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Vergessene und verkannte österreichische Autoren

Österreichische Autoren

0820
2008
978-3-7720-5287-3
978-3-7720-8287-0
A. Francke Verlag 
Joseph P. Strelka
<?page no="0"?> E dition Patm os Joseph P. Strelka Vergessene und verkannte österreichische Autoren <?page no="1"?> E dition Patm os Herausgegeben von Joseph P. Strelka Band 12 <?page no="3"?> Joseph P. Strelka Vergessene und verkannte österreichische Autoren <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8287-0 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie . . . . . . 1 2. Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos . . . . . . . . . . . . . 15 3. Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist . . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Hermann Broch und sein Tod des Vergil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5. Der Gnostiker Hermann Broch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 6. Rose Ausländer und der Geist von Czernowitz . . . . . . . . . . . . . . . 81 7. Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung . . . . . . . . . . . . . 101 8. Arthur Koestler und die Parapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 9. Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien . . . . . . . . . . . . . . 125 10. Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und der Freiheit . . . . . . 143 11. Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen . . . . 159 12. Kurt Klinger als Lyriker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 13. Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze . . . . . . . . 187 14. Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer . . . . . . . 199 15. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 <?page no="7"?> Vorwort Immer wieder haben Kritiker auf vergessene und verkannte Autoren, zumal aus den jeweils unmittelbar vorhergehenden Jahrzehnten hingewiesen. Karlheinz Deschner mit seinem Buch Talente, Dichter, Dilettanten, Peter Härtling mit seinen Vergessenen Büchern, Hans Heinz Hahnl mit seiner Vergessenen Literatur oder Hans J. Schütz mit seinem Buch Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen 1 sind nur einige, willkürlich herausgegriffene Beispiele dafür. In diesen vier Büchern wird selbst oftmals darauf hingewiesen, daß die Autoren, die sie dem Vergessen und Verkanntsein entreißen wollen, bereits vorher wiederholt »entdeckt« worden wären, ohne daß dies geholfen hätte. So weist Hans J. Schütz etwa darauf hin, daß beispielsweise Wolfgang Reif, Helmut Kreuzer, Günter Helmes und Kurt Hiller vergeblich auf den auch hier im vorliegenden Buch wieder angeführten Reinhard Federmann aufmerksam gemacht hätten. Selbst der Versuch eines Robert Musil auf seinen Freund Robert Müller aufmerksam zu machen, scheiterte. So listet Schütz unter seinen vergessenen Autoren auch den Schweizer Lyriker Sigfried Lang auf, für den sich Kritiker vom Rang eines Eduard Korrodi, Walter Muschg oder Ernst Robert Curtius eingesetzt hatten, nachdem er, laut Dieter Fringeli, von der Literaturkritik und Leserschaft »längst abgeschrieben« worden war. Auch was die vier angeführten Bücher selbst dem Orkus des Vergessens zu entreißen versucht hatten, blieb fast durchwegs erfolglos. Sowohl Hans J. Schütz wie Karlheinz Deschner haben eine Lanze für Emil Belzner gebrochen, ohne daß er von einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen worden wäre. Kaum mehr Erfolg hatte der umgekehrte Versuch Deschners, dem Ruhm ungerecht überschätzter Modeautoren das Wasser abzugraben, obwohl ihm die Schweizer Zeitung Die Tat zu Recht attestiert hatte, daß die Ergebnisse seiner sprachkritischen Methode der Beweisführung geradezu erschütternd sei. Warum werden dann solche Bücher überhaupt geschrieben, könnte man fragen. Die Antwort ist einfach: Weil es den zumeist sehr belesenen und kenntnisreichen Autoren um eine Art literaturkritischer Objektivität und Gerechtigkeit geht, die in einer Zeit wie der unseren, und das heißt in einer Zeit des Wertzerfalls, der verschiedenartigsten ideologischen Verlogenheiten und po- 1 Karlheinz Deschner: Talente, Dichter, Dilettanten. Wiesbaden 1964, Peter Härtling (Hg.): Vergessene Literatur, 1966, Hans Heinz Hahnl: Vergessene Literatur. Wien 1984, Hans J. Schütz: Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen. München 1988 <?page no="8"?> Vorwort VIII litischen Reduktionen, ja oft im Zusammenhang damit der literarischen Mafias (Deschner spricht von »Propagandamaschinen«) mehr denn je notwendig ist, die Stimme zu erheben und ich habe immer wieder gefunden, daß diese Art von Büchern von echten Kennern im Stillen geschätzt, geliebt und verwendet werden. Die unverschämten Versuche, sogar literarische Mafias zu verteidigen und ins Recht zu setzen, macht solche Bücher nur noch notwendiger. Deschner hat in seiner direkten Art dafür als Beispiel Enzensbergers verlogene Apologie »Die Clique« aus dessen Buch Einzelheiten angeführt, der widersprochen werden muß, was er denn auch gründlich besorgt hat. 2 Dabei ist Deschner sich sehr der Gefahr bewußt, in die man sich begibt, wenn man sich mit einer führenden Mafia anlegt. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Funkredakteur über Uwe Johnson, den er angegriffen hatte, brachte jener Sender keine Zeile mehr von ihm. Dabei implizieren im Grunde viele Arten literaturkritischer und literarhistorischer Arbeit von vornherein ein gewisses Eingehen auf vergessene und verkannte Autoren. Im Positiven gibt es dabei vereinzelt Beispiele von geradezu berühmten »Entdeckungen« verkannter Autoren. So hat etwa Nietzsches Hinweis auf Stifter jenem im Unterschied zu Grillparzer auch außerhalb Österreichs zu wirklichem Ansehen verholfen und das Eintreten Hellingraths für Hölderlin oder von Karl Kraus für Nestroy haben geradezu zu einem Siegeszug höchster Anerkennung geführt. Hans J. Schütz schreibt zwar »Verkennen, Mißdeutung oder Ignorierung spielen in der Rezeption von Literatur eine ebenso große Rolle wie bleibende Anerkennung oder unverdienter Ruhm. Abqualifizierungen und Fehlurteile pflanzen sich ebenso hartnäckig fort wie Überschätzung und fragwürdiges Lob.« 3 Nicht trotzdem, sondern gerade deswegen hat er sich die Mühe gemacht, sein Buch zu schreiben, in der Hoffnung, Berichtigungen herbeizuführen. Hans Heinz Hahnl aber, der als Kulturredakteur einer großen Zeitung durch Jahrzehnte die großteils schwachen Werke seiner Zeit der Siebziger- und Achtzigerjahre lesen hat müssen, schrieb sich die Frustration darüber von der Seele, indem er einen Roman darüber schrieb. Die Autoren scheinen zwar darin unter Decknamen auf - nicht nur, weil er sich in den meisten Fällen dadurch gerichtliche Klagen ersparen konnte, sondern vor allem auch, damit der Roman ein wirklich von der Realität abgehobenes Kunstwerk werden konnte -, aber die blendenden Einfälle und Formulierungen geben trotzdem eine einmalig scharfsichtige Überschau. Er hat sich übrigens selbst als Romanfigur in der Gestalt des Kritikers Meissner eingeführt, der das Einbekenntnis ablegt: »Je älter ich 2 Karlheinz Deschner, op. cit., S. 335 ff. 3 Hans J. Schütz, op. cit., S. 8 <?page no="9"?> Vorwort IX werde … um so zynischer werde ich. Manchmal meine ich fast, der Zynismus ist mein Heimathafen. Heimat habe ich keine, weder geographisch noch politisch, ich habe nur meinen Zynismus. Wie alle Laster schwächt er den Körper, aber er schärft den Geist. Man wird toleranter, aber unnachsichtiger für die Dummheit, für Vorurteile, vor allem für gelehrte Dummheit und politische Vorurteile … Das Alter hat mich so entartet, daß ich die Gläubigen zu verstehen suche, aber die Dogmatiker mit um so größerem Nachdruck verfolge.« 4 Da es ihm aber sein ganzes Leben hindurch ernsthaft um dichterische Qualität gegangen ist und er den Schund verachtet hat, schrieb er auch ein Buch über Vergessene und Verkannte. 5 Hermann Broch, als einfühlsamer Kritiker so groß wie als einfühlsamer Autor in alles Menschliche und Dichterische, hat abgesehen von eigenen Büchern über Joyce und Hofmannsthal vor allem durch Rezensionen auf zahlreiche Autoren aufmerksam zu machen versucht, von denen es einige, wie Ernst Weiss, Leo Perutz und H. G. Adler auch geschafft haben, einen bedeutenden Ruf zu erwerben. Aber sein Freund Robert Pick, ganz zu schweigen von dem Tschechen Frána Šrámek oder dem Künstlermonographen Franz Ferdinand Baumgarten, der über das übliche Künstlermonographische weit hinaus gewachsen war, oder von Prentice Mulford, den meine unvergeßliche Mutter so geschätzt hat, sind heute so unbekannt, daß nur ganz wenige Kenner vereinzelt von ihnen überhaupt noch wissen. Brochs Hinweis auf den frühen Roman Balthasar Typho von Hans Flesch aber, kaum weniger unbekannt, hat im Grunde wieder neue Aktualität gewonnen. Im Grunde besteht ein großer Teil der gesamten kritischen und literarhistorischen Arbeit aus einem »fortwährenden Ineinander und Nebeneinander von Selektionsprozessen.« 6 Vor kurzem wechselte ich durch Zufall einen Brief mit einem ebenso bedeutenden wie weitgehend verkannten österreichischen Lyriker, Klaus Demus, Verfasser von einem Dutzend Gedichtbänden, Freund von Paul Celan, von anderen Lyrikern wie etwa Kurt Klinger oder Walter Höllerer durchaus wahrgenommen, der - wie allerdings auch so manche andere - im Grunde ein Kapitel im vorliegenden Buch verdient hätte. Und gerade jetzt, da ich dies schreibe, tauchen gleich einige weitere Namen in meinem Gedächtnis auf, die hineingehört hätten, wie Alfred Gong, Rolf Schott oder Harald Zusanek. Die Kapitel dieses Buches sind vielfach durch Zufall entstanden und gleichen - um eine 4 Hans Heinz Hahnl: Hexeneinmaleins. Wien 1993, S. 92 f. 5 Hans Heinz Hahnl: Vergessene Literatur. Op. cit. 6 Wilfried Barner: Wirkungsgeschichte und Tradition. In: Gunter Grimm: Literatur und Leser. Stuttgart 1975, S. 99 <?page no="10"?> Vorwort X Metapher Arthur Koestlers zu gebrauchen - einzelnen Ziegeln, die zum literarhistorischen Turmbau von Babel hinzugelegt werden. Hier Vollständigkeit anstreben zu wollen, wäre die Aufforderung zu einer Sisyphosarbeit. Das bisher Gesagte impliziert bereits, daß es im Zusammenhang mit vergessenen und verkannten Autoren eine gewisse Relativität gibt. Ja, im Grunde genommen, gibt es nicht nur eine, sondern mehrere Arten von Relativität. Da ist zunächst einmal die kontextuelle Relativität. Sie spielt bei den Kapiteln dieses Buches insofern eine Rolle, als es einen Unterschied macht, ob man verkannte Autoren im Zusammenhang mit der Weltliteratur oder mit einzelnen Nationalliteraturen betrachtet. Bei den hier besprochenen dreizehn österreichischen Autoren ist die Bedeutung von dieser kontextuellen Relativität her gesehen durchaus verschieden groß. Hermann Broch etwa gehört unbedingt zu den weltliterarisch bedeutsamen Autoren. Dagegen verdient ein Autor wie Ferdinand von Saar in erster Linie zweifellos eine weit größere Bekanntheit im Rahmen der deutschsprachigen Literatur. Eine zweite Art von Relativität betrifft den jeweiligen Grad des Unbekannt- oder Vergessenseins. Eine Rose Ausländer ist zweifellos bekannt, aber noch nicht bekannt genug. Dagegen ist ein Autor wie Erich Pogats so gut wie vollkommen in Vergessenheit geraten. Arthur Koestler ist in vieler Hinsicht nach wie vor ein weltbekannter Autor, doch hat er durch seine Hinwendung zur Parapsychologie einem mittleren Heer von Gegnern ein Scheinargument geliefert, seine Seriosität in Frage zu stellen. Nicht nur unter den Gegnern, sondern auch unter den Anhängern der Parapsychologie hat er sich eine Menge Feinde gemacht. Kurt Klingers Stellung als Dramatiker scheint mir nach wie vor gefestigt zu sein, doch der Lyriker Klinger ist weithin unbekannt. Bei den Kapiteln über einzelne Autoren könnte man fragen, ob und inwieweit denn Hermann Broch heute zu den vergessenen oder verkannten Autoren zählt. Leider habe ich mehrfach die Erfahrung machen müssen, daß es so ist. In einem Lexikon der österreichischen Exilliteratur erhielt er für den Artikel selbst über ihn nur die Hälfte der Zeilenzahl eingeräumt, welche man für die eher obskure Autorin Eva Brück bereithielt, die zudem nicht einmal eine wirkliche Österreicherin ist. 7 Als ich aber vor kurzer Zeit für die Zeitschrift Gnostika einen Aufsatz über Hermann Broch schrieb, ersuchte mich der sehr sachkundige Herausgeber um einen allgemeinen Vorspann, um Broch vorzustellen, da viele seiner Leser ihn nicht kennen würden. Während das erste Broch-Kapitel über Broch und den Tod des Vergil dem Aspekt des Vergessenwerdens Rechnung trägt, ist das zweite Broch-Kapitel über 7 Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser (Hg.): Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien o. J. (= 2000), S. 113 f. und 119 ff. <?page no="11"?> Vorwort XI den Gnostiker Hermann Broch ganz auf den Aspekt des Verkannt Werdens hin ausgerichtet. Ich bin überzeugt davon, daß solche Bücher über Vergessene und Verkannte eine durchaus positive Funktion haben, auch wenn es oft ein ganzes Jahrhundert braucht, ehe sich die Dinge zu einem im Wesentlichen gerechten Kanon einpendeln. Das größte Wirrwarr herrschte schon immer vor allem über die jeweilige Gegenwartsliteratur. Es mag auch späterhin Ausnahmen von der Regel geben, aber für die Regel gilt doch - wenngleich es mitunter viel länger war, daß es nur eine Generation dauerte. »Erst eine Generation nach dem Tode des Autors fällt gewöhnlich die schwerwiegende Entscheidung, ob seine dichterische Substanz 8 nun eigentlich ausreicht, die Zeit, in der er lebte und wirkte, zu überdauern. Dieser Ausleseprozeß ist unerbittlich aber gerecht.« 9 Abgesehen davon, daß es auch hier Ausnahmen von der Regel gibt, kommt es darauf an, wie weit man in die Zukunft zu blicken vermag und an welche Nachwelt man denkt. Der Größte von allen im deutschsprachigen Raum, Goethes, der in seiner eigenen Lebenszeit in mancher Hinsicht so unbekannt und unverstanden war, daß ein eigenes Buch über die Anti-Goethe-Kritik der Goethezeit mit dem Titel Der unbegabte Goethe erscheinen konnte 10 , war manches Mal auch der Nachwelt gegenüber skeptisch, worauf Hans J. Schütz aufmerksam gemacht hat. Heine hat jedenfalls mit Recht gefürchtet, daß man nach der Verwirklichung des Kommunismus die Buchseiten mit seinen Gedichten nur mehr zum Einwickeln von Butterbroten benützen würde. Hermann Broch aber hat seinem Freund Schönwiese gegenüber das Kommen einer Zeit prophezeit, in welcher Literatur überhaupt nur mehr ein museales Kuriosum darstellen würde und gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß mit der Herrschaft des Computers die dichterische Imaginationskraft der Autoren ebenso wie die ästhetische Urteilskraft der Kritiker verkümmern könnte. Die sogenannte »experimentelle Lyrik«, der Roman nouveau und das Regietheater sind die ersten Schritte in dieser Richtung. Es ist kein Zufall, daß man nicht mehr von Dichtungen, sondern nur mehr von »Texten« redet. Dennoch kann vorläufig mein Buch noch erscheinen und dennoch möchte ich mit dem letzten Satz von Karlheinz Deschner im Vorwort seines hier zitierten blendenden Buches schließen: »Ich vertraue auf den kritischen Leser.« 8 Zu dieser »Substanz« vgl. Joseph Strelka (Hg.): Problems of Literary Evaluation. University Park and London 1969 9 Gustav Sichelschmidt: Die geistige Lebensdauer der Bücher. In: Börsenblatt des Deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main, Nr. 20/ 1964, S. 1033 10 Diese Sammlung von Kritiken wurde von Leo Schidrowitz besorgt, der das Buch in seinem eigenen Verlag in Wien, ohne Jahresangabe, herausbrachte. <?page no="13"?> Ferdinand von Saar Portraitist der alten Donaumonarchie Ähnlich wie bei Rilke gibt es auch in Saars Familientradition eine niemals wirklich bestätigte Legende von einem aristokratischen Vorfahren. Dieser weit zurückliegende Vorfahr hieß Johann Michael Saar, der zusammen mit dem ganzen tschechischen Adel nach der Schlacht am Weißen Berg hingerichtet werden sollte, der aber fliehen hatte können und ein neues Leben in Traiskirchen begründet hatte. Der späte Saar hatte noch in seiner Döblinger Wohnung auf seinem Schreibtisch neben lateinischen Lexika und einem medizinischen Werk auch ein deutsch-tschechisches Wörterbuch liegen. Seine Haushälterin aber, Frau Musil, hatte er sich aus Mähren mitgenommen und rief sie »Musilek«. Feststehende Familiengeschichte ist es dann allerdings, daß zwei Brüder Saar, welche die erbliche Poststation in Traiskirchen besaßen, vom Kaiser in den Adelsstand erhoben worden waren. Saar selbst wurde bereits in Wien und zwar »auf der Laimgrube« (Am Getreidemarkt) und zwar am 30. 9. 1833 geboren. Saars Vater, Hofrat und Geschäftsmann, starb bereits wenige Monate nach der Geburt des Sohnes. Dieser wurde sofort der Abgott der Mutter, die mit ihm als Witwe zu ihrem Vater zog. Der Kleine war einerseits ein schlechter Schüler, andererseits aber von einem brennenden Lesehunger besessen. Er besuchte das berühmte Schottengymnasium zur Zeit der Konkordatskämpfe, die zu erbitterten Prügeleien zwischen katholischen und protestantischen Schülern führten. Aber des Katholiken Saar bester Freund war sein protestantischer Mitschüler Grewe. Er war indessen überhaupt nicht sehr an der Teilnahme jeglicher Art von Gruppen interessiert, sondern neigte von Kind auf zur Einsamkeit. So beginnt sein Gedicht »Mein Los« mit den Versen »Das aber war’s, daß ich mein ganzes Leben / In tiefster Seele einsam mußte schreiten.