, wo sie heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg unter der Inventarnummer XIII, 19 ausgestellt ist. Vgl. hierzu Ken Anderson: Hitler and the occult. - New York: Prometheus 1995, S. 47-62. 20 Bradley F. Smith; Agnes F. Peterson (Hg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen. - Berlin, Wien [u.a.]: Propyläen 1974, S. 100. <?page no="346"?> Christian Stiegler 346 sischen Bestimmung”, die auch bei der Thule-Gesellschaft wichtige Kriterien darstellten. Am Beispiel Himmlers ist die schrittweise Progression vom spirituellen Gedankengut bis hin zur politischen Umsetzung deutlich geworden. Auch wenn eine Vermischung von Spiritualismus, Hinduismus, Buddhismus und Okkultismus immer wieder vorzufinden ist, sind Anleihen, die sich für nationalsozialistische Zwecke als nützlich erweisen, öfters vorzufinden. In weiterer Folge ist eine fast schon magische Beeinflussung durch das Moment der Manipulation erkennbar. „Die Magie hebt ihrem Selbstverständnis nach die Trennung von Bewusstsein und Natur auf, die Ordnungsmuster und Bilder der eigenen Subjektivität werden als Objektivität ausgegeben.” 21 Bei der Manipulation, die durch Faktoren wie Rhetorik, Symbolik und Propaganda begünstigt wird, wird der Versuch gestartet, ein Feindbild aufzubauen. Dieses ist in der oben benannten Zweiteilung von Gut und Schlecht gut erkennbar. Klaus Vondung kann 1971 diese konkreten Ereignisse der NS-Zeit auch mit einer Form von Magie in Verbindung bringen, nämlich der Übertragung fiktiver Vorstellungen auf das Bewusstsein der Menschen und ihrer Wirklichkeit (z. B. der Jude als Inkarnation des Bösen). 22 Vondung zeigt einige der hinterfragbaren religiösen Rituale auf, mit welchen die NS-Ideologen die soziale Wirklichkeit verändern wollten: Feste, Feiertage, Bekenntnislieder, Thingspiele, Sprechchöre und die Entwicklung sakraler Sprache und Musik (der Trommelwirbel wurde im Dritten Reich entwickelt) bzw. der sakrale Charakter der Architektur. Die okkulten Vorläufer dieses Systems werden in der Geschichtswissenschaft oft als Mystiker, Seher, Propheten und Magier verleugnet und die Imaginationen und Phantastereien der NS-Führer als Marotten abgetan. Tatsache bleibt jedoch, dass diese `Einbildungen´ schließlich konkret realpolitisch umgesetzt werden sollten. Was als spirituelle Quelle oder religiöses Ritual oder gar als kunstvoll aufbereiteter Mythos 23 auszumachen ist, wurde von den Nationalsozialisten ernst genommen und sollte verwirklicht werden. Auch aus diesem Blickwinkel, neben dem propagandistischen Zweck, ist Himmlers Wiedergeburtsvorstellung von Heinrich I. zu sehen. Aus dem okkulten Milieu in Deutschland und Österreich bildete sich die nationalsozialistische Weltanschauung, insbesondere ihre Rassentheorie. Die Analogie zur Geheimgesellschaft kann von Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nachgewiesen werden: charakteristisch ist für sie ein Aufbau in Form der Hierarchie nach einem System, das auf den Faktor des `Eingeweihtsein´ basiert bzw. die Höhe des Rangs nach der Nähe zum Führer gemessen wird. 24 Dass dies wiederum in 21 Victor und Victoria Trimondi: Hitler, Buddha, Krishna. S. 539. 22 Vgl. hierzu Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1971. 23 Vgl. hierzu vor allem Hitlers Begeisterung für Wagners Parsifal, den Heiligen Gral und die Heilige Lanze. 24 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. - München: Piper 1986. <?page no="347"?> Mythenbildung, Fakten und Nationalsozialismus als politische Religion 347 fernöstlichen Religionen zu finden ist, ist kein Zufall: Hitler soll ja, nach Aussage Himmlers, einer der direkten Nachkommen Krishnas gewesen sein. Hitler selbst hatte trotz einiger agnostischer Aussagen ein sehr perfides metaphysisches Gedankengut. Joachim C. Fest verweist unter anderem auf Hitlers Überzeugung „auserwählt” zu sein, seine Faszination an der Apokalypse und während er „die „Sterne“, die „Planeten“, den „Weltäther“, „Jahrmillionen“ in das dramatische Geschehen mit ein [bezog], […] [dienten ihm] die „Schöpfung“, der „Erdball“, das „Himmelreich“ […] als Kulisse.” 