Marie von Ebner-Eschenbach
Tragödie - Erzählung - Heimatfilm
0521
2008
978-3-7720-5268-2
978-3-7720-8268-9
A. Francke Verlag
Peter C. Pfeiffer
Peter C. Pfeiffer entstaubt in diesem Buch die berühmteste österreichische Autorin des 19. Jahrhunderts und macht das überraschend anregend Unkonventionelle und noch heute Provozierende in einem Querschnitt ihrer Werke deutlich. Neben selten behandelten Werken wie der historischen Tragödie "Marie Roland" und der Erzählung "Agave" werden hier auch bekanntere Werke wie "Das Gemeindekind" und "Die Freiherren von Gemperlein" behandelt. Die trivialisierende Aufnahme Ebner-Eschenbachs in der Nachkriegszeit wird anhand der bildlichen Darstellungen der Autorin ebenso deutlich gemacht wie die Nachwirkung in verschiedenen Heimatfilmen der 50er, 60er und 70er Jahre. Das Buch verbindet in textnahen Interpretationen bewusst Ergebnisse der anglo-amerikanischen Ebner-Forschung mit der des deutschsprachigen Raums, wobei die Lesefreude, die man mit Ebners Schriften haben kann, im Mittelpunkt steht.
<?page no="0"?> Peter C. Pfeiffer Marie von Ebner-Eschenbach Tragödie Erzählung Heimatfilm <?page no="1"?> Marie von Ebner-Eschenbach <?page no="3"?> Peter C. Pfeiffer Marie von Ebner-Eschenbach Tragödie,E rzählung, Heimatfilm <?page no="4"?> Titelabbildungen: Marie von Ebner-Eschenbach, Ausschnitte aus Fotografien und einer Gedenkbriefmarke der österreichischen Bundespost zum 50. Todestag. © Österreichische Nationalbibliothek Wien, Bildarchiv (siehe Bildnachweise). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8268-9 <?page no="5"?> Inhalt Danksagung.......................................................................................... 7 Zur Zitierweise..................................................................................... 8 1 Einleitung.................................................................................... 9 2 Vom Bildnis der Dichterin...................................................... 21 3 Autobiographie als Manifest der Autorin: Meine Kinderjahre (1905) ......................................................... 39 4 Das Trauerspiel der Geschichte: Marie Roland (1867) ........ 61 5 Eine andere Renaissance: Agave (1903)................................. 83 6 Bruderzwiste und böse Frauen: „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) ............ 105 7 Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit: Das Gemeindekind (1887) ....................................................... 131 8 Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm: Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 1955 bis 1972 ............................................. 151 9 Schluss ..................................................................................... 175 10 Bibliographie .......................................................................... 179 Bildnachweise................................................................................... 189 <?page no="7"?> Danksagung Diese Art von Buch entsteht nicht als genialische Kreation, sondern baut auf der Arbeit anderer auf, gewinnt Gestalt in Gespräch und Auseinandersetzung mit Gleich- und Andersgesinnten und vor allem in der intensiven Lektüre der Texte. In diesem Sinne danke ich meinen Vorläufern und meinen Gesprächspartnern der Jahre, vor allem denen in Wien. Mit Unterstützung habe ich immer rechnen können am Filmarchiv Austria, bei der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach und besonders bei der Stadt- und Landesbibliothek Wien (jetzt Wienbibliothek im Rathaus). Für die finanzielle Unterstützung sei der Graduate School of Arts and Sciences, der Faculty of Languages and Linguistics und dem German Department der Georgetown University gedankt. Mit Erlaubnis der Herausgeber sind stark veränderte Teile von zwei Aufsätzen in dieses Buch eingegangen, die an anderer Stelle erschienen sind: „Geschichte, Leidenspathos, feminine Subjektivität: Marie von Ebner-Eschenbachs Autobiographie Meine Kinderjahre“, Monatshefte 87.1 (1995): 68-81 und „Geschlecht, Geschichte, Kreativität: Zu einer neuen Beurteilung der Schriften Marie von Ebner- Eschenbachs“, Zeitschrift für deutsche Philologie. Sonderheft zum Band 120: „Realismus“? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts (2001): 73-89. Die Bildnisse Ebners sind mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Bildarchiv, wiedergegeben. Die Namen, die hier aus sehr verschiedenen Gründen (in alphabetischer Reihenfolge) zu nennen sind: Patricia Herminghouse, Susanne Kord, Michael Neumann, Alfred Pfoser, Anne Thiel und Astrid Weigert. Ich hoffe, dass sie ein wenig Spaß an dem Buch haben. Wie immer - und vielleicht mehr als sonst - geht mein Dank an Kathy, Leona und Marie. Peter C. Pfeiffer Washington, im Januar 2008 <?page no="8"?> Zur Zitierweise Die Werke Marie von Ebner-Eschenbachs sind, soweit wie möglich, nach den Texten der nur sehr langsam voranschreitenden historisch-kritischen Ausgabe zitiert. Ansonsten habe ich auf die Ausgabe des Winkler Verlags zurückgegriffen, da sie am ehesten in Bibliotheken präsent ist und somit eine Prüfung der Nachweise ermöglicht. Die Siglen für Ebner-Eschenbachs Werke sind im Literaturverzeichnis aufgelöst. Die Anmerkungen sind knapp gehalten und geben nur Kurztitel an, die sich ebenfalls leicht im Literaturverzeichnis zu vollständigen Angaben auflösen lassen. <?page no="9"?> 1 Einleitung Heute über Marie von Ebner-Eschenbach schreiben heißt beinahe immer, ihr „bestenfalls [den] Platz eines literarischen Aschenputtels“ 1 zuzuweisen und die merkwürdige Diskrepanz hervorzuheben, die zwischen gelegentlichen Lobpreisungen der „größten Erzählerin deutscher Sprache“ im 19. Jahrhundert und ihrer spärlichen Präsenz in den meisten literaturhistorischen Studien über diese Zeit existiert. Das verklärende Ebner-Bild der älteren Forschung wird oft beklagt, das ihre Schriften zu einer goldüberhauchten Evokation des alten Habsburg stilisiert und Ebner zum, wie der (auch) kritisch-ironische Titel von Gertrud Fusseneggers Buch zu Ebner- Eschenbach es formulierte, „guten Mensch von Zdißlawitz“ ernennt. 2 Im Gegenzug hebt eine wohlmeinendere Literaturkritik dann die sozialkritischen Aspekte von Ebners Schriften hervor. An Versuchen, sie als Trivialautorin herabzusetzen, fehlt es selbstredend auch nicht. Die alten Klischees des Ebner-Bildes, denen noch Variationen einer merkwürdigen Art Androgynie hinzuzufügen wären, welche sich in Charakterisierungen von Ebner als eine Art Konglomerat männlicher und weiblicher Züge und in Begriffspaaren wie „Verstand“ und „Gefühl“ ausdrücken, 3 findet man bis heute immer wieder - und sie waren im Kern schon zu Lebzeiten Ebner-Eschenbachs präsent und wurden entsprechend kritisiert. Die Mischung aus Angestaubtheit, ätherischer Moralität und gemeinnütziger Menschenfreundlichkeit veranlasste etwa Friedrich Spielhagen - nicht ohne ironische Spitze - zu notieren. Sobald der Name Marie von Ebner genannt wird, umweht es dich wie Blumenduft aus einem Sommergarten; atmest du in einer Atmosphäre, in der es unerlaubt ist, ein häßliches Wort über die Lippen zu bringen. 4 In das gleiche Horn stößt Robert Musil, wenn er in einem „Novelleterlchen“ betitelten Essayfragment aus dem Jahre 1912 die damals hochberühmte und anerkannte Ebner als Beispiel für jene Art von Schriftstellertum abtut, die „trotz mancherlei Verdienst [im] sanfte[n] geistigen Postkutschenrhythmus als Meister [gilt]“. Ganz ähnliche Töne schlägt Karl Kraus an, der zuweilen noch einiges Gute zu Ebners Einsichten in die Machenschaften der literarisch-poli- <?page no="10"?> Einleitung 10 tischen Redakteure zu sagen hatte, sie aber schließlich als Repräsentantin des etablierten Literaturbetriebs darstellt. Anlässlich einer Festgabe für Detlef Liliencron und eines damit verbundenen kleinen Skandals schreibt er in Die Fackel, es sei gar nicht einzusehen, „warum die Saar, Rosegger, Ebner-Eschenbach, deren gesamte Lebensleistung - bei allem Respekt sei’s ausgesprochen - doch kaum das Bändchen ‘Adjutantenritte’ [von Liliencron] aufwiegt, es unter ihrer Würde finden sollten, zur Huldigung für einen Liliencron aufzurufen.“ 5 Dabei ist dieses Ebner-Bild zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihr eigenes Verdienst, denn sie sorgte durch gezieltes Zurückhalten von persönlichen Dokumenten dafür, dass es in der ersten Vollbiographie von ihrem Freund Anton Bettelheim (1900) sorgfältig ausgemalt wurde. 6 So wird sie da zur „Meisterin“ - dieses Wort benutzt Bettelheim bis zum Überdruss - aber auch aller Lebenslagen und Kunstgattungen, dabei nicht gerade zum Heimchen am Herd - schließlich war sie von Adel - aber doch zu „einer Hausfrau, wie sie sein soll“ (39), zu einem „Ausnahmegeschöpf“ und „Tugendmuster“ (125). Damit konnte dann gerechtfertigt werden, dass eine Frau als Schriftstellerin ohne Vernachlässigung ihrer ehefraulichen Aufgaben tätig sein durfte. Nicht weniger wird in der zweiten Version dieser Biographie, die vier Jahre nach ihrem Tod erschien, weiter an diesem von Ebner selbst unterstützten Mythos gearbeitet, wenn sie dort zur „standhaften Heldin eines Ritterromans oder einer Heiligenlegende“ (4) oder gar zu einem „Wunderwesen” (10) stilisiert wird. Der Mythos Ebner-Eschenbachs zeichnete sie als versöhnlich gestimmte Autorin sozialkritischer, aber auch sozialkitschiger Erzählungen und Novellen, gleichsam ein Umkehrbild nietzscheanischer Großmannssucht und nietzscheanischen Übermenschentums, als eine Art entsexualisierte Gold-Marie sozialer Verantwortlichkeit und menschenfreundlicher Güte. Sie bietet ein gutes Beispiel dafür, dass man zuweilen Autoren und Autorinnen vor sich selbst in Schutz nehmen muss. Ist es dann so, dass die literarische Qualität Ebner-Eschenbachs eindeutig beschrieben ist und es nicht mehr „um Fragen der ästhetischen Wertigkeit“ 7 geht? Dass ihre Wirkung für die heutige Welt bis auf weiteres sich darauf beschränkt, aphoristische Stichwortgeberin für Kreuzworträtsel und Weisheiten auf Abreißkalendern zu sein? Dieses kleine Buch stellt die Frage der Wertigkeit von Ebner- <?page no="11"?> Eschenbachs Schriften neu und versucht, aus genauer Lektüre einer Reihe von Texten zu einer differenzierten Bewertung zu gelangen, die die besondere Schreibsituation von Frauen im 19. Jahrhundert berücksichtigt und den Texten jene Dignität ausführlicher, interpretatorisch komplexer und individueller Deutungen zu erhalten sucht, die sonst so häufig bei wiederentdeckten oder sekundären Autoren zugunsten allgemeiner literatursoziologischer Bewertungen oder theoretisierender Reflexionen in den Hintergrund treten. Ihren Impetus gewinnt diese Studie aus der Reflexion meiner eigenen intensiven Lektüreerfahrung - und wie sie sich mit den Jahren verändert hat. Dieses Leseerlebnis ist hier ins Zentrum gerückt. Meine erste Bekanntschaft mit einer Geschichte von Marie von Ebner-Eschenbach entspricht wahrscheinlich derjenigen Gleichaltriger, wenn diese überhaupt etwas von ihr gelesen haben. Als Schüler der fünften oder sechsten Klasse las ich tief gerührt und Rotz und Wasser heulend ihre Hundegeschichte „Krambambuli“. Es ist das einzige intensive Leseerlebnis aus jener Zeit, an das ich mich genau erinnern kann. Allerdings führte es nicht dazu, dass ich etwa weitere Geschichten von Ebner mir zu beschaffen suchte oder ein Buch Ebners auf meinen weihnachtlichen Wunschzettel schrieb. Erst viel später, in dem Seminar einer Professorin zur Literatur des 19. Jahrhunderts begegnete ich wieder einem Büchlein von Ebner. Es waren „Die Freiherren von Gemperlein“, die als Beispiel für von Frauen geschriebene Literatur herhalten mussten. Diese Lektüre hinterließ in mir eine - wie ich im Rückblick feststellen muss - etwas hochmütige Verachtung Ebners, denn die Komik der „Gemperleins“ schien mir altbacken und trivial, etwa in der Situation, in der ein gescholtener Küchenjunge Schokoladensoße über einen Braten gießt. Diese Einstellung veränderte sich nur wenig, als ich später in einem (kurzen) Kapitel meiner Dissertation über das Zusammenspiel von aphoristischem Ausdruck und Roman auch über Ebners Romane Božena und Unsühnbar schrieb. Da Ebner als Aphoristikerin ersten Ranges galt, war sie schwer zu umgehen. 8 Erst im Zusammenhang mit einem meiner ersten eigenen Seminare über die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts veränderte sich meine Einschätzung grundlegend. Ich machte es meiner Lehrerin nach und bezog Ebners „Die Freiherren von Gemperlein“ in der damals noch erhältlichen Reclam-Ausgabe als wohlfeilen „Frauen- Einleitung 11 <?page no="12"?> text“ in die Kursmaterialien ein, um den Gewohnheiten und Notwendigkeiten des amerikanischen akademischen Betriebs nachzukommen. Eine genaue Lektüre und nicht zuletzt die intellektuelle Dynamik des Seminargesprächs eröffneten plötzlich eine für mich ganz neue Sicht auf Ebner. Diese förderte eine offensichtliche Inkongruenz zutage zwischen der am Anfang der Novelle statuierten Verbindung zwischen politischer Geschichte und Familiengeschichte und dem tatsächlichen Geschehen der Novelle. Das war nicht mehr die etwas gar zu herzige Autorin, sondern eine, deren hintergründiges Schreiben die Figuren in Konstellationen versetzte und diese dann gleichsam eigenständig, aber nach den Spielregeln der Zeit und Denkungsart, agieren ließ, um schließlich zu sehen, was von den vorherrschenden Ideologien und Vorstellungen übrig blieb, wenn man sie so auf erfundene Realitäten stoßen ließ. Dieses mit den Möglichkeiten literarischer Gegen- und Alternativwelten spielende, beinahe mit einem naturwissenschaftlichen Experiment vergleichbare Arrangement, half, die eigene Lebenswelt in ihren ideologischen Verstrebungen deutlich und erkennbar zu machen. Das sprach nicht nur sozusagen meine etwas trockene Germanistenseele an, sondern faszinierte mich. Immer wieder und bis heute verspüre ich einerseits eine nicht zuletzt durch die scheinbar „veraltete“ Sprache hervorgerufene kritische Distanz und andererseits ein tiefes inneres Gefangensein, wenn ich Texte von Ebner lese. In dem Maße, wie ich Ebners Schriften besser kennenlernte, sind die Gründe dafür mit der Zeit sicher vielgestaltiger geworden und kreisen vor allem um Themen der Geschichte, der Kreativität und der von geschlechtsbestimmten Erfahrungen geleiteten Aufnahme der Lebenswelt. Sicherlich nicht alle ihre Texte haben diese Kraft. Aber am Beginn der Beschäftigung mit ihr steht noch immer diese anfangs erfahrene unmittelbare Faszination. Die verschiedenen Aspekte meines Interesses zu ergründen und es anderen Lesern zu vermitteln und dadurch auf Bücher von Ebner-Eschenbachs gespannt und neugierig zu machen, ist mein allererstes Anliegen mit diesem kleinen Buch. Vielleicht ist es hilfreich, vorab auch festzuhalten, was dieses Interesse an Ebners Schriften nicht ist. Denn wenn diese Autorin Aufmerksamkeit findet - oder auch auf Abneigung stößt - so meist auf Grund der Auslegungen, die ihr zugetragen wurden. Das begann, wie schon erwähnt, mit Ebner-Eschenbachs Heiligsprechung durch 12 Einleitung <?page no="13"?> Anton Bettelheim in seinen zwei Biographien, besonders der zweiten von 1920. Gerade auch bei Ebner-Eschenbach ist es, wie Gertrud Fussenegger feststellte, eben ein Unglück, die falschen Verehrer zu haben. 9 Und gar nichts hat mein Interesse zu tun mit nostalgischer Sehnsucht nach dem alten Habsburgerreich, dessen Mythos von Claudio Magris so treffend beschrieben wurde und für den er so unzutreffend Ebner als Zeugin anführt, die darum bemüht sei, „die Widersprüche der ‘Monarchie der Gegensätze’ zu verschleiern.“ 10 Ebenso stehen mir alle Arten mährisch-landsmannschaftlicher Anteilnahme fern, auch wenn man die literaturpflegerischen Qualitäten einer solchen Beschäftigung nicht unbesehen unter schweren Ideologieverdacht stellen sollte. Gertrud Fusseneggers Essays zu Ebner sind persönliche und nützliche Auseinandersetzungen mit ihrem Werk, auch wenn sie sich letztlich auf den moralischen Charakter von Ebners Schriften und nicht ihre ästhetischen Qualitäten berufen. Ebners Satire auf den Literaturbetrieb, Bertram Vogelweid, wurde erst durch die Neuausgabe in der etwas eigenwillig benannten „Bibliothek des Ostens“ wieder erhältlich. 11 Diese Bemühungen tragen zu einem Umfeld bei, das sich Zeit nimmt für eine solche scheinbar zeitfremde Autorin und das durch editorische Arbeiten, Veranstaltungen und Würdigungen die Möglichkeiten einer Auseinandersetzung ganz allgemein offen hält. Zu dieser Art der Literaturpflege gehören auch Dinge wie das folgende, von Ernst R. Hauschka stammende, Gedenkgedicht auf Ebner, dem man, wenn nicht großen literarischen Wert, so doch einen gewissen Charme zusprechen kann. Marie von Ebner-Eschenbach Zieh’n wir sie auf, die Spieluhr dann hör’n wir das kleine Lied: Vom Schnapshund Krambambuli, dem Kreisphysikus und Josepha Lakony, der Waschfrau, von Vinska, der Hure, dem struppigen Pavel und Milada, Einleitung 13 <?page no="14"?> der scheuen Heiligen. No schad’ um den Hund. Fahr’n wir noch mal auf Zdislawitz? Pst - da schläft sie, die Gräfin, in ihrem engen Haus, den großen Tod im Gotteslob gebettet auf Sonne und Mond. So manche Wahrheit eben ging von einem Irrtum aus. 12 Schließlich ist mein Interesse auch anders gelagert als jenes sozialgeschichtliche und literatursoziologische, welches in der Ebner- Eschenbach-Forschung so sehr dazu beigetragen hat, das Klischeebild der sanftmütig-gütigen alten Weisen zu korrigieren. Ebners hellsichtige, zuweilen geradezu brutal direkte Darstellung einer sich im Umbruch befindenden Zeit und Gesellschaft, die zu einer außerordentlichen Dichte der sozialgeschichtlichen und soziologischen Inhalte in ihren Texten führt, sollte auch in seiner literarischen Qualität nicht gering geschätzt werden. Karlheinz Rossbacher, der sich überhaupt große Meriten erworben hat durch seine verschiedenen Ebner Studien, hob in seinem schwergewichtigen und beeindruckenden Buch zur Literatur der liberalen Ära in Österreich, in welchem er Ebner zu einer der Leitautorinnen der Epoche wählt, eindringlich diesen Aspekt hervor und hat damit ein ganz neues Verständnis dieser Literatur begründet. 13 Selbst ein so scharfer Kritiker ihrer literarischen Qualitäten wie Helmut Koopmann muss Ebner zugestehen, den „Spätherbst einer Gesellschaft“ thematisch eindringlich zu erfassen. 14 Auch feministisch ausgerichtete Literaturkritik geht, soweit sie sich überhaupt auf Ebner-Eschenbach als Autorin einlässt, meist auf diese Weise vor, wenngleich in den letzten Jahren auch Studien erschienen sind, die thematisch-sozialhistori- 14 Einleitung <?page no="15"?> sche und formelle Aspekte von Ebners Werken stärker aufeinander beziehen. 15 Damit sind eigentlich die vier entscheidenden Perspektiven erwähnt, die die Aufnahme von Ebners Werken bestimmt haben - im Guten wie im Schlechten. Die Mystifizierung und Quasi-Heiligsprechung durch Bettelheim und andere, die landsmannschaftliche Vereinnahmung „der“ Ebner als Galionsfigur einer oft ideologisch festgelegten Regionalkultur, als etwas betuliche Tante Marie des alten Habsburgerreichs und schließlich als scharfsinnige und weltoffene Gesellschaftskritikerin, deren ästhetisch-literarischer Wert aber doch eher hinter dem ethischen zurücksteht, und die, wie Eda Sagarra im Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache resümierend schreibt, „aufgrund ihrer ‘pädagogischen Tendenz’ einseitig in die Kategorie der Autorin von Schulu[nd] Mädchenlektüre eingeordnet“ wurde. 16 Man kann zweifellos alle diese Elemente in ihren Texten finden, doch der eigentliche Wert von Ebners Schriften für die Leser heute liegt, so denke ich, nicht darin. Wo er zu finden ist, darum soll es in den folgenden Kapiteln gehen. Statt mit einem Forschungsüberblick, setzen sie ein mit einem kleinen Essay über die bildlichen Darstellungen Ebner-Eschenbachs und wie sie im Verlauf das „Bildnis“ der Dichterin in eine ganz besondere Richtung hin geprägt haben. Darin wird nicht zuletzt ein Aspekt der Wirkungsgeschichte der Schriftstellerin Ebner deutlich. Anschließend gebe ich eine Reihe von exemplarischen Interpretationen von einem der Dramen, von Novellen, Kurzromanen und Ebners Autobiographie, die mir auf besondere Art gelungen und aussagekräftig erscheinen. Die strukturierenden Leitgedanken, gleichsam das interpretatorische Begriffsbesteck zu diesen, entwickle ich aus einer literatur-programmatischen Lektüre von Ebner-Eschenbachs Autobiographie Meine Kinderjahre aus dem Jahre 1905. Für weibliche Autoren nicht untypisch, 17 umspielt Ebner nämlich in diesem Buch ästhetische Grundprämissen ihres Schreibens, die nicht in einer theorieschweren Programmschrift ausformuliert sind, sondern die in der autobiographischen Erinnerung an ihre Kinderjahre und in den ersten Schritten in der Entwicklung zur künftigen Schriftstellerin figuriert sind. Dabei gestaltet Ebner eine Reihe von grundsätzlichen Themen, die ihr literarisches Schaffen bestimmen. Zentral ist hierbei die Befragung der Geschichte danach, wie Traditionen aufgebaut werden und welche Ausschließungsmechanismen, die Einleitung 15 <?page no="16"?> besonders auf Autorinnen Einfluss ausüben, in ihr wirken. Des Weiteren geht es hier um die Art, wie das Geschlecht Lebenswahrnehmung und Lebenspraxis bestimmt. Schließlich erörtere ich jenes uns heute etwas befremdliche, dabei von aller Unterwürfigkeit freie und von Ebner-Eschenbach in dieser bestimmten Art als weiblich markierte Leidenspathos, dessen kritisches Potential sie herausstellt und das als eine Art weibliches Korrelat zur männlichen Ästhetik der Entsagung gedacht werden kann. Die drei Bereiche sind von der allgemeinen Frage nach dem Ursprung und Wert weiblicher Kreativität überwölbt. Diese Themen sind es, die die Bücher von Ebner-Eschenbach und auch meine weiteren Lektüren bestimmen, angefangen mit einem der völlig unbekannten Geschichtsdramen von Ebner-Eschenbach, nämlich dem Revolutionsdrama Marie Roland. Dessen ungewöhnliche Schlusswendung, in der die gegen die Jakobiner kämpfende Titelfigur vor ihren Gegnern zu kapitulieren scheint, lese ich als eine Auseinandersetzung mit der als männlich markierten Gattungstradition des Geschichtsdramas, wodurch Ebners bisher ganz vernachlässigtes Stück eine neue Dimension gewinnt, die es aus der Masse der Geschichtsdramen der Zeit heraushebt und die geschlechtsspezifische Austarierung der Gattungstradition deutlich macht. Dem schließt sich eine ausführliche Interpretation der in der Renaissance angesiedelten Künstlernovelle Agave an. In ihr sucht Ebner noch einmal - und auf eine erstaunlich grundsätzliche Art - die Auseinandersetzung mit der abendländischen Kunsttradition, in der sie sich auch gefangen sieht. Auf die zeitgenössische Gegenwart zielen die folgenden Kapitel. In „Die Freiherren von Gemperlein“ und „Das Schädliche“ inszeniert Ebner-Eschenbach die Konfrontation der Geschlechter auf dem Hintergrund der Geschichte und Nationalgeschichte einerseits und andererseits im Kontext kreativer Produktivität, womit in diesen Texten neben vielerlei sozialen auch immer wieder ästhetisch-literaturprogrammatische Perspektiven eine Rolle spielen. Das Soziale und die Geschichte treffen aufeinander in Das Gemeindekind, dem wohl bekanntesten Buch Ebner- Eschenbachs, das erst kürzlich durch seine Aufnahme in die Z EIT - Bibliothek für Jugendliche wieder eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Das abschließende Kapitel befasst sich mit verschiedenen Verfilmungen der berühmtesten kurzen Geschichte Ebners, „Krambambuli“, die Beispiele geben für die besonderen Span- 16 Einleitung <?page no="17"?> nungen zwischen Moderne und Tradition, wie sie in der Gattung Heimatfilm vieldeutig sinnfällig werden. Die eben gerade nicht einsinnig reaktionäre oder auch nur konservative Art, wie diese Verfilmungen die Gattungstraditionen mitgestalten und weiterführen, werden dabei auch als Effekt der besonderen Qualität und Figurenkonstellation dieser Erzählung Ebners gesehen, wodurch die Filme auch ein Zeichen sind für die Wirkung Ebner’scher Texte in der Gegenwart. Gerahmt ist dieses Buch also von einer Untersuchung zur medialen Vermittlung Ebners, sowohl der Autorin wie ihres Werks, einmal als Rückkopplung des Medienwandels auf die Literatur und dann als Wirkung der Literatur auf das Medium Film in einigen sehr konkreten Beispielen. Wenn man einmal einen Blick für die eigentümliche Art gewonnen hat, wie Ebner in ihren Schriften beinahe wie in einem Experiment immer wieder Möglichkeiten einer Existenz in den Koordinaten von Geschlecht, Geschichte und Kreativität durchspielt und diese Themen auf literarische Formen bezieht, dann erhält man auch ein besseres Verständnis nicht nur für die Bedeutung sozialen Engagements für Ebner, sondern auch für ihre in den besten Stücken außerordentlich subtile literarische Qualität, die sich erst Einzelinterpretationen in ihrer ganzen Fülle erschließt. Um an die anfangs zitierte - und wohl etwas fehlgeleitete - Metapher anzuknüpfen: Ebner entpuppt sich hier durchaus als ein literarisches Aschenputtel, freilich als eines, dem der Schuh passt und das schließlich zur Königin wird. Eine sich einzelnen Texten zuwendende Darstellung kann somit sinnvoll und materialreich dazu beitragen, alternative literarische und theoretische Kontexte zu entwickeln. „Solange die Literatur von Frauen nur dem bestehenden Literaturkanon hinzugefügt bzw. in ihn ‘eingeschlossen’ wird, wird sie in unangebrachten Kontexten und nach falschen Kriterien analysiert. [...] Letztlich wird jeder Versuch, die Literatur von Frauen adäquat zu beurteilen - was immer das bedeutet - von der Entwicklung alternativer Traditionen und eines alternativen Leseverhaltens abhängen.“ 18 In diesen neuen Kontexten kann man versuchen, den Beitrag von Frauen zur literarischen (und kulturellen) Tradition ausreichend und fair zu beurteilen - und damit dazu beitragen, dass wir unsere Wertungen und uns selber aus unserer geschichtlichen Herkunft besser verstehen lernen. Einleitung 17 <?page no="18"?> Anmerkungen 1 Helmut Koopmann, „Spätherbst einer Gesellschaft. Soziale Erzählkunst in Marie von Ebner-Eschenbachs Novellen“, pp. 158f. 2 Gertrud Fussenegger, Marie von Ebner-Eschenbach, oder Der gute Mensch von Zdißlawitz. 3 Helmut Koopmann, „Spätherbst“, p. 159. Typisch ist hier Johannes Kleins Aussage in seinem „Nachwort“: „So männlichen Einschlag sie haben mochte - im Innersten war sie weiblich.“ (GNA 991) Siehe auch die Monographie von Carl Steiner, Of Reason and Love. 4 Zitiert bei Doris M. Klostermeier, „Anton Bettelheim: Creator of the Ebner- Eschenbach Myth“, p. 34. 5 Robert Musil, Gesammelte Werke Bd. 8, p. 1323. Karl Kraus, Die Fackel 162 (19. Mai 1904), pp. 26f. 6 Zitate jeweils im Text angegeben nach Anton Bettelheim, Marie von Ebner- Eschenbach und Marie von Ebner-Eschenbachs Wirken und Vermächtnis. Ausführlich zu Bettelheims Einfluss, siehe Doris Klostermaiers Studie zu diesem Thema; siehe auch Ferrel Roses Hinweis in „The Disenchantment of Power: Marie von Ebner-Eschenbach’s Maria Stuart in Schottland“, p. 149. 7 Helmut Koopmann, „Spätherbst“, p. 160. 8 Peter C. Pfeiffer, Aphorismus und Romanstruktur, pp. 34-44. Harald Fricke, Aphorismus. 9 Gertrud Fussenegger, Marie von Ebner-Eschenbach, p. 12. 10 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, p. 157. Magris spricht vornehmlich von Ebners erstem Roman, Božena (1876), der gegen Ende tatsächlich eine starke Tendenz zur Glättung aller Gegensätze zeigt. 11 Bertram Vogelweid, hg. von Edda Polheim. 12 Sudetenland 33.2 (1991), p. 97. 13 Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstrassenzeit in Wien. 14 Helmut Koopmann, „Spätherbst“, und die noch schärfere Kritik in Helmut Koopmann, „Schloß-Banalitäten. Lebenslehren aus einer halbwegs heilen Welt: Marie von Ebner-Eschenbach“. 15 Das weithin geringe Interesse an Ebner lässt sich wohl dadurch erklären, dass sie als altbacken und konservativ gilt. Siehe für die letzten zwanzig Jahre u. a. Elke Frederiksen, „German Women Writers in the Nineteenth Century: Where are They? “, die Ebner nicht einmal erwähnt. Helga H. Harriman, „Marie von Ebner-Eschenbach in Feminist Perspective”; Patricia Herminghouse, „Women and the Literary Enterprise in Nineteenth Century Germany”; Katherine Goodman, Dis/ Closures. Women's Autobiography in Germany Between 1790 and 1914; Deutsche Literatur von Frauen; Agatha C. Bramkamp, Marie von Ebner-Eschenbach: The Author, Her Time, and Her Critics; Edith Toegel, „‘Entsagungsmut’ in Marie von Ebner-Eschenbach’s Works: A Female-Male Perspective“; Edith Toegel, „The ‘Leidensjahre’ of Marie von Ebner-Eschenbach: Her Dramatic Works“; Ferrel V. Rose, The 18 Einleitung <?page no="19"?> Guises of Modesty: Marie von Ebner-Eschenbach’s Female Artists; Ulrike Tanzer, Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs. Ausführlich hierzu siehe die Bibliographie von Carsten Kretschmann. Zur neueren Literatur siehe auch die Literaturverzeichnisse der beiden neuen Textausgaben dramatischer Werke Ebners durch Susanne Kord, Letzte Chancen und Macht des Weibes. 16 Eda Sagarra, „Marie von Ebner-Eschenbach“, pp. 161-162. 17 Siehe dazu Astrid Weigert, Schriftstellerinnen als Aesthetikerinnen: Genre und Geschlecht in Romantik und Naturalismus am Beispiel von Dorothea Schlegel und Elsa Bernstein. 18 Susanne Kord, Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700-1900, p. 173. Einleitung 19 <?page no="21"?> 2 Vom Bildnis der Dichterin Wie sah Franz Kafka aus? Können wir uns Kafka anders vorstellen als mit ernstem Gesichtsausdruck, mit tiefen Augenhöhlen, mit scharf konturierten Gesichtsmerkmalen des von Krankheit Angegriffenen, mit jenen schroffen Qualitäten, welche auch die Strichmännchen kennzeichnen, die Kafka kritzelte? Ist er für uns anders denkbar als mit dem verschatteten Gesicht, auf dem man vergangenes Entsetzen oder jenes mit Sicherheit in Zukunft zu Erwartende in den leicht aufgerissenen Augen wahrnehmen kann, selbst dann, wenn sein Mund zu einem strichhaften Lächeln gezogen ist? Es gab durchaus, wenn man dem Freund Max Brod glauben darf, einen amüsanten und freudigen Kafka, der lachte und lebensfroh war. Die Tatsache freilich, dass wir Leser Kafka unverbrüchlich mit einem bestimmten Bild seiner Person verbinden - und dass er deswegen auch in publikumswirksamen Illustrationen immer wieder bildlich als der Melancholiker dargestellt wird - ist ein schlagendes Beispiel für die Art, wie eine durch Bildmedien geprägte Umwelt auch die Aufnahme von Literatur in der modernen Zeit zunehmend mitsteuert, wobei eine „unbelehrbare Projektion“ 1 ein bestimmtes Porträt des Schriftstellers auf ewig im öffentlichen Bewusstsein zu fixieren scheint. Wie sah Marie von Ebner-Eschenbach aus? Wenn wir uns überhaupt eine bildliche Vorstellung von ihr machen können, dann tritt eines ihrer Altersfotos vor unser Auge. Ein rundes, von Falten durchzogenes Gesicht mit einem zu breiten, etwas schmallippigen, immer geschlossenen Mund und freundlichen, etwas kleinen Augen. Ein nicht besonders „frauliches“ Gesicht, eher matronenhaft-herb, geschlechtslos fast, eine abgeplattete Nase, grobe Gesichtszüge, Haar im Knoten zusammengezogen, vielleicht eine schwarze Haube. So taucht sie in Literaturgeschichten auf, die Autorenfotos abbilden, 2 auch das Gutenberg-Projekt im Internet zeigt sie so. 3 Ein populärhistorischer Bildband wie Das Große Buch der Österreicher bildet sie sowohl auf dem Schutzumschlag - gleich unter einem Foto von Romy Schneider - wie im Buch selbst auf diese Weise ab. 4 <?page no="22"?> Tausendfach ist diese Darstellung auf den Gedenkbriefmarken zu Ebners 50. und 75. Todestag und zu ihrem 150. Geburtstag von der österreichischen und der deutschen Post in Umlauf gebracht worden, wobei besonders eine der Gedenkbriefmarken der österreichischen Bundespost Ebner auf eine beinahe groteske Art und Weise entstellt und stark androgynisiert. Wenn uns Abbildungen Ebner-Eschenbachs begegnen, dann sind es Varianten dieses Altersbildes, die damit immer wieder das altfrauliche und entsexualisierte Image Ebners bestätigen, erneuern und weitertragen. Die starre ikonografische Reduktion der Dichterin auf dieses Bildnis und dessen vermeintlich starre Bedeutung lässt sich zum Teil damit erklären, dass Ebner eben erst in fortgeschrittenem Alter bekannt und dann berühmt wurde. Ebner war fünfzig als Lotti, die Uhrmacherin 1880 erschien, die Erzählung, mit deren Veröffentlichung in der prestigeträchtigen Deutschen Rundschau Ebner-Eschenbach der Durchbruch beim Publikum gelang. Die großen öffentlichen Ehrungen und Huldigungen - etwa die Ehrendoktorwürde der Universität Wien im Jahr 1900 5 - fielen gar in ihr siebtes und achtes Lebensjahrzehnt. Vom Bildnis der Dichterin 22 Briefmarke der Österreichischen Bundespost zum 50. Todestag, 1966 <?page no="23"?> Vom Bildnis der Dichterin 23 <?page no="24"?> In dieser Hinsicht steht es mit Ebner ähnlich wie mit Theodor Fontane, der ja sogar erst mit bald sechzig Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte. Fotografisch steht Fontane uns als eine Art märkischer Mark Twain mit großem Schnauzbart und widerspenstiger grauer Mähne vor Augen, der in die märkische Ferne schaut. Gerade weil dieses Bild so in eins gesetzt ist mit dem, was und wer Fontane als Schriftsteller ist, wirbt der Verlagsprospekt für die Brandenburger Ausgabe seiner Werke mit einem solchen Foto. Die dabei verwendete Fotografie, die letzte Aufnahme von Fontane, weist aber auch auf einen anderen Aspekt des Verhältnisses zwischen dem fotografierten Dichter und dem Bild hin, das sich die Öffentlichkeit von ihm macht. Denn es handelt sich hier um eine von Fontane sehr bewusst komponierte Darstellung seiner Selbst. In sinnträchtiger Atelierinszenierung platzierte er ein Bild seiner Frau und den ehernen Abguss von Moltkes Hand mit Schwanenfeder neben seine eigene, auf einem kleinen Tisch ruhende Hand. Das sind Zeichen dafür, wie er versuchte, die „Bedeutung“ des Bildes - und damit nicht zuletzt die öffentliche Aufnahme seiner Person und seiner Werke - mit zu kontrollieren und auf Erwartungshaltungen des Publikums zu reagieren. Freilich werden gerade diese Requisiten bei Wiederabdrucken des Fotos als sentimentaler Schnickschnack weggeschnitten und jene „unbelehrbare Projektion“ des Lesepublikums (oder der Herausgeber), von der Wilhelm Genazino schrieb, setzt sich so gegenüber Fontanes Inszenierungsversuch durch. 6 Doch obgleich sowohl Fontanes als auch Ebners öffentliches Image von Altersphotos bestimmt sind, ist ein größerer Unterschied zwischen dem Bild des alten Fontane und dem der alten Ebner- Eschenbach kaum vorstellbar, denn das Alter wird geschlechtsabhängig interpretiert. Es ist eben etwas anderes, wenn eine Frau alt ist, da ihr die beiden traditionellen fraulichen Merkmale, die Schönheit und die erotische Austrahlung, dann abhanden kommen. Ebner selbst hat diesen Unterschied mehrfach in ihren Werken thematisch aufgegriffen, etwa im zentralen Konflikt der Künstlernovelle Agave (1895) und am markantesten wohl in Am Ende (1900). In dieser „Scene in einem Aufzug“, dem meistgespielten Dramentext von Ebner, sieht ein geschiedenes Fürstenpaar sich nach Jahren der Trennung wieder und überdenkt das vergangene Leben sowohl im Gespräch als auch in reflektierenden Kommentaren an das Publikum. Dabei 24 Vom Bildnis der Dichterin <?page no="25"?> geht es vor allem um das Altern und wie das Altern zu einer negativen Bewertung von Frauen benutzt wird. „Traurig verändert; eine Greisin. Ja die Frauen! - vergängliche Gebilde“ sagt der sich als Salonlöwe gerierende Mann, der sich selbst mit Hilfe von verlaufender Haarfarbe und anderen Verjüngungsmaßnahmen den Zeichen des Älterwerdens entziehen will. Seine ehemalige Frau reißt schonungslos die Projektionen und die verstellenden Selbstbildnisse fort und gibt sie in Bemerkungen in den Zuschauerraum dem Spott preis. 7 Am Ende - und in diesen vielschichtigen Titelworten ist sowohl das Lebensende gemeint wie auch das Ende jener herabwürdigenden und an das Geschlecht gebundenen Bewertungen - ist der Mann tatsächlich am Ende, überlässt der Frau ganz die Entscheidungsgewalt und ist darauf angewiesen, dass sie ihn wieder bei sich aufnimmt. Ungeachtet solcher Kritik an der geschlechtsgesteuerten Bewertung des Alterns lässt sich auch bei Ebner beobachten, wie sie das Bild der eigenen Person und damit die Aufnahme der Schriften in einer sich immer mehr auf bildliche Medien stützenden Publizität mit Hilfe der Fotos aus dem Alter zu steuern sucht. Zwar geht sie nicht so weit wie etwa Arthur Schnitzler oder Thomas Mann, die beide ein sehr gezieltes Management ihrer fotografischen Abbildungen auf die gewünschte öffentliche Person hin anstrebten und ihre fotografische Selbstinszenierung sorgfältig choreographierten. 8 Aber auch sie ließ Korrespondenzkarten mit Fotos oder anderen Abbildungen in der Tradition der carte-de-visite von Disdéri anfertigen, 9 auf denen sie sich als gesetzte Frau, nicht selten am Schreibtisch oder doch lesend postierte. Diese Karten nutzte Ebner gern, um kurze Mitteilungen an Freunde und Bekannte zu verschicken - und dabei gleichzeitig eine bestimmte fotografische Darstellung ihrer eigenen Person immer wieder unter die Leute zu bringen. Der Briefwechsel mit ihrem Freund und Herausgeber der Westermannschen Illustrierten Monatshefte Adolf Glaser etwa, der im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird, enthält eine ganze Reihe von diesen Bildkarten. Die Korrespondenz mit der Porträtmalerin Marie Müller verdeutlicht, wie bewusst Ebner die Zirkulation ihres Konterfeis einsetzen wollte, um ihren Ruhm zu befördern und auch für den Nachruhm schon vorzubauen. Dankbar für ein Ganzporträt, das sie dann auch als Fotografie verschicken möchte, schreibt sie an Müller am 21.3.1902: „Ei- Vom Bildnis der Dichterin 25 <?page no="26"?> ligst würde ich eine Anzahl dieser Bilder in die Welt senden.“ Einige Wochen später: „Mein großer Wunsch wäre es, von dieser Heliogravure, Photographien auf Cor.[respondenz] Karten machen zu lassen.“ Der Hinweis auf das eigene Bild kann sogar einen beinahe obsessiven Ton annehmen, wenn das Offensichtliche noch einmal hervorgehoben und betont wird. So schickt Ebner-Eschenbach die folgende Notiz: „Ich danke auf einer C.K. [Correspondenzkarte] mit meinem werten Bilde“ - als ob die Freundin das nicht sogleich gesehen hätte! Das Bild übernimmt die Stellung der Autorin, deren Nachleben damit abgesichert werden soll: „Ja, diese Korrespondenz-Karte wollen wir vervielfältigen u[nd] in der ganzen Welt herumschicken lassen u[nd] sie soll die einzige sein die dableibt, wenn ich nicht mehr dasein werde,“ heißt es in einem Brief Ebners vom 9.2.1905 in klarer Offenheit und drückt nur expliziter aus, was immer wieder Thema in diesem Briefwechsel ist. 10 Diese Überlegungen legen nahe, dass wir die eingangs gestellte Frage, wie Marie von Ebner-Eschenbach aussah, präzisieren sollten und zwar dahingehend, wie Marie von Ebner-Eschenbach als Schriftstellerin aussah. Aber auch das ist noch nicht geklärt, denn 26 Vom Bildnis der Dichterin Korrespondenzkarte mit Altersbild <?page no="27"?> ganz offensichtlich besteht ein komplexes und wechselseitiges Verhältnis zwischen dem Porträt einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers, dem öffentlichen „Bild“, das von dieser Person existiert, und der Aufnahme und Interpretation der literarischen Werke. Eine solche Wechselbeziehung beginnt sich schon anzubahnen in dem Usus, Porträt-Stiche von Autoren auf den Vorsatzblättern zu drucken, wie wir es besonders auch aus den vielen Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts kennen, die billigen Zugang verschafften zum geistig-literarischen „Erbe“. Aber erst mit der technischen Weiterentwicklung durch die Fotografie wird diese Beziehung durchschlagend wirkungsmächtig. Bündig und allgemein fassen diesen Aspekt der Literaturgeschichte Michael Davidis und Mathias Michaelis in einem Band des Marbacher Magazins zusammen, der dem „photographierten Dichter“ und den Bildträgerbeständen des Marbacher Literaturarchivs gewidmet ist. „Die Erfindung der Photographie und der photomechanischen Reproduktionsverfahren im neunzehnten und die Verbreitung der modernen Bildmedien im zwanzigsten Jahrhundert“ habe, so die Autoren, „sich nicht nur auf individualpsychologische und sozialhistorische Analyse, sondern auch auf die populäre Rezeption von Literatur ausgewirkt.“ 11 An einer Reihe von Beispielen lässt sich diese Entwicklung sinnfällig machen, und dies wird zur Beantwortung der gestellten Frage beitragen. Dabei wollen wir etwas weiter ausholen und auch diesen sonst nur wenig behandelten Aspekt der Rezeptionsgeschichte von Schriftstellern streifen, der unter zwei Gesichtspunkten spezifisch modern ist. Einerseits, da er an technische Bedingungen geknüpft ist, die eine unkomplizierte und damit billige Vervielfältigung und Verbreitung der Bilder ermöglichen; des Weiteren, weil diese Konzentration auf das individuelle Angesicht, die die Eigenart des individuell künstlerisch Schaffenden in seiner Physiognomie erkennen will, zur aufklärerisch-empfindsamen - also modernen - Tradition gehört, wie sie als literarisch-philosophische in Lavaters Physiognomische Fragmente (1775-78) ausdrucksstark hervortritt. Die beißende Kritik des Aufklärers Georg Lichtenberg an Lavater ändert daran nichts. Auch die kunstgeschichtliche Beschäftigung hebt diese Modernität der Porträtfotografie hervor. Dass wir uns hier die Frage stellen, wie Marie von Ebner-Eschenbach als Autorin aussah, ist mitbestimmt von einer mediengeschichtlichen Rezeptionslandschaft, die Vom Bildnis der Dichterin 27 <?page no="28"?> situiert ist in einer von Bildmedien gesättigten Welt, in der das „Foto zum Maßstab der Art und Weise geworden [ist], in der uns die Dinge erscheinen, und damit dem Begriff der Wirklichkeit als solchem [...] einen neuen Inhalt gegeben [hat],“ 12 wie Susan Sontag in ihren berühmten Essays zur Fotografie schrieb. Wir leben in einer Welt, deren Modernität nicht zuletzt davon charakterisiert ist, dass in ihr laufend Bilder produziert und konsumiert werden. 13 Gehen wir ein wenig in die Geschichte dieser Verbindung zwischen fotografiertem Autor und Literaturgeschichte zurück. Das erste umfassende historische Beispiel für diese Verbindung in Deutschland ist der monumentale Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur von Gustav Könnecke aus dem Jahr 1887, mit dem die als Bildband aufgemachte Literaturgeschichte glorios die Bühne betritt. Wie in einem großartig angelegten Museum wird die Ahnenreihe der deutschen Literatur bis in die Gegenwart ausgebreitet. Könnecke versammelte 2200 „quellenmäßige Abbildungen“ 14 und 14 Beilagen in einem Prachtband, der die ersten Jahrhunderte der behandelten Zeit durch Darbietungen von Faksimiles der Handschriften erfasst. Erst mit der Neuzeit mehren sich die Porträts der Autoren und Autorinnen, schließlich als Abdrucke von Fotoporträts, die in Reih und Glied die gesamte Seite einnehmen. (Ebner erscheint übrigens als Frau mittleren Alters, also etwa so, wie sie zur Zeit der Publikation wohl ausgesehen haben wird.) Die zunehmende Serialität der Abbildungen führt die Dialektik von technologisch ermöglichter Darstellung von Individualität und von durch Technologie erzeugter Vermassung schlagkräftig vor Augen. Auch wenn dies zu demonstrieren sicher nicht Könneckes Absicht war, belegen diese letzten Teile seines Bilderatlas jene Signatur der modernen Wahrnehmung, die Walter Benjamin als die „Zertrümmerung der Aura“ fassen wollte, und „deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“ 15 Deutlich tritt bei Könnecke der positivistisch-historistische Geist seiner Unternehmung in den Vordergrund, mit den Bildern allen Freunden der deutschen Literaturgeschichte reiches Material zu liefern und dadurch erst die Bedeutung der Literatur zu erschließen. Die Züge der einzelnen Dichter und Schriftsteller treten lebendig vor die Augen der Betrachtenden, ihre Werke werden erst dadurch ver- Vom Bildnis der Dichterin 28 <?page no="29"?> ständlich, daß man auch ein treues Bild ihrer äußeren Erscheinung bekommt. 16 Die positivistisch angehäuften Bilddokumente sollen also durch ihre auch sinnlich ansprechende Art, durch ihre „äußere Erscheinung“ einen direkten Zugang ermöglichen zum essentiellen Sinn des literarischen Werks, dessen Bedeutung damit „verständlich“ wird. In den Hintergrund treten dabei die Möglichkeiten einer manipulierenden Steuerung eines solchen Rezeptionsvorgangs: dass das Foto in seiner für die damalige Zeit überraschenden Präzision der Realitätsabbildung eine andere als dokumentarische und verdeutlichende Funktion haben könnte, taucht in Könneckes Darlegung als Möglichkeit nicht auf, denn das Bild ist für ihn „treu“. Wie Könneckes Atlas eingebunden ist in den spezifischen medien-historischen Kontext seiner Zeit, so auch Gero von Wilperts sehr viel bescheidener aufgemachter, deswegen aber für uns nicht weniger aussagekräftige, Band Deutsche Literatur in Bildern, der genau siebzig Jahre später, 1957, im Stuttgarter Kröner Verlag erschien. Dieser Bildatlas entspricht ganz dem intellektuellen Habitus der konservativen Aufbaujahre der Bundesrepublik, deren restaurative politische und gesellschaftliche Tendenzen zugleich von enormen technologischen und wirtschaftlichen Innovationsschüben überlagert werden. Die dadurch auftretenden Spannungen thematisiert nicht zuletzt eine der typischen Filmgattungen dieser Zeit, der Heimatfilm, wo sie als Auseinandersetzung mit den Modernisierungstendenzen der Zeit sogar stilbildend wirken. (Im letzten Kapitel dieses Buches werde ich ausführlicher anhand verschiedener Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs Geschichte „Krambambuli” darauf eingehen.) Die Innovationsschübe der Zeit machen sich u.a. durch die verstärkte Präsenz der visuellen Medien bemerkbar, sowohl von Kinofilmen als auch - und besonders - durch die Entwicklung des Fernsehens zu einem der Leitmedien im Verlauf der fünfziger Jahre. 17 Dies wurde im konservativen Kontext als große Herausforderung an die traditionellen Schriftmedien und die mit ihnen verbundenen Kulturpraktiken empfunden, zumal die Möglichkeit propagandistischer Manipulation aller Medien den Menschen scharf ins Bewusstsein getreten war. Die kultur-konservative Abwehrhaltung gegenüber der „Oberflächlichkeit“ der Bildmedien erkennt man deutlich auch in Wilperts Buch, obwohl eine solche Position für den Vom Bildnis der Dichterin 29 <?page no="30"?> Herausgeber eines Fotobandes auf den ersten Blick paradox erscheint. Verständlich wird diese Einstellung aus den klar artikulierten theoretischen Prämissen, die gemischt sind aus geistesgeschichtlicher Literaturbetrachtung und werkimmanenter Literaturinterpretation. Im Gegensatz zu Könneckes emphatisch monumentalem Geschichtsverständnis steht Wilperts beinahe ängstlich nachkriegszeitliche Vermeidung geschichtlicher Gebundenheit und Konkretation. Wilpert will sich damit ganz auf innerliterarische Aspekte der Werke beziehen - auf die „Idee“ und den abstrakten geistigen „Gehalt“ der Literatur - also gerade nicht auf das Äußerliche, das in der Fotografie erfasst wird. Wohl auch seine eigene Zwiespältigkeit gegenüber dem Unternehmen artikulierend, formuliert er in einem geradezu protestantisch-worthörigen Gegensatz zur emphatischen Bilderlust eines Könnecke: Wesensgemäß ist Literatur nicht vom Bilde her fassbar und Literaturgeschichte als geistige Bewegung nicht durch Illustration darstellbar. Der Bereich des Darstellbaren bleibt in der äußeren Sphäre des Darzustellenden, der Physiognomie, der Biographie. 18 Die Vorstellung von Literatur als Form des Geistes und von Literaturgeschichte als „geistige Bewegung“ negiert die Verwobenheit von Literatur in ihre materiellen und geschichtlichen, vor allem auch medialen Kontexte und versucht, sie ihnen in das Reich der ästhetischen Abstraktion hin zu entreißen. Daher wehrt Wilpert auch alles, was Hülle, was „äußerlich“ ist, ab. Und was könnte in diesem Sinne „äußerlicher“ sein als die Fotografie? Der Band besteht dann auch aus einer eher lustlosen Bildergalerie von in Reih’ und Glied wiedergegebenen Autorenporträts. Ebner ist hier mit einem der typischen Altersfotos vertreten. Wider Willen hebt allerdings die geballte Visualität der Autorenfotos, die eben dann doch als zur Literatur gehörig erscheinen, die Sperrigkeit hervor, mit der die materielle Welt in die rein geistigen Sphären der Wilpertschen Literaturbetrachtung eindringt. Die Porträts in diesem Band sind eher reportagehaft abbildend. Mit diesem vorrangig dokumentarischen Charakter fehlt ihnen weitgehend das über die Abbildung hinausgehende Element, jenes „sezierende Analysieren des Habituellen“, 19 wie es der hohen Porträtfotografie eigen ist. Gerade deswegen verdeutlichen die Fotos besonders augenfällig, wie die für sie charakteristische „materielle Spur“ 20 sie widerspenstig hält gegenüber der theoretischen oder doch theoretisierenden Reflexion. Die Wucht der 30 Vom Bildnis der Dichterin <?page no="31"?