« Und als der Döblinger Männergesangsverein bei seinem Begräbnis einen Chor sang, da war es Engelsbergs Vertonung von Eichendorffs Gedicht »Der Einsiedler«. Gewiß hatte der Männergesangsverein dieses Lied darum gewählt, weil es mit der stillen Nacht als Trost der Welt beginnt und in einen Ausblick auf das »ewige Morgenrot« ausmündet. Aber daß es gerade ein Einsiedlergedicht war, ist einer jener Zufälle, deren Beschreibung durch Schopenhauer auf Saar selbst tiefen Einfluß gehabt hatte. Im Jahre 1848 erlebte er als fünfzehnjähriger Zuschauer den Ausbruch der Revolution in der Herrengasse. Die erste Salve des Militärs trieb ihn jedoch nach Hause in die Berggasse. Ein Jahr später trat er auf Anordnung seines <?page no="14"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 2 Vormundes freiwillig als Kadett, das heißt als Offiziersanwärter, in die Armee ein. Die Mutter besaß einfach nicht die Mittel, den Sohn bis zum Studienabschluß zu erhalten. Saar war mit 21 Jahren Leutnant und nahm sechsundzwanzigjährig seinen Abschied. Im Hinblick auf Pünktlichkeit und Disziplin blieb er lebenslang der militärischen Erziehung verhaftet, doch war er in keiner Weise kriegerisch und es ist kein Zufall, daß es keine Kriegslieder von ihm gibt. In seiner Lyrik feierte er als die höchsten Werte Dichtung und Musik und in einigem Abstand davon Schauspielkunst und die bildenden Künste. In seiner Armeezeit führte er mitunter absichtlich selbst einen Grund zur Bestrafung herbei, damit er Hausarrest erhielt und anstatt auszurücken, an seinen Dichtungen arbeiten konnte. Sein Gehalt war so niedrig, daß er oft damit nicht auskommen konnte. Als er einmal im Gasthaus Schulden machte und zugleich weder den Schuster noch die Waschfrau bezahlen konnte, drohte ihm sein Oberst mit der Entlassung. Mit einem Offizierskameraden - dem späteren Dichter Stephan Milow - besuchte er fast täglich das Burgtheater oder die Oper, wo ihnen als Offiziere besonders billige Stehplätze zur Verfügung standen. Sie unterhielten sich auch oft über Dichtung und mitunter nahm an diesen Gesprächen auch ein dritter Kamerad teil. Dieser war es, der Saar auf Schopenhauer aufmerksam machte, und Schopenhauer sollte nur allzubald zum philosophischen Leitgestirn seines Lebens werden. Schopenhauer lehrte, daß unser Leben nichts anderes als ein endloses Leiden ist. Aber diese Erkenntnis ist nach ihm nur möglich, wenn wir das Leben und alles Lebendige lieben, denn Liebe ist weitgehend identisch mit Mitleid. Schopenhauer war es auch, welcher der Kunst und natürlich auch bedeutender Dichtung durch deren Kontemplation und Kraft der Imagination die einmalige Funktion zuwies, die zeitlosen Ideen und damit das Wesen der Welt zu erfassen und darzustellen. Dies alles entsprach Saars eigenen Vorstellungen und Empfindungen. Schon der Held von Saars erster Novelle, Innocens, ist durchaus eine Gestalt im Sinne Schopenhauers: Ein gütiger und milder Pfarrer auf der Wyschehrader Zitadelle in Prag, die Saar von seiner Stationierung in Prag her sehr gut kannte. Was dieser Innocens nicht nur predigt, sondern auch lebt, ist verstehendes Verzeihen und wortlose Opferfreudigkeit, die aus einer Entsagung entstammt, die das Ergebnis tiefster Selbst- und Welterkenntnis darstellt. Schopenhauers Einfluß prägte Saars Werke sein ganzes Leben hindurch. In seinen ganz späten Gedichten bricht geradezu ein Lebensekel durch und er beklagt in hoffnungsloser Trauer die Leiden der Menschheit. Einmal aber meint er, daß sich in den Werken von Darwin und Schopenhauer das gesamte Drama der Menschheitsentwicklung spiegle. <?page no="15"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 3 Mitunter allerdings klingt auch etwas Hoffnung für spätere Zeiten auf wie etwa in dem erstaunlich prophetischen Sonett »Judäa« aus dem Jahr 1859, in dem er den Staat Israel als gelungenes Entkommen des jüdischen Volkes aus seines Schicksals dunkler Flucht beschwört. Wie auch in den traurigsten und negativen Charakteren seiner Novellen zumeist noch ein rettender Seelenfunke sichtbar wird. Der frühe Saar, der als Leutnant in Prag diente, schrieb unreife Lyrik, die von Lenau beeinflußt war. Hier in Prag keimte auch seine Liebe zur Tochter eines Beamten auf, deren Name Elisabeth noch lange durch sein Schaffen gehen sollte. Auch Elisabeth hat ihn ihrerseits zweifellos sehr geliebt, denn sie schickte einmal der von Saar vergötterten Mutter ein Bild von sich und ein anderes Mal selbstgestickte Teppiche. Von der Armut des Leutnants Saar kann man sich aber eine Vorstellung machen, wenn man erfährt, daß er der Heißgeliebten einmal durch die Straßen Prags aus der Ferne folgte, bis er an der Moldau nicht weiter konnte. Sie war über die Brücke gegangen und er besaß nicht einmal den einen Kreuzer, der als Brückenzoll eingehoben wurde. In der ersten Fassung seines Dramas Tempesta, das damals noch den Titel Der Borromäer trug, ist der Name der Heldin Elisabeth. Der damalige Direktor des Burgtheaters Heinrich Laube wies das Stück zurück. Obwohl damals längst aus dem Militärdienst ausgeschieden, wurde Saar noch immer von Gläubigern aus seiner Leutnantszeit bedrängt, so daß diese Zurückweisung ein arger Schlag für ihn war. Er hatte in der Preßgasse im vierten Wiener Gemeindebezirk ein winziges Zimmer gemietet, zu dem allerdings auch ein kleiner, verwitterter Gartenpavillion gehörte. Seine Mahlzeiten mußte er sich selber bereiten. Trotz Saars Mißerfolg mit dem Borromäer ließ er nicht ab vom Verfassen von Dramen. Es folgten die Stücke Eine Wohltat, Die schönen Geister und Kaiser Heinrich IV. Obwohl ein Dramenkenner wie Jakob Minor erklärt hat, daß unter den mehreren Dutzend dramatischer Gestaltungen der Figur Heinrichs IV. das Stück von Saar das bedeutendste war und obwohl Grillparzer es ein »Meisterwerk« nannte, hatte er auch damit kein großes Glück. Es kam zu keiner Aufführung und auch der Druck wurde von vier großen Verlagen abgelehnt. Nur durch die Vermittlung seines Freundes Milow konnte er das Drama beim Heidelberger Sortimenter und Klein-Verlag Georg Weiß unterbringen. Die dauernden Mißerfolge mit seinen Dramen stürzten Saar in immer größere finanzielle Schwierigkeiten. Es gab nicht nur Wechselklagen und Pfändungen, sondern sogar auch Schuldhaft. Das heißt, daß der Mensch, dem Saar Geld schuldete, ihn ins Gefängnis werfen lassen konnte, um ihn zu zwingen, die Schuld zu bezahlen. Da aber Saar überhaupt kein Geld besaß, half auch dieser Zwang nichts. Zudem mußten die Gläubiger für die Kosten seines Essens im Gefängnis aufkommen: fünfzig Kreuzer täglich. Also wurde Saar so- <?page no="16"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 4 dann »Arrestausgang ohne Wachebegleitung« bewilligt, und war nur symbolisch im Gefängnis. Seine Figur Heinrichs IV. ist denn auch der edle und gerechte Mann, der zwar äußerlich Gregor VII. und Heinrich V. unterliegt, der aber eigentlich den inneren, moralischen Sieg davon trägt. Saar begann ein neues Drama zu schreiben, das Trauerspiel Thassilo. Um den Exekutionsklagen und Pfändungen zu entrinnen, flüchtete er in den Böhmerwald. Aber es gab nicht nur äußere Hindernisse durch seine Zufluchtsplätze, sondern auch innere bei der Entwicklung dieses historischen Dramas über den Bayernherzog aus der Karolingerzeit. Also wollte er sich einem neuen Dramenstoff zuwenden über die Brüder De Witt aus Südafrika. War er zunächst trotz aller anhaltenden Armut froh gewesen, den »Gläubigern und der literarischen Genossenschaft« in Wien entronnen zu sein, so stürzte ihn nun die Unfähigkeit mit seinen beiden neuen Entwürfen über Thassilo und die Brüder De Witt selbst weiter zu kommen, in düstere Bitternis. Hierbei half es auch nichts, daß ihm die Baronin Knorr ein Asyl verschafft hatte: Er wohnte beim Pfarrer von Stiebar und nahm seine Mahlzeiten bei der Baronin ein. Eine erste äußere Rettung kam durch seinen alten Freund Stephan Milow, der ihm durch seine Schwiegermutter eine Ehrengabe des Fürsterzbischofs von Seckau Graf Attems vermittelt hatte. Ein weiterer Schritt im Hinblick auf seine Rettung war, daß er begonnen hatte, sich mit der Arbeit an einer neuen Novelle, der Marianne zu beschäftigen. Der endgültige Wendepunkt, aus der tiefsten erreichten Stufe des praktischen Lebens wie der dichterischen Schöpferkraft heraus zu kommen, setzte aber ein, als er 1870 den erkrankten Dichter und neuen Feuilletonredakteur der Neuen Freien Presse Moritz Hartmann in Döbling besuchte und in dessen Krankenzimmer zum ersten Mal Josephine von Wertheimstein begegnete. Sie sollte seine endgültige Retterin werden. Josephine von Wertheimstein stammte aus Brünn und war als Gattin des Prokuristen von Rothschild nach Wien gekommen. Sie hatte schon früh in ihrem Haus in der Singerstraße den Mittelpunkt eines Salons von Dichtern, Künstlern und Gelehrten gebildet, in dem Grillparzer und Moritz von Schwind, Bauernfeld und Moritz Hartmann, Joseph Unger und Rubinstein verkehrt hatten. Noch in ihrem Alter hat sie die Faszination und Bewunderung des jungen Hofmannsthal erregt. Sie war nicht nur eine Schönheit, sondern auch eine verblüffende Kennerin menschlicher wie künstlerischer Qualitäten. Nicht nur Vertreterinnen der Hocharistokratie verkehrten mit ihr wie Gleich zu Gleich, sondern sie hatte auch in Paris zum Freundeskreis des vielleicht größten Novellisten Europas Prosper Merimée gehört. Der Tod ihres einzigen Sohnes traf sie so hart, daß sie durch drei Jahre nahezu keine Nahrung aufnahm und es nur der Kunst ihrer alten Mutter und eines bedeutenden Psychiaters gelang, sie am Leben zu erhalten und eine körperliche Erholung herbei zu führen. <?page no="17"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 5 Innerlich war sie jedoch durch diesen Schicksalsschlag so gereift, daß sie noch weiser und noch mehr Anteil nehmend geworden war fremdem Leid gegenüber und noch aufgeschlossener und hilfsbereiter als zuvor. Als sie Saar zum ersten Mal begegnete, war sie noch in der Zeit ihrer Rekonvaleszenz, aber aus dem abgemagerten, bleichen Antlitz blickten Augen voll innerer Glut und voll von Mitgefühl. Die Frau aus dem Freundeskreis von Merimée hatte Saars Novelle Innocens gelesen und schätzte sie sehr. So wurde er eingeladen, anwesend zu sein, als sie einem kleinen Kreis von nahen Bekannten eine Reihe ihrer eigenen Gelegenheitsgedichte vorlas. Saar war ehrerbietig ihrer Einladung gefolgt. Als sie ihn in dem berühmten Gewächshaus ihres Parks empfing, vermeinte er, in eine Zauberwelt zu treten. Bald fragte sie ihn gelegentlich nach seinem Urteil und seinem Rat über ihre durchaus bedeutenden Gedichte. Es hat einen tiefen Sinn, daß Saar gerade seine Novelle tiefsten Mitleids und menschlichster Anteilnahme Die Steinklopfer ihr gewidmet hat. Im Widmungsgedicht an sie vergleicht er seine eigene menschliche Not, seinen Kummer und sein Dulden mit jenem des harten Lebens der Steinklopfer. Frau von Wertheimstein aber sollte er eine ergreifende Grabrede halten. Mit dem Eintreten Josephine von Wertheimsteins in sein Leben beginnt sich auch langsam die Blockierung seines Schöpfertums zu lockern. Zugleich damit treten zwei wichtige Autoren durch ihren Einfluß in sein geistiges Leben und es scheint durchaus charakteristisch für den Österreicher Saar, daß der eine der beiden ein romanischer Dichter ist, der Franzose Prosper Merimée, der andere aber ein slawischer Dichter, der Russe Iwan Turgenjew, beide Autoren von Novellen. Der frühe Einfluß Schopenhauers aber, vor allem seine Mitleidsethik und seine Metaphysik der Geschlechtsliebe treffen Saar nun auf einer höheren Ebene. Wenn er schon 1860 in seinem nach dem Tod des Philosophen geschriebenen Gedicht an Schopenhauer in der dritten Strophe geschrieben hatte: Doch stets auch flüchtet immer zu dir noch hin Das Leid der Edlen, segnen Befreite dich, Die du empor geführt im Leben Zu der Erkenntnis erhab’nen Gipfel dann stimmt dies nun in einem weiter vertieften Sinn. Aber auch die Hilfe seines Freundes Stephan Milow setzt nun in weiter gehender Weise als bisher ein. Denn dieser hatte aus Krankheitsgründen die Armee verlassen, lebte nun mit Frau und Kindern auf seinem kleinen Gut in Ehrenhausen in der Steiermark und lud Saar ein, in einem kleinen Gästehaus neben dem Haupthaus zwei Monate zu verbringen. Nach der Heimkehr von diesem Aufenthalt nach Döbling begannen die durch Josephine von Wertheimstein veranlaßten Einladungen zu <?page no="18"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 6 Soirées und Abendgesellschaften großen Stils, wo er Regierungsmitgliedern, Autoren, berühmten Schauspielern und Finanzgrößen begegnete. Er war bezaubert und deprimiert zugleich, da er fühlte, daß er im Grunde doch nicht dazu gehörte. Dabei wußte er aber andererseits dennoch genau, daß er ein wirklicher Künstler war und es hat ihn sehr verärgert, wenn er das eine Mal etwa hörte, daß der gleichaltrige Robert Hamerling, damals mit seinem Epos Ahasver in Rom gefeierter Bestsellerautor, »alle jetzt lebenden Schriftsteller überragt« oder etwa ein anderes Mal hören mußte »Shakespeare, Goethe, Hamerling, Makart stehen in einer Reihe«. Ja, einmal äußerte er: »Von der literarischen Welt hab’ ich mich überhaupt schon längst zurückgezogen und bewege mich nur mehr in der sogenannten guten Gesellschaft, wo man doch hin und wieder auf anständige Menschen trifft und auf gescheite Köpfe, die einem wenigstens aus Klugheit und Takt Achtung und Ehre erweisen.« Es war also so wie immer schon in Wien, wo auch heute viele der gefeierten Größen bestenfalls Mittelmaß und viele der wirklichen Dichter der Zeit verkannt sind. Schließlich aber kam der Tag, es war im August 1871, an dem der Anfang des endgültigen Endes von Saars bitterer sozialer Not eintrat und natürlich fiel eine Hauptrolle Josephine von Wertheimstein zu: Zwei anonyme Briefe waren an sie und ihre Schwägerin gerichtet worden. Der unbekannte Briefschreiber berichtete ihnen, daß sich Saar an ihn mit der Bitte um ein Darlehen von fünfbis sechshundert Gulden gewendet hätte. Da er selbst nicht über solche Mittel verfüge, andererseits aber auch nicht wollte, daß Saar in die Hände eines Wucherers falle, wende er sich an die beiden Damen, von deren Freundschaftsbeweisen Saar so enthusiastisch berichte, mit der Bitte zu helfen. Josephine von Wertheimstein beschied daraufhin Saar zu sich und das Ende der Not war angebrochen. Es ist wohl nicht zufällig die Zeit, in welcher er von der Arbeit an seiner zweiten Novelle Marianne berichtete, er hätte sie »nun endlich einmal beim rechten Zipfel erwischt«. Die autobiographischen Züge standen wohl von Anfang an fest wie auch die Technik der Briefnovelle. Der »Zipfel« könnte sich am ehesten auf den Schluß der Novelle beziehen, von dem die Herausgeberin des Bandes dieser Novelle in der großen kritischen Saar-Ausgabe wohl mit Recht angenommen hat, daß mit jenem Schluß, in dem Marianne in den Armen des Geliebten beim Tanz einem Herzschlag erliegt, von Saar eine Anspielung auf den Mythos der Vertreibung aus dem Paradies gemeint war. Auch hier kommt Schopenhauer zum Tragen, denn nach ihm ist das menschliche Leiden nicht eine Folge der Fehler und Sünden, die selbst in diesem Leben begangen worden waren, sondern ist im Grunde eine Folge der Erbsünde und den durch sie herbeigeführten Verlust des Paradieses. <?page no="19"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 7 Einer der härtesten Schläge im Leben Saars war der Tod der geliebten Mutter am 1. Juli 1872, die zehn Tage lang unter entsetzlichen Schmerzen bei vollem Bewußtsein - dazu in den letzten drei Tagen erblindet - qualvoll verstarb. Saar hat nicht nur lange darunter gelitten, sondern noch zehn Jahre nach diesem Tod hat er seinem nach wie vor heftigen Schmerz Ausdruck in seinem Gedicht »Dem Andenken meiner Mutter« verliehen. In den Charakteren der Tante Lotti in seiner Novelle Schloß Kostenitz wie auch der Mutter Mattusch in seinem Werk Hermann und Dorothea, das obwohl in Hexametern geschrieben eine andere seiner Novellen aus Österreich ist, hat er dem Andenken seiner Mutter ein bleibendes Denkmal gesetzt. Der Sammeltitel Novellen aus Österreich bezieht sich auf die zuletzt nicht weniger als sechs Teile von vielen Novellen, für die es kaum einen besseren Titel geben könnte. Diese Novellen spielen nicht nur in österreichischen Städten und Landschaften, sondern sie sind geradezu eine Art comédie humaine Autrichienne im Sinne Balzacs, die einen Querschnitte durch alle österreichischen Charaktere geben. Saars eigene »Entdeckung« Österreichs, wenn man so will, erfolgte auf seiner Reise nach Italien, die er gemeinsam mit seinem Freund Stephan Milow im Herbst 1873 unternommen hatte. Sie führte von Venedig über Bologna, Florenz, Rom und Neapel nach Pompeji und sie erschloß ihm ein ganz anderes Italien als jenes, das er sich im Krieg von 1859 in Venetien und der Lombardei als Offizier ermarschiert hatte. Wie ihn aber zunächst seine Sehnsucht nach Italien getrieben hatte, so trieb sie ihn trotz all der tiefen Eindrücke nach fünf Wochen wieder nach Hause. Bewußt wandte er sich nun der dichterischen Darstellung von Menschen und Begebenheiten Österreichs zu, den »heimatlichen Fluren« wie er es in seinem Gedicht »Italia« beschrieben hatte. Das »nach Hause« im engeren Sinn aber war seit 1872 nicht mehr nur Ehrenhausen oder die Villa Wertheimstein in Wien, sondern auch immer wiederum Schloß Blansko in Mähren, wohin ihn die Fürstin Elisabeth Salm, eine geborene Prinzessin von Liechtenstein, eingeladen hat. Es war allerdings in Ehrenhausen, wo er seine beiden nächsten Novellen abschloß: Die Steinklopfer, die das Schicksal des harten Loses von Erdarbeitern schildert, von denen der eine durch Notwehr einen Totschlag begeht, und nach abgebüßter Strafe sein Leben als Bahnwärter