25 Auf der kultischen Ebene war Hitler immer wieder tätig, auch wenn er dies nie offen zugab. So verkündete er beispielsweise die Hakenkreuzfahne selbst entworfen zu haben. In den architektonischen und künstlerischen Ausdrucksmitteln im Nationalsozialismus finden sich ebenso solche Spuren wieder. Es bleibt daher für die Bewertung okkulter Elemente zur Zeit des NS- Regimes maßgeblich, die Wurzeln jener nicht zu ignorieren. Dabei ist aber als Ergebnis festzuhalten, dass die NS-Ideologen keine Skrupel hatten, jede mögliche Form von Einfluss miteinander zu vermischen, sofern dies zu ihren Nutzen war. Als zusätzliche Komponente ist die Einstellung zu solchen Elementen zu bemerken: die realpolitische Umsetzung von jenseitigem Gedankengut ist eine Utopie, die jedoch, gepaart mit symbolischen, rhetorischen und propagandistischen Beifügungen, in Krisenzeiten die Mehrheit für möglich hielt. Schlussbemerkungen Bei genauerer Betrachtung ist ein enges Netz von verschiedenen Faktoren bemerkbar geworden, bevor man überhaupt von okkulten Einflüssen auf die Ideologie des Nationalsozialismus sprechen konnte. Die Geschichtswissenschaft vertritt mehrere Meinungen, ob diese eine allgemeingültige Bedeutung tragen, oder als reine Hirngespinste einiger Führerpersönlichkeiten des NS- Regimes auszumachen sind. Trotzdem kann am Beispiel Heinrich Himmlers und Adolf Hitlers aufgezeigt werden, dass diese Spuren weitaus weiter zurückreichen als in die düsteren, verrauchten Hinterzimmer bei den Geheimtreffen der Thule-Gesellschaft. Es bleibt Teil der Mystifizierung der NS- Ideologie, dass okkulte Elemente nachzuweisen sind. Wie sehr man aus heutiger Sicht diesen Bedeutung zukommen lässt, liegt im Auge des Betrachters. Weitaus komplexer in diesem Zusammenhang ist vielmehr, welchen Eindruck die führenden Okkultisten dieser Zeit hatten, von denen ein Großteil auch Nationalsozialisten war. Es ist kein Zufall, dass Sebottendorff, List und Liebenfels der Meinung waren, dass sie die nationalsozialistische Idee und die Positionen des NS-Regimes begünstigt haben, wenn nicht gar Vorreiter davon gewesen sind. Aus heutiger Sicht kann und muss jedoch auch hier 25 Joachim C. Fest: Hitler. Bd. 1. - Berlin [u.a.]: Deutsche Buchgemeinschaft 1976, S. 297f. <?page no="348"?> Christian Stiegler 348 differenziert werden. Okkultismus ist weder ein Vorreiter des Nationalsozialismus, noch ist er als ein solcher zu bewerten. Vielmehr ist ein ganz spezielles Element der Geheimgesellschaften für das spätere Regime von Bedeutung: die rassische Trennung und die Vorstellung vom `Gottmenschen´. Es ist sicher auch nicht von der Hand zu weisen, dass die an der Spitze stehenden Okkultisten die Hoffnung von Annäherung an eine sich erfolgreich präsentierende Politik hatten. Im Fall von Sebottendorff führte dies sogar zu einer Form von persönlicher Beleidigung, als sein Wunsch, im Regime eine höhere Stellung zu bekommen, nicht erfüllt wurde. Die grundsätzliche Idee des Okkultismus ist im Spiritualismus und in einigen Vertretern fernöstlicher Religionen wieder zu finden, wo kein Rassenhass vorzufinden ist. Trotzdem ist die Verbindung von Okkultismus, Religion und Politik auf einmal evident, wenn man sie bewusst miteinander zu Gunsten eines politischen Ziels bzw. wie im Falle des Nationalsozialismus der Gründung einer `politischen Religion´ vermischt und gegen Menschen einsetzt bzw. missbraucht. An den Reden von Adolf Hitler und Heinrich Himmler ist dies immer wieder bemerkbar und der Rückbezug auf legendenhafte, jenseitige Elemente ist bewusstes Spiel mit Emotionen und Gefühlen der Menschen. Es ist ein für damalige Verhältnisse sekundäres Merkmal, dass Widersprüche und übermäßiger Pathos dabei auffallen. Von Bedeutung bleibt vielmehr der Widerspruch, der eingangs erwähnt wurde: wie ist es möglich die esoterische, nicht empirisch verifizierbare Seite, mit den sozialen und realpolitischen Fakten der NS-Zeit auf einen Nenner zu bringen? Die Antwort liegt in der Nutzung der esoterischen Seite als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele der Realität. Es sei dahin gestellt, ob führende NS- Ideologen gleichzeitig Okkultisten waren - zur Beantwortung dieser Frage reicht, was okkultistische Strömungen mit Religionen gemeinsam haben. Diese gemeinsamen Faktoren wurden gezielt vom Regime ausgewählt, um die Menschen zu erreichen und für ihre politischen Zwecke zu gewinnen. Die Hoffnung lag in der Erkenntnis. Und „[d]as Ziel der Erkenntnis ist die Bewältigung seines Daseins […]”. 26 Dies hat sich in der Hoffnung der Menschen sowohl damals als heute nicht geändert. 26 Steffen Rink; Holger Lösch: Stichwort Okkultismus. - München: Heyne 1996 (= Heyne Sachbuch Nr. 19/ 4081), S. 7. <?page no="349"?> Johannes Harnischfeger Der Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum: Die Prophetin Ngozi in Südostnigeria Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis in Afrika mehr Christen leben werden als auf jedem anderen Kontinent. Afrikanische Theologen sprechen bereits selbstbewusst davon, dass ihre Glaubensvorstellungen das Christentum des 21. Jahrhunderts prägen und in eine nicht-westliche Religion verwandeln können. 