> fotografischen Präsenz setzt sich durch gegen ihre von Wilpert angestrebte Auflösung oder Negation. Gegen die ausdrückliche Intention Wilperts setzen sich hier Fotos als Bedeutungsträger für die Literatur durch. Mit einem dritten Beispiel nähern wir uns unserem eigenen mediengeschichtlichen Ort, wo das Mit- und Ineinander von Literatur und Fotografie alltägliche Erfahrung ist und ein Baustein für alles, was man „Literaturbetrieb“ zu nennen pflegt. Fotografische Autorenporträts im und um das Buch sind für uns heute selbstverständliche Aspekte des literarischen Lebens, ob gedruckt oder virtuell auf Webseiten. Kaum ein Schutzumschlag, den nicht das Foto der Autorin oder des Schriftstellers schmückte, überall Bildbände nach dem Schema „Kafkas Prag“ oder „Schnitzlers Wien“, literaturwissenschaftliche Einzelstudien in Fotos oder die fotografische Dokumentation literaturgeschichtlicher Epochen in Autorenporträts, jede Internetseite ziert ein Bild. 21 Jan Feders Anmerkung zu einem Sammelband von Literatenporträts der berühmten Fotografin Isolde Ohlbaum rückt diese innige Beziehung zwischen Foto und Literaturbetrieb klar ins Bild: Mit der Kamera immer dabei ist Isolde Ohlbaum. Auch sie gehört zum Literaturbetrieb. Sie ist sein optischer Chronist. Ihre Fotos werden überall gebraucht - in Branchenblättern, Literaturmagazinen, Zeitungen und Zeitschriften, in Verlagskatalogen und Verlagsalmanachen. 22 Zwar macht Feder auf die Vielfalt der Stellen aufmerksam, an denen Fotografie die Literatur im Medienbetrieb vermarktet, selbstdarstellend wirkt und für sich einzunehmen scheint, aber es bleibt für ihn doch ein Verhältnis eindeutiger Rangunterschiede, in denen Literatur und Literaturbetrieb vom Fotografen lediglich dokumentiert, nicht mitbestimmt werden. Dabei ist offenkundig, dass die Beziehung zwischen Literatur und Foto heute nur unzureichend beschrieben ist, wenn man sie nicht als starke Wechselwirkung betrachtet, die sowohl die Literatur als auch die Porträtfotografie entscheidend mitbestimmt. In unserer bildfreudigen und sehsüchtigen Welt sind Literatur und ihre Geschichte eben nicht nur „Geschichte der Texte“, sondern, wie Wendelin Schmidt-Dengler hervorhebt, auch die Geschichte derjenigen, die diese produzieren, ja es scheint neben dem Text im engeren Sinne auch ein Nebentext zu entstehen, der sich aus den Bildern formt, die zu einer großen Bildgeschichte sich zusammensetzen lassen. 23 Vom Bildnis der Dichterin 31 <?page no="32"?> Das widerspricht zwar modernen und auch postmodernen ästhetischen Vorstellungen, die davon ausgehen, dass der Schreiber als Person ganz hinter seinem Text verschwindet - oder verschwinden sollte. Im Bereich der Theorie gab Jacques Derrida dieser Vorstellung schlagend körperhaften Ausdruck, da er sich von 1962 bis 1979 nicht fotografieren ließ, um die Auslegung seiner Schriften frei zu halten von Beeinflussungen durch sein Konterfei. Im Gegensatz dazu bestätigen Autoren, die, gerade weil sie sich dem Fotografieren verweigern, besonders bekannt sind - Thomas Pynchon und J.D. Salinger kommen da sogleich in den Sinn -, ex negativo die Bedeutung des Bildes für die Rezeption, als dass sie sie negieren. Die meisten Autoren und ihre Verlage sowie die meisten Leser kümmern sich schlicht nicht um die diversen Theorieproklamationen und insistieren weiterhin auf dem „naiven“, man könnte auch sagen „vitalen“, Leserwunsch, das Geschriebene in einen Zusammenhang zu setzen mit denen, die die Texte produzierten. Damit erweisen sie sich gegen die abstrakten Vorschriften der akademischen oder auch professionellen Leser als widerständig. Der Autor ist das Bild des Autors. Der Autor mag tot sein, aber es lebe das Bild des Autors. Nach diesem knappen Ausflug in die Geschichte der Verbindungen zwischen porträtiertem Schriftsteller und Literatur können wir vielleicht noch einmal versuchen, präziser zu fragen. Begonnen hatte es mit der Frage, wie Marie von Ebner-Eschenbach aussah. Das fassten wir dann genauer: Wie sah Marie von Ebner-Eschenbach als Schriftstellerin aus? Nun ist allerdings deutlich geworden, dass hier ein Tempuswechsel nötig ist, um unsere eigene mediengeschichtliche Positionierung deutlicher zu machen. Die Frage sollte also wohl sein, wie Marie von Ebner-Eschenbach heute als Schriftstellerin aussieht, d.h. welche fotografisch-bildliche Präsenz sie im literarischen Leben heute hat. Dominant ist da sicherlich weiterhin das eintönige Altersporträt vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Darin besteht eine arge Reduktion der bildlichen Darstellung, selbst gegenüber dem sonst so oft gescholtenen ersten Biographen Ebner- Eschenbachs, Anton Bettelheim, der in seiner Biographie durchgehend Bilder aus allen Lebensabschnitten Ebner-Eschenbachs abbildete. Aber von dieser Zeit ausgehend fand eine laufende Verengung auf die altersweise Ebner statt, die besonders sinnfällig darin wird, dass auf den verschiedenen Internetseiten, die es zu ihr gibt, vor- 32 Vom Bildnis der Dichterin <?page no="33"?> nehmlich drei Altersfotografien immer und immer wieder zu sehen sind und in ihrem Kopieren das traditionelle Image perpetuieren. Gegen diese Verengung des öffentlichen Bildes von Ebner- Eschenbach gibt es aber doch auch andere Bilddokumente, die sie als eine junge Frau vor uns erscheinen lassen, die lebensfreudig und sich gegen schnelle Eindeutigkeiten sperrend in die Welt tritt. Sybil Gräfin Schönfeldt bezog eine Reihe dieser Jugendporträts ein in ihren inhaltlich ansonsten eher das traditionelle Ebner-Bild weiterführenden Band. 24 Ganz dezidiert greifen Doris Klostermaier und Ulrike Tanzer für die Umschläge ihrer Bücher auf Bildnisse oder Fotos der jungen Ebner zurück, um damit programmatisch für jenes andere Ebner Bild zu werben, das sie in ihren Büchern entwerfen wollen. Enno Lohmeyers Buch bildet sie als energische Frau mittleren Alters ab - gerade richtig für eine Schriftstellerin, die als „Sozialreformerin“ vorgeführt werden soll. 25 Die Fotos auf den Schutzumschlägen dieser neuen Bücher sind ebenso wie die zirkulierenden Altersbilder ein Index dafür, wie Ebner heute als Schriftstellerin aussieht, wie sie Lesern vorgestellt wird und wie diese sie sehen, in welchen „unbelehrbaren Projektionen“ der Herausgeber und der Leserschaft Ebner gefangen bleibt, auch wenn man sich ein anderes Bildnis machen kann. Nach diesen Ausführungen können wir also unsere neuformulierte Frage, wie Marie von Ebner-Eschenbach heute als Schriftstellerin aussieht, schriftlich noch immer nicht bündig beantworten. Aber die folgenden Porträts können die Spannung zeigen, die uns in den folgenden Kapiteln durchgehend beschäftigen wird. Vom Bildnis der Dichterin 33 <?page no="34"?> 34 Vom Bildnis der Dichterin <?page no="35"?> Vom Bildnis der Dichterin 35 Marie von Ebner-Eschenbach als Braut, 1848 <?page no="36"?> Anmerkungen 1 Wilhelm Genazino, „Die Schrift im Gesicht“, p. 16. Eine ähnliche Beobachtung macht Ralf Georg Czapla am Beispiel der Bewunderer von Wilhelm Raabe, welche die Qualität der Büsten und Denkmäler für diesen Dichter nicht vornehmlich nach dem Grad der objektiven Wiedererkennbarkeit beurteilten, sondern danach, „inwieweit in ihnen die als typisch ‘raabisch’ empfundenen Tugenden zum Ausdruck kamen“. Siehe Ralf Georg Czapla, „Ein Porträt des Künstlers als alter Mann“, p. 11. 2 Siehe zum Beispiel Werner Kohlschmidt, Geschichte der deutschen Literatur. Bd. IV: Vom Jungen Deutschland bis zum Naturalismus, Bildtafel vor p. 641. - Einen Überblick über späte gemalte Ebner-Porträts gibt Erwin Streitfeld in „Ein bisher verschollenes Porträt der Marie von Ebner-Eschenbach. Zu seiner Wiederentdeckung nach 100 Jahren“. Dieser Beitrag enthält auch eine Reihe von Abbildungen der älteren Ebner. 3 Siehe http: / / gutenberg.spiegel.de 4 Das Große Buch der Österreicher, p. 84. 5 Siehe Doris M. Klostermaier, Marie von Ebner-Eschenbach. The Victory of a Tenacious Will, pp. 238-241. 6 Vgl. Peter C. Pfeiffer, „Moltkes Hand: Zur Darstellung von Geschichte bei Fontane“, bes. p. 29. 7 Marie von Ebner-Eschenbach, Am Ende. Scene in einem Aufzug, p. 8; siehe die knappen Anmerkungen zu diesem Einakter bei Sarah Colvin, Women and German Drama, p. 21, und die „Einleitung“ in Susanne Kords neuer Ausgabe Letzte Chancen. Vier Einakter von Marie von Ebner-Eschenbach. 8 Wilhelm Genazino, „Die Schrift im Gesicht“, pp. 14-15. 9 Zu dieser Tradition siehe Klaus Honnef, „Porträts im Zeichen des Bürgertums: Etappen einer Entwicklung - betrachtet in einem bestimmten Licht“. 10 Siehe Die Portätmalerin Marie Müller 1847-1935. Leben und Werk, pp. 134 und 147. Das Datum des Briefes ist fälschlich als 1902 angegeben. 11 Michael Davidis, Mathias Michaelis, „Der photographierte Dichter“, p. 1. 12 Susan Sontag, Über Fotografie, p. 86. 13 Susan Sontag, Über Fotografie, p. 146. 14 Gustav Könnecke, Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur. Eine Ergänzung zu jeder deutschen Litteraturgeschichte, „Prologus“, p. IV. 15 Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, p. 379. 16 Gustav Könnecke, „Prologus“, p. IV. 17 Die reguläre Ausstrahlung des Programms in der Nachkriegszeit begann am sinnträchtigen 25. Dezember 1952. Gegen Ende des Jahrzehnts hatte sich die Zahl der Apparate von nur etwa 300 im Jahre 1952 auf mehrere Millionen erhöht. Vgl. Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Jürgen Wilke, vor allem der Aufsatz des Herausgebers „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, pp. 302-329 und Peter Ludes, „Programmgeschichte des Fernsehens“, pp. 255-276. 18 Gero von Wilpert, Deutsche Literatur in Bildern, p. V. 36 Vom Bildnis der Dichterin <?page no="37"?> 19 George F. Schwarzbauer, „Das Künstlerporträt in der Fotografie des 20. Jahrhunderts”, p. 246. 20 Susan Sontag, Über Fotografie, p. 147. 21 Beispielhaft seien hier nur genannt: Karl Corino, Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten; Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben; Volker Kaukoreit und Ina Pfoser, Die österreichische Literatur seit 1945. Eine Annäherung in Bildern. 22 Isolde Ohlbaum, Deutscher Literaturbetrieb heute. Bilder einer Branche, p. 6. 23 Wendelin Schmidt-Dengler, „Einleitung“, p. 16. 24 Sybil Gräfin Schönfeldt, Marie von Ebner-Eschenbach: Dichterin mit dem Scharfblick des Herzens. 25 Siehe Doris M. Klostermaier, Marie von Ebner-Eschenbach. The Victory of a Tenacious Will; Ulrike Tanzer, Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs; Enno Lohmeyer, Marie von Ebner-Eschenbach als Sozialreformerin. Vom Bildnis der Dichterin 37 <?page no="39"?> 3 Autobiographie als Manifest der Autorin Meine Kinderjahre (1905) Männer schreiben ästhetische Traktate. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gilt diese Verallgemeinerung selbst noch für zweit- oder drittrangige Schriftsteller, die sich beinahe immer wie selbstverständlich auch theoretisch reflektierend zu ästhetischen Problemen der Literatur oder ihrer Autorschaft äußern. Das Prestige, welches abstrakte Gedanken - der Geist - verleihen, ist tief eingegraben in die westliche Tradition. Wie sehr, das zeigt sich gerade auch an solchen Autoren, die eigentlich von eher theoriefremder Wesensart sind. Marie von Ebner-Eschenbachs Beinahe-Zeit- und Landesgenosse Adalbert Stifter etwa - er war ja nur 25 Jahre älter - verlangte sich eine Reihe theoretisierender Essays ab und setzte mit der berühmten, aber dewegen nicht auch gleich sonderlich ergiebigen literatur-programmatischen „Vorrede“ zu seiner Novellensammlung Bunte Steine ganze Germanistengenerationen ins Brot. 1 Von solchen abstrakt-programmatischen Dingen findet sich bei Ebner-Eschenbach nichts. Das ist typisch für weibliche Autoren der Zeit. Ihre Zeitungsessays aus dem Jahr 1894 zu Betty Paoli (Pseudonym von Elizabeth Glück) und Louise von François hätten vielleicht einen Anlass bieten können zu solchen Auslassungen, stellen aber eher konventionell und beinahe langweilig positivistisch die Autorinnen vor. Wenn auch unausgesprochen, geht es dabei wohl nicht zuletzt darum, beide als Mitstreiterinnen bei der Etablierung einer ernstzunehmenden zeitgenössischen Literatur von Frauen zu begreifen. Rezensionen und andere Aufsätze von Ebner gibt es praktisch nicht, oder sie bleiben - wie etwa die Besprechung eines Romans von Ebners Altersfreundin Handel-Manzetti - ebenso blass wie die Aufsätze zu Paoli und François. Lediglich die längere Reminiszens Meine Erinnerungen an Grillparzer, die 1915 erst in Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte erschien und dann im Jahr darauf, dem Todesjahr Ebners, gemeinsam mit Aus einem zeitlosen Tagebuch als kleines Bändchen herauskam, wäre hier noch zu nennen. Die Diktion bleibt dort ganz im biographisch Berichtenden, selbst wenn sich bei genauerem Hinsehen herausstellt, dass es hier nicht nur um den berühmten Schriftsteller und sein Werk geht, <?page no="40"?> sondern dass der Text mindestens ebensosehr von den Schwestern Fröhlich und deren Bedeutung für Grillparzer und sein Werk handelt. Man kann diese Schrift dabei durchaus als eine vom konkreten Einzelfall gelenkte Meditation darüber lesen, wie die männliche kreative Produktivität von weiblicher Unterstützung nicht nur abhängig ist, sondern zuallererst durch sie ermöglicht wird. Auch an anderen Stellen, wo man wenigstens halb heimlich geschriebene theoretische Versuche vermuten könnte, wird man bei Ebner nicht recht fündig. Weder die veröffentlichten noch, wenn man meiner (allerdings unvollständigen) Durchsicht der Archive trauen darf, die unveröffentlichten Briefe sind hier sehr aussagekräftig. Tagebücher und Notizhefte bleiben, was diesen Aspekt angeht, eigentümlich verschwiegen und geben keinen guten Einblick in den Schaffensprozess Ebners - und schon gar nicht in grundsätzlichere ästhetische Positionen. Während also die landläufige Art theoretischer oder programmatischer Äußerungen zur eigenen Literatur und zu ästhetischen Problemen bei Ebner weitgehend nicht zu finden sind, stellt sie ihre eigene Entwicklung zur Schriftstellerin ins Zentrum ihrer Autobiographie Meine Kinderjahre (1905). Diese Autobiographie - eine der ersten in deutscher Sprache, die von einer Frau zu Lebzeiten veröffentlicht wurde 2 - bietet Ebner die Gelegenheit, sich gegen Ende ihres Lebens rückschauend auf die ersten und alles entscheidenden Schritte als Autorin zu besinnen und damit auch Rechenschaft zu geben über ihr Schreiben und ihr Schriftstellertum. Das Vokabular, in dem dabei ästhetische Positionen verortet werden, ist ein anderes als es männlichen Kollegen aus einer langen Tradition ästhetisch-abstrakter Selbstreflexion bereitsteht. Aus diesem Grund wird der programmatische Aspekt des Textes erst dann erkennbar, wenn man die Darlegungen über die Entwicklung der kleinen Marie als Figurationen „theoretischer“ Positionen liest und so in einen theoretisierenden Diskurs überträgt, der dann Fingerzeige auf besondere Aspekte der Novellen, Erzählungen, Dramen und Romane Ebners geben kann. Um Ebners Positionen adäquat erfassen zu können, muss man sich auf diese andere Art der ästhetischen Reflexion und Gedankendarstellung einlassen. Als Mädchen und Frau war sie aus der männlich bestimmten Tradition der ästhetischen Reflexionen schon auf Grund der Erziehung und der geschlechtsgesteuerten Bildungsideale weitgehend 40 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="41"?> ausgeschlossen. Diese Traditionslosigkeit, das Fehlen der Möglichkeit, sich als weibliches Subjekt im Bildungskanon des Abendlandes historisch-kulturell anders als in der vorgezeichneten Weise verankern zu können, thematisiert Ebner ausdrücklich in Meine Kinderjahre als sie ihre Leseerfahrung einer Lessing-Biographie kommentiert: Weil er [Lessing] ein Bub war, d u r f t e er [die Sprachen lernen], er m u ß t e sogar Griechisch lernen und Latein. Von seinen Lippen tönte die Sprache, in der Themistokles, Demosthenes, Cäsar, Titus geredet haben. Zum Ruhme gereichte ihm sein Glück ... Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht, schickt sich alles nicht für ein Mädchen! Himmelhoch türmten sich die Mauern vor mir empor, zwischen denen mein Dichten und Trachten sich zu bewegen hatte, die Mauern, die mich - umfriedeten. (MK 114) Was sich für sie vor allem nicht schickte, war ihr Schriftstellertum, ihr Insistieren darauf, eine ernsthafte Schriftstellerin werden zu wollen. Die inzwischen berühmte Ebner zeichnet in ihrer Autobiographie nach, wie sie das in entscheidenden Entwicklungen in ihren Kinderjahren doch wurde, gegen alle familiäre und gesellschaftliche Ablehnung - und letztlich, wie die alte Ebner ja wusste, berechtigt und mit überragendem Erfolg. Aus dieser Perspektive ist Meine Kinderjahre auch die Darstellung und nachträgliche Rechtfertigung jener Regelverstöße und jener selbständigen, gegen die vorgeschriebenen Lebensentwürfe sich sträubenden Durchsetzungskraft, die Ebner zum Erfolg führten. Von daher kann Meine Kinderjahre als Manifest der Autorin auch interpretatorische Hinweise bieten, nicht nur im Sinne von Selbstaussagen, die ja immer mit Vorsicht zu genießen sind, sondern auch, indem die Autobiographie gegen den Strich gelesen auf verdeckte Sinnebenen der fiktiven Werke hinweist und so eine Art „doppeltes Lesen“ ermöglicht, in welchem Autobiographie und fiktive Werke sich gegenseitig erhellen können. 3 Bevor wir uns der Autobiographie zuwenden, sei eine kleine Abschweifung über einen etwas kuriosen Aspekt von Ebners Unterstützung des Altsprachenunterrichts erlaubt, der ein doppeltes Schlaglicht wirft sowohl auf das bildungspolitische Umfeld und die damalige Bedeutung des Unterrichts in den klassischen Sprachen, wie Ebner ihn im obigen Zitat anspricht, als auch auf die Art, wie Meine Kinderjahre (1905) 41 <?page no="42"?> eine weibliche Perspektivierung eines Themas zu völlig anderen Schlüssen führen kann. Ebner setzte sich öffentlich dafür ein, dass eine altphilologische Schulung allen Schüler und Schülerinnen zugänglich gemacht werde. Darin sah sie die Ermöglichung einer ungezwungenen Teilhabe an der westlichen Tradition, oder, wie sie es in der Autobiographie ausdrückte, „mit unsterblichen Menschen wie mit Freunden [umgehen zu dürfen], und einzudringen in ihre leuchtende Gedankenwelt“. (MK 114) Die vorderhand konservative Position hat bei Ebner, wenn man die oben angegebenen Zitate berücksichtigt, vor allem eine auf Mädchen gerichtete emanzipatorische Intention, die dem alten sozialreformerischen Slogan „Bildung macht frei“ eng verwandt ist. Um die Jahrhundertwende wurde aber im Kampf um die Reform der Schulpläne gerade diese Position hinsichtlich der alten Sprachen als unzeitgemäß und rückständig angegriffen. Was Ebner in ihrer Autobiographie als Ermöglichung von frei entfalteter Individualität im Austausch mit der Tradition erscheint, wurde vom Verein für Schulreform wegen der als unpraktisch empfundenen Weltfremdheit und aus national-volkstumsmäßigen Gründen bekämpft. Als bekannte öffentliche Person wurde Ebner in dieser Auseinandersetzung zur Zielscheibe scharfer Kritik. In einer von Theodor Fuchs verfassten Broschüre, Frau Baronin Marie v. Ebner-Eschenbach und die klassischen Sprachen oder Was hat die deutsche Nation der lateinischen Sprache zu verdanken? , 4 wird nicht nur der ungeheure Zeitaufwand für Griechisch- und Lateinunterricht kritisiert - fast die Hälfte der Unterrichtszeit, fast die ganze Arbeitszeit außerhalb der Schule seien den klassischen Sprachen gewidmet - sondern vor allem auch darauf verwiesen, dass das Deutsche, die „Herrlichkeiten der deutschen Vergangenheit“ (13), aus volkstümlichen Gründen in den Schulen mehr in den Mittelpunkt gerückt werden sollten, die Fuchs dann in einem historischen Gewaltmarsch von den Völkerwanderungen bis zur Jahrhundertwende durchbuchstabiert. Ebner wird vorgeworfen, dass sie, die „gottbegnadete deutsche Dichterin“ (9), dem „Genius des deutschen Volkes ins Gesicht“ (9) geschlagen habe mit den Versen: Wer Griechisch nicht kann und besonders Latein, Der wird auch des Deutschen Meister nicht sein. Soll unsere Sprache versinken im Pfuhle, Dann treibt nur die Klassiker fort aus der Schule. (5) 42 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="43"?> Die Deutschen werden von Fuchs dargestellt, als stünden sie unter einer ihnen wesensfremden Tyrannei der alten Sprachen, und, was Ebner als Mittel der Teilhabe an der Tradition gesehen hatte, wird hier aus einer deutsch-nationalen Perspektive als Überfremdung des im Rückgriff auf Herder definierten Volkes (innerhalb des österreichischen Vielvölkerstaats) beklagt. Es ist nicht nötig, auf die verschiedenen Implikationen dieser kleinen Kontroverse einzugehen, um zu erkennen, dass die Erziehung in den alten Sprachen zum Schauplatz ideologisch kontroverser Auseinandersetzungen wurde, wobei die Kontexte für Ebner gerade auch als Frau andere - und deshalb auch auf eine andere Weise zu verstehende - waren als die des Vereins für Schulreform und seiner Mitglieder. So bietet diese kleine Abschweifung schon einen ersten Einblick, wie konkret eine geschlechtsbestimmte Perspektive eine differente Position mitbestimmen kann. Doch nun zu Meine Kinderjahre. „Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb.“ (MK 7) So beginnt Ebner ihre Lebensgeschichte. Diese Konzentration auf die weiblichen Mitglieder der Familie, das Persönliche und Private bleiben durchweg bestimmende Aspekte der Autobiographie. Inhaltlich gesehen ist der gesamte Text trotz der anfänglichen Dramatik eher unauffällig gehalten, ganz auf den familiären Bereich konzentriert: die Großmutter, die Stiefmütter, den Vater, die Geschwister, Kinderfrauen, Gouvernanten, die Lehrer, wenige Kontakte zu Verwandten und Bekannten. Politische Erwägungen, geschichtliche Ereignisse, das öffentliche Leben überhaupt - mit der bezeichnenden Ausnahme des Theaters - spielen keine Rolle. Die ersten vierzehn Jahre im Leben Maries werden in einzelnen, lose verknüpften Szenen dargestellt, wobei die chronologische Ordnung durch Zeitsprünge in Vergangenheit und Zukunft immer wieder durchbrochen und eine einsinnige Erzählung dadurch vermieden wird. Trotz Kritik an der Mädchenerziehung und an den begrenzten Bildungschancen für Frauen, wird kein für die Frauenbewegung exemplarischer, zu Nachahmung und politischen Handlungen anspornender Fall geschildert, wie es für einige frühere Beispiele von Autobiographien von Frauen typisch ist. Die 1869 anonym auf Französisch und dann 1876 unter dem eigenen Namen auf Deutsch erschienenen Memoiren einer Idealistin von Ebners späterer Freundin Malwida von Meysen- Meine Kinderjahre (1905) 43 <?page no="44"?> bug oder die autobiographischen Schriften von Louise Aston und Hedwig Dohm seien hier nur als Beispiele genannt. Im Gegensatz zu diesen ins Exemplarisch-Öffentliche gezogenen Autobiographien handeln beinahe ausnahmslos alle berichteten Episoden in Meine Kinderjahre im weitesten Sinne von ästhetischen Erfahrungen, vom Umgang mit Literatur, vom Lesen und Schreiben, von Theaterbesuchen, von den Kämpfen der schreibenden Marie gegen die abweisende Haltung ihrer Umwelt. Diese Konzentration auf literarisch-ästhetische Aspekte ist zwar jeweils eingebettet in die konkrete gesellschaftliche, vor allem familiäre Situation, in der diese Fixierung des Mädchens Marie auf Literatur und Kunst stattfindet und in der sie sich durchzusetzen hat; aber diese Einbettung ist letztlich für ihre Entwicklung zur Schriftstellerin nur bedingt von Bedeutung. Es ist der individuell, leidend und leidenschaftlich geführte Kampf, zur Schriftstellerin zu werden, den Ebner ins Zentrum rückt, nicht der politisch beispielhafte, der hier hervorsticht. Die Autobiographie ist daher keine Agitationsschrift, die eine emphatisch verstandene, exemplarisch zu lesende, womöglich nachzuahmende „Frauengeschichte“ konstruieren will. Vielmehr zeichnet Ebner hier ihre künstlerische Entwicklung nach. Die moderne literaturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Autobiographie hebt immer wieder hervor, dass in dieser Gattung vor allem die nachgetragene Konstruktion und Interpretation des eigenen Lebens im Zentrum steht. In Ebners „biographischen Skizzen“, wie Meine Kinderjahre im Untertitel einschränkend benannt sind, geht es in diesem Sinne vor allem um die Darstellung ihres eigenen „Dichtertums“. Die künstlerische Bedeutung von Ebners Autobiographie liegt daher nicht nur in der geschickten Wahl der Perspektive auf die kindliche Lebenswelt, die sich sukzessive neue Bewusstseinskreise erschließt, und auch nicht in dem kultur-historisch interessanten Stoff zur Erziehung adliger Mädchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den sie ausbreitet. 5 Erst wenn man die Autobiographie als einen zu interpretierenden, selbstschöpferischen Akt einer Schriftstellerin versteht und sie auf Ebners künstlerische Produktion bezieht, gewinnt sie ihre eigentümliche Aussagekraft. Religion, Politik, öffentliches Leben und „Geschichte“ gaben in der großen Tradition von Augustinus zu Goethe jeweils den bedeutenden Rahmen des autobiographisch dargestellten Lebens ab. In 44 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="45"?> Meine Kinderjahre gibt es davon beinahe gar nichts. Das hat seine vordergründige Ursache in einer sehr modernen Entscheidung Ebners. Zu einer Zeit, da Ellen Key in ihrem gleichnamigen Weltbestseller das „Jahrhundert des Kindes“ ausgerufen hatte, da Psychologie und Psychoanalyse sich immer mehr mit frühkindlichen Erfahrungen auseinandersetzten, wählt Ebner für ihre Selbstbiographie die erinnerte Perspektive des Kindes Marie. Sie lässt sich dabei ganz auf diese beschränkte Perspektive ein, wobei sie die Erlebnisse mit wenigen Ausnahmen nur spärlich kommentiert. Ihr späterer Ehemann Moriz von Ebner-Eschenbach etwa taucht als „Onkel Moritz“ auf - eigentlich war er ein Vetter. Dass es später zur Heirat kam, erfährt man nur nebenbei. Im eigentlichen Sinne strukturbildend ist die Beziehung zu ihrem späteren Ehemann für Ebners Text nicht - übrigens eine Besonderheit, durch die er gegen Autobiographien von anderen Frauen aus Ebners Generation wie Malwida von Meysenbug, Fanny Lewald und Louise Aston absticht. 6 Die Episode mit „Onkel Moritz“ ist hingegen entscheidend perspektiviert auf das Schreiben; denn Moritz (oder, wie der Name auch manchmal wiedergegeben wird: Moriz) war es, der die junge Marie dazu ermunterte, auf Deutsch zu dichten anstatt auf Französisch. Die äußerste Konzentration auf das Private, das Ebner in einer für Autobiographien innovativen, assoziativ-impressionistischen Form mitteilt, 7 gewinnt innerhalb der Tradition autobiographischen Schreibens auch einen polemischen Unterton. Ebner wendet sich nämlich damit ab vom klassisch-goetheschen Modell der Autobiographie, in der das Subjekt nicht nur über seine Geschichte und Welt verfügen kann, sondern beschreibend über die Geschichte und Welt. Der berühmte erste Absatz von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit zelebriert diesen Zugriff in kosmologischer Deutlichkeit: Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. 8 Meine Kinderjahre (1905) 45 <?page no="46"?> Es kann hier nicht auf Einzelheiten der Goethe’schen Selbstdarstellung eingegangen werden, doch kontrastiert diese Art der teleologisch ganzheitlichen Darstellung der eigenen, verfügbaren Lebensgeschichte aus der Erinnerung scharf mit Ebners. Rufen wir uns den ersten Satz aus Meine Kinderjahre noch einmal in Erinnerung: „Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb.“ Zwar kann man in einer Art Zahlenmagie noch ein gewisses Echo von Goethes erstem Satz in Ebners erkennen. Bei Goethe jedoch steht sie im Dienste einer selbstzentrierten Gewissheit der Ich-Setzung mit genauem Geburtsdatum, genauer Zeitangabe und geographisch-kosmologischer Einbettung. Ebners Beschreibung hingegen stellt sogleich zahlenmagisch Relationen zwischen ihrer Schwester, sich selbst und ihrer Mutter her. Nicht die eigene Geburt ist das entscheidende Ereignis, sondern der Tod der Mutter, der im wörtlichen Sinne vom ersten Satz an das soziale Gewebe der Familie als ein zerbrechliches (und auch ein vaterloses) zeigt. Dem entspricht eine andere Darstellungsweise, die Ebner schon im Vorwort ihrer Autobiographie bildlich abgrenzt. Sie schreibt, dass sie ihre Kindheit nicht „wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hintergrund“ wiedergeben will, sondern „in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben.“ (MK 5) Dabei kommt es ihr nicht auf die objektive Wahrheit des Berichteten im Gesamtzusammenhang der Welt an, sondern auf die subjektive Wahrheit der Eindrücke, die Menschen und Begebenheiten für „das Kindergemüt“ (MK 5) und im Lebenskreis der kleinen Marie hatten. Das Schwergewicht liegt auf dem Eindruck, den sie hinterlassen haben, und ihn bestimmt die Beschaffenheit des Wesens, das ihn empfing. Dieses Wesen ist treu geschildert, buchstäblich und im Geiste. (MK 5) Diese einschränkende Sicht auf die Möglichkeiten autobiographischen Schreibens teilte Ebner mit Theodor Fontane, der nur wenige Jahre vorher seine ebenfalls Meine Kinderjahre (1893) betitelte Autobiographie veröffentlicht und halb ironisch im Untertitel einen „autobiographischen Roman“ genannt hatte. 9 Dass Ebner diese Autobiographie zumindest in Auszügen kannte, ist übrigens anzunehmen, da beide Autoren in dem von Karl Emil Franzos herausgegebenen Sammelband Die Geschichte des Erstlingswerks (1894) Kapitel aus ihren Lebensgeschichten publiziert hatten und da Ebner diesen Sammelband am Anfang ihrer Autobiographie erwähnt. 46 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="47"?> Durch die Untertitelung mit dem Wort „Roman“ bezeichnet Fontane einen Vorbehalt gegenüber der äußeren Tatsachenwahrheit seiner Autobiographie und schafft sich dadurch einen künstlerischen Freiraum, durch den er das Zeitbildliche seiner Kindheitserinnerungen und der Lebenswelt seiner Eltern deutlicher herausarbeiten konnte, um seine „prägenden“ Erfahrungen eingebettet in den geschichtlichen Kontext als Ursprung seiner späteren Entwicklung darzustellen. Das stellte er dann, in dieser Hinsicht sich wieder von Ebner entfernend, eben romanhaft zusammenhängend dar, wobei bei ihm sicher noch Spuren der kausalen Entwicklungspsychologie des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Das Historische ist aber auch bei ihm schon ins Kleinmalerische und Anekdotische zerfallen. „Große“ Geschichte wird nicht hautnah erlebt, sondern als Lesefrucht aus der Zeitung herbeizitiert. Die Entfaltung des Individuums gelingt nicht mehr als Totalität, sondern sie bleibt, wie der Schlusssatz hervorhebt, „‘Stückwerk,’ [...] buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit.“ 10 Während Fontane noch in dem ironischen Hinweis auf den Gattungsbegriff „Roman“ die Zusammenhänge der Autobiographie wenigstens andeutet, sind sie bei Ebner klar auseinandergefallen. Schärfer als bei Fontane bestimmen sich Erinnerung und Erinnertes wechselseitig; die Psychologie von Gustav Fechner und Ernst Machs Empiriokritizismus mit ihrer Auflösung des klassischen Subjekts, das als eine Art Sammelpunkt von Erfahrungsreizen neu konstituiert wird, haben hier anscheinend ihre Spuren hinterlassen. 11 Eine „objektive“, von subjektiver Wahrnehmung unabhängige Wahrheit gibt es bei Ebner nicht. In den „Bildern“ der Autobiographie manifestieren sich sowohl die erinnerten Eindrücke des Kindes als auch das „Wesen“ der erinnernden fünfundsiebzigjährigen Autorin Ebner-Eschenbach. Die Kinderjahre bieten hier nicht wie bei Fontane kernhaft das ganze Leben, sondern im Akt des Erinnerns wird das spätere Leben bewusst in sie hineinprojiziert. „Alles wiederholt sich im Leben, weil wir selbst uns immer wiederholen“ (MK 77), heißt es. Nur in diesem Sinn trifft auf Ebners Text die Formel Fontanes zu, dass die Kindheitsgeschichte die Lebensgeschichte sei. 12 Verfügbar ist diese eigene Geschichte aus der Perspektive des Erinnerns genauso wenig wie die eigene Subjektivität, die sich im Akt des Erinnerns jeweils neu entwirft. Meine Kinderjahre (1905) 47 <?page no="48"?> Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. Verschiedentlich erwähnt Ebner etwa, wie ihr auch als alter Frau Handlungen, Reaktionen und Meinungen nicht oder nur schwer erklärbar und einsichtig sind. „Warum mir das [Erlernen von weiblichen Handarbeiten] als eine Schmach erschien, ist mir heute noch unerklärlich.“ (MK 26) „Viel später erst ging ein Verständnis des innigen Zusammenhanges zwischen Unreife und Mangel an Pietät mir auf.“ (MK 78) „Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie meine Freundin [Marie Kittl] [...] über ihre eigenen [literarischen Leistungen] mit völliger Blindheit geschlagen sein konnte.“ (MK 105) Das sind nur einige Textstellen, die hervorheben, wie individuelle Geschichte und Subjektivität zwar nicht transparent und damit verfügbar, jedoch als Reflex des Erfahrenen oder, schärfer noch, des Erlittenen, mitteilbar sind. Als Leidensgeschichte legt Ebner ihre Autobiographie zuvorderst im Hinblick auf die Konstituierung ihres eigenen Künstlertums an. Nicht nur setzt sie dieses Künstlertum durch gegen alle „stumme Ablehnung“ (MK 57) der Umwelt, gegen die abwertende Meinung ihrer Schwester Friederike, die Marie wegen ihres Schreibens „kurios“ (MK 57; ähnlich MK 49, MK 59) findet, gegen den Unwillen ihrer Großmutter, in deren Augen Maries Absicht, „eine Dichterin zu werden, [...] etwas Unrechtes und Sündhaftes“ (MK 61) ist. Entscheidende Impulse erhält sie auch durch die Trauer über den Tod ihrer ersten Stiefmutter und den ihrer Großmutter Vockel, die sie durch Lesen (vgl. MK 37) und sogar durch „Leseorgien“ (MK 114) bezwingt. Die Trauerleiden werden umgesetzt in kreative Energien. Da es immer Frauen sind, die in diesem Text Ebners sterben, die Anfang (Tod der Mutter) und Ende (Tod der Großmutter) des Buches bezeichnen und es damit auch strukturell bestimmen, kodiert die Autobiographie die schöpferischen Impulse dezidiert weiblich, als weibliche Reaktionen auf den Tod und das Leiden von Frauen. Am Ursprung dieses Schreibens steht das Leiden der Frau. Dabei legt Ebner dem Leiden in ihrer Autobiographie positive Qualitäten bei. 13 Indem sie auf ihrem Künstlertum insistiert, es schließlich nach vielen Auseinandersetzungen als Zeugnis ihrer Eigenheit, Integrität und Subjektivität annimmt, wird alle erlittene Ablehnung zur Bestätigung, ja zum Beweis ihres Selbst, der „angeborne geheime Makel“ (MK 61) zum Zeichen göttlicher Erwähltheit. Die Reaktion auf dieses Leiden ist bei Ebner daher signifikant anders strukturiert als in der männlich betonten Entsagungsästhetik Autobiographie als Manifest der Autorin 48 <?page no="49"?> der deutschen Klassik und des Realismus, wie wir sie etwa von Goethe und Keller kennen. „Entsagung“ ist dort primär als eine Formung des individuellen Daseinsentwurfs unter dem Druck gesellschaftlicher Notwendigkeiten und Zwänge dargestellt, die zur Einbettung des Individuums in die Gesellschaft beiträgt, und von daher verlusthaft-melancholisch durchmarmoriert und nach innen gerichtet ist. Leidenserfahrung im Ebner’schen Sinn, also das, was man im Rückgriff auf einen Ausdruck aus Lotti, die Uhrmacherin, den Ebner’schen „Leidensmut“ nennen könnte, ist hingegen nach außen zielende Grenzerfahrung, die durch mitmenschlich-teilnehmende Handlung oder durch den künstlerischen Schaffensprozess in die Welt tritt und dort auch tatsächlich eingreifen kann. Nicht zufällig steht daher diese Annahme ihres Künstlertums - auch im rechnerischen Sinne - an zentraler Stelle von Meine Kinderjahre, nämlich genau in der Mitte. Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, und leiden wollte ich ja! erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, wie die eines Märtyrertums, und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft. (MK 61) Dem Leidenspathos als pathetischer Bejahung der eigenen Subjektivität und als Vergewisserung des eigenen Künstlertums, wie es dieses Zitat ausdrückt, weist Ebner aber sogleich Grenzen. Das Bewusstsein des Märtyrertums erweckt in ihr, wie sie schreibt, „ein tüchtiges Maß Hoffart“. (MK 61) Das ist das überhöhte Resultat des nach außen gerichteten, aktiven Aspekts dieser Leidenserfahrung. Die entgrenzte Subjektivität steht in Gefahr, sich selbst zu überheben, es an Urteilskraft fehlen zu lassen. Entscheidend ist nun, dass Ebner-Eschenbach diese moralische Gefahr, die sie ganz konsequent aus der Tatsache entwickelt, dass ihre subjektive Identität auf der Annahme ihres eigenen Künstlertums basiert, sogleich mit einer mangelnden ästhetischen Urteilsfähigkeit gegenüber der eigenen künstlerischen Produktion verquickt. Das bestimmt die für ihr Werk allgemein geltende und im Umfeld der Moderne um 1900 gewissermaßen altmodisch erscheinende Verschränkung von ethischen und ästhetischen Qualitäten, welche sicherlich Ursache sind für die insgesamt eher negative Einschätzung von Ebners schriftstellerischen Leistungen durch die Vertreter der jungen Generation Meine Kinderjahre (1905) 49 <?page no="50"?> um 1900, die sich ganz in der Nachfolge Nietzsches sahen. In ihrer Autobiographie jedenfalls verdeutlicht Ebner die zerstörerischen Seiten einer fehlgeleiteten Urteilskraft an der eingelegten Lebensgeschichte ihrer Gouvernante, „treuen Mentorin“ (MK 103) und langjährigen Freundin Marie Kittl. Diese verfällt dem „Lügenhaupt“ (MK 105) der falschen Berufung zum Künstlertum und vergeudet dadurch nicht nur ihr Vermögen, sondern kommt auch um ihr „Glück“ (MK 105). Es ist mir ein Rätsel geblieben, wie meine Freundin, die soviel Lebensweisheit besaß, die ein so richtiges Urteil für fremde literarische Leistungen hatte, über ihre eigenen mit völliger Blindheit geschlagen sein konnte. Sie erzählte vortrefflich, sobald sie aber ans Niederschreiben des Erzählten ging, zerflossen die Begebenheiten, Gestalten, Landschaften wie feuchte Flecke auf Löschpapier. (MK 105) Marie Kittls Fehleinschätzung der eigenen schriftstellerischen Leistungen ist sicher auch als Kontrastbild zu verstehen, gegen welches die letztlich kompetentere Urteilsfähigkeit und das substantiellere Schriftstellertum Ebners sich positiv absetzen wollen. Doch auch für die künstlerische Produktion der jungen Marie hat die emphatische Annahme des eigenen Künstlertums entscheidende und nicht nur positive Folgen. Ebner parallelisiert nämlich die Größenphantasien der jungen Marie, ihre „Hoffart“, mit dem Schreiben von „großer“ Literatur, die ihr Thema im geschichtsmächtigen Handeln großer Einzelner findet - und das heißt grundsätzlich im Handeln von Männern - und sich im literarischen Text selbst als geschichtsformend gebärdet. Deswegen beschreibt sie auch gleich anschließend an die Darstellung dieser Größenphantasien eine französisch abgefasste „Ode à Napoleon“ als etwas grandios Heroisches, das der Nachwelt [...] erst den rechten Begriff vom Genie des Imperators gegeben hätte. Den Schluß bildete ein cri de haine an die Adresse des perfiden Albion, dem ich schmachvollen Untergang auf Erden, im Jenseits die ärgste Höllenpein verhieß. (MK 64) Die Allmachtsgefühle führen hier zu jener individuellen und historischen Geschichtsmächtigkeit, einer Verfügbarkeit von Geschichte in und durch ihre ästhetische Formung. Diese ist schon thematisch klar männlich besetzt, denn es handelt sich um eine poetische Ausweitung des heroisch-kriegerischen Impulses Napoleons gegen England, nun freilich ganz ins Abstrakte erweitert, da dieser „cri de haine“ gegen Mitte des 19. Jahrhunderts nur mehr eine ideelle, keine 50 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="51"?> konkret politische Aussage machen kann. Gegen diese Art der Verfügbarkeit von Geschichte und die ihr auch gattungsmäßig entsprechenden Arten der Literatur - also etwa in diesem Fall die heroische Ode - ist die Leidensästhetik von Meine Kinderjahre gerichtet und zwar formal durch Auflösung der teleologischen narrativen Struktur in einzelne „Bilder“ und inhaltlich in der Konzentration auf das Private. Von daher ist nicht überraschend, dass der zweite Teil der Autobiographie eine weitere Transformation von Ebners Künstlertum schildert, die zu einer Absage an jeden über die Geschichte und die eigene Biographie verfügenden Ansatz gelangt und diese Absage dezidiert als weiblich kennzeichnet. Zentral für Ebners Entwicklung ist dabei, wie in der ersten Hälfte der Autobiographie, die intensive Leidenserfahrung. Die Lektüre eines wissenschaftlichen Buches über Astronomie und Erdgeschichte erschüttert Maries christlich-anthropozentrisches Weltbild und bringt ihr die „bittersten Tage in [ihrer] Kindheit“. (MK 94) Sie ist deprimiert, erfährt Gottesferne, durchleidet eine Art persönliche „kopernikanische Wende“. Die Erde wird sterben, wie der Mond gestorben ist. War sie denn nicht dein Lieblingskind, mein Gott, weil du deinen eingebornen Sohn geschickt hast, um die Menschen zu erlösen ... Die Menschen? was sind die? Dasselbe jeder, was ich bin: ein Hauch, über ein Stäubchen geweht, ein Nichts in der Unendlichkeit. (MK 95) Ebner scheint sich hier ganz direkt auf die Gattungstradition zu beziehen, in welcher der kosmologische Bezugsrahmen die Bedeutsamkeit der eigenen Lebensdarstellung abstützte und in ihrer Wertigkeit beglaubigte - die oben schon zitierten ersten Sätze aus Goethes Autobiographie führen das exemplarisch vor. Ebner hingegen beschreibt die entgegengesetzte Erfahrung, in der kosmologische (oder astronomische) Welt und Individuum gerade nicht in Einklang miteinander stehen und das Individuum sich nicht als in der Welt geborgen erfahren kann. Wieder stellt Ebner die Lektüreerfahrung in einen ausdrücklich privaten Rahmen und ordnet sie spiegelbildlich jener emphatischen Annahme des Leidens am eigenen Künstlertum zu. Was dort zu überhöhter Individualität, zu „Hoffart“ führte, stürzt hier in geschichtspessimistischen Nihilismus. Überwunden wird die Niedergeschlagenheit „jener Werdetage“ (MK 97) dadurch, dass der intensiven Leidenserfahrung wiederum bestätigender Charakter zugeschrieben wird. „Schick mir Meine Kinderjahre (1905) 51 <?page no="52"?> nur Leiden, ich will ja leiden“ (MK 97) heißt es in beinahe wörtlicher Wiederholung der ersten emphatischen Leidensannahme für ihr Künstlertum. Leidenserfahrung bezeugt und bestätigt auch hier das Eigenwertige, die eigene Subjektivität. Sie markiert das Individuum Marie von Ebner-Eschenbach als Ort des Leidens im Spannungsfeld von emphatischer Individualität, von Geschichtsmächtigkeit und damit Verfügbarkeit einer aufklärerisch-fortschrittlichen Geschichte einerseits und von emphatischem Nihilismus und Geschichtspessimismus und damit einer bewusstlosen Hingabe an eine Verfallsgeschichte andererseits. Dass es sich hierbei um spezifisch weibliche Erfahrungen handelt, verdeutlicht Ebner an ihrer Auseinandersetzung mit Karl Gotthold Lessings oben erwähnter Biographie seines Bruders Gotthold Ephraim Lessing, in der jene Verfügbarkeit und Kontrolle über die eigene Geschichte proklamiert wird, die scharf gegen die Leiderfahrungen Maries absticht. „Im vierten oder fünften Jahr wußte [Lessing] schon, warum und wie er glauben wollte“ (MK 113) zitiert Ebner halb bewundernd, aber damit nur um so schärfer die Differenz zwischen ihrer eigenen weiblichen Biographie und Lessings männlicher hervorhebend. Dass Lessing schon von Anfang an wusste, wer er sein, was und wie er glauben wollte, postuliert ein klassisches Modell von ganzheitlicher, sich selbst sicherer, autonomer Subjektivität. Fontane hatte es in seiner Formel „Kindheitsgeschichte = Lebensgeschichte“ noch einmal aufgegriffen, den dahinterstehenden Anspruch in seiner Selbstbiographie aber nur insofern eingelöst, als das Bruchstückhaft-Fragmentarische seines Lebens in den Kinderjahren schon vorgezeichnet war. Eine ganzheitliche, die strotzende Fülle des Subjekts ausbreitende Darstellung, wie sie Goethe vorgenommen hatte, kann man bei Fontane nicht finden. Ebner unterminiert den hinter dieser Formel liegenden Anspruch weiter, sowohl in ihrem Darstellungsmodus als auch inhaltlich, denn nicht die Entfaltung der Subjektivität aus ursprünglichen Anlagen stellt sie dar, vielmehr bestimmt sie die Autobiographin als Ort von Leiderfahrungen, welche als Ursprung einer weiblich gekennzeichneten Subjektivität fungieren, auf der Ebners Künstlertum aufbaut. Meine Kinderjahre hängt dabei nicht melancholisch einer verlorenen Möglichkeit zu selbstmächtiger Biographik nach, sondern stellt sich in bewussten Gegensatz zu einer solchen. 52 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="53"?> Ebner sieht scharf, wie das Selbstbewusstsein gegenüber der individualgeschichtlichen Entwicklung gekoppelt ist mit der selbstverständlichen Teilnahme an der historischen und künstlerischen Tradition, die dem Mann Lessing durch seine Erziehung und Bildung offen standen. Als Frau ist ihr dieser Zugang verwehrt. Da dieser Punkt so zentral ist, wiederhole ich hier noch einmal das schon oben angegebene Zitat: Weil er ein Bub war, d u r f t e er [die Sprachen lernen], er m u ß t e sogar Griechisch lernen und Latein. Von seinen Lippen tönte die Sprache, in der Themistokles, Demosthenes, Cäsar, Titus geredet haben. Zum Ruhme gereichte ihm sein Glück ... Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht für ein Mädchen! (MK 114) Diese Einsicht hält Marie freilich nicht davon ab, Lessing nachzueifern, die Bücher, von denen die Biographie sprach, „zu [ihrer] Welt [zu] machen.“ (MK 114) Aber den Gedichten aus dieser Zeit schreibt die alte Ebner wiederum jene maskuline Qualität zu, die sie im Rückblick für ihre eigene Kunst suspekt machen: auch sie sind „hoffärtig“. (MK 115) Eine Imitation jenes durch die Lessingbiographie als männlich markierten Zugriffs auf die Welt und eine entsprechende Umsetzung in Literatur ist daher nicht angetan, zu jener Art von Literatur vorzustoßen, die für Ebner adäquat wäre. Die Auseinandersetzung mit Lessings Biographie umkreist die Möglichkeiten autonomer Individualität. Das anschließend und in großer Ausführlichkeit beschriebene letzte literarische Projekt in Meine Kinderjahre thematisiert die Möglichkeiten der literarischen Repräsentation solcher Individualität im historischen Prozess. Aus den die Trauer um den Tod der Großmutter lindernden „Leseorgien“ (MK 114) in deren Bibliothek behält Marie den Stoff zu einem historischen Drama über den Kampf zwischen Cinq-Mars, dem Günstling Ludwigs XIII., und Kardinal Richelieu. Die literarische Produktivität ist direktes Resultat der Trauer um den Tod der Großmutter und man könnte Ebners Schreiben durchaus als einen Versuch sehen, ihre Trauerarbeit künstlerisch produktiv zu leiten. Sollte das Drama anfangs eine Darstellung des tragischen Scheiterns Cinq-Mars’ und Annas von Österreich sein, so verschiebt sich der Schwerpunkt der Handlung immer mehr auf den geschichtsträchtigeren Richelieu, der schließlich auch zur Titelfigur wird. Meine Kinderjahre (1905) 53 <?page no="54"?> Seine Gestalt wuchs und wuchs riesenhaft vor mir empor, bis ich begriff, daß ich aus meiner Blindheit über ihre Größe den Mut geschöpft hatte, sie darzustellen. (MK 119) Nach jahrelanger Arbeit erkennt Ebner, nur „Pfuschwerk“ (MK 119) zustande gebracht zu haben, und entschließt sich, die Dramenmanuskripte zu verbrennen. Durchaus nicht in einem Verzweiflungsanfall, ganz ruhig schichtete ich dann meine „Cinq-Mars“ und „Richelieus“ im Ofen sorgfältig und nett zu einem Scheiterhaufen zusammen und zündete ihn an. (MK 119) Aus den Tagebüchern Ebners wissen wir, wie schwer es ihr gefallen ist, den Cinq-Mars/ Richelieu-Plan aufzugeben und in Archiven finden sich durchaus noch Überreste der Manuskripte, was wohl darauf hindeutet, dass wir es hier auch mit selbststilisierenden Aussagen zu tun haben. 14 Dennoch sollte man die sicherlich mit dem weiblichen Bescheidenheitstopos spielende Darstellung nicht vorschnell als vorgeschobene Erklärung für das Scheitern der dramatischen Pläne Ebners nehmen. Wir wissen schließlich, dass an die Stelle des Cinq-Mars-Projekts nicht unproduktive Resignation trat und schon gar keine Abwendung von der dramatischen Form. Vielmehr orientierte sich Ebner um. Sie distanziert sich in Maria Stuart in Schottland (1860), dem unvollendeten „Jakobäa“ (1861) und Marie Roland (1867) von der männlichen Geschichtswelt und wendet sich der Dramatisierung weiblicher Erlebniswelten im Geschichtsprozess zu. 15 Dass Ebner in Meine Kinderjahre so ausführlich über das Scheitern des Cinq Mars-Projekts schreibt, scheint daher nicht vornehmlich die aggressive, oft gehässige Ablehnung anzuklagen, der alle ihre Stücke in dem von Männern dominierten Theaterbetrieb ausgesetzt waren und die Ebner im Jahr 1878, also vor ihrem Durchbruch zur berühmten Autorin, ausdrücklich als Grund für ihre Abwendung von der Bühne benannte. (Vgl. MK 304) Der rituelle Selbstreinigungsakt des Autodafés ist jedoch polemisch gegen den von Männern geführten und kontrollierten kulturellen Diskurs über Geschichte und Literatur gerichtet, als Absage an geschichtsmächtiges Handeln und daran, dass seine Darstellung in der Literatur wünschens- und erkenntniswert ist. Auf dem „Scheiterhaufen“ werden durchaus nicht die Wünsche und Ambitionen der Schriftstellerin Ebner-Eschenbach verbrannt, wie es im Zusammenhang mit dem Bescheidenheitstopos der Frauenliteratur vielleicht zu erwarten wäre, sondern auf ihm werden jene die Geschichte prägenden 54 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="55"?