beschließt, die andere, Die Geigerin, die durch grenzenlose Liebe sich in Schuld verstrickt und zuletzt, nachdem sie aus Verzweiflung einen heruntergekommenen Baron geheiratet hat, den Freitod in der Donau sucht. Saars fünfte Novelle, Das Haus Reichegg, bildet mit den vier ersten zusammen den ersten der späteren sechs Teile seiner Novellen aus Österreich. Hier ist es eine Gräfin, die ihren Gatten und ihre Tochter um eines leichtlebigen Rittmeisters außer Dienst verläßt und die zuletzt völlig herunterkommt. <?page no="20"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 8 Schon dieser erste Teil zeigt, daß er in seinen Novellen ein ebenso genaues wie lebendiges Bild der österreichischen Menschen zeichnete und dabei so zeichnete, daß ihrer Darstellung der Stempel seiner eigenen Persönlichkeit tief aufgedrückt ist. Aus diesem Grund hat sein erster Biograph Anton Bettelheim erklären können, daß sein Ich nicht weniger ausgiebig als seine Lyrik auch seine Novellen beherrsche. Als er sein nächstes Drama, Die beiden De Witt, abgeschlossen hatte, wurde es zuletzt trotz der verlangten und durchgeführten Umarbeitung doch wieder abgelehnt. Eine seiner aristokratischen Gönnerinnen, die Fürstin Marie zu Hohenlohe, die großes Kunstverständnis besaß, fragte ihn, weshalb er »nach Bühnensiegen strebe«, statt seiner eigenen Begabung entsprechend sich dem Erzählen und der Lyrik zu widmen. Saar antwortete, daß es abgesehen von dem, was er als seine dramatische Anlage betrachte, vor allem der »materielle Erfolg« sei, den er noch immer suchen müsse. Im Jahr 1879 wurde eine jener Spätvariationen der Elogen und Preisdichtungen des Humanismus in der Hofoper aufgeführt, wie sie sich am Habsburgerhof durch die Jahrhunderte gehalten hatten und zu deren Abfassung Saar durch die Vermittlung seiner hocharistokratischen Gönnerinnen eingeladen worden war. Die erste dieser Lobpreis-Dichtungen trägt den Titel »An der Donau« und wurde für den Anlaß der silbernen Hochzeit des Kaiserpaares geschrieben. Saar, der sich durchaus des historischen Ursprungs jener Spektakel bewußt war, wollte zunächst Kaiser Maximilian und Maria von Burgund auftreten lassen, doch wurde ihm das untersagt, da Mitglieder des Kaiserhauses nicht redend und handelnd auf der Bühne auftreten durften. So machte er notgedrungen eine leblose Allegorie mit dem Namen »Austria« zur tragenden Figur. Er hat immerhin noch erträgliche Verse geschaffen, so etwa, als er durchaus realistisch der altgriechisch-mythischen Figur des Demiurgos die Prophezeiung über Österreich in den Mund legte: Fürder und fürder sollen indessen Irren und schwanken, Ringen und streben, Leiden und dulden die Völker der Erde - Deines mit ihnen. Das waren keine bombastisch leeren Phrasen und es spricht auch für den Kunstsinn der Gönnerinnen, daß sie auf Saar beharrten. Im Januar 1881 heiratete er Melanie Lederer, eine Schwester Dr. Moritz Lederers, der zuvor stellvertretender Bürgermeister von Wien gewesen war. Melanie besaß eine gut bezahlte Stellung auf Schloß Blansko. Das Ehepaar <?page no="21"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 9 bezog ein Nebengebäude des Schlosses. Es gab fröhliche Stunden für Saar im Schloß, wenn er mit den Söhnen und Töchtern der Fürstin oder für diese Theater spielte oder auch einmal eine eigens dafür abgefaßte Operette aufführte. In jene Jahre des Glücks fällt auch Saars Zeit mit seinem geliebten Hund, den er durch seine Novelle Tambi bekannt gemacht hat. Das Glück währte indessen nur dreieinhalb Jahre. Saars Gattin litt unter manisch-depressiven Störungen und legte im Juli 1884 in einem Anfall von Melancholie Hand an sich. Hatte Saar zunächst als Abschlußgedicht seiner Lyrik die Verse »Am Grabe meiner Mutter« gewählt, so fügte er diesen nun als endgültiges Abschlußgedicht diese Verse »Melanie« an, in denen es heißt: »Wenngleich dein Irdisches zu Staub vermodert, / Ich weiß es, daß dein Geist mich stets umschwebt.« In jene Zeit des Glücks war Saars Veröffentlichung seines ersten Lyrik-Bandes gefallen, der den einfachen Titel Gedichte trug und den Untertitel »1860-82«. Kaum etwas könnte den Band besser schlagend beschreiben als das ursprünglich als Titel geplante Grillparzer Zitat »Gelöste Teile sinds von meinem Leben.« Ohne einheitliche äußere Form - die Gestalt der Verse reicht vom Fragment eines Sonettenkranzes bis zu freien Rhythmen - werden diese Gedichte als persönliche Konfession von Stimmungen, von Bildern, von Personen, von Anlässen zu einer Einheit zusammen gehalten. Ernsten und bitteren Betrachtungen stehen dabei durch Mitleid bestimmte, tröstliche Züge gegenüber. Nach dem Tod seiner Gattin nahm Saar zunächst als erstes jene Einladung an, die ihm die größte Einsamkeit zu versprechen schien. Sie kam von der Baronin Knorr, die selbst dichtete und die selbst Familientrauer hatte. Da er aber die Flucht in die Arbeit als beste Hilfe und besten Trost kannte, ging er bald darauf nach Schloß Blansko zurück. In diesen Jahren entstanden zwei seiner schönsten zugleich aber auch traurigsten Novellen: Leutnant Burda und Seligmann Hirsch. Leutnant Burda ist ein durch fantastisch falsche Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen so verblendeter Offizier, daß er sich trotz seiner zutiefst pflichtgetreuen Haltung selbst in einen tödlich ausgehenden Zweikampf treiben läßt und zuletzt von seinem Duellgegner in unfairer Weise getötet wird. Schopenhauers Abhandlung »Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen« mit seinen scharfen Beobachtungen über eine bestimmte Art von Zufällen spielt hier eine große Rolle, eine Thematik, die im folgenden Jahrhundert besonders Arthur Koestler beschäftigen sollte. Seligmann Hirsch aber ist ein alter Mann, der schon früh aus der religiösjüdischen Umwelt seiner galizischen Heimat entfremdet nach Wien verschlagen wurde. Durch die nicht verkraftete Assimilation tief unglücklich reagiert er durch Aufdringlichkeit und Taktlosigkeit, durch welche er seiner Umwelt auf die Nerven fällt. Trotz der Kürze gibt die Novelle den Überblick über ei- <?page no="22"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 10 ne breite Skala jüdischen Unheils und der jüdischen Reaktionsweisen auf die Unterdrückung. Im Fall des alten Seligmann wird er seinen eigenen, assimilierten, reichen und vornehmen Kindern zu viel, so daß sie ihn nach Venedig abschieben in die Obhut einer wohlhabenden Familie, die sich um ihn sorgt. Er leidet aber so sehr unter der ihm aufgezwungenen Trennung von seiner eigenen Familie, daß er sich das Leben nimmt. Die letzte Pointe der Novelle ist der Hinweis auf das körperlich wie geistig »wunderbare Geschöpf« einer voll assimilierten jungen Frau im Tanz mit einem französischen Diplomaten und die letzten sieben Wörter lauten: »Voilà: die Enkelin von weiland Seligmann Hirsch.« Die Subtilität des »österreichischen Porträtisten«, als der er sich sah, zeigte sich jedoch nicht nur in seiner Darstellung der verschiedensten Typen der franzisko-josephinischen Monarchie, sondern umfaßt auch die geistesgeschichtliche und künstlerische Atmosphäre der Zeit. Obwohl gerade in Wien große Gegnerschaft gegen Richard Wagner bestand, gab es doch in vielen Kreisen auch Auswüchse einer Wagner-Hysterie, die für Saar zutiefst fremd und unangenehm war. In seiner Novelle Geschichte eines Wiener Kindes hat er die radikalen Effekte der Melodie von Wagners »Liebestod« auf die Nerven der anwesenden Damen genau beschrieben. Aber es war nicht nur die ungeheure Wirkung Wagners auf die Nerven der Damen, die ihn störte, sondern keineswegs weniger dessen Wirkung im Hinblick auf großdeutsche Ideen und auf den Antisemitismus eines Schönerer. All das hat ihn abgestoßen. Und dennoch gibt es eine ganz bestimmte Seite an Wagner, zu welcher Saar eine gleichsam subkutane, stille Affinität und Zuneigung zu pflegen vermochte und das war Wagners Neigung zu Turgenjew und womöglich noch mehr das Mitleidsthema, das auch Wagner unter dem Einfluß Schopenhauers entwickelt hatte. Aber all das Radikale, Überladene, die Auswüchse des Bürgerprotzentums der Gründerzeit, der Makart-Kitsch, das Anmaßende, Überspannte und Verkrampfte wurden von ihm als abstoßend empfunden. Keineswegs geringer ist seine Subtilität auf dem gattungstechnischen Gebiet der Novelle, von der novellistischen Eröffnung über die kunstvollen Ketten der Pointierungen bis zum sogenannten »Doppelten Boden« durch den sich trotz alles peinlich genauen Realismus ein Spalt ins Übernatürliche oder Übersinnliche öffnet. Bei letzterem hat sich Schopenhauer als sehr hilfreich erwiesen. Eine weitere wichtige Novelle Saars war Schloß Kostenitz, die geichfalls tragisch und düster durch ihre zwischenmenschlichen Spannungen ein Licht auf die Zeit nach der Revolution von 1848 wirft. Die junge, schöne, edle und besonders sensitive Frau eines ältlichen Politikers wird von einem in ihrem Schloß einquartierten jungen Rittmeister als erotisches Opfer ausersehen und obwohl es nicht zur Erfüllung seiner Wünsche kommt, erkrankt sie an <?page no="23"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 11 einer Gehirnhautentzündung, worauf ihr alternder Gatte einem Schlaganfall erliegt. Während zu Saars Lebzeiten seine Novellen in einem eher kleinen Kreis von wirklichen Kennern geschätzt wurden, waren sein großer Publikumserfolg seine Wiener Elegien, die 1893 erschienen. Es ist die Spannung zwischen der Reaktion und dem Liberalismus, die sich in Schloß Kostenitz enthüllt, die Saars Wiener Gedichte zu Elegien macht. Dazu kamen noch sein Schmerz darüber, daß Österreich vom alten, gesamten Römischen Reich Deutscher Nation abgespalten war und seine gemischten Gefühle über die Spannungen zwischen Alt- und Neu-Wien. In den letzteren wurden die sozialen und ethnischen Krisen spürbar, die sich zwischen den verschiedenen Schichten wie Völkergruppen der alten Donaumonarchie anbahnten. Der sensible Saar spürte das Knistern im Gebälk des alten Staates und beugte sein Haupt in Trauer, trotz der Schönheit der Donaulandschaft, trotz der Anmut der Wiener Frauen, trotz des Blühens der Künste, was alles ein tröstliches und manchmal geradezu wonniges Gleichgewicht schafft. Seit Anastasius Grüns Wiener Spaziergängen im Vormärz, etwa ein halbes Jahrhundert zuvor, hat keine lyrische Beschwörung Wiens auf die Wiener so gewirkt. Seine Wiener Elegien haben wesentlich dazu beigetragen, Saars sechzigsten Geburtstag zu einem denkwürdigen Ereignis zu machen, bei dem zum ersten Mal auch Vertreter der jüngeren Generation und »Jung-Wiens«, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, seinem Werk huldigten. Als Saars Novellen aus Österreich in zwei Bänden gesammelt im Jahr 1897 erschienen, trat auch die sogenannte Pincelliade ins Leben, ein eigenartig grotesk-humoristisches Epos, das auf Erinnerungen Saars aus seiner Olmützer Kadettenzeit beruhte. Ein ältlicher, geiziger Regimentsschneider verliebt sich unsterblich und heiratet eine leichtlebige, junge tschechische Kellnerin. Es war in dem »polyglotten Reiche Austria«, in dem der ältliche italienische Schneider die junge Tschechin Sofka kennen lernt. Sie wird zunächst seine treue und hilfreiche Ehegattin, bis ein italienischer Herkules der Kompanie zugeteilt wird. Saar schrieb damit eine Parodie auf die modischen französischen Sittenstücke der Zeit. Ebenfalls 1897 erschienen drei neue Novellen unter dem Titel Herbstreigen. Die erste, »Herr Fridolin und sein Glück«, schildert die tragische Verstrickung eines gräflichen Lakeien mit einer berechnenden, lieblosen Frau. Es war nach Saar eine »Dienstbotengeschichte«, wie sie in den Novellen aus Österreich gefehlt hatte. In der zweiten Novelle, »Ninon«, läßt sich der Held, für den der von Saar besonders geschätzte Leopold von Sacher-Masoch das Modell lieferte, zur willenlosen Marionette einer erotisch aufgeladenen, ehemaligen Schauspielerin degradieren. In der dritten Novelle, »Requiem der Liebe« aber, nimmt die <?page no="24"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 12 keineswegs mehr jugendliche Protagonistin die Komplimente eines alternden Dichters huldvoll entgegen, erwidert bei einem Spaziergang seinen Kuß und betrügt ihn dennoch bei der ersten Gelegenheit mit einem wenig sensiblen, doch strammen Offizier. Von seinen spätesten Novellen ist Dr. Trojan die Geschichte eines medizinisch instinktsicheren Diagnostikers und Therapeuten, der nicht wirklich ein Arzt ist, jedoch als solcher gilt. Er versucht als Autodidakt grundsätzlich alle chirurgischen Eingriffe so lange als möglich hinaus zu schieben. In einer tragischen Verkettung von Zufällen gerade bei der von ihm geliebten Frau erkennt er nicht rechtzeitig einen Milzbrand und ruft den wirklichen Arzt so spät, daß dieser nur mehr den eingetretenen Tod feststellten kann. Worauf sich Trojan mit einer Sichel selbst den Kopf abschlägt. In der Novelle »Die Familie Worel« schildert er den Niedergang einer Familie aus der alten Zeit einer Art von Feudalismus, da sie im Bereich eines Schlosses auf dem Land ein angenehmes, harmonisches und friedliches Leben führt, das durch ihre Abwanderung in die Stadt zerstört wird, in der sich die sozialen Folgen der Industrialisierung als Fluch erweisen. Für die meisten Novellen von Saar gilt, daß sie aus einer subjektiv-persönlichen Perspektive heraus erzählt werden und sich einer Erinnerungsperspektive bedienen, was sie dem Urgrund des Dichterischen von Haus aus nahe bringt. Durch seine künstlerische Gestaltung wachsen sie zu dichterischer Bedeutung empor. Der späte Saar, der keinerlei finanzielle Not mehr kannte, erfuhr auch hohe Ehrungen. Er erhielt den Franz-Josephs-Orden, das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft und wurde nach Grillparzer als erster Dichter in das Herrenhaus berufen, wie die obere Kammer des Parlaments in der Donaumonarchie hieß. Im Jahr 1903 mußte er sich einer Darmoperation unterziehen und der Chirurg erkannte sofort, daß es zu spät war und daß er nur mehr eine vorübergehende Linderung und eine Verlängerung der Lebenserwartung erreichen konnte. Die Fassung mit welcher Saar das neue Leid und dazu den andauernden Blut- und Schleimabgang nach der Operation ertrug, war bewundernswert. Noch in den letzten Monaten seiner Krankheit schrieb er seine letzte Novelle »Die Pfründner«. In dieser Novelle erzählt er, wie zwei Erniedrigte und Beleidigte des Lebens ein gealterter Bürger, durch eine verfehlte Ehe unglücklich und seine einfache und freudlose Magd eine zärtliche Neigung zueinander fassen. Sie heiratet weg, doch Jahre später begegnen sie einander wieder im Armenhaus: beide mit Alterskrankheiten geschlagen und beide durch die Begegnung von der Hoffnung auf ein spätes gemeinsames Glück erfüllt. Da der Mann schließlich eine kleine Rente ausbezahlt erhält, hofft er, mit ihr zusammen der Hölle <?page no="25"?> Ferdinand von Saar. Portraitist der alten Donaumonarchie 13 des Armenhauses entfliehen zu können. Der Neid und die Bösartigkeit ihrer Zimmernachbarn vereitelt jedoch dieses ganz späte, kurze Glück. Der Pfründner wird von einem streitsüchtigen und brutalen Stubenvater tödlich verwundet und die arme Magd geht langsam in einem Haus für Unheilbare zugrunde. Die Zeichnung des Charakters und Lebens des Pfründners aber - auch wenn er keine direkte autobiographische Gestalt ist, - weist eine ganze Reihe von parallelen Einzelzügen zum gealterten Saar auf: die Alterskrankheit, die Rente der Familienstiftung, und - wie der Biograph Anton Bettelheim richtig feststellt - nicht zuletzt die zwar aufrichtige jedoch willensschwache und kleinmütige Wiener Natur. Dazu ist der Pfründner, wie übrigens auch die Magd, noch am Rande des Grabes für zärtliche Beziehungen dankbar und glücklich und ist er ebenfalls am Rande des Grabes noch eines von einem aufrechten Charakter geforderten Opfers, ja eines Opfertodes fähig. Die Verhaltenheit, Indirektheit und das Verschweigen ihrer Gefühle und ihrer Neigung weist fast auf die Technik der größten modernen Short-Story- Autoren Hemingway voraus. Auf jeden Fall verfügte noch der todkranke Saar über eine beachtliche Gestaltungskraft. Die Krankheit wurde jedoch immer schlimmer. Was er durch Monate mit bewundernswerter Geduld und oft sogar mit Humor ertragen hatte, wurde tatsächlich unerträglich. Der fortwährende Schleim- und Blutabgang war so groß, daß er das Gefühl hatte, Tag und Nacht zu »schwimmen«. Die Schmerzen wurden so überwältigend, daß allen Freunden klar war, daß er den Tod herbeisehnte. So schoß er sich schließlich, nahe dem Jahrestag des Todes seiner Frau, aus einer alten Pistole seine Armeezeit eine Kugel in die Schläfe. Er lebte noch sechzehn Stunden, kam aber nicht mehr zu Bewußtsein. Die Stadt Wien hat ihm am Döblinger Friedhof ein Ehrengrab gestiftet. <?page no="27"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos Am Neujahrstag des Jahres 1921 schrieb Hermann Bahr aus Anlaß des Jahreswechsels rückblickend, daß es nun dreißig Jahre her wäre, als er nach Wien kam, nachdem der damals achtundzwanzigjährige Linzer, der bereits durch Berlin, Paris, Madrid, Tanger umhergetrieben worden war, noch einmal durch Paris und noch einmal durch Berlin und schließlich durch St. Petersburg, in Wien angekommen, von einem jungen Mann, der ausgerechnet aus Brünn stammte, eingeladen worden war, die Gruppe »Jung-Wien« zu gründen. Der junge Mann hieß Eduard Michael Kafka und gab eine Zeitschrift mit dem Titel Moderne Dichtung heraus, in der eine Reihe von jungen Autoren schrieben, die alle im Café Griensteidl verkehrten. Bahr erklärt aus der Erinnerung rückblickend und nicht ganz präzise, daß das »Material« aus drei Autoren bestanden hätte, dem jungen Arzt Dr. Arthur Schnitzler, aus einer Person, die durch die Pracht ihrer Krawatten berühmt war, Dr. Richard Beer-Hofmann und durch einen Gymnasiasten, der unter dem Namen Loris schrieb, Hugo von Hofmannsthal. Er hätte die drei überprüft und das Wagnis auf sich genommen, die Gruppe zu gründen. Es sollte jene lose Gruppe von Autoren des so genannten Jung-Wien werden, durch welche die österreichische Literatur weltliteraturreif werden sollte und zwei der drei von Bahr genannten Autoren schafften solchen Ruhm bereits in kurzer Zeit: Schnitzler und Hofmannsthal. Der dritte, Beer-Hofmann, blieb zunächst weithin unbekannt, nicht nur in der Welt, sondern sogar in seiner österreichischen Heimat. Aber das scharfe Auge des Kritikers Bahr hatte schon richtig gesehen, als er ihn als dritten daneben gestellt hatte. Auch als ein Kritiker von gewiß nicht geringerem Rang als Bahr, Solomon Liptzin, zum siebzigsten Geburtstag des noch immer kaum bekannten Beer-Hofmann, der einstmals Hofmannsthal und Beer-Hofmann gebeten hatte, seine Trauzeugen zu sein, in New York ein Buch über Beer-Hofmann veröffentlichte, da prophezeite er, daß dieser trotz des vergleichsweise geringen Umfang seines Werks einst zweifellos einen dauernden Platz unter den zeitlosen Schätzen deutschsprachiger Literatur einnehmen werde. 