1 Die Kirchen, als Mittler zwischen den globalen Kulturen, würden damit eine völlig neue Funktion erhalten. In der Vergangenheit, als weiße Missionare ihren Glauben nach Afrika brachten, wollten sie den Menschen damit zugleich die Segnungen der westlichen Zivilisation nahe bringen. Demgegenüber würden die Kirchen der Zukunft dazu dienen, afrikanische Spiritualität in andere Kontinente zu verbreiten. Kwame Bediako, ein ghanaischer Theologe, sieht darin eine Chance, die vorherrschende, vom Westen betriebene Form der Globalisierung umzukehren und durch eine „Globalisierung von unten” zu ersetzen. 2 Zum Niedergang des europäischen Christentums hat, nach Ansicht afrikanischer Theologen, vor allem die Aufklärung beigetragen. 3 Die Kirchen im Westen haben sich dem säkular-rationalistischen Denken angepasst und ihre spirituellen Wurzeln verraten. Demgegenüber wollen afrikanische Christen die Botschaft Gottes, mit ihren vielen Hinweisen auf die Geisterwelt, wieder ernst nehmen: „We do not have the same problems about the Bible as White people have with their Western scientific mentality.” 4 Christliche Gebete und Rituale dienen vor allem dazu, sich vor dämonischen Einflüssen zu schützen. Statt das Böse in sich selbst zu suchen, imaginiert man es in Gestalt äußerer Kräfte, als feindselige Geister oder fremde Magie, die dem Streben nach Glück und Erfolg im Wege stehen. Im Kampf gegen diese unheilvollen Mächte nehmen viele afrikanische Kirchen den Charakter von Kulten an. 1 Kwame Bediako: Africa and Christianity on the Threshold of the Third Millenium. The Religious Dimension. In: African Affairs 99 (2000), S. 303-323, hier S. 305-306, 314; vgl. Philip Jenkins: The Next Christendom. The Coming of Global Christianity. Oxford: University Press 2002. 2 Bediako (2000), S. 314. 3 Lamin Sanneh: Encountering the West. Christianity and the Global Cultural Process. The African Dimension. Maryknoll, New York: Orbis Books 1993, S. 184, 208-212. 4 African Independent Churches: Speaking for Ourselves, Braamfontein 1985, S. 26; zit. nach Gifford: African Christianity. Its Public Role. Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press 1998, S. 43. <?page no="350"?> Johannes Harnischfeger 350 Gläubige, die sich an Priester und Propheten wenden, suchen Zugang zur Kraft Gottes oder des Heiligen Geistes, um mit ihrer Hilfe widrige Einflüsse zu vertreiben. Religiöse Autoritäten, die um Anhänger werben, müssen also durch Zeichen und Wunder beweisen, dass sie Unglück und Krankheit besiegen und den Fluch der Armut brechen können. Afrikanische Spiritualität zeigt sich am lebendigsten in den vielen unabhängigen charismatischen Kirchen. Einige von ihnen, wie die Redeemed Christian Church of Christ oder die Living Faith Chapel, haben sich auch in Europa etabliert, so dass Studien über afrikanische Religiosität heute in London, Amsterdam oder Frankfurt entstehen. Ich möchte im Folgenden von einer kleinen nigerianischen Kirche sprechen, der ich anderthalb Jahre lang angehörte. Nur drei, vier Kilometer von meiner Universität in Nsukka entfernt führte eine christliche Prophetin, Ngozi Agbu, einen Kreuzzug gegen Hexen, Zauberer und Schreinpriester. Aus diesem Kampf ging eine Kirche hervor, die Ngozi 1995 staatlich registrieren ließ. Vieles in den Gottesdiensten ihrer Gemeinde erinnerte an die alte ‚heidnische’ Frömmigkeit der Igbo. Es dominierten Tanz und Gesang, Geistbesessenheit und spirituelle Heilungen. Im Vergleich dazu orientieren sich die großen, seriös gewordenen Pfingstkirchen, zumindest in ihrem Ritus und ihrer internen Organisation, stärker an amerikanischen Vorbildern. Doch auch in ihnen sind die Gläubigen an Wunderheilungen und anderen spirituellen Dienstleistungen interessiert. Wer sich einer Kirche anschließt, sucht vor allem Schutz vor okkulten Kräften. Selbst in den großen Missionskirchen haben wundergläubige, charismatische Strömungen viel Einfluss gewonnen. Katholische Geistliche verkaufen nicht nur geweihte Kerzen, sondern auch Pülverchen, um Hexen und Dämonen zu vertreiben, ja sie sind direkt an der Verfolgung von Hexen beteiligt. 5 Ein großer Teil des Klerus hat sich offenbar damit arrangiert, dass die Gläubigen nicht sonderlich an moralischen Belehrungen und an Fragen des Glaubens interessiert sind. Sie wenden sich an die verschiedensten magischen und spirituellen Experten, seien es Zauberer, christliche miracle pastors oder islamische Marabouts, um für den Kampf gegen unsichtbare Wesen gerüstet zu sein. Die okkulte Dimension des Glaubens lässt sich besonders anschaulich am Beispiel von Ngozis Kirche illustrieren, da die Igbo-Prophetin und ihre Anhänger die direkte Konfrontation mit ‚dämonischen’ Kräften suchten. 5 Mary Douglas: Sorcery Accusations Unleashed. The Lele Revisited, 1987. In: Africa 69 (1999) 2, S. 177-193, hier S. 184-186; Heike Behrend: ‚Satan gekreuzigt’. Interner Terror und Katharsis in Tooro, Westuganda. In: Historische Anthropologie 12 (2004) 2, S. 211- 227, hier S. 221-223. <?page no="351"?