> oder diese in tragischer Größe erleidenden männlichen Helden, die „Richelieus“ und „Cinq Mars“ dieser Welt, exorziert. Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die eine solche über die einfache Selbstdarstellung hinausweisende und eben gerade nicht resignative Interpretation von Meine Kinderjahren weiter unterstützen. So parallelisiert Ebner den Darstellungsmodus der Autobiographie - „einzelne Bilder nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben“ (MK 5) - motivisch mit ihrer Lektüreerfahrung der Johannisapokalypse, also der biblischen Vorhersage vom Ende der Geschichte: Einzelne Bilder nur schwebten vor mir, sehr klar und in großer Pracht, so wie der Heilige sie geschaut hatte, als er „war im Geiste“. (MK 113) In einer solchen Parallelisierung dürfte sich schwerlich eine von Selbstzweifeln geplagte Stilistin ausdrücken. Auch die zweite, im Winter 1905 in Rom verfasste, den eigentlichen Text der Autobiographie situierende Vorbemerkung erweist sich bei genauerem Hinsehen weniger als rhetorische Selbsterniedrigung denn als Spiel mit der rhetorischen Bescheidenheitsfigur und der kraftvollen Ausführung der eigenen Perspektive. 16 Sicherlich ist Ebner hier tief beeindruckt von der geschichtsträchtigen Umgebung; die zugesandten Korrekturbögen ihrer Autobiographie erscheinen ihr dagegen gering und die Deutlichkeit der Aussage scheint unzweifelhaft. Meine Kleinen, ihr kommt mir recht armselig vor mit eurem Geplauder von Puppen und Ammenmärchen. Mich beschäftigen andere Dinge als eure Geringfügigkeiten. Die Weltgeschichte spricht zu mir, ich lebe an der Stätte, an der Jahrhunderte hindurch ihr mächtiger Puls geschlagen hat [...] Mein Glauben an euer Etwas ist mir entschwunden, ihr armen Blätter. (MK 6-7) Doch es lohnt sich auch hier, noch einmal genauer hinzuschauen und zu fragen, wie denn genau diese „Weltgeschichte“ aussieht und wie sie zu Ebner „spricht“. Was ist es, was Ebner „in diesem großen Rom“ (MK 7) sieht? Es sind vor allem die Ruinen der großen Geschichte, die ihr gegenübertreten, die Ruinen der „vergängliche[n] Reiche” (MK 6), die Überreste einer von Eroberungen und Zerstörungen geprägten Geschichte, Stätten, „die durch herrliche Taten geweiht, durch entsetzliche Greuel gebrandmarkt“ (MK 6) sind, an denen die Legionen vorüberzogen, „eine Riesenschlange, die Reiche erdrückt hat in ihren gewaltigen Ringen“ (MK 6-7), Stätten, wo „gol- Meine Kinderjahre (1905) 55 <?page no="56"?> dene Beutestücke“ funkelten, aber auch „die Ketten der Gefangenen“ (MK 7) klirrten. Es ist ein - obschon faszinierender - Trümmerhaufen der Geschichte, den Ebner grabesstill vor sich sieht, etwas Abgelegtes, Totes, an dem die gegenwärtige Zeit der Industrialisierung bisher vorübergegangen ist. Und in der Tiefe liegt die Stadt, die heute noch keine Fabriken hat mit rauchenden Schlöten und keine berußten Dächer, und selbstleuchtend erscheinen im Abendlichte ihre schimmernden Mauern. Wie tot liegt sie da, die soviel verbrochen und so viel erduldet hat. Kein Laut dringt herauf, vernehmbar nur dem inneren Ohr ist ihre feierliche Sprache des Schweigens. (MK 6) „Selbstleuchtend“ erscheint der moralisch korrupte Ort der Weltgeschichte nur. Seine selbstgenerierte Ausstrahlungsmacht und ästhetische Faszination erschließt sich dem distanzierten Blick Ebners durchaus, doch eben nur als ästhetisches Phänomen. Die „Weltgeschichte“ spricht nurmehr die „Sprache des Schweigens“. Damit deutet Ebner auch an, dass den Bedeutungskomplexen der Chiffre „Rom“ in der Gegenwart nicht die gleiche Bedeutungsmacht zukommt wie in der Vergangenheit und dass diese auch einer moralischen Bewertung zu unterstellen ist. Der moralische Impetus in Ebners Schriften ist also, wenn man diesen Gedanken etwas weiterspinnt, ein durchaus reflektiert eingebrachtes Korrektiv in einer bestimmten Art von ästhetischer Tradition, die sich in der Metapher „Rom“ Ausdruck schafft. Wie wir in den nachfolgenden Kapiteln sehen werden, verwendet Ebner in verschiedenen ihrer Werke Anspielungen und Hinweise auf die Antike - besonders auf die römische Antike -, um Figuren und Handlungen zu verbinden mit Aspekten einer „großen“ Geschichte und mit einer männerdominierten Tradition. Mašlans Frau beispielsweise spielt im „siebenbucklige[n]“ Raudnowitz, einer Stadt, die als ironische Utopie ein „Seitenstück zum siebenhügeligen Rom“ (GNA 471) darstellt. Den winterlichen Erfahrungen in Rom steht das Wissen entgegen, dass die Autobiographie im Frühling, wenn „bei uns zu Hause [...] an Bäumen und Sträuchern die Knospen schwellen und Schößlinge in Unzahl hervorsprießen“ (MK 7), vorliegen und einem anderen Geschichts-, Ästhetik- und Traditionsverständnis Ausdruck verleihen wird. „Über Gräber geht ja der Weg zur Auferstehung, und die Blumen, die aus Gräbern blühen, sind ihr lieblichstes Symbol“ (EAS 701), heißt es in der Prosaskizze „Rom”, die Ebners Aus einem Autobiographie als Manifest der Autorin 56 <?page no="57"?> zeitlosen Tagebuch (1916) einleitet. Das wird man auch auf das „Vorwort“ von Meine Kinderjahre anwenden dürfen. „Auferstehung“ nicht verstanden als Neubelebung unter verändertem Vorzeichen, nicht als nun emphatisch-geschichtsmächtige Frauengeschichte - das wäre, in den Worten der Autobiographie, „hoffärtiges Märtyrertum“; vielmehr verstanden als Transfiguration - als Verklärung - zu einer Leidensgeschichte, die sich bewusst vom geschichtsmächtigen Diskurs absetzt und daraus ihr ethisches und kritisches Potential schöpft. Die geradezu abenteuerliche Konsequenz, mit der Ebner in Meine Kinderjahre auf der Bedeutung des Privaten und der Kunst insistiert, hat ja nichts damit zu tun, dass sie sich der sozialen Konflikte, politischen Entwicklungen oder der repressiven Bedingungen, denen sich Frauen gegenübersahen, nicht bewusst war. Ihr fehlte auch nicht der Mut, sie in ihren Büchern scharf anzugreifen. Ebners soziales Engagement war durchweg großzügig und mutig. 17 Was an den Büchern Ebners aber immer wieder irritiert, ist gerade die Skepsis gegenüber geschichtsmächtigem Handeln überhaupt, also auch einem unter weiblichen oder jedem anderen gutgemeinten Vorzeichen. Diese Skepsis manifestiert sich immer wieder in jener verwirrend-befremdlichen Art, wie Figuren auf Gewalt- und Machtausbrüche in Ebners Texten - man möchte fast sagen: auf leidensfroh starke Art - reagieren. Darauf wird, immer eng gebunden an den Zusammenhang, in den folgenden Interpretationen einzugehen sein, um die Bedeutungsdimensionen dieser für uns eher fremdartigen Facetten in Ebners Werken präziser zu verstehen, welche sicher auch zu der eher zurückhaltenden Einstellung der gegenwärtigen Kritik gegenüber Ebner beitragen wie wohl auch zu Ebners eigenem, eher distanzierten Verhältnis zur organisierten Frauenbewegung ihrer Zeit. Die Abwendung von einer emphatischen Geschichtsauffassung spiegelt sich auch gattungsmäßig in späten Werken Ebners. So spielt sie in den Kurzprosatexten der halb-autobiographischen Schriften Aus einem zeitlosen Tagebuch und Altweibersommer mit den dezidiert unhistorischen Formen des Märchens und des Mythos; und Kurzformen wie Aphorismus, Kurzgeschichte, Erzählung und Novelle stellen den größten Teil von Ebners Werk dar, in dem der Roman, die paradigmatische Großform der Zeit, praktisch fehlt. Die Abwendung vom Theater oder doch von der historischen Tragödie könnte aus dieser Perspektive auch als bewusste Abwendung verstanden werden, nicht als durch die Män- Meine Kinderjahre (1905) 57 <?page no="58"?> nerwirtschaft des Theaterbetriebs erzwungenes resigniertes Aufgeben. So ist das in der Autobiographie entworfene Leidenspathos, aus dem sich die Kreativität und der Kunstwillen Ebners speisen, nicht mit der Unterdrückung von Ebners früheren Ambitionen verbunden, sondern, gerade im Gegenteil, Triebkraft ihrer schriftstellerischen Produktivität und von daher ihres Selbstverständnisses als Schriftstellerin. So führt es auch nicht zu einer deformierten oder deformierenden Schrumpfform von Ebners weiblicher Subjektivität, sondern ist ganz im Gegenteil entworfen als eine Ortsbestimmung für die - sicherlich prekäre - Konstituierung weiblicher Subjektivität, die ihre Position abseits von jener Geschichte einnimmt, die nicht die ihre ist, und die an dieser marginalen Position festhält. Meine Kinderjahre bestimmt also Kreativität und künstlerische Produktivität Ebner-Eschenbachs als eng verbunden mit Leidenspathos und einer bewussten Absage an die große Geschichte. Unsere literatur-programmatische Lektüre der Autobiographie hat diese drei Themen oder Aspekte herausgearbeitet, die uns in den folgenden Interpretationen wichtige, aber selbstverständlich dennoch nicht exklusive Wegweiser sein werden, um die Dramen, Erzählungen und Novellen Ebners adäquat verstehen zu können. 58 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="59"?> Anmerkungen 1 Adalbert Stifters bedeutendster Biograph, Wolfgang Matz, stellt in Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge lapidar fest: „Stifter war kein Theoretiker“ (p. 161). - Für die theoretisierende Interpretation sei beispielhaft hingewiesen auf das zweite Kapitel eines der prominenteren Bücher zum Realismus der letzten Jahre von Eric Downing, Double Exposures: Repetition and Realism in Nineteenth-Century German Fiction, in dem die theoretische Grundlage für das Buch aus der Analyse der „Vorrede“ entwickelt wird. 2 Gudrun Wedel, „‘... Nothing more than a German woman.’ Remarks on the Biographical and Autobiographical Tradition of the Women of one Family“, berichtet von 500 weiblichen Autobiographen mit 800 Werken zwischen 1800 und 1900. Auf diese sehr hohe Zahl gelangt sie allerdings nur, da sie „traditionelle“ Gattungsunterschiede zwischen Autobiographie, Erinnerungen etc. nicht berücksichtigt und sich kurioserweise auch nicht auf veröffentlichte Texte beschränkt. Die Anzahl der Autobiographien im engeren („traditionellen“) Sinne war sehr viel geringer, zumal derjenigen, die zu Lebzeiten der Autorinnen in Druck gegeben wurden. Siehe dazu ebenfalls Gudrun Wedel, „Rekonstruktionen des eigenen Lebens. Autobiographien von Frauen im 19. Jahrhundert“. - Übrigens erwähnt Wedel Ebners Autobiographie nicht. 3 Nancy K. Miller spricht von einem solchen „double reading“ in „Writing Fictions: Women’s Autobiography in France“, p. 59. 4 Wien, Verlag des Vereins für Schulreform, o.J. Zitate werden direkt im Text nachgewiesen. Zur Rolle des Lateinischen und Griechischen in der höheren Knabenschule am Ende des 19. Jahrhunderts siehe Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV, 1870-1918, pp. 254-256. 5 Darauf konzentriert sich Christa-Maria Schmidt im „Deutungs“-Teil der von ihr besorgten Ausgabe. Schmidt bietet auch eine hilfreiche Einordnung von Ebners Text in die Diskussion zur Gattung Autobiographie, auf die hier nur beispielhaft eingegangen wird. 6 Katherine Goodman, Dis/ Closures, p. 181. Vgl. zu Ebners anderer Ausrichtung Claudia Seeling, „‘Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt’: Die Autobiographie der Marie von Ebner-Eschenbach“, p. 166: „Den Weg einer Emanzipation [...] schildert [der Text Meine Kinderjahre] uns nicht.“ 7 Katherine Goodman, Dis/ Closures, pp. 180f. hebt die formale Innovation Ebners hervor. Klaus Weissenberger, „Meine Kinderjahre - Marie von Ebner- Eschenbachs Autobiographie als literarisches Kunstwerk“, hingegen sieht, wohl auch aus der Perspektive klassischer Ästhetik und wenig überzeugend den „künstlerischen Maßstab der Ganzheitlichkeit“ (248) in Ebners Autobiographie verwirklicht. Daher kann er diesem Buch auch zuschreiben, dass es „eine der letzten sogenannten großen Autobiographien im Sinne des mit dieser Gattung intendierten Theodizeecharakters“ (247) sei. 8 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, p. 15. Meine Kinderjahre (1905) 59 <?page no="60"?> 9 Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, p. 9. 10 Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, p. 177. 11 Katherine Goodman, Dis/ Closures, p. 176. 12 Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, p. 9. - Auch das hat selbstverständlich Tradition, die nicht zuletzt im Bildungsroman gestaltet ist. In Gottfried Kellers Konzeption des Grünen Heinrich in der ersten Fassung spielt sie eine große Rolle insofern die eingeschobene „Jugendgeschichte“ den Verlauf des ganzen Lebens vorwegnimmt. Heinrich schreibt: „Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß die Kindheit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzüge der menschlichen Zerwürfnisse im kleinen abspiegele, so daß später nur wenige Erlebnisse vorkommen mögen, deren Umriß nicht wie ein Traum schon in unserem Wissen vorhanden, wie ein Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh zu erfüllen ist, wenn aber Übles, als frühe Warnung gelten kann, so würde ich mich nicht so weitläufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschäftigen“ (Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Erste Fassung, p. 205). 13 Vgl. den Hinweis von Edith Toegel, „‘Entsagungsmut’ in Marie von Ebner Eschen-bach’s Works“, dass Ebner „Entsagung“ geschlechtsspezifisch kodiert und in dem hier dargestellten Sinne anders strukturiert ist. Ich verwende den Begriff der „Entsagung“ hier für die Männer und für Ebner den Neologismus des „Leidensmuts“, um den Unterschied auch begrifflich festzuhalten. 14 Siehe die Eintragungen in ihren Tagebüchern aus den frühen sechziger Jahren. Teile des Dramas finden sich noch in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, die Verbrennung war also im wörtlichen Sinne längst nicht so endgültig wie Ebner in der Autobiographie beschreibt. Jetzt wieder zugänglich als „Richelieu“ in dem von Marianne Henn herausgegebenen Band der historischen Tragödien in der historisch-kritischen Ausgabe. 15 Vgl. hierzu Edith Toegel, „The ‘Leidensjahre’ of Marie von Ebner-Eschenbach“ und das Kapitel zu Marie Roland in diesem Buch. 16 Für anders ausgerichtete Interpretationen siehe u.a. Katherine Goodman, Dis/ Closures, pp. 171-173 und Agatha Bramkamp, Marie von Ebner-Eschenbach pp. 8-10. 17 Vgl. die stichhaltigen und materialreichen Interpretationen bei Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus, bes. pp. 257-284, und die Hinweise auf Ebners Engagement in Doris Klostermaiers Biographie. 60 Autobiographie als Manifest der Autorin <?page no="61"?> 4 Das Trauerspiel der Geschichte Marie Roland (1867) Der erste Werkkomplex, mit dem wir uns auseinandersetzen wollen, ist Ebner-Eschenbachs dramatische Produktion, der sie sich vor allem am Anfang ihrer Karriere intensiv gewidmet hatte, in der sie aber auch wie in keiner anderen Form Rückschläge erleiden musste, nicht zuletzt, weil es gerade für eine Frau schwer war, sich im Theaterbetrieb durchzusetzen. 1 Besonders galt das dann, wenn die Frauen Ambitionen hatten, in der prestigeträchtigen Form des historischen Trauerspiels zu reüssieren. Die beiden erhaltenen historischen Tragödien Ebners sind der am wenigsten bekannte Teil ihres literarischen Werkes. Ebner selbst hat keines ihrer Stücke in die zu Lebzeiten veranstalteten Ausgaben aufgenommen. Erst 2005 wurden Marie Roland und Maria Stuart in Schottland in einer von der britischen Modern Humanities Research Association publizierten Textedition mit erläuternden Kommentaren wieder neu zugänglich, übrigens ein weiteres Zeichen dafür, dass in der modernen Ebner-Forschung die britische und amerikanische Auslandsgermanistik eine unverhältnismäßig große Rolle spielen. 2 Mit der Veröffentlichung ein Jahr später in der historischkritischen Ausgabe, die auch die erhaltenen Fragmente von „Richelieu“ und „Jacobäa“ einschließt, sind die Texte nun etabliert. 3 In der deutschen Tradition der Geschichtsdramen manifestiert sich im Vergleich mit der offiziellen Geschichtsschreibung, wie Jürgen Schröder bündig feststellte, „eine Art subversiver Gegengeschichtsschreibung“, 4 insofern diese Werke meistens nicht „die Geschichte der Sieger geschrieben und akklamiert“ (7), sondern die Opfer und Verlierer in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt haben. Darin kann man, wie Schröder es tut, einen entscheidenden Unterschied zwischen der Literatur und der professionellen Geschichtsschreibung sehen oder auch, den rhethorischen Gestus Schröders abmildernd, eine Art Einübung auf historische Verhaltensweisen, mit denen in der historischen Tragödie eine Art Typologie historischer Größe und Vernichtung diskursiv entwickelt wurde. Dieser Fokus trifft gerade auch auf die Literatur zu, die in <?page no="62"?> 62 den Kanon eingegangen ist. Die Musterexemplare der Gattungstradition von Goethes Götz und Egmont, Schillers Don Carlos und seiner Wallenstein-Trilogie über die Stücke von Kleist, Grabbe, Büchner, Grillparzer bis zu Hebbel fügen sich in dieses Muster, vielleicht mit der die Regel bestätigenden Ausnahme von Hebbels Agnes Bernauer. Sich diesen fundamental kritischen Impuls der Literatur in bürgerlichen und nachbürgerlichen Zeiten in Erinnerung zu rufen, ist hier hilfreich, weil damit deutlich wird, dass es für eine Neuinterpretation von Texten im Kontext der Frauenliteratur nicht ausreicht, wenn man auf die kritischen Aspekte dieser Literatur hinweist; denn diese geben keine hinreichenden Gründe dafür ab, die Eigentümlichkeit dieser Literatur vorzukehren und damit zu einer angemessenen Bewertung zu gelangen. „Kritisch“ ist die Literatur seit der Aufklärung durchweg. Wenn man, um Schröder noch einmal zu zitieren, Literatur allgemein als die „Gedächtniskammer“ der Menschen versteht, und Geschichtsdramen im Besonderen als „humane Destillationen des Geschichtswissens und der Geschichtserfahrung ihrer Zeit“ (7), dann reicht es freilich nicht, sich auf nur einen ausgesprochen kleinen kanonischen, von Männern geschriebenen, wenn eben auch „kritischen“ Teil dieser Geschichtserfahrung zu beschränken. Eine Auseinandersetzung mit Marie von Ebner-Eschenbachs Geschichtsdrama Marie Roland soll an dieser Stelle einige Hinweise dafür geben, wie die spezifisch weibliche Erfahrungswelt eingesetzt wird, um die kritische Tradition kritisch zu lesen. Für Ebner, wie überhaupt für viele Autorinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ist eine solche kritische Bezugnahme auf den klassisch nationalen und eben auch männlichen Literaturkanon durchaus nicht ungewöhnlich 5 und speist sich unter anderem aus dem Bewusstsein, innerhalb des von Männern dominierten Kulturbetriebs und der männlich konnotierten ästhetischen Bewertungskriterien nicht für voll genommen zu werden. Ebner beschreibt diese Einstellung immer wieder und weitet sie zu grundsätzlichen Aussagen aus. Dafür sei hier nur beispielhaft folgende Bemerkung aus einem ihrer Notizhefte der Jahre 1879/ 80 angeführt, in der sie ausdrücklich auf den Ästhetiker des französischen Klassizismus Nicolas Boileau hinweist, dessen L’Art poétique (1674) auch für das grundlegende poetische Verständnis in der deutschen Tradition maßgebend wurde: Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="63"?> Seit Boileaus berüchtigtem Mißverständnis des Grand Cyrus von dem Frln. v. Scudèri, hat noch mancher kleinere Kritiker sich nicht minder groß geirrt bei der Beurtheilung des schriftstellerischen Werkes einer Frau. In Deutschland überhaupt, verliert ein Mann dem Buche einer Frau gegenüber jede Unbefangenheit denn im Grunde meint er doch immer daß es nicht existieren sollte. 6 In diesem Kontext wird dann eine intensive Lektüre von Marie Roland zum Beispiel dafür, was Frauenliteratur - gerade auch die Literatur von einer ja durchaus nicht im landläufigen Sinne radikalen Frau - für ein Verständnis unserer Vergangenheit und literarischer Traditionen leisten kann und wie eine angemessene, nicht dem Prokrustesbett der kanonischen Lektürevorgaben geschuldete Kontextualisierung den angeblichen Makel ästhetischer Insuffizienz verschwinden lässt. Es soll hier also gerade nicht jene Art von Frage gestellt werden, die ein besonders vehementer Kritiker von Ebner- Eschenbachs ästhetischen Qualitäten, Helmut Koopmann, einmal so formulierte: „Was die Klassiker wohl dazu gesagt hätten? “ 7 Diese Frage so zu stellen, heißt, ausdrücklich keine anderen als die aus der klassischen Tradition entsprungenen Bewertungskriterien akzeptieren zu wollen und ein in der Auseinandersetzung mit moderner Literatur sonst selbstverständliches Eingehen auf die in den Texten ent- oder auch verworfenen Bezüge zu dieser Tradition für Ebner-Eschenbach nicht gelten zu lassen. Wie aus der einleitenden Interpretation ihrer Autobiographie deutlich geworden ist, greifen diese Kriterien bei Ebner nicht - und sollen wohl auch gar nicht greifen. Ich habe Marie Roland als Beispiel gewählt, weil dieses Stück sich ganz deutlich auf die Schiller’sche Tradition bezieht und durch diese offensichtliche Nähe (oder vielleicht eher trotz dieser Nähe) ganz besonders die Eigentümlichkeiten hervortreten lässt, um die es hier gehen soll. Denn bei genauer Lektüre wird deutlich, dass dieses Drama von Ebner-Eschenbach den interpretatorischen Rahmen so weit verschiebt, dass es nicht zureichend erschlossen - also auch nicht adäquat bewertet - werden kann, wenn man es nur auf einen normativ gedachten klassischen Kanon bezieht. Eine umsichtige Lektüre kann daher ein angemesseneres, die Eigenheiten des Dramas beachtendes Verständnis entwickeln. Die Entstehungsgeschichte des „Trauerspiels in fünf Aufzügen“ Marie Roland, wie sie sich aus den Tagebüchern erschließt, reicht Marie Roland (1867) 63 <?page no="64"?> 64 von 1866 bis 1867, fällt also in die Zeit des Deutschen Krieges, von Habsburgs Abtretung Venetiens an Italien und des Ausgleichs mit Ungarn. Ebner hat viele der kriegerischen Ereignisse in ihrem Tagebuch notiert; Mitglieder ihrer Familie standen im Feld. Die großen politischen Umwälzungen, die damit für das Habsburgerreich verbunden waren, bilden den Hintergrund von Ebners Schreiben des historischen Dramas, auch wenn es keine offensichtlichen Verweise gibt. 8 Die entscheidende Anregung war die Lektüre von Lamartines Histoire des Girondins im Januar und Februar 1866. „Ich lese die Girondins von Lamartine u. bin völlig berauscht“ (TB I, 77) heißt es am 31. Januar. Nur zwei Tage später: „Die Girondins gelesen, ich schreibe eine Tragödie: Marie Roland. Das steht fest! -“ (TB I, 77) Die erste Fassung war schnell beendet. Am 7. April 1866 ist Ebner „bei der letzten Scene des 3 t Acts“, welche die Konfrontation zwischen Danton und Marie Roland gestaltet und die ihr „die wichtigste im ganzen Stück ist“. (TB I, 89f) Trotz intensiver Quellenstudien, zu denen auch die Lektüre der Memoiren von Marie Roland gehört, ist eine vollständige Fassung schon am 19. Mai 1866 abgeschlossen, die Ebner ihrer gerade erst kennengelernten (vgl. TB I, 146) Freundin Ida Fleischl, die zu ihrem „literarischen Gewissen“ (Bettelheim) wurde, „in einem Athem“ (TB I, 97) vorliest. Die Korrekturen und Umschreibungen nehmen länger in Anspruch. Nach weiteren Vorlesungen im häuslichen Kreis, die weitgehend positive Urteile hervorrufen, schickt Ebner das Manuskript an Eduard Devrient, Leiter des Karlsruher Hoftheaters und einer der bedeutendsten Theatermänner der Zeit, und nimmt von ihm auch einige Änderungswünsche entgegen. 9 Nach den eher vielversprechenden ersten Reaktionen - auch Ebners Mann Moriz und der Direktor des Burgtheaters Heinrich Laube loben das Stück im Januar 1867 (vgl. TB I, 155) - lehnt Devrient es dann aber doch in einem Brief vom 3. März 1867 ab, da, wie das Tagebuch seine Formulierung wiedergibt, die „Gifthauchatmosphäre der Revolutionszeit [...] zu treu darin geschildert“ (TB I, 162) sei. Enttäuscht kommentiert Ebner: Der Brief widerspricht in vielen Punkten jenem den mir Devrient im Herbste schrieb. Damals fand er sie [Marie Roland] zu edel, jetzt findet er sie so unweiblich dass man keine Sympathie für sie empfinden kann. Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="65"?> Und an ihrem Charakter habe ich doch nichts geändert, das ist alles geblieben was es war. (TB I, 162) Die Umarbeitung geht dennoch voran und wenig später, am 27. März 1867 notiert Ebner-Eschenbach im Tagebuch: „Den letzten Act der Marie Roland in die Druckerei geschickt.“ (TB I, 165) Während eines Kuraufenthalts in Bad Kissingen spricht Devrient noch einmal wegen des Stückes vor, das er nun doch geben will, wenn eine für Wien geplante Aufführung erfolgreich sei. (vgl. TB I, 189) Diese kommt aber nicht zustande, weil der Ebner wohlgesonnene Heinrich Laube 1867 seine Direktorenstelle verlor. Die bei ihr immer wieder auftauchende Kinder-Metapher für ihre Schriften verwendend schreibt Ebner enttäuscht am 11. Juli 1867 ins Tagebuch: Lebe wohl Marie Roland! Es ist einmal wieder eines meiner Kinder gestorben bevor es auf der Welt war. (TB I, 193) Und sie wiederholt diese Metaphorik in einem Brief am 12. November 1867: Marie Roland ist mit Doctor Laube vom Schauplatze verschwunden, ich sehe jetzt nirgends eine Möglichkeit dieses Lieblingskind, das mir am Herzen liegt wie kein anderes vor das Lampenlicht zu bringen. 10 Dennoch gelang es. Das Stück wurde gut ein Jahr später, am 31. Oktober 1868, unter August von Loën mit Erfolg am Hoftheater in Weimar uraufgeführt. Den Weg ins Repertoire hat es freilich nicht gefunden, obwohl es an enthusiastischen Stimmen nicht gefehlt hat. Moritz Necker schreibt in seinem Buch über Marie von Ebner-Eschenbach aus dem Jahr 1900, „daß die gesamte Frauenlitteratur nichts auf dem dramatischen Gebiete aufzuweisen hat, was sich an Kraft der Gestaltung und Schönheit der Form [mit Marie Roland] messen kann“ 11 - was freilich auch eine subtile Art ist, das Stück auf den Bereich der separaten „Frauen“-Literatur einzugrenzen. Das Trauerspiel zeigt die letzten Monate im Leben der „Königin“ und „Seele der Gironde“ (II.4; 477, I.3; 460) Marie Roland, die auch sonst, etwa in Minna Kautskys von Ebner brieflich gelobten Madame Roland (1878) als Titelheldin für von Frauen geschriebenen historischen Tragödien diente. 12 Ebner-Eschenbach verschränkt die Staatsaktion des Kampfes zwischen Girondisten und Jakobinern mit dem persönlichen Konflikt Rolands, die als Politikerin ein neues Scheidungsrecht durchgesetzt hat, das sie aber trotz ihrer Liebe für den Marie Roland (1867) 65 <?page no="66"?> 66 Politiker Buzot nicht in Anspruch nehmen will, um nicht eigensüchtiger Motive beschuldigt zu werden; die politische Tat soll autonom bleiben. Im Kreis der Girondisten ist es Marie, die anfangs auf tatkräftiges Handeln drängt, da ein ruhigeres räsonierendes Tun der entfesselten geschichtlichen Dynamik nicht mehr angemessen sei. — So [d.h. räsonierend] konntest Du in stillen Tagen handeln, Wo die Vernunft, Gerechtigkeit und Güte Im Rath der Völker eine Stimme hat, Nicht jetzt, da hochgeschwellt der Zeitenstrom In wilden Güssen durch das Weltall rast, Die Kräfte von Jahrhunderten austobend! — (II.5; 481) Nachdem der Versuch, die Jakobiner im Convent festzusetzen, durch den Verrat Lanthenas gescheitert ist, lässt sich Roland bereden, trotz ihrer Abneigung mit dem für die Septembermorde verantwortlichen Danton eine mögliche Koalition der Girondisten gegen die Radikalen um Robespierre auszuloten. Doch auch dieser Versuch misslingt, weil Dantons zynisches Verhältnis zur Macht und zur Rolle des Volkes in einem unbedachten Kommentar deutlich wird. Dadurch kommt Danton für Roland nicht mehr als Partner in Frage. Roland ruft die Gironde zu einer den Bürgerkrieg riskierenden Erhebung auf, um die Republik zu retten. Sie entsagt ihrer Liebe zu Buzot und stellt sich ganz hinter die Ehe mit Roland. Während die Männer aus ihrem Umkreis sich in die Provinzen aufmachen, um von dort aus den Kampf zu koordinieren, bleibt sie in Paris zurück. Dort wird sie festgesetzt und verurteilt. Einen letzten selbstlosen Rettungsversuch durch die anfangs von Roland herablassend behandelte, doch nun respektierte und verehrte Kurtisane Lodoïska lehnt Roland ab. Als eine dem vergebenden Gott zugewandte Frau geht die Atheistin Roland aus dem Leben. Die Schlussworte Lodoïskas statuieren in einer der Schiller’schen Maria Stuart nachempfundenen Wendung ins Erhabene die Hinterlassenschaft Marie Rolands, während diese zur Enthauptung abgeführt wird . Sie geht zum Sieg. Auf Feuerflügeln schwebt Zum Himmel auf der lichtverklärte Geist; Ihr Irrtum stirbt mit ihrem Menschendasein, Was ewig von ihr lebt, ist ihre Größe. (V.3; 525) Wie der ausführliche Titel schon angibt, ist Ebner-Eschenbachs Trauerspiel traditionell in fünf Aufzüge eingeteilt, die in Rolands Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="67"?> Haus, in einem Vorraum des Convent - dort die entscheidende Szene des Zwiegesprächs mit Danton - und schließlich im Kerker spielen. Die Schillernachfolge ist deutlich zu erkennen, in gewisser Hinsicht steht Marie Roland Schiller noch näher als Ebners frühere Tragödie Maria Stuart in Schottland, ist sozusagen die „nähere Verwandte des Schillerschen Dramas.“ 13 Nach 1859 war ja dieser Klassiker zum unangefochtenen Zentralgestirn des deutschsprachigen Theaters geworden. Ebner bestätigt dies indirekt in einer Tagebuchnotiz, nachdem sie den ersten Aufzug einer begeisterten Frau von Littrow vorgelesen hatte: „Wenn alle Leute die das Stück sehn so davon hingerissen werden, dann wackelt Schiller’s Thron im Himmel“ - nicht ohne gleich hinzuzufügen, dass man von dieser Zuhörerin leider „kein ruhiges Urteil“ haben könne. (TB I, 85) Traditionell im Sinne des Nachklassizismus und Zeichen des hohen Anspruchs ist in Marie Roland auch, dass alle Girondisten in Jamben sprechen - nur im zentralen Aufzug herrscht im ersten und zweiten Auftritt die Prosa der Machtpolitik von Robespierre, Marat, Danton und Lacroix vor, übrigens eine Veränderung, die Ebner erst nachträglich in den Text einarbeitete. 14 Sobald Marie erscheint, kehren jedoch die Jamben wieder. Dieser am Klassizismus orientierte ästhetische Gestus trennt Ebners Drama radikal vom berühmtesten Revolutionsdrama des 19. Jahrhunderts, von Büchners Dantons Tod, auch wenn sich gewisse Ähnlichkeiten in der Anordnung des Stoffes, vielleicht auch in einigen Formulierungen, nachweisen lassen. 15 Einen Zeitkontext erhält das Stück eher in den Revolutionsdramen, die nach dem Revolutionsversuch 1848 geschrieben wurden und sich zuweilen explizit auf die französichen Vorgänge ein halbes Jahrhundert früher berufen. 16 Otto Ludwigs „herrliche Maccabäer“ (TB I, 149) etwa hatte Ebner sogar während der Entstehung von Marie Roland im Burgtheater gesehen. Andere Beispiele, heute meist vergessen, wären Brachvogels Der Usurpator und Robert Griepenkerls Die Girondisten (1852) und Maximilian Robespierre (1850) - in diesem letztgenannten Stück spielt der Autor übrigens auch mit der Gegenüberstellung der prosaischen Sprache der Machtpolitik und der jambisch rhythmisierten, natürlich auf die weibliche Figur Therese Cabarrus zugeschnittenen poetischen Sprache, in der Erlösung von der Geschichtsgewalt in einer Freiheitsutopie anvisiert wird. 17 Das einzige auch heute noch bekannte Beispiel eines Stücks, das Revolution und radikalen Geschichtsbruch in ihrem Verhältnis zum Marie Roland (1867) 67 <?page no="68"?> 68 Individuum thematisiert, ist Hebbels Agnes Bernauer, eine große Ausnahme unter den kanonischen Geschichtsdramen, insofern es die Geschichte der Mächtigen darstellt, deren zerstörerische Gewalt die Titelheldin einfach auslöscht. Das Verhältnis zwischen Individualität und geschichtlicher Bedingtheit ist nicht mehr relativ unproblematisch in seiner Priorität des individuellen Handelns, wie wir es aus dem klassischen Drama kennen. 18 Auch wenn ein damals so berühmter Dramatiker wie Gustav Freytag in seinen Journalisten weiter daran festhält, dass nur Einzelmenschen die Macht haben, die Welt von Grund auf zu erneuern, 19 zeigen die historischen Dramen gemeinhin gerade das Gegenteil. Schon bei J.M.R. Lenz und Georg Büchner sind die Figuren durch Zwang und Zufall in ihrem Handeln und Leben bestimmt. Gerade das Scheitern der Versuche, geschichtliche Entwicklung und individuelles Handeln sinnvoll aufeinander zu beziehen, lässt sich in den oben erwähnten Revolutionsdramen durchgehend feststellen. Gerade auch Hebbels Agnes Bernauer legt diese neue Situation überzeugend dar, indem die Individualität der politisch Handelnden ebenso durch den Geschichtsprozess ausradiert wird wie die „schöne Person“ Agnes. Auch für das Stück Marie Roland liegt ein entscheidendes Problem darin, wie die revolutionäre Person und der geschichtliche Prozess zueinander stehen und wie dies in der Darstellung der einen Person sinnfällig Gestalt annehmen kann. Ebner-Eschenbach versucht, diesem Problem auf eine recht eigenwillige Art und Weise beizukommen. Von Anfang an ist klar, dass Marie Roland, nicht ihr Mann, diejenige ist, die bei den Girondisten den Ton angibt und die relevanten politischen Entscheidungen trifft. „Sie schreibt für ihn,/ und spricht für ihn, und handelt wohl für ihn.“ (I.1; 455) Der weiblichen Opferrolle, wie wir sie aus Hebbels Dramen kennen, ist Marie Roland diametral entgegengesetzt. Und doch wird auch wieder subtil die geschlechtsbestimmte Dynamik eingeführt, denn Marie agiert nicht einfach als Person, sondern - dreimal wird es wiederholt - sie tut alles „für ihn“. Die Titelfigur nimmt eine im Politischen so aktive Rolle ein, dass sie aus dem Rahmen der Geschlechterrollen heraustritt, woraus Devrients Feststellung, dass Roland in dem Stück „so unweiblich“ sei (TB I, 162), erklärbar wird. Freilich kann man diese Art der Argumentation auch umdrehen und feststellen, dass Ebner-Eschenbach mit großer Konsequenz die Femininisierung der sonst als männlich besetzten historisch rele- Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="69"?> vanten Handlungskraft betreibt. Dies wird in der Kontrastierung mit den männlichen Mitgliedern der Gironde deutlich, die sich ganz bewusst in eine antike republikanische Tradition stellen. Schon die Szenenanweisung für den ersten Akt hebt hervor, dass der Raum in Rolands Wohnung ein „[i]m griechischen Style einfach decorirtes Zimmer“ (I.1; 455) ist. Es ist das bewusste Zitat der klassischen Antike und darin symbolkräftig werdend die als ungebrochen verstandene politische Tradition, welche die Männer der Gironde aufrechterhalten wollen und in welcher sie sich als geschichtstreibend Handelnde sehen, „die Kräfte von Jahrhunderten austobend“. Wenn Marie Rolands Mann sich im Convent gegen Anschuldigungen verteidigen will, indem er „wie Scipio“ (I.2; 457) die Schmähschrift seiner Gegner verbrennt, dann beruft auch er sich auf eben diese Tradition. Sie soll ihm Autorität verleihen, ist aber schon längst verlebt und für das revolutionäre Frankreich unzeitgemäß. Babaroux, einer der Girondisten, antwortet daher durchaus stimmig: „Den Römer spielen taugt nicht in Paris./ Dein Unglück ist, daß Du zu groß empfindest,/ Zu tugendhaft, zu stolz, zu edel bist.“ (I.2; 457) Aber das hat keine Wirkung auf Roland, der weiterhin sich dem gleichen Metaphernfeld - und damit symbolisch der gleichen geschichtsmächtigen Tradition - verbunden fühlt. Wenig später ruft er noch einmal die klassische Tradition herbei - und zieht diesen Rückgriff auf die Tradition beinahe ins Phrasenhafte. „Wie Cato und wie Brutus will ich sterben,/ Am Tag der mir den letzten Glauben raubt/ An deine Zukunft — freie Republik! “ (I.3; 459) Es ist nun interessant zu sehen, dass dieser Vergleich mit Cato auch in den Madame Roland abhandelnden Teilen von Lamartines Histoire des Girondins auftaucht. Dort allerdings steht er in der Wiedergabe eines Briefes von Marie Roland an Robespierre. 20 Diese kleine Veränderung führt zu einer allgemeineren Beobachtung, dass nämlich Ebner in Marie Roland alle Rückverweise auf die klassische Antike Männern in den Mund legt, und zwar sowohl Girondisten wie Jakobinern. Damit markiert sie diesen Traditionsstrang als maskulin. Aus dieser Perspektive ist es dann nicht überraschend, wenn Marie Roland dem Schwadronieren ihrer Getreuen über die klassischen Vorbilder „mit allen Zeichen heftiger Ungeduld“ (I.3; 459) zuhören muss, sich dann aber nicht länger bezwingen kann. Nicht das Stürzen nur des alten Systems, sondern der Bau eines neuen Marie Roland (1867) 69 <?page no="70"?> 70 liegt ihr am Herzen; sie ist also ganz zukunftsgerichtet. „Wer spricht von Sterben, eh’ sein Werk vollbracht? / [...] es galt das Recht zu gründen,/ Ein neu Gesetz im neuerstand’nen Reich./ Die große Arbeit ist noch ungethan.“ (I.3; 459) Hier ist es wieder Marie, die den Anstoß gibt zum politischen Handeln und zwar zu einem, das ausdrücklich nicht von persönlichen Motiven bestimmt ist. Auf die Auslassung Vergniauds, dass sie die „Seele der Gironde“ sei und stets ihr Wunsch der Gironde ein Gesetz, antwortet Marie: Mein Wunsch? — Wohl darum nur allein, weil er noch nie Nach Anderem begehrte als dem was recht. (I.3; 460) Das Selbstverständnis, das Marie hier ausdrückt, ist das einer politisch tätigen, geschichtsbestimmenden Person, in der individuelles Wollen ganz aufgesogen ist in notwendiges geschichtliches Handeln. Insofern scheint eines der grundlegenden Probleme der Geschichtsdramen, wie nämlich Individuelles und Kollektives in der Geschichte sinnfällig aufeinander bezogen werden können, auf geradezu klassische Art gelöst. Marie Roland verkörpert das revolutionär legitimierte, also von der Tradition sich absetzende Subjekt der revolutionären Geschichte. Das Herbeizitieren der antiken Tradition als rechtfertigende, historische Kontinuität verbürgende und Autorität stiftende Vorgabe findet sich, wie schon erwähnt, sowohl bei den Girondisten als auch bei den Jakobinern. Lodoïska berichtet, dass Marat sich in seiner Rede an die Versammlung auf das klassische Vorbild des Tyrannenmordes an Cäsar im Senat beruft, um die Entsetzung und Ermordung der Girondisten im Convent zu fordern. (vgl. I.4; 464) Und Lacroix verwendet Motive aus der gleichen Tradition, um Marie in einer etwas anzüglichen Art zu begrüßen, als sie in den Convent kommt, um mit Danton zu sprechen. Hier nun erhält die oben bemerkte maskuline Markierung in der Auseinandersetzung zwischen Marie und den Jakobinern eine deutlichere sexuelle Note und wird in ihrer macht-relevanten Dimension greifbar. Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="71"?> Lacroix. Wer ist das? — Ei, wär’s möglich, schöne Frau? M ARIE . Der Freund Danton’s, der Erste, den ich treffe? Ein böses Omen. L ACROIX . Eine Römerin, Vermuth’ ich, kehrte um. (vgl. III.3; 490) Einerseits scheint sich Lacroix hier auch ein wenig humoristisch über die sich auf die Antike stützende Tradition lustig zu machen, deren Manipulierbarkeit in der revolutionären Situation durch die behäbige Art der Girondisten und die radikale von Marat gezeigt wird. Zugleich sexualisiert er die Gegenüberstellung, sodass die politische Auseinandersetzung in eine des Geschlechterkampfes hinüberspielt. L ACROIX . (in ihren Anblick versunken) Wohlan! — es sei denn — schöne — schöne Frau. M ARIE . Habt Dank und geht. L ACROIX . Habt Dank und — bleibt, kläng’ besser. M ARIE . Ich bitt’ Euch, geht! und kann es sein so schickt Der Freunde einen mir. L ACROIX . Ha ha, Buzot! M ARIE . (mit mühsam unterdrücktem Zorn). Schickt Vergniaud. L ACROIX . Ich käme lieber selbst, Euch der Erwartung Stunde zu vertreiben. M ARIE . Thut’s nicht! — Euch wär’s nicht Freude — mir wär’s Qual. (III.3; 491) Nicht nur Lacroix verquickt die klassische Tradition mit einem erotisch-sexuellen Diskurs, um politische Vorteile zu erringen. Danton etwa nennt Marie kurz vor dem obigen Zitat im Gespräch mit Buzot und Vergniaud „Circe der Revolution“ (III.2; 488) und bindet sie damit ebenfalls in jenen sexuell geladenen Diskurs der Antike ein, durch den sie politisch (und als attraktive Frau! ) in die Enge getrieben, auf ihr Geschlecht eingeschränkt und manipuliert werden soll. Nebenbei legt Danton damit auch nahe, dass er sich womöglich Marie Roland (1867) 71 <?page no="72"?> 72 selbst in der Rolle des Odysseus sieht, der die Zauberin überlisten und besiegen wird. So ist Marie in den ersten Teilen des Dramas dargestellt als eine Figur, die einem großmächtigen, handlungsgerichteten Geschichtsverständnis verbunden ist, in dem sie selbst ganz aufgeht in der historisch wirksamen Tat. Dieses Verständnis wird sowohl von ihren Mitkämpfern als auch von ihren Gegnern geteilt, die es freilich auch benutzen, um Marie als Frau zu bedrängen. Selbst hier gibt es eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Männern, die ungeachtet von ideologischen Unterschieden die Frau als Frau kritisieren. Einer der Girondisten, Gensonné, kommentiert schon in der ersten Szene, nach einem einleitenden Gespräch über die Aktivitäten Maries und wie sie die Geschicke der Girondisten energisch vorantreibt, ihren ersten Auftritt damit, dass hier der „böse Geist“ (I.1; 456) sowohl des wenig tatkräftigen Roland als auch der Girondisten überhaupt erscheint, eben die Frau, die stets „für ihn“ agiert. Die im öffentlichen Leben aktive Frau ist also von Anfang an als gefährliche Präsenz gezeichnet. Trotz verschiedener Hinweise auf die Brüchigkeit der dargestellten Welt ist die hohe, klassizistische Form des Dramas in diesen Teilen dem Gehalt angemessen, weil Marie es ist, die die Entscheidungsgewalt innerhalb des dramatischen Konflikts behält und gegen starke Mächte zu verteidigen hat und die in ihrer Person demonstrativ Öffentliches und Privates zu einem scheinbar effektiven Ganzen verknüpft. Am Wendepunkt der dramatischen Handlung, in Maries Zwiegespräch mit Danton, wird die eigentümliche Geschlechtskodierung in ihrer ganzen Bedeutungsdimension für die dramatische Handlung ausgesponnen. Danton schlägt Marie ein Bündnis vor, in dem das „allgemeine Beste“ der Revolution durch ihn vertreten wäre, „Durch einen Mann/ Zum mindesten! ... Kein Weib und keinen Träumer,/ [...] Den stärksten Sohn der unerhörten Zeit,/ Der, mündig worden, seine Mutter bändigt.“ (III.4; 494) Das Denken Dantons scheint sich hier beinahe auf der Grundlage der Metapher zu offenbaren in einer Neubegründung phallischer Gewalt durch den Sohn, der die „Mutter“ Zeit, „die“ Revolution entmächtigen will. In Dantons Rede wird nicht nur einfach der Anspruch auf Vormacht in einer möglichen Koalition zwischen Girondisten und Dantons Gefolgsleuten artikuliert, sondern der Geschlechterdiskus soll alle Gegensätze zwischen Danton und Marie überdecken und zugleich die Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="73"?> männer-dominierte Machtkonstellation stabilisieren. Doch werden darin nun die Unterschiede nur besonders deutlich hervorgehoben. Bei Marie fallen in der oben ausgeführten Weise persönliches Wollen und geschichtliche Macht selbstlos im Konzept zusammen, das Rechte zu tun. Damit entspricht sie dem Ideal der klassischen historischen Tragödie. Danton hingegen insistiert auf dem reinen Machtanspruch des großen, geschichtsformenden Individuums, das sich in seiner Genialität keinen Regeln zu unterwerfen hat. „Die Freiheit freien Geistern! Knechtschaft,/ Allewig Knechtschaft dem gemeinen Troß,/ Der auch allewig bleiben wird — gemein.“ (III.4; 496) Marie hält hingegen daran fest, dass sie repräsentativ (und damit verantwortungsbewusst) das Volk und die Revolution vertritt. „Du glaubst nicht an das Volk“ (III.4; 497) lautet daher der doppelt ausgesprochene und verdammende Vorwurf an Danton. Dantons Reaktion ist bezeichnend, denn er will Marie nicht unbeschadet entlassen, sozusagen als Verkörperung des klassichen Einklangs zwischen individuellem Willen und geschichtlichem Auftrag. „Du wirst von mir nicht scheiden, wie Du kamst,/ Im siegenden Bewußtsein Deines Rechts,/ Mit dieser Stirne und diesem Blick! .../ Es gibt ein Wort, das sie zerfließen macht,/ All’ Deine Herrlichkeit. — Vernimms! “ (III.4; 497) Aber erst gegen Ende seiner längeren Rede spricht er das entscheidende Wort - und dann gleich mehrfach - aus: D ANTON . Den Fall Der Girondisten, wer rief ihn herbei? — Diejenige, die in den Kampf sie trieb, [...] Das kräft’ge Weib braucht kräftige Umarmung, Und spottet der platonischen Verehrer. [...] Das thut ein Weib an Denen, die sie liebt, Und dieses Weib erkühnt sich mich zu schmähen? Mich zu verachten? — — Höll’ und Tod! dies Weib Ist meine ebenbürtige Genossin — [...] Hierher, Marie Roland Hier steht der Mann, zu welchem Du gehörst. [...] Ich bin vielleicht Dir theurer als Du glaubst, Wie Du mir ähnlicher als Du’s gewußt. (III.4; 498, meine Hervorhebungen) Marie Roland (1867) 73 <?page no="74"?> 74 Danton erweitert damit die Verleumdung Maries als Flittchen der Revolution durch Hébert (vgl. II.4; 479) ins Politische und will sicherstellen, dass Weiblichkeit selbst das Merkmal der Inkompetenz wird. Nicht im ethischen Anspruch oder der politischen Ideologie, sondern im biologischen Geschlecht will Danton den Unterschied zwischen sich selber und Marie festmachen und leitet daraus bei einer zugleich behaupteten Ähnlichkeit in der Disposition gegenüber der Macht seinen eigenen Anspruch auf Vorrang ab. Diese Ähnlichkeit besteht aus Dantons Perspektive im Anspruch historischer Legitimität für die Macht, in der Öffentlich-Politisches unter dem Primat des Persönlichen enggeführt ist. Und tatsächlich lässt sich im Folgenden sehen, dass diese Ähnlichkeit besteht und die Grundlage bildet, von der aus sowohl Marie als auch Danton handeln und an der sie beide scheitern werden. 21 Der folgende Akt zeigt Marie, die aus dem Bewusstsein revolutionärer Legitimation zu bewaffneter Erhebung aufruft und sich von den Einwänden ihres Mannes nicht davon abbringen lässt. Sie insistiert zudem weiterhin, dass nicht persönliche Motive sie zur Tat antreiben, sondern einzig die historische Notwendigkeit. R OLAND . Was ihr beschließt, es ist der Bürgerkrieg! [...] M ARIE . Sie thun es nicht mit frevelhaftem Leichtsinn! Dies ist kein Kampf in dem der Ehrgeiz siegen, In dem ein Einzelner gewinnen will. Dies ist ein Kampf Gerechter für das Recht. [...] R OLAND . [...] Ergreift auch Euch der Rausch Der Jakobiner? ... Bleibt Ihr selbst! Steht fest Im Wirbel, in der Brandung, felsenfest! M ARIE . Sind wir aus Stein? — Es gibt kein Stehenbleiben! (IV.4; 504f.) Geschichtsgewaltig insistiert Marie auf der normativen Differenz zu Danton und den Jakobinern, die ihr Handeln legitimiert. „Wir haben recht gethan, wir thun recht! “ (IV.4; 505) Doch entblößt sie die Ähnlichkeit im Ansatz zwischen Danton und sich selber, auch die erotische Anziehungskraft, die die Macht auf beide ausstrahlt: Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="75"?> O Danton, Danton, mich lockt’s, Allmächtig lockt mich’s, Dir zu zeigen, Teufel! Wie schwer ein Haupt wiegt in der Schicksalswage, In dem gelebt ein göttlicher Gedanke! (IV.4; 507) Daher verblüfft es nicht, wenn die zuhörenden Freunde Marie „mit stumme[m] Entsetzen“ (IV.4; 507) anschauen. 22 Doch Marie wird scheitern. Die Erhebung misslingt und Marie wird festgesetzt. Noch im Kerker steht sie blind zu ihrer Tat und stellt sich in eine Reihe mit „Märtyrern der Freiheit und der Pflicht“ (V.2; 516); sie sterbe ohne Schuld, durch die Verurteilung „gleich gestellt den Edelsten und Besten“. (V.2; 516) Doch dieser noch in der Opposition dem Modell geschichtsmächtigen, politischen Handelns nachhängenden Einstellung gibt Ebner eine überraschende Wendung, sowohl im Politischen als auch im Privaten. Erstens erfährt Marie durch ihre Zofe davon, dass die Marie Roland verhasste Königin von Frankreich nicht „die Königin aus Stein“ (V.2; 517) war, die sie sich vorgestellt hat, sondern durchaus menschlicher Regungen fähig war und daher Anspruch auf persönliches (nicht politisches) Mitleid hatte. (vgl. V.3; 522) Dass Ebner hier dieselbe „Stein“-Metapher verwendet, die Marie Roland in ihrer flammenden, zum Bürgerkrieg aufrufenden Rede einsetzt, weist subtil darauf hin, dass Marie und die Königin trotz der politischen Gegnerschaft als Menschen verbunden sind. Die zweite - und umständlicher ausgeführte - Wendung Maries betrifft ihre Einstellung zur Signifikanz politisch-geschichtlichen Handelns und gegenüber sich selbst als historischem Subjekt. Lodoïska besucht sie im Gefängnis und berichtet vom Scheitern des Kampfes und vom Selbstmord von Maries Mann. Der hatte eine verfrühte und falsche Nachricht von Maries Tod erhalten und sich daraufhin umgebracht. Anschließend erläutert sie Marie einen Fluchtplan, bei dem Lodoïska anstatt Marie im Gefängnis zurückbleiben und somit die Rettung und das politische Weiterwirken ihrer Verehrten ermöglichen würde. Kurioserweise verändert Ebner-Eschenbach hier ausdrücklich den Zeitablauf, wie die historischen Quellen ihn wiedergeben, denn Maries Mann, Jean Marie Roland de la Platière, brachte sich erst zwei Tage nach der am 8. November 1793 erfolgten Hinrichtung seiner Frau um, also am 10. November 1793. Das legt nahe, dass Ebner hier eine besondere Wirkung erzielen wollte. Dadurch, dass sie die Nachricht vom Marie Roland (1867) 75 <?page no="76"?