1 Schon sehr früh, 1905, hatte Arthur Schnitzler in sein Tagebuch geschrieben, Beer-Hofmann sei »der bedeutendste von uns allen«. Und gegen Ende seines 1 Solomon Liptzin: Richard Beer-Hofmann. New York 1936, S. 5 <?page no="28"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 16 Lebens hat kein geringerer als Hermann Broch ihn in seiner Bedeutung nur mit Thomas Mann vergleichbar gefunden. 2 Obwohl aber »in der Philologie der letzten beiden Jahrzehnte eine Renaissance der Wiener Moderne zu verzeichnen war«, schrieb Stefan Scherer 1993, »ist Richard Beer-Hofmann noch immer relativ unbekannt.« 3 Vielleicht daß nunmehr, mit dem Erscheinen der großen Gesamtausgabe von Beer-Hofmanns Werk der Zeitpunkt gekommen ist, daß einer der am meisten zu Unrecht verkannten Autoren den ihm zustehenden Ehrenplatz erhält. 4 Beer-Hofmanns Name ist zusammengesetzt aus dem Namen seines Vaters Beer und dem Namen seines Onkels Hofmann. Die beiden waren sowohl väterlicherseits wie mütterlicherseits Vettern. Sie waren beide in Südmähren geboren, sie gingen beide in Brünn in die Schule und sie haben beide in Wien studiert und waren immer einander sehr nahe. Der ältere der beiden, Richard Beer-Hofmanns Onkel führte die Tuchfabrik seines Vaters zu neuen Erfolgen, der jüngere der beiden, Beer-Hofmanns Vater, wurde Rechtsanwalt in Wien. Die beiden Vettern heirateten zwei Schwestern: der Fabrikant die ältere, Berta, der Rechtsanwalt die jüngere, Rosa. Das letztere Paar, Beer-Hofmanns Eltern, mußte um ihre Eheschließung gegen den Willen der Eltern kämpfen. Im September 1865 konnten sie endlich heiraten. Zehn Monate später, am 11. Juli 1866 wurde Beer-Hofmann geboren und wiederum fünf Tage später starb seine Mutter im Kindbett. Die Sterbende wünschte, daß das Kind zu ihrer Schwester nach Brünn gebracht werden sollte, zur Gattin des Fabrikanten Hofmann. Nicht nur als Kind, auch als Erwachsener hat Beer-Hofmann die beiden »Papa« und »Mama« genannt, unbekümmert darum, ob in diesen Worten nicht Altmodisches, Affektiertes, Sichzärtelndes mitschwang. Sie haben ihn so geliebt, daß er den Doppelnamen Beer-Hofmann wählte und daß er ihnen in seinem letzten Werk Paula - Ein Fragment ein unvergeßliches Denkmal gesetzt hat. Mit seinen Pflegeeltern kam der Vierzehnjährige nach Wien, wo er in das akademische Gymnasium eintrat. Sodann studierte er an der Universität Wien Rechtswissenschaften und promovierte im Jahr 1890. Sein Pflegevater hätte es gerne gesehen, wenn er in die Anwaltskanzlei seines Vaters eingetreten wäre. Aber Beer-Hofmann zog der finanziell abgesicherten Karriere als Anwalt das Leben der ihm vorschwebenden Lebensform eines Privatiers und freien 2 Vgl. Stefan Scherer: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S. 1 und 5 3 Stefan Scherer, op. cit., S. 1 4 Richard Beer-Hofmann: Gesammelte Werke. 8 Bände. Hg. von Günter Helmes, Michael M. Schardt und Andreas Thomasberger. Paderborn - Oldenburg 1993-2002 <?page no="29"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 17 Schriftstellers vor, was er um so leichter tun konnte, als er bis zur Inflation nach dem Ersten Weltkrieg finanziell weitgehend abgesichert war. Denn die Einnahmen aus seinen dichterischen Werken fielen kaum ins Gewicht. Schon 1891, ein Jahr nach der Promotion, schreibt er seine erste, freilich noch unreife Novelle »Camelias« und ein Jahr später seine Pantomime »Pierre Hypnotiseur«. Der Protagonist der Novelle ist ein typischer Jung-Wien Held, der finanziell unabhängige Junggeselle Freddy. Die Gestalt eines vertieft gesehenen Pierrots aber war gleichfalls ein verbreitetes Motiv der Dichtung um die Jahrhundertwende von Hofmannsthal über Felix Grafe bis zu Robert Musil. Beide Werke wie auch die folgende Novelle von 1893 »Das Kind« waren nicht das Ereignis eines tiefinneren Dranges zu schreiben, sondern kamen durch Anstoß von außen her durch Freunde zustande. So hatte Schnitzler an Beer- Hofmann geschrieben: »Nächstens werden Sie etwas schreiben müssen; das steht fest.« 5 Der junge Beer-Hofmann entsprach durchaus dem Typus des Dandy, wie er vielen Autoren des »Jungen Wien« vorschwebte und einer von ihnen hat ihn auch als Dandy beschrieben zu dem Zeitpunkt, als er im Café Griensteidl aufgetaucht war, um sich der Gruppe an zu schließen: »Seine Kleidung war von exzessiver Noblesse, von einer mit subtilstem Geschmack ausgesuchter Eleganz, die immer etwas leicht Herausforderndes hatte. Er trug jeden Tag eine andere stimmungsmäßig und raffiniert gewählte Knopflochblume. Er war (und ist es geblieben) von einer derart hinreißenden Beredsamkeit, von einem so durch und durchdringenden lichtvollen Geist, daß ich ihm damals den Titel ›Mäzen des Verstehens‹ gab. Selbst schreiben schien er im Anfang nicht zu wollen, ja es schien, als sei er sich dafür zu kostbar.« 6 Was seinen Werken von früh an fehlte, war jener Zug ins Frivole, wie er manchen Jung-Wiener eigen war. Umgekehrt finden sich nicht allzu oft bei den Jung-Wienern wie bei ihm Tendenzen zur Mystik. Wenn man Beer-Hofmann selber glauben darf - und nichts spricht dagegen, ihm glauben zu dürfen - dann trat die Überwindung des dandyhaften reinen Ästhetizismus in dem Augenblick ein, als er zum ersten Mal, neunundzwanzigjährig die sechzehnjährige Pauline Lissy in einem Wiener Süßwarengeschäft erblickte. »Alles erlischt, was vorher war«, schrieb er, »eine Flut bricht aus mir, und auf ihr treibt Alles, was mir Leben schien, aus mir, als müßte sie alles Bisherige wegschwemmen. … was vorher war, war ein Eingepupptsein - dies hier ist meine wahre Geburt.« In seinem letzten, der Erinnerung an Pauline Lissy gewidme- 5 Arthur Schnitzler: Briefe 1875-1912. Frankfurt am Main 1981, S. 117 6 Felix Salten: »Aus den Anfängen«. Erinnerungsskizzen. In: Jahrbuch der deutschen Bibliophilen und Literaturfreunde. Bd. 18/ 19, S. 34 <?page no="30"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 18 ten Werk Paula - Ein Fragment setzt er als Motto über das Buch einen Satz aus Dantes Vita Nuova und er will keine seiner Dichtungen aus der Zeit vor 1897 in seine gesammelten Werke aufgenommen wissen. Nicht zufällig ist sein bekanntestes Gedicht, sein »Schlaflied für Miriam«, das er 1898 schrieb, als Paula ihm seine Tochter Miriam schenkte. Dieses Gedicht ist nicht nur ein einmaliges Liebesbekenntnis zur neugeborenen Tochter, sondern zugleich damit ein Bekenntnis zum Erbe jüdischer Kultur. Er hatte ab 1896 wiederholt einige Tage gemeinsam mit Schnitzler und Theodor Herzl in Aussee zugebracht. Die Liebe zu Paula hatte ihm nicht nur einen neuen Zugang zur Verbundenheit mit der toten Mutter eröffnet, die er niemals gesehen hatte, sondern auch zu seinen persönlichen Ahnen und damit darüber hinaus zu seinem jüdischen Erbe überhaupt. Im Unterschied zu den meisten »Assimilanten« von Jung-Wien und auch zu seinen eigenen unmittelbaren Vorfahren empfand er nun, bestärkt durch Herzl, sein Judentum nicht mehr als eine Last oder ein Unglück, sondern war stolz darauf. So beginnt er denn im Jahre 1898 an seiner großen biblischen Dramen- Trilogie Die Historie von König David zu arbeiten, dem Hauptwerk seines Lebens, das eine Vergegenwärtigung des israelischen Großreichs unter David und noch mehr sein sollte und das er trotz des hohen Alters, das er erreicht hat, niemals vollenden hat können. Im selben Jahre 1898 weitet sich sein Horizont auch in einer anderen Richtung aus: Er beginnt die Arbeiten von Ernst Mach zu lesen. Außerdem aber und nicht zuletzt hat er 1898 auch mit der Niederschrift seines ersten bleibenden und wichtigen Werkes Der Tod Georgs begonnen, das im Jahr 1900 erschien. Die wechselseitige Zusammengehörigkeit von Liebe und Tod haben ihn zu einer dichterisch vertieften Auseinandersetzung mit dem Todesproblem geführt und Sol Liptzin hat zu recht geurteilt, daß Beer-Hofmann unter den Jung-Wienern allein es gewesen ist, der die Begegnung mit dem Tod zum Wendepunkt für die geistige Wiedergeburt eines reinen Ästheten gemacht hat. Dieser Ästhet trägt in der Dichtung den Namen Paul. Er wird in seiner Sommerfrische in Ischl von seinem erfolgreichen Freund Georg am späten Nachmittag besucht. Am darauf folgenden Morgen wird Georg tot aufgefunden. In einer großartigen Entwicklung in Form eines inneren Monologs gedenkt Paul - aufgewühlt von Georgs Tod - an die eigenen Ahnen und macht unter Schmerz und Trauer einen Wandel überaus positiver Art durch. Nicht nur sein eigenes jüdisches Erbe hat er durch Georgs Tod erkannt und anerkannt. »Um Georgs Tod«, heißt es, »hatten quälend seine Gedanken sich gerankt und, ohne seinen Willen war für ihn daraus etwas erwachsen, was seinem Leben Zuversicht gab …« <?page no="31"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 19 Beer-Hofmann war zusammen mit Arthur Schnitzler einer der ersten, die dem inneren Monolog in der Erzählung eine so ausgedehnte und wichtige Funktion verliehen haben. Gerade im Zusammenhang mit dem Todesmotiv eröffnet diese Technik viele Möglichkeiten und das Todesmotiv sollte nicht nur im Tod Georgs ein Hauptanliegen Beer-Hofmanns bleiben. Als später Martin Buber ein Geleitwort zu den Gesammelten Werken Beer-Hofmanns schrieb, in denen die Dichtungen aus der Zeit von vor 1897 ganz nach dem Wunsch des Autors ausgeklammert blieben, da hat er das gesamte Werk Beer-Hofmanns vom Todesmotiv her dargestellt und aufgerollt. Im Jahr 1904 wurde Beer-Hofmann durch Graf Wolf von Baudissins Übersetzung der Tragödie von Philip Massinger The Fatal Dowry angeregt, sein erstes Drama zu schreiben: Der Graf von Charolais. Er verwendete aber nur den Stoff des englischen Dramas aus dem 17. Jahrhundert und gestaltete Fabel wie Sinn seines drei Jahrhunderte neueren Stücks in einem völligen Gegensatz zu seiner Quelle. Allerdings hatte auch in Beer-Hofmanns Stück wie in seiner Vorlage der Vater des jungen Grafen von Charolais als Marschall von Burgund im Krieg gegen Frankreich nicht nur sein eigenes Vermögen verloren, sondern war darüber hinaus tief verschuldet. Da er die Schuld seiner drei Gläubiger nicht abzahlen kann, wird er in den Schuldturm geworfen und da er diese Schmach nicht erträgt, nimmt er sich das Leben. Da der junge und mittellose Sohn das Geld nicht aufbringen kann, das notwendig wäre, den Leichnam des Vaters für ein ehrenhaftes Begräbnis auszulösen, bietet er dem Richter an, selbst den Platz seines Vaters im Verlies einzunehmen, um den Leichnam zu befreien. Dieses Beispiel von Sohnesliebe bewegt den Richter so tief, daß er selbst die Summe den Gläubigern bezahlt und überdies noch dem jungen Mann seine eigene, wunderschöne Tochter zur Frau gibt. Diese Tochter, die der junge Charolais anbetet, wird von einem jungen und gewissenlosen Liebhaber verführt. Die Warnungen des besten Freundes schlägt sie in den Wind und seine Hinweise Charolais gegenüber finden kein Gehör. Bis dieser selbst einmal die beiden Liebhaber überrascht. Er fordert den jungen Mann zum Zweikampf heraus und tötet ihn. Sodann bringt er Klage gegen die treulose Gattin bei deren Vater als Richter ein, der sie zum Tod verurteilt. Der junge Charolais wartet nicht auf den Vollzug der Strafe, sondern tötet sie daraufhin selbst. Während in dem alten Stück von Massinger die Charaktere in Bösewichte und Edelmenschen zerfallen, wobei der junge Verführer, die treulose Tochter und die geizigen Gläubiger die Bösewichte abgeben, während der Richter, der junge Charolais und sein bester Freund die Edelmenschen darstellen. Der »Mäzen des Verstehens« Beer-Hofmann vermenschlicht die Charaktere und macht sie gleicherweise zu tragischen Opfern eines bösen Geschicks. Die einzige <?page no="32"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 20 Ausnahme von jenem blinden auf und ab des Zufalls, der die Geschichte bestimmt, der einzige Ausdruck unwandelbarer Äußerung des universalen Geistes, tief in unserem Blut verankert, ist die Beziehung Vater - Kind! Die Beziehung des alten Charolais zum jungen wie des jungen zum alten, die Beziehung des Richters zu seiner Tochter oder die Beziehung des jungen Ehepaars zu ihrem neugeborenen Kind haben einzig wirklich Bestand. In jeder anderen Weise sind Beer-Hofmanns Charaktere einsam, blind, ausgesetzt einem undurchschaubaren Schicksal und alle ohne Unterschied sind Einzelteile einer menschlichen Schicksalsgemeinschaft. Keiner ist absichtsvoll böse von vornherein, für jeden entwickelt er psychologische Gründe, durch die jegliches und jedes Verhalten verstanden werden kann. Sogar für den Sprecher der drei Gläubiger, den Juden Itzig, findet er Gründe, die sein Verhalten erklären und menschlich verständlich machen und die Szene zwischen Charolais und Itzig ist zu recht der parallelen Meisterszene in Shakespeares Kaufmann von Venedig verglichen worden. Aber nicht nur im Unterschied zu Massingers Charakteren sind alle Charaktere Beer-Hofmanns als Marionetten des Schicksals in ihrem ganzen Verhalten verständlich und entschuldbar. Auch im Unterschied zu den Charakteren der anderen Vertreter von Jung-Wien sind sie nur oberflächlich betrachtet einsam, da sie alle verbunden sind durch ein Geschick und besonders durch die Bande des Blutes von Generation zu Generation, von Vater zu Kind. Beer-Hofmanns Graf von Charolais wurde von zahlreichen Theatern aufgeführt und erhielt den damals höchsten Preis für ein deutschsprachiges Drama: den Volks-Schillerpreis. Völlig vergessen wurde dieser frühe und erste Ruhm erst später. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als Beer-Hofmann sein Vermögen in der Inflation verloren hatte und Geld verdienen mußte, war er noch lebendig genug, um ihm ein anständiges Einkommen als Regisseur zu ermöglichen. Max Reinhardt, der 1905 die Rolle Itzigs gespielt hatte, drängte ihn, Goethes Iphigenie sowohl in Wien als auch in Berlin zu inszenieren und im Anschluß daran wurde er zur Aufführung von Goethes Faust an das Burgtheater berufen. So sehr in technischer Hinsicht sein dramatisches Schaffen aus der praktischen Theaterarbeit Vorteile zog, so sehr beeinträchtigte sie auch dieses Schaffen, weil er nicht genug Zeit dafür aufwenden konnte und die Arbeit am Drama Der junge David kam dadurch nur sehr langsam voran. Von früh an war Beer-Hofmanns Schaffen durch sein jüdisches Erbe geprägt worden. Aber es war nicht nur das jüdische Erbe, das dieses Schaffen bestimmt hatte. Nur wenige Monate vor seinem Tod hat er rückblickend erklärt: »Künftige Generationen werden vielleicht begreifen bis zu welchem Grad ich <?page no="33"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 21 österreichisch war - und jüdisch, zu gleicher Zeit.« 7 Noch in der Zeit der alten Donaumonarchie hatte er mit seiner Frau bald nach dem Tod des Kaisers 1916 in Ischl zwei Schalen gekauft, die ein lokaler Drechsler aus dem Holz einer Zypresse gefertigt hatte, die bald nach dem Tod des Kaisers vor der Kaiservilla gefällt worden war. Sie hatten die beiden Schalen gekauft »weil sie schön waren, und weil wir doch so viele Jahre den Baum gekannt hatten und die Kaiservilla und den alten Kaiser …« 8 Diese Zeilen hat er rückblickend in dem kleinen Band Herbstmorgen in Österreich im amerikanischen Exil geschrieben, in dem sich sein Österreichertum womöglich noch gesteigert hatte. Es war seine österreichische Geisteshaltung, welche die Gestaltung der Charaktere seiner Dramen schon im Grafen von Charolais bestimmt hatte und die auch im ersten Drama seiner David-Trilogie JaákobsTraum zum Tragen kommt, das im Jahr des Zusammenbruchs der alten Donaumonarchie erschien. Wie im Grafen von Charolais im Gegensatz zu Massingers Gestaltung des Stoffes an Stelle der abrupten und unüberbrückbaren feindlichen Gegensätze bei Beer-Hofmann ein Relativieren ihrer erstarrten Positionen durch das Verstehen der Gegenseite die Charaktere wie die Fabel beherrscht, so ist Jaákob, der Held seines Dramas Jaákobs Traum in der Aussprache mit seinem Sklaven und Fluchtgefährten Idnibaál von einem so sich mit diesem identifizierenden, universal menschlichen Verstehen, daß dessen Freilassung zuletzt im Grunde eine konsequente Folge dieser Grundhaltung darstellt. Und wenn derselbe Jaákob, noch bevor er mit Gott ringt, sich in echter Demut als Gottes Geschöpf eins sieht mit Halm, Quell und Baum, dann ist man an jene franziskanische Alliebe erinnert, die ein Merkmal so vieler Werke der österreichischen Dichtungstradition ist, der Beer-Hofmann ja auch zugehört und die bereits im Grafen von Charolais die Wegwendung von Massingers Gestaltung des Stoffes bestimmt hat. Hier liegt auch zumindest eine Wurzel zu Jaákobs Versöhnungswillen mit seinem Bruder Edom und sogar auch die Wurzel zum letzten und wesentlichsten Sinn des Dramas, zur »Erwählung« Jaákobs durch Gott, die Beer-Hofmann als einen Akt der Freiheit gestaltet hat: »Du, der mich wählt - Du, den ich wähle, sprich! « In den letzten Versen des Stücks aber, da Jaákob auf den Zuruf seines früheren Sklaven Idnibaál reagiert, weitet sich die individuelle Gestalt Jaákobs zum Repräsentanten des ganzen erwählten Volkes. Diese Grundhaltung setzt sich im Drama Der junge David weiter fort, in dem Beer-Hofmann jeglichen Zusammenhang einer feindlichen Auseinan- 7 A. Werner: »Richard Beer-Hofmann«. In: Congress Weekly, 13. 