> Der Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum 351 Der Kreuzzug In einer ländlichen Region des Igbolands, in Südost-Nigeria, liegt Alor Uno, eine Stadt, oder genauer: eine Ansammlung von 31 Dörfern mit etwa 20 000 Einwohnern. Im Dezember 1994 erschien hier eine junge Frau, Ngozi Agbu, und begann einen Kreuzzug gegen das ‚Heidentum’. Umgeben von einer großen Schar Anhänger, einige von ihnen mit Macheten und Eisenstangen bewaffnet, zog sie von Haus zu Haus, zerstörte die Familienschreine und durchsuchte die Gehöfte nach Jujus, d.h. nach Zaubermitteln und traditionellen Kultobjekten. Als ich sie das erste Mal traf, im März 1995, hatte sie bereits 17 Dörfer ‚gereinigt’. Die meisten Bewohner von Alor Uno waren Christen, trotzdem fanden sich - wie Ngozi mir erzählte - in jeder Familie Götzenbilder und andere verdächtige Gegenstände: „Niemand von ihnen war rein, weder Katholiken noch Anglikaner.” Was sie aus den Gehöften zusammentrug, ließ sie nicht gleich verbrennen, sondern stellte es auf dem Marktplatz zur Schau. Im Laufe ihrer Kampagne sammelte sich dort, wie auf einer Müllhalde, ein gewaltiger Haufen mysteriöser Objekte an. Für die Menschen in Alor Uno und den benachbarten Siedlungen besaß dieser Zauberberg eine große Attraktion. Selbst aus entlegenen Städten reisten Schaulustige heran und betrachteten mit einer Mischung aus Neugier und Furcht, was die Prophetin aus den Winkeln der Häuser ans Licht gezerrt hatte. Viele Bewohner von Alor Uno unterstützten Ngozis ‚Säuberungskampagne’, andere dagegen wehrten sich gegen ihre Einmischung. Ngozi war eine Frau von etwa 25 Jahren, die mehr als hundert Kilometer entfernt gelebt hatte, verheiratet mit einem LKW-Fahrer, allerdings ohne Kinder. Da ihr Vater in Alor Uno geboren war, konnte sie für sich beanspruchen, eine Bürgerin der Stadt zu sein. Doch ihre Eltern waren früh gestorben, als Ngozi noch ein Kind war. Es hieß, die Stadtgöttin Adoro habe Vater und Mutter getötet, deshalb glaubten die Menschen, dass auf Ngozis Familie ein Fluch laste. So wie ihre Geschwister hatte sie Aufnahme bei Verwandten gefunden, doch niemand wollte sie dauerhaft bei sich behalten. Sie wurde hin und her gestoßen, rannte schließlich davon und wurde eine madwoman, die nackt umherirrte und am Straßenrand Essensreste aufsammelte. Im Nachhinein erschien es Ngozi, dass jene Leidensjahre Teil ihrer spirituellen Berufung waren. Die Stimmen, die sie gehört hatte, erhielten einen Sinn, als sie gewahr wurde, dass sie zu einer Mission berufen war, dass der Heilige Geist sie erwählt hatte, ihre Mitbürger vom Bösen zu befreien. Als sie im Dezember 1994 in ihre Heimatstadt zurückkehrte, hielten viele sie immer noch für eine Ausgestoßene. Wie gelang es ihr, eine eigene Kirche zu gründen und viele begeisterte Anhänger zu finden? Was die Menschen von ihren charismatischen Fähigkeiten überzeugte, war der Angriff auf den Schrein von Adoro, der Stadtgöttin, die in dem Ruf stand, unbesiegbar zu sein. Vor Ngozi hatten schon andere versucht, die Kultstätte zu zerstören, doch sie hatten dafür mit ihrem Leben bezahlt oder waren wahnsinnig ge- <?page no="352"?> Johannes Harnischfeger 352 worden. Adoro galt als eine launische Göttin, schnell bereit, Rache zu nehmen, wenn sie sich beleidigt sah. Sie tötete Menschen selbst in weit entfernten Städten, und wenn die Familie des Opfers durch einen Wahrsager erfuhr, dass sie die Rache Adoros auf sich gezogen hatte, musste sie die Göttin möglichst rasch beschwichtigen. Um weiteres Unheil abzuwenden, grub man den Leichnam der verstorbenen Person aus und brachte ihn nach Alor Uno. Dort verscharrte man ihn in dem evil forest, einem Stück Wildnis am Rande der Stadt, das den Schrein der Gottheit umgab. All die bewegliche Habe des Opfers wurde den Priestern Adoros ausgehändigt, und auch das Gehöft des Toten fiel an die Gottheit. Niemand wagte, die Gebäude zu betreten, so dass sie langsam verfielen und in Wildnis übergingen. Das Rachebedürfnis der Göttin aber war damit noch nicht gestillt. Die Familie des Getöteten musste noch einen ihrer Angehörigen opfern, in der Regel ein Mädchen oder eine junge Frau. Die Auserwählte wurde jedoch nicht getötet, sondern nach Alor Uno geschickt, wo sie - in früheren Zeiten - dem Dienst der Göttin geweiht war. Kultsklaven (Osu) waren für immer verdammt. Ihre Unreinheit konnte sich durch körperlichen Kontakt übertragen, deshalb wollte niemand sie bei sich aufnehmen. In Alor Uno leben heute Tausende von Osu, oder genauer: deren Nachkommen. Nach den Gesetzen des modernen Nigerias ist es nicht erlaubt, sie zu diskriminieren, trotzdem sind sie genötigt, abgesondert von den Freigeborenen in eigenen Dörfern zu siedeln. Furcht vor Adoro sorgt bis heute dafür, dass Frauen und Mädchen aus benachbarten Orten der Göttin übereignet werden. Nur ist es nicht länger möglich, sie zu zwingen, als