> 76 Selbstmord ihres Ehemannes Marie Roland zugleich mit dem Plan zum Rollentausch mit Lodoïska zukommen lässt, stellt Ebner zwei unterschiedliche Arten von Opferbereitschaft einander gegenüber. Die eine, durch Maries Mann verkörpert, ist selbstbezogen, unproduktiv und selbstzerstörerisch, eine destruktive Variante heroisch-geschichtsbestimmenden Handelns, die tief in traditionelle Kulturmuster eingebettet ist. Er stirbt tatsächlich, wie er schon zu Beginn des Dramas angekündigt hatte, wie Cato und Brutus. In Marie Roland besteht eine besondere Pointe darin, dass der Selbstmord auf Grund der Fehlinformation über den Tod des Ehepartners den Mann in den Tod treibt, nicht die Frau, wie es in der historisch-literarischen Tradition üblich war. Shakespeare hat Teil an dieser Tradition in Julius Caesar, wo er sie duch die Frau von Brutus, Portia, gestaltet, welche sich angeleitet durch eine Falschinformation selbst ermordet. So handelt es sich nicht nur um eine Art vereinzeltes literarisches Motiv, das Ebner aufgreift und umformt, sondern um ein immer wieder ausgeführtes kulturelles Muster. Das sei durch ein weiteres prominentes Beispiel aus der Tradition belegt: Friedrich Hölderlin lässt Diotima in Hyperion unter ausdrücklicher Berufung auf „die große Römerin“ - gemeint ist Portia - in den Freitod gehen, obgleich sie rechtzeitig erfahren hat, dass Hyperion noch lebt. Sie folgt also dem Muster, obgleich sozusagen die Informationslage eigentlich ein anderes Handeln unterstützen würde. Beinahe selbstverständlich ist es, dass dieser Freitod dann ein ästhetischer wird: Diotima stirbt einen „schöne[n] Tod“. 23 Und vielleicht liegt in Ebner-Eschenbachs Drama eine kleine weitere Anspielung auf die männliche literarische Tradition vor, wenn man sich jenes berühmtberüchtigten ersten deutschen Originaldramas erinnert, der historischen Tragödie Der sterbende Cato (1731) von Johann Christoph Gottsched. In allen diesen Fällen wird der Tod als schöner und aufopfernder Tod dargestellt, freilich in der besonderen Perspektive eines tragischen Scheiterns an Geschichtsmächten. Die andere, bei Ebner-Eschenbach nun in den Vordergrund tretende Art der Opferbereitschaft ist die, welche Lodoïska im Rettungsplan vorschlägt. Man könnte diese im Gegensatz zu Rolands Selbstmord als den Versuch einer produktiven Selbstaufgabe bezeichnen, der das Motiv des gefallenen Mädchens aufgreift, das sich durch Selbstopferung moralisch reinigt und zugleich der Gemeinschaft einen Dienst erweist. Indem Lodoïska bereit ist, sich an Marie Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="77"?> Rolands Statt in Gefangenschaft zu begeben, selbst zu einem Zeitpunkt, da sie ihren Geliebten Louvet sicher weiß und daher eine gemeinsame Zukunft mit ihm möglich scheint, eröffnet Lodoïska das Potential einer geschichtsnahen, aber nicht geschichtsmächtigen Tat. Denn bei Durchführung dieses Plans wäre eine Weiterführung der politischen Aktivitäten Marie Rolands möglich. Doch Marie wird den Plan ablehnen, womit die traditionelle Ausführung dieses Motivs ausbleibt. Nachdem sie von Rolands Selbstmord gehört hat, ist Marie anfangs noch ganz befangen im dumpfen Pathos der Selbstaufgabe. „Ich folge Dir, Roland, mein armer Freund./ Der ernste Pfad, den heiter Du betreten,/ Weil Du gewähnt, ich sei vorangeschritten,/ Wohin er führe, führt er doch - Dir nach! “ (V.3; 520) Hier spricht sie noch ganz innerhalb der vorgegebenen, tradierten Parameter. Konfrontiert mit der Opferbereitschaft Lodoïskas wandelt sie sich jedoch grundlegend und erkennt: Du Bessere als ich, der ich mich beuge! — Zum ersten mal vor einem Menschenkind. Zum ersten mal in wahrer Demuth auch Vor jenem Gott, der zu mir sprach durch Dich! — [...] Was mir gefehlt? — An Gott der Glaube, und an mir der Zweifel! [...] Wie anders bin ich als ich mir erschien! — (V.3; 521f.) Nun könnte man diese abrupte Wendung sehr wohl als eine enttäuschende Rückkehr Marie Rolands in vorgegebene Weiblichkeitsrollen interpretieren, als Kapitulation vor bestehenden politischen und religiösen Mächten und eine Rückkehr unter das Dach der beschaulichen, allgemeinmenschlichen Ordnung. 24 Dagegen spricht Marie Roland allerdings selber sehr präzise an. Schon in der zitierten Rede ist der „Gott“, der beschworen wird, ja nicht eigentlich ein wirklicher, sondern einer, den man ebensogut mit einem Prinzip gleichsetzen könnte, das die Notwendigkeit humanen Handelns verbürgt. Den zynischen Kommentar Lacroix’, dass sie nun doch noch Sehnsucht nach dem Priester habe, pariert sie dergestalt, dass sie zu Gott, nicht zu der Kirche zurückgekehrt sei, dass sie also die Notwendigkeit einer ethischen Autorität außerhalb ihres eigenen Selbsts erkannt habe. Und auch dem Wunsch des Royalisten Beug- Marie Roland (1867) 77 <?page no="78"?> 78 not, dass sie die „unheilvolle Zeit“ und mit ihr die Revolution verwünschen möge, widerspricht sie, weil es eben nicht darum geht, dass Marie Roland gegen die politischen Aktionen nun gleichsam für Heim und Herd wiedergewonnen wird: Nicht sie! Nicht unser Werk! — nur uns’re Schuld. Das Werk ist göttlich — Menschen führen’s aus. Und dieser Kampf, [...] Ihn hat entflammt ein heiliges Gefühl: Der Durst nach Recht in Millionen Herzen, Ihn kämpft die Menschheit in dem einen Volk! (V.4; 524) Die Schuld Maries liegt nicht eigentlich darin, gehandelt zu haben, sondern darin, dass sie auf einer letztlich von ihr selbst bestimmten Kongruität zwischen ihrem eigenen Wollen und dem Wollen der Menschheit, kurz, auf einem vom Volk legitimierten revolutionärgeschichtsmächtigen Handeln bestand. Lodoïskas Mitteilung, dass die Girondisten keinen Rückhalt in der Bevölkerung zu haben scheinen (vgl. V.3; 519f), muss daher diesen Glauben besonders erschüttern und die am Ende des zentralen Zwiegesprächs eingestandene Parallele zu Danton noch stärker in den Vordergrund treten lassen. D ANTON . Flöß’ ich Dir Abscheu ein? M ARIE . Du mir? Den größten — ja! (Tonlos.) Und ich mir selber! … (III.4; 498) Am Ende wird die ganze Konsequenz aus dieser Einsicht erst deutlich, nicht zuletzt darin, dass sie von Lodoïskas selbstlosem Fluchtplan erfährt. In dieser hingebungsvollen, gegen das Leiden gerichteten, geschichtsnahen Tat blitzt momentan eine Alternative auf zu der Art der geschichtsformenden Tat, wie Marie Roland sie vorher verkörperte. Gerade die Erkenntnis, dass in dieser Art des selbstlosen historischen Handelns eine tatsächliche - nicht nur ideologische - Alternative besteht zu der Art traditionellen historischen Handelns, führt Marie dazu, ihren eigenen Tod als gerecht zu erfahren und sogar ganz am Ende noch „Ergebung! — Muth! “ (V.4; 524) von den ihr verbundenen Menschen zu fordern. Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="79"?> Marie Roland erkennt die Schuld, die sie durch ihren „Allmachtswahn“ 25 auf sich geladen hat und dass sie damit ursächlich beigetragen hat zu vermeidbarem Leid. Aber sie erkennt auch, dass dieses Scheitern zu einem nicht geringen Teil darin begründet ist, dass sie sich von dem traditionellen weiblichen Rollenverständnis nicht lösen kann. Das macht sie öffentlich denunzierbar durch Héberts, Dantons und Lacroix’ Anschuldigungen. Und es macht sie im Privaten unglücklich und glücksverloren, weil sie meint, ihren Ehemann nicht verlassen und auf dem persönlichen Glücksanspruch mit Buzot bestehen zu können: „Gebunden! Fest geschmiedet ewig an/ Die Pflicht! ... Ohnmächtig Weib! “ (IV.4; 507) Die Spannung zwischen persönlicher Glückserwartung, öffentlicher Rolle und immer wieder an sie herangetragener Erwartung, die Geschlechterrolle zu spielen, führt auch bei Marie Roland zu einer Art frühen Version der Leidensfreude, deren Echo man, wie wir gesehen haben, noch in Ebners Autobiographie Meine Kinderjahre vernehmen wird: „Ich leide! leide! “ (II.5; 481) Die Größe des Scheiterns liegt in der gewonnenen Erkenntnis - also, so könnte man sagen, ganz im Sinne der klassischen Tragödie. Andererseits aber wird die Vorstellung vom tragischen Scheitern hier nicht erfüllt. Die großmächtige Geschichte bietet keine sinnfällige Bewertungsfolie mehr für das Individuum, nicht einmal in ihrer Negativität, wie etwa in Georg Büchners Dantons Tod oder in dem Ebner zeitlich näher stehenden Ein Bruderzwist in Habsburg von Franz Grillparzer. Diese großmächtige Geschichte wird aber auch nicht durch etwas kategorial Ebenbürtiges ersetzt. Damit ist der klassischen Tragödie eigentlich der Boden entzogen, weil Lodoïskas angebotene Selbstaufgabe und das Bewusstsein, mit dem Marie Roland zur Hinrichtung schreitet, die Grundlagen heroischen Scheiterns des Individuellen am Geschichtlichen nicht akzeptieren. Das Koordinatensystem der Sinnfälligkeit, in dem Form und Inhalt einander zugeordnet werden könnten, ist hier dergestalt verschoben, dass Jambenvortrag und ergebensmutige Tat nicht mehr eigentlich zueinander gehören. Das Große ist, dass die Handelnden dem Großen sich verweigern. Gerade darin lässt sich nun die Leistung von Ebner-Eschenbachs historischer Tragödie festmachen. Sie ist Absage an geschichtsmächtiges Handeln und etabliert im Gegenzug die humane, geschichtsnahe Tat als den Punkt, wo Individuum und Geschichte potentiell Marie Roland (1867) 79 <?page no="80"?> 80 wenigstens sinnfällig zueinanderfinden. Dieses Zusammenkommen ist durch Lodoïska als weibliche Tat gekennzeichnet. Dennoch benötigt Ebner-Eschenbach die Berufung auf Gott, zur moralischen Legitimation, die „Geschichte“ als säkularisiertes Weltsubjekt nicht (oder nicht mehr) bieten kann. Marie Rolands Gott ist ja kein kirchlicher. Tatsächlich wird schon in Lamartines Wiedergabe des angeblichen Gebets von Marie Roland kein Gott („dieu“) erwähnt, sondern allerlei Synonyme umspielen eine Art ethisch-humaner, dem Geschichtlichen entzogener Präsenz: „Divinité! être suprême! âme du monde! principe de ce que je sens de bon, de grand, d’immortel en moi! toi dont je crois l’existence parce qu’il faut que j’émane de quelque chose de supérieur à ce que je vois! je vais me réunir à ton essence! “ 26 Ganz in diesem Sinne ist die angebliche Rückkehr zum Glauben der Titelheldin in Ebners Stück eher die Einsicht in die Notwendigkeit einer geschichtsentzogenen Präsenz, von der ein Ethos für die geschichtliche Welt - in diesem Drama wenigstens - ausgehen kann. Die seltsam abrupte Schlusswendung von Marie Roland wird auf diesem Hintergrund verstehbar als Zeichen dafür, dass die klassische Tragödie mit ihrem selbst noch in der Negativität heroischen Geschichtsbild hier an einen Endpunkt geführt worden ist. Wenn Ebner-Eschenbach später ihrer Erzählung Das Gemeindekind als Motto ein Zitat aus George Sands Autobiographie voranstellt, dass alles Geschichte sei („Tout est l’histoire“), dann drückt sich darin ein dezidiert nicht tragödienfähiges Geschichtsverständnis aus. Marie Roland führt noch einmal, sozusagen am Endpunkt der Möglichkeiten, ein solches in der angestammten Form tragödienfähiges Geschichtsverständnis und seine Auflösung vor, indem das Stück zeigt, wie dieses Modell in dem Moment, wo eine Frau die entscheidende Rolle im geschichtskräftigen Handeln übernimmt, notwendig scheitern muss, wenn die Integrität der Person im Dickicht aus politischer Handlung, Machtlust, erotischer Attraktion und humanem Einsatz bewahrt werden soll. 27 Dieses Scheitern in seinen erhebenden Momenten, seiner Verschränktheit in der Tradition und mit den menschlichen Schrecken, die aus ihm herrühren, wirkt in Marie Roland eindrucksvoll. Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="81"?> Anmerkungen 1 Siehe Edith Toegel, „The ‘Leidensjahre’ of Marie von Ebner-Eschenbach: Her Dramatic Works“ und Klostermaier, Marie von Ebner-Eschenbach. Victory of a Tenacious Will, pp. 85-126. 2 Susanne Kord, Macht des Weibes. Im gleichen Jahr erschien in derselben Reihe auch die erste moderne Ausgabe von vier von Ebners Einaktern als Letzte Chancen. - Zu nennen wären hier neben anderen und einschließlich ausgewanderten Deutschen und Österreichern vor allem Ferrel V. Rose, Doris M. Klostermaier und die als Ebner-Übersetzerin hervorgetretene Lynn Tatlock, aber auch Agatha Bramkamp, Sarah Colvin, Helga H. Harriman, Susanne Kord, Peter C. Pfeiffer, Carl Steiner, Joseph Strelka und Edith Toegel. 3 Marie von Ebner-Eschenbach, Die historischen Tragödien. Maria Stuart in Schottland, Marie Roland, Richelieu, Jacobäa. Alle Zitate sind nach dieser Ausgabe direkt im Text mit Aufzug und Szene sowie Seitenzahl nachgewiesen. 4 Jürgen Schröder, Geschichtsdramen. Die ‘deutsche Misere’ - von Goethes Götz bis Heiner Müllers Germania? , p. 7. 5 Siehe Gaby Pailer, „Der Staatsdiener, der Staatsfeind und die gute Tochter“, pp. 101-119. 6 Wiener Stadt- und Landesbibliothek Ja 81209. 7 Helmut Koopmann, „Schloß-Banalitäten“, p. 165. 8 Zu Entstehung und Wirkung siehe Doris Klostermaier, Marie von Ebner- Eschenbach. Victory of a Tenacious Will, pp. 103-108, des Weiteren die historisch-kritische Ausgabe pp. 551- 559 und die Anmerkungen in Susanne Kord, Macht des Weibes, pp. 221-239. - Die Niederlage im Krieg von 1866 spielt in der österreichischen Mentalität eine sehr viel größere Rolle als die Reichsgründung 1871. - Siehe die entsprechenden Kapitel in Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Klaus Amann und Karl Wagner. 9 Zur Theatersituation der Zeit siehe zusammenfassend Edward McInnes, „Drama und Theater“, bes. pp. 352-363. 10 Wiener Stadt- und Landesbibliothek IN 56614. 11 Moritz Necker, Marie von Ebner-Eschenbach. Nach ihren Werken geschildert, p. 27. 12 Siehe Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730-1900), hg. von Gudrun Loster-Schneider und Gaby Pailer, pp. 241-243. 13 Susanne Kord, Macht des Weibes, p. 9. 14 Siehe die Handschrift in Wiener Stadt- und Landesbibliothek Ia 79173. 15 Sabine Sievern, persönliche Mitteilung; Susanne Kord, Macht des Weibes, pp. 233-238. 16 Vgl. Ebners ersten Roman Božena, den man als einen Versuch lesen kann, sich der revolutionären Situation von 1848 auf eine nicht-politische - in dem hier entwickelten Sinn - Art zuzuwenden. 17 Siehe Robert Griepenkerl, Dramatische Werke 1. Bd., 1. Aufzug, 2. Szene, pp. 13-19. Marie Roland (1867) 81 <?page no="82"?> 82 18 Das Beispiel von Schillers Wilhelm Tell, das ja ebenfalls ungewöhnlich ist, da in diesem Schauspiel die gelungene Revolte dargestellt wird, kann diesen Aspekt verdeutlichen. Die individuell-naturrechtlich, nicht politisch gerechtfertigte Bluttat Tells fällt hier historisch glücklich zusammen mit der politisch begründeten kollektiven Auflehnung gegen die Fremdherrschaft und der aus niedrigen persönlichen Gründen und daher im Stück ausdrücklich verdammten Bluttat Parricidas. Gerade das Zusammentreffen dieser drei separat motivierten Vorgänge gibt dem historischen Moment die charakteristische und, vom Gründungsmythos der freien Schweiz her gesehen, unblutige Gestalt. 19 Siehe Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898, p. 367. 20 Alphonse de Lamartine, Histoire des Girondins, p. 771. 21 Der Fall Dantons ist im Stück nicht ausgeführt, doch deutet Robespierre am Ende des 3. Aufzugs an, dass Danton zu mächtig geworden ist und gestürzt werden muss. 22 Von daher scheint es auch nicht ganz zu passen, dass Maries Abstieg mit einem Akzeptieren des weiblichen Rollenangebots zusammenfällt - siehe Susanne Kord, Macht des Weibes, p. 16. 23 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke Bd. 3, pp. 147 und 149. 24 Die abrupte Wendung wird immer wieder, meist negativ, vermerkt, z.B. bei Moritz Necker und Doris Klostermaier, Marie von Ebner-Eschenbach. Victory of a Tenacious Will, p. 108. Zur Bewertung des Endes vor allem Sarah Colvin, Women and German Drama, pp. 30-31; siehe auch die Kommentare von Susanne Kord, Macht des Weibes, pp. 16-17. 25 Susanne Kord, Ein Blick hinter die Kulissen, p. 131. 26 Alphonse de Lamartine, Histoire de Girondins, p. 772. 27 Siehe Ferrel Rose, „The Disenchantment of Power: Marie von Ebner-Eschenbach’s Maria Stuart in Schottland“, bes. p. 150. . Das Trauerspiel der Geschichte <?page no="83"?> 5 Eine andere Renaissance: Agave (1903) Nach den enttäuschenden Erfahrungen mit dem Theater wandte Marie von Ebner-Eschenbach sich dezidiert der erzählenden Prosa zu, einem Bereich des literarischen Marktes, der für Frauen eher zugänglich war. 1 Auch wenn sie weiterhin Dramen schrieb, gründete sich ihr Ruhm weitgehend auf diese verschiedenen Novellen, Erzählungen, Romane, Gedichte, Aphorismen, Parabeln, Märchen, biographischen und autobiographischen Schriften. Dabei sind die Grenzziehungen zwischen den einzelnen literarischen Gattungen nicht immer markant, sodass man von einer gewissen Instabilität oder besser noch von einer Unschärfe des Gattungsbegriffs in Ebner-Eschenbachs Schriften sprechen kann. Wie wir schon anhand des Alterswerks Meine Kinderjahre und an dem frühen Drama Marie Roland gesehen haben, spielte Ebner in allen Phasen ihres Schreibens mit den Formen, die die Tradition anbot, um die Spezifik weiblicher Wahrnehmungsweisen und Erlebniswelten fassen zu können und führte sie oft bis an die Grenze dessen, was in der Gattungstradition zulässig und von daher auch als ästhetisch gelungen galt. Eine Kritik, die ihre Bewertungskriterien nur an der Tradition ausrichtet, verkennt dadurch das für Ebner-Eschenbach charakteristische Spiel mit den Gattungsformen und verhindert so ein adäquates Verständnis von Ebners besonderen, aber eben von den Klassikern verschiedenen, ästhetischen Qualitäten. Auch in den Prosawerken, denen wir uns in den nächsten Kapiteln zuwenden, ist eine Art der gattungsmäßigen Unschärfe zu bemerken, auch wenn in der Prosa sowieso und durchgängig eine größere formale Flexibilität herrscht als in klassischen Formen wie der historischen Tragödie oder in der modernen, durch Goethes Exemplum dominierten Fom der Autobiographie. Ein schlagendes Beispiel für diese Unschärfe bei Ebner bietet der Titel des 1889 erschienenen Buches Ein kleiner Roman, dessen Untertitel, „Erzählung“ gleich die scheinbar klare Gattungsangabe wieder in Frage stellt. 2 Die Unschärfe des Gattungsbegriffs weist auf eine gewisse Instabilität sowohl des Selbstbilds der Autorin als Autorin wie auch der von ihr erwarteten Leserschaft hin, da Gattungen in jedem Fall den Erwartungshorizont mitbestimmen, innerhalb dessen literari- <?page no="84"?> 84 sche Kommunikation im Rahmen der tradierten Formvorstellungen stattfinden kann. Aber neben diesem Hinweis auf die nicht selbstverständliche Position der Autorin im literarischen Betrieb und zu ihrer Leserschaft wird man in dieser Instabilität auch, sozusagen positiv gewendet, die Möglichkeit zu einer Art Camouflage sehen können, die es Ebner-Eschenbach zum Beispiel erlaubt, ihre dramatischen Interessen weiter zu verfolgen, indem sie diese gleichsam halb versteckt hält unter Gattungsbegriffen wie „dialogisierte Novelle“ (etwa Genesen [1896], Ohne Liebe [1898], Ihre Schwester [1903]) oder „dramatisches Sprichwort“ (Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen [1900]). Im Gegensatz zu dieser Unschärfe der Gattungsformen auf Seiten Ebners steht die sehr dezidierte Vorstellung von Kritikern, welche Gattungen der Autorin angemessen sind und auf welche sie sich daher zu beschränken habe. Die wenig freundliche Aufnahme der in der florentinischen Renaissance spielenden Erzählung Agave bei professionellen Literaturkritikern gibt dafür ein gutes Beispiel ab. So ist Emil Ertl, der Rezensent in Das litterarische Echo, nicht gewillt, Ebner „künstlerisches Heimatrecht“ 3 irgendwo anders als im beschränkten Raum der Heimatkunst einzuräumen. In seiner Besprechung des Buches stellt er auf dem Hintergrund der Dekadenzerfahrung der Zeit abschließend fest: Soll es damals solche Weichlinge gegeben haben? Es war eine gesunde und herbe Zeit, und wenn wir ein Buch aufschlagen, das sie hervorgebracht, so weht uns ein ganz eigen kräftiger und herzstärkender Duft daraus an. Die Menschen erscheinen alle um einen halben Kopf größer als unsere Zeitgenossen und in allen ihren Aeußerungen und Strebungen so gänzlich anders. In der „Agave“ aber bewegen sich lauter Zeitgenossen. 4 Einige Monate nachdem diese Rezension erschienen war, notiert Marie von Ebner-Eschenbach am Samstag, dem 17. Oktober 1903 rückblickend in ihrem Tagebuch zu zwei anderen Veröffentlichungen: In der n[euen] fr[eien] Presse hat Herr Herzl die Agave verhöhnt - mich dazu, die Kritiker von heute werden ja immer persönlich - In der Beilage zur Allgemeinen Zeitung (Münchner) hat Herr Schott die Agave „umgebracht“. (TB V, 348) Herzl hatte das Buch tatsächlich wenn auch vielleicht nicht verhöhnt, so doch mit der Pose eines Modernen herablassend als alt- Eine andere Renaissance <?page no="85"?> modisch charakterisiert und die in den Härten des Lebens angeblich unerfahrene „Baronin“ Ebner-Eschenbach angegriffen, die ihr Leben „auf der sonnigen Seite der Gesellschaft verbracht“ 5 habe. Daher auch das laue Lob, dass die Erzählung besser sei als die vorgesetzten Verse, und der Vorwurf, dass „all dies Harmonische und Arrangirte [...] die Vorstellung eines wirklichen, wenn auch Jahrhunderte weit entfernten Lebens nicht recht aufkommen“ 6 lasse. Jener Herr Schott, auf den die Tagebuchstelle ebenfalls hinweist, hatte Ebner-Eschenbach im Juli 1903 die hier erwähnte Kritik selbst zugesandt und dazu, wie Ebner-Eschenbach im Tagebuch notiert, die „recensentliche Liebenswürdigkeit“ geschrieben: „Ich wünsche daß Ihnen meine Besprechung die Laune nicht verdirbt.“ (TBV, 335) Dies sind einige Beispiele für die verunglückte Rezeption von Ebners Erzählwerk Agave, das während Ebners erstem Rom-Aufenthalt 1899/ 1900 entstand. Bis in die heutige Zeit lässt sich, wenn diese Erzählung überhaupt erwähnt wird, der kritische Einwand gegen Agave weiterverfolgen, sowohl was die Figurencharakterisierung angeht als auch die Form. Obgleich der Verkaufserfolg des Buches durchaus erfreulich war, 7 erhielt es nur wenige Rezensionen und eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung existiert beinahe gar nicht. In den umfassenderen biographischen Werken wird die im Florenz und Rom des frühen 15. Jahrhunderts spielende Erzählung mit wenigen Worten abgehandelt, da sie, wie selbst eine so wohlmeinende Ebner-Kennerin wie Edda Polheim anmerkt, das „italienische Kolorit“ 8 nicht recht treffe. Wenn Theo Schücking, der Tochter von Levin Schücking, dem Freund von Annette von Droste- Hülshoff - selber wiederum eine enge Freundin Ebner-Eschenbachs - die Erzählung als „das Vollendetste erscheint, was wir ihrer [d.i. Ebner-Eschenbachs] Hand verdanken,“ 9 dann ist das eine große Ausnahme, die keinerlei Folgen zeitigte und dafür vielleicht auch zu phrasenhaft formuliert ist. Agave ist sicherlich eine Anomalie in Ebners Werk. 10 Sowohl im Sujet als auch im historischen Gewand sticht diese Erzählung markant ab von den Dorf- und Schlossgeschichten aus dem Mährischen und den Wiener Stadtnovellen, die Ebner berühmt gemacht hatten und auf die sie, wie oben gezeigt, Kritiker immer wieder festlegen und eingrenzen wollten und wollen. Aber gerade das für Ebner ungewöhnliche italienische Ambiente dieser Erzählung scheint mir eine sorgfältige Lektüre zu rechtfertigen. Wie die einleitende Inter- Agave (1903) 85 <?page no="86"?> 86 pretation von Ebners Autobiographie deutlich machte, spielt Rom sowohl als konkreter Ort wie auch als Zeichen für die Auseinandersetzung mit auf die Antike zurückgreifenden europäischen Traditionen eine bedeutende Rolle in Ebners Denken - und zwar nicht nur in einem Spätwerk wie Meine Kinderjahre, sondern, wie die Hinweise in der historischen Tragödie Marie Roland zeigten, schon in Ebners frühen literarischen Arbeiten. Ebners Behandlung der Renaissance und des in ihr inhärenten Rückbezugs auf die klassische Antike ist eingebettet in breite und wirkungsmächtige kulturelle Strömungen, in der Antike und Renaissance immer wieder oftmals kontroverse und widersprüchliche Gegenwartsbedeutungen gewinnen. Der liberale Renaissancebegriff wie er durch Jules Michelets und Jacob Burckhardts Schriften besonders wirkte, hatte als Kampfbegriff gegen die Reaktion und für den Republikanismus eine dezidiert politische Dimension. 11 Und in der Philosophie, Literatur und Geschichte abdeckenden Troika Friedrich Nietzsche, C.F. Meyer und Jacob Burckhardt hat Walther Rehm aus der Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts sogar einen „Renaissancismus“ 12 festgemacht, der alle vorherigen Auseinandersetzungen mit dieser Epoche in Form und Gehalt synthetisch zusammenführt und damit die kulturelle Diskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt. Ebner selbst war mit den Schriften der drei Exponenten von Rehms „Renaissancismus“ übrigens bekannt, wenn wohl auch nicht vertraut. C.F. Meyer war ihr eher wesensfremd und sie hatte vor allem über dessen Freundschaft mit Ebners langjähriger Freundin Louise von François einen gewissen Zugang. Schriften Burckhardts las Ebner gelegentlich. Überraschend vielleicht ist, dass Ebner zu den ganz frühen Lesern Nietzsches gehörte. Unzeitgemäße Betrachtungen las sie „ganz vergnügt“ (TB II, 256) „voll Bewunderung“ und „dennoch abgestoßen“ (TB II, 257) schon im April 1874, zu einer Zeit also, als Nietzsche noch ganz abseitig und unbekannt war. Hier ist nicht der Ort, umständlich auf einzelne Facetten dieser Verbindungen und Konstellationen einzugehen, wobei auch eine zeitgemäße Kritik von Rehms eigenem Renaissancebegriff durchzuführen wäre. Was dennoch deutlich wird, ist das Umfeld, in dem Ebners vernachlässigte Erzählung entstanden ist und innerhalb dessen eine Lektüre lohnend sein könnte. Eine andere Renaissance <?page no="87"?> Wieder beginne ich mit einer eher deskriptiven Behandlung des wenig bekannten literarischen Textes, damit er wenigstens in Ansätzen auch als solcher erkennbar bleibt - und nicht nur als Objekt eines historischen oder soziologischen Interesses. In vier Kapiteln vermischt Agave kunsthistorische Fakten und historisch belegte Personen aus den frühen Jahren der Renaissance mit der erfundenen Geschichte des ausnehmend schönen Antonio Venesco aus dem bei Rom gelegenen Ariccia, der einer Affäre zwischen seiner Mutter und einem durchziehenden toskanischen Künstler entstammt und nach einem Gewaltausbruch ihres Mannes, des Töpfermeisters Venesco, akzeptiert und an Sohnes Statt angenommen wurde. Dieser Antonio hat nur Augen für seine handwerkliche Kunst und seine Aspiration, als Schüler eines berühmten Malers auf die Höhen der Malerei geführt zu werden. Tommaso Guidi, genannt Masaccio, gelingt es schließlich, den Vater zu überzeugen, Antonio mit ihm nach Florenz ziehen zu lassen. Bei Masaccio und dessen Ziehmutter Pulcheria Pisano lernt Antonio fleißig und diszipliniert. Doch scheint ihm im Gegensatz zu dem anderen großen Schüler Guidis, Antonios (historisch beglaubigtem) Widerpart Filippo Lippi, die wirklich große künstlerische Begabung zu fehlen. Der Gang der Dinge wird durch das Auftreten von Margherita gestört, einer verwaisten Base Masaccios von ganz außergewöhnlicher Schönheit, einer Schönheit, die keiner der florentinischen Maler, nicht einmal Masaccio, selbst einzufangen vermag. „Jeder Versuch [...] bedeutete einen Mißerfolg.“ (GNA 362) In sie verliebt Antonio sich. Er vernachlässigt seine Kunst und verdient sich durch das Malen von gewerblichen Schildern und pornographischen Miniaturen das Geld, um Margherita reiche Geschenke zu machen. Er quält sie mit einer brutalen Eifersucht, seiner „Tyrannei“. (GNA 377) Von Masaccio gemaßregelt, beschäftigt sich Antonio wieder mit der Kunst und arbeitet intensiv an einem Gemälde einer großen Gruppe von Menschen, als er Nachricht erhält von seinen Eltern, dass er nach Hause kommen möge, da seine Mutter krank ist. Wegen seiner Arbeit an dem Gemälde, aber auch, um ein Auge auf seine Geliebte halten zu können, bleibt Antonio dennoch in Florenz, wo er wenig später die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält und erfährt, dass sein Ziehvater ihn verflucht habe. Margherita geht wegen der unerträglichen Eifersucht Antonios schließlich gegen ihre eigentlichen Agave (1903) 87 <?page no="88"?> 88 Gefühle ein Eheversprechen mit einem adligen Weichling ein. Antonio droht, Margherita umzubringen - doch dann verschwindet er. Zu Beginn des dritten Kapitels erscheint ein aufsehenerregendes Triptychon in einer Kirche, das Margherita „als Männerjägerin“ (GNA 397) Diana zeigt. In der Darstellung eines vollkommenen Weibes sehen Mönche und das Volk ein „Satanswerk“. (GNA 397) Masaccio gelingt es mit Lippis Hilfe aber, die Zerstörung von Antonios Bild zu verhindern. Liebe, Leidenschaft und Hass haben Antonio den Pinsel geführt und so ist Margherita in ihrer jugendlichen Schönheit, als reife Frau und als hässliche, vom Verfall gezeichnete Alte gemalt. Das Bild macht Antonio auf einen Schlag berühmt und wohlhabend, erweist sich im Weiteren aber als eine einmalige Leistung. Vorderhand hat hier der Titel seinen Ursprung, der in dem kurzen, der Geschichte vorangestellten Gedicht das einmalige Blühen der Agave gleichnishaft für eine einmalige Leistung stehen lässt. Eingeladen auf das Schloss des Herzogs von Ventimiglia, ist Antonio zu keiner kreativen Abeit fähig. Judith, die verwitwete Tochter des Herzogs, verliebt sich ihn ihn. Antonio beginnt, sein Triptychon, mit dem er Margherita „Schmach und Erniedrigung“ (GNA 405) angetan hatte, zu hassen. Halb im Wahn über den Verlust künstlerischer Produktivität verschlimmbessert er an dem Gemälde herum, zerstört es schließlich mit allen anderen Entwürfen. Er wird des Schlosses verwiesen. Judith erklärt sich ihm, doch ist Antonio nicht in der Lage, ihr absolute Treue zu versprechen, da er noch immer Margherita liebt. Das letzte Kapitel schließlich zeigt Antonio auf gehetzter Wanderschaft. In Florenz sucht er Masaccio, der jedoch mit Pulcheria vor Gläubigern fliehen musste. Er erfährt, dass sie in Rom untergetaucht sind, und dass Margherita von dem Anführer einer Räuberbande, der Antonio ähnlich sieht, entführt worden ist und nun mit diesem lebt. Antonio trifft auf Pulcheria und kann die letzten Minuten Masaccios vor dem Hintergrund des beginnenden römischen Karnevals miterleben. Nach Masaccios Beerdigung zieht sich Pulcheria wieder nach Florenz zurück, Antonio geht nach Ariccia, um sich um seinen Vater zu kümmern und diesen dazu zu bewegen, den Fluch zu lösen. An seinem Töpfertisch findet Margherita ihn, als sie kommt, um Antonio - dem letzten Willen von Pulcheria gehorchend - ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Noch immer durchrieselt Antonio derselbe Hass, „der ihm die Hand geführt, als er das Eine andere Renaissance <?page no="89"?> letzte Bild seines Triptychons malte.“ (GNA 448) Nach einer letzten Gewaltphantasie gewinnt aber doch die Liebe, beide liegen sich in den Armen und bitten sich gegenseitig um Verzeihung. Aus dieser Charakterisierung wird deutlich, dass diese Geschichte mit einer ganzen Reihe von melodramatischen, die Kolportageliteratur streifenden Elementen aufwartet und mit emotional geladenen Zuspitzungen arbeitet, wie sie in der Trivialliteratur geläufig sind. Der Antonio ähnelnde Räuberhauptmann ist dabei vielleicht das krasseste Beispiel. Vorderhand scheint es außer der thematisierten Kunstbesessenheit auch wenig Gründe zu geben, warum diese Erzählung in der Renaissance spielt. Allerdings: an dem verschiedentlich beschworenen sogenanntem Zeitkolorit fehlt es auch einem so berühmten Beispiel einer Renaissance-Novelle wie C.F. Meyers Die Hochzeit des Mönchs, wenn man von der Kostümfrage einmal absieht. Und es dürfte in diesem Fall ebenso zweifelhaft sein, inwieweit man bei Meyer Renaissancemenschen dargestellt bekommt und nicht Projektionen des späten 19. Jahrhunderts auf das, was man sich als Renaissancemenschen vorstellt. Obwohl Agave als historische Erzählung, vom Spielort und der Thematik her eine Sonderstellung in Ebners Werk einnimmt, finden sich zugleich eine Reihe von charakteristischen Motiven Ebner- Eschenbachs wieder, wie wir sie aus anderen Erzählungen kennen. Dazu gehören nicht nur die Darstellung von Gewalthandlungen von Männern an Frauen, von Frauen, die auf absoluter Liebe bestehen, und von zerstörten oder doch gestörten Familienverhältnissen, sondern auch die Behandlung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Handwerk und Kunst, wie es spätestens seit der Erzählung Lotti, die Uhrmacherin (1881) immer wieder in Ebners Werken auftaucht und zum Brennpunkt eines bildhaften Reflektierens über ethisch-ästhetische Fragen wird. Dazu später mehr. Auffällig ist, dass Ebner in Agave von der ersten Zeile an die Anfänglichkeit des historischen Moments hervorhebt, an den sie zurückführt. „Zu Beginn des Goldenen Zeitalters“ (GNA 324; meine Hervorhebung) sind die ersten Worte der Erzählung. Einige Seiten später wird das geschichtliche Umfeld in die Erzählung eingebracht: Als der Stuhl Petri wieder in der Ewigen Stadt aufgerichtet worden, als mit dem Riesengefolge des katholischen Oberhirten Glanz, Reichtum, Pracht eingezogen waren, hatten sie einen schreienden Kontrast zu dem Agave (1903) 89 <?page no="90"?> 90 Trümmerfelde gebildet, auf dem sie sich entfalteten. Nun residierte Oddo Colonna, der erste seit vierzigjähriger Kirchenspaltung einmütig gewählte Papst, als Martin V. im Palaste seines edlen Geschlechtes bei den Santi Apostoli. […] Neues Leben pulsierte in Rom. Eine neue Kunst war seine schönste Blüte. (GNA 327; meine Hervorhebungen) Den Neuanfang, den Beginn einer Zeit rückt Ebner also ins Zentrum der Erzählung. Damit setzt sie sich ab von anderen bekannten literarischen Darstellungen der Renaissance. Goethe hatte sich vornehmlich mit der Hochrenaissance und einem klassisch vorgeprägten Bild der Zeit auseinandergesetzt. Ludwig Tieck, darin ganz Romantiker, befasst sich in seinem umfangreichen Roman Vittoria Accorombona (1840), wie er im Vorwort ausdrücklich feststellt, mit dem Endstadium und Niedergang der Zeit: „Ein Gemälde der Zeit, des Verfalls der Italiänischen Staaten, sollte das Seelen-Gemälde als Schattenseite erhellen, und in das wahre Licht erheben.“ 13 Indem Ebner ausdrücklich kontextuelle geschichtliche Fakten darlegt, unterscheidet sie sich auch von C.F. Meyer, bei dem solche Informationen aufgesogen sind in die formale Darstellung. Ebner nähert sich hier populären Erzählungen an, die kunst- und kulturgeschichtliche Bilderbögen zur Erbauung ausbreiten, doch tut sie es nicht, um zu bebildern, sondern um in aller Anschaulichkeit zu den Anfängen der modernen Vorstellugen von Kunst und Künstler zurückzukehren. 14 Darin greift sie bekannte Positionen auf. Giorgio Vasari hatte Tomasso Guidi, genannt Masaccio, in seinen Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten (1550) ausdrücklich als den ersten Maler benannt, der die lebensechte Darstellung für menschliche Figuren einführte, was er unter anderem damit belegt, dass Masaccios Figuren die ersten sind, die mit den Füßen tatsächlich auf dem Boden stehen und nicht auf Zehenspitzen gleichsam in der Luft hängen. Ebner-Eschenbach hatte nach Aussage ihrer Tagebücher Vasari während ihres Romaufenthalts und in der Entstehungszeit von Agave gelesen, und zwar so genau, dass sie sich sogar Gedanken machte über die Qualität der Übersetzung ins Deutsche. „Non murato, ma veramente nato“ sagt Vasari von dem anmutigsten, heitersten Renaissancebau Roms, der villa Farnesina Gsell-Fels übersetzt: nicht dem Stein abgrungen sondern aus dem Boden entsprungen. Eine wörtliche Übersetzung gefiele mir besser: Nicht gemauert - aufgewachsen. od. nicht gemauert - aus dem Boden geboren. (TB V, 276) Eine andere Renaissance <?page no="91"?> Die Zeit, in der Agave spielt, ist also von Ebner durchaus auf Grundlage ihrer Quellenstudien geschichtsgetreu beschrieben. In ihr entwickelten Masaccio, Donatello, Filippo Lippi und andere eine neue Plastizität der menschlichen Figur, die einem neuen, auf den individuellen Menschen und seine Umwelt gerichteten Realismus Bahn bricht. Dieser neue, die Natur entdeckende, das Eigenständige und Charakteristische herausstreichende Realismus ist es, den Ebner einzufangen versucht, wenn sie mit Formulierungen, die denen Vasaris sehr nahe kommen, schreibt, dass sich bei Masaccio die Welt gemalt darstellt „genau wie in der wirklichen Welt“. (GNA 331) Aus der kunst- und kirchenhistorischen Perspektive setzt Agave also ein mit diesem Moment des Neubeginns, in dem die eröffnete Individualität wirkungsstark hervorbricht. Dieser Moment spiegelt sich in der individuellen Geschichte des fiktiven Antonios, der nicht nur explizit einmal „der Mensch“ (GNA 349), also „Adam“, genannt, sondern verschiedentlich auch als „Tonklumpen“ (GNA 329; siehe auch 325 und 351) tituliert wird, dem nun freilich nicht wie dem biblischen Adam „der Odem des Lebens“ (1. Moses 1.2) eingeblasen wird, sondern der in der Tatsächlichkeit der nachparadiesischen Welt für eine Frau „Feuer fangen“ (GNA 329), sich also verlieben und erotisch fasziniert sein soll. Antonios „Anfang“ ist dargestellt im Fresco, das sein biologischer Vater in der Kirche von Ariccia hinterlässt und in dem dieser selbst als Verkündigungsengel und seine Geliebte, Antonios Mutter Cecilia, „als künftige Heilandsmutter“ (GNA 328) gemalt sind. Antonio ist also nicht nur eine Adam-, sondern auch eine Jesus-Figur. Im Wandbild seines biologischen Vaters macht sich darin thematisch ein neuer Anfang geltend, das Versprechen auf Errettung durch unbefleckte Empfängnis, als Erlösung durch einen nicht-gewalttätigen und nichtsexuellen Ursprung neuer Individualität. Diese Szene hat daneben eine weitere Bedeutungsdimension, wenn man nicht das Lukas- Evangelium, sondern das Matthäus-Evangelium zugrunde legt. Dort nämlich spricht der Verkündigungsengel zu Joseph, der seine schwangere Frau verlassen will, und heißt ihn, Maria aufzunehmen. Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, daß sie schwanger war von dem heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlas- Agave (1903) 91 <?page no="92"?> 92 sen. Als er das noch bedachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem heiligen Geist. (Matthäus 1,18-20) Aus dieser Perspektive erhält das Bild eine stärkere soziale Dimension und kann als eine Art Plädoyer an den Töpfermeister Venesco, aber auch an die Gemeinde Ariccias insgesamt verstanden werden, Cecilia unbeschadet und furchtlos aufzunehmen. Diese utopisch-erlösende, das Religiöse und Ästhetische im Bild verschmelzende Vision hat freilich in der sozialen Realität keine Chance. Die Leute meiden Cecilia und hegen ihre „Abneigung“ weiterhin. (vgl. GNA 326) Als die von ihrem Geliebten verlassene Frau vor ihren Mann tritt und ihm sagt, dass sie schwanger ist, [d]a hatte er ein Messer vom Tisch genommen und es ihr in die Brust gestoßen. Aber beim Anblick der scheinbar tödlich Getroffenen war sein Zorn erloschen und die alte Liebe allüberwindend wieder erwacht. Und er hatte zum Himmel gerufen: Tu ein Wunder, lasse sie mir, und ich will sie halten wie mein treues Weib, und das Kind in ihrem Schoße soll mein Kind heißen. (GNA 326) Die unbefleckte Empfängnis wird zu einer blutbeschmierten, bei der die Frau nur knapp mit dem Leben davon kommt. In dem Moment, wo die Frau das Bild einer Scheintoten abgibt - es ist die „scheinbar tödlich Getroffene“ - und damit der Macht des männlichen „Anblicks“ ganz gehört und ihm unterworfen ist, kann sie wieder zum Liebesobjekt des Mannes werden. 15 In dieser angetanen Gewalt liegt die Grundlage für die weltlich anerkannte, sogar belobigte Ehe, in der der Töpfer, wie der Text die öffentliche Meinung wiedergibt, zu einem „so guten und großmütigen Eheherrn“ wird, wie man ihn „wohl in der ganzen Welt nicht wieder [fand]“. (GNA 326) Der Gewaltakt tilgt den Ehebruch Cecilias und reetabliert die väterliche Autorität und Gesetzlichkeit Venescos. Antonio wird in gewisser Hinsicht als Sohn erst in diesem Gewaltakt empfangen; es ist eine von tödlicher Gewalt geprägte Empfängnis. Am Beginn der Erzählung legt Ebner-Eschenbach also einen ganz besonders starken Akzent auf die Anfänglichkeit der beschriebenen Situationen, sowohl im Kunsthistorischen als auch im Stadt- und Kirchengeschichtlichen und schließlich in Antonios Leben. Die Urszenen der sozusagen doppelten symbolischen Empfängnis, als friedsame im Wandbild und als gewaltsame im eifersüchtigen Wut- Eine andere Renaissance <?page no="93"?> ausbruch Venescos gegen Cecilia, stellen dabei Koordinaten bereit, mit denen in der Folge Antonios Verhalten gegenüber Frauen und gegenüber der Kunst zu bestimmen ist. Auffällig und dem geläufigen Image von Ebner-Eschenbach nicht entsprechend ist, dass Kunst in der ganzen Spannbreite ihrer Produktion und Rezeption sexuell und erotisch konnotiert ist. Das Motiv wird durch Antonio eingeführt, der keine Augen für die Mädchen Ariccias hat, sondern nur an seine eigenen Malereien und Töpferfiguren denkt und sich schließlich sogar in Masaccios Bild der heiligen Katharina verliebt. (vgl. GNA 329) Diese Art der Kunstbesessenheit ist durchaus nicht nur positiv - als erotische Sakralisierung der Kunst, wie sie uns verschiedentlich bei Ebner begegnet - gestaltet. Eine Nebenfigur übt scharfe Kritik an der neuen - realistischen - Kunst, die Heilige so malt, dass „junge Männer [...] sich in eine farbige Figur verlieben statt in ein lebendiges junges Mädchen.“ (GNA 332) Und apodiktischer: „Ein Bild hat ein Bild zu sein.“ (GNA 332) Die Verkennung von Kunst und Wirklichkeit, die später Antonio dazu bringen wird, durch Kunst gewaltsam Macht auszuüben über Margherita, ist eine stete Präsenz in Agave. Das Lebensfeindliche der Bilder nimmt ein Motiv auf, das uns aus der Literatur sowohl des Realismus als auch der Dekadenz bekannt ist - die Meretlein-Geschichte in Kellers Der grüne Heinrich, Aquis Submersus von Theodor Storm und Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde seien hier als höchst unterschiedliche Beispiele nur erwähnt. Parallel zu dieser sexuellen Konnotierung der Kunst wird aber dargelegt, dass die künstlerisch produktiven Maler, d.h. solche, deren Werke auch überdauern, in ihrem Tun von ihrem sexuellen Begehren absehen können müssen, um wirkungsmächtig zu sein. Das wird in den beiden bedeutendsten geschichtlich belegten Künstlern deutlich, die in Agave eine Rolle spielen. Sowohl Masaccio als auch Fra Filippo Lippi treten uns als Menschen mit androgynen Zügen entgegen, deren Begehren eingehegt ist in der künstlerischen Produktion. Masaccio wird als vorerwachsene, kindhafte Figur dargestellt, versorgt von der alten Ziehmutter Pulcheria Pisano, nur seiner Kunst lebend. Ihm wächst trotz angeblicher Männlichkeit des Gesichts kein Bart. (vgl. GNA 328) Den Karmelitermönch Lippi sehen wir zu dem Zeitpunkt, wo sein Talent sich in tatsächliche Kunstproduktion entwickelt, uns vorgestellt mit seinen Agave (1903) 93 <?page no="94"?> 94 „Mädchenarmen so zart“. (GNA 398) Künstlerisch versagen beide in Ebners Erzählung gerade da, wo sie von einem auf eine reale Person gerichteten sexuellem Begehren geleitet werden, als sie nämlich Margherita malen wollen. Diese selbst wird im Text beschrieben als die Verkörperung des „Schönheitsideal[s]“, das Masaccio „in solcher Vollkommenheit nur als selige Vision vor die Künstlerseele getreten“ (GNA 355) war, also als eine Art Leben gewordenes Kunstwerk, eine „göttliche Gestalt“ (GNA 355), „die Erscheinung eines Vollkommenen“ (GNA 373), und, wie um es noch einmal zu unterstreichen, „ein Meisterwerk“ (GNA 392). Ebner verwendet ein Satzfragment und artikuliert damit die Schönheit Margheritas auch auf grammatisch außergewöhnliche Weise. „Im Ausdruck dieser siegreichen Schönheit aber nicht die Spur eines Machtgefühls und auch keine von Befangenheit.“ (GNA 355) Diese Qualität der - im Wortsinne - Machtlosigkeit, der zweckentbundenen und begehrensfreien Schönheit ist den Florentiner Künstlern, allen voran Masaccio und Lippi, nicht zugänglich, weil sie die Frau selbst begehren. Filippo Lippi hängt sein Mönchsgewand an den Nagel und schleicht im Goldbrokat um die Rosenhecke vor Pulcherias Haus, und wird von dieser als „girrende[r] Leuchtkäfer“ (GNA 364) verspottet. Doch selbst den sonst so lebensabgewandten Masaccio beschleicht „ein nie gekanntes, bitteres Gefühl“ (GNA 361) der Eifersucht, als er die aufsteigende Liebe zwischen Antonio und Margherita bemerkt, und er erschrickt beinahe, dass „er fähig sei zu empfinden, was er am tiefsten verachtete - Neid.“ (GNA 361) Da die beiden Maler durch ihr eigenes Begehren notwendig Machthierarchien aus erotischer Attraktion und grundlose Besitzansprüche in ihrem Malen an die Frau herantragen, verfehlen sie gerade das Eigentliche ihrer Schönheit und scheitern kläglich mit ihren Versuchen, Margherita abzubilden. Das erste Bild, das Maso [d.i. Masaccio] von seiner Base entwarf, mißlang, und mit einem zweiten war er nicht glücklicher. [...] [Filippo Lippi] malte das Dorfkind aus Fontana als heilige Rosa, als heilige Katharina, als heilige Cäcilia, und es entstanden liebenwürdige und anmutige Bilder, keines aber hatte eine mehr als flüchtige Ähnlichkeit mit Margherita. [...] Kein irdischer Meister bildet die Pracht dieser Formen, dieser Linien nach. (GNA 362f.) Ein Extremfall eines künstlerischen Scheiterns durch das Überlagern des Ästhetischen durch erotisches Begehren sind Antonios Eine andere Renaissance <?page no="95"?> pornographische Bilder, die er zu malen beginnt, um sich Geld zu verdienen. In ihnen wiederholt Antonio „entadelnd“ (GNA 369), wie es heißt, die Motive der naiv scherzenden Übermütigkeiten, mit denen er in seiner Jugend Töpfereien bemalte und damit die handwerklichen Objekte über den reinen Gebrauchswert hinaus zu kostbaren Objekten machte. Die „fazetiösen Bilder“ (GNA 366) sind auf eine doppelte Art pornographische Verfehlungen, erstens in der Darstellung selbst, da sie vor allem auf Zwecke ausgerichtet sind, Machtkonstellationen etablieren und Frauen zu sexuellen Objekten herabstufen, die zur Befriedigung von Männern und zur Bereicherung des Händlers dieser Bilder beitragen; zweitens dadurch, dass Antonio durch diese Bilder sein Künstlertum prostituiert und im übertragenden Sinne auch Margherita, denn durch die Bilder erhält er die Geldmittel, um die Dinge zu kaufen, mit denen er um Margherita wirbt und mit denen er glaubt, seine Besitzansprüche ihr gegenüber weiterverfolgen zu können, oder, wie er phantasiert, „im Besitz des schönsten Weibes“ (GNA 362) zu sein. So sind diese Bilder auch Zeichen des immer knapp vor dem Ausbruch stehenden gewalttätigen Verhaltens Antonios gegenüber Margherita, in deren Objektivierung er so weit geht, dass sie ihm „die Welt und alles, was ist und sein wird“ (GNA 375) sein soll. Die Bilder ermöglichen durch das reichliche Geld, das er mit ihnen verdient, Antonios ausgelebte Tyrannei - nicht der einzige Hinweis bei Ebner darauf, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten destruktive Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern perpetuieren. Zugleich halten diese Bilder Antonio von der Arbeit an der eigentlichen, einer solchen Gewalttätigkeit entgegengesetzten, Kunst ab, machen ihn also aus künstlerischer Perspektive unproduktiv. Darin liegt eine selbstzerstörerische Komponente dieser Aggression, die Ebner hier schon andeutet und später noch deutlicher herausarbeitet. Die latente Aggression Antonios gegen Margherita schlägt um in eine direkte, als sie sich der Bedrängung Antonios durch das Eheversprechen an einen anderen entzieht. Antonio beschuldigt sie, ihn ausgenutzt zu haben. Ebners Erzählung zeigt aber, dass dies eine Projektion des Mannes auf die Frau ist, die für Dinge haftbar gemacht werden soll, die der Mann aus eigenem Begehren heraus tat. Die männlichen Besitzansprüche artikulieren sich zuerst als emphatisches Hingerissensein von der Frau, deren Besitz Antonio in Agave (1903) 95 <?page no="96"?> 96 eins denkt mit künstlerischem Erfolg. „Die Zukunft lag in strahlendem Lichte vor ihm [d.i. Antonio], der größte Maler Italiens und im Besitz des schönsten Weibes sein, davon träumte er, das spiegelten wonnige, kühne Phantasien ihm vor.