4. 1945. Das Zitat wurde vom Autor ins Deutsche übersetzt. 8 Richard Beer-Hofmann: Gesammelte Werke. Frankfurt am Main 1963, S. 782 <?page no="34"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 22 dersetzung zwischen Schaúl und David und die Überwindung des ersteren durch letztere ausklammert und an Stelle dessen eine konfrontationslose Gleichzeitigkeit des Geschehens stellt, wodurch David von jeglicher Schuld am Untergang Schaúls frei bleibt. Die wirkliche Auseinandersetzung findet nicht zwischen den beiden Figuren statt, sondern zwischen jedem einzelnen der beiden für sich und Gott. Ein Kritiker hat dies sehr richtig gesehen, als er schrieb: »So ist die Zweiteiligkeit von Der junge David letztlich darin begründet, daß sich in Beer-Hofmanns Einbildungskraft das Schicksal einer Figur nicht in der Gestalt eines Dramas darstellt, sondern in Form eines Geschehens zwischen dem Individuum und Gott.« 9 Aber Der junge David ist nicht nur das Drama des Konflikts zwischen dem ersten König der Juden Schaúl und seinem Nachfolger David. Es ist nur einer der Höhepunkte, wenn David im vierten Bild, der Mittelachse des Dramas gleichsam, auf des wendigen Diplomaten Achtophel Einwurf: »Treu - Glauben! Nehmts nicht schwer! - Auch nur zwei Worte! « erwidert: »Ja - zwei nur! - doch auf ihnen steht die Welt! « und da ist nicht zuletzt die Schlußbotschaft des ganzen Stücks, die David von seiner mythischen Ahne Ruth eröffnet wird: »Über allen Segen / Thront noch ein Segen: anderen Segen zu sein! « Hans-Gerhard Neumann hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es in dem Drama eine Synkopentechnik gibt, die an Grillparzer erinnert und eine andere Technik, die alles Grelle und Jähe so lange als möglich hinauszögert, die an Stifter gemahnt. So richtig er die Spuren österreichischer Dichtungstradition wahrnimmt, so sehr verkennt er die Funktion des Mythos in Beer-Hofmanns Trilogie - Fragment, dem er ausdrücklich keine zentrale Bedeutung für sein Weltbild zuschreiben möchte. 10 Dem steht eine andere Einseitigkeit Oberholzers gegenüber, der die Bedeutung des Mythos ausführlich beschreibt und richtig erkennt, dabei aber so weit geht, das persönliche Bekenntnis Beer-Hofmanns zum Judentum im Gunde als irrelevant für seine Dichtung zu betrachten. 11 Wenn auch die formelle Konversion Beer-Hofmanns zur jüdischen Konfession erst in den Dreißigerjahren stattgefunden hat, so war er doch von Anbeginn an sehr bewußt seinem jüdischen Erbe verhaftet. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß bereits Beer-Hofmanns Entscheidung, nicht den Anwaltsberuf (oder irgendeinen bürgerlichen Beruf ) zu ergreifen, sondern entgegen dem elterlichen Wunsch freier Schriftsteller zu werden, einen »ersten Bruch der Emanzipa- 9 Hans-Gerhard Neumann: Richard Beer-Hofmann. Studien und Materialien zur »Historie des Königs David«. München 1972, S. 74 10 Hans-Gerhard Neumann, op. cit., S. 115 f. und 206 11 Otto Oberholzer: Richard Beer-Hofmann. Werk und Weltbild des Dichters. Bern 1947 <?page no="35"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 23 tionsgeschichte bedeutet hat.« 12 Spätestens seit seinem Zusammentreffen mit Theodor Herzl hat sich seine Haltung von jener der jüdischen Assimilanten grundsätzlich unterschieden. Das Drama beginnt mit einem Prolog am Grabe der jüdischen Urmutter Rahel, der den Titel »Ruth« trägt und ein »Sprecher« verkündet die Geschichte Ruths als Ahnin von David. Der Ring schließt sich wieder am Schluß des siebenten und letzten »Bildes«, da Ruth den verzweifelten David wieder aufrichtet und segnet. Gerade weil Beer-Hofmann in seiner Historie von König David den jüdischen Mythos gestaltet hat, konnte Erich von Kahler bereits über das »Vorspiel« Jaákobs Traum sagen, daß in ihm die tiefste Interpretation des Judentums« Ereignis geworden sei, »die die Idee des Judentums in der nachbiblischen Dichtung gefunden hat.« 13 Dabei hatte »die reife Theatererfahrung des Wiener Dichters einem religiösen Wirkungswillen« zu dienen gehabt. 14 Beer-Hofmann hat aber nicht nur den jüdischen Mythos, er hat auch aus dem kulturellen Umkreis andere westasiatische Mythen eingearbeitet. Schon im Tod Georgs »erlebt« im zweiten Kapitel Paul im Traum Zeremonien und eine Orgie in einem syrischen Tempel der größten semitischen Göttin Astarte. In seiner Historie von König David hat Beer-Hofmann der Verbindung jüdischer Tradition mit dem sie umgebenden vorderasiatischen Mythos Rechnung getragen. An der Figur der Ruth erwacht die noch immer weiter schlummernde Astarteverehrung. Da Jaákob im »Vorspiel« auf der Höhe Beth-el mit seinem phönikischen Sklaven Idnibaál rastet, eröffnet ihm dieser die Geschichte seiner alten Götter, die das Chaos besiegten und die Ordnung des Kosmos schufen. Er benennt den Felsen, der von Flammensternen stammend die Kluft verschloß über der Urmacht Schlund: es ist Moriah. Dieser Name ist es, der Jaákob erschüttert, da es jener Felsen ist, auf dem sein Vater Isaak von dessen Vater Abraham beinahe geopfert worden wäre. Jaákobs Bruder Edom, von dem Rebekah seines Vaters Segen auf ihren anderen Sohn Jaákob umleitet, ist mehrfach dem vorderasiatischen Mythos verhaftet: Edoms Hunde sind nach den babylonischen Chaos-Mächten Kesil und Orion benannt und über Edoms Schicksal steht das Sternbild des Nimrod, jenes gewaltigen Herrschers und Jägers, der nach dem Buch Moses das babylonische Reich gründete und der nach Josephus identisch ist mit dem Erbauer des 12 Rainer Hand: Mortifikation und Beschwörung. Zur Veränderung ästhetischer Wahrnehmung in der Moderne am Beispiel des Frühwerkes von Richard Beer-Hofmann. Frankfurt am Main - Bern - New York 1984, S. 172 13 Erich von Kahler: »Richard Beer-Hofmann«. In: Die Neue Rundschau, 1945/ 46, S. 233 14 Hans-Gerhard Neumann, op. cit., S. 230 <?page no="36"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 24 babylonischen Turms. Der Mythos vom Fels Moriah jedoch wurde von Beer- Hofmann zum zentralen Kern des Dramas gemacht, der alle Teile des Trilogie- Fragments durchstrahlt und in einem gewissen Sinn zusammenfügt. In einer Tradition über die Entstehung des Tempels in Jerusalem heißt es, daß es ein Fels war, mit dem Gott den Abgrund deckte und auf dem er seinen wahrhaften Namen mit zweiundvierzig Zeichen eingegraben hatte. In die Zeit von Beer-Hofmanns Konversion fällt auch 1936 seine Reise nach Palästina und von Jerusalem berichtete er, daß er von allem geradezu aufgewühlt war. Als nur allzu bald darauf der Anschluß Österreichs an Hitler-Deutschland erfolgte, da war er von außen her genau so ausgesetzt und ein Opfer wie die assimilierten Juden und doch war seine innere Haltung besser vorbereitet auf eine Gegnerschaft, welche die Assimilanten oftmals einfach nicht verstehen konnten, als sie plötzlich über sie hereinbrach. Besonders böse war diese Entwicklung freilich auch für seine Gattin Paula, einerseits weil sie von Kindheit an körperlich geschwächt war und andererseits weil sie weniger als er verstand, was da vor sich ging. Obwohl Beer-Hofmanns Freund Solomon Liptzin, Professor am College of the City of New York, seit längerem Vorbereitungen getroffen hatte, um Beer- Hofmann nach New York zu holen, wo es einen Kreis von Menschen gab, die sein Werk schätzten, so türmten sich doch plötzlich ungeahnte Schwierigkeiten auf, die weitaus meisten von den NS-Behörden geplant, aber am Rande auch einige durch die amerikanische Bürokratie und dem Quotensystem ihrer Visa- Verleihung verursacht. Diese Schwierigkeiten zögerten die Abreise mehr und mehr hinaus. Da brach am 30. November 1938 Paula plötzlich zusammen und mußte mit einem Herzanfall ins Krankenhaus gebracht werden. Als aber zu all den anderen Schwierigkeiten plötzlich das Leben der geliebten Paula an einem dünnen Faden hing, da wurde es auch für Beer-Hofmann selbst zu viel und auch sein Herz versagte. Beide konnten sich von ihrer Krankheit erholen und er hoffte, im Frühjahr 1939 in New York zu sein. Die sogenannte »Fluchtsteuer« und »Buße« sowie auch einige Steuerschulden hatten nahezu alles, was er für seinen gesamten Besitz erhalten hatte, verbraucht. Anfang März sieht es so aus, als könnte die Ausreise Ende April, die Einreise in die USA aber erst im Juli oder August oder noch viel später stattfinden. Da hilft sein Freund Bernhard Altmann, indem er ihm ein vorübergehendes »Obdach« in der Schweiz verschafft. So ist er denn Ende Juli endlich in der relativen Sicherheit von Zürich. Aber wiederum bricht Paula zusammen und muß am 17. September in das Spital vom Roten Kreuz gebracht werden. Nach 32 Tagen darf sie noch immer nicht aufstehen und zu seinem Entsetzen gibt es auch noch einen Rückfall, so daß sie sieben Wochen ununterbrochen ruhig im Bett liegen muß. Schließlich stirbt die geliebte Frau am 30. Oktober 1939, <?page no="37"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 25 bereits nach Kriegsbeginn. Er muß sie in Zürich begraben und er muß weiter! Am 21. November landet er endlich in New York. Der dreiundsiebzigjährige beginnt ein neues Leben, das aber insofern keinen völligen Bruch mit dem alten Leben darstellt, als er die Erinnerungen des alten Lebens in positiver Weise mit sich über den Ozean genommen hat und sich wieder einmal nicht assimiliert. Im Jahr 1941 zog er mit seinen beiden Töchtern und dem Schwiegersohn in eine Wohnung am Cathedral Parkway in New York City. Im selben Jahr brachte Otto Kallir, ebenfalls österreichischer Exilant, sein Freund und Besitzer einer Galerie und eines Verlags, seine gesammelten Gedichte heraus. Er wurde Mitglied des »Advisory Committee« der größten Exilzeitschrift in den USA, des Aufbau. Im Jahr 1944 veröffentlichte er den kleinen Prosa-Erinnerungsband Herbstmorgen in Österreich und im selben Jahr begann er Vorträge an führenden amerikanischen Universitäten zu halten. Im Jahr 1945 wurde er amerikanischer Bürger und erhielt den »Award for Distinguished Achievments« des »National Insitute of the American Academy of Arts«, den er als eine »Lektion von Demokratie« für die Achtung der Menschenrechte betrachtete. Er war einer jener Exilanten, die nicht klagten, sondern weiter vorwärts schritten, wobei die Erinnerung an die alte Heimat ein bleibendes Geschenk darstellte, das ihm niemand rauben konnte. Wie er in seinem großen Dramenwerk die Verfolgung und Leiden des jüdischen Volkes als gottgewollt ins Positive gekehrt gesehen hatte, so erblickte er jetzt auch sein persönliches Geschick. Er bat Hermann Broch, der sich bei der Guggenheimstiftung um eine Unterstützung für ihn bemühte, um seinen Besuch und dieser fand in ihm - wenngleich in Armut lebend - einen der liebenswürdigsten Dichterfürsten, die er je kannte und dazu noch jüdisch-witzig. Nicht zuletzt aber, auch die geliebte tote Gattin Paula war lebendig geblieben in der Erinnerung. »So groß war unsere Liebe«, hatte er geschrieben, »daß noch das Weh, daß Du nicht mehr da bist, das Denken an Dich, von wunderbarem Glück durchtränkt ist, daß noch das Bluten meiner Wunde, wie ein Ausströmen des Seligen ist.« In einem Brief an Thornton Wilder findet sich eine berührende Stelle darüber, daß sie für ihn lebte. Beer-Hofmann sandte Wilder zwei kleine Bändchen mit Nestroy-Stücken. Ein solches Nestroy-Bändchen hatte Paula Thornton Wilder bereits in Wien gegeben. »Nehmen Sie«, schrieb Beer-Hofmann »… die beiden Heftchen als freundliche Erinnerung an eine fromme, reine Seele, die ihr Werk sehr liebt.« 15 15 Richard Beer-Hofmann: Briefe 1895-1945. Hg. von Alexander Kosenina. Oldenburg 1999. Brief vom 19. I. 1940 <?page no="38"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 26 Das fast Bestürzende in diesem Satz ist der Umstand, daß er das Wort »liebt« im Präsens und nicht im Praeteritum schrieb, als lebte sie wirklich noch. Wobei überdies eines der drei Heftchen Nestroys Posse Einen Jux will er sich machen ist, das die Grundlage zu Thornton Wilders finanziell bei weitem erfolgreichsten Werk Hallo, Dolly wurde. Als Beer-Hofmann 1942 in Saranac Lake in den Adirondacks die Hundegeschichte »Alcidor«, ein Meisterwerk deutschsprachiger Novellistik schrieb, da schrieb er die ganze Novelle in einem Zug. Otto Kallir hat darauf hingewiesen, daß dies ein ganz seltener Fall in seinem Schaffen war und berichtet auch, welche Erklärung Beer-Hofmann dafür gegeben hatte: Er hätte ja nichts zu »dichten« gebraucht, sondern nur niedergeschrieben, was Paula ihm 1903 erzählt hätte, denn der Hund Alcidor hatte Paulas Großeltern gehört. 16 Das einzige große und wichtige Werk aus der Exilzeit ist denn auch das Prosawerk Paula - Ein Fragment, das posthum von Otto Kallir herausgegeben wurde, und von dem der Herbstmorgen in Österreich einen Teil darstellt. Über den »Herbstmorgen in Österreich« aber hatte Beer-Hofmann am 11. 11. 1944 an Thornton Wilder geschrieben: »Von mir ist nicht viel zu sagen. Ein schmächtiges Buch Herbstmorgen in Österreich aus dem Fragment Paula ist erschienen, diesmal keine Theodizee, kein sich Vermessen, Gott exculpieren zu wollen, nur ein schlichtes Friedenschließen eines alten Mannes mit dem Leben, und ein Danken für das, was es ihm gab.« Aber gerade in der Schlichtheit und Einfachheit dieser Doppelverklärung der Vergangenheit des Vertriebenen aus der alten Heimat liegt die Größe dieses Buches, das er selbst ein »wahres, frommes, beglückendes Erinnern« genannt hat. Über Paula wollte er schreiben und beginnt mit vier Seiten der liebevollen Beschreibung eines Spaziergangs durch die Wollzeile am 5. Dezember 1895. Aber auch dann kommt er noch nicht auf Paula zu sprechen, sondern es folgen nicht weniger als siebenundsechzig Seiten einer nicht weniger liebevollen Beschreibung seiner Vorfahren und deren altösterreichischer Umwelt in Mähren, wo er seine Kindheit verbrachte. Dann erst folgt die Beschreibung der ersten Begegnung mit Paula. Die Erinnerung an sie ist nicht von der Erinnerung an die alte Heimat zu trennen und der an die Heimat erinnernde Spaziergang durch die Wollzeile führte ebenso wie die Existenz der Vorfahren als letztem Ziel zu ihr, zu Paula. Der Untertitel »Im Laden« bereitet auf die erste Begegnung mit Paula vor, die er im Laden der Niederlage der Süßwarenfirma Viktor Schmidt und Söhne gegenüber dem Stephansdom kennen lernte. Auch hier wieder beginnt er mit 16 Otto Kallir im Nachwort zu den von ihm herausgegebenen Gesammelten Werken Beer- Hofmanns, Frankfurt am Main 1963, S. 872 <?page no="39"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 27 einer vier Seiten langen Beschreibung der sich drängenden Kunden in dem Laden, ehe er endlich IHRE Hände erblickt, wie sie die von ihm bestellten Süßwaren in ein Körbchen packt. Sodann sieht er das schlanke, hoch aufgeschossene Mädchen, das sich über den Ladentisch auf den Rechnungsblock niederbeugt, so daß er ihr Gesicht nicht sehen kann. »Sie richtet sich auf«, heißt es schließlich, was bedeutet, daß er ihr Gesicht sehen kann und hier bricht er ab mit den Worten: »und nun geschieht es.« Später wird sodann erklärt: »Vorher war alles ein wirr verschlungener Knäuel, den ich nicht verstand - wo war der Sinn? Von Tag zu Tag hatte ich gelebt - nun war alles sinnvoll der Weg gewesen zu diesem Augenblick. Nie mehr gab es ein Bangen, ich wurde geführt, nie würde mein Schritt ins Leere treten - am Abgrund würde sich unter meinem Fuß eine Brücke wölben - meiner Seele war ich begegnet - nun nahm sie mich auf - wir waren eins.« Während Hitler das Weltereignis einer riesigen Haßwelle über ganz Europa ausbreitete, schrieb Beer-Hofmann in New York die Geschichte seines privaten Weltereignisses, das im Frieden der alten Donaumonarchie begonnen hatte und das noch immer, auch nach dem körperlichen Tod Paulas, kein Ende gefunden hatte, da er es aus der Erinnerung für sich selbst und für alle späteren Leser in beredter Weise beschwor und dichterisch ins Zeitlose gehoben hat. Zwei Stellen seien aus diesem Erinnerungsbuch angeführt, um seinen wesentlichen Kern sichtbar zu machen. Das erste bezieht sich auf ein Ereignis, das sich wenige Monate nach ihrem ersten Zusammentreffen, Ende des Frühjahrs 1896, auf einer Wiese am Rand der locker besiedelten Nordseite des Wolfgangsees in Fürberg im Salzkammergut abgespielt hatte. Beer-Hofmann hatte Paula berichtet, daß er vorhatte, mit ihr an den Strand von Skodsborg in Dänemark zu gehen, gegenüber der Insel Hveen, auf der vor mehr als dreihundert Jahren der dänische König Friedrich der Zweite für seinen Sterndeuter Tycho Brahe zwei Sternwarten erbauen hatte lassen. Beer-Hofmann erzählte Paula, wie Tycho Brahe die Bahnen der Sterne studierte und wie er für die Söhne des Königs Horoskope ausarbeitete und Paula fragte ihn, ob er glaube, daß alles durch die Sterne im Leben der Menschen bereits vorher bestimmt sei. Da zitiert er Paula plötzlich eine Stelle aus dem Horoskop, das Tycho Brahe dem König Christian dem Vierten gestellt hatte, und die er als Vierzehnjähriger von einer alten Dame in einem Eisenbahnabteil gezeigt erhalten und in sein Notizbuch abgeschrieben hatte: »Man ist nicht unbedingt dem Einfluß der Gestirne preisgegeben«, hieß es da: »Denn im Innern des Menschen gibt es etwas Göttliches, was über den Kreisgang der Gestirne erhaben ist.