Kultsklavinnen in der Nähe des Schreins zu leben. Stattdessen werden sie von den Priestern an einheimische Männer verheiratet. Opfer, die aus Familien von Freigeborenen stammen, erhalten einen Freigeborenen als Mann, während Frauen aus Osu-Familien an Osu-Männer übergeben werden. Als Ngozi den alten Schrein zerstörte, waren die ‚Traditionalisten’ schockiert und verunsichert, doch weigerten sie sich, die Autorität der christlichen Prophetin anzuerkennen. Um ihr Recht auf Religionsfreiheit zu verteidigen, organisierten sie eine Gruppe von Jugendlichen, die zum Gegenangriff übergingen. Dabei zerstörten sie jenes Zentrum für Geistheilungen, das Ngozi gleich neben dem Marktplatz errichten ließ. Beide Seiten griffen zu physischer und spiritueller Gewalt; ihre Auseinandersetzung fand aber auch auf einer intellektuellen Ebene statt. Der Häuptling von Alor Uno und andere Traditionalisten erinnerten daran, dass Adoro die Gemeinde seit Generationen geschützt hatte, nach innen wie nach außen. In vorkolonialer Zeit, als die Ortschaften oft in Fehden verwickelt waren, hatte die Göttin den Kriegern Stärke gegeben. Solche militärischen Dienste waren nicht länger nötig, dennoch versicherten die Adoro-Anhänger, dass die Stadtgöttin weiterhin ihre Kinder schütze, indem sie als ein Orakel wirke, Recht spreche und Kriminelle richte. Viele Anhänger Ngozis mochten nicht bestreiten, dass Adoro einst eine wohltätige Rolle gespielt hatte. Doch behaupteten sie, dass eine Gottheit, die junge Frauen raube, nicht in die moderne Welt hineinpasse. Im Übrigen <?page no="353"?> Der Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum 353 wirke der Schrein nicht mehr als ein Werkzeug der Gerechtigkeit, da eine Clique von Priestern und anderen alten Männern die Schiedssprüche manipuliere. Der Schrein, so meinten Ngozis Leute, werde zudem von Hexen und Zauberern missbraucht, die Unschuldige töteten und die Morde so arrangierten, als hätte Adoro die Unglücklichen gerichtet. Es hieß auch, dass die Göttin wie ein contract killer tätig werde. Kunden, die eine andere Person loswerden wollten, trugen ihr Anliegen angeblich den Priestern vor und überreichten der Göttin als Anzahlung eine Ziege oder dergleichen. Wenn der Auftrag dann ausgeführt war, wurde eine wertvollere Gabe fällig. Nach Ansicht von Ngozi profitierten nur einige alte Männer von dem Schrein, während die große Mehrheit der Bürger unter dem Regime Adoros litt. Die Göttin hatte in der Tat die Reputation der Stadt zerstört. Die Bewohner umliegender Ortschaften mochten ihre Töchter nicht an Männer in Alor Uno verheiraten, und sie hatten Angst, von dort eine Frau zu nehmen. Wer eine Tochter Adoros heiratete und sie harsch behandelte, riskierte, den Zorn der Göttin auf sich zu ziehen. Da die Bewohner Alor Unos gemieden wurden, erschien der Adoro-Kult wie ein Fluch. Er isolierte die Gemeinde und hinderte sie daran, am Fortschritt zu partizipieren. In den 31 Dörfern gab es keine Elektrizität, keine Wasserleitungen und keine richtige Sekundarschule. Zwar führten Stromleitungen über den Ort hinweg und verbanden die Distrikthauptstadt Nsukka mit weit entlegenen Dörfern. Die Bewohner von Alor Uno hätten sich also nur zusammentun und die Kosten für einen Transformator teilen müssen, um ans öffentliche Stromnetz angeschlossen zu werden. Doch statt in die Zukunft ihrer Stadt zu investieren, vergeudeten die Bürger ihr Geld damit, sich gegenseitig zu bekämpfen. All die Jujus, die Ngozi hervorgezerrt hatte, bezeugten den Mangel an Kooperation und Vertrauen, dienten sie doch im Wesentlichen dazu, andere zu verzaubern oder sich vor dem Zauber anderer zu schützen. Solange die Dorfbewohner ihre Anstrengungen darauf richteten, sich gegenseitig zu schädigen, konnte sie nicht vorankommen. Die Stadt war wie gelähmt. Ngozi und ihre Anhänger wollten diese Entwicklungsblockade durchbrechen. Indem sie Hexen, Zauberer und Schreinpriester bekämpften, sahen sie sich als Wegbereiter der Moderne. Christentum und Modernisierung Ideen von Entwicklung und Fortschritt, die mit der Kolonialmacht ins Land kamen, sind immer noch populär, nur haben sich die Strategien, dieses Ziel zu erreichen, gewandelt. Früher sah man den Staat als das wichtigste Instrument sozialer und ökonomischer Umgestaltung. Mit Hilfe rationaladministrativer Eingriffe sollte er die rückständige, der Tradition verhaftete Gesellschaft transformieren. Doch diese Strategie ist in Nigeria und anderen Teilen Afrikas gescheitert, so dass der Staat viel von seiner Legitimität verloren hat. In ländlichen Gemeinden wie Alor Uno ist der Staat ohnehin nicht <?page no="354"?