“ (GNA 362) Als diese Größenphantasien sowohl im Künstlerischen wie auch im Persönlichen fehlgehen, tritt das erotische Besitzstreben als absolute Verdinglichung der Frau in den Blick, das sich aus einer angeblichen Aufopferung des Mannes für die Frau ergeben haben soll, die aber nun gänzlich in einen Tauschwert überführt wird. Ich habe alles für sie hingegeben und hingenommen. [...] Ich habe, um Spielzeug für ihre Eitelkeit herbeizuschaffen, meine Kunst entwürdigt ... Ich habe den letzten Segen meiner Mutter versäumt, den Fluch meines Vaters auf mich geladen - um sie! ... Ich habe sie teuer erkauft, sie gehört mir. Ich gebe sie keinem anderen. Eher töte ich sie. (GNA 389) Die ästhetischen, an seiner Kunst begangenen, wie die ethischen, an den Eltern verübten Verschuldungen Antonios werden hier der Frau als Repräsentantin des Anderen angelastet und in die ökonomische Metapher der Schulden verwandelt. In genauer Parallele zu seinem Ziehvater, phantasiert Antonio die Tötung Margheritas als Rache für eine an ihm begangene Untat. Es ist erstaunlich, wie Ebner hier erotische Wunscherfüllung und künstlerischen Erfolg engführt und damit einen Zusammenhang in der Tradition der Genieästhetik herausarbeitet, in dem die Frau stets Objekt - der Anhimmelung, der Verehrung, des Hasses, der Gewalt usw. - nie aber eigenständiges Subjekt sein soll, und in dem sie im Negativen dem Monetären und damit der absoluten Objektivierung überantwortet wird. Diese Problematik baut Ebner-Eschenbach im Folgenden besonders aus, indem sie Antonio tatsächlich wie in einer ewigen Widerkehr der gleichen Gewalt Margherita (symbolisch) töten lässt. Das geschieht durch das Malen des Triptychons, in dem Antonio die Frau in Bilder übersetzt, die reale Person durch die von ihm kontrollierte symbolische Projektion der Frau substitutiert, um so seine Macht absolut ausüben zu können. In den drei Bildern unterwirft Antonio Margherita den erotischen Wunschprojektionen seines Willens, als Mädchen und als „Weib“ (GNA 400) in den ersten beiden Bildern, im dritten, vom Hass erfüllten Bild, als Tötungsphantasie, indem er Margheritas Verhässlichung durch ihr Altern vorhersagt, um sie als Frau zu entwürdigen. Die Mythisierung der rea- Eine andere Renaissance <?page no="97"?> len Frau Margherita zur „Männerjägerin“ Diana schreibt ihr in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse jene Kontrolle und Gewalttätigkeit zu, die ihr angetan wird. Ebner nimmt hier unterschiedliche Elemente auf. Auf der einen Seite verankert sie ihre Geschichte durch diese Thematik mit dem tatsächlichen Ort der Handlung, denn in der Nähe Ariccias, am Nemi-See, befindet sich eines der alten Heiligtümer der Diana, ein Heiliger Hain. 16 In klassischem Gewand kommt hier aber sicher auch die mittelalterliche Vorstellung mit ins Spiel, die in Diana, der ursprünglichen Beschützerin der Jungfräulichkeit, die Göttin der Hexen und somit die weibliche Seite des Teufels sah. 17 Indem Antonio Margherita bildlich darstellt und dabei solche Konnotationen mit evoziert, haben die Mönche und das Menschenvolk in der Karmeliter-Kapelle durchaus recht, wenn sie das Bild als „Teufelswerk“ (GNA 396) verschreien, als „zur Sünde reizendes Farbenbacchanal“ (GNA 397), das Antonio gemalt hat, „daß jeder einzelne sich daran betöre und in Verzweiflung sterbe.“ (GNA 398) Dass es sich bei dieser Kunst und der ihr unterliegenden Begierden nicht nur um eine Abberation von Antonios Kreativität handelt, sondern um einen Grundzug der Kunst schlechthin, macht die Aufnahme des Bildes durch den Herzog von Ventimiglia deutlich. Er kauft das Bild gegen einen hohen Preis an und stellt es in einem Separé auf, wobei die ersten beiden Bilder sichtbar bleiben, das dritte aber durch ein Tuch verhängt ist. Nur in Gegenwart von Antonio und dem Herzog darf das Bild auch von anderen angeschaut werden, jeden Tag zollt der Herzog gottesdienstartig den zwei ersten Bildern der „männerjagenden Diana [...] neue Bewunderung“. (GNA 414) Die elaborierte Präsentationsform zusammen mit einem ritualisierten Betrachtungzeremoniell stellen den Fetischcharakter des Bildes in dieser Umgebung und für diese Betrachter beinahe überdeutlich heraus. Damit deutet Ebner-Eschenbach auf die gleichursprünglichen Quellen der Pornographien und dieser drei Bilder in der Monetisierung der Kunst und im sexuell-objektivierenden Thema hin und macht auf die Fragwürdigkeit dieser Art von Kunst aufmerksam. Diese Fragwürdigkeit gewinnt augenfälligste Gestalt im dritten, die hässliche Alte zeigenden Bild. Dass dieses beim Herzog den Blicken entzogen bleibt, erlaubt den Betrachtern, sich dem schönen, vorgeblich dem Objekt dienenden Schein der beiden anderen Bilder Agave (1903) 97 <?page no="98"?> 98 hinzugeben, ohne dass die Destruktivität an der Wurzel ihrer Darstellungskraft in der männlichen Projektion deutlich wird. Das dritte Bild setzt dieses Zerstörerische mit voller Macht um in ein überwältigendes Meisterwerk der Malkunst, das Lippi ebenso wie Masaccio fasziniert: ein „den Menschen abstoßende[s], den Meister zur Bewunderung zwingende[s] Bild“. (GNA 401) „Dein größtes Kunststück, Maler! “ bewertet es Masaccio und ergänzt wenig später: „Hier hast du die Schönheit gemordet, die Liebe.“ (GNA 401) Masaccio diagnostiziert also, dass in diesem Meisterwerk ästhetische und ethische Qualitäten auseinandertreten und die Meisterschaft im Ästhetischen, die Raffinesse der Darstellung, erkauft wird durch ein Ausblenden des Ethischen und Humanen, da diese Kunst ihre Gegenstände ganz zu Objekten macht, mit denen nach Belieben verfahren wird. Die Maßschnur dieser Kunst ist alleinig die „Schöpferkraft“ (GNA 423) des Künstlers, sein Genie, das gottgleich über die Welt und ihre Menschen verfügt, sie erschaffen und wieder vernichten kann. Antonio artikuliert diese den Pygmalion-Mythos aufgreifende Ästhetik schnörkellos: „Ich bin der Schöpfer, du bist das Geschöpf, aus dem Nichts durch mich hervorgerufen.“ (GNA 422) Im Konflikt zwischen Ästhetischem und Ethischem, einem Thema, das uns in einer charakteristisch auf Frauen gemünzten Form in der Erzählung Das Schädliche im nächsten Kapitel wiederbegegnen wird, behandelt Ebner ein Problem, das zentral ist für die Literatur der Jahrhundertwende. Im Gegensatz zu Schriftstellern wie Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Thomas Mann und anderen löst sie den Konflikt, wie wir sehen werden, auf eine Art, in der Sterilität und Unmenschlichkeit des Ästhetischen unter geschlechtsspezifischen Vorzeichen klarer abgewertet werden als bei den genannten männlichen Schriftstellern. Das mag einerseits daran liegen, dass die 1830 geborene Ebner einer anderen Generation angehörte. Andererseits handelt es sich um eine Thematik, die im Schaffen Ebners durchgehend eine große Rolle spielt. Die Worte, die Masaccio in seiner Beurteilung des Triptychons verwendet, sind beinahe die gleichen Worte, die Ebner fünfundzwanzig Jahre zuvor zur Charakterisierung ihrer Reaktion auf die Nietzsche-Lektüre verwendete, die ich oben zitierte. Das lustvolle Lesen und die Bewunderung des Stils, das Abgestoßensein vom Immoralismus - in dieser zwiespältigen Haltung verhandelt Ebner eine der grundsätzlichen Positionen der Schriftstellerin und ihres Verständnisses der Rolle Eine andere Renaissance <?page no="99"?> der Kunst und des Schreibens, das durch ihre Erfahrungen als kreative Frau mitbestimmt ist. Die negativ-depressive Seite der Genie-Ästhetik liegt in der Erfahrung der Unproduktivität, die Antonio während seines Aufenthalts bei Ventimiglia erfährt und die ihn um so stärker treffen muss, als er dieses eine Meisterwerk geschaffen hat. Aus dieser Erfahrung heraus flößt die genialische Bilderreihe Antonio schließlich Hass ein, der noch verstärkt wird, als der durchreisende Meister Gentile die Sterilität von Antonios neuen Entwürfen bestätigt und - hier zieht sich nun eine Linie hin zur hohen Politik und wieder zur Gewalt - ihm rät, doch besser als Soldat sein Gück zu versuchen. „Kriegshandwerk und Künstlerschaft sind einander nicht allzu unähnlich.“ (GNA 420) Es ist dieses gleichsam heroische Verständnis von Künstlerschaft als zugreifender Aggression und ihre göttergleiche Kontrolle über das Geschaffene, aus denen Antonio das Recht auf die Zerstörung des Triptychons ableitet. Nachdem er die Bilder verschlimmbessert und damit „entwürdigend übertüncht“ (GNA 422) hat, beginnt er „mit dem Dolche über seine Diana zu streichen“, und „wuchtig, mit der breiten, scharfen Schneide, strich und strich [er], bis nur noch einzelne Überbleibsel, schwache Umrisse, zarte Farbtöne verrieten, daß hier ein Schönes gelebt hatte.“ (GNA 423) 18 Antonio wiederholt hier ein drittes Mal die Gewalttat seines Ziehvaters, womit Ebner-Eschenbach die Perpetuierung männlicher Gewalt verdeutlicht, die sich in einer Art Wiederkehr des Gleichen weiterpflanzt gleich dem Fluch des Ziehvaters, der auf Antonio lastet. (vgl. GNA 335; 359; 382; 388; 443) Antonios hasserfüllter Zerstörungswille, der im Sinne des genialischen Kreativitätsdenkens produktiv den Antrieb bot für die Schaffung des Bildes, schlägt hier massiv zerstörerisch auf das Kunstwerk selbst zurück. Dieses selbstzerstörerische Potential, so legt Ebners Text nahe, eignet dieser Kunst und vereitelt trotz der momentanen und überwältigenden künstlerischen Perfektion ihre Dauer und Wirkungskraft, offenbart die Sterilität dieser Kunst, dieser Art von Ästhetik. Das Gegenbeispiel dazu liefert in Agave Masaccios Kunst - und das nicht nur, weil in ihm ein in der Kunstgeschichte tatsächlich bedeutender Künstler in der Erzählung auftaucht. Obwohl Pulcheria bemerkt, dass Antonio und Masaccio „von der selben Art“ (GNA 343) sind, stellt Ebner den Unterschied zwischen beiden bildkräftig heraus Agave (1903) 99 <?page no="100"?> 100 durch das Wandgemälde der Wiedererweckung der Tabita durch den Apostel Petrus, 19 das als eine Art Gegenstück zu Antonios Triptychon zu verstehen ist. Masaccio tötet nicht Lebende in seinem und durch sein Kunstwerk, sondern erweckt sie ganz im Gegenteil wieder zum Leben und schenkt ihnen in der Kunst dauerhaftes Leben. Masaccio gibt Tabita das Antlitz von Antonios verstorbener Mutter und dieses blickt „in Schönheit und Verklärung“ (GNA 346) von den Kirchenmauern herab als bleibende Verherrlichung dieser Frau. Das Versprechen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, das wir schon anfangs im Bild des Toskaners gesehen hatten, wird hier in künstlerisch ungleich höherer Form erneut artikuliert. Was der Ehemann sich durch die körperliche und symbolische Gewalttat unterwarf und der Sohn in unguter Nachfolge durch sein eifersüchtiges Fernbleiben vom Totenbett der Mutter weiter zerstörte, stellt Masaccios Kunstwerk wieder her. In seinem Bild wird Antonios Mutter sinnlich wahrnehmbar und zeitlos in ihrer eigenständigen Einzigartigkeit erhalten. Auf subtile Art ist der erwähnte Unterschied zwischen Masaccio und Antonio geschlechtskodiert. Zwar werden sowohl Masaccio als auch Antonio metaphorisch als Jesus-Figuren charakterisiert, doch die Waise Masaccio ist in der Erzählung vaterlos, hat nur eine alte Ziehmutter, während Antonio - und seine Mutter - dem Diktat des Ehemanns und Ziehvaters unterworfen sind. In gewisser Weise verkörpert Masaccio als Künstler das utopische christliche Versprechen der Nächstenliebe in Form von gleichberechtigter Mitmenschlichkeit und Sorge, in dem er als Maler die Menschen wiedererweckt in der überdauernden Kunst, in der er das „todbesiegende Wort“ (GNA 346) bildhaft werden lassen kann durch seine uneigennützige und auch erotisch interesselose Hinwendung zur Frau. Diese, die Weiblichkeit akzentuierende Ausrichtung kontrastiert mit jener für Antonio hier charakteristischen klassischen Genieästhetik. Dass Masaccio dieser Ästhetik nicht anhängt, macht Ebner-Eschenbach in Agave schon ganz am Anfang im satirischen Bericht über Masaccios angeblich „männlich[es]“ Gesicht deutlich, 20 in dem es nicht nur „Ecken und Hügel“ geben, sondern „alles voll Genie“ (GNA 328) sein soll. Die Zuhörer dieses Berichts verlachen und verspotten den Berichtenden samt seiner unpassenden Metaphorik. Im Gegensatz zu Masaccio gelingt Antonio die Wiedererweckung nicht in der Kunst. Er ist nach-paradiesisch eingebunden in Eine andere Renaissance <?page no="101"?> die soziale und ökonomische Welt, von der Masaccio ausdrücklich nichts weiß. Daher kann er das „todbesiegende“ Wort auch nicht durch seine Kunst Wirklichkeit werden lassen, sondern muss es tatsächlich selbst artikulieren und damit in die soziale Welt hineinreichen. Gerade das tut er am Ende. Als Margherita ihn auf Geheiß der verstorbenen Pulcheria aufsucht, um ihm „alles [...] alles“ (GNA 324) mit eigener Stimme von sich zu erzählen und sich damit als eigene Person ihm auszusprechen, da spricht Antonio auch das Wort, das, parallel zu der Darstellung Masaccios der Tabita, von dem „tötlichen Banne“ (GNA 453) befreit und die beiden Liebenden, so der Text, erlöst. Dieses Wort ist der Name „Margherita“, in dem die eigenständige Dignität der Frau als Mensch anerkannt wird. Damit durchbrechen Antonio und Margherita den Kreislauf der Gewalt und befreien sich zusätzlich von dem Fluch des Vaters. Was also auf den ersten Blick sentimentale Konvention zu sein scheint, ist in diesem Kontext als Versuch zu verstehen, gegen die etablierten Konventionen der männlich kodierten, auf die Genieästhetik rekurrierenden Kunst eine Kunst der Gleichwertigkeit zu setzen, deren Credo nicht das der Genialität und gottgleichen Kreativität, ja noch nicht einmal des Gelingens im Sinne dieser Ästhetik ist, sondern das der Menschlichkeit. Man könnte von einer Ästhetik der gleichberechtigten Humanität sprechen. So gestaltet Ebners Agave im Hinblick auf die Kunst etwas sehr Ähnliches wie das viele Jahre früher entstandene Drama Marie Roland im Hinblick auf den Umgang mit Geschichte. Dort ist es eine Absage an die Geschichtsmächtigkeit heroischer Individuen im Umgang mit Geschichte, versetzt an den Geburtsort und in die Geburtszeit der Moderne in der Französischen Revolution. Hier ist es eine ganz an den Beginn der neuzeitlichen Kunst versetzte Absage an jene großmächtige Kunst, der es an humaner Substanz mangelt. Die Rückkehr Antonios zum Handwerk ist Eingeständnis sozialer Verantwortung und Eingebundenheit auch gegen die eigenen Wünsche, ganz ähnlich wie in Lotti, die Uhrmacherin. Das Bild der Agave scheint daher nicht nur für die einmalige künstlerische Leistung Antonios zu stehen. Denn die Agave blüht ja, um sich fortzupflanzen, produktiv zu sein, nicht steril trotz aller Perfektion wie die Kunst Antonios. Die Größe der einmaligen Tat, durch ein selbstloses Artikulieren von Margheritas Namen ihre Eigenständigkeit anzuerkennen, dadurch aus dem Wiederholungszwang der Gewalt herauszutreten, in der tatsächlichen Agave (1903) 101 <?page no="102"?> 102 Welt „ein lebendiges junges Mädchen“ (GNA 332) zu lieben und gesellschaftlich eingebettet zu sein, scheint mir ein ebenso guter Kandidat für die symbolische Repräsentation im Bild der Agave. Man wird in der Erzählung Agave, in der das Leiden um die Kunst und Selbstaufgabe um der Menschlichkeit willen zentrale Anliegen sind, schwerlich eine Renaissance-Geschichte im Sinne des späten 19. Jahrhunderts erkennen können. Masaccio, der bei Ebner von sich selbst feststellt, dass ihm „der Lebensnerv der Größe fehlt: Selbstvertrauen“ (GNA 345f.) ist kein Renaissance-Mensch, der „einen halben Kopf größer“ ist als die heutigen Menschen, um Emil Ertl noch einmal zu zitieren. Diese übergroßen Renaissance-Menschen sind ja auch nichts weiter als die Wunschprojektion einer bestimmten Zeit und Gruppe von Menschen, durch die die Renaissance „Gegenwartsbedeutung [...] gewinnen“ und darin „wichtige Grundbegriffe eigener Lebensanschauung enthalten“ soll, wie Walther Rehm es ausdrückte. 21 Auch bei Ebner-Eschenbach gewinnt die Renaissance Gegenwartsbedeutung, indem die Autorin sie für ihr eigenes Verständnis von Kunst und dem Prozess der Kreativität umwerten will, sodass diese geschichtliche Tiefe und damit auch Autorität erhalten und traditionsfähig sind. Masaccio ist, aus dieser Perspektive, Garant einer Kunstauffassung, die nicht in der sich absolut setzenden Individualität der Genieästhetik, sondern in der Individualität der Leidensfähigkeit ihre entscheidende sowohl ethische wie ästhetische Aussage macht. Diese ethisch gebundene Ästhetik ermöglicht in Ebner-Eschenbachs Version der Renaissance gerade, dass Kunst wirken kann, weil sie aus der „leidigen Demut“ (GNA 353) entspringt, die Lippi seinem Lehrer Masaccio vorwirft. Antonios letztendliches Scheitern in der Kunst ist ein Wiedergewinnen der Menschlichkeit und ein Heraustreten aus dem Wiederholungszwang der gewalttätigen Machtausübung gegenüber der Frau. Dass die siebzigjährige Schriftstellerin in Agave noch einmal daran geht, sich mit dem historischen Kontext ihres eigenen Schaffens, den Möglichkeiten einer weiblichen, nicht auf der Radikalität der Gewalt ruhenden Kunst, und den Traditionen, mit denen sie sich konfrontiert sah, auseinanderzusetzen, darin ist die ganz außergewöhnliche Leistung dieser Erzählung zu sehen. Ebner-Eschenbachs Renaissance und ihr Rom - für sie ist die ewige Stadt, ganz im Ton der Autobiographie, „Stätte ruheloser Kämpfe und wilder Verheerungen“ (GNA 439) - gewinnen dabei eine eigenständige Gestalt. Eine andere Renaissance <?page no="103"?> Anmerkungen 1 Siehe unter anderem Edith Toegel, Marie von Ebner-Eschenbach. Leben und Werk, pp. 19-37 und Ulrike Tanzer, „Dialogisches Erzählen. Zu den Novellen Marie von Ebner-Eschenbachs“. Eine vollständige Liste der Dramen und dramenähnlichen Werke in Susanne Kord, Macht des Weibes, pp. 241-242. 2 Eine ähnliche Beobachtung macht Ulrike Tanzer, „Dialogisches Erzählen. Zu den Novellen Marie von Ebner-Eschenbachs“, pp. 161f. 3 Das litterarische Echo, 5. 1. 1903, Spalte 1506-07, hier 1507. 4 Das litterarische Echo, 5. 1. 1903, Spalte 1507. 5 Neue Freie Presse, Nr. 13913, Donnerstag, 21. Mai 1903, p. 1. 6 Neue Freie Presse, Nr. 13913, Donnerstag, 21. Mai 1903, p. 3. 7 Siehe der Brief vom 25. Juni 1903 an Adolf Glaser, Literaturarchiv Marbach, D 88.5.10. 8 Marie von Ebner-Eschenbach, Briefwechsel mit Theo Schücking, p. 457. Siehe u.a. auch Doris Klostermaier, Victory of a Tenacious Will, pp. 236f.; Ferrel Rose, The Guises of Modesty, p. 158; Edith Toegel, Marie von Ebner-Eschenbach, pp. 99-101; Carl Steiner, Of Reason and Love, pp. 175-180, eine der wenigen positiven Stimmen. 9 Marie von Ebner-Eschenbach, Briefwechsel mit Theo Schücking, p. 282. Siehe auch Marianne Winterholler, “Marie von Ebner-Eschenbach und Theo Schücking”. 10 Ferrel Rose, The Guises of Modesty, pp. 158f. 11 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, pp. 281-286. 12 Walther Rehm, Das Werden des Renaissancebildes in der deutschen Dichtung vom Rationalismus bis zum Realismus, p. 188. 13 Ludwig Tieck, Vittoria Accorombona, p. 530. 14 Mit dieser Aussage soll kein kunstgeschichtliches Urteil abgegeben, sondern die Funktion der Renaissance in Ebners Geschichte bezeichnet werden. In der Kunstgeschichte gibt es unterschiedliche Positionen, vgl. beipielhaft Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, pp. 281-294, der sich gegen eine Verabsolutierung des „Neuen“ in der Renaissance ausspricht, und John Hale, The Civilization of Europe in the Renaissance, der hingegen die eigentümliche Kohärenz und Innovationskraft des „langen“ 16. Jahrhunderts betont. Vgl. auch Jan Bialostocki, Spätmittelalter und beginnende Neuzeit: „Die Frührenaissance nahm ihren Anfang in der florentinischen Kunst. Sie wurde ins Leben gerufen von Männern, die in ihrem großen Enthusiasmus überzeugt davon waren, etwas völlig Neuartiges zu schaffen.“ (70) 15 Siehe dazu Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, pp. 142-161. 16 Siehe C. M. C. Green, Roman Religion and the Cult of Diana at Aricia. 17 Siehe z.B. die Darlegungen im Canon Episcopi in Witchcraft in Europe. 400- 1700, pp. 60-63. 18 Die erotisch aufgeladene Zerstörungsszene hat Ebner in dieser Ausführlichkeit erst bei der Korrektur der ersten Niederschrift ausgearbeitet und inten- Agave (1903) 103 <?page no="104"?> 104 siviert. Das Manuskript befindet sich in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek Ja 79192, die Szene dort pp. 144f. 19 Vgl. Apostelgeschichte 9, 36ff. 20 Dieses Adjektiv hat Ebner übrigens ebenfalls erst später, in den Korrekturbögen von Agave, hinzugesetzt. Siehe Wiener Stadt- und Landesbiobliothek Ja 81178, p. 16. 21 Walther Rehm, Das Werden des Renaissancebildes in der deutschen Dichtung vom Rationalismus bis zum Realismus, p. 182. Eine andere Renaissance <?page no="105"?> 6 Bruderzwiste und böse Frauen „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) Die beiden vorangehenden Kapitel haben nachgezeichnet, wie Ebner-Eschenbach die literarischen Formen des historischen Dramas und der historischen Erzählung modifizierte und an Hand historischer Stoffe Schichten tradierter Auffassungen von literarischer Qualität und künstlerischem Gelingen freilegte, in denen geschlechtsspezifische Kodierungen dominieren. Durch ihre spezifische Behandlung der Themen - wie man historisch wirksam handelt, wie man künstlerische Produktivität und Menschlichkeit verbinden kann - verschiebt Ebner dabei das Koordinatenkreuz literarischer Wertung so, dass ein inklusiveres Spektrum kreativer Produktivität deutlich wird. Dabei treten vor allem auch die Ausschlussmechanismen, welche zur Marginalisierung frauenspezifischer Themen führen, in ihren literaturgeschichtlichen Konturen klar hervor und werden als Teil der etablierten ästhetischen Wertungen erkennbar. Einer Aussage wie der, dass Ebner-Eschenbach wegen „ihrer belletristischen Zeitanpassung“ „nicht zur eigenen Sprache“ gefunden habe, 1 ist daher wohl mit großer Skepsis zu begegnen und sie wäre darauf zu befragen, nach welchen Kriterien sie urteilt. In diesem Kapitel soll es weniger um die Spannung zwischen literarischer Form und geschlechtspezifisch markierten Inhalten, sondern um die Behandlung zeitgenössischer Fragen in der für das 19. Jahrhundert besonders populären Form der Novelle gehen. Dazu habe ich zwei recht unterschiedliche Beispiele ausgewählt. Das erste ist die - neben dem aus Schulbüchern vertrauten „Krambambuli“ - wohl bekannteste Novelle Ebners „Die Freiherren von Gemperlein“. Sie ist 1877 entstanden, wurde 1879 im literarischen Jahrbuch Die Dioskuren veröffentlicht und 1881 gemeinsam mit drei anderen Erzählungen in der Sammlung Neue Erzählungen auch als Buch zugänglich. Durch die Aufnahme in Paul Heyses Sammlung Neuer Deutscher Novellenschatz (1884) fiel ihr schon früh eine Sonderstellung unter Ebners Texten zu, die sich auch darin kundtut, dass <?page no="106"?> 106 sie in der Sekundärliteratur besonders häufig behandelt wird. Die zweite Novelle ist „Das Schädliche“. Zwischen Anfang 1892 und Ende 1893 entstanden, wurde sie 1894 in Die Romanwelt vorabgedruckt und kam noch im gleichen Jahr gemeinsam mit „Die Totenwacht“ als kleiner Band heraus. Sie gehört somit eher zu den späteren Werken Ebners. Einem breiteren Publikum und selbst jenen, die beruflich mit Literatur zu tun haben, wird diese Novelle so gut wie gar nicht geläufig sein. Beide Prosatexte gehören thematisch zu den im ländlichen Bereich angesiedelten Geschichten, die sich mit dem Leben von Landadligen beschäftigen. Sie teilen das Motiv, dass die männlichen Hauptfiguren sich aus dem städtischen öffentlichen Leben enttäuscht abgewendet und aufs Land zurückgezogen haben und dass die Handlung nun vornehmlich dort stattfindet. Beide Prosatexte greifen Themen auf, die wir schon in Marie Roland und Agave behandelt fanden, nun aber in einem dezidiert kontemporären Umfeld. „Die Freiherren von Gemperlein“ werden so zu einer Art Meditation über die Möglichkeiten politisch-geschichtlichen Handelns und „Das Schädliche“ zu einer über soziale Akzeptanz weiblicher Kreativität. Diese Themen werden daher auch den folgenden Darlegungen als Leitfaden dienen. Von „Die Freiherren von Gemperlein“ ist überliefert, dass es zu den Lieblingsbüchern von Ebner gehörte, gemeinsam mit Das Gemeindekind, Meine Kinderjahre und Lotti, die Uhrmacherin. 2 Auch die Kritik lobte die Novelle. Friedo Lampe nannte sie in einer von ihm besorgten Kriegsausgabe Ebners „erstes Meisterwerk“ 3 und Alfred Ehrenteich bescheinigt ihr, dass sie „eine der gelungensten Humoresken unserer Literatur“ 4 ist, obgleich er im Nachwort zu einer von ihm verantworteten Ausgabe einige Zeit früher weniger enthusiastisch die verschiedenen Vorurteile gegenüber Frauenliteratur an Hand dieser Novelle ausbuchstabierte. Da bewunderte er „mehr die Schaffenskraft als das Ergebnis, mehr den Fleiß als die Form“ und bescheinigte Ebner, dass „ein gut Teil ihrer Schöpfung dem Augenblick verhaftet“ sei, jedoch „als Dokument ihrer Zeit“ immerhin Gültigkeit habe. 5 Insgesamt jedoch findet diese Novelle freundliche Aufnahme, da die Humoreske „durch ihre Ausstrahlung und den feinsinnigen Lebensoptimismus besticht“. 6 Eine kürzlich erschienene Literaturgeschichte gibt den Forschungsstand daher durchaus anschaulich wieder, wenn sie zusammenfasst: Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="107"?> Komische und tragische Züge mischen sich in der Novelle [...], in der das Motiv der verfeindeten Brüder letztlich versöhnlich gewendet wird. Die unerbittlich geführten politischen Auseinandersetzungen zwischen konservativ-feudalen und fortschrittlich-liberalen Standpunkten können das brüderliche Fühlen und Handeln nie überdecken und verdrängen. Nur theoretisch sind sie uneins, praktisch handeln sie von entgegengesetzten Positionen aus im Sinne aufrichtiger Menschlichkeit. In der realen Krise stehen sie, ohne zu zögern, füreinander ein. 7 Wenn das freilich den Text tatsächlich charakterisieren würde, dann könnte man ihn schwerlich literarisch retten. Alle Gemeinplätze über die Literatur von Ebner-Eschenbach finden sich in diesen wenigen Zeilen: die Auflösung aller Konflikte im Geiste der Versöhnlichkeit, praktisch-aufrichtiger Menschlichkeit und eines Füreinandereinstehens im Sinne einer Allgemeinmenschlichkeit jenseits jeder Ideologie, kurz: Sozialkitsch aus dem 19. Jahrhundert. Auf eine potentiell andere Lesart machen zwei etwas kryptische Tagebuchnotizen aus der Entstehungszeit von „Die Freiherren von Gemperlein“ aufmerksam. Am 1. September 1877 schreibt Ebner: Ich werde sehr enttäuscht sein wenn die Gemperlein Niemanden lachen machen, weiß es im vorhinein - könnte schon gescheidter sein. Sie haben ihre Schuldigkeit gethan wenn sie nur mich von ihrer Zudringlichkeit befreiten. (TB II, 521) Den Hinweis auf die „Zudringlichkeit“ könnte man hier sozusagen als die Kritik einer Autorin verstehen, die die Novelle abschließen möchte. Doch eine wenige Tage später, am 13. September 1877, geschriebene Eintragung scheint eine größere Distanz zu dem Unternehmen anzudeuten und damit die „zudringlichen“ fiktiven Figuren in ein nicht ganz so freundliches Licht zu rücken: „Vormittag ein bischen an den Gemperlein gearbeitet - unterwaschen.“ (TB II, 523) Auch diese Bemerkung ist nicht unmittelbar und eindeutig verständlich. Doch sie gibt einen Hinweis, dass es sich hier um eine doppelbödige Geschichte handeln könnte, in der nur wenig so ist, wie es anfangs scheint, die eben viel mehr „unterwaschen“ ist, als man meint. Die Handlung von „Die Freiherren von Gemperlein“ ist zentriert um den ideologischen Privatkrieg zwischen dem radikal-demokratischen Ludwig und dem feudal-konservativen Friedrich von Gemperlein, die auf ihrem Privatgut Wlastowitz leben und sich ergebnislos bemühen, eine Frau zu finden. Beide Gemperleins sind „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 107 <?page no="108"?> 108 schließlich fasziniert von der Nichte ihrer Nachbarin, der Kanzlerin Siebert. Im eifersüchtigen Kampf um diese Frau überbieten sich die Brüder, bis sie schließlich herausfinden müssen, dass das „Fräulein“ eine schon lange verheiratete Frau ist. Die Brüder entsagen ihr und schließlich auch allen weiteren Heiratsversuchen, sodass sie die letzten ihrer Familie sind. Schon aus dieser kurzen Charakterisierung wird erkennbar, dass Ebner-Eschenbach die politisch-ideologischen Konflikte zwischen den Brüdern verknüpft mit privaten Auseinandersetzungen, wie es die ersten Zeilen der Novelle auch auf beinahe programmatische Weise ankündigen: Das Geschlecht der Gemperlein ist ein edles und uraltes; seine Geschicke sind auf das innigste mit denen des Vaterlandes verflochten. [...] Während die einen ihr Leben damit zubrachten, ihre Anhänglichkeit an den angestammten Herrscher mit dem Schwerte in der Faust zu bestätigen und so lange mit ihrem Blute zu besiegeln, bis der letzte Tropfen desselben verspritzt war, machten sich die anderen zu Vorkämpfern der Revolte und starben als Helden für ihre Sache, als Feinde der Machthaber und als wilde Verächter jeglicher Unterwerfung. (GNA 275) Die Familiengeschichte der Gemperleins spiegelt also nicht nur die vaterländisch-habsburgische Geschichte, sondern sie selbst verkörpern in dieser idealtypischen Konstellation die ideologischen Kräfte, von denen Geschichte angetrieben wird - oppositionell oder herrschertreu. Der politisch-historische Charakter der Gemperleins, von denen nur die männliche Linie erwähnt wird, prädestiniert sie dazu, zu Subjekten der Geschichte zu werden, die sie mit ihrer ideologischen Energie und der daraus entspringenden Gewalt weitertreiben. Entscheidend für die letzte Generation der Gemperleins ist, dass zum ersten Mal „die beiden Typen des Geschlechtes, [die] feudalen und [die] radikalen Gemperlein“ (GNA 276) zur gleichen Zeit leben. Sie verkörpern damit den Mechanismus der sich gegenseitig bekämpfenden geschichtsbildenden Kräfte, die sich aber durch ihre Gleichzeitigkeit gegenseitig völlig blockieren, sodass keinerlei Entwicklung erkennbar ist. Der Hinweis auf einen anderen berühmten „Bruderzwist“ in der Literatur der Zeit, nämlich das fünf Jahre vor der Entstehung von „Die Freiherren von Gemperlein“ uraufgeführte Geschichtsdrama Ein Bruderzwist in Habsburg (entstanden 1826; 1848; Erstveröffentli- Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="109"?> chung 1872) von Franz Grillparzer kann hier einen erhellenden Kontrast bieten. Es geht jedoch dabei weder um das Nahelegen von wie auch immer gearteten „Einflüssen“ noch um den Nachweis wörtlicher Zitate, sondern darum, Ebners Text im damaligen Umfeld der hohen Literatur und in der Thematisierung von Geschichte zu situieren. Grillparzers Drama, das in Claudio Magris’ berühmten Worten zu den Grundtexten des Habsburgmythos gehört, 8 ist repräsentativ für den Kontext, in dem Ebner-Eschenbach ihre Novelle veröffentlicht. Dass Grillparzers Drama von Ebner zur Kenntnis genommen wurde, ist unzweifelhaft. Ebner war mit Grillparzer und den Schwestern Fröhlich, die in einem eigenwilligen Arrangement gemeinsam lebten, befreundet und hat über dieses Verhältnis ausführlich in Meine Erinnerungen an Grillparzer berichtet. Die Uraufführung von Ein Bruderzwist in Habsburg am 24. September 1872 im Wiener Stadttheater unter Heinrich Laube hat sie genau verfolgt und im Tagebuch in eher blassen, konventionellen Worten kommentiert. „Ein großer, tiefer wenn auch nicht lärmender Erfolg. Lautere Weisheit strömt doch nicht umsonst aus dem Dichtermunde.“ (TB II, 133) Zwei Wochen später las Ebner das Stück und notiert enthusiastisch: Ausser Shakespeare hat noch niemand eine historische Tragödie geschrieben die sich mit dem Bruderzwist vergleichen ließe. Wie kann man so eindringen in die Geheimnisse der Seele - ? alle ihre Rätsel lösen - ? Man muß ein Gott sein. [...] Hier ist Grillparzer über seine eigene Größe hinausgewachsen. Der Geist der Geschichte weht uns an aus diesen athmenden Gestalten. Vor allem im Wunder ist der Kaiser. (TB II, 136f.) Dass Ebner mit ihrer Novelle unmittelbar auf Grillparzers Stück Bezug nimmt, ist zumindest nicht auszuschließen, zumal sie sich intensiv mit Grillparzers Werken beschäftigte und literaturhistorische Aufsätze zu Grillparzer’schen Themen las. (vgl. TB II, 259) Eine Reihe ihrer eigenen Bücher greifen Themen aus dem Umkreis des Habsburgmythos auf und können als eine Art Echo auf Werke Grillparzers verstanden werden. Die Heldin der Libussa (abgeschlossen 1848; Erstdruck 1872), Grillparzers Drama über den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat und eingebettet darin der Gründung Prags, kehrt beispielsweise in der Figur der kleinstädtischen Hausmagd Božena in Ebners gleichnamigem ersten Roman aus dem Jahre 1876 wieder. 9 „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 109 <?page no="110"?> 110 Wie dem auch sei: die Behandlung von Geschichte in Grillparzers Drama bietet eine gute Folie, auf der Ebners eigene Art, destruktive Geschichtskräfte darzustellen und zu interpretieren, klarer hervortreten kann. Grillparzers Drama ist, so Hugo von Hofmannsthal, die „bedeutendste historisch-politische Tragödie der Deutschen“. 10 Am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs, der das alte Reich zerstören und den modernen Nationalstaat bringen sollte, will Kaiser Rudolf II. von Habsburg die zerstörerischen geschichtlichen Kräfte dadurch bannen, dass er nicht handelt. Er verwendet den äußeren Feind - die Türken, die die südöstlichen Grenzen bedrängen -, um die internen Konflikte zwischen rivalisierenden katholischen und protestantischen Mächten in Schach zu halten. Für Grillparzers Hauptfigur ist jegliche historisch wirksame Handlung, gleich welcher ideologischen Coleur, gleichbedeutend mit der Zerstörung des alten Reichs. Es ist beinahe so, dass Rudolf vor der Geschichte als einer von menschlichen Handlungen geformten Kraft flieht, wobei er eine Art Stasis anvisiert, in der Reinheit und Schuldlosigkeit erhalten bleiben sollen, wo der Staat „das allgemeine Beste“ (V 1873), 11 die gesellschaftliche Realität nur „eitle Willkür und Verwirrung“ (V 429) ist. Rudolf garantiert somit die Reichseinheit, die im Chaos der Moderne verloren zu gehen scheint, „denn keine Teilung/ Verträgt was alle Teile eint zum Ganzen.“ (V 2320f.) Aber am Ende seines Lebens ist dieses Nichthandeln auch ein Handeln gegen den eigenen unehelichen Sohn, Don Cäsar. Don Cäsar spielt in diesem Stück beinahe als Farce den bekannten Konflikt des bürgerlichen Trauerspiels zwischen tugendhafter Bürgerstochter und unmoralischem adligem Verführer durch, wobei er die Frau, Lukrezia, schließlich aus Eifersucht tötet. Don Cäsar ist Exponent „freier, selbstermächtigter Subjektivität, die in der Geschichte die Möglichkeit [sieht], ihre Freiheit als Willkür auszuleben“ 12 und, so muss man hinzufügen, darin zum Mörder einer Frau wird. Wenn Rudolf am Ende Don Cäsar ärztliche Hilfe verweigert, dann verdammt er ihn durch diesen Entschluss wissentlich und willentlich zum Tode - und damit seine eigene Linie des Hauses Habsburg zum Aussterben. Dieses letzte Nichthandeln zeigt, wie die Aggression, die anfangs gegen die Türken gerichtet war, sich nun gegen den intimsten inneren Feind, den eigenen, die moderne Zeit verkörpernden Sohn, richtet. Damit treibt es die selbstzerstörerischen As- Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="111"?> pekte von Rudolfs Nichthandeln hervor. Grillparzers Stück ist eindrucksvoll, gerade weil es die Unmöglichkeit zeigt, die historische Bewegung durch Nichthandeln aufzuhalten. Es bringt so die notwendige Tragik geschichtlicher Entwicklung auf die Bühne. „Geschichte entpuppt sich hier als die Überwältigung des Tatenlosen durch die Tat.“ 13 Vor diesem Hintergrund kann die Erzählung „Die Freiherren von Gemperlein“ als eine Art komödienhafte Variante der Meditationen zum Zusammenhang von Tat und Historie gelesen werden, in der die ideologische und geschlechtsbedingte Unterfütterung der Behandlung von Geschichte und Politik beinahe wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment studiert wird. Während Grillparzers Drama mit großer Geste die Unentrinnbarkeit tragischen Scheiterns innerhalb der Geschichte vorstellt, wobei das Pathos der Vergeblichkeit klar auf der Seite der von der Last der Verantwortung bedrückten Männer liegt, geben die Ebnerschen Gemperleins eine Art Komödie der Verfehlungen und des fruchtlosen männlichen Aktionismus. Ganz im Gegensatz zu harmlosen Auslegungen von „Die Freiherren von Gemperlein“ intoniert der erste Satz der Novelle eine eigentümliche Konstellation, in der Familiengeschichte und vaterländische Geschichte miteinander verwoben sind, und verbindet sie mit der Geschlechtsthematik: denn das „Geschlecht der Gemperleins ist ein edles und uraltes; seine Geschicke sind auf das innigste mit denen seines Vaterlandes verflochten.“ (GNA 275, meine Hervorhebung) Unterstützt wird diese auf die Doppeldeutigkeit des Wortes „Geschlecht“ beharrende Lesart dadurch, dass der Text eingerahmt ist von dem Hinweis auf das Geschlecht der Hauptfiguren, denn das grammatische Subjekt des letzten Satzes der Novelle ist ebenfalls „Geschlecht“: „ ... und so ist denn, wie so vieles Schöne auf dieser Erde, auch das alte Geschlecht derer von Gemperlein - erloschen.“ (GNA 323, meine Hervorhebung) Zudem ist die besondere, die Handlung antreibende Situation der Novelle gerade, dass hier die „beiden Typen des Geschlechtes“ (GNA 276, meine Hervorhebung) zur gleichen Zeit leben, die feudalen und die radikalen Gemperleins. Im Verlauf der Novelle werden dann die ideologischen Kämpfe, die die Männer Gemperlein gegen die Welt und gegeneinander kämpfen, zunehmend ersetzt durch einen Geschlechterkampf mit der benachbarten Kanzlerin Siebert. „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 111 <?page no="112"?> 112 Die Ergebnislosigkeit eines intensiv geführten ideologischen Kampfes - fünfzehn Jahre brauchen sie, „um einzusehen, daß für sie in der Welt nichts zu suchen, daß Friedrichs Zeit vorüber und Ludwigs Zeit noch nicht gekommen war“ (GNA 276) - führt dazu, dass die Gemperleins sich aus dem öffentlichen Leben in die „geisttötende Abgeschiedenheit“ (GNA 278) ihres Gutes Wlastowitz zurückziehen. Dort werden ihre Kämpfe mehr und mehr zu einem „Selbstzweck“. (GNA 291) Die mehrfache Berufung der Brüder, sich (realistisch) „an das Reale, an die Wirklichkeit“ (GNA 282) zu halten, bzw. (idealistisch) aus der Geschichte zu lernen - „lies die Geschichte! “ (GNA 286, 287, 294) - erweist sich daher als Chiffre für einen selbstherrlich disponierenden Zugriff auf Wirklichkeit und Geschichte, der sein Ziel immer wieder verfehlt, weil er es ideologisch aus sich selbst generiert. Als Verkörperungen politisch-ideologischer Gegensätze konzipiert, zeigen die beiden Brüder daher auch das Gemeinsame dieser Gegensätze auf, das in der geographischen Integrität des Gutgbiets gestaltet ist. Trotz aller Pläne, Wlastowitz zu teilen, und damit die Grenzziehung zwischen den Ideologien auch konkret Gestalt werden zu lassen, sind die Brüder dazu nicht fähig, obgleich „die Grenze zwischen Ober- und Unter-Wlastowitz in der Kastralmappe verzeichnet“ (GNA 277) ist. „Jedem wäre der Grenzstrich, der [...] das Gut, das als Ganzes einzig und vollkommen war, in zwei unvollkommene Hälften gespalten hätte, mitten durch das Herz gegangen.“ (GNA 277) Diese Insistenz ist insofern logisch, als sie den spezifischen Systemcharakter einer bestimmten Art politischen Denkens auch über ideologische Divergenzen hinweg aufrecht erhält und damit sowohl deren Integrität als auch den spezifischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Und diese Art des Denkens ist in Ebners Novelle eindeutig als männlich markiert. Indem Ebner das Aktionsfeld der Brüder langsam vom öffentlichen auf das Privatleben mit dem „ziemlich eng umgrenzten“ (GNA 279) Horizont des Gutes verschiebt und den ideologischen Wettbewerb durch die Suche nach einer heiratsfähigen Frau komplettiert, legt sie nahe, dass die Energie in beiden Handlungssphären sich aus der gleichen Quelle speist und daher beide auch gemeinsam behandelt werden müssen. Darin liegt eine politische Dimension von Ebners vordergründig unpolitischem Erzählen. Das wird auch dadurch deutlich, dass die Frauen, auf die sich „die reiche Phantasie“ (GNA 281) der Brüder kapriziert, am besten als Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="113"?> Phantome ihrer ideologischen Disposition zu beschreiben sind. Weder Ludwig noch Friedrich haben Kontakt mit der jeweils Auserwählten. Der eine imaginiert sich als der liberale Retter der in ärmlichen Verhältnissen lebenden Nichte des Verwalters von Wlastowitz. Diese Lina Äpelblüh hat er nur einmal für einen Moment gesehen. Am Ende zerstören die Faszination mit seinen eigenen Kopfgeburten, seine Handlungsunfähigkeit und die Tatsache, dass die arme Lina an einen alten, wohlhabenden Notar verheiratet wird, der auch ihre mittellosen Geschwister mit aufnimmt, seine komplizierten, aber auch völlig wirklichkeitsfremden Heiratspläne. Der andere verliebt sich beim Lesen des „Genealogischen Taschenbuche[s] der gräflichen Häuser“ (GNA 283) in seine Auserwählte Josephe von Einzelnau. Diese Josephe stellt sich allerdings nach drei Jahren, in denen er sie lediglich über weitere Ausgaben desselben Taschenbuches weiterverfolgt, als ein Joseph heraus, womit auch dieser, auf einem Druckfehler beruhende Heiratsplan gescheitert ist. Durch die Parallelisierung der ergebnislosen Verfolgung ihrer ideologischen Ziele mit den ebenfalls ergebnislosen Heiratsversuchen wird die Unfähigkeit der beiden Männer vorgeführt, in der sozialen Wirklichkeit effektiv und affektiv angemessen zu agieren. In diesem Bruderzwist folgt die Niederlage aus der geschlechtsbestimmten Imagination der Männer, die hier sowohl in ihrem aggressiv-gewalttätigen Willen zur ideologisch-politischen Geschichtsformung gezeigt wird als auch im Verhältnis zu Frauen. Grillparzer dagegen leitet die Niederlage aus einem tragisch-notwendigen, „großen“, quasi-natürlichen Fehlgehen politischer und geschichtlicher Taten. Das Scheitern der Brüder Gemperlein liegt darin begründet, dass sie sich imaginäre Macht über die soziale Wirklichkeit und über reale Frauen anmaßen, und dass sie sich diesen „Phantasie[n]“ (GNA 284) in einem selbstzerstörerischen Opferwillen als jeweilige „Helden für ihre Sache“ (GNA 275) „ohne Rückhalt“ (GNA 284) hingeben. Die erste Hälfte der Novelle ist somit dominiert von den selbstreferentiellen, ergebnislosen Gemperlein’schen - männlichen - Aktivitäten sowohl im Hinblick auf effektive politisch-geschichtliche Handlungen als auch auf menschliche Handlungen in der Etablierung der kleinsten Einheit gesellschaftlicher Organisation, nämlich der sozial legitimierten Beziehung zwischen zwei Menschen. Im zweiten Teil der Novelle radikalisiert Ebner die Situation analytisch, indem sie die Eingeschränktheit der Brüder auf ihrem Gut hervor- „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 113 <?page no="114"?> 114 hebt und das im ersten Teil eingeführte Thema der Geschlechterpolarität auf die Spitze treibt. Dafür führt sie zwei Frauenfiguren mit Handlungsrelevanz ein: die Nachbarin der Brüder, die Kanzlerin Siebert, und deren Nichte Klara. Kanzlerin Siebert liegt in Dauerstreit mit den von ihr eigentlich geschätzten Brüdern. In Klara verlieben sich Friedrich und Ludwig und geraten darüber in scharfe Rivalität. Indem Ebner die Brüder somit wieder in die soziale Wirklichkeit außerhalb der abgezirkelten Welt des Gutes Wlastowitz treten lässt, weist sie die sozialen Konsequenzen des männlich markierten Gemperleinschen Handelns aus, die innerhalb der Gutsgrenzen zwar fruchtlos, aber wenigstens nicht sonderlich gefährlich und sogar komisch sind. Die im ersten Teil vornehmlich auf politisch-ideologische Auseinandersetzungen konzentrierte Gewalttätigkeit der Gemperleins wird nun in ihren Konsequenzen für die unmittelbare Umwelt der Brüder gezeigt. Ebner beschreibt das Gut Perkowitz der Kanzlerin Siebert, als ob es einen direkten Angriff auf Wlastowitz darstellte, denn diesem Schauraum Gemperlein’scher Aktivitäten treibt Perkowitz „eine Remise und drei Felder als ebensoviele Keile ins Mark [...] hinein.“ (GNA 299) Die aggressive Metapher stellt die Integrität der als männlichen markierten Handlungsart, die in der geographischen Integrität des Gutes Wlastowitz symbolisiert ist, grundsätzlich in Frage. Dabei sind die Handlungen der Brüder in ihren ideologischen Auseinandersetzungen und in ihren Versuchen, sich Frauen im wörtlichen Sinne anzueignen, nicht nur drollig. Wenn dieses großmächtige Denken und Handelnwollen auf Grenzen stößt, schlägt eine rabiate, zerstörerische Gewalttätigkeit durch, die sich gegen Tiere (vgl. GNA 315) und Frauen (vgl. GNA 303) und schließlich auch körperlich gegen sich selbst richtet. Gerade an der „Perkowitzer Grenze“ (GNA 314) geschieht ein vom liebestollen, auf die Pferde einprügelnden Ludwig verschuldeter Kutschenunfall, durch den Friedrich beinahe ums Leben kommt. Beide Brüder besinnen sich - und spielen dennoch ihre Rollen weiter, wenn sie angeblich opfermutig ihrem Heiratswunsch entsagen und jeweils für den anderen Bruder um die Hand Klaras anhalten. Dieser „Sieg der edelsten Selbstverleugnung und des reinsten Opfermutes“ (GNA 318) ist nichts anderes als umgekehrter Hochmut gegenüber der Frau, über die sie auch in dieser vorgeblichen Entsagung noch verfügen wollen. Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="115"?> Die Kanzlerin Siebert ist die intrigante magistra ludi des possenhaften Spiels, das ideologische Aneignungsmuster einer „männlichen“ Geschichte dadurch entblößt, dass sie sie auch im Verhältnis zur Frau sichtbar macht. Nicht umsonst wird sie „Madame de Tencin“ (GNA 299) genannt, ein Hinweis auf Guérin de Tencin (1682- 1749), Mutter Jean d’Alemberts, Courtisane Richelieus, politische Intrigantin, Schriftstellerin und Mittelpunkt eines großen literarischen Salons im Paris Ludwig XV. Kanzlerin Siebert stachelt die ideologischen Kämpfe der Brüder an, um sich besser amüsieren zu können, und sorgt dafür, dass die Brüder in dem Glauben bleiben, es mit einem heiratsfähigen „Fräulein“ Siebert zu tun zu haben. Sie feiert ihren „boshaftesten Triumph“ (GNA 303) in den Verwicklungen, die sich daraus ergeben und die beinahe zum Unfalltod Friedrichs führen. Sie greift nicht klärend ein, inszeniert gleichsam das Kommende, indem sie dem Eroberungsdrang der Freiherrn scheinbar freien Lauf lässt. So wird die Liebesgeschichte zu einer Tragikomödie, in der die Brüder mit ihrer die Tatsachen verfehlenden männlichen Imagination sich selbst ins individualgeschichtliche Abseits stellen, während die Kanzlerin Siebert „sich die Seiten vor Lachen“ (GNA 299) hält. Die nicht nur amüsante Auseinandersetzung zwischen der Kanzlerin und den Brüdern, ob der Förster der Gemperleins an der Grenze der Güter eine Geiß oder einen Bock geschossen hat (vgl. GNA 303-304), gewinnt in diesem Zusammenhang eine düsteren, fast sarkastischen Klang, in der die Geschlechtsthematik eine drastische Note erhält. Die „Rache“, die die Kanzlerin „für [ihre] Geiß“ (GNA 322) haben musste, führt dazu, dass die beiden „Böcke“ Gemperlein den Totentanz ihres Geschlechts vorführen. „Das Jagdvergnügen an [der] Grenze“ ist den Brüdern jedenfalls ordentlich „versalzen“ (GNA 322) worden. 14 Innerhalb der Grenzen ihres eigenen Gutes ergehen sich die Freiherrn weiterhin in ihren dort folgen- und nachkommenlosen, imaginären Eroberungen von Wirklichkeit, Geschichte und Frauen. Nicht nur Kanzlerin Siebert, auch Ebner-Eschenbach erweist sich hier als listige magistra ludi, und zwar bezogen auf das Interpretationsspiel mit der Novelle „Die Freiherren von Gemperlein“. Der ausdrücklich formulierte Rahmen, den sie am Anfang und am Ende durch Analogisierung der Landesgeschichte mit der Familiengeschichte der Gemperleins setzt, ist die falsche Fährte, die sie jenen Interpreten legt, die sich ebenso eins wissen mit der Geschichte und „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 115 <?page no="116"?> 116 der „Wirklichkeit“ wie die Brüder Gemperlein. Die Gemperleins, sofern sie als Repräsentanten des Feudalismus und des radikalen Republikanertums gesehen werden können, verdeutlichen ja nichts so sehr, wie die Unvereinbarkeit der Repräsentation politischer und sozialer Strömungen und Mächte in individuellen Handlungen, ja ärger noch: dass ein „Gemperlein’sches“ Festhalten an einer solchen historischen Repräsentationsmacht zu einer „unausbleiblichen Katastrophe“ (GNA 277) führt. Friedrich und Ludwig schreiben sich ihre geschichtsträchtige Bedeutung unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen ja selbst zu, treiben damit aber nur immer stärker den eigenen Wirklichkeitsverlust hervor. Dieser Rahmen muss daher durch den komplementären subversiven ergänzt werden, der durch die wiederholte Nennung des „Geschlechts“ gegeben wird und mit dem eine interpretatorische Auseinandersetzung über das Offensichtliche hinausgehen kann, damit sie nicht derselben Verblendung anheimfällt wie die Brüder. Innerhalb von deren „ziemlich eng umgrenztem“ (GNA 279) Horizont ergibt die Analogie zwischen Familiengeschichte und Landesgeschichte Sinn. Von außen, gleichsam aus der Perkowitzer Perspektive betrachtet, ist es eine sinnlose, von Schauder und Unmenschlichkeit durchwebte Komödie der vorgeblichen Geschichte, ein furioses Possenspiel männlicher Imagination. Wäre diese nicht eingefriedet in den Grenzen des Gemperlein’schen Gutes, würden ihre selbsternannten Hauptakteure sich darin ergehen, selbstzerstörerisch und inhuman „als Helden für ihre Sache“ zu sterben. In Grillparzers Bruderzwist waren der zerstörerische Charakter Don Cäsars und sein Mord an Lukrezia nur ein Aspekt des insgesamt fatalen Geschichtsbildes. Ebner hingegen zeigt sehr eindringlich, wie die Antriebskräfte geschichtsmächtigen Handelns dieselben sind, die auch die Geschlechterbeziehungen bestimmen und mit Gewalt aufladen. Dass Ebner am Ende das Geschlecht der Gemperleins „wie so vieles Schöne auf der Erde“ (GNA 323) untergehen lässt und uns in eine Art Vorschein auf ein Matriarchat entlässt, in dem die Kanzlerin und Klara als Adlige weiterleben werden - und somit die Interpreten widerlegen, die in dieser Geschichte einen Abgesang auf den Habsburger Adel erkennen wollen 15 - kann man wohl als ein wunderbares Beispiel feiner Malice bezeichnen. In diesem letzten Satz greift Ebner explizit im Motiv des „Schönen“ eine Facette der The- Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="117"?