« Als sie wenige Tage später wirklich auf der Insel Hveen sind, entsinnt sich Paula dieser Stelle und bittet ihn, sie »auf zu sagen«, aber sehr langsam, damit sie es gleich nachsprechen kann, weil sie es sich gerne merken würde. Und so <?page no="40"?> Richard Beer-Hofmann und der jüdische Mythos 28 wiederholt er es langsam und nach jedem Satz macht er eine Pause, damit sie es nachsprechen kann und sie »jubelt es«, ein »Bote herabgesandt, Menschen, von ewiger unzerstörbarer Gotteskindschaft, darin alle Kreatur sich begegnen darf, selige Botschaft zu bringen.« Beer-Hofmann wußte selbstverständlich, daß Tycho Brahe ein Exilant gewesen war wie er selbst, und er wußte darüber hinaus auch, daß er von einer weit größeren Macht als dem heimatlichen dänischen Staat nämlich von Kaiser Rudolph dem Zweiten in Ehren aufgenommen wurde wie er selbst in den USA. Die zweite Stelle, die hier herausgehoben werden soll, bezieht sich auf einen Traum. Am Schluß des Fragments Paula stehen sechs Träume, von denen der letzte, geträumt in Woodstock, New York im September 1940, der längste ist. Dieser Traum führte Beer-Hofmann in eine an das Salzkammergut gemahnende Gegend, in welcher er aus einem Eisenbahnzug steigt, um den anderen Aussteigenden zu folgen. Bei der Holzbrücke über einen Fluß, die offenkundig symbolisch auf die andere, jenseitige Seite hinüber führt, erinnert er sich, wie er oft mit Paula an Sommerabenden solche Flußufer entlang gegangen war, Hand in Hand wie Kinder. Jetzt im Traum geht er unter Kindern, steigt jenseits der Holzbrücke hohe Stufen eines Berges empor und entdeckt plötzlich über sich, auf einer Steinbank sitzend, kaum älter als sechs oder sieben Jahre, ein kleines Mädchen. Es ist Paula, ganz so, wie er sie von einem Kinderfoto her kennt. Er möchte laut schreien: »Wahnsinn«. Doch dann schließt er die Augen, denkt ihren Namen, erfüllt von Zärtlichkeit, Bangen, Sehnsucht, Erinnern … er öffnet die Augen wieder und da weitet großes Staunen den Kinderblick, löst ihn, wandelt ihn - und »ihr Blick ist es nun, der langsam tief in den meinen sinkt.« Und auch ihre Stimme ist plötzlich da, nicht von außen, sondern gleichsam von innen, in ihm selbst und er hört ihre bebende Stimme sagen: Du mußt dich fügen. Da weiß er plötzlich, daß es nicht mehr um ihn allein geht, daß sein Weh um sie auch ihr weh tut, da sie alles Schwere mit ihm mittragen muß, daß sie am Ende ihrer Kraft ist, daß er sie schonen muß. So nickt er denn schluchzend und senkt den Kopf tiefer und tiefer, bis er mit der Stirn den Boden berührt und erwacht. Er liegt still mit offenen Augen, denn er will nicht mehr schlafen: » - es könnte ja sein, daß ich wieder zurück in den Traum müßte. In den Traum, der weiß, was geschehen ist - aber sich weigert, es zu wissen.« In solche Traumlandschaft ist er wohl zuletzt - es war am 26. September 1945 - auch hinüber gestorben, nicht mehr getrennt von ihr, weder durch einen Fluß, noch durch hohe Stufen auf einen Berg, sondern wieder vereint, so daß sich beider Weh in Glück verwandeln mußte. <?page no="41"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist Die thematische Beschränkung auf den Erzähler Otto Stoessl soll in keiner Weise eine Abwertung seiner Lyrik, seiner Dramen oder gar seiner Essays bedeuten, sondern lediglich jenen Teil seines Schaffens beleuchten, der den weitaus breitesten Raum einnimmt und auf dem sein Ruhm in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts beruhte, der heute so gut wie völlig vergessen ist. Bereits der Student Stoessl verkehrte im Café Griensteidl, mit den Autoren des »Jungen Wien«, in dem er seine frühen literarischen Wurzeln hatte, auch wenn er sich später darüber hinaus entwickelte und mitunter rückblickend kritisch über diese Frühzeit urteilen konnte. 1 Er debütierte mit Essays, mit zwei Dramen, die er gemeinsam mit Robert Scheu verfaßt hatte und erreichte bereits mit seiner ersten Novelle Leile, daß kein geringerer Kunstrichter der Zeit als Paul Ernst ihn den bedeutendsten lebenden Novellisten nannte. Stoessl ist denn auch wie kaum ein anderer österreichischer Autor dem Hauptvertreter der deutschen Neuklassik Paul Ernst wie deren Theoretiker Samuel Lublinski nahe gestanden. Das hing zum einen mit jenem »Geist der Alten« zusammen, die den »Willigen das reine, das richtig Maß des Schönen- Guten« gibt 2 , zum anderen aber galt für ihn genau so wie für Lublinski als Ziel der Dichtung die »Darstellung des Menschentums zu einer wahren Kultur- und Lebenseinheit« und die »Erschaffung einer durchgebildeten und in ihrer Weise vollkommenen geistigen Natur der Gesellschaft« und zugleich damit der Ausblick auf eine größere umfassende Gemeinschaft unter dem Zeichen jenes »Ideals der Humanität« als Sinn und Zukunft, wie sie im »engeren Kreis der klassischen Zeit mit ahnungsvoller Herrlichkeit« vorgebildet worden war. 3 Trotz aller Konsequenz dieser inneren Haltung kennzeichnet sie doch mehr die Intention, das Programm und die Theorie Stoessls als seinen tatsächlichen Stil. Denn gleichgültig, ob und wie weit den Vertretern der deutschen »Neuklassik« die fugenlose, Weimarer klassische Synthese wieder gelang, im erzählerischen Werk des Österreichers wurde die Spannung zwischen realistischen und romantischen Zügen, zwischen Faktizität und Ideal, Wirklichkeit und Traum niemals ganz überwunden. Ja, diese Spannung und ihre Unlösbarkeit stellen in einem gewissen Sinn sogar das Thema und den Reiz der Novelle Leile 1 Vgl. Das Junge Wien. Hg. von Gotthart Wunberg. Tübingen 1976, Bd. II, S. 125 f. 2 Otto Stoessl: Arcadia. Wien 1933, S. 223 3 Otto Stoessl: Lebensform und Dichtungsform. München und Leipzig 1914, S. 104 <?page no="42"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 30 dar, der Geschichte, des zur Frau erwachten Kindes, die zwischen einem anderen Kind, dem Knaben Edi und dessen Träumereien einerseits und dessen irdischeren, männlicheren, lebenstrotzendem Freund zu wählen hat. Sie wählt den letzteren, verblutet an ihren Wünschen und Träumen und auf diese Weise scheitert sie. Es ist nicht nur das Thema, es ist auch der Stil, der durch solche Mischung realistischer und romantischer Züge bestimmt wird, wobei Leile wie auch der mehr dunklen, realistischen Erzählung »Aus der Schule« des Bandes Kinderfrühling die mehr zart-romantische Erzählung »Fragment aus den Erzählungen eines jungen Lehrers« des selben Bandes gegenübersteht. Keineswegs in seiner gesamten Stilhaltung, aber in Satzbau, Duktus und Ton nähert er sich einer Art Klassizität in seiner romanhaft breit angelegten Erzählung In den Mauern (1907) an. Gelassen und geprägt durch Maß und Form distanzierter Ausgeglichenheit - »auf großen Schicksalsgrund miniaturhaft gemalt« urteilte ein Kritiker der Zeit 4 fließt die Erzählung dahin. Sie ist allerdings weniger als die Werke der deutschen Neuklassiker auf die Vorbilder der antiken oder der Weimarer Klassik hin ausgerichtet als auf Stifter hin und auch auf jenen Stil hin, den Stoessl selbst in seinem Buch über Gottfried Keller »bürgerliche Klassizität« genannt hat. 5 Zwar ist Stoessls Stil moderner als jener und ist zudem durch starke romantische Züge mitbestimmt, doch die Bändigung und Beruhigung aller Extreme durch eine innere Ausgeglichenheit, die auch das Überraschendste und Gewagteste ruhig und still betrachtet, stellt eine wesentliche Gemeinsamkeit dar. Gewiß, Stoessl ist bereits ein Kind der Gründerzeit, und sein Stil, noch jünger, ist mitbestimmt durch eine neue Form der Technik und Wissenschaftlichkeit, durch neue Einsichten in die Natur und neue soziale Umwälzungen, die das alte Gleichgewicht von Biedermeier und Realismus in Frage stellen. Dennoch ist es seiner Perspektive innerer Ausgeglichenheit gelungen, die Buntheit des alten österreichischen Vielvölkerstaates und besonders seines Bürgertums so traditionsbezogen und ausgewogen wie Hofmannsthals Symbolismus oder Schnitzlers impressionistisch arbeitender Naturalismus darzustellen in ihrer jenseits aller Spannungen reizvollen, intimen Harmonie, in welche selbst die nationalen Gegensätze, selbst die »Abenteurer und Deklassierten, die Originale und Schwarmgeister nur die angenehme, leicht aufzulösende Dissonanz brachten, welche eben die Harmonie erst genußvoll aufklingen läßt.« 6 4 Dr. Felix Poppenberg im Berliner Tageblatt 5 Otto Stoessl: Gottfried Keller, Berlin, o. J. (1904), S. 71 6 Orro Stoessl: Gottfried Keller, op. cit., S. 70 <?page no="43"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 31 Ein ungewöhnliches Schicksal und damit eine Art novellistischer Kern, kennzeichnen das Buch In den Mauern. Es ist die Geschichte des Mühlviertler Bauernbuben Johann Bilgeri, der aufgestiegen zum erfolgreichen und angesehenen Industriellen in Wien seine Seidenweberei, seine Frau, sein Kind um einer faszinierenden Frau willen verläßt. Ohne eine intime Bindung an sie zu haben, folgt er ihr ins Nichts. Aus wenigen Sterbestunden rückblickend wird jedoch weit darüber hinaus in romanhafter Breite die Geschichte dreier Generationen aufgerollt, einschließlich der Tat des Helden, seine Ottakringer Mitbürger von den Übergriffen der napoleonischen Besatzungstruppen zu befreien. Fast alle Erzählungen mit österreichischer Thematik spielen in seiner, Stoessls weiteren Gegenwart. Aber die Art der Darstellung, selbst historischer, nichtösterreichischer Themen ist ebenfalls österreichisch. In manchen jener nicht in Österreich spielenden, dunklen, pessimistischen Novellen, die in romantischer Rückwärtsgewandtheit sich rings um einen historischen Kern kristallisieren, erleichterte es die Verkürzung und Vereinfachung der geschichtlichen Distanz, das Geschehen im Sinne des Kellerschen Maßes oder des Stifterschen Sanften Gesetzes darzustellen, wie etwa in der Erzählung um den ostpreußischen Sektengründer Johann Heinrich Schönherr oder in der Novelle um Firdusis Tod. 7 Im ersteren Fall setzt der Fanatismus von Schönherrs neuem Jünger Wilhelm Ebel die Hybris in Bewegung, im letzteren Fall erfährt der große persische Dichter in Sterben und Tod, Verklärung und Erhöhung nach einem Leben des Verkanntwerdens, der Verfolgung und Unterdrückung. Das scheinbar Große stürzt, das scheinbar Kleine erhebt sich zu machtvoller Größe. Eine tröstliche Thematik der großen Humoristen greift Platz. Etwas schwieriger war solche innere Ausgeglichenheit und Darstellung schon bei den in Stoessls Schaffen beherrschend im Vordergrund stehenden Erzählungen aus seiner österreichischen Gegenwart, da Spannungen und Kämpfe, der Haß und die Heuchelei nicht nur zu beherrschenden Massenphänomenen geworden waren, sondern ihn gleichsam direkt und persönlich auf den Nägeln brannten. Dennoch hat er dieselbe Darstellungsform auch hier erreicht. Ohne Aufschrei, Ekstase und Empörung in gleichsam ruhig und sachlich beruhigter Distanzierung spricht er schon ganz früh in einem »Wiener Brief« vom Wesen dieser Stadt als von ihrer »Barbarei, die ja auch eine gewisse Anmut hat«. 8 Später aber, in seinem Roman Morgenrot ist durchaus mit der Distanz 7 Diese beiden Beispiele stammen aus dem späten Novellenband Menschendämmerung, München 1929, S. 5-110 und 217-230 8 Otto Stoessl: Wiener Brief. In Das Junge Wien. Hg. von Gotthart Wunberg, op. cit., Bd. I, S. 678 <?page no="44"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 32 der Humoristen, wenn nicht gar mit humorvoller Genüßlichkeit, vom »ganzen« österreichischen »Volk« die Rede und von der »ewigen Gemeinheit, der schnöden Welt«, welche zu »allen Zeiten ihre Helden hinwürgt, und daß wohl auch die braven Wiener zur Gänze, nicht einzelne Spukgestalten, sondern die gutmütigen, raunzenden, sentimental verlogenen, gefühlsselig rohen, den Hergott einen braven Mann sein lassenden, mit Wort begnügten, im Ton gleichgültigen Backhendelfriedhofsdiener, die im Lügenfell wollüstig schmorenden, allem Geistigen von Natur aus zuwideren Walzer- und Heurigenkarpfen, diese selbstgefällig ihre Ödigkeit angrinsenden, gemeinplatztriefenden Philisterfischmäuler von einst und jetzt die wahren Mucker bleiben, denen niemals ein Licht geboren wird, ohne daß sie es in ihre Finsternis und Gemütlichkeit verschlucken und sich noch beklagen, daß sie es nicht angenehm verdauen können.« 9 Wie gelingt es einem Autor, eine so deprimierende Realität in einer Weise darzustellen, daß es bereits fast tröstlich klingt? Stoessl stand vor dem Dilemma eines Autors, der einen so klaren Blick für die Wirklichkeit besitzt, daß auch die allgemein anerkanntesten Illusionen und Lügen davor abprallten, der aber zugleich auch von seinen humanen Ideen und seiner Identifizierungsfähigkeit mit den Mitmenschen nicht lassen kann. Ein Mann, dem die barbarische Reaktion eines Michael Kohlhaas aber verschlossen ist, weil er die geschärften, feinen Sinne eines Skeptikers besitzt, der Chamfort zitiert, La Rochefoucault und Lichtenberg und der Montaigne nicht nur zitiert, sondern verehrt und liebt. Zudem aber hat er ein viel zu warmes Herz, um in Ironie, Sarkasmus oder gar Zynismus zu verfallen. Zudem sind seiner voraussetzungslosen Haltung unabhängiger Einsamkeit die meistgängigen und beliebten Brücken, die solche Abgründe überwölben zu können vorgeben, verwehrt: verwehrt der Glaube an eine Offenbarungsreligion, verwehrt noch mehr der Glaube an den säkularisierten Religionsersatz einer festgefügten politischen Ideologie. Der ersten Schritt, den Stoessl tat, um dieses Dilemma zu überwinden, war es, eine Position wie Stifter zu beziehen, dem so manches scheinbar Große klein und so manches scheinbar Kleine groß erschien. Stoessl hat ja einen besonders schönen Essay über den Nachsommer geschrieben, der diese Position klärt, wie er auch eine Stifter-Ausgabe betreut hat. Die moderne Situation schien ihm aber mit Hilfe der Biedermeierlösung allein, - trotz ihrer unwandelbaren Zeitlosigkeit im Falle Stifters - nicht mehr bewältigbar zu sein. Also hatte er einen weiteren, weiter ausholenden Schritt zu tun, der ihm selbst in der Krisen- und Katastrophenzeit, in der er bereits lebte, die Kluft zwischen der Realität und den Idealen zu überbrücken vermochte, und dies war in seinem Fall das Medium des Humors. Stoessl hat ja nicht nur unter dem Erleben des 9 Otto Stoessl: Morgenrot. München 1912, S. 196 <?page no="45"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 33 Ersten Weltkriegs und durch den Zusammenbruch der alten Monarchie ungeheuer gelitten, sondern er hatte in einer ungewöhnlichen Sensitivität ähnlich wie Musil und Broch schon Jahre vor dem Kriegsausbruch die Katastrophe förmlich kommen gespürt. Am deutlichsten und unübersehbarsten sichtbar wird seine Hinwendung zum Medium des Humors in seinen »Schelmengeschichten«, von denen einer der bisher weitaus besten Kenner von Stoessls Werk und Persönlichkeit urteilte, daß sie für sein Schaffen als »besonders charakteristisch gelten können«. 10 So entstanden in kurzer Abfolge Sonjas letzter Name, Negerkönigs Tochter und Egon und Danitza. Schon von Lazarillo de Tormes bis Quevedo und von Grimmelshausen bis Lesage diente der Schelmenroman als Medium und Ventil kluger, ja listiger individueller Romanhelden gegenüber der Dummheit, der Barbarei, ja der Bestialität ihrer Zeit. In Otto Stoessls Schelmengeschichten erscheint diese Haltung ausgeweitet und eingeschränkt zugleich: ausgeweitet, weil er selbst, weit mehr als seine literarischen Vorfahren, als auktorialer Erzähler die Haltung seiner Schelmen teilt und nichts über die »Schelmen-Haltung« hinaus bietet, und eingeschränkt, weil er sie bewußt als Ausnahme- und Einzelfall, nicht einmal für das ganze Leben der Schelmenfiguren selbst, sondern lediglich für eine bestimmte Phase, die oft in einer bestimmten Begebenheit gipfelt, als realistisch möglich, durchziehbar und überzeugend darstellt. Aus diesem Grund ist die später auch von Stoessl selbst bevorzugte Bezeichnung für jene Erzählungen als Schelmengeschichten sehr viel besser, als würde man sie Schelmenromane nennen. Den Begriff »Schelmengeschichte« hatte Stoessl von dem ihm in so vielem nahestehenden Paul Ernst übernommen. Aber wie auch in anderen, ähnlichen Fällen, hat er auch hier etwas anderes daraus gemacht und man hat schon längst festgestellt, daß die »Schelmengeschichten des mit der Gabe eines warmen, nachdenklichen und befreienden Humors so reich gesegneten Österreichers doch von anderer, persönlicher, unmittelbarerer Art« sind, »als die der Neuklassiker«. 11 Die persönliche und unmittelbare Art des Humors hängt zumindest zum Teil mit einer bestimmten Lebenserfahrung Stoessls zusammen. Nicht zufällig spielt in den drei ersten Schelmengeschichten die Figur des jungen Josef Dieter eine Hauptrolle. In Negerkönigs Tochter steht allerdings dessen gleich gearteter Vater 10 Franz Stoessl: Otto Stoessl - ein Portrait. In: Österreich in Geschichte und Literatur. Jg. 17 (1973), Heft 4, S. 238 11 Edwin Rollett: Einleitung. In: Otto Stoessl: Egon und Danitza. Graz und Wien 1957, S. 10 <?page no="46"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 34 noch mehr im Vordergrund. Die vorurteilslose, antiheuchlerische Haltung dieser Dieter-Figur, ihre alle Dinge durchschauende Klugheit, ihr freier Sinn und ihre aufrechte Haltung, die Bescheidenheit und Selbstsicherheit zugleich umschloß, ist nach dem Modell eines wirklichen Menschen gestaltet: nach dem Modell von Stoessls engstem Lebensfreund Josef C. Jung. Jung war es, der in Stoessls Leben ein beispielhaftes Leitbild gesetzt hatte und der gleichsam der Katalysator für die Entbindung von Stoessls Humor gewesen ist. Es scheint kein Zufall zu sein, daß die beiden einander über einer Erinnerung an Eichendorff fanden, dessen Taugenichts Jung auswendig konnte. 