> Johannes Harnischfeger 354 präsent. Es gibt kein Verwaltungsgebäude, keine Polizeistation, keinerlei Regierungsaktivitäten, und wenn bei seltenen Anlässen doch ein Polizeiauto in eines der Dörfer fährt, rennen die Bewohner in den Busch. Nach Jahrzehnten staatlicher Vernachlässigung wäre es absurd, darauf zu hoffen, dass staatliches Handeln die Lebensbedingungen der Menschen verbessern wird. Realistischer ist es, für die Umgestaltung der Gesellschaft auf die Kraft der Religion zu setzen. Während der Staat auf eine funktionierende Bürokratie angewiesen ist, um in das Leben der Menschen einzugreifen, kann Religion auch ohne solche äußeren Strukturen einen sozialen Wandel bewirken. Der Zauber ihrer Worte und Riten wirkt durch die Herzen der Gläubigen; er ändert die Denkweise der Menschen und damit ihr Verhalten. In Europa ist es wesentlich religiösen Einflüssen zu verdanken, dass eine persönliche Ethik entstand, die den Weg der Modernisierung öffnete. Die Religion zu benutzen, um die eigene Lebenswelt umzugestalten, ist ein vernünftiges Projekt. Daraus mag sich erklären, warum Ngozis Kreuzzug soviel Unterstützung fand. Dass sich die religiöse Kampagne darauf konzentrierte, jene Bedrohung zu beseitigen, die von Hexen und anderen unsichtbaren Wesen ausging, macht ebenfalls Sinn. Die Angst vor okkulten Kräften erzeugt soviel Misstrauen und Hass, dass sie in der Tat ein wesentliches Entwicklungshemmnis darstellt. Demokratie und moderne Marktwirtschaft können sich nur auf der Basis von Vertrauen entfalten. Vertrauen aber kann nicht aufkommen, wenn die Menschen einander verdächtigen, sich mit versteckten Mitteln nach dem Leben zu trachten. Den Gesellschaften Europas ist es gelungen, die Angst vor dämonischen Kräften zu überwinden. Allerdings sind die Gründe dafür nicht klar, weder in Europa noch in Afrika. 6 Einige von Ngozis Gefolgsleuten versicherten mir (ein wenig überrascht oder verärgert über meine angebliche Unwissenheit), dass Hexerei in Europa weiterhin existiere, nur hätten die Weißen Möglichkeiten gefunden, konstruktiver mit ihr umzugehen. Statt Zauber und Hexerei gegen sich selbst zu richten, wie die Afrikaner es tun, verwandelten sie diese Kräfte in eine Quelle gemeinsamer Stärke. 7 Im Unterschied zu Afrika und anderen Weltgegenden hat Europa in der Tat eine einzigartige Entwicklung durchlaufen, die dazu 6 Vermutlich spielte das Ende der so genannten Kleinen Eiszeit eine Rolle, dazu die Ausbildung von Staatlichkeit und neue Formen der Sozialisation, die Gewissensbildung und Internalisierung förderten (vgl. Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995). Auch der Übergang zu einem mechanistischen Naturverständnis dürfte dazu beigetragen haben, die Angst vor Hexerei zu bannen. Auffällig ist allerdings, dass wissenschaftliche Neuerer wie Isaac Newton aus ihren Forschungen nicht die Konsequenz zogen, die Existenz dämonischer Kräfte zu verwerfen (vgl. Stuart Clark: Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe. Oxford: Clarendon 1997, S. 294-311). 7 Vgl. Cyprian F. Fisiy und Peter Geschiere: Sorcery, Witchcraft and Accumulation. Regional Variations in South and West Cameroon. In: Critique of Anthropology 11 (1991) 3, S. 251-278, hier S. 260, 274. <?page no="355"?> Der Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum 355 führte, Hexenverfolgungen dauerhaft zu verbieten. 8 Dabei spielten viele Faktoren eine Rolle, darunter die Entstehung eines (halbwegs) aufgeklärten Christentums, das biblische Lehren über Hexen und Dämonen einfach von sich wies. Nach Jahrhunderten der Hexenverfolgungen setzte sich bei kirchlichen wie weltlichen Autoritäten ein neues Paradigma durch: Hexerei ließ sich nicht beseitigen, wohl aber die Angst vor ihr. In Alor Uno suchten Ngozi und ihre Anhänger ebenfalls mit der Vergangenheit zu brechen, und sie hatten Grund anzunehmen, dass ihnen das Christentum dabei eine große Hilfe sein könnte. Das Beispiel Europas, wo Christentum und materieller Wohlstand Hand in Hand gingen, bestätigte sie in der Überzeugung, dass es möglich war, okkulte Entwicklungshindernisse aus dem Weg zu räumen. Ngozis Vision, sich von der Last dämonische Kräfte zu befreien, war kein leerer Traum. Nur propagierte sie eine Form des Christentums, die für ihr Projekt der Modernisierung nicht geeignet war. Indem sie die Dorfbewohner aufrief, gegen Hexen und Zauberer in ihrer Mitte vorzugehen, schürte sie nur die Angst vor unsichtbaren Bedrohungen. Das soll nicht heißen, dass ihr Kampf gegen die Mächte der Finsternis unchristlich war. In vieler Hinsicht war er frühen Formen des Christentums stärker verwandt als der aufgeklärte Glaube vieler Katholiken und Protestanten in Europa, die mit vielen Passagen der Bibel nichts mehr anzufangen wissen. Die Kirche der Apostel und ihrer unmittelbaren Nachfolger besaß spirituelle Gaben, um dämonische Kräfte zu bekämpfen. Darin lag einer der Gründe, warum die christlichen Gemeinden so viele Konvertiten gewannen: „Once inside the Christian Church, the Christian enjoyed […] the millennial sensations of a modern African anti-sorcery cult. […] Men joined the new community to be delivered from the demons”. 