> matik auf, die in diesem Schwanengesang auf eine bestimmte Art der Männlichkeit bis dahin keine große Rolle spielte. Um die Verknüpfung von Geschlecht und den Bereich des Ästhetischen, des Schönen, geht es ausdrücklich in der Erzählung „Das Schädliche“, die anschließend thematisiert werden soll. Während „Die Freiherren von Gemperlein“ vornehmlich die Verbindung von Geschichte und Geschlechterverhältnis thematisierten, fokussiert „Das Schädliche“ jene zwischen dem Ästhetischen und der Kreativität im Kontext einer Geschlechterpolarität schärfer. Auch in dieser Erzählung spielt übrigens die Bocksjagd eine nicht unwesentliche Rolle; das eher unscheinbare Motiv gewinnt dadurch noch stärkere Konturen und seine symptomatische Bedeutung im Feld der Geschlechterthematik wird verdeutlicht. Diese Erzählung, „Das Schädliche“, deren Titel der Jägersprache entstammt, ist wenig geläufig, auch wenn Ferdinand von Saar in der weiblichen Hauptfigur „eine teuflische Prachtgestalt“ sah und „das ganze [für] ein Meisterwerk“ hielt. 16 Deshalb werde ich erst kurz den Text wiedergeben, sodass man einen Eindruck von dieser Novelle erhält. Anschließend werden einige für unseren Zusammenhang besonders wichtige Aspekte separat herausgehoben, um ähnlich wie bei der Behandlung von „Die Freiherren von Gemperlein“ vor dem Hintergrund von Vergleichstexten zu argumentieren und einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang herzustellen. „Das Schädliche“ ist die „Generalbeichte“ (GNA 579), die der todkranke Adlige Franz an einen Freund aus Militärzeiten schreibt. Er entfaltet seine Lebensgeschichte von der Geburt im Jahre 1829 bis zur Geschichte seiner verfehlten Ehe und Vaterschaft. Der Eintritt ins Mannesalter nach Abschluss des Studiums fällt zusammen mit dem traumatisch erfahrenen Tod seines Vaters, der unversöhnt mit seiner Frau einen kläglichen, unfriedlichen Tod erleidet. Von da an stehen alle Phasen von Franz’ Leben unter dem Einfluss einer Frau: erst der Mutter, dann der Ehefrau, schließlich der Tochter und einer nonnenhaften Schwägerin. Der Verfall oder Tod einer Frau führt zur Substitution durch eine andere. Als seine Mutter zu kränkeln beginnt, lernt Franz Edith kennen, die mittlere von drei Töchtern aus einer sehr wohlhabenden Industriellenfamilie mit gesellschaftlichen und künstlerischen Ambitionen, eine ungeliebte Tochter, deren „Aschenbrödeltum“ (GNA 583) und geheimnisvolle Ausstrah- „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 117 <?page no="118"?> 118 lung Franz völlig gefangen nehmen. „Sie zu beschreiben wäre sogar einem Dichter unmöglich gewesen. Sie war das verkörperte Geheimnis, ein wunderbares, lockendes Rätsel.“ (GNA 583) Weder von seiner eigenen erschreckten Mutter, der Edith „unheimlich“ (GNA 588) ist, noch von Ediths Eltern, die ebenfalls nichts Gutes an der künstlerisch höchst talentierten Edith lassen wollen, lässt er sich von der Heirat abbringen. Kurz nach der Heirat wird eine Tochter geboren, die auf den Namen von Franz’ Mutter, Eleonore, getauft wird. Sie entwickelt sich immer mehr zu einem Abbild Ediths, die sich deswegen zunehmend von ihr abwendet. Die Ehe verläuft stürmisch, da Edith „kein Talent haben und ausbilden [will] als das, [Franz] anzubeten.“ (GNA 591) Dabei ist sie es, die alle Männer bezaubert und alle Frauen gewinnen kann. (vgl. GNA 596) Ediths Eifersucht findet ihren Höhepunkt darin, dass sie ein Telegramm, das die Eheleute vom Faschingstreiben in Wien an das Totenbett von Franz’ Mutter zurückruft, unterschlägt, um am glanzvollen letzten Ball der Saison teilzunehmen und Huldigungen der Gesellschaft zu empfangen. Als die Eheleute das Schloss zu spät erreichen und die Mutter schon tot ist, ist Franz „unheilbar verwundet“. (GNA 598) (Dieses Motiv wird Ebner, wie wir gesehen haben, in Agave wieder aufnehmen, dort aber ganz in den Kontext von Antonios Eifersucht und Machtstreben gegenüber Margherita stellen.) „An der Leiche meiner Mutter war mein Gewissen erwacht. Ich lernte alle seine Qualen kennen. Die stummen Lippen der Toten hatten gesprochen: Schlechter Sohn! “ (GNA 597) Als sich herausstellt, dass er der absoluten Liebe nicht fähig ist, die Edith auch dieses Vergehen noch hätte verzeihen können, gleitet seine Beziehung zu ihr in das rein Geschlechtliche ab. Nach verschiedenen Affären Ediths kommt es schließlich zur Scheidung, nach der sie bis zu einer Vergebungsszene an ihrem Totenbett verschwindet. Das Hauptaugenmerk fällt alsdann auf die heranwachsende Tochter, Lore, die vor allem von der streng religiösen Schwester Ediths, Maud, erzogen wird. Bald stellt sich heraus, dass Lore nicht nur Edith ähnlich sieht, sondern ihr auch im wilden, unabhängigen Geist, in Kreativität und moralischer Verworfenheit in nichts nachsteht, wodurch die Vererbbarkeit dieser Persönlichkeitsmerkmale nahegelegt wird. Die abgöttische Liebe des Vaters - im Stillen gibt Franz „ihr süßere Namen, als irgendjemand sie ersinnen konnte“ (GNA 607) - verwandelt sich langsam in ein Grauen vor der Ab- Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="119"?> scheulichen. Anfangs glaubt Franz, dass Lore das Schlechte nicht angeboren sei und dieses deswegen „ausgerottet“ (GNA 610) werden könne. „Väterliche Liebe ist doch noch mächtiger als die Liebe zu einem Weibe.“ (GNA 612) Schließlich muss er jedoch einsehen, dass Lores Tendenz zu physischen und seelischen Grausamkeiten auch durch härteste Strafen nicht ausgetrieben werden kann. „Das einzige, was sie wohl je wirklich geliebt hat, war das Böse.“ (GNA 622) Auch Lore ist, ganz wie ihre Mutter, künstlerisch höchst begabt, dabei unwillig, auch nur eine der genial hingeworfenen Skizzen auszuführen, weil ihr das als eine Verschwendung von Lebensenergie vorkommen würde: „Ich lebe, will leben, nur leben, mich freuen, mich unterhalten, glücklich sein.“ (GNA 620) So erscheint Lore ihrem Vater als „eine Verkörperung der blinden, brutalen Lebens- und Triebkraft, die nichts will, das heißt nichts muß als sich durchsetzen und dabei nebenher alle die Licht-, Duft-, Klangerscheinungen hervorruft, die uns entzücken.“ (GNA 620) Dieser Lore verfällt der etwas tumbe Rupert, Sohn eines Gutsbeamten. Lore unterwirft ihn sich völlig und schließlich muss er von den Eltern und Franz geradezu in Sicherheit gebracht werden; er geht alsdann zum Militär, um ein richtiger Mann zu werden. Lore macht durch ihr bestrickendes Wesen weitere Eroberungen, vor allem die eines sonst unnahbaren genialischen Künstlers und Gelehrten, Werner Klar, der ihr später in einer Novelle „ein Denkmal gesetzt [hat], das sie und - freilich auch ihn verherrlicht.“ (GNA 627) Diese Affäre hält Lore nicht davon ab, sich gleichzeitig mit Fürst Nordhausen zu verloben und eine glanzvolle Vermählung zu planen. Kurz vor diesem Ereignis kehrt Rupert vom Militär zurück und will sich als gefestigter Mann vorstellen. Während der Hochzeitsvorbereitungen beschleichen Franz Zweifel an Lores Einstellung und er vermutet, dass sie ihren Verlobten hintergeht. Er will einen Ausritt machen; da seine Anweisungen missverstanden werden, bringen die Knechte die Ausrüstung, um „auf den Bock“ (GNA 635) zu reiten, was Franz dann auch tut, ohne freilich den Schuss abzugeben. Ich tue, was ich in letzter Zeit oft getan habe, passe den Gesellen ab, nehme ihn aufs Korn, wir sehen einander an, und ich denke: Geh deiner Wege, genieße noch eine Weile dein bißchen Leben. (GNA 635) „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 119 <?page no="120"?> 120 Auf dem Weg durch den Wald kommt ihm Lores entsetzte Zofe entgegen. Rupert hatte herausgefunden, dass Lore ein Verhältnis mit Werner Klar unterhält, und es empörte ihn, dass er wegen einer solchen Affäre Lore nicht „haben“ sollte. „Vor dem Bräutigam streiche er die Segel, vor dem Geliebten nicht.“ (GNA 635) Dieser verrückte Rupert hat es nun darauf angelegt, Lore umzubringen. Der Vater eilt zum angegebenen Ort, zögert aber im entscheidenden Moment: Ich wollte aufschreien: „Zurück! “ aber das Wort erstarb mir im Munde. Alle Pein der Vergangenheit und Gegenwart, alle Schauder vor der Zukunft ballten sich in eine Anklage zusammen. Sie lebt zum Unheil eines jeden, der ihr naht, ist das Schädliche; fort mit dem Schädlichen aus der Welt. Das Schicksal walte! Laß es geschehn! (GNA 637) Lore fällt tödlich getroffen; sie stirbt, ohne Reue gezeigt zu haben. „Ich sterbe - auch gut.“ (GNA 637) Die Fragwürdigkeit seiner Handlung einerseits und zugleich die Gewissheit, dass die Familie damit „der Schmach entgangen [ist], die [Lore] über sich und uns gebracht hätte“ (GNA 638), bestimmen den Schluss, der von einem „mit verzweiflungsvoller Leidenschaft geführte[n] Plädoyer für die Todesstrafe“ und einem hasserfüllten Aufruf „zum Vernichtungskampf gegen das Böse“ (GNA 639) bestimmt ist. Die letzten Zeilen stechen ab von der Brieffiktion, da sie aus traditioneller Erzählerperspektive das Ende erzählen: In diesem Haß hat der Mann Rettung vor dem Zweifel gesucht, der ihn mit wachsender Qual bedrängt haben mag, während er seine traurige Geschichte niederschrieb. Als sein Freund sie gelesen hatte, eilte er zu ihm, fand ihn aber nicht mehr lebend. (GNA 639) Die Handlung der Erzählung wurde hier ausführlich wiedergegeben, damit einzelne Elemente nun plastischer hervortreten können. Unschwer wird man typische Themen der Literatur der Jahrhundertwende identifizieren können. Der negativ gewendete Vitalismus Ediths und Lores, der als Gefährdung der Integrität sowohl der Familie als auch der Geschlechterbeziehungen verstanden wird, sind hier zu nennen, ebenso die Gestaltung der beiden Frauen als femmes fatales, gegen die die Männlichkeit mobilisiert werden muss, um ihrer zerstörerischen Kraft Einhalt zu gebieten. Die Verhandlung der problematischen Vererbungslehren im Sozialen, wie es schon in Das Gemeindekind (1887) angeklungen war, ist hier in der spezifischen Form der Vererbung von Charaktereigenschaften von Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="121"?> der Mutter auf die Tochter präsent. In der kreativen Arbeit von Edith und Lore findet sich eine Behandlung der Frage nach dem Verhältnis des Ästhetischen und der sozialen Gebundenheit des kreativ tätigen Menschen. Wir sehen also, dass die Novelle der beinahe Siebzigjährigen thematisch durchaus zeitgemäß ist. Neben diesen thematischen Beziehungen lassen sich auch einige literaturhistorische Verweise aufzeigen. In der strengen Brieffiktion, die nur am Ende durch den Bericht vom Tod des Briefschreibers durchbrochen ist, erinnert „Das Schädliche“ an Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774); die Figur Ediths, ihre familiäre Isolation, die Unbedingtheit ihrer Liebeserwartung, legen sicher nicht zufällig eine Verwandtschaft mit Adalbert Stifters „Brigitta“ (1844) nahe. Auch Franz’ Bemühen, sein Gut zu einem Mustergut zu machen, ist ein Motiv, das wir aus „Brigitta“ kennen. Damit haben wir eine erste literarische Verortung der Novelle. Anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die sich im Blick auf diese beiden Bezugstexte ergeben, lassen sich Eigentümlichkeiten von „Das Schädliche“ herausstreichen. In den Texten Goethes und Stifters erscheinen Frauen als Objekte männlichen Begehrens. In Goethes Werther wendet sich die männliche Projektion schließlich als frustrierende Ablehnung gegen die eigene, sich antibürgerlich und kreativ gerierende Person; die Verletzung des psychischen Selbst ist so groß, dass sie in tatsächlicher, physischer Selbstzerstörung mündet. Werther zerbricht an der bürgerlichen Welt, in der Lotte verwurzelt ist. Auch in Franz ist die Selbstzerstörung drastisch gezeichnet, freilich treten die neurotischen Aspekte am Ende stärker in den Vordergrund als in Die Leiden des jungen Werther. Die theatralische Inszenierung des eigenen tragischen Untergangs, wie Werther sie höchst kalkuliert betreibt, ist Franz jedoch in „Das Schädliche“ weitgehend verstellt; ein Duell mit einem von Ediths Liebhabern etwa wird abgebrochen, und die beiden Männer versöhnen sich. (GNA 604f.) Auch im Verhältnis zwischen Franz und Edith sowie Lore sind die entscheidenden Momente - der gänzliche Bruch mit dem Ehemann, das Sterben der Tochter - deutlich herabgestimmt und werden der Dramatik durch ein von den Frauen lakonisch ausgesprochenes „auch gut“ (GNA 604; 637) enthoben, das als leitmotivischer Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber der Konvention und den moralischen Vorhaltungen des Ehemannes und des Vaters fungiert. In Lores letztem Moment er- „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 121 <?page no="122"?> 122 füllt es auch die Funktion, der Darstellung der sterbenden Frau jede Sentimentalität des „schönen Todes“ zu nehmen, indem die Frau selbst im wörtlichen Sinne das letzte Wort behält und sich so noch im letzten Moment der männlichen Beschreibungs- und Interpretationsmacht verweigert. In ihrem isolierten Einzelgängertum, in der Ablehnung durch die Eltern und in ihrem Bestehen auf absoluter Liebe und Treue erinnert Edith an Brigitta aus Adalbert Stifters gleichnamiger Novelle. Im Unterschied zu Brigitta ist Edith jedoch schön und bezaubernd, verbindet die bei Stifter in die herbe Brigitta und die erotisch-schöne Gabriele gespaltenen Qualitäten. Während in „Brigitta“ die Versöhnung der entfremdeten Eheleute durch die gemeinsame Rettung des Sohnes aus Gefahr angestoßen wird, sind weder Edith noch Franz in der Lage, ihre Tochter vor der von außen einbrechenden Gefahr zu retten, die in Rupert als „Ausdruck von männlicher Willenskraft und Energie“ (GNA 623) verkörpert ist. Franz’ Abwendung von Edith wird auch nicht - wie die entsprechende in „Brigitta“ - als direktes Resultat männlicher Untreue erklärt, sondern augenscheinlich aus der Reaktion von Franz auf die Eifersucht Ediths gegenüber seiner Mutter. Das Mönchische der Lebensweise, das Mustergültige der Wirtschaftsführung und die Angst vor dem Körperlichen in „Brigitta“ sind in „Das Schädliche“ auf Franz und auf Ediths Schwester Maud übertragen. Ersterer wird wegen seiner „Abscheu vor allem Unreinen“ schon als Schüler als „heilige[r] Antonius“ (GNA 580) gehänselt; Mauds weltliches Klostertum wird wiederholt betont. Mit beiden Texten teilt „Das Schädliche“ eine starke Perspektivierung, die bei Goethe durch die Konzentration auf die Briefe Werthers, bei Stifter durch die personalisierte Erzählerperspektive des Freundes des Majors unterstützt wird. In „Das Schädliche“ wird diese Perspektivierung noch radikalisiert dadurch, dass es sich mit Ausnahme der letzten Zeilen um einen von Franz geschriebenen und als intensive Introspektion deklarierten Brief handelt. Gelegentliche Einschübe halten bewusst, dass Franz diese Geschichte nachträglich schreibt und auch bewertet. (vgl. GNA 593; 605; 615; 618f.; 633) Die den Titel erklärenden Passage hebt diese Perspektivität ebenfalls hervor. Lore klagt an dieser Stelle gegenüber ihrem Vater, der einen schönen Marder getötet hat, Gerechtigkeit für die Kreatur ein. Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="123"?> „Wer hat dir das erlaubt? “ „Siehst du“, sagte ich, „nicht nur erlaubt ist’s mir, ein so gefährliches Tier zu töten, ich muss das tun, um unser und der andern willen. [...] Es ist gut und recht, das Schädliche wegzuschaffen aus der Welt.“ „Das Schädliche? “ wiederholte sie. „Nennt man einen Marder das Schädliche? “ „Man nennt in der Jägersprache alle Tiere so, die sich vom Fraße nützlicher Tiere nähren, [...].“ Sie besann sich. Über ihre Stirn flog ein Schatten. [...] „Du bist also das Schädliche, und ich bin das Schädliche. Wir essen ja Hühner, Eier, Fasanen, Hasen, Rehe.“ (GNA 613) Die kindliche Logik dieser Umkehrung trifft, indem sie die utilitaristisch-moralische Argumentation gegen sich selbst wendet. Der Vater weiß darauf nicht zu antworten. Diese bedeutungsvolle Passage korrespondiert sowohl mit der Szene, in der Franz seiner Tochter nicht hilft, da sie „das Schädliche“ (GNA 637) ist, als auch mit dem Ende, wo Franz „zum Vernichtungskampf gegen das Böse“ (GNA 639) aufruft und ein leidenschaftliches „Plädoyer für die Todesstrafe“ (GNA 639) führt, womit er immer auch rechtfertigen will, dass er seiner Tochter im entscheidenden Moment nicht geholfen hat. Durch diese Bezugnahmen unterstreicht der Text, dass Franz keine objektiven Bewertungen hinsichtlich der vorgeblich angeborenen Grundlagen des Bösen gibt, sondern dass diese Bewertungen als Machtinstrumente eingesetzt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Explizit wird die Frage, ob Persönlichkeitsmerkmale vererbbar sind, im Falle Ruperts verneint und als „Possen“ (GNA 624) abgetan, mit Hinblick auf Lore aber ebenso vehement bejaht, ja als unabweisbar dargestellt: „Sie war so geboren, hat sich ihren innersten Gesetzen gemäß entfaltet.“ (GNA 625) Da diese Gegenüberstellung so dezidiert mit dem Geschlecht der beiden Personen verbunden ist, scheint es sich nicht so sehr darum zu handeln, dass Ebner in den Themenfundus des literarischen Naturalismus greift. Ebner markiert vielmehr die Frage nach der Vererbbarkeit von Charaktereigenschaften als ideologisch und geschlechtsspezifisch besetzt und legt in „Das Schädliche“ nahe, dass ein solches Denken auch als Mittel der Kontrolle und Zerstörung gegen die Frauen eingesetzt werden kann. 17 Nicht nur allgemein wird also durch ein Herausstreichen perspektivischen Erzählens auf die Unzuverlässigkeit der in der Erzählung gegebenen Bewertungen aufmerksam gemacht. Vielmehr ent- „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 123 <?page no="124"?> 124 wirft Ebner durch die Augen der Hauptfigur eine dezidiert männliche Perspektive, die „Das Schädliche“ bestimmt und die „Objektivität“ 18 der Darstellung des Bösen in Frauenfiguren, wie sie einmal an diesem Text gelobt wurde, in Frage stellt. Wie subtil Ebner solche subversiven, die Geschlechterpolarität hervorhebenden Elemente in den Text einwebt, sie wohl auch in ihm versteckt, macht folgendes Beispiel deutlich. Franz gibt in seiner Lebensgeschichte das genaue Datum an, an dem er Edith endlich eine Einladung seiner Mutter überbringen kann, nämlich den „12. Juli 1853“. (GNA 584) Symbolisch handelt es sich dabei um die Akzeptanz der zukünftigen Schwiegertochter. Andererseits berichtet er aber, dass er zum gleichen Zeitpunkt schon über 30 Jahre alt gewesen sei - bei einer Geburt im Jahr 1829 hätte das alles also frühestens 1859 stattfinden können. Das Jahr 1853 fällt in der Chronologie von Franz’ Lebensbericht noch in seine Studienzeit, den Lebensabschnitt, in dem er bei einem Gymnasialprofessor lebte, der selbst - und mit ihm Franz - von seiner jüngeren, attraktiven Frau „beherrscht“ (GNA 580) wurde. Was die beiden Daten miteinander verbindet, ist die Ablösung des erotischen Begehrens von der Mutter und das schuldhafte, als Normverstoß erfahrene, masochistisch getönte Begehren einer anderen Frau, die als Beherrscherin des Mannes auftritt. Der „Erzählfehler“ in der Lebensgeschichte gibt dem Verhältnis zwischen Franz und Edith sogleich ein Element des Unrechten, das weder vor der Mutter wird bestehen können noch vor der strikten Ablehnung alles „Unreinen“, das den „heiligen Antonius“ (GNA 580) Franz charakterisiert. Nicht um die Vererbung bösartiger Persönlichkeitsmerkmale unter Frauen oder die Darstellung des Bösen in zwei Frauen geht es hier also vor allem, sondern die Selbstentschleierung des erotischen Verlangens des Mannes wird vorgeführt, welches das Böse auf die Frauen projiziert, da es sich von ihm bedroht sieht, sich von ihm rein halten will und sich darin verrät. Damit wird der männliche Blick, der den Text bestimmt, in seinen Voraussetzungen und Folgen verdeutlicht. Franz’ Schreiben des Beichtbriefes wird als das Schreiben einer männlichen Rechtfertigungsepistel erkennbar, in der unkonventionelle Frauen, die sich nicht in die klassischen Rollenmuster einpassen, verdammt werden. Die Unkonventionalität von Edith und Lore findet nicht primär im Gesellschaftlichen ihren Niederschlag - beide sind gewandt und Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="125"?> wissen, sich angenehm zu machen bei den Menschen -, sondern in ihrer ungebundenen Kreativität. Durch dieses Thema stellt sich die Erzählung auf eine dezidierte Art in den Kontext einer Frauenliteratur, die die Bedingungen der eigenen Produktion reflektiert. Sowohl Edith als auch Lore werden von Franz eine enorme Kreativität und „unerschöpfliche Einbildungskraft“ (GNA 591) zugesprochen, die sie jedoch nicht in Werken zur Vollendung bringen, sondern die im Unabgeschlossenen, Skizzenhaften verbleibt. Durchgängig bezeichnen Edith und Lore die Konzentration auf das vollendete Werk als tiefen Eingriff in ihr Leben, ja als Gefahr für ihr Leben. Edith verbittet sich, Bilder auszuführen, die Kunst als Lebensersatz zu sehen: „Soll ich einen halben Tag an die Staffel angenagelt sein? “ (GNA 591) Sie zerstört alle Skizzen, die Franz lobt. Da Edith sich selbst als ein „verpfuschtes Werk“ (GNA 599f.) Gottes sieht, das „in das Nichts“ (GNA 600) hätte zurückgeschleudert werden sollen, gibt das Skizzenhafte und Unausgearbeitete ihrer Bilder auch einen Aspekt ihres Selbst wirklichkeitsgetreu wieder und lässt den Makel deutlich werden, der in Ediths Selbstempfinden mit der eigenen Kreativität verbunden ist. Sie steht damit im Gegensatz zum männlichen Kreativitätsmythos des werkschaffenden Genies, das seinen Originalitäts-, Vollendungs- und Autoritätsanspruch auf der Imitation Gottes gründet. Werner Klar, der in mehr als einer Hinsicht „Urbild männlicher Schönheit“ (GNA 628) und eben „Genie“ (GNA 628) ist, personifiziert diese Art des Künstlertums, das Welt und Menschen als Material benutzt, um daraus ein Kunstwerk zu schaffen, das immer auch - und hier ist Ebners Text sehr insistent - ein Zeichen der eigenen Genialität und großen Persönlichkeit ist, diese ebenso „verherrlicht“ (GNA 627) wie das Dargestellte. Klar ist gewissermaßen später Nachfahre jener Renaissance-Künstler, die sich nicht mit dem leidensgeprägten Künstlertum eines Masaccio in Agave identifiziert hätten. Daher weist Edith das Ansinnen von Franz auch kategorisch zurück, als er ihr nach der emotionalen Zerrüttung des Verhältnisses den Vorschlag macht, in der Kunst oder Religion Erlösung zu finden: „Das lebendige Leben interessiert mich, nicht das gemalte.“ (GNA 599) Das hält Franz wiederum jedoch nicht davon ab, eines ihrer Aquarelle, das über seinem Schreibtisch hängt und sozusagen Zeuge der Niederschrift des Beichtbriefes ist, genau im Rahmen einer ersatzreligiösen Kunstwertung als Ausdruck von Ediths Ver- „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 125 <?page no="126"?> 126 langen nach Erlösung zu interpretieren. Das Aquarell, „mit außerordentlicher Kraft und Leichtigkeit hingeworfen, nicht ausgeführt“ (GNA 601), wird von Franz als gerahmtes Bild zur Schau gestellt, womit er ihm gerade jene Geschlossenheit und werkhafte Ganzheit gibt, gegen die das Bild selbst und die Intention Ediths sich stemmen wollen. Die Darstellung Ediths durch Franz in der Erzählung und seine Interpretation des Bildes sind komplementär und versuchen, Edith auf verschiedene Weisen im Klischee der erlösungssuchenden Sünderin festzumachen. Damit versucht Franz Edith ein Protestpotential zu rauben, an dem sie in ihren Bildern festhält. Die selbstversagte Werkhaftigkeit Ediths ist nicht eine primär abstrakt ästhetische, als die sie in der literarischen Moderne auftaucht, sondern eine geschlechtsspezifisch lebensgebundene. Während Edith durch die ihr zugeschriebene Kunstform des Malens und Zeichnens ganz im Kunst-Paradigma des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, ist Lore durch die für sie charakteristische Kunst als Moderne gekennzeichnet: Sie spielt Musik. Diesem Unterschied entspricht der Grad des Aufbegehrens gegen die männliche und väterliche Autorität. Während Edith sich auf dem Totenbett mit Franz versöhnt, eine Szene, deren Sentimentalität als Zeichen von Ediths Selbstaufgabe lesbar ist, bleibt Lore sich bis zum letzten Moment treu und mit dem Vater unversöhnt. Ihr distanziertes Verhalten, ihr offensichtliches Spiel mit Geschlechtsrollen, die sie kalkulierend einzusetzen weiß, offenbaren sich in ihrer künstlerischen Betätigung. Ihr „großes musikalisches Talent“ (GNA 621) bildet sie aus und lässt in der Musik ihr „zugleich kaltes und unbändiges Naturell“ (GNA 621) zu Tage treten. Am Klavier [...] verriet [sie] von ihrem eigensten Wesen mehr als sie wollte. Große Kälte bei großer Sinnlichkeit. Eine unvergleichliche Kunst, Feuer anzulegen, ohne selbst Feuer zu fangen. Moralische Mordbrennerei. (GNA 621) Darin liegt ein Vorschein der Künstler-Problematik und der Doppelbödigkeit moralisch und sozial ungebundener Kreativität, mit der Serenus Zeitblom sich gut 50 Jahre später in Thomas Manns Doktor Faustus auseinandersetzen wird. Die Insistenz, mit der Lore sich gegen die Vereinnahmungen des Vaters stellt, gegen die liebevollen und die grausamen, wird deutlich in ihrem Klavierspiel - und so versteht Franz es auch. Lore ist sicher keine Schwester jener grundbürgerlichen Klara aus Hebbels Maria Magdalene, die zu sagen Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="127"?> hat: „[I]ch bin die Tochter meines Vaters [...], nur als Tochter des alten Mannes, der mir das Leben gegeben hat, stehe ich hier! “ 19 Lores Unabhängigkeit tritt in der Musik zutage, weil die kreative Betätigung ihr Freiheit und Wahrheit erlaubt. Diese Wahrheit ist, dass sich das Weibliche in Lore nicht durch konventionell eingefriedete Liebe oder durch schiere körperliche Machtausübung kontrollieren lässt. Franz meint in „lautloser Sprache“ zu hören: „Mich überwindest du nie.“ (GNA 619) Als naturhafte Macht wird Lore daher von Franz verteufelt, ihre kreative Tätigkeit gleichgesetzt mit moralischer Verwerflichkeit. Das erlaubt ihm, sie zum „Schädlichen“ zu erklären und sie der zerstörerischen Gewalt der verletzten Männlichkeit Ruperts zu überlassen, die an Franz’ Statt handelt. In der Zurückweisung weiblicher Kreativität manifestiert sich einerseits eine Art Möglichkeit weiblicher Authentizität, die aber zugleich im Kontext einer Geschlechterpolarität der gewalttätigen Gefährdung durch die Männlichkeit ausgesetzt ist. Dass Ebner eigene Kindheitserfahrungen für die Darstellung Lores verwendet, weist auf die enge Beziehung zwischen ihren eigenen Erfahrungen als künstlerisch ambitioniertes Mädchen und denen der kreativen Lore hin und unterstreicht, wie sehr die als gewalttätig erlebte Ablehnung ihrer künstlerischen Tätigkeiten, die sie auch in ihrer Autobiographie anspricht, ständig ihr eigenes Schaffen begleitet. 20 Rupert erschießt Lore von einer Position, wo er keinen „besseren Stand auf das Wild“ (GNA 636) hätte haben können. Mit dieser Metapher wird Lore zu einem Tier, das dem Jäger vor die Flinte gerät - ganz wie der Marder in dem kleinen Gespräch zwischen Lore und ihrem Vater über das Schädliche und ganz wie die Geiß in „Die Freiherren von Gemperlein“. Wir haben damit eine motivische Verbindung zu jener Novelle und dem dort angesprochenen casus belli. Im Gegensatz zu der Situation in „Die Freiherren“ findet die Bocksjagd jedoch in „Das Schädliche“ eigentlich gegen die Intention von Franz statt, da er nicht, wie es heißt, „auf den Bock“ gehen will. Doch die Autorität seiner väterlichen Stimme hat an Macht verloren; die Knechte missverstehen ihn und er geht, um keine weiteren Umstände zu machen, auf die Jagd. Diese entpuppt sich aber als eine Jagd auf die „Geiß“, auf Lore. Nicht in der Handlung, sondern in der zweimal verweigerten Handlung manifestiert sich hier noch einmal die männliche Macht von Franz als depotenzierte. Erstens darin, dass Franz nicht auf den Bock schießt und ihn weiterleben „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 127 <?page no="128"?> 128 lässt, und zweitens darin, dass der Vater Lore nicht pünktlich zu Hilfe kommt und sie dadurch dem brutal-zerstörerischen Verlangen von Rupert aussetzt. Rupert wird damit sozusagen zum „Förster“ der Männlichkeit, der die Geiß schießt. „Das Schädliche“ ist insofern eine radikalisierte Fassung der als ernste Komödie in „Die Freiherren von Gemperlein“ behandelten Problematik, da hier ganz bewusst die produktive weibliche Kreativität ins Zentrum der Geschlechterkonflikte und sozialen Sanktionen gestellt wird und am Ende keine offene Rache genommen wird für die mörderische Tat. Aber sie rächt sich doch. Rupert wird verrückt und stirbt einen elenden Tod im Irrenhaus. Als Gewissensphantom verfolgt Lore den Vater so sehr, dass auch er schließlich um den Verstand und ums Leben kommt, und damit eine selbstzerstörerische Pathologie der Männlichkeit und ihrer Frauenbilder offenlegt. In den hier vorgeschlagenen Lektüren der beiden Prosatexte Ebners gewinnen einige der Grundthemen Gestalt, die das eigentümliche, komplexe Verhältnis von Ebners Werken zu ihrer eigenen Zeit, ihren Konventionen und Maßstäben bezeichnen. Wie sehr beide von der grundsätzlichen Spannung zwischen als weiblich bzw. männlich markierten Bereichen und ihrer gesellschaftlichen Situierung geprägt sind, unterstreicht noch einmal die überragende Bedeutung, die dieses Thema in seinen vielen Variationen für Ebner hat. Die problematischen geschlechtsabhängigen Konstruktionen von Geschichte als politischer Geschichte in „Die Freiherren von Gemperlein“ und als Triebgeschichte in „Das Schädliche“ erlauben nicht nur Einblicke in die Funktionsweisen von an Geschlechterrollen gebundenen Machtmechanismen einer vergangenen Zeit, sondern sie sind transparent auch auf unsere Zeit hin und bieten Schlaglichter auch auf das heutige Leben der Leser. Die dezidiert sozialen Aspekte spielen in diesen Novellen, die jeweils im Milieu des Landadels angesiedelt sind, eine untergeordnete Rolle. In Ebner-Eschenbachs bekanntestem und auch umfangreichstem Buch, Das Gemeindekind, das im Mittelpunkt des nächsten Kapitels steht, sind die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in ihrer Auswirkung auf den Einzelnen hingegen zentral. Bruderzwiste und böse Frauen <?page no="129"?> Anmerkungen 1 Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848-1898, p. 497. 2 Überliefert durch Johannes Mumbauer, Der Dichterinnen stiller Garten, p. 32. 3 Marie von Ebner-Eschenbach, Die Freiherren von Gemperlein. Jena: Eugen Friederichs, 1943, p. 67. 4 Alfred Ehrenteich, „Marie von Ebner-Eschenbach und Schloß Zdislawitz“, p. 553. 5 Marie von Ebner-Eschenbach, Die Freiherren von Gemperlein. Nachwort von Alfred Ehrenteich. Stuttgart: Reclam, 1964, p. 70. Dieses Nachwort ist substanziell das gleiche wie das in der Ausgabe von 1940 im gleichen Verlag. 6 Edith Toegel, Marie von Ebner-Eschenbach. Leben und Werk, p. 52. 7 Winfried Freund, „Novelle“, p. 520. 8 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos, pp. 125-130. 9 Siehe Heidi Beutin, „Marie von Ebner Eschenbach: Božena (1876)”. 10 Zitiert bei Franz Grillparzer, Dramen 1828-1851, p. 839. Siehe den Forschungsüberblick in William C. Reeve, The Federfuchser/ Penpusher from Lessing to Grillparzer, pp. 3-16. 11 Franz Grillparzer, Dramen 1828-1851. Die Verszahl ist jeweils direkt nach dem Zitat angegeben. 12 Helmut Bachmaier, „Grillparzers Geschichtsauffassung“, p. 91. 13 Heinz Politzer, Franz Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier, p. 358. 14 Das Motiv des An-der-Grenze-Jagen als Zeichen sozialer Konflikte taucht verschiedentlich bei Ebner auf. Siehe z.B. den Standeskonflikt zwischen Adel und Bauern, die „Tag und Nacht an der Grenze jagen“ in Marie von Ebner-Eschenbach, Božena, p. 118. 15 Siehe das Nachwort von Fritz Böttger in Marie von Ebner-Eschenbach, Die Freiherren von Gemperlein, pp. 75-80. 16 Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Maria [sic! ] von Ebner-Eschenbach, Brief vom 28. Dezember 1894, p. 107. 17 Vgl. Ferrel V. Rose, The Guises of Modesty, p. 141. 18 Johannes Klein, „Nachwort“, GNA, p. 986. 19 Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke Bd. 2, p. 55. 20 Vgl. dazu Doris M. Klostermeier, Marie von Ebner-Eschenbach, pp. 21 und 56, und Norbert Gabriel, „...dass die Frauen in Deutschland durchaus Kinder bleiben müssen...“. „Die Freiherren von Gemperlein“ (1881) und „Das Schädliche“ (1894) 129 <?page no="131"?> 7 Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit Das Gemeindekind (1887) „Im October 1860 begann in der Landeshauptstadt B. die Schlußverhandlung im Prozeß des Ziegelschlägers Martin Holub und seines Weibes Barbara Holub.“ (G 5) Mit diesem Satz beginnt Ebner- Eschenbachs 1887 erschienene Geschichte über den armen Pavel Holub. Das Gemeindekind ist Ebners bekanntestes Buch und es kann auch heute noch mehr als ihre anderen Bücher auf ein breiteres Leserinteresse rechnen. Vor einigen Jahren wurde das deutlich, als die Redaktion der Wochenzeitung D IE Z EIT es in die „Schülerbibliothek“ aufnahm, die einen literarischen Kanon vorstellte, der jungen Menschen Orientierungen in der deutschsprachigen literarischen und kulturellen Tradition anbieten sollte. 1 Die wissenschaftliche Literatur teilt die Hochschätzung des Buches und bezeichnet Das Gemeindekind oft als das beste Buch Ebners, obgleich ausführliche Abhandlungen selten sind. 2 Anders als „Die Freiherren von Gemperlein“ und „Das Schädliche“, die beide selbst da, wo sie weiter Zurückliegendes wiedergeben, umstandslos in der zeitgenössischen Gegenwart erzählt werden, kündigt der erste Satz von Ebner-Eschenbachs Roman an, dass er in der näheren Vergangenheit spielt. Nicht ganz zeitgenössischer Roman und nicht ganz historischer Roman im traditionellen Sinne, wie Walter Scott ihn im Untertitel seiner Waverley-Romane (1829-32) mit dem „’tis sixty years since“ festgelegt hatte, reicht die Handlung von Das Gemeindekind noch direkt in die Erlebnis- und Erfahrungswelten des damaligen Lesepublikums hinein. Im Jahr des Erscheinens liegt der Beginn der Handlung gerade knapp die Hälfte jener sechzig Jahre zurück, die der Scott’sche historische Roman als ideale zeitliche Distanz ins Auge fasst. Eigentlich erstaunlich ist die präzise Nennung des Oktobers 1860, da die erzählerische Chronologie im weiteren Verlauf des Buches durchaus nicht sorgfältig gehandhabt wird. 3 So ist es angemessen, in diesem Datum eine bewusste Anspielung auf ein real-geschichtliches Ereignis zu sehen, wobei das sogenannte „Oktoberdiplom“ von 1860 sich offensichtlich dafür anbietet. 4 Das Oktoberdiplom war eine föderalistisch ausgerichtete Grundrechtsreform, mit der das neoabsolutistische <?page no="132"?> 132 Habsburg auf die kriegerischen Niederlagen gegen Italien in Magenta und Solferino und den innenpolitischen Autoritätsverlust durch den Liberalismus und die wachsenden Rivalitäten zwischen den Nationalitäten reagierte. Die Reform blieb, vor allem wegen des starken Widerstands der Deutschen und Ungarn, die ihren Einfluss bedroht sahen, erfolglos und wurde schon wenig später wieder zurückgenommen. Dieser verfassungspolitische Hintergrund wird in der Handlung nirgendwo direkt angeprochen, gehört aber thematisch zu dem in Das Gemeindekind thematisierten Nationalitätenstreit des Habsburgerreiches. 5 Besondere Bedeutung erhält der Anfangssatz mit seinem Hinweis auf ein wichtiges Ereignis der Habsburger Verfassungsgeschichte im Zusammenspiel mit dem Motto „Tout est l’histoire“ („Alles ist Geschichte“), das dem erzählenden Text vorangestellt ist. Hier gewinnt der Roman über das arme Gemeindekind Pavel Holub eine ganz eigene Signatur. Denn Ebner kündigt durch das Motto an, in der Entwicklung Pavels geschichtliches Substrat festzumachen, eine Art „Geschichte von unten“ oder auch Alltagsgeschichte vorzuführen. 6 Die Mischung der Gattungen des sozialen, gegenwartsbezogenen Romans und des historischen Romans bietet dafür eine besonders gute Grundlage, weil das Innovative damit besonders hervortreten kann. Denn Ebner wählt gerade nicht einen „mittleren Helden“, wie Scott ihn zum Standardpersonal des historischen Romans erklärt hatte und wie ihn neben vielen anderen Autoren im deutschen Sprachraum z. B. Theodor Fontane in seinem breit angelegten historischen Roman Vor dem Sturm (1878) und im knapperen Schach von Wuthenow (1882) aufgegriffen hatte. Ebner thematisiert vielmehr das Leben der ländlichen Unterschicht. Das ist nicht völlig neu; wenigstens ansatzweise hatte es das z.B. in den Dorfgeschichten Bertholt Auerbachs oder auch in den Erzählungen und Romanen von Jeremias Gotthelf gegeben. Doch neu ist, dass Pavel tatsächlich zum Träger der Geschichte wird, zum Geschichtssubjekt. Ebner macht durch Pavel das Landproletariat nicht nur literaturwürdig, sondern auch und vor allem geschichtswürdig. 7 Wie ungewöhnlich das damals war, machen die positiven und negativen Reaktionen, die diese Konstellation hervorrief, gleichermaßen deutlich. So sah der österreichische Arbeiterführer Victor Adler in der Erhebung des geschundenen Pavel zum Helden des Romans, trotz der individualistischen Grundkonzeption der Figur, eine willkom- Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="133"?> mene Rangerhöhung, die über alle ideologischen Gegensätze hinweg für die sozialistische Bewegung brauchbar war. 8 Im Gegensatz zu Adlers emphatischem Lob steht das völlige Unverständnis von Ebners Schriftstellerkollegen und elitär-kultivierten Patrizier C.F. Meyer, der von der Stoffwahl des Romans geradezu abgestoßen war, wie Ebner in ihrem Tagebuch festhielt: C.F. Meyer sagte zu Helene Druskowitz nach dem Erscheinen des Gemeindekind er wundere sich über meine Wahl von Stoffen u. Personen; er selbst wäre psychologisch unfähig ähnliche Themen zu behandeln. Er achtet den Bauern, den Arbeiter, den Dienenden gleich dem Tiere! (TB VI, 16) Im Folgenden soll es, die Leitthemen dieser Studie zu Ebner noch einmal variierend, darum gehen, wie Pavel sich zum Geschichtssubjekt entwickelt und welche besonderen geschlechtsbestimmten Konstellationen dabei auftauchen. Zur besseren Orientierung sei auch hier der Hergang des Buches erst in groben Zügen schnell nachgezeichnet. Nachdem ihre Eltern für den Raubmord an einem Pfarrer hingerichtet bzw. wegen Beihilfe zu Zuchthaus verurteilt worden sind, werden Pavel und seine Schwester Milada der Gemeinde als Pfleglinge übergeben. Seine geliebte Schwester wird von den geizigen Dörflern der ansässigen Gräfin angetragen, die sie auch aufnimmt und schließlich einem Konvent in der nahegelegenen Stadt zur Erziehung übergibt, während Pavel als jämmerlich hausierendes Gemeindekind bei der übel beleumundeten Familie des Dorfhirten Virgil am Rande der Gemeinde unterkommt. Dort wird er ausgenutzt und misshandelt, nicht zuletzt von seiner Ziehschwester Vinska, in die er verliebt ist. Nur langsam überwindet Pavel seine beinahe auf sozialem Ausschluss und Schlechtigkeit insistierende Einstellung; gegen vielfältige Widernisse gelingt es ihm allmählich mit Hilfe seiner Schwester und des im Dorf als Zauberer verschrieenen Schulmeisters Habrecht, sich dennoch einen kleinen Besitz und letztlich auch einen Ruf zu erwerben. Nach Abbüßung ihrer zehnjährigen Haft im Zuchthaus kommt Pavels Mutter Barbara zurück, gerade als auch die Nachricht vom Tod der kleinen Milada eintrifft, die sich im Konvent sozusagen selbst verzehrte als Buße für die Taten der Eltern. In einer Szene von pathetisch überhöhter Dramatik und Rhetorik, die der Schlussszene in Agave ähnelt, bekennt der Sohn sich zu seiner Mutterliebe und beteuert, dass er für Barbara Das Gemeindekind (1887) 133 <?page no="134"?> 134 sorgen und mit ihr auf seinem kleinen Besitz und ohne eigene Familie den Rest seines Lebens verbringen wird. Dem eigentlichen Romantext ist, wie schon gesagt, das Motto „Tout est l’histoire“ vorangestellt, das gemeinsam mit dem ersten Satz die besondere Rolle hervorhebt, die Vergangenheit und Geschichte in diesem Buch spielen, und das nahelegt, dass es sich im Weiteren auch um eine Art historischen Roman handeln wird. Etwas ungewöhnlich ist, dass die Herkunftsbezeichnung dieses Mottos nicht nur den Namen der Zitierten angibt, sondern gleich einen vollständigen bibliographischen Nachweis mitliefert: George Sand. Histoire de ma vie. I. p. 268. (G 5; kursiv im Original) Durch diesen Zusatz steuert Ebner die Aufnahme und das Verständnis des Mottos, dessen Bedeutungskern nicht nur im Sinne einer aphoristischen, durch die Autorität der berühmten Autorin beglaubigten „Wahrheit“ auszulegen ist, sondern ebenso durch die genaue Stelle, die sie in Sands Autobiographie einnimmt. Das Zitat erscheint dort in einleitenden Kommentaren, bevor Sand recht ausführlich Briefe ihres Vaters wiedergibt, die jener als Jugendlicher an seine im Paris des revolutionären terreur festgesetzten Mutter geschrieben hatte. Diese Briefe haben, so Sand, trotz ihrer anscheinenden Abseitigkeit vom großen und gewalttätigen Geschehen, eine sehr reale geschichtliche Dimension, welche rechtfertigt, sie in das Buch aufzunehmen. Tout ce préambule n’est à autre fin que d’expliquer pourquoi je vais rapporter une série de lettres qui, sans avoir grande apparence de coleur historique, en ont cependant une réelle. Tout concourt à l’histoire, tout est l’histoire, même les romans qui semblent ne se rattacher en rien aux situations politiques qui les voient éclore. 9 Sand bietet also die Rechtfertigung für Ebners Version einer „Geschichte von unten“, welche ihre Dynamik nicht in Staatsaktionen, Revolutionen und Kriegen gewinnt, sondern in den scheinbar abseitigen kleinen Geschehnissen und alltäglichen Erfahrungen einzelner Menschen. Ausdrücklich weist Sand sogar auf das Beispiel von Romanen hin, die vordergründig keine Beziehung zur politischen Situation haben, aus der sie hervorgegangen sind. Ebner siedelt ihren Roman nun ganz dezidiert am gesellschaftlichen Rand an, wo der Druck der materiellen Lebensumstände am ärgsten zu spüren ist, Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="135"?> und Ebners sozialpädagogischer Impuls am ehesten wirkungsvoll umgesetzt werden kann. Wie präzise Ebner Verbindungen zieht zwischen den individuellen Erfahrungen in diesem ländlichen Mikrokosmos und dem Makrokosmos der Habsburgmonarchie hat Karlheinz Rossbacher am Beispiel der Vorurteile und des Wahns der Dörfler, denen Pavel sich ausgesetzt sieht, dargelegt. Denn mit ihrer „erzählende[n] Vorurteilsforschung“ 10 verdeutliche Ebner, wie dieser Wahn und diese Vorurteile strukturell analog auch den Nationalismen eigen sind, welche die Existenz der Habsburger Monarchie erschütterten. Damit werde, so Rossbacher, tatsächlich „alles, was im Roman geschieht, Geschichte“. 11 Man kann diese Argumentation ausweiten auf alle Aspekte des Romans, da Ebner sogar in der Tierwelt entsprechende Mechanismen am Werk sieht. Als die Dorfhunde einen herumstreunenden Hund brutal zurichten, der dann später von Pavel aufgenommen wird, kommentiert der Erzähler, dass sich in diesem Vorgang der „thierische Patriotismus bewährt, dem der blinde Zug zum Einheimischen blinden Haß gegen das Fremde bedeutet.“ (G 114) Doch über das sozialpädagogisch Getönte und die Wirkungsform von Geschichte Reflektierende gibt es weitere Kontexte, die das Motto aus Sands Autobiographie für den Roman eröffnet. Das wird deutlich, wenn man die weitere Motivation Sands berücksichtigt, die Briefe des Vaters in ihre eigene Autobiographie einzufügen. Sie schreibt, dass die Briefe vor allem „un monument d’innocence, d’amour filial, et de cet état angélique de l’âme qui caractérise le véritable adolescent“ 12 seien, also ein Denkmal der Liebe des Sohnes zur Mutter und des engelhaften Seelenzustands, der den wahrhaften Jugendlichen ausmacht. Nun ließe sich sicher trefflich über adoleszente Engelhaftigkeit disputieren. Entscheidend ist hier jedoch einfach, dass das Mutter-Sohn Verhältnis hervorgehoben wird. Das lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Entwicklung der Beziehung zwischen Barbara und Pavel in Ebners Buch. Das Gemeindekind berichtet ja nicht zuletzt auch von der erst verschütteten, dann fast gewaltsam hervorbrechenden Liebe des Titelhelden für seine Mutter. Das Motto und die Verweise, die es im Zusammenhang der Autobiographie George Sands hat, heben daher zwei scheinbar unterschiedliche Themen für Das Gemeindekind hervor; erstens die „Geschichte von unten“ und darin das Werden des Slawen Pavels zu Das Gemeindekind (1887) 135 <?page no="136"?> 136 einem Geschichtssubjekt, also zu einer Person, deren Handlungen einen formenden Einfluss auf Entwicklungen und Zustand der sozialen Umwelt haben; des Weiteren die Entwicklung der Mutter- Sohn-Beziehung zwischen Barbara und Pavel, vor allem die allmähliche Hinwendung Pavels zu seiner Mutter, die er schließlich achtet und liebt, womit er letztlich ein Modell der Beziehung zwischen Mann und Frau vorführt, das eine Alternative bietet zu dem gewalttätigen Verhältnis zwischen Pavels Eltern. Beide Themen sind enger miteinander verflochten als es zunächst den Anschein hat, sodass für ein komplexes Verständnis die Entwicklung hin auf ein geschichtliches Subjekt mit der Entwicklung auf eine neue Art der Beziehungen zwischen Mann und Frau zusammen betrachtet werden muss. Unter dieser Perspektive erzählt Das Gemeindekind Pavels Entwicklung auch als Entwicklung eines Mannes, deren Höhepunkt in der großen Versöhnungsszene mit seiner Mutter am Ende erreicht wird. In gewisser Hinsicht nimmt Pavels Werdegang die Erziehungsgeschichte Antonios in der schon besprochenen Novelle Agave vorweg, insofern Das Gemeindekind ebenfalls Aspekte gesellschaftlicher Realität - Geschichte, sozialer Stand - durch das Prisma von Gewalt- und Geschlechterdiskursen erzählt. Das Gemeindekind verschmilzt daher Aspekte des historischen Romans mit solchen des sozialen Romans und - in Pavels Geschichte - des Entwicklungsromans. Die Entwicklung Pavels findet vorerst als exemplarische Zivilisierung des randständigen, beinahe tierhaften Jungen statt. Dabei verräumlicht Ebner Geschichte, schreibt die Stufen von Pavels Entwicklung spezifischen Örtlichkeiten zu und verwendet wenig Sorgfalt darauf, chronologisch konsistent zu sein. 13 Die zeitlich strukturierte geschichtskausale Verbindung von großer Handlung und großer Wirkung, wie sie in der politischen und personengerichteten Geschichtsschreibung notwendig ist, wird hier aufgelöst in eine sich im Einzelnen spiegelnde Veränderung des geschichtlichen Feldes, das sich auf Bedingtheiten und ihre konkrete lokale Situierung einlässt. Die zivilisierende Entwicklung Pavels vollzieht sich, indem er nach und nach zu einem eigenständigen „mündig[en]“ (G 79) Rechtssubjekt und damit einhergehend zu einem Geschichtssubjekt wird. Das Gemeindekind ist von Anfang bis Ende durchdrungen von dieser Rechtsthematik. An den drei prominentesten Stellen des Bu- Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="137"?> ches, am Anfang, in der Mitte und am Ende spielt sie jeweils die entscheidende Rolle. Seine regulierende und zivilisierende Wirkung macht das Recht am Anfang in der Aburteilung des Mörders Martin Holub als strafendes Recht geltend. In der - auch schlicht rechnerischen - Mitte der Erzählung, als von der Verhandlung über die mögliche Schuld Pavels am angeblichen Mord des Bürgermeisters berichtet wird, erscheint es als formal gerechtes Recht. Es ist Pavels Freisprechung und die schriftlich dokumentierte Bestätigung seiner Unschuld, welche die weiteren entscheidenden Schritte zu der sozialen, ökonomischen und emotional-psychologischen Integration Pavels in die Dorfgesellschaft einleitet und ihn zu einem im wörtlichen Sinne rechtmäßigen Mitglied werden lässt, das Grundbesitz kaufen kann. Am Ende insistiert die aus dem Zuchthaus entlassene Mutter auf ihrer Unschuld, wobei sie sicher ist, dass Gott in seiner erlösenden Gerechtigkeit diese erkennen wird. Das erlösende Recht, auf das Barbara sich beruft, erscheint als Utopie, die auf Gewalt basierenden Ungerechtigkeiten in den Geschlechterbeziehungen zu ahnden und zurechtzurücken. Diese drei wichtigstens Stationen von Pavels Entwicklung werden wir nun genauer betrachten. Das Gemeindekind setzt, wie oben schon zitiert, mit dem Bericht über die „Schlußverhandlung im Prozeß des Ziegelschlägers Martin Holub und seines Weibes Barbara Holub“ (G 5) ein und stellt damit das Gesetz und das strafende Recht in den Mittelpunkt der Handlung, die nicht nur zum Todesurteil für den Mörder, sondern auch zur (ungerechten) Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe für Barbara führt. Diese ist von ihrem brutalen und gewissenlosen Mann so eingeschüchtert, dass sie als selbständige Person während des Prozesses gar nicht erscheint und in völliger Unterwerfung in Form und Inhalt, in „an Wahnsinn grenzende[r] Angst vor ihrem Herrn und Peiniger“ (G 8) nur immer wiederholt: „Wie der Mann sagt. Was der Mann sagt.