12 Hier ist es die schier ausweglose, allgemeine, soziale Not, die als eine ungewöhnliche Auswegmöglichkeit zu einer Art abenteuerlichem Taugenichts- Dasein führt, welches gerade durch sein schelmenhaftes Durchbrechen aller beengenden Vorschriften, Sitten und Gebräuche ein menschwürdiges Bestehen des Lebens ermöglicht, das sonst in Lüge, Heuchelei, Schmutz und Not erstickt wäre. In Sonjas letzter Name wird der österreichische Offizier Roszkowski ein solcher »Schelm«, der entgegen jeglicher Auffassung von Ordnung, Disziplin, Vorschrift und Offizierskodex die blutjunge polnische Jüdin und Schelmin wider Willen Sonja, die aus einem geradezu entsetzlichen Dasein auszubrechen versucht, durch immer neue, abenteuerliche Lügengeschichten unter immer neuen Namen zu verstecken, zu erziehen, zu retten versucht, bis sie zuletzt, in glücklichem Ausgang des Schelmenabenteuers - wieder entgegen alle Standesvoraussetzungen - mit einem jungen Offizier verheiratet wird und ihren fünften und letzten Namen erhält. In Negerkönigs Tochter ist es der begabte junge Tscheche Hesky, der durch schelmenhafte Flucht aus einer ganzen Reihe von Zwängen zuletzt ein sinnerfülltes, schönes, ja ehrenhaftes Dasein findet. Zuerst entflieht er dem gedrückten Leben seines tschechischen Heimatdorfes dadurch, daß er als unüblich intelligent vom Ortspfarrer entdeckt wird und von der Kirche in ein Gymnasium geschickt wird, um später Theologie zu studieren. Dem Zwang eines solchen nicht selbst gewählten Theologiestudiums entspringt er wieder mit Hilfe eines tschechischen Schneidermeisters, der ihm ein Medizinstudium finanziert, nicht ohne daß der junge Hesky dafür als neuen Zwang eine Verlobung mit der häßlichen und griesgrämigen Tochter seines Mäzens einzugehen hatte. Diesem neuen Zwang entspringt er nach Abschluß seines Studiums in größter Verzweiflung dadurch, daß er vorgibt, einer inneren Berufung folgen zu müssen, als Afrikaforscher auf eine Expedition zu gehen. Dadurch legt er eine größt- 12 Vgl. Josef Ciphio Jungs Skizze »Wie ich Otto Stoessl kennen lernte.« Bisher ungedruckt und angeführt bei Franz Stoessl, op. cit., S. 236 <?page no="47"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 35 mögliche Distanz zwischen sich und die ungeliebte Braut. Von Afrika mit überraschenden Ergebnissen heimgekehrt, stellt sich ihm als eine Art neuer »Zwang« der antitschechische Präsident der Wiener ethnographischen Gesellschaft als feindliche Macht entgegen, der ihm keine Ausstellung seiner Funde bewilligen möchte und damit die gerechte Anerkennung für sieben harte Jahre versagt. Aus diesem neuen Zwang erlöst ihn nun ausgerechnet der Diener der ethnographischen Gesellschaft, Dieter Senior. Die Ausstellung, in deren Zentrum die mitgebrachte Tochter eines Negerkönigs steht, findet statt. Das glänzende und ruhmreiche Finale nach all den schelmisch und erfolgreich durchlaufenen Fluchtwegen stellt die Abreise Dr. Heskys zu seiner zweiten, dieses Mal staatlich unterstützten Afrika-Expedition auf dem Wiener Westbahnhof dar. Die Tochter des Negerkönigs soll wieder nach Hause gebracht werden. Der Unterrichtsminister und ein Erzherzog haben sich zum Abschied eingefunden und eine tschechische Kapelle intoniert unter Trikoloren und Fahnenschwenken das »Kde domov mui«. Aber es geht nicht einfach um oberflächliche Überwindung von Schwierigkeiten moralischer Schranken durch schlaue Gerissenheit, sondern um die Erfüllung eines notwendigen inneren Gesetzes gegen alle verständnislosen und boshaften Hindernisse, die Egoismus aufgerichtet hatte, oder, wie es Stoessl selbst ausdrückte: »Das ist des Menschen Freiheit und des Menschen Schicksal: Mit gebundenen Gliedern fliegen ohne Fittich und mit geflügelter Seele ruhen ohne Wahl: wunderliches Dasein des Menschen.« 13 Stoessl wäre aber nicht der abwägende, ausgleichende Erzähler, der er ist, hätte er nicht auch den Gegentypus des Schelms zur Figur des Dr. Hesky dargestellt. Das heißt nicht jene Art von Schelm, der den Lügen, dem Schwindel, dem Zwang und den Unterdrückungsversuchen der anderen zu Recht entflieht, sondern jenen Schelm, der sich selbst belügt und der schmarotzerhaft die anderen schädigt. Ein solcher »Charakter« ist sein Egon de Alamor in Egon und Danitza (1910), der das Herz der achtzehnjährigen Danitza in der Hoffnung auf eine riesige Mitgift entzündet und hochstapelnd ihre Hand gewinnt. Als sie nach längerer Zeit mit bösen Enttäuschungen zuletzt allein in ihrer Wohnung sitzt, die leer ist bis auf ein billiges Bett, einen Stuhl und einen großen Koffer, der zur Not als zweiter Stuhl dienen kann, und als sie verzweifelt am Ende ist, da sie mit Recht annehmen muß, daß Egon gar nicht mehr zurückkommt, da macht sie sich psychisch erschöpft auf den Weg und wandert quer durch Wien und über die Reichsbrücke. Bei Einbruch des Abends erreicht sie in der Wildnis der Donauauen eine jener »Kolonien«, wo in primitiven, selbst gezimmerten Hütten die Ärmsten der Armen hausen. Die letzte dieser Hütten, fast schon 13 Otto Stoesl: Schelmengeschichten. Wien 1934, S. 266 <?page no="48"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 36 im Wald und abseits gelegen, verbunden mit einer Geflügelzucht und einem Garten, ist die ansehnlichste von allen. Ihr Besitzer lädt die Erschöpfte zum Abendessen ein, dann zum Übernachten und so bleibt sie - für immer. Nach mehr als einem Jahr kehrt sie für einen Nachmittag aus Neugier in die Stadt und ihr früheres Leben zurück. Dabei beobachtet sie am Eingang des Praters die Auffahrt der Wagen zu einem Blumenkorso und entdeckt in einem fliedergeschmückten Wagen ihren Egon, wie er an der Seite seiner gleichfalls hochstapelnden Mama und Schwester, zweier hochgeputzter, in Eleganz und Mode wippender Damen strahlend vorbeifährt: »Er schaut um sich nach allen Seiten mit seiner herzlichen Art zu blicken, die nichts auf der Welt bemerkt, als sich selber, so trifft sein Auge auch seine weiland Gemahlin, aber wie sollte er sie in dieser Gestalt erkennen? « 14 Und so wandert sie wieder zurück, sehr viel glücklicher als ein Jahr zuvor, zurück in ihre Armen-Kolonie in der Wildnis der Donauauen, »Ausgang neuer Schicksale, Abenteuer und Sitten und Ende wie Anfang eines Traumes und Spieles.« 15 Sein nächstes Buch, die Novellensammlung Allerleirauh (1911) ist insofern interessant, als ihre einzelnen Stücke in alle drei Richtungen weisen, in die sich Stoessls Erzählkunst weiter entwickeln sollte. Zum ersten ist im »Verleger« eine weitere kurze Schelmengeschichte zu finden. Der »Verleger« Martin ist ein gesteigerter Egon, der als Schwindler, Betrüger und prinzipienloser Egoist bis ins Kriminelle gesteigert ist. In einer bestürzend prophetischen Weise ist diese Prä-Hitlerfigur gezeichnet, welche die Kriminalität zum Idealismus stilisiert und sogar auch in einfältig-banaler Weise mit Mißdeutung und Mißbrauch von Nietzsches Ideen arbeitet. Die Figur ist durchaus so angelegt, daß sie in Verbrechen und Katastrophe enden müßte, fände nicht das Wunder der Wandlung dadurch statt, daß an dem Schwindler die doppelte Gnade der Liebe einer romantisch veranlagten, schönen jungen Frau und das Geld ihrer Eltern Anteil nähme, so daß die schon in den Untergang zielende Katastrophe im letzten Augenblick vermieden, der Schwindel-Verleger zu einem wirklichen Verleger wird und anstatt einer Verbrechergeschichte eine Schelmengeschichte zustande kommt. Dies geschieht aber nicht nur dadurch, daß »Recht und Unrecht« sich eben »mit dem jeweiligen Standort verschieben«, womit der Standort der jungen Frau gemeint ist 16 , sondern auch weil der glückliche Ausgang es geradezu fordert und bestimmt. Die zweite sich ankündigende Richtung, durch etwas stärkere romantische Züge gekennzeichnet, wendet sich dem Düsteren, Traurigen und Dunklen 14 Otto Stoessl: Egon und Danitza, op. cit., S. 122 15 Egon und Danitza, op. cit., S. 122 16 Otto Stoessl: Allerleirauh. München und Leipzig 1911, S. 183 <?page no="49"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 37 zu. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist die Erzählung »Gerti begleitet den Papa«, in der das, was beim späten Saar in naturalistische Hoffnungslosigkeit mündet, ins romantisch Heftige und Grelle, Krasse und Radikale gesteigert erscheint. Es ist eine Art gesteigerter Leile und fast scheint es, als wäre Stoessl hier am Rande an den Zeitgeist der expressionistischen Periode angestreift, die ihm an sich ganz und gar nicht lag. An die zwölfjährige Gerti tritt an einem einzigen Tag eine solche Überforderung heran, die reale Welt der Erwachsenen zu bewältigen, daß sie eines geheimnisvollen, psychosomatischen Todes stirbt. Die dritte Richtung aber, die sich hier ankündigt, ist jene mehr realistischautobiographische Linie, die sich in der Erzählung »Die Botschaft« niedergeschlagen hat. Wohl war bereits die Erzählung »Die Schmetterlingsjagd« im Band Kinderfrühling mit autobiographischen Zügen durchsetzt gewesen, aber hier tritt zum ersten Mal der erwachsene Stoessl unter dem Namen der literarischen Figur Mainone in seine eigene erzählerische Welt ein, jener Mainone, von dem es bereits hier heißt, daß er ein Gewissen für zwei hatte, und jener Mainone, dessen eher wehmütige Rückerinnerung an die Hofratstochter Regina Amlacher ebenfalls bereits hier durch einen Ansatz des Humors verklärt wird, wie er später die drei großen Romane überglänzen sollte. Die zweite Richtung, die zunächst in den Vordergrund trat, war jene Hinwendung zum Dunklen, zum Traurigen, Melancholischen, Depressiven, ausgelöst durch eine echte Teilnahme an und tiefes Mitleid mit den Schicksalen Gescheiterter, Ausgestoßener, Erniedrigter und Beleidigter. Über die Enttäuschungen und Versagungen der Erzählung Was nützen mir die schönen Schuhe (1913) über die noch traurigere Novellensammlung Unterwelt (1917) und einige Novellen des Bandes Irrwege (1922), wie besonders »Marcelle Altoviti« und »Die Brennende« reicht diese Einstellung bis zur völlig hoffnungslosen Düsternis des Bandes Nachtgeschichten (1928), in dem das schlechthin Böse dargestellt wird, das Menschen einander antun können, aber auch das zerstörerisch Böse, das sie der Natur und Tieren zufügen, wie es den Anfang des Weges zur Selbstzerstörung bezeichnet. Immer wieder unterbrochen wird die düstere Linie durch kontrapunktisch gegenübergestellte Schelmengeschichten. Aber ihr tröstlicher Humor funktioniert oftmals so, daß er auf die Seite der Phantasie tritt, die der Wirklichkeit gegenüber steht und diese Welt der Phantasie ist manches Mal die Kunst und wiederholt das Theater. Ein typischer Vertreter dafür ist die Figur des schelmischen Schauspielers Ingomar, welcher der Phantasiewelt des Theaters in die illusionslose, traurige Welt der Wirklichkeit zu entfliehen versucht, ehe er von diesem Irrweg endlich zurückfindet in Die Schmiere, in die er rechtens gehört. <?page no="50"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 38 Die Entwicklung dieser Linie gipfelt in Nora die Füchsin (1934), der vor Tod und Elend, Hunger und Not des Ersten Weltkriegs spielenden Geschichte der jüdischen Schauspielerin Nora Frey, einer vollendeten Schelmin. Sie ist es, die mit dem sehr viel schwerblütigeren Dichter Franz Geer jener Welt des Scheins, aber auch des Wertes, der Nicht-Wirklichkeit und Phantasie zugeordnet ist, kurz jener visionären, höheren Sphäre, die zwar das Opfer der vorgeblichen Wirklichkeit fordert, doch dafür eine letzte Sinnerfüllung erahnen und mitunter sogar erfahren läßt. »Wir sind Wesen für andere«, sagt die Schelmin Nora einmal todernst zum Dichter Geer, »wir reden und handeln im Auftrage einer höheren Macht. Irgendwie von Gottes wegen, damit die Menschen Religion bekommen, Menschen werden.« 17 Und weil sie sich ihres Auftrags und ihrer Sendung bewußt ist, klarer noch als Dr. Hesky in Negerkönigs Tochter, und weil sie sie nicht verrät, sondern zu ihnen steht, gelingt ihr wie jenem die Flucht, nein, der Ausbruch in eine letzte persönlichen Freiheit. Zwischen den beiden Strömungen aber, der dunklen von der Unterwelt bis zu den Nachtgeschichten einerseits und der hellen der Schelmengeschichten andererseits erheben sich wie eine Art Synthese und gleichsam als geschlossener Block die drei großen Romane, die man als eine Art Trilogie sehen kann: Morgenrot (1912), Das Haus Erath (1920) und Sonnenmelodie (1923). Sie sind wie Balzacs Comédie humaine, die Stoessl genau gekannt hat, 18 durch einige hier wie da vorkomnmende Figuren nicht nur untereinander, sondern durch die Figuren des Josef Dieter, seines Vaters so wie durch jene des Dichters Ludwig Mainone, dessen Vater Wilhelm Mainone und der Thea Mainone auch mit einer ganzen Reihe der Novellen und Erzählungen verbunden. Wenn aber Stoessl Balzac einen »objektiven, anschauenden Darsteller« genannt hat 19 , dann kann man das auch von ihm selbst sagen, denn wie dessen Epik machen auch Stoessls Romane die Welt objektiv als Ordnung und umfassende Einheit sichtbar und sie sind anschaulich, weil auch ihr subjektiver Schöpfer in sich blickt und das Wesen der Welt aus der Unendlichkeit seines Innern erschließt. Die Romane unterscheiden sich von den Novellen und Erzählungen dadurch, daß nicht einzelne Begebenheiten oder auch nur Personen allein im Mittelpunkt stehen - wenngleich Hauptfiguren vorhanden sind -, sondern daß sie das Gesamte von einem Stück Welt vor dem Leser errichten. Im Fall der Romane von Stoessl besteht dieses Stück Welt aus Österreich von der 17 Otto Stoessl: Schelmengeschichten, op. cit., S. 207 18 Otto Stoessl: Balzac. In: Lebensform und Dichtungsform, op. cit., S. 27-39 19 Otto Stoessl: Balzac, op. cit., S. 29 <?page no="51"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 39 Gründerzeit bis nach dem Ersten Weltkrieg. Die besondere Art der subjektiven Anschauung aus der heraus die Darstellung erfolgt, ist aber wiederum wesentlich durch den Humor bestimmt. Dabei gilt für Stoessl selbst genau so das, was er bei Sterne und den »Humoristen« beobachtet hat, daß nämlich ihre Werke zumeist der durch Skepsis bedingten Formauflösung unterliegen, »wobei der Humor etwa als überwiegende Gefühlsenergie zur Gestaltung und rein künstlerischen Zusammenfassung drängt.« 20 Der erste der Romane gibt vor allem eine Darstellung Österreichs in der Gründerzeit, wobei Wien und einzelne Gebiete der heutigen Tschechischen Republik den äußeren Rahmen bilden. Das Gerüst der Fabel stellt die Geschichte der Kindheit, Jugend und frühen Entwicklung von Josef Dieter dar und dessen Freundschaft zum gleichaltrigen Toni. Dieser Dieter ist fröhlich, er sucht des Lebens helle und muntere Seiten und wünscht sich sogar einen Gott, der heiter sein soll. Das bedeutet keineswegs, daß er und sein Darsteller Stoessl blind sind für die ernsten, traurigen, ja manches Mal entsetzlichen Seiten des Lebens oder daß diese Seiten ausgespart werden. Die bösen Ereignisse und traurigen Schicksale werden auch nicht verkleinert, verniedlicht oder verfälscht, sondern sie werden durch den Humor gemildert, überglänzt und verklärt. Auch hier tönt leitmotivartig das Schelmenmotiv immer wieder an. Nicht weniger als ein Drittel des neunten Kapitels ist der besonderen, persönlichen Rezeption des Eichendorffschen Taugenichts durch Josef Dieter gewidmet. Durch dieses Leitmotiv kommt in den ganzen, von einem auktorialen Erzähler in traditioneller Weise dargebotenen Roman, der in der Tradition zwischen Stifter und Joseph Roth steht, ein moderner Zug. Denn nicht nur wird das Taugenichts-Motiv schon vor dem neunten Kapitel anspielungshaft-vorausdeutend eingeführt, es findet sich viele Male nachher wieder abgehandelt in einer Weise, die an die Pastiches eines Proust erinnert. Die Weisheit der Einfalt wird sichtbar, die großen Folgen kleiner Begebenheiten, die Größe vieles Einfachen und Kleinen und die alles überstrahlende Kraft und Macht der Güte und eines einfachen, guten Gefühls. Als das schönste Werk des Professors und Hofrats Ronge wird aber nicht ein bestimmtes seiner gewiß bedeutenden wissenschaftlichen Werke bezeichnet, sondern seine jährliche Einladung aller Kinder des Hauses zum Weihnachtsfest. Der zweite, erfolgreichste und von vielen als der bedeutendste der drei Romane betrachtet, Das Haus Erath, ist noch weit weniger als der Roman Morgenrot die Geschichte eines Haupthelden, sondern zeigt eine ganze Reihe von Schicksalen in vielfach verbundener, gegenläufiger und einander ergänzender Weise. Dieses Buch österreichischer Buddenbrooks zeigt wie ja auch 20 Otto Stoessl: Lebensform und Dichtungsform, op. cit., S. 52 <?page no="52"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 40 Joseph Roths Radetzkymarsch und Ernst Lothars Der Engel mit der Posaune am Beispiel der Entwicklung von drei Generationen den Untergang des alten Habsburgerreiches und zugleich damit den Untergang der staatstragenden Schicht des Bürgertums. Das »Haus« Erath ist der stolze Name einer großbürgerlichen Firma und Familie von Leinen- und Seidenwebern im siebenten Wiener Gemeindebezirk, das in diesem Zeitraum seinen höchsten und letzten Glanz und seine Auflösung erfährt. Zahlreiche Schicksale untermalen und repräsentieren zugleich das Geschick des österreichischen Staates vom Verlust Venetiens 1866 über den großen Börsenkrach von 1873 bis zum Zusammenbruch des Habsburgerreiches. Durch den ganzen Roman, der breit ausladend mit Humor erzählt ist, finden sich Impressionen aus dem Leben Thea Amersins von früher Kindheit über ihre Heirat mit der autobiographischen Schlüsselfigur Ludwig Mainone, die so indirekt in das Haus Erath einheiratet, bis zu ihrem Durchleben des Kriegsendes. Es gibt in diesen Schilderungen des Landes noch Inseln einer heilen Welt, vor allem symbolisiert in der Mädchenfigur Gisa Reiners, bei welcher Lebenswirklichkeit und Kunst noch nicht einander als Gegensätze gegenüberstehen, sondern zu einer Einheit verschmelzen: »Ihr wächst alle Kunst sozusagen nach innen ins Herz und in den Geist, lieber Freund, und verwandelt sich in lebendiges Leben. Sie selbst, der ganze Mensch ist darum völlig das, was sonst erst durch die Kunst qualvoll angestrebt wird.« 21 Die Kritik der bürgerlichen Welt, die zuletzt schmerzlich radikal ausgeführt wird, zeigt sich schon früh durch ihre Wertgrundsätze: »Das Bürgertum maß den Menschen an seinen Taten, seinen Wert an seiner Wirkung, diese Frauen auf dem Hofe maßen aber die Taten an dem Menschen, die Wirkungen an dem Werte, der sie hervorgebracht, also maßen sie richtig, weil im Nachhinein, zu spät freilich für Vorsicht und Rücksicht, aber so furchtbar gerecht, wie das erfüllte Schicksal, das auch nur nach dem Manne richtet, nicht nach der Tat.« 22 Stoessl schildert zuletzt die Kriegszeit, den qualvollen Hunger, die Kinderkriminalität, den Mangel an allem Lebensnotwendigen, die immer kläglicher klingende offizielle Begeisterung, die wachsende Verzweiflung und schließlich den Zusammenbruch des Reiches. Das aber bedeutet für ihn unter anderem auch den Zusammenbruch seiner epischen Imagination, durch den seine Figuren gereist und gefahren, gewandert und geschritten waren. Denn dieser innere Raum seiner erzählerischen Einbildungskraft war geprägt durch die Städte, die Landschaften, die Menschen dieses Reiches gewesen. Es war das alte Österreich gewesen, das er dargestellt hatte, von dem er Jahre später schrieb, wie 21 Otto Stoessl: Das Haus Erath. Leipzig 1929, S. 143-44 22 Das Haus Erath, op. cit., S. 138 <?page no="53"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 41 sehr er es geliebt hatte: »Ganz abgesehen davon, daß sein Geist, sein Erzählen von diesem riesenhaften Ungefähr ›Österreich‹ lebten, daß er von diesem Staat, von dieser ungeheuren, schier erhabenen Dummheit oder Notwendigkeit eben die Gestalten und Erscheinungen bezog, also seines Wesens Grund und Nahrung, den komischen Selbstzweck seines Tuns und Leidens. Nahm ihm der Ernst der Geschichte - er lächelte - dieses Gelump weg, so war ihm selbst das Reich geraubt und eine Welt vertan, die er besser zu verwalten glaubte als die Mächtigen ihre fatale Wirklichkeit.« 23 Darum ist dieses Buch vom Zerfall des Reiches noch bitterer und trauriger, wenngleich keineswegs ohne Humor, der ja »ohne tiefe innere Traurigkeit, ohne eigentliches tragisches Weltgefühl - mehr oder weniger als Skepsis - nicht zu denken ist.« 24 Auch der dritte Roman, Sonnenmelodie (1923), der durch seine Hauptfigur Johann Körrer, die nach Josef Matthias Hauer gestaltet ist, der unabhängig von Arnold Schönberg zum Begründer der Zwölf-Ton-Musik wurde, spielt überwiegend noch in der alten Monarchie, obwohl er darüber hinaus in die Zukunft weist. Das letzte Siebentel des Romans spielt in der Ersten Republik und endet mit einem Ja zum Leben wie zur Zukunft. Johann Körrer, wie sein historisches Urbild in der Arbeiter- und Garnisonsstadt Wiener Neustadt geboren, wächst in ziemlicher Not auf, wird Unterlehrer auf dem Lande, kehrt verheiratet nach Wiener Neustadt zurück, entdeckt, wie er die zwölf Töne der Oktave zu einem in ihrer Weise verbundenen, unwiederbringlichen und unveränderlichen Rhythmus gestalten konnte, führt die neue Musik mit ihrem sachlichen, einfachen und wahrhaften Ausdruck eines allgemeinen Gedanken- und Gefühlsgehalts zu ihren ersten Mißerfolgen, aber stellt sie doch der bisherigen Musik und der bisherigen Welt nachdrücklich gegenüber. Man könnte einerseits von Pastiches und von Motiven ähnlich wie bei Grillparzers Armen Spielmann sprechen, aber sehr viel besser doch wohl von einem umgekehrten Adrian Leverkühn. Denn dieser hatte eine seiner Welt der Zerstörung und des Untergangs adäquate Musik geschaffen. Körrer aber stellte dieser Untergangszeit seiner neuen Musik als hoffnungsvolle Kunst einer positiven Zukunft und einer neuen Sinnerfüllung des Lebens entgegen. Im Grunde sieht er also die Position und Entwicklung dieser neuen Musik richtiger als Thomas Mann. In jenem Sinn aber, in welchem dieser dritte Roman solch zukunftsweisende Botschaft enthält, ist er der bedeutendste der drei Romane. 23 Otto Stoessl: Sonnenmelodie. Graz - Wien - Köln 1977, S. 350 24 Otto Stoessl: Über mich selbst. Zitat aus zweiter Hand nach Franz Stoessl, op. cit., S. 245 <?page no="54"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 42 Gewiß, auch Das Haus Erath schließt nicht einfach negativ mit dem Untergang des Hauses und des Reiches, sondern die stark autobiographisch gefärbte Figur des Dichters Mainone, die das letzte Wort hat, erklärt einem Besucher: »Uns Ameisen ist unser Hügel zerstört. Richten wir ihn wieder auf. Bis zum nächsten Weltuntergang.« 25 In einer Hinsicht ist der Schluß des Romans Sonnenmelodie noch hoffnungsloser gerade für die wiederkehrende Figur Mnainones, aber in einer anderen Hinsicht ist er viel hoffnungsfroher und erfüllt vom Glauben an die Möglichkeit einer bessereren Zukunft. Mainone versucht seinem Freund Körrer im Gespräch folgendes zu erklären: »Das alte Österreich, die alte, großartige, unmögliche, aber doch wirkliche Masse war mein Reich. Davon war zu erzählen. Es hat Figuren und Abenteuer gegeben, Länder und Sprachen, Feind- und Freundschaften, Obere und Untere, beide gleich dumm oder gleich erbärmlich, aber doch merkwürdig, und so, daß man ihnen höhere Geheimnisse und Zwecke ansinnen konnte. Ich habe diese Possen beherrscht, als hätte ich sie erfunden. Ich habe diese Puppen bewegt und ihnen Bedeutung geben können. Nun hat man sie mir zerschmissen und mich beraubt. Ich weiß nicht mehr, was ich anfangen und weswegen ich noch gar etwas erzählen sollte … In der heutigen kleinen, bettelarmen Nüchternheit gedeiht bloß eine Dummheit, die mich nicht interessiert, ein Menschliches unter dem Lächerlichkeits- und Ernstmaß, das ich für meine Rekruten brauchte.« Johann Körrer aber entgegnet ihm: »Im Gegenteil, lieber Herr Doktor, für mich fängt erst jetzt die Welt an. Die Staatengeschichte, die Staatendummheit, der Staatsbetrieb sind verkracht, so können die Menschengeschichte, die Menschenwahrheit, die Melodien wieder anfangen, und es kommt mir wie eine gerechte Fügung der Natur vor, daß meine neue Musik, die alte Musik der Menschheit, das Melos der zwölf gleichschwebenden Töne gerade hier in Österreich anheben soll, von wo seit je die eigentliche, lebensbestimmende Musik Europas ausgegangen ist, wenn sich der Erdteil in aller Verwirrung und Qual schon gar nicht mehr anders zu helfen gewußt hat als mit Tönen.« 26 Stoessl macht in aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, daß es ihm in der Sonnenmelodie nicht einfach um einen historischen Schlüsselroman über Josef Matthias Hauer geht und die Entwicklung eines neuen Periodenstils in der Musik, sondern um weit mehr. Diese neue Musik steht hier sinnbildlich für eine neu entdeckte Art von Kunst überhaupt, die der negativen Lebenswirklichkeit als Ausweg, Rettung und Heil gegenüber gestellt wird. »Ich tu nicht mehr mit! Ich tu nicht mehr mit! « Ist der eine der beiden Schlüsselsätze 25 Das Haus Erath, op. cit., S. 417 26 Sonnenmelodie, op. cit., S. 357-58 <?page no="55"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 43 des Johann Körrer. Der andere Schlüsselsatz aber ist: »Ich habe aus der Hölle herausgefunden! Ich allein! Weiß Gott, wie! Jetzt bin ich draußen. Ich ahne, daß es noch Licht gibt.« 27 Der alte Staat ist untergangsreif wie die alte Musik, wie die alte Kunst überhaupt. Denn sie sind gar nicht wirklich alt, im Sinne der ursprünglichen, vom Menschen verlorenen »Einheit« und ein an Karl Kraus gemahnendes Sprachethos geht Hand in Hand mit Körrers musikalischen Ideen: »Langsam ergab sich der einzige Rhythmus, die Wahrheit, der Sinn dieser Folge, und langsam erschloß sich daraus die Antwort mit ihrer Richtigkeit, denn die Töne sind wie die Worte gerecht, und auch sie dulden keine andere Wahl als die notwendige. Wer weiß das? Wer vernimmt es? Unter den Menschen ist keine Achtung mehr vor dem Wort. Auch keine Ahnung mehr vor ihm. Sie haben seine leeren Schalen. So haben sie auch nur mehr die Scherben der Töne.« 28 Die »Sonnenmelodie« aber, die Johann Körrer entdeckt, ist uralt, und im Traum hört er mit einem Mal erklingen: Isis! Isis! Es scheint mir bei aller Verschiedenartigkeit der Komposition, Struktur und Haltung der beiden Romane bemerkenswert, daß Johannn Körrer als Hintergrund seiner »Sonnenmelodie« und damit als Schlüssel zu Stoessls Leitmotiv ebenso den altägyptischen Sonnenmythos erblickte, wie Robert Musil einmal über sein Opus Magnum, den Mann ohne Eigenschaften, die Bemerkung gemacht hat, daß er zur Gänze in nucleo in seinem Isis- und Osiris-Gedicht enthalten sei. Der Wiener Kritiker und Redakteur Richard Götz hat denn auch Musil und Stoessl besonders verehrt. Stoessl aber hat seinem Johann Körrer nicht nur die Überzeugung in den Mund gelegt, wonach fast alle Mythen bei den primitiven Urvölkern gleich erwachsen sind wie bei den durchgebildeten Nationen, sondern auch die Worte: »Das Menschliche, die Wahrheit, die Liebe, das Melos, aber auch das Bild, das Gleichnis bleiben gemeinsam. Nur die Fetzen der Tracht, die Irrtümer und Bosheiten jeder Gegend, die Betriebe sind das Treibende, Verschiedene. Die Urstimmen, die Urfarben, die Urworte, die Urfabeln sind gemeinsam, aber auch heilig. Auf sie kommt es an, wenn man Menschheit haben, spüren, bilden will.« 29 Das bedeutet im Grunde, daß Otto Stoessl der traurigen und negativen Wirklichkeit des zusammengebrochenen Österreich weder eine neue politische Wirklichkeit noch eine politische Utopie oder Glaubenslehre entgegen stellt, sondern ein vergeistigtes, verinnertes Österreichertum, wie es sich keineswegs 27 Sonnenmelodie, op. cit., S. 258 und 317 28 Sonnenmelodie, op. cit., S. 265 29 Sonnenmelodie, op. cit., S. 361 <?page no="56"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 44 im Geist der Mehrzahl seiner Bürger, sondern im schöpferischen Künstler spiegelt, nicht nur als die Vorstellung seiner besonderen Kunst, sondern von Kunst überhaupt. Ja, die Kunst ist es, die Aussicht auf Sinnerfüllung geben kann: »Kannst Du einem sein bitteres Sterben erleichtern? Schaffst du den Hungernden Brot, mir scheint, du hast selber keines und weißt nicht, wovon du morgen zehren wirst! Kannst du ihnen Lust geben oder Stille? Machst du sie besser oder gerechter? Ja, ja und ewig ja! Kunst ist das einzige, wahre, wirkende Wesen um das Sein, macht den Menschen zum Herrn seiner selbst und der Gewalten der Natur über das bloße Nützliche oder Schädliche hinaus.« 30 Dieses Glaubensbekenntnis Stoessls sollte in den letzten Jahren seines Schaffens nur immer nachhaltiger und klarer in den Vordergrund treten. Der Zusammenbruch der alten Monarchie bildete einen Dreh- und Angelpunkt in Stoessls Schaffen. So waren etwa jene Novellen und Erzählungen, die traurige oder tragische Themen behandelten vor 1918 von mehr Menschlichkeit überglänzt und von größerer Erträglichkeit bestimmt. Das Scheitern der Träume sowohl der Liebeserfüllung als auch der künstlerischen Pläne des Helden in Was nützen mir die schönen Schuhe (1913) ist traurig, aber nicht wirklich entsetzlich. Die vier Novellen des Bandes Unterwelt (1917), die im Wien der alten Monarchie spielen, behandeln zwar verschiedene Arten von sozialem Elend oder mangelnder Anpassung an die soziale und menschliche »Oberwelt«, doch ihre Figuren sind nicht von abgrundtiefer Bosheit und Bösartigkeit. Erst eine künstlerisch so meisterhaft gestaltete Novelle wie »Die Brennende« aus dem Band Irrwege (1922) radikalisiert das traurige Thema des schlechthin Bösen zum Dämonischen und völlig Heillosen hin. Dies gilt in noch gesteigerter Weise von den beiden Novellen- und Erzählungsbänden Nachtgeschichten (1928) und Menschendämmerung (1929), deren Geschichten sich vielfach überschneiden. Hier steht der Erzähler gleichsam fassungslos einer Welt des Gleichgültigen, Bornierten, primitiv Egoistischen, ja Fanatischen gegenüber, die in düsterer Eindeutigkeit das schlechthin Böse entbindet. In seinen Novellen und Erzählungen der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre hat Stoessl sich auch vom großen Thema seiner Erzählkunst, der Schilderung Österreichs und seiner Menschen von der Gründerzeit bis nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend abgewendet. Erst in der späten Novelle Ein Beutestück (1934) kehrte er wieder zu seinem alten Hauptthema zurück. Nach der Sonnenmelodie, zumal in den Dreißigerjahren vollzieht sich sodann überhaupt eine gewisse Abwendung vom Menschen und verstärkte Hinwendung zu Kunst und Natur und bei der letzteren vor allem zu den Tieren. In den Prosaskizzen, die er »Kleine Bilder« nannte, drei Jahre bevor Musil seine 30 Sonnenmelodie, op. cit., S. 361 <?page no="57"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 45 ähnlichen Skizzen im Nachlaß zu Lebzeiten »Bilder« betitelte, spielen Tiere eine Hauptrolle: im »Welttheater vor der Wirtshausbank«, in den fünf Bildern mit dem Sammeltitel »Gefangene«, in der schon in den Zwanzigerjahren veröffentlichten »Vogelfarm« und in der Erinnerung an ein schwarzes Kätzchen. Oft sind es düstere Betrachtungen, welche die Überlegenheit der Tiere über Menschen dartun. Mitunter kommt es auch zu einer Verbindung von Tier und Kunst, Tier und geprägte Form wie in »Spanische Reitschule«, und mitunter kommt es sogar auch zu einer Verbindung des Tier-Themas mit dem alles vermenschlichenden, alten Stoesslschen Humor wie in den Stücken »Die philosophische Ziege« oder »Die Hühner«. 31 Sind diese »Kleinen Bilder« Mischformen, in denen das subjektiv-essayistische Moment oftmals sogar das fiktiv-erzählerische Moment überwiegt, so ist schließlich der reine Erzähler Stoessl nach dem Beutestück auch in seiner letzten und größten Schelmengeschichte Nora die Füchsin zu seinem alten Lieblingsstoff, dem alten Österreich zurück gekehrt. Die Geschichte der Schauspielerin und Schelmin Nora aus dem österreichischen Czernowitz spielt vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, nicht zuletzt, um die bereits in der Sonnenmelodie herausgearbeitete Dichotomie von Leben und Kunst zu unterstreichen. Sogar Noras wiederholte Weigerung aufzutreten, die vom Theaterdirektor als schelmenhafter Dreh mißdeutet wird, hat nicht nur einen persönlichen Hintergrund, sondern steht symbolisch als Kehrseite für das Nicht-Mitmachen mit der Wirklichkeit des Mordens, Hungerns, Leidens, Grauens des Krieges. Aber ihr Auftreten stellt sodann erst recht den positiven Gegensatz zu solcher Wirklichkeit dar. Im Ablegen solcher Zeugenschaft für das Unwirkliche gegen die Wirklichkeit des Krieges und für die Kunst, des Dichterworts gegen die Realität des Kriegsgeschehens tritt die autobiographisch gefärbte Figur eines Autors an ihre Seite, den Stoessl in diesem Fall mit dem Namen Franz Geer eingeführt hat und der - wie auch Stoessl selbst - sein Stück von einem Hirten als Gott in einem Naturtheater aufgeführt sehen möchte, im schreienden Gegensatz zur literarischen Heldenbeweihräucherung wie zu aktuellen Tagesinteressen der Politik, wie sie die Figur des Paul Gustav Friend im österreichischen Kriegspressequartier betreibt. In Geers Stück wetteifern ein Hirte und ein Gott um die Gunst einer Prinzessin, wobei der Hirte die Oberhand behält, da Menschenerde den irdisch Liebenden gehört. 31 Otto Stoessl: Kleine Bilder. In: Arcadia. Wien 1933, S. 221-280 <?page no="58"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 46 Dies steht in nicht weniger radikalem Kontrast zur Zeitwirklichkeit als die Rolle Noras in einem französischen Salonstück oder als ihr Traum, Goethes Gretchen zu spielen. Aber, fragt der Erzähler Stoessl, »werden die Wunder eines Menschen nicht gerade in einem solchen äußersten Widerspruch frei? Siegt eine Seele nicht erst, wenn das Gemeine ihr wie ein Sumpf bis an den Hals gurgelt? Sicher steigt sie, ein neues Gestirn, licht empor, ein Wesen ist da! « 32 Der teils autobiographischen Dichterfigur des Franz Geer aber legt er die Worte in den Mund: »Wie sehen denn die Wirklichkeiten aus? Das Reich der Unwirklichkeiten braucht man. Wer macht denn aber das Reich der Unwirklichkeiten? Doch wir Dichter mit unseren Einbildungen. Philosophen, Künstler, Gläubige. Wir alle miteinander. Wir sagen zu allem Menschlichen ja, aber wenn es sich fürchterlich selbständig macht, dann schütteln wir den Kopf: so haben wir es nicht gemeint.« 33 Sodann aber stellt er auf seine Weise plötzlich die Verbindung solch dichterisch imaginierter Unwirklichkeit mit der Lebensrealität her, denn wer die tragischen Bühnenfiguren eines Faust, Othello, Hamlet, Macbeth erschaffen kann, der dürfte nicht überrascht sein, wenn sie plötzlich Leben gewinnen. Wie außerdem und überhaupt die heiligsten Vorstellungen ohne die gemeinsten unmöglich wären, die Wahrheit ohne Lüge