9 Im frühen Christentum, wie in Ngozis Anti-Hexerei-Bewegung, diente Religion dazu, feindselige spirituelle Einflüsse zu vertreiben. Und in beiden Fällen ließ sich die Angst vor verborgenen Kräften bestenfalls für kurze Zeit bannen. In Alor Uno fingen die Menschen bald wieder an, sich Jujus zuzulegen und heidnischen Gottheiten zu opfern, und auch in der christlichen Antike besaß die Kirche nicht die Macht, ihre Anhänger wirksam zu schützen. Gerade die Frömmsten unter ihnen fühlten sich dem Dämonischen auf eine Weise ausgeliefert, die wir uns nur schwer vorstellen können: „If we believe that the myriad bacilli about us were each and all inspired by a conscious will to injure man, we might then gain a realisation of the constant menace that broods over human life in the biographies of Byzantine saints.” 10 Der spirituelle Kampf endete erst im Zeitalter der Aufklärung, als eine säkulare Kultur den Bereich des Spirituellen ein- 8 Wolfgang Behringer: Witches and Witch-Hunts. A Global History. Cambridge: Polity 2004, S. 165. 9 Peter Brown: Sorcery, Demons, and the Rise of Christianity from Late Antiquity into the Middle Ages. In: Witchcraft Confessions & Accusations. Hrsg. von Mary Douglas. London [u.a.]: Tavistock, S. 17-45, hier S. 31, 33. 10 E. Dawes und N. H. Baynes, zit. nach Brown (1970), S. 28. <?page no="356"?> Johannes Harnischfeger 356 grenzte und den Kirchen eine neue Rolle zuwies: Statt die Agenten des Bösen in der äußeren Welt zu bekämpfen, beschäftigten sie sich nun mehr mit dem Bösen im Innern des Menschen, mit Sünde und Schuld. Ähnlichkeiten zwischen Christen und Traditionalisten Die Ereignisse in Alor Uno lassen sich nicht, wie Ngozi es propagierte, als ein Konflikt zwischen Tradition und Moderne verstehen. Zwischen den verfeindeten Parteien gab es keine klaren Grenzen; alle Beteiligten bewegten sich in demselben spirituellen Universum. Die ‚Traditionalisten’ oder ‚Götzenanbeter’ bezweifelten nicht, dass der christliche Gott enorme Macht besaß. Einige von ihnen gehörten sogar der anglikanischen oder katholischen Kirche an und besuchten regelmäßig die Gottesdienste. Umgekehrt hatten militante Christen wie Ngozi keine Zweifel an der Existenz der alten Götter. Bevor Ngozi den Adoro-Schrein attackierte, stärkte sie sich zunächst mehrere Tage durch Fasten und Gebet. Und nachdem die Kultstätte in Trümmern lag, übernahm die Prophetin viele Funktionen des Schreins. Hilfesuchende reisten zu ihr und suchten im persönlichen Gespräch zu erfahren, wer einen Zauber oder Fluch über sie verhängt hatte. Ngozi wurde auch in Fällen von Diebstahl, Vergiftung oder Mord konsultiert. Zudem heilte sie Unfruchtbarkeit und Krankheit und sagte ihren Kunden die Zukunft voraus. Für alle diese Dienstleistungen ließ sie sich, so wie andere spirituelle Experten, bezahlen. Auf einem Festival, zu dem sie Hunderte von Anhängern versammelt hatte, filmte ein Videoteam, wie sie versuchte Regen zu machen. Das Ritual war erfolgreich, doch ließ Ngozi diese Szene aus dem Film herausschneiden, weil sie während des Rituals nackt war. In Ngozis Kreuzzug vermischten sich ganz unterschiedliche religiöse Traditionen, so dass es oft nicht möglich war zu entscheiden, ob sie von christlichen oder ‚heidnischen’ Ideen inspiriert war. Die Militanz, mit der sie gegen ‚Götzendiener’ vorging, erweckte den Eindruck, als sei sie motiviert durch den Absolutheitsanspruch des biblischen Gottes, der keine fremden Götter neben sich duldet. Es scheint, monotheistische Offenbarungsreligionen wie das Christentum oder der Islam verleiten zur Intoleranz, während die alten afrikanischen Götter mitsamt ihren Anhängern unbekümmert nebeneinander lebten. 11 Doch Bilderstürmerei war den traditionellen Religionen nicht fremd. Die Igbo hatten ein unsentimentales, nüchtern kalkulierendes Verhältnis zu ihren Göttern, das leicht in Feindseligkeit umschlagen konnte. Wenn sie einem Gott eine Kultstätte errichteten und ihm opferten, 11 Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, der sich zum Glauben seiner Vorfahren bekennt, behauptet, dass die afrikanischen Götter Toleranz und friedliche Koexistenz verkündeten. Doch die alten Götter waren stets beteiligt, wenn die Menschen Krieg gegeneinander führten. Deshalb scheuten Krieger nicht davor zurück, die Kultstätten ihrer Feinde zu erobern, um sie zu zerstören oder sich anzueignen. <?page no="357"?> Der Kampf gegen okkulte Kräfte im afrikanischen Christentum 357 wollten sie von seiner spirituellen Macht profitieren. Doch manche Götter erwiesen sich als zu schwach, um die Familie oder Dorfgemeinschaft, bei der sie Aufnahme gefunden hatten, zu schützen. Oder sie weigerten sich und ließen sich trotz aller Gaben und Gebete nicht umstimmen, so dass es besser schien, sich von ihnen zu trennen. Eine nutzlose Gottheit war jedoch oft nicht bereit, freiwillig zu gehen. In einem solchen Fall veranstaltete man ein Ritual: „throwing off a spirit”, bei dem die Wohnstätte der Gottheit und ihre Kultgegenstände zerstört wurden. 12 Ngozi griff auf dieses alte Muster zurück, wenn sie argumentierte, dass die Göttin Adoro nutzlos geworden sei. Statt die Stadt zu schützen, sei sie zu einer Belastung geworden, wie ein Fluch, den man brechen müsse. Mit diesem Argument appellierte Ngozi an alle Bewohner des Ortes, Christen wie Traditionalisten. Nach dem herkömmlichen Selbstverständnis der Igbo sind die Menschen nicht stark genug, sich von den Göttern loszusagen und ohne spirituellen Schutz zu leben. Wenn sie eine nichtsnutzige Gottheit beseitigen wollten, war es nötig, Ersatz finden. In früheren Zeiten entschieden Familien- oder Dorfälteste im Namen der ganzen Gruppe, welchen spirituellen Autoritäten man sich unterstellte. Die alten Männer, die den Zugang zu den Ahnen und Lokalgöttern kontrollierten, sahen sich als Hüter der lokalen Traditionen, trotzdem waren sie oft pragmatisch genug, sich der ‚Moderne’ zu öffnen und den Gott der Europäer zu sich zu laden. Dabei appellierten sie an die Ahnen, sie bei diesem riskanten, folgenschweren Schritt zu unterstützen: „Our great ancestors, we greet you. The world is changing with us. What used to be the norm when you were here on earth no longer obtains. […] Our neighbouring villages which were inferior to us in battle, trade and farming are now growing in strength because they have taken to the new ways (i.e. Christianity). […] The greatest hindrance is the Mmanwu. […] if we throw away the Mmanwu, we shall live in peace, and harmony, and make progress. May you bless all who refrain from Mmanwu […]. May our children bring blessing to our land when they embrace the new ways of life.” 13 Einen alten Kult abzuschaffen und einen neuen einzuführen war eine politische Entscheidung, die für die ganze Gemeinschaft bindend war. Persönlicher Glaube und individuelle Wahl spielten dabei keine Rolle. Ähnlich sah es Ngozi, als sie den Adoro-Kult durch das Christentum zu ersetzen suchte. Doch sie ging noch einen Schritt weiter. Sie zerstörte nicht nur den zentralen Schrein, sondern suchte alle traditionellen Kulte und Zauberpraktiken zu vernichten. Niemand sollte das Recht haben, die eigenen Familien- oder Clangottheiten zu behalten. Da sich nicht mit Sicherheit feststellen ließ, ob ein Juju eine schützende Funktion besaß oder ob es aggressiv und zerstörerisch wirkte, mussten alle konfisziert werden. In den Worten eines Ngozi- 12 Cyril C. Okorocha: The Meaning of Religious Conversion in Africa. The Case of the Igbo of Nigeria. Aldershot: Avebury 1987, S. 198. 13 Ebd. S. 198-199. <?page no="358"?> Johannes Harnischfeger 358 Anhängers: „Man kann nicht die Jujus von anderen Leuten verbrennen und die eigenen behalten.” Diese Haltung ist nicht notwendig christlich; sie passt zur Logik von Anti-Hexerei-Bewegungen, die lange vor Ankunft des Christentums entstanden. Diese Bewegungen versuchten alle Segmente der Gesellschaft von Hexerei und Zauberei zu reinigen, um eine Welt der Harmonie und des Vertrauens zu schaffen, in der die Menschen sich nicht länger gegen die okkulte Aggression ihrer Mitbürger aufrüsten mussten. Wer sich solchen radikalen Reformbestrebungen anschloss, wusste, dass die Befreiung von spiritueller und magischer Gewalt nur gelingen konnte, wenn alle sich daran beteiligten. Solange einige darauf beharrten, ihre Jujus zu behalten, konnte niemand sich sicher fühlen. Aus diesem Grund nahmen sich die Führer von Anti-Hexerei-Bewegungen das Recht, ganze Dörfer nach verdächtigen Objekten zu durchsuchen. Fraglich war nur, ob Propheten oder Hexenjäger über genügend spirituelle Kraft verfügten, um den Widerstand ihrer Gegner zu brechen. In Alor Uno vertraute Ngozi auf die Übermacht des christlichen Gottes. Der Konflikt zwischen dem Gott aus der Fremde und den indigene Kulten und magischen Praktiken war kein Zusammenstoß religiöser Lehren oder Weltanschauungen, sondern ein Wettkampf um die Macht. Die erste große Konfrontation ereignete sich, als Ngozi vor das Haus ihres Onkels zog, der im Verdacht stand, der ‚Präsident’ des lokalen ‚Hexenclubs’ zu sein. Die Prophetin rief ihm zu, er solle zu ihr kommen, niederknien und Jesus annehmen. Der stolze, wohlhabende Mann mochte sich natürlich nicht seiner Nichte unterwerfen, vielmehr donnerte er zurück, sie sei weniger wert als sein Urin; innerhalb von zwei Wochen werde sie sterben. Doch zehn Tage später, auf dem Weg zu sei