“ (G 8; meine Hervorhebung) Das strafende Recht reagiert an dieser Stelle zwar auf die Mordtat durchaus im Zeitkontext adäquat und innerhalb der eigenen Grenzen auch angemessen, aber ist zugleich ein stumpfes Instrument, das nicht tatsächlich Gerechtigkeit garantiert, da es in seiner Anwendung weder die durch Gewalttätigkeiten des Mannes entindividualiserte Frau mit ihren Selbstbezichtigungen gerecht beurteilen kann, noch eine schützende Hand über die beiden unschuldigen Kinder zu halten Das Gemeindekind (1887) 137 <?page no="138"?> 138 vermag. Ebner-Eschenbach führt hier am Anfang des Romans zwei unterschiedliche Themenkreise eng; erstens die Rechtthematik, die der Entwicklung Pavels zu einem geschichtswirksamen Subjekt unterlegt ist, und zweitens die Bedeutung der Geschlechterrollen, die die gesellschaftlichen Interaktionen prägend gestalten. Wenn über Barbara ausgesagt wird, dass sie „nicht die Richter, nicht den Tod [fürchtete], sie fürchtete ‚den Mann’“ (G 8), dann nimmt der Text nicht nur die vom Dialekt gefärbte sprachliche Form der Aussage auf, dass Barbara ihren Mann fürchtet, sondern legt gleichzeitig nahe, dass hier alle Männer im Gattungsbegriff mitgemeint sind. Daher wird in dieser Aussage nicht nur das Machtverhältnis zwischen den Holubs festgestellt, sondern auch das allgemeinere zwischen den Geschlechtern, das fundamental und in seiner Durchschlagskraft ursprünglicher und wirkungsmächtiger ist als Recht und sogar das Leben. In einer von Männern dominierten Welt, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wird, ist das Recht in der Lage, zwischen zwei Männern, genauer noch: zwei Vätern, dem Pfarrer als symbolischem Vater und Martin Holub als biologischem Vater, Gerechtigkeit herzustellen. Die Ermordung des Pfarrers wird durch die Todesstrafe für Martin Holub abgegolten, wodurch beide Männer einen regelrechten Rechtsstatus haben und sowohl Schutz als auch Strafe des Rechts genießen. 14 Barbara und in der Folge die beiden Kinder Pavel und Milada erhalten ebenfalls einen Rechtsstatus, der aber ausdrücklich ungerecht ist. Die unschuldige Barbara muss ins Zuchthaus; die unschuldigen Kinder werden zu Schutzbefohlenen der Gemeinde, die ihnen gegenüber „Elternrechte“ (G 14) innehat, diese aber nicht in irgendeiner konkreten Weise ausüben und entsprechend Verantwortung übernehmen will. Die labile Rechtsstellung der Kinder wird darin deutlich, dass der Bürgermeister sogleich versucht, Milada und Pavel bei der Gutsfrau unterzubringen, um nicht in die „Elternrechte“ der Gemeinde eintreten zu müssen. (siehe G 9-10) Für Milada gelingt das auch, doch Pavel wird zu jenem titelgebenden und letztlich rechtlosen Gemeindekind. Pavel stellt bei seinem Besuch des Konvent seine prekäre Lage der Oberin mit aller Deutlichkeit dar, als diese ihm vorhält, dass jeder Mensch sich sein Brot redlich verdienen könne: „Ich nicht! “ schrie Pavel und wehrte sich mit allen Kräften gegen zwei Nonnen, die vorgetreten waren und das Gewand der Oberin aus seinen Händen zu lösen suchten, „ich nicht! ... Was ich verdiene, nimmt der Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="139"?> Virgil und versauft’s, und ich muß auch seine ganze Arbeit thun und bekomme nichts ... die Gemeinde sollte mir Kleider geben und gibt mir nichts ... und wenn die Virgilova hingeht und sagt: Der Bub hat kein Hemd, der Bub hat keine Jacke, sagen s i e: Und wir haben kein Geld ... aber wenn sie auf die Jagd gehen wollen und ins Wirtshaus, dann haben sie immer Geld genug ...“ (G 51) Auch Milada, die von der Gräfin zur Erziehung durch Nonnen bestimmt wird, kann keinerlei Schutz durch das Recht erwarten, da sie ihm hinter den Klostermauern entzogen ist. Die Erlösung von der „schlechte[n] Adoptivmutter, der Gemeinde“ (G 51), um die Milada und Pavel bitten (siehe G 50), prallt an der „sanfte[n] Unerbittlichkeit“ (G 51) der Oberin ab . Dass Pavel gerade der Oberin davon erzählt, wie es für ihn nicht möglich ist, ohne Stehlen zu überleben, macht in feiner Ironie deutlich, wie Ebner das Individuum nicht nur als Ort des Leidens, sondern durchaus auch als Ort der Freiheitsentscheidung denkt. Denn durch die Tatsache, dass Pavel diese Aussage macht, gibt er zu erkennen, dass er über seine eigene Situation reflektieren kann, und sich von den determinierenden Faktoren seiner Umgebung, sowohl der biologischen (als genetisch vom Vater vorbelasteter Verbrecher) als auch der institutionellen (als Gemeindekind) und der gesellschaftlichen (als Außenseiter der Dorfgemeinschaft) zu einem gewissen Grade lösen kann. Freilich kann er sich nicht einfach voluntaristisch von diesen Einflüssen lossprechen. Aber es gelingt ihm doch, sich trotz der Einbindung in diese Determinanten einen Handlungsfreiraum zu erhalten (und diesen auszuweiten), aus dem er schließlich als beinahe gediegener Dorfbewohner hervortreten wird. Die besondere Pointe der hier beschriebenen Szene liegt darin, dass die Oberin, die Pavel seine moralische Dubiosität vorwirft, selbst völlig in ihrem institutionell vorgegebenen Rahmen als Klosterherrin und Repräsentantin der kirchlich institutionalisierten Religion verharrt. Dadurch begiebt sie sich einer freiheitlichen und vor allem auch menschlich angemessenen Beurteilung sowohl der sozialen Lage Pavels ebenso wie des menschlichen Leidens von Milada. Die Unmenschlichkeit der Oberin ist keine gewollte Herzenskälte, sondern Unfähigkeit und Unfreiheit, wenn nötig, aus institutionellen Bindungen herauszutreten und willkürlich gezogene Grenzen auf Grund neuer Einsichten in menschliche Notwendigkeiten zu überschreiten. Das Gemeindekind (1887) 139 <?page no="140"?> 140 Die eigentümliche Art, wie Ebner die Persönlichkeit Pavels aus einem Gewebe sozialer und institutioneller Bindungen entwickelt und gleichzeitig auf Möglichkeiten freier Entscheidungen insistiert, wird besonders deutlich, wenn man Pavel mit den Hauptfiguren der beiden bekanntesten Entwicklungsromane aus dem 19. Jahrhundert vergleicht. Heinrich Drendorf in Adalbert Stifters Der Nachsommer und Heinrich Lee in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich werden, bei allen Unterschieden und trotz aller Einschränkungen, in ihren Entwicklungsentscheidungen vornehmlich als selbstbestimmt dargestellt, nicht determiniert von den regulierenden Institiutionen, die zentral sind für den Gang von Pavels Entwicklung. Heinrich Drendorf beginnt von Anfang an seine Erziehung zum „Wissenschaftler im Allgemeinen“ 15 unabhängig von, ja sogar im ausdrücklichen Gegensatz zu, der öffentlichen Meinung der bürgerlichen Gesellschaft. Auch der „grüne“ Heinrich Lee genießt beinahe völligen Freiraum in seinen Entscheidungen, selbst als er von der Schule verwiesen wird. Ebenso konstitutiv - und scheinbar widersprüchlich - ist in beiden Fällen allerdings auch die Präsenz der Väter, die den Entwicklungsgang der beiden Heinriche autorisieren. Im Nachsommer, wo jede „freie“ Entscheidung Heinrichs immer im Sinne seines Vaters getroffen wird und sich konfliktlos in dessen Autorität und die des Freiherrn von Risach einpasst, nimmt sie die Gestalt des paternalen Solipsismus an. Im Grünen Heinrich erhalten die Erinnerung an die dem Auge Gottes verwandten „glänzenden Augen“ 16 des Vaters und an das „Bild seines innern Wesens“ die allumfassende psychologische Gegenwart „des großen Unendlichen“, unter dessen „Obhut“ 17 Heinrich Lee sein Leben verbringen wird. In beiden Fällen ist eine große Unabhängigkeit von institutionellen Bindungen konstitutiv für die persönliche Entwicklung des Helden, die jedoch zugleich im absoluten Zeichen der Väter stattfindet. Im Gegensatz dazu steht Pavels Entwicklungsweg nicht im Zeichen der Väter, sondern im Schatten der Gewalt der Väter, wie sie im ersten Kapitel von Das Gemeindekind begangen und strafend geahndet wird. Pavel ist eingebunden in verschiedenste soziale, rechtliche, kirchliche, schulische und sonstige institutionelle Determinanten, die die patriarchalische Welt ausmachen. Und dennoch ist seine Entwicklung zum Rechts- und Geschichtssubjekt alternativ ausgerichtet, weil Pavel letztlich eine allgemeine moralische Gerechtigkeit Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="141"?> einklagen wird, die sich lösen kann von den Vätern. Denn Ebner entwirft in Das Gemeindekind eine Romanwelt, in der die Väter beinahe systematisch eliminiert werden. Sie zerstören sich selbst oder gegenseitig, fallen Krankheiten zum Opfer oder sind schon vor Beginn der Erzählung gestorben. Keine der wichtigen Figuren hat am Ende einen Vater, selbst Virgil, der tatsächlich doch noch lebt, hat alle Autorität verloren, kann seinem „Amt“ (G 134) nicht mehr nachkommen. Aber nicht nur im persönlichen Bereich fällt diese Vaterlosigkeit bei genauem Hinsehen auf. Auch alle Institutionen und gesellschaftliche Gruppierungen sind zumindest zeitweise ohne paternale Autorität. Die Liste der toten Väter ist tatsächlich lang: der Vater Pavels und Miladas, Martin Holub; der Pfarrer, den er umgebracht hat; der verstorbene Gutsherr; der Bürgermeister; dessen Sohn Peter, Vater von zwei Kindern, die früh sterben. Selbst Arnost, der einstweilige Kontrahent und dann Freund Pavels, die einzige männliche Romanfigur, die wenigstens potentiell eine Zukunft als Familienvater mit seiner Frau Slava haben kann, hat sich zum Guten nur dadurch entwickeln können, weil er „das Glück gehabt, seinen liederlichen Vater zu verlieren.“ (G 56) Man kann beinahe sagen, dass Pavel seinen Entwicklungsgang auf einem Leichenfeld von Vätern geht, an dessen Ende das hymnische Wiedersehen mit der Mutter steht. Der besondere Wert und die soziale und geschichtliche Funktion der randständigen Personen liegt in Ebners Roman gerade in dieser alternativen Art ihres Entwicklungswegs: sie sind für die Gesellschaft nicht nur negativ als Sündenböcke, als Zielscheibe von Wahn und Vorurteilen konstitutiv, sondern sie sind zugleich, im positiven Sinne, Repositorien möglicher, sozusagen fundamental-moralischer, Handlungen, die im fest etablierten, von patriarchalischen institutionellen und gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen durchzogenen Leben in dieser Durchschlagskraft nicht getätigt werden oder getätigt werden können. Pavels uneingeschränkte Bruderliebe für Milada, die ihn dazu führt, sich aus dem Teufelskreis der Schlechtigkeit zu lösen (mit Hilfe des Lehrers Habrecht, dem ganz ähnliche Qualitäten eignen), und Barbaras karitatives Engagement in der Krankenpflege nach ihrer Entlassung aus dem Zuchthaus (vgl. G 151) sind hier anzusiedeln. Denn diese Entscheidungen und Handlungen werden gegen alle Widernisse und in Selbstüberwindung durchgesetzt als moralisch richtig. Das ist es, was die beiden Das Gemeindekind (1887) 141 <?page no="142"?> 142 Außenseiter Pavel und Barbara für die Gesellschaft notwendig macht, warum diese Gesellschaft sie, wie am Ende gleich zweimal insistiert wird, „braucht“ (G 151, 153), warum in dieser Geschichte von unten geschichtliche Substanz insofern dargestellt wird, als hier soziale Realitäten mitgestaltet werden durch diese Einzelpersonen. Aber ich greife auf den Schluss vor. Denn die zweite Station auf Pavels Weg, die Mitte des Romans, ist der Ort, wo sich die rechtlichen Umstände Pavels entscheidend verändern. Einen Hinweis darauf gibt die wichtigere Rolle, die der Lehrer mit dem sprechenden Namen Habrecht nun übernimmt. Der Name weist dabei nicht so sehr, wie Baasner (siehe G 271) meint, auf die rechthaberische Seite des Pädagogen hin, sondern auf die Tatsache, dass er formal gesehen einen festen Rechtsstatus und damit einen institutionell verankerten gesellschaftlichen Status in der Gemeinde hat. Er hat sozusagen ein Recht. Die Bedeutung der institutionellen Absicherung besonders in einem unfreundlichen Umfeld wird dadurch hervorgehoben, dass er seine Bestellung zum Lehrer von der Obrigkeit erhalten hat und zwar „zur Unzufriedenheit“ (G 86) der Dorfbewohner, die Habrecht gegenüber mißtrauisch sind, weil er einmal für einige Tage scheintot gewesen war und sie seine Wiederbelebung als Hexenwerk sehen. Mit Habrechts Unterstützung gelingt es Pavel, sich eine halbwegs gesicherte Position zu erarbeiten, die im entscheidenden Moment durch die institutionalisierte Gerechtigkeit in Gestalt der Polizei und der staatlichen Rechtsprechung auch bestätigt wird. Als Pavel beschuldigt wird, den kranken Bürgermeister mit einer Tinktur vergiftet zu haben, die er ihm von seiner Ersatzmutter gebracht hat, unterstreicht Ebner die Durchsetzungskraft des gerechten Rechts und Pavels auch psychologische Hinwendung zu einem gesetzeskonformen Leben. Pavel fühlt sich in dem Moment „ruhiger und sicherer“ (G 74), als der Repräsentant staatlicher Autorität, der Gendarm Kohautek, erscheint, obwohl dieser gekommen ist, um Pavel festzunehmen. Wieder ist es der Tod eines Vaters - der Bürgermeister ist der Vater von Peter, Pavels großem Rivalen in der Gunst um die schöne Vinska - der hier verhandelt und im Weiteren rechtskräftig abgeschlossen wird. Das Recht und die Ordnungshüter, die es verwalten, bringen an diesem Punkt Stabilität und Kontinuität in das Leben Pavels, auch wenn er ihnen als Angeklagter ausgesetzt ist. Nach einer ausführlichen Beschreibung, wie die bos- Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="143"?> haften und auch nur dummen Vorurteile und Verdächtigungen ein Eigenleben im Dorf führen und auf Pavel projiziert werden, wird Pavel in die gleiche Bezirksstadt überstellt, wo schon der Prozess gegen seine Eltern stattgefunden hatte. Die Verhandlung dort wird von einem Richter geleitet, der „von dem Menschen nicht das Schlechte, sondern das Allerniederträchtigste“ (G 76) denkt und daher Pavel eher für schuldig hält. Aber der Text stellt einen formalisierten Rechtsgedanken gegen einen individuell getönten, wobei institutionalisiertes Recht und Gerechtigkeit in eins gesetzt werden. „Die Gerechtigkeit nahm ihren Lauf“ (G 76) heißt es schon im auf die Beschreibung des Richters folgenden Satz. Die formalisierte und institutionalisierte Gerechtigkeit wird hier als unabhängig vom persönlichen Gefühl der Richtenden dargestellt und in ihrer formalen Richtigkeit und Gerechtigkeit vorgeführt. Dass es sich hier nicht um eine naiv-idealisierende Vorstellung Ebners über das Habsburgische Rechtssystem handelt, macht ein illusionslos-bitterer Kommentar in einem von Ebners Notizheften deutlich: „Es gibt etwas Schlimmeres als die Lynchjustiz in Texas - unsere Schwurgerichte.“ 18 Das in diesem Roman ausgedrückte Vertrauen in die gerechte Rechtssprechung scheint daher nicht so sehr realistische Darstellung der gelebten Wirklichkeit zu sein, sondern weist eher darauf hin, dass der zuweilen drastischrealistischen Darstellung der dörflichen Lebenswelt in Das Gemeindekind eine Gerechtigkeitsutopie eingewoben ist, die in den zunehmend „märchenhaften Zügen“ 19 des Dargestellten und in der Figur Pavels erzählerisch umgesetzt wird. Dieses Utopische gewinnt eine erste konkrete Gestalt, als Pavel tatsächlich freigesprochen wird und „eine Schrift darüber [erhält], dass das Gericht [ihm] nichts thun darf“. (G78) Diese „Schrift“, die „Schuldlosigkeitserklärung“ (G 79), der „Schein vom Gericht“ (G 80), das „Zeugniß vom Amte“ (G 80), wird von Pavel immer wieder mit Nachdruck und beinahe zwanghaft erwähnt. Dennoch ist diese formale Unschuldserklärung unzureichend, Pavel zu einem gleichwertigen Dorfbewohner zu machen. Dass Pavel sogar von der Gemeinde gezwungen wird, einen von anderen zu verantwortenden Unfallschaden zu bezahlen, obwohl er es ist, der größeres Unheil verhindert, verdeutlicht es schlaglichthaft. (vgl. G 107- 114) Immerhin ist mit diesem neuen Rechtsstatus aber eine neue Phase von Pavels Leben erreicht, die sich nicht zuletzt darin aus- Das Gemeindekind (1887) 143 <?page no="144"?> 144 drückt, dass er während der kurzen zwei Monate der Untersuchungshaft und Verhandlungen auch körperlich erwachsen geworden ist. „Als ein Bub war er fortgegangen, als ein Bursche kam er heim.“ (G 78) Besiegelt wird dieser Entwicklungsschritt Pavels dadurch, dass er „mündig gesprochen“ (G 79) wird und somit als nun eigenständige Rechtsperson als Käufer eines Stücks Gemeindeland auftreten kann. Dass dabei zum ersten Mal im Roman der vollständige Name Pavels genannt wird, unterstreicht die Bedeutung dieser neuen Stellung. „Das Erstaunen [der Bauern] war nicht gering, als ein solcher [Käufer] endlich wieder auftrat und zwar in der Person - Pavel Holubs.“ (G 78) Doch die gerichtliche Unschuldigkeitserklärung reicht nicht aus, Pavel zu einem anerkannten Mitglied des Dorfes zu machen. In einem kleinen Gespräch macht der neue Pfarrer Pavel den Unterschied zwischen dem formalen „Zeugniß vom Amt“ (G 84) einerseits und andererseits dem „Ruf“ klar, den er für seine „Wohlfahrt hier auf Erden“ (G 84) nötig habe. Am Beispiel der Lebensgeschichte des Lehrers Habrecht spiegelt Ebner dieses Thema wider und legt die langfristigen Konsequenzen ausführlich dar, die ein schlechter Ruf für die Einzelperson hat. Habrecht befindet sich zwar in einer Lage, die soweit gesichert ist, dass er Pavel nicht nur im persönlichen Verhältnis, sondern auch institutionell als Lehrer und während des Prozesses Hilfe leisten kann, doch wird er von seiner Umgebung nicht als ein gleichberechtigter Bürger akzeptiert, weil er nach seinem Scheintot den Wahn der Dörfler weiter bedient hatte, um sich interessant zu machen und Autorität zu erwerben. (siehe G 85f) Aus diesem selbst errichteten Lügengebäude, das die Vorurteile der Bevölkerung bediente und damit verstärkte, findet er noch nicht einmal durch schonungslose Wahrheit mehr heraus. Die Dorfbevölkerung hat sich in ihren falschen Vorstellungen zu fest eingerichtet. Auch Pavel, der stolz darauf war, sich als Außenseiter und „Dieb“ (G 23) zu produzieren, der vorgibt, Dinge einfach „aus Bosheit“ (G 39) zu tun und so den Vorurteilen der Dörfler und der Baronin über ihn zu entsprechen, erfährt diese Isolation, eine Variante jenes „blinden Ha[sses] gegen das Fremde“ (G 114), den Ebner an einer anderen Stelle feststellt. Selbst die gesellschaftliche Anerkennung durch die Baronin, die ihm einige Felder überschreibt, reicht nicht als Gegengewicht aus. Dass diese Schenkung „rechts- Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="145"?> kräftig [...] rechtskräftig [....] rechtskräftig [...] rechtskräftig“ (G 132) ist, wie das Wort beinahe beschwörend auf nur einer Textseite wiederholt wird, ändert nichts an der Tatsache, dass Pavel in der Dorfgemeinschaft neben dem Rechtstatus der „Ruf“ (G 133) zu sehr fehlt, um ein vollwertiges Mitglied zu sein. Die Erfolgsgeschichte von Pavels Entwicklung hin zu einem eigenständigen, zivilisierten Rechts- und Geschichtssubjekt ist von der „Schand’“ (G 143 und 144) überschattet, die nicht formaljuristisch oder gerichtsgerecht angegangen werden kann. Pavels Triebzivilisierung ist fragil und jeder Zeit kann ein blutrünstiger „maßloser Zorn“ (G 142) hervorbrechen, der der Gewalt der Väter gleicht. [W]ie soll denn ich heirathen, wie soll denn ich ein Weib nehmen, ich, dem’s alle Tag’ geschehen kann, er weiß nicht wie, daß er Einen erschlagen muß, weil er sich nicht anders helfen kann? Ich hab’ Schand’ fressen sollen, dazu hat die Mutter mich geboren. Jetzt haben sie ‚was Bess’res‘ aus mir machen wollen, der Herr Lehrer und meine Schwester Milada, und jetzt schmeckt mir die Schand’ nicht mehr, und jetzt bring’ ich sie nicht mehr hinunter, das ist mein Unglück. (G 143f.) Das Dilemma des nun meliorisierten Pavel bleibt. Erfolgreich hat er das Ziel erreicht, er ist „ein freier Mensch“ (G 146), aber er ist dabei „der einsame Mensch“ (G 144) geblieben, „einsam und frei“ (G 146). Er steht „auf Gleich und Gleich“ (G 146) mit den anderen Dorfbewohnern, als Sohn dieser Mutter ist er aber weiterhin Außenseiter. „[M]it dem Wohlwollen wird es aus sein, wenn die Mutter kommt.“ (G 146) So schließt der soziale Roman und die ihm eingeflochtene Utopie der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit hat tatsächlich, wie es in der Mitte des Textes angekündigt wurde, ihren Lauf genommen, einen Weg, der mit realistischer Detailtreue und Anschaulichkeit gezeichnet ist. Die Geschichte dieser Gerechtigkeit des Rechts hat ihre Opfer gefordert - die toten Väter, die tote schöne Seele Milada, die Triebzivilisierung und Vereinsamung Pavels. Pavel ist ein Mann geworden. Wie er selbst nach einer beinahe tödlich verlaufenen Konfrontation mit Holzknechten, die ihn gehänselt hatten, eingestehen muss, wird er aber auf Grund seines Gewaltpotentials allein bleiben. Er besitzt Grund und Boden, aber er ist kein vollwertiges Mitglied der Dorfgemeinschaft. Die exemplarische Selbstwerdung zum Geschichtssubjekt endet in einer defizienten Situation, in der die Das Gemeindekind (1887) 145 <?page no="146"?> 146 Kosten der „Verbesserungen“ beinahe deutlicher hervortreten als das Gewonnene, in der keine Sozietät besteht. Aber das Buch ist noch nicht zu Ende. Die Frage nach der Gerechtigkeit noch nicht ausschöpfend beantwortet. Der Endpunkt der einen utopischen Entwicklung nicht das Ende des Romans. In gewisser Hinsicht befinden wir uns an einer Stelle in Das Gemeindekind, die dem Ende von Heinrich von Kleists Drama über Sündenfall und Erkenntnis, Der zerbrochene Krug, verwandt ist, wenn Frau Marthe „empfindlich“ reagiert, als mit der Überführung Adams alles erledigt zu sein scheint: „Soll hier dem Krug nicht sein Recht geschehn? “ 20 Die naiv anmutende Frage Frau Marthes - denn dem zerbrochenen Krug kann niemals sein Recht geschehen, auf dass er wieder ganz werde - bleibt bei Kleist vorwurfsvoll unbeantwortet. In Das Gemeindekind hingegen führt über das Ende des realistischen Erzählstrangs die märchenhafte Utopie weiter, in der eine erlösende Gerechtigkeit in dem Verhältnis zwischen Mutter und Sohn aufscheint. Das beginnt damit, dass die aus dem Zuchthaus zurückgekehrte Barbara bei Pavel vom Tod Miladas hört und ihr Vertrauen darin ausdrückt, dass sie ihre Tochter im Himmel wiedersehen werde. „Mutter,“ entgegnete Pavel zögernd, „hofft Ihr denn, daß Ihr in den Himmel kommen werdet? “ „Ob ich es hoffe? - Ich weiß es! - Gott ist gerecht.“ „Barmherzig sagt ... Sagt Ihr nicht barmherzig? “ Seine Mutter richtete sich auf: „Ich sage gerecht,“ sprach sie mit einer erhabenen Zuversicht, vor der alle seine Zweifel versanken, die einen Glauben an dieses arme, verfehmte Weib in ihm entzündete, so fest, stark und beseeligend, wie nur je ein Glaube an das Höchste und Herrlichste. (G 152) Barbaras Insistieren auf der erlösenden Gerechtigkeit Gottes liegt darin begründet, dass sie das christliche Versprechen auf Erlösung absolut nimmt und auch auf das Verhältnis der Geschlechter bezieht. Ihr solidarisches Verhalten gegenüber ihrem mörderischen, gewalttätigen Mann erklärt sie wie folgt. Die Frau hat am Altar geschworen, ihrem Mann unterthänig zu sein und treu ... Dafür wird e r unserem Herrgott dereinst Rechenschaft über sie ablegen müssen. Mög’ ihm der ewige Richter gnädig sein. (G 152) Das muss Pavel reichen, denn sie verbietet ihm, sie geradeheraus auf ihre Unschuld hin zu befragen. „Frag’ mich nicht mehr, ich Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="147"?> kann Dir nicht mehr, ich kann Dir nicht antworten.“ (G 152) Es gibt keine andere Rechtfertigung für das Geschehene. Das Frageverbot bezeichnet den Punkt, wo der Glaube einzusetzen hat. Lediglich durch das „selbst aussprech[en]“ (G 152) der Wahrheit bestätigt Barbara, dass sie nicht teilhatte „am Verbrechen des Vaters“ (G 152): „Ich bin unschuldig verurtheilt worden, Sohn.“ (G 153) Die folgende Aussage Pavels ist in ihrer Doppeldeutigkeit verblüffend und erlaubt eine Lektüre der Verschiebung der Geschlechteridentität zu einer alternativen Gottheit, die in der mater dolorosa Barbara Figur geworden ist. „Da brach er aus: ‘Barmherziger Gott, wie schlecht war ich gegen Euch! ...’“ Sicherlich ist die direkte Lesart, die „barmherziger Gott“ als Redewendung versteht, die geläufigere Lektüre. Doch was, wenn diese Worte eine direkte Ansprache an Barbara sind? Hatte der Text sie nicht vorher schon als „das Höchste und Herrlichste“ (G 152) benannt? “Mutter,” konnte er nur sagen, “Mutter” ... und er stürzte vor ihr nieder, barg sein Haupt in ihrem Schoß, umschlang sie und wußte, daß er jetzt seinen besten Reichthum, sein Kostbarstes und Theuerstes in seinen Armen hielt. (G 153) Auch ohne dass man auf psychoanalytische Theorien zurückgreift, ist dies sicherlich erkennbar als umgekehrte Geburtsszene. Der Sohn löst sich aus dem Schatten der Väter, unter deren gewalttätiger Obhut er seinen Werdegang vollzogen hatte, und kehrt zurück in den Schoß und die Macht der Mutter. „Ich werde meine Hände unter Eure Füße legen, ich werde Euch Alles vergelten, was Ihr gelitten habt. Bleibt bei mir.“(G 153) Diese eigenwillige sprachliche Geste Pavels scheint eine Anspielung auf den achten Psalm in der Bibel zu sein, in dem der Dank dafür ausgesprochen wird, dass Gott die Schöpfung der Macht der Menschen überantwortet hat: „Du hast ihn [den Menschen] zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk,/ alles hast du unter seine Füße getan.“ (Psalm 8.7, vgl. ähnlich Psalm 110.1) Pavels Rede nimmt hier insofern eine Art Inversion dieser Bibelstelle vor, als er sich selbst der Macht der Mutter unterwirft, die zugleich, in Anspielung auf eine andere, häufiger in der Bibel auftauchende sprachliche Wendung liebevoll erhöht, „auf den Händen [ge]tragen“ (Psalm 91.10-12) wird. Nicht das Leiden des Sohnes, sondern das Leiden der Mutter steht ein für die Erlösung der Welt, ermöglicht Gemeinschaft, macht humane Geschichte - als Leidensgeschichte - möglich. Das Ende von Pavels Geschichte Das Gemeindekind (1887) 147 <?page no="148"?> 148 ist ein Seitenstück zur Auslegung des obigen Verses aus dem 8. Psalm in der Vision des Paulus - wie Pavels Name im Lateinischen heißt - über die Erlösung der Welt durch die Auferstehung Christi und der Vernichtung „alle[r] Herrschaft und alle[r] Macht und Gewalt“. (1. Korintherbrief 15.24) Der letzte Zweifel, ob die schon im Namen als Fremde gezeichnete Barbara „[d]er Leute wegen“ (G 153) dableiben darf und kann, wird weggewischt, weil beide, Pavel und Mutter als Außenseiter notwendig sind für die Gesellschaft und weil das Resultat dieses Buches apodiktisch ist: „Ihr bleibt bei mir, liebe Mutter.“ (G 153) Dies ist ein schönes Ende und ein merkwürdig zukunftsloses und unfruchtbares. Darauf machte schon der Ebner immer wohlgesonnene Paul Heyse vorsichtig aufmerksam, als er Ebner schrieb, er hätte dem Roman „zum Schluß ein wenig mehr Glück gegönnt.“ 21 Pavel und seine Mutter, Milada, aber auch Pavels Ziehschwester Vinska - sie alle haben keine Zukunft. Milada stirbt am stellvertretenden Leiden. Pavel wird trotz seines Besitzes allein bleiben, ohne Aussicht auf Kinder und damit Erben und Zukunft. Vinskas Kinder sind alle in jungen Jahren gestorben. Sie hat keinen Mann mehr, wird auch nicht wieder heiraten, sondern als „Wittib” (G 135) den Rest ihres Lebens verbringen. So bleibt auch dieses Ende trotz der hymnischen Beschwörung eines Neuanfangs widersprüchlich, denn in ihm liegt ebensowenig Zukunft wie am Ende des sozialen Romans, wie ich es oben beschrieben habe. Die stellenweise pathetisch überdrehte Rethorik Ebners, der „stilistische Übereifer“ 22 wie Karlheinz Rossbacher das einmal nennt und wie wir ihn auch aus den Schlussszenen von Marie Roland und Agave kennen, 23 soll diese Widersprüchlichkeit überwinden helfen. Aber eine Vermittlung der gegensätzlichen Persönlichkeitsentwürfe ist nicht durchzuführen. Die Selbstwerdung ist verhindert unter dem Recht des allmächtigen Vaters, das wieder und wieder bestätigt wird im christlichen Eheversprechen, dass die Frau untertänig zu sein habe und treu, und das die ursprüngliche Verteufelung Evas in der Schöpfungsgeschichte immer aufs Neue lebendig erhält: „ ... und es war halt wie im Paradies mit dem Adam und der Eva.“ (G 33). Das ist unvereinbar mit der Möglichkeit alternativer Selbstwerdung ohne Gewalt, in utopischer Leidensfreude und unverbrüchlichem Gerechtigkeitsvertrauen unter matriarchalischem Vorzeichen. Gerade in diesen uns heute als übermäßig em- Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="149"?> phatisch scheinenden Textstellen verbinden sich Annahme und Protest besonders intensiv; Annahme einer im Leiden entwickelten und geformten Identität und Menschlichkeit, die Ebner mit Frauen und Kindern, höchstens noch mit Tieren gleichsetzt; Protest gegen die unnötigen Leiden, die die patriarchale Gesellschaft allen ihren Mitgliedern, gleichgültig welchen Geschlechts, übermäßig auferlegt. So zeigt Das Gemeindekind die Gleichursprünglichkeit von Geschichtsfähigkeit und Leiden im patriarchalen Herrschaftssystem und protestiert gleichzeitig gegen die Notwendigkeit, dass Geschichte unter den gegebenen Bedingungen stattzufinden hat. Was die Novelle „Die Freiherren von Gemperlein“ als halbe Komödie männlicher Eitelkeiten und Geschichtsmächtigkeit vorgeführt hatte, wird hier in ihren Leiden produzierenden Konsequenzen vorgeführt. Eine Lösung des Problems bietet der Roman nicht. Literatur ist ja auch nicht dazu da, Lösungen zu bieten. Aber eine Sensibilisierung für die Problematik, die uns noch heute beschäftigt, liefert Ebner-Eschenbach auf eine erstaunlich durchdringende Weise. Das Gemeindekind (1887) 149 <?page no="150"?> 150 Anmerkungen 1 Siehe Ulrich Greiner, „D IE ZEIT-Schülerbibliothek.“ 2 Die Bibliographie Kretschmanns verzeichnet nur zwei postuma veröffentlichte Artikel zu Das Gemeindekind. Sehr ausführlich stellt Baasner die Textgeschichte und Aufnahme des Romans im Anhang der historisch-kritischen Ausgabe dar (G 185-242). 3 Siehe Rainer Baasner, G 296f. 4 Siehe Rainer Baasner, G 262f. 5 Siehe Rossbacher, Literatur und Liberalismus, pp. 264f. 6 Siehe auch Thomas Salumets, „Geschichte als Motto“, der insbesondere nachweisen will, dass Ebners und Nietzsches Geschichtsauffassung einander eng verwandt sind. 7 Siehe Rossbacher, Literatur und Liberalismus, p. 265. - Das Innovative gewinnt schärferes Profil, wenn man eine analoge Entwicklung in der akademischen Geschichtswissenschaft bedenkt, wo zur gleichen Zeit innovative Ansätze zur Alltagsgeschichte entworfen wurden und es bittere ideologische Auseinandersetzungen, den „Methodenstreit“, gab, in dem besonders Karl Lamprecht hervortrat, der die Dominanz der politischen und der Personengeschichte in Nachfolge Rankes durch den Gegenentwurf einer Geschichte als Wirtschafts- und Regionalgeschichte herausforderte. Die größte Wirkungskraft erlangte diese andere Art der Geschichtsschreibung dann erst später in der Annales-Schule. Siehe dazu Roger Chickering, Karl Lamprecht, besonders pp. 146-283. 8 Siehe Rossbacher, Literatur und Liberalismus, pp. 257-266. 9 George Sand, Œuvres autobiographiques. Bd. 1, p. 78; Hervorhebung im Text. 10 Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus, p. 263. 11 Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus, p. 265. 12 George Sand, Œuvres autobiographiques. Bd. 1, p. 79. 13 Siehe Rainer Baasner, G 296f. 14 Später im Buch wird dieser Rechtsstatus vom Lehrer einmal als „ehrlicher Mörder“ (G 87) bezeichnet. 15 Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Bd. 4.1, p. 17. 16 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, p. 72. 17 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, p. 74. 18 Wiener Stadt- und Landesbibliothek IA 81180. 19 Rainer Baasner, G 287. 20 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke. Bd. 1, p. 244. 21 Zitiert bei Rainer Baasner, G 194. 22 Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus, p. 386. 23 Charlotte Woodford, „Suffering and Domesticity“, zeigt, dass Ebner in den scheinbar sentimentalen Szenen, um die es sich auch hier handelt, bei genauerem Hinsehen eine Dekonstruktion der sentimentalen Tradition aus weiblicher Perspektive vornimmt. Vgl. dazu auch Linda Dietrick, „Gender and Technology in Marie von Ebner-Eschenbach’s Ein Original,“ die Ähnliches in Bezug auf den „schönen“ Tod von Frauen bei Ebner nachweist. Recht, Geschichte und Vaterlosigkeit <?page no="151"?> 8 Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm: Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 1955 bis 1972 Von Ebner-Eschenbachs schon anfangs erwähnter „Meistererzählung, [...] die nicht umzubringen ist,“ 1 existieren insgesamt fünf Filmfassungen, die zwischen 1940 und 1998 gedreht wurden. Das sind mehr als von der ansonsten wohl bekanntesten literarischen Vorlage für Heimatfilme, Wilhelmine von Hillerns Geierwally. Selbst wenn man nicht jede einzelne dieser Verfilmungen gleich beispielhaft für die Gattung „Heimatfilm“ nehmen kann, hebt die häufige Wiederverwertung der einen literarischen Vorlage schon einen Grundzug des österreichischen und deutschen Heimatfilms hervor. Denn er bezieht sich immer wieder auf einen relativ engen Fundus an literarischen Vorlagen, die dann mit einer beschränkten Anzahl von Figuren, Handlungsmustern, ja selbst den gleichen Schauspielern und Schauspielerpaaren verfilmt werden. Beispielhaft für letzteres kann man hier den damals sehr bekannten Rudolf Prack nennen, der in den ersten vier Fassungen der „Krambambuli“-Verfilmungen von 1940 bis 1972 in tragenden Rollen auftritt. Schon darin stellt sich die Serialität der Gattung in den Vordergrund - und damit einer der fundamental modernen Aspekte des Heimatfilms. Um das spannungsreiche Verhältnis von Heimat und Moderne in den Filmfassungen von Ebners Erzählung soll es im Weiteren vor allem gehen. Für dieses Thema spielen die besondere Figurenkonstellation, die Handlungsführung und die Motivierung von Ebner-Eschenbachs Erzählung eine bestimmende Rolle. Daher sei sie hier kurz charakterisiert. „Krambambuli“ handelt von der Liebe des alten Revierjägers Hopp zu einem schönen Jagdhund, den er einem Herumtreiber für einige Flaschen Krambambuli-Branntwein abgekauft hat. Daher der Name des Hundes. Mit Gewalt erzieht Hopp dieses schöne Tier von seinem ersten Herrn auf sich selber um. Als nach einiger Zeit ein gewissenloser Wilderer, „der Gelbe“ genannt, die Gegend unsicher macht und den brutal gegen die waldfrevelnde Landbevölkerung <?page no="152"?> 152 einschreitenden Förster ermordet, kommt es bei einer zufälligen Begegnung zur Konfrontation zwischen dem Wilddieb und Hopp. Der Gelbe entpuppt sich als Krambambulis früherer Herr. Hin- und hergerissen zwischen den beiden springt Krambambuli den Gelben im entscheidenden Moment aus Wiedersehensfreude und alter Liebe an, wodurch dieser im Schusswechsel mit Hopp sein Ziel verfehlt und von Hopp tödlich getroffen wird. Indes verbannt Hopp Krambambuli wegen der begangenen Treulosigkeit. Als er sich nach einiger Zeit dennoch entschließt, den Hund wieder aufzunehmen, liegt dieser verhungert auf der Schwelle seines Hauses. Dem Handlungsstrang über das Verhältnis zwischen Hopp und Hund ist ein sozialhistorischer eingewoben, in dem die nach beiden Seiten hin gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Herrschaft und ländlichen Untergebenen behandelt wird. 2 Auch wenn ich im Folgenden vor allem die mittleren drei Verfilmungen dieser Geschichte über Liebe und gesellschaftliche Machtkonflikte behandeln möchte, sind einige Anmerkungen zu der ersten Version als Bezugspunkt hilfreich. Diese wurde unter dem Titel Krambambuli in der Regie von Karl Köstlin 1940 von der „Wienfilm“ herausgebracht. Der Film hält sich insgesamt eng an Ebners Geschichte, deren Handlung ausgeschmückt wird, um die psychologischen Motivierungen zu festigen. Eine grundsätzliche dramaturgische Veränderung, die dann von allen folgenden Adaptionen aufgenommen wird, ist die Einführung einer jungen, heiratsfähigen Frau in das insgesamt verbreiterte Figurenensemble. Damit wird die handlungsbestimmende Dreiecksgeschichte zwischen Frau und zwei konkurrierenden Männern motiviert. Generell lässt sich festhalten, dass die Hauptfiguren der Filme junge Menschen sind im Vergleich zu Ebners ausdrücklich altem Revierjäger. Sie machen die traditionelle Liebesgeschichte für das Publikum des zwanzigsten Jahrhunderts glaubhaft und öffnen die Geschichte auf eine mögliche Zukunft hin, während bei Ebner die Statik der gesellschaftlichen Konstellation und das Lebensendliche im Vordergrund stehen. In der Fassung von 1940 geht mit dieser dramaturgischen Entscheidung zugunsten jüngeren Personals eine starke Identifizierung des Hundes mit dem männlichen Außenseiter einher, der hier eine in Armut aufgewachsene, sich als Hilfsarbeiter durchschlagende, dabei menschlich sehr sympathische Waise (Thomas) ist. Mit seinem Hund kommt er bei einer - übrigens ebenfalls vaterlosen - Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="153"?> Bauernfamilie unter, wo die Tochter des Hofes (Anna) und er sich ineinander verlieben. Anna ist jedoch dem Jäger versprochen, der ungleich höheren sozialen Status hat als Thomas, und ihre Mutter setzt alles daran, dass dieses Versprechen auch eingelöst wird. Vorerst ist Thomas’ Außenseiterstatus daher vor allem ökonomisch begründet und belässt ihm durchaus eine Zukunftsperspektive. Als Thomas dann aber in Notwehr einen Mann ersticht, der Krambambuli schlagen will, ist er als krimineller Außenseiter gebrandmarkt und damit für eine ackerbürgerliche Zukunft unannehmbar. Thomas’ Ausbruch aus dem Gefängnis, seine Rückkehr in die heimatlichen Gefilde, seine Aussprache mit der inzwischen mit dem Jäger verheirateten Anna und sein Tod in der durch den Hund entschiedenen Schießerei mit dem Jäger, die einem Duell gleicht, und schließlich der Tod des verstoßenen Hundes - alle diese Elemente können als eine Art melodramatischer Ausformung des von Ebner vorgelegten Handlungsskeletts angesehen werden, die sich in Variationen auch in den anderen Filmfassungen finden. Neben diesen Aspekten der Handlungsführung etabliert der Film Krambambuli auch einige Bildelemente, die in späteren Fassungen wieder aufgenommen und zum Teil entwickelt werden. Besonders stechen hier zwei Aspekte hervor. So wird der Hund Krambambuli in einer Sequenz von Tierszenen eingeführt, in der er mit Haus- und Wildtieren spielt. Das bleibt auch in den folgenden Fassungen mit Ausnahme der letzten bestehen und versieht den Hund mit einer zusätzlichen Bedeutungsebene, auf der seine eigentümliche Zwischenstellung als symbolischer Grenzgänger visualisiert wird. Seine Treue zu seinem ersten Herrn wird in einer Sequenz verdeutlicht, in der er dem Zug hinterherläuft, in dem Thomas vom Dorf in die Stadt zum Gefängnis gebracht wird. Dieses Motiv bleibt in den ersten vier Fassungen auch in der filmischen Gestaltung konstant: Die in der Ferne sich verlierenden Schienen, der hinterherlaufende Hund, der schließlich total erschöpft seinen Wettlauf mit dem Eisenross aufgeben muss und sich auf die Schienen legt. Im Motiv der Eisenbahn verbinden sich technische Modernität, die Gestaltung des Raums im Film durch die zentralperspektivisch fotografierten Schienen und die merkwürdige, für Heimatfilme typische Obsession mit physischer Mobilität. 3 Es ist die Kontinuität dieses Motivs und der Bildfassung dieser Trennungsszene, welche die Bedeutungsdichte sowohl für diese Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 153 <?page no="154"?> 154 vier Filme ausmacht als auch Ausblicke auf den Heimatfilm überhaupt erlaubt. Die Szene spielt schon in dieser ersten Fassung (1940) eine dramaturgisch zentrale Rolle, da sie die Trennung des Hundes von seinem ersten Herrn besiegelt. Andererseits wächst ihr hier noch nicht die Rolle zu, die beiden für den späteren Heimatfilm so bezeichnenden Handlungsräume, nämlich Stadt und Land, gegenüberzustellen. In dieser Filmversion ist die Eisenbahn ein Transportmittel, dass zwei Komponenten des einen Raumes miteinander verbindet (und zugleich voneinander absetzt), den des Zuchthäuslers und den der zu Hause Verbliebenen. Die Distanz macht eine soziale Trennung deutlich, die aber der Gesellschaft immanent ist. Darin lehnt sie sich noch stark an die Handlung in Ebner- Eschenbachs Geschichte an, die ja ebenfalls die inneren Spannungen der Standesgesellschaft vorführt. In den späteren Fassungen hingegen bezeichnet die Eisenbahn sowohl Verbindung als auch deutliche Grenzlinie zwischen dem ländlich-traditionsgebundenen und dem städtisch-modernen Raum, eben jene für den „klassischen“ Heimatfilm konstitutive Gegenüberstellung von Räumen unterschiedlicher Heimatnähe und -vergessenheit. So erweisen sich diese verschiedenen Filmfassungen von „Krambambuli“ als schlagende Beispiele dafür, wie sich die Gattung „Heimatfilm“ entwickelt und nicht historisch statisch ist. Dazu später mehr. Im Folgenden geht es nun um die mittleren drei Verfilmungen von Ebners Geschichte - Heimatland (1955), Ruf der Wälder (1965) und Sie nannten ihn Krambambuli (1972; auch als Was geschah auf Schloß Wildberg? im Verleih). In knapp zwei Jahrzehnten filmte der österreichische Regisseur und Wiener Salonlöwe Franz Antel (1913- 2007) diese drei Fassungen mit Filmstars wie Rudolf Prack, Paul Hörbiger, Marianne Hold, Johanna Matz, Fritz Wepper und Werner Pochat, aber auch mit dem Eiskunstläufer Hans Jürgen Bäumler und, in der letzten Fassung, dem Schlagersänger Michael Schanze. Als Kuriosität sei noch erwähnt, dass Antel unter anderem in Ruf der Wälder auch Mario Girotti entdeckte, der später unter dem Künstlernamen Terrence Hill mit Bud Spencer in Europa große Erfolge in klamaukigen Italowestern feiern sollte. Antels „Krambambuli“-Verfilmungen erlauben es, einige Aspekte der andauernden Popularität von Heimatfilmen sowie ihre gattungsmäßige Entwicklung genauer ins Auge zu fassen, auch wenn sie sich teilweise recht weitgehend von Ebners Textgrundlage lösen Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="155"?> und durch die freie Übertragung der Handlung in die jeweilige Gegenwartszeit eigene Wege gehen. Diese Filme wurzeln damit (wie schon die erste Verfilmung aus dem Jahr 1940) in ihrer eigenen Zeit und zeigen einen nicht unbedeutenden Aspekt der Wirkung Ebners, die im rein Literarischen - also als Bezugnahme jüngerer Autoren auf sie als Vorbild - nur spärlich nachzuweisen ist, am ehesten wohl noch für Gertrud Leutenegger und Franz Nabl, und über letzteren dann auch ein wenig bei Peter Handke. 4 So sind die Verfilmungen sichtbare Zeichen von Ebners Wirkung im 20. Jahrhundert. Dass ein Regisseur eine Geschichte dreimal verfilmt, ist ungewöhnlich und vielleicht sogar ein Unikum der Filmgeschichte. Franz Antel war Routinier des Unterhaltungsfilms. Einer der produktivsten und schillerndsten Regisseure des österreichischen Films der Nachkriegszeit, wurde er durch seine Heimat- und Revuefilme bekannt, dazu die seinerzeit populäre Softporno-Serie der „Wirtinnen“-Filme. Hinzu kamen Kuriositäten wie ein Western (Der kleine Schwarze mit dem roten Hut), aber auch ernsthaftere Streifen wie Oberst Redl und der sogar für den Auslandsfilm-Oskar nominierte und auch sonst preisgekrönte Film Der Bockerer (1982). Dabei entstanden diese unterschiedlichen Filme oft nebeneinander und es lässt sich keine Entwicklung hin zum Qualitätsfilm konstruieren. Daher überrascht es nicht, dass gegenseitige Beeinflussungen der verschiedenen Gattungen in Antels Werk unmittelbar sichtbar sind. Die Softpornos etwa greifen verschiedentlich Motive des Heimat- und Revuefilms auf, die Heimatfilme in ihren langen Liedeinlagen und ausdauernden Szenen von Volksfesten nähern sich zuweilen Revuefilmen an. Antel selbst war sich der starken Qualitätsunterschiede seiner Streifen durchaus bewusst und akzeptierte, dass er, um ständig arbeiten zu können, mit dem Material nicht wählerisch sein konnte. In von Kurt Kaindl aufgezeichneten Gesprächen zum österreichischen Film gibt er freimütig zu, dass er seinem Produzenten sagte, er mache ihnen Unterhaltungsware wie Heimatland und Der Kongreß tanzt, wenn er dafür auch „einen seriösen Film“ wie Oberst Redl finanziert bekäme. 5 Trotz dieser selbst vom Regisseur angedeuteten Rangunterschiede ist es ertragreich, die drei Fassungen zu untersuchen, da sie gerade durch die Kontinuität von Stoff und Regisseur Einblicke in die Entwicklung des Heimatfilms erlaubt. Damit können soziale Funk- Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 155 <?page no="156"?> 156 tionen dieser Filmgattung innerhalb ihrer Entstehungszeit nachgezeichnet werden, die sich nicht darin erschöpfen, dass sie einfach auf reaktionäre Weise zur Systemstabilisierung der frühen Nachkriegszeit beigetragen hätten. Wie schon Edith Oberlaber anregte, sind für Antels Filme dabei nicht vornehmlich filmkünstlerische oder filmästhetische Maßstäbe anzusetzen, 6 auch wenn die Filme selbst in dieser Hinsicht durchaus Qualitäten zeigen. Dafür nur ein offensichtliches Beispiel: eine Fluchtszene in Heimatland ist eine Art Re-Inszenierung der Fluchtszene des unschuldig als Mörder angeklagten Richard Hannays durch die schottischen Berge und Wildwasser in Alfred Hitchcocks Spionage-Film The 39 Steps (1935). Durch diese Anspielung wird die Schuldlosigkeit des Verfolgten Hans Bachinger am tödlichen Sturz eines Angreifers sozusagen auch filmhistorisch dargestellt und erhält zudem eine politische Note, eine subtile Geste, wie man sie in einem solchen Film nicht unbedingt erwarten würde. Wie dem auch sei; interessant werden diese Filme Antels vor allem, wenn man sie primär als populäre Filme versteht, in denen spezifische Wahrnehmungsmuster und Erwartungen des Publikums der Zeit kulturell verhandelt werden. Damit greift man die allgemeine Aussage, die in der Gattung des Heimatfilms das deutschsprachige Äquivalent des amerikanischen Western und damit der nationalmythischen Selbstprojektion sieht, in ihrer kulturellen Dimension auf. Die gilt es freilich am konkreten Beispiel nachzuvollziehen und diese Filme nicht nur ästhetisch und ideologiekritisch pauschal als reaktionäres, kitschiges, anti-modernes Fluchtvehikel des Kleinbürgertums vor den Fährnissen der Moderne, als „Opas Kino“, abzutun. In neueren Studien, vor allem von Johannes von Moltke, ist dieser Weg schon ausdrücklich beschritten worden. 7 Hier geht es daher darum, diese drei Ebner- Eschenbach-Verfilmungen in ihrem Kontext von drei Jahrzehnten zu sehen. Zwischen 1946 und 1966 waren gut ein Viertel der in Österreich produzierten Filme Heimatfilme - in den „Kernjahren“ 1955-1958 sogar weit über ein Drittel! 8 Bedenkt man, wie stark sich die österreichische Filmproduktion nach einem 1950/ 51 abgeschlossenen Filmabkommen auf den bundesrepublikanischen Verleihmarkt ausrichtete und dass auch in Westdeutschland etwa zwanzig Prozent der zwischen 1947 und 1960 produzierten Filme Heimatfilme waren, dann gewinnt hier tatsächlich ein für den deutschen Sprach- Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="157"?> raum signifikantes Phänomen Konturen. In Deutschland waren diese Produktionen mit Vorliebe in naturnahen Randbereichen der modernen Zivilisation angesiedelt, etwa im Schwarzwald oder in der Lüneburger Heide, wo der Natur noch erhaben zivilisationsheilende Qualität zugesprochen werden konnte. Paradestücke der Gattung sind Das Schwarzwaldmädel und Grün ist die Heide, die bis heute mancherlei Nachfolge gefunden haben, noch bis in Vorabendserien im Fernsehen wie Die Schwarzwaldklinik. Seine anhaltende Popularität über den hier angesprochenen zeitlichen Rahmen hinaus, lässt es daher auch angemessen erscheinen, den Heimatfilm nicht nur als „schaurig schillerndes historisches Phänomen der fünfziger Jahre“ 9 zu verstehen, sondern als Ausdruck einer kulturellen Verhandlung der gesellschaftlichen, technologischen und, wenn man so will, ideologischen Modernisierung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zwar, wie Georg Seeßen, Johannes von Moltke und andere hervorhoben, innerhalb des scheinbar bodenständigen Bereichs des Lokalen. 10 Damit brechen die Polaritäten von Heimat und Fremde, dem Eigenen und dem Anderen auf, die den kritischen Blick auf den Heimatfilm weitgehend bestimmt haben, und man wird sensibler dafür, dass es zumindest in dieser Pauschalität für den Heimatfilm eben nicht bezeichnend ist, dass er „allen Außenseitern die Existenzberechtigung abspricht“. 11 In den Filmen, um die es hier geht, ist es dabei nicht zuletzt die spezifische Figurenkonstellation von Ebner-Eschenbachs literarischer Vorlage, die diese Ambiguität des Heimatlichen schon in sich trägt. Der Gelbe tritt bei Ebner nämlich dezidiert als tätiger Verteidiger der ländlichen Bevölkerung gegen die Macht und den Machtmissbrauch der Adligen und des Försters auf, sodass der soziale Konflikt innerhalb der Gemeinschaft und zwischen den Ständen angesiedelt ist. Zudem hebt Ebner in der kreatürlichen Solidarität des Hundes mit dem ersten Besitzer auch dessen fundamentale Daseinsberechtigung hervor, die in der Identifikation des Gelben mit Krambambuli und dem zeitversetzten Sterben der beiden (freilich tragisch) endet. Die Liebe Hopps zu Krambambuli, die Ebner in ihrer Erzählung als einzigartig darstellt, ist damit aber auch eine tiefe, ebenfalls tragische Liebe zum Anderen und Fremden, die gleich am Anfang der Novelle ausdrücklich als lebensbestimmend für den alten Mann bezeichnet wird. „Liebe, die echte, unvergängliche, die Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 157 <?page no="158"?> 158 lernt [der Mensch] - wenn überhaupt - nur einmal kennen.“ (GNA 203) Diese in der Geschichte Ebners prominent angelegte komplizierte und konfliktreiche, der heimatlichen Gesellschaft interne Wechselbeziehung von traditioneller Autorität und deren Herausforderung ist in den Heimatfilm-Fassungen gattungstypisch umgeformt in ein Konfliktmuster, in dem sich „Heimat“ erst in der Auseinandersetzung mit der erfahrenen Modernisierung konstituiert und in diesem Prozess selbst zu einer Aneignung von Aspekten der Modernisierung führt. Als geographischer, psychischer und emotional gebundener Ort wird Heimat mit einer fortschrittlichen gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Dynamik konfrontiert. Diese Gegenüberstellung wird sinnfällig gemacht durch die Kontrastierung von Stadt und Land, wobei den jeweiligen Räumen positive und negative Konnotationen beigefügt werden. „Heimat“ erweist sich von daher im Heimatfilm insofern thematisch, da sie verloren oder verloren geglaubt ist. „Heimat“ ist in diesem Sinne gerade nicht ein vormodernes Konzept, sondern schält sich ganz im Gegenteil erst in dem Moment heraus, wo individuelle und gemeinschaftliche Erfahrungsmuster sich von Traditionen gelöst haben und sich als frei (also modern) und nicht mehr selbstverständlich als „beheimatet“ erfahren. Im Wortschatz der konservativen Kulturkritik der Nachkriegszeit ausgedrückt, erfährt sich Heimat gerade in der Erfahrung der „Unbehaustheit“. 12 In einer ganz direkten, der Erfahrungswelt der damaligen Zuschauer nahen Weise wird das thematisch in zwei weithin als typisch für die Gattung erachteten Filmen, nämlich in Grün ist die Heide (1951) und in Echo der Berge (bekannter unter dem Verleihtitel Der Förster vom Silberwald [1955]). In beiden Filmen sind Heimatvertriebene Hauptfiguren und binden so die Filmhandlung ganz direkt an die Kriegserfahrungen und vor allem die geographische und psychologische Entwurzelung der Zuschauer an. Wie sehr es sich dabei um einen konstitutiven Aspekt des Heimatfilms handelt, wird dadurch unterstrichen, dass das Motiv der Unstetigkeit in Grün ist die Heide auch noch in einer Gruppe von Vagabunden sichtbar wird, die das Thema als komische Figuren aufgreifen und widerspiegeln, damit freilich auch moderieren und in die Versöhnlichkeit des Komödiantischen ablenken. 13 Diese Grundkonstellation der durch verschiedene Räume darge- Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm stellten Konfrontation zwischen traditioneller und moderer Welt ist <?page no="159"?> auch ein konstitutives Element in Antels drei Filmfassungen. In groben Zügen folgen sie dem dramaturgischen Modell, mit dem die Verfilmung von 1940 die kurze Geschichte Ebner-Eschenbachs im Handlungsablauf und in der Figurenkonstellation für das neue Medium umgemodelt hatte. Sie bauen also eine Dreiecksgeschichte zwischen zwei rivalisierenden Männern und einer Frau auf, die letztlich für den anfänglichen Besitzer des Hundes tragisch endet. Sie folgen der Fassung von 1940 in einem weiteren wichtigen Punkt: alle drei Filme spielen jeweils in einer Gegenwart, die für die Zuschauer als die jeweils eigenen Zeit erkennbar ist. Damit stellen sie den Anspruch, auch als Aussagen über diese Gegenwart verstanden zu werden. Sie weisen gerade nicht in eine geschichtlich vergangene Zeit und entwerfen keine rückwärtsgewandte Utopie. Diese Eingebundenheit im Hier und Jetzt wird verstärkt durch ein neues Handlungselement, das im Gegensatz steht zu Ebners Geschichte und der ersten Verfilmung. Denn am Ende der drei Antel-Verfilmungen stirbt der Hund Krambambuli nicht, und so wird Zukunftsoffenheit suggeriert, nicht Lebensendlichkeit oder Rückwärtsgewandtheit.. Die grundsätzliche Spannung zwischen Heimat auf der einen Seite und der Modernisierung der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen durch industrielle Entwicklung, marktwirtschaftliche Rationalität und eine energiegetriebene Mobilität auf der anderen Seite steht in Heimatland (1955) vom ersten Bild an im Vordergrund. Die Eingangsszene zeigt den Protagonisten an einem Fluss- oder Kanalufer sitzend, in dem ein Fremder einen Welpen ertränken will, wobei alles von einem am gegenüberliegenden Ufer stehenden riesigen Gasspeicher überragt wird. In Ruf der Wälder (1965) geht es ebenfalls um Modernisierung, doch gleichsam in der zweiten Etappe nach der schon vollzogenen Industrialisierung. Nach einer ganz kurzen einführenden Rahmenerzählung fährt die Anfangssequenz das dampfende und qualmende Firmenareal des österreichischen Stahlkochers Voest ab, auf dem plötzlich ein junger Hund erscheint, der von einem italienischen Gastarbeiter gefunden und mit in die Gemeinschaftsunterkunft genommen wird. Themen sind hier das Zusammentreffen mit ausländischen, von ihrer Heimat getrennten Gastarbeitern, die (massen)touristische Erschließung der Hochgebirgswelt (und - in Zwischenszenen - der Mittelmeerküste Italiens) sowohl wie die Auflösung traditioneller Mechanismen sozialer Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 159 <?page no="160"?> 160 Kontrolle, die zu einer Art heimatgemachten Kriminalität führen. In Sie nannten ihn Krambambuli (1972) nimmt eine Kriminalgeschichte noch größeren Raum ein. Die Zerstörung des gesellschaftlichen Gewebes durch Gesetzlosigkeit ist hier verbunden mit Fragen, wie die aufbegehrende zeitgenössische Jugendkultur sich in einer latent mit der Zeit des Dritten Reiches verknüpften Väterwelt durchsetzen oder zu einer gesellschaftlichen Integration geführt werden kann. Der Film beginnt mit einem an Hitchcock erinnernden Himmelsblick auf eine Einkaufszeile im damals hochmodernen siebziger Jahre-Chic, wo Jugendliche unter Schlagerrythmen ein Auto für eine kriminelle Spritztour stehlen. Das führt zu einer Sequenz mit Bildern von polizeitechnischen Fahndungsaktivitäten, die an jene aus Fritz Langs M: Eine Stadt sucht einen Mörder erinnert, wobei hier freilich der geringfügige Anlass - das Stehlen eines Autos - in einem krassen Missverhältnis steht zu den überdimensionierten, aufgeregten und intensiven Polizeiaktionen. Jedenfalls ist festzuhalten, dass Aspekte moderner Erfahrung der Lebenswelt in allen drei Filmen gleich anfangs als Industrialisierung oder als technische Mobilisierung bildhaft gemacht werden. Im Verlauf der Geschichten werden dann diese ersten Hinweise auf den Veränderungsdruck der Gesellschaft in verschiedenen Formen ausgespielt und verarbeitet. Die rationale Ökonomisierung der Wirtschaft steht dabei im ersten Film im Zentrum. Die männlichen Rivalen verkörpern zwei unterschiedliche Wirtschaftsarten. Der ins Dorf zurückgekehrte Herr von Krambambuli, Sohn eines Sägewerkbesitzers, will den verlotterten Betrieb wieder auf Vordermann bringen und sich um den anstehenden Auftrag der staatlichen Forstverwaltung bewerben. Sein trunksüchtiger Vater fordert den Förster auf, dabei auf traditionelle Bindungen und die Fürsorge für die lokale Dorfgemeinschaft zu achten, nicht auf Wirtschaftlichkeit. Obgleich die Kostüme so entworfen sind, dass ausgerechnet der Förster Tracht trägt, während der Traditionalist in normalen Straßenkleidern auftritt, ist es gerade der Förster, der auf die Effizienz des Marktes und des wirtschaftlichsten Angebots pocht und den Auftrag, wenn nötig, auch an ein konkurrierendes Unternehmen in der weiteren Entfernung vergeben will. Vor allem aber besteht der Förster darauf, dass der Auftrag nur auf Grund wirtschaftsrationaler Vorgaben vergeben wird, unabhängig von seinen persönlichen Vorlieben oder Abneigungen gegen den Rivalen. Bezeichnend für Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="161"?> den Film ist, dass sich das „modernere“ und angeblich „objektive“ Wirtschaftsverständnis des Försters gegen das altmodischtraditionelle durchsetzt, denn der Auftrag wird nicht an das eingesessene Sägewerk vergeben. Damit „gewinnt“ also gerade die Art der für Heimatfilme typischen, lokal und regional moderierten Form der Modernisierung - gleichsam die Modernisierung im Lodenlook. Auch in den anderen beiden Filmen gibt es dafür Beispiele, vor allem in Ruf der Wälder. Im Vorspann heißt es dort: „Aufgenommen in und um Kaprun Salzburg. Mit Unterstützung der Gletscherbahn auf das Kitzsteinhorn, der Tauernkraftwerke AG und der Voest in Linz.“ Nicht nur sticht im Bild der Voest die Nachkriegsindustrialisierung Österreichs hervor. Kaprun mit seinem 1938 begonnenen und 1955 u.a. mit Geldern des Marshall-Plans fertiggestellten Wasserkraftwerk ist der ikonische Ort Nachkriegs- Österreichs und Symbol des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, so wie die Gletscherbahn nicht nur ein Meisterwerk der Ingenieurskunst vorstellt, sondern vor allem für die Erschließung eines der bedeutendsten Touristikzentren Österreichs und damit Österreichs als Urlaubsland steht. 14 Heimat wird umgemodelt in einen veräußerbaren Konsumartikel und Natur zur zunehmend denaturierten Kulisse - eben zur Kulisse der imaginären Naturnähe des Heimatfilms - und des Ferienparadieses. Antels Filme passen sich damit recht gut ein in den für den Heimatfilm typischen Versuch, verschiedenartigste Formen des Heimatverlustes zu verarbeiten. Durch den enormen Modernisierungsschub, vor allem durch die dramatisch steigende physische und soziale Mobilität und die alles ergreifende Ökonomisierung des Lebens in der Nachkriegszeit, bestand ein großer Bedarf an Orientierungshilfen, der medial auch vom Heimatfilm bedient wurde. Dieser sucht, die neuen Lebens- und Denkgewohnheiten - meist auf konservative Weise - begleitend sichtbar und erfahrbar zu machen und damit zu bewältigen. Dabei bildet für die Gattung die Gegenüberstellung von Stadt und Land eine grundlegende Struktur, in der Moderne und Tradition sich räumlich gegenüberstehen, wobei der ländliche Raum positiv besetzt ist, aber unter der Hand gleichzeitig sozusagen teilmodernisiert wird. Wieder einmal bietet der Vorzeige-Heimatfilm Der Förster vom Silberwald ein Musterbeipiel, denn der titelgebende Silberwald - und damit die im Vorspann separat unter den Mitwirkenden aufgeführte österreichische Land- Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 161 <?page no="162"?> 162 schaft - kann nur dadurch gerettet werden, dass die Gemeinde ein anderes, im Film nie sichtbares Grundstück an einen Bauherrn veräußert, der diesen Grund mit touristischen Gebäuden bebauen wird. Die Rettung der naturnahen Heimat ist also nur dadurch möglich, dass die Gemeinde sie teilweise zur Modernisierung durch touristische Erschließung verkauft; Heimat wird erhalten durch ihre (Teil-)Entäußerung und dadurch grundlegend verändert. Weil diese Entwicklung aber im visuellen Medium Film nicht gezeigt wird, bleibt sie im wörtlichen Sinne unsichtbar, eine aus dem Film ausgeschlossene und nicht erfahrbare Realität. 15 Darin wird der konservative und im ideologischen Sinne verlogene Charakter dieser Art der Heimatfilme deutlich. Das Kontrastmuster Stadt-Land gehört zu den grundlegenden Oppositionen, welche die Dramaturgie von Heimatfilmen bestimmen. In der Struktur dieser Gegenüberstellung verdeutlicht sich auch eine Bedeutungsverschiebung zwischen Ebners Geschichte und den Filmfassungen. Denn bei Ebner ist die räumlich ausgeführte Opposition von Schloss und Dorf eine, die im räumlichen Gegenüber soziale und ethische Konflikte innerhalb der Gesellschaft wiedergibt. Der Heimatfilm hingegen entwirft die Unterscheidung zwischen Stadt und Land als eine zwischen Gesellschaften unterschiedlicher Entwicklungsstufen rationaler und rationeller Modernisierung. Die räumliche Distanz bezeichnet daher zugleich eine zeitlichhistorische Distanz, die qualitativ aufgeladen ist. Stadt und Land stehen auf zwei unterschiedlichen historischen Entwicklungsstufen, die ihre Verkörperung in den männlichen Rivalen um die Liebe der weiblichen Hauptfigur finden. Weil die hier angesprochene Art der räumlichen Differenzierung markant den gattungstypischen Grundzug des Heimatfilms vis-àvis der Modernisierung abgibt, soll die schon oben angesprochene, sowohl für die erste Verfilmung wie auch für alle drei Antel-Filme zentrale, Eisenbahn-Szene genauer untersucht werden, da in ihr die spezifische kinematische Räumlichkeit dieser Filmfassungen von „Krambambuli“ besonders schlagend konstituiert wird. Die Inszenierung wird in der ersten Verfilmung aus dem Jahre 1940 etabliert und dann im Weiteren übernommen und jeweils nahezu gleich gefilmt. Auch steht sie in allen Fällen an dramaturgisch gleicher Stelle: der erste Besitzer von Krambambuli wird als Sträfling aus der ländlichen Gegend, wo er einen Mann in einem Streit erschlagen hat Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="163"?> oder haben soll, in die Stadt ins Gefängnis und zum Gerichtsstand gebracht. Die Polizei verfrachtet ihn in den Zug und als dieser abfährt, läuft Krambambuli hinter ihm her, um den geliebten Herrn zu erreichen, muss aber nach dem ungleichen Wettlauf schließlich erschöpft aufgeben und legt sich auf den Bahndamm. Diese Szene ist mit Schuss/ Gegenschuss jeweils so gefilmt, dass die Tiefe des Raums zentralperspektivisch hervorgehoben wird. In der Fassung von 1940 spielt dabei die Unterscheidung zwischen Stadt und Dorf noch keine entscheidende Rolle; die Eisenbahn verbindet einfach zwei Örtlichkeiten innerhalb einer Landschaft. In Antels Verfilmungen wird durch die Eisenbahnszene hingegen die Distanz zwischen urbanem und ländlichen Raum stark hervorgehoben und macht die ideologische Unterscheidung beider bildhaft. Die Stadt ist dabei Ort der vermassten und vermassenden Moderne. In Ruf der Wälder wird das deutlich gemacht. Die Off-Stimme nennt das Leben der Freundin des nun im Gefängnis Sitzenden, die sich aus Trauer vom Dorf in die Stadt hat versetzen lassen, das Leben eines „farblose[n] Teilchen[s] der Büromaschinerie“. Visuell unterstützt wird die Aussage durch Bilder von dicht an dicht geparkten, im gleichen Ton hell lackierten Autos. Diese Bilder sind mit dem Teleobjektiv aufgenommen, erscheinen „flach“, und ziehen den Raum beinahe bis zur Zweidimensionalität zusammen. Die Stadt wirkt beinahe enträumlicht. Dem gegenüber steht die Szene, in der dieselbe Frau wenig später in das Dorf zurückkehrt. Sie kommt am Bahnhof an und steigt als einzige aus. Allein blickt sie in die leere Weite, beinahe wie man es aus einer der bekannten Standardszenen in Western-Filmen kennt. Was dort aber vor allem die soziale Ungebundenheit des Helden in der Weite des Raumes fasst, in die er nach getaner Arbeit auch wieder entreiten wird, führt hier gerade zur Erfahrung der heimatlichen Gebundenheit. Als sie sich entschließt, allein loszugehen, kommt plötzlich ein Begüßungsumzug, der sich hinter dem Gebäude versteckt hatte, mit einem großen ihren Namen tragenden Plakat auf sie zu. Die einzelne Frau wird wieder in die dörfliche Gemeinschaft aufgenommen; der Raum, der in den Teleaufnahmen beinahe völlig verschwunden war, ist wieder hergestellt und in den raumgreifenden Bewegungen der einzelnen Figuren und des kollektiven Umzugs erfahrbar. Das „farblose Teilchen der Büromaschinerie“ ist nun ein mit Namen besetztes Indivi- Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 163 <?page no="164"?> 164 duum, das als solches von der Dorfgemeinschaft begrüßt und in das Kollektiv integriert wird. Die Tiefe und Weite des filmisch konstruierten Raums unterstützen die wertende Hierarchisierung von tatsächlich und metaphorisch weit entfernten Orten und der mit ihnen verknüpften Figuren, Lebensweisen und Einstellungen. Mit anderen Worten: sie sind unmittelbarer Ausdruck dafür, dass der Heimatfilm gegen moderne Tendenzen der Nivellierung, Demokratisierung und Enthierarchisierung gerichtet ist. Dass ausgerechnet das Markenzeichen moderner Mobilität des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn, hier eingesetzt wird, verweist dabei noch einmal darauf, dass der Heimatfilm nicht nur einfach auf reaktionäre Art alles Moderne ablehnt, sondern strategisch und ideologisch auswählend moderne Aspekte aufnimmt und integriert - hier die etablierte, „alte“ Verkehrstechnik der Eisenbahn - während andere abgewiesen werden. 16 Diese Eisenbahn-Szenen markieren, wie die drei Antel-Filme sich in der Tradition der Gattung Heimatfilm positionieren. Wie schon vorher angesprochen, ist diese Szene jeweils ein Umschlagpunkt der Handlung, da sie die entscheidende Differenz zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren etabliert. Der für die weibliche Hauptfigur anfangs attraktivere Außenseiter - der dem Verlorenen Sohn ähnelnde Herumtreiber, der Gastarbeiter, der straffällig Jugendliche - ist nun als ausgesprochen kriminell gebrandmarkt und damit in der Heimatfilmwelt nicht mehr heiratsfähig. Da diese Szene beinahe gleich gefilmt ist, scheint sie die Kontinuität der drei Fassungen sowohl in der Bedeutungsausrichtung der einzelnen Filme als auch in ihrer jeweiligen Gattungszugehörigkeit zu etablieren. Bei genauerem Hinsehen ergibt es sich aber, dass die Szenen trotz ihrer scheinbaren ikonographischen Konstanz in ihren Kontexten eine jeweils veränderte Funktion haben. Um das genauer zu verstehen, ist es hilfreich, sich die spezifische Figurenkonstellation Ebner-Eschenbachs Geschichte noch einmal vor Augen zu führen. Denn bei Ebner besteht, wie oben ausgeführt, der eigentliche Reiz der Geschichte gerade darin, dass beiden Männern durch die kreatürlich-loyale Haltung des Hundes die gleiche Wertigkeit zugesprochen wird. Ja, die Liebe des Revierjägers Hopp zu dem Hund ist, bei aller deutlichen Abgrenzung hin zum Gelben, auch eine versteckte Hingezogenheit zu dem Wilderer und Außenseiter. Diese spezifische Figurenkonstellation steht daher tendenziell konträr zu den Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="165"?> hierarchisierenden Tendenzen in der Gattungstradition des Heimatfilms: anstatt die Unterschiede zwischen den beiden männlichen Figuren hervorzutreiben, tritt bei Ebner-Eschenbach ihre gegenseitige Verbundenheit in den Vordergrund. Dieser Aspekt von Ebners Geschichte ist so grundlegend, dass er weiterhin jede der drei Filmfassungen mitbestimmt, auch - und gerade - in der zentralen Eisenbahnszene. Das wird allerdings nur dann deutlich, wenn man sie mit einem anderen Thema verknüpft, dass ich oben nur unter der Hand eingeführt habe, als ich auf die für den Film dramaturgisch sinnvolle Erfindung einer Dreiecksgeschichte zwischen zwei Männern und einer Frau hingewiesen habe. Indem damit die Männer primär um die Frau, nicht wie bei Ebner um den Hund, rivalisieren, stellt sich nämlich die Frage, welche symbolisch-repräsentative Funktion dann dem Hund im Film zukommt. Schaut man nun auf den Hund als Figur, dann fällt auf, dass er einer dramatischen Feminisierung und schließlich Entsexualisierung unterworfen wird. In Heimatland ist der Hund noch ein Rüde, wenngleich seine virile Präsenz und maskuline Potenz nicht so stark hervorgehoben werden wie in der Fassung von 1940, wo Krambambuli einmal ausdrücklich wegen seiner guten Zuchteigenschaften zum Decken abgeholt wird. Zehn Jahre später, in Ruf der Wälder, hat sich der Hund in eine „Bella“ verwandelt, und die Rivalität der Männer um Zuneigung und Loyalität des Hundes spiegelt die rivalisierende Werbung um die junge Frau. Während vorher Hund und Außenseiter angenähert waren, stehen Hund und Frau nun metonymisch füreinander ein. In Sie nannten ihn Krambambuli schließlich ist der Hund entsexualisiert zum Freund, zum „Kumpel“, wie er durchgehend genannt wird, geworden und hat keine Funktion als Objekt des Begehrens der rivalisierenden Männer, wohl aber als Kamerad der sozial orientierungslosen Jugend, die, wie an verschiedenen Stellen ausdrücklich klar gemacht wird, von der durch die Nazizeit kompromittierten Vätergeneration alleingelassen ist. In der Femininisierung und schließlichen Entsexualisierung des Hundes exemplifiziert sich in den Filmen eine Art Entmächtigung phallischer Gewalt und damit die tendenzielle Enthierarchisierung des etablierten Machtgefüges. 17 Auf der anderen Seite ist die bildliche Verdeutlichung von Unterschieden und Hierarchien ein zentrales Anliegen des Heimatfilms. Die in den drei Antel- Filmen dreimal gleich gedrehten Eisenbahnszenen und die in ihnen Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 165 <?page no="166"?> 166 verdeutlichte kinematische Raumkonstruktion setzen gerade diesen Aspekt der Gattung besonders eindrücklich um. Die visuell konstante Umsetzung steht in direktem Widerspruch zur veränderten Funktion des Hundes in den Filmen; erstere unterstützt die Hierarchisierung, letztere löst sie tendenziell auf. Während in Heimatland das bildliche und ideologische Modell des Heimatfilms noch „funktioniert“, d.h. Hierarchien visuell und inhaltlich etabliert werden, tritt die Brüchigkeit der Filmgattung in Ruf der Wälder und Sie nannten ihn Krambambuli zunehmend in den Vordergrund. Eine andere Perspektive kann diese Einsicht vertiefen. Die Filmfassung von 1940 zieht aus der starken Hierarchisierung der Personen und der stark sexualisierten Figur des Hundes die stringente und brutale, dabei durchaus mit Ebners Geschichte übereinstimmende Konsequenz, dass am Ende der Hund ebenso elendig und halb ungerecht sterben muss wie der gesellschaftliche Außenseiter. In Antels Fassungen bleibt diese Konsequenz außen vor. Der Hund lebt in allen drei Fassungen und in diesem Überleben tut sich das veränderte Verhältnis zum Außenseiter kund, der nun nicht mehr ohne weiteres ausgeschlossen, sondern auf eine ganz bestimmte Art wenigstens teilweise integriert wird. Man kann sogar sagen, dass diese verschiedenen Fassungen von „Krambambuli“ eine Art Index abgeben über die Entwicklung der Gattung „Heimatfilm“ und über den Grad der möglichen Akzeptanz von Außenseitern, des Anderen und Neuen, kurz: wie weit die Gesellschaft sozial- und wahrnehmungspsychologisch ihre eigene Modernisierung angenommen und tatsächlich zu einem Teil ihres Selbstverständnisses gemacht hatte. Schon in der Fassung aus dem Jahr 1955, in der ja Krambambuli gleichgesetzt wird mit seinem ersten Herrn, wird der Hund am Ende von dem Ehepaar aufgenommen. Das Ende zeigt die glückliche junge Familie - wobei nun die Frau übrigens die vorher abgelehnten Trachten trägt - mit neuem Mann und Hund. Das Andere, der Rivale, bleibt in der repräsentierenden Form des Hundes, und auf diese Weise domestiziert, gegenwärtig und durchaus integriert. In der zehn Jahre später herausgebrachten Version Ruf der Wälder steht der Hund nicht mehr für den männlichen Rivalen, den italienischen Gastarbeiter Marcello, sondern übernimmt die Position der umworbenen Frau. Marcello übergibt vor seiner Gerichtsverhandlung den Hund und damit symbolisch seinen Anspruch auf Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="167"?> die Frau an den rechtschaffenen Förster, der diese Bella pflichtbewusst annimmt. Am Ende, als alle denken, dass Marcello die Flucht aus dem Gefängnis und über die Grenze nach Italien gelungen ist, drückt der Förster kurz vor der dann doch stattfindenden tödlichen Konfrontation seine Genugtuung darüber aus, dass er dem flüchtigen Marcello nicht hatte nachstellen müssen. Er sagt: „Jetzt freue ich mich beinahe schon, dass er durchgekommen ist.“ Dass die Auseinandersetzung dann doch stattfindet und Marcello erschossen wird, kann man nicht nur als Treue gegenüber der Ebner’schen Geschichte verstehen, sondern auch als eine Durchsetzung der Gattungsregeln des Heimatfilms, die zur Hierarchisierung tendieren - und als Hinweis darauf, wie gut sich Ebners Geschichte oberflächlich für diese hierarchisierende Filmgattung eignet. Dass der tödlichen Konfrontation aber, wie die Aussagen des Försters nahelegen, innerhalb der Filmhandlung und der psychologischen Ausführung der Figuren alle Dramatik und innere Kohärenz genommen sind, deutet an, dass innerhalb der Normen der Gattungsform das vorgenommene Problem nicht bewältigt werden kann. Sowohl technologisch als auch psychologisch-sozial ist die Gesellschaft weiter modernisiert, als der Film es als Heimatfilm seiner formalen Gattungselemente wegen verbildlichen kann. 18 In der letzten Fassung von 1972 schließlich ist zwar wieder die Eisenbahnszene zentral, aber nun völlig anachronistisch, weil die Leute selbst schon regelmäßig und wie selbstverständlich mit dem Auto zwischen Stadt und Dorf hin- und herfahren. Sie bedienen sich damit einer gegenüber der Eisenbahn noch stärker individualisierten Mobilität, die die Differenz von Stadt und Land auf ein Minimum zusammenschrumpfen lässt und den eigenständigen dörflichen Bereich zum Verschwinden bringt. 19 Wenn die Eisenbahnszene vorher also durchaus wirklichkeitsnah zur Differenzierung zwischen ländlichem und städtischem Raum beitrug, wird sie hier nun zu einem Anachronismus, der eigentlich nur verständlich wird als Bild-Überbleibsel der vorherigen Heimatfilmversionen. Beinahe ironisch deutlich wird dies im Film, wenn die junge Frau und der Außenseiter nach einem für sie sehr schönen Ausflug in die Stadt auf dem Heimweg mit ihrem Auto vor einer heruntergelassenen Bahnschranke warten müssen. In dieser Szene wird die unkomplizierte Weiterfahrt zwischen Stadt und Land, und damit die räumliche Annäherung der beiden Orte, durch die Eisenbahn aufgehalten, also Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 167 <?page no="168"?> 168 gerade wieder eine - nun freilich nicht mehr zeitgemäße - Distanz zwischen Stadt und Land (und zwischen den beiden Männern) bildhaft behauptet, die in der Gegenwart des Automobils nicht mehr der Realität entspricht. Die Eisenbahn ist nicht mehr Symbol der Moderne, sondern eine Art anachronistisches Requisit des Heimatfilms, das sich sinnentfremdend in die Handlung einschiebt. Am Ende dieses Films sind die Handlungselemente ebenso als Versatzstücke der Gattungstradition und der literarischen Vorlage erkennbar wie die Bildkompositionen und Montagetechniken vorher. Hier gibt es, im Unterschied zu den beiden vorherigen Fassungen, keine Heirat als positive, wenn auch verhalten tragische, Abrundung der Handlung. Vielmehr ist der Tod des vom Schlagersänger Michael Schanze als sympathische Figur dargestellten Mannes inszeniert als Dienstvergehen eines kleinen Polizeiwachtmeisters, der aus übertriebener Dienstpflicht auf den von seinem „Kumpel“ freudig umsprungenen Flüchtigen schießt. Der neben ihm laufende Vorgesetzte beschimpft ihn als „verrückt“ und droht: „Das wird Sie ein Disziplinarverfahren kosten! “ Der Heimatfilm in seiner für die fünfziger und sechziger Jahre typischen Ausformung, in der die Modernisierungstendenzen der Gesellschaft, wie von Moltke noch einmal zitiert sei, nostalgisch vermittelt werden sollten, offenbart sich hier als überholt. Bei aller nostalgischen Modernisierung, wie sie noch in Heimatland erkennbar ist, bleibt er letztlich, wie die weiteren Ebner-Eschenbach-Verfilmungen herausstellen, in einem inneren Widerspruch stecken, da er den rasanten Entwicklungen in den sechziger und siebziger Jahren nicht mehr adäquat beikommt. Dass er als Form nicht mehr die Vermittlung zeitgenössischer Wirklichkeit zwischen dem Verlangen nach heimatlicher Stabilität und Dauer und den Modernisierungstendenzen der Zeit leisten kann, liegt vor allem daran, dass konstitutive filmkünstlerische Aspekte des Heimatfilms, wie ich sie hier an der Raumkonstituierung markiert habe, anachronistischen Wahrnehmungsmustern nachempfunden sind, die sich zunehmend als von den gesellschaftlichen Realitäten und der materiellen Kultur der Zeit überholt herausstellten. Von daher ist der Heimatfilm vielleicht, wie immer wieder behauptet wird, auch heute noch populär. Aber er ist es nicht mehr im gleichen Sinne wie in den fünfziger und sechziger Jahren, als er mithelfen konnte, die Traumata des Krieges und der Vertreibung wie Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="169"?> auch der beschleunigten Modernisierung medial zu verarbeiten und damit zu helfen, sie sozialpsychologisch zu bewältigen und abzufedern. Einer der fundamentalen Aspekte der Modernisierung der Gesellschaft, die rasante Ausweitung und Beschleunigung der physischen Mobilität und die damit einhergehende Umstrukturierung der Raumerfahrung, waren so durchdringend, dass die Raumkonstituierung im Heimatfilm davon nicht absehen konnte. Damit wurde die Herstellung von Heimatfilmen aber in einen grundlegenden Widerspruch gedrängt. Denn einerseits ist es für den Heimatfilm als Gattung konstitutiv, dass der kinematische Raum tief und weit ist, dass räumliche Distanz (vor allem) zwischen Stadt und Land bildhaft als qualitativer Unterschied erfahrbar ist. Andererseits unterlag aber gerade die moderne Raumerfahrung in der Nachkriegszeit durch die vom Auto angetriebene Massenmobilität einem raschen Wandel, der gerade diesen filmischen Aufbau von räumlicher Distanz und Differenzierung zunehmend dem Erfahrungshorizont der Zuschauer entzog. Diesen inneren Widerspruch stellt die letzte der Antelverfilmungen deutlich dar. Denn das potenziell erfüllte Leben leuchtet dort ganz konsequent nicht im dörflichen Bereich auf, sondern in (geträumten) sentimentalen Liebesszenen, die in einem Park in der Stadt spielen. Dadurch dass die Verliebten ihre Verliebtheit im öffentlichen Raum des Parks erleben, geben sie ihr eine Gültigkeit, die über die individuelle Wertigkeit hinausgeht. Im Dorf hingegen müssen sie sich bedeckt halten. Filmisch wird das angemessen, wenn auch im wörtlichen Sinne billig, dadurch dargestellt, dass die anheimelnden Szenen der Naturbegegnung mit Hund und Herr in Sie nannten ihn Krambambuli durchweg wiederverwertetes Material aus dem sieben Jahre vorher gedrehten Streifen Ruf der Wälder sind. Das filmische Selbstzitat oder diese Art filmischen Recyclings unterstreicht, abgesehen von den gesparten Kosten für die Produktion, den Anachronismus der naturhaft heilen und heilenden Welt, wie der Heimatfilm sie vorgibt. Im Gegensatz zu den Szenen idyllischer Einheit und Konfliktlosigkeit von Mensch und Natur erscheint die Dorfwelt in Sie nannten ihn Krambambuli als Hort des Asozialen, der Jugendkriminalität, der Enge, des Rassismus, überhaupt gesellschaftlicher Rückständigkeit, und gerade auch als Ort jener sozialen Wurzellosigkeit, die vorher der Stadt zugeschrieben worden war. Der hier gezeigte dörfliche Bereich ist verwandt mit der Provinz in Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 169 <?page no="170"?> 170 den um 1970, also etwa zeitgleich mit Antels letzter Krambambuli- Verfilmung, herausgebrachten sogenannten „Anti-Heimatfilmen“ wie Peter Fleischmanns Jagdszenen aus Niederbayern (1969) und Reinhard Hauffs Mathias Kneissl (1971). So zeigt Sie nannten ihn Krambambuli deutlich, wie der alte Heimatfilm selbst auf durchdringende Art modernisiert ist. 20 Man wird in den Antel-Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs Geschichte sicher nicht Beispiele großer deutschsprachiger Filmkunst erkennen. Und dennoch sind diese Filme markante Beispiele, an denen die Entwicklung einer der populärsten Filmgattungen im deutschsprachigen Raum von den fünfziger bis in die siebziger Jahre verfolgt werden kann. Als solche sind diese Verfilmungen auch Beispiele dafür, wie Marie von Ebner-Eschenbach über den engeren literarischen Bereich hinauswirkte, und welche erstaunliche Wirkungskraft und Lebendigkeit die kleine Geschichte „Krambambuli“ in diesen drei Filmfassungen (und in den beiden anderen, die hier nicht im Vordergrund standen) erweist. Die Verschiebungen innerhalb der Reihe filmischer Interpretationen zeigen die Wandlungen des kulturellen Selbstverständnisses als allmähliche Auflösung und Neubewertung tradierter Gegensatzpaare des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="171"?> Anmerkungen 1 Diether Krywalski, Weit von hier wohnen wir, weit von hier, p. 274. 2 Siehe Karlheinz Rossbacher, „Marie von Ebner-Eschenbach. Zum Verhältnis von Literatur und Sozialgeschichte, am Beispiel von Krambambuli“. 3 Siehe Johannes von Moltke, No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema, p. 17. 4 Gertrud Fussenegger hat sich verschiedentlich und immer wieder mit Ebner auseinandergesetzt, u.a. in einem kleinen Buch Marie von Ebner- Eschenbach, oder Der gute Mensch von Zdißlawitz. Franz Nabl fungierte als Herausgeber einer Auswahlausgabe von Ebners Werken in der Nachkriegszeit und verfasste ein sehr positives biographisches Nachwort dazu. Peter Handke erwähnt Ebner einmal erstaunlich positiv in seinem Essay „Österreich und die Schriftsteller“. 5 Gespräche zum österreichischen Film (1976/ 1985), p. 21. 6 Edith Oberlaber, „Franz Antel, Regisseur und Produzent“, p. 37. 7 Darunter leiden, bei aller berechtigter Kritik am Heimatfilm, viele der älteren, aber auch noch neuere Studien, beispielhaft Gerhard Bliersbach, So grün war die Heide ...Thema: Film. Die gar nicht so heile Welt im Nachkriegsfilm; Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher, Kino in Österreich 1946-1966; Franz Schuh, „Heimat bist du großer Filme. Thesen zur Kitschindustrie“. Siehe auch etwa Eric Rentschler, West German Film in the Course of Time. Reflections on the Twenty Years since Oberhausen: „In a Federal Republic burdened with an unassimilated war guilt and still in the process of rebuilding itself, the felicities of a fantasy countryside devoid of rubble and Allied occupation troops allowed audiences to dream of a simpler primeval Germany“. (108) - Zur neueren Forschung siehe Johannes von Moltke, No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema. 8 Siehe Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher, Kino in Österreich 1946-1966, p. 249; in Westdeutschland wurden zwischen 1947 und 1960 über 300 Heimatfilme produziert, etwa ein Fünftel der Gesamtproduktion, siehe Eric Rentschler, West German Film in the Course of Time. Reflections on the Twenty Years since Oberhausen, p. 108. 9 Robert Buchschwenter, „Ruf der Berge-Echo des Fremdenverkehrs. Der Heimatfilm: Ein österreichischer Konjunkturritt“, p. 260. 10 Georg Seeßen, „Durch die Heimat und so weiter. Heimatfilme, Schlagerfilme und Ferienfilme der fünfziger Jahre“; Johannes von Moltke, „Evergreens: The Heimat Genre“, p. 19. 11 Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher, Kino in Österreich 1946-1966, p. 182. 12 Vgl. Peter Blickle, Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland, pp. 25-59. 13 Zu Heimatlosigkeit, Vertreibung und Aussiedlung im Heimatfilm s. Johannes von Moltke, No Place Like Home, pp. 135-169. 14 Diese Sonderrolle wird besonders deutlich in einem im Auftrag der österreichischen Bundesregierung noch zu Besatzungzeiten produzierten Film, 1. April 2000 (1952). Es handelt sich dabei um eine Art Science Fiction über Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 171 <?page no="172"?> 172 eine einseitige Unabhängigkeitserklärung Österreichs gegenüber den Besatzerstaaten. Alle bekannten Schauspieler der Zeit wie Hilde Krahl, Josef Meinrad, Paul Hörbiger und Hans Moser wirkten an diesem Streifen mit, der kaum ein Klischee über Österreich (von Türken, Pest und Maria Theresia bis Strauss, Mozart, Spanische Reitschule und eben auch Kaprun) auslässt. Eine Art historische Geschichtsparade legt die notwendige Eigenständigkeit Österreichs in einem Sternmarsch auf den Heldenplatz dar und gipfelt in einer großen Rede für Unabhängigkeit und Freiheit, während derer die gespannten Zuhörer des Landes gezeigt werden. Die erste Gruppe ist dabei der Bautrupp am Geburtsort des neuen Österreich, in Kaprun; der Kreis schließt sich, wenn der Film nach einer Reihe von anderen Menschengruppen abschließend die große Massenveranstaltung auf dem Heldenplatz in Wien zeigt. 15 Vgl. Robert Buchschwenter, „Ruf der Berge-Echo des Fremdenverkehrs. Der Heimatfilm: Ein österreichischer Konjunkturritt“, bes. pp. 268-275. 16 Siehe Johannes von Moltkes Bemerkungen dazu, wie die Eisenbahn in dem DEFA Heimatfilm Einmal ist keinmal (1955) eingesetzt wird, um die Distanz zwischen der „neuen“ Heimat in der DDR und dem ideologischen Gegenpart im westdeutschen Düsseldorf; No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema, pp. 176f. 17 Die Vaterlosigkeit besonders der weiblichen Hauptfiguren in allen diesen Filmen ist auffällig. Im weitesten und allgemeinsten Sinne ist es gerade die Reetablierung von Vaterschaft - phallischer Macht - die im Zentrum der Heimatfilme steht. Dies gelingt in Heimatland, indem der schon etwas ältliche Rudolf Prack schließlich doch die umworbene Frau heiraten kann, aber schon in Ruf der Wälder gelingt es nur noch so eben, da die Frau sich erst der Werbung verweigert. In Sie nannten ihn Krambambuli schließlich steht keine Reetablierung von Vaterschaft an. Vielmehr thematisiert der Film durchgehend die Vaterlosigkeit als Verlassenheit der Jugend, die dadurch der ethischen Verwahrlosung ausgesetzt wird. - Gerhard Bliersbach, So grün war die Heide, p. 53, macht ähnliche Bemerkungen im Zusammenhang mit seinen persönlichen Seherfahrungen und stellt den inadäquaten Männlichkeitsbildern in deutschen Heimatfilmen dann die der amerikanischen Konkurrenzprodukte gegenüber. Siehe auch Heide Fehrenbach, Cinema in Democratizing Germany, pp. 148-168, bes. pp. 166f. 18 Der Film zeigt auch an anderen Stellen, was man als selbstreflexive Kommentare auf die Gattungstradition bezeichnen könnte, in denen deutlich wird, dass hier die inhaltlichen und formalen Aspekte nur mehr durchbuchstabiert werden. So ist der von Paul Hörbiger gespielte Erzähler der Geschichte ein ehemaliger, nun reformierter Wilderer. Der Wilderer ist eine typische Außenseiterfigur des Heimatfilms, z.B. auch in Heimatland. Nun übt dieser reformierte, gleichsam re-sozialisierte Wilderer nur noch zum Schein - und mit Platzpatronen - sein Handwerk aus und verwirrt dadurch anfangs den neu angestellten, zum Rivalen des Gastarbeiters werdenden Förster. Heimat und Moderne im österreichischen Heimatfilm <?page no="173"?> 19 Individualisierte Mobilität (exemplifiziert in Autos) scheint in diesen Heimatfilmen eher negativ konnotiert zu sein, bei gleichzeitiger Faszination mit Mobilität überhaupt. In Ruf der Wälder wird die konsumorientierte, individualisierte Massengesellschaft aus dem Off kritisiert und gleichzeitig durch „flache“ Bilder von Massen von geparkten Autos illustriert. 20 Die letzte, hier gar nicht behandelte Fassung, ebenfalls Krambambuli betitelt, die im Jahre 1998 von Xaver Schwarzenberger nach einem Drehbuch des Tiroler Heimatdichters und Volksautors Felix Mitterer herausgebracht wurde, ist völlig anders konzipiert. Anders als die ersten vier Versionen, die jeweils in der Gegenwart spielen und damit auch den Anspruch stellen, über diese Gegenwart etwas auszusagen, ist dies ein historischer Film, der den auch bei Ebner zentralen sozialen Konflikten zwischen Obrigkeit und Landbevölkerung sich primär in der Triebpsychologie der männlichen Hauptfiguren ausspielen lässt. Ein bei Ebner nur gerade angedeutetes Motiv, die Eifersucht der (alten) Ehefrau Hopps auf den Hund, wird hier breit ausgewalzt und gewinnt dadurch, dass die Figuren jung sind, eine ganz andere Dimension. Franz Antels Verfilmungen von Ebner-Eschenbachs „Krambambuli“ 173 <?page no="175"?> 9 Schluss Es bleiben einige nachgetragene Überlegungen und Erklärungen. Dieses Buch ist ein bewusst altmodisches Buch. Es ist eine Monografie über eine Autorin, die als ein wenig verstaubt gilt. Es baut nicht auf einer Dissertation oder Habilitation auf. Es enthält keine umfassenden theoretischen Einsichten, sondern insistiert, darin ganz historisch, auf der Individualität der Autorin, ihrer Texte und eines heutigen Leseerlebnisses. Meine sparsamen Rückgriffe auf bestimmte Literaturtheorien entstammen nicht einer diffusen Theoriefeindlichkeit - Spuren unterschiedlicher Ansätze lassen sich sowieso leicht überall nachweisen. Der bewusste Verzicht darauf, meine alternativen Lektüren von unterschiedlichen Werken Ebner- Eschenbachs vor allem zur Illustration bestimmter theoretischer Einsichten zu verwenden, entspringt der Überzeugung, dass die Texte Ebner-Eschenbachs zuallererst als literarische Texte Konturen gewinnen müssen, wenn man für sie werben will. Sie haben also, wenn man auch andere als professionelle Leser ansprechen will, Literatur im emphatischen Sinne zu sein, nicht vor allem Material, mit dem historische, soziologische, politische oder kulturwissenschaftliche Abstraktionen zu belegen sind - auch wenn es aus anderer Perspektive sicherlich legitim wäre, sie so anzusehen. In der Literatur hat sich Theorie an den Texten zu beweisen, nicht umgekehrt. Die hier gebündelten Interpretationen der Werke Ebner-Eschenbachs arbeiten bei aller Unterschiedlichkeit eine erstaunliche Konstanz verschiedener Themen heraus, die Ebners Schaffen von den frühen Dramen bis hin zum Spätwerk, hier repräsentiert durch Agave und Meine Kinderjahre, in einer schönen Variationsbreite durchziehen, beinahe wie die bekannte Gegenüberstellung von Künstler und Bürger bei Thomas Mann. Wie sehr Ebner in ihren Schriften alles Geschehen auf die unterschiedlichen Erfahrungs- und Lebenswelten von Männern und Frauen perspektiviert, wird erst in einer Lektüre klar, die für feine Anspielungen sensibilisiert ist und über Einzelinterpretationen hinaus in der Reihung solcher Interpretationen einige besonders prägnante Muster nachvollziehen hilft. Eindringlich wird damit der experimentelle Charakter der Werke Ebners ins Blickfeld gerückt, bei dem es nicht so sehr um Sprach- <?page no="176"?> 176 und Formexperimente geht, sondern um die Erstellung eines experimentellen Raumes in der Literatur, einer Art Labor, in welchem eine Reihe von großen Themen perspektiviert durch die Geschlechterthematik durchgespielt und damit einem Verstehen und Bewerten geöffnet werden. Geschichte, Geschlecht und Kreativität waren drei Themen, die ich in den Interpretationen immer wieder ins Auge gefasst habe. Diese im experimentellen Raum der Literatur entwickelten und ausgespielten Analysen bieten neue Einsichten in unterschiedliche Wirkungsweisen von Tradition und Gewalt - und von Tradition als Gewalt. Durch das Prisma der Geschlechterthematik wird Gewalt, wie wir gesehen haben, als historische Gewalt bzw. als Gewalt der Geschichte (vor allem in Marie Roland und „Die Freiherren von Gemperlein“), als ästhetische Gewalt (Agave und Meine Kinderjahre), Gewalt in den Beziehungen von Familienmitgliedern (Meine Kinderjahre, „Das Schädliche“), als soziale Gewalt (Das Gemeindekind) und als Gewalt des Rechts (Das Gemeindekind) in vielerlei Schattierungen, Varianten, Kombinationen und Neukombinationen in ihrer Herkunft und Wirksamkeit und vor allem auch in ihren inhumanen Auswirkungen sichtbar gemacht. Es sind diese inhumanen Auswirkungen, die für Ebner den Impetus bieten, in ihren Werken Alternativen zu denken und in die Texte miteinzuweben. Diese Alternativen sind, obwohl sie durchaus utopische Elemente aufweisen können wie z.B. in Agave und Das Gemeindekind, keine großen, weltumfassenden utopischen Entwürfe, sondern im Konkreten und oft auch Kleinen wurzelnde, alternativ geordnete Welten. Die Erfahrung eigener, aus Leiden gespeister Kreativität, die als Korrektiv dienen kann für die gesellschaftlichen und familiären Geschlechterrollen (Meine Kinderjahre), die nicht-utopische Geschichtsarbeit (Marie Roland), künstlerische Produktivität, die nicht auf genialischer Gewalt, sondern auf praktisch-handwerklicher Menschenverbundenheit aufbaut (Agave), eine im Leiden und Gewaltverzicht gründende Zivilisierung unter matriarchalischem Vorzeichen (Das Gemeindekind) - das sind einige der alternativen Fluchtpunkte, die in den hier behandelten Werken sichtbar und für den Lesenden erfahrbar werden. Mit diesen Interpretationen und Lektürevorschlägen hoffe ich, den Projektionen entgegenzuwirken, die in den bildlichen Darstellungen Ebners Gestalt werden und die im einleitenden Kapitel cha- Schluss <?page no="177"?> rakterisiert wurden. Das mediale Weiterwirken Ebners rahmt die anderen Kapitel auch am Ende mit einem Fokus darauf, wie jene Komponenten von Ebners literarischer Kunst im Film weiterwirken, die einfachen Polarisationen entgegenstehen und so zu Einsichten Anlass geben, die der Gattungstradition des Heimtfilms eher konträr sind. Aus der ungewöhnlichen Situation, dass in den Ebner- Eschenbach-Verfilmungen durch Franz Antel die literarische Grundlage, der Regisseur und die filmische Gattung gleich gehalten sind, lässt sich auf ebenfalls beinahe wissenschaftlich experimenteller Ausgangslage der gesellschaftliche Wandel in den untersuchten Heimatfilmen besonders gut darstellen - und damit auch ein wichtiger Teil des Weiterlebens von Ebners Texten. Ich habe dieses Buch auf Deutsch geschrieben, nicht weil Deutsch meine Muttersprache ist, sondern weil im deutschen Sprachraum noch immer zu wenig von den Ergebnissen der Auslandsgermanistik wahrgenommen wird. Gerade Ebner-Eschenbach ist da ein schlagendes Beispiel. Ein weit überproportionaler Teil innovativer Studien zu ihr sind im englischsprachigen Bereich entstanden, zum Teil von „expatriates“. Die erste moderne Ausgabe von Ebners Dramen wurde von der britischen Modern Humanities Research Association herausgegeben - sie ist bis heute die einzige für Privatpersonen bezahlbare. Die einzige moderne Biographie Ebners von Doris M. Klostermaier stammt ebenfalls aus der Feder einer Auslandsgermanistin und ist auf Englisch erschienen. Man kann freilich darüber spekulieren, warum das so ist - sicherlich fließen hier verschiedene Dinge zusammen: stärkere institutionelle Unterstützung weiblicher Akademiker; geringere Bindung an einen festen Kanon wissenschaftlich legitimer und legitimierender Texte, Theorien, Methoden und Themen, die „man“ im Wissenschaftsbetrieb behandeln kann und muss, um erfolgreich zu sein; ein teilweise traditionelleres Festhalten an einem Begriff der schönen Literatur, aber auch die Unabhängigkeit, keine (ehemalige) nationale Leitwissenschaft gewesen zu sein - das sind nur vier Aspekte, die auf jeden Fall zu nennen sind. Wie dem auch sei: dieses Buch ist ein Versuch, die Einsichten zu Ebners Werk, die in der englischsprachigen Auslandsgermanistik entwickelt worden sind, aufzugreifen, mit den Ergebnissen weiter zu arbeiten und die Resultate einem deutschen Publikum nahe zu bringen. Wenn es mir gelungen ist, Leser zu einer eigenständigen - und das heißt, sich von den Vor- Schluss 177 <?page no="178"?> 178 Urteilen des traditionellen Ebner-Bildes lösenden - Auseinandersetzung mit Ebner’schen Texten angeregt zu haben, dann ist dieses Buch ein Erfolg. Schluss <?page no="179"?> 10 Bibliographie Werke Ebners, nach denen in dieser Arbeit zitiert wird: Briefwechsel zwischen Ferdinand von Saar und Maria [sic! ] von Ebner-Eschenbach, hg. von Heinz Kindermann. Wien: Wiener Bibliophile Gesellschaft, 1957. Ebner-Eschenbach, Marie von: Am Ende. Scene in einem Aufzug. Berlin: Eduard Bloch, o.J. Ebner-Eschenbach, Marie von: Autobiographische Schriften I: Meine Kinderjahre; Aus meinen Kinder- und Lehrjahren, kritisch herausgegeben und gedeutet von Christa-Maria Schmidt. Tübingen: Niemeyer, 1989. (Zitiert als MK plus Seitenzahl). Ebner-Eschenbach, Marie von: Božena, kritisch herausgegeben und gedeutet von Kurt Binneberg. Bonn: Bouvier, 1980. 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Ebner-Eschenbach, Marie von: Die historischen Tragödien. Maria Stuart in Schottland, Marie Roland, Richelieu, Jacobäa, kritisch herausgegeben und kommentiert von Marianne Henn. Tübingen: Niemeyer, 2006. Ebner-Eschenbach, Marie von: Tagebücher. 6 Bde., kritisch herausgegeben und kommentiert von Karl Konrad Polheim et al. Tübingen: Niemeyer, 1989ff. (Zitiert als TB plus Bandangabe in römischen und Seitenangabe in arabischen Ziffern). Letzte Chancen: Vier Einakter von Marie von Ebner-Eschenbach hg. von Susanne Kord. London: Modern Humanities Research Association, 2005. <?page no="180"?> 180 Macht des Weibes: Zwei historische Tragödien von Marie von Ebner-Eschenbach hg. von Susanne Kord. London: Modern Humanities Research Association, 2005. Bibliographie: Kretschmann, Carsten: Marie von Ebner-Eschenbach: eine Bibliographie. Tübingen: Niemeyer, 1999. Andere Literatur: Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre, Sämtliche Werke, Abt. 3, Bd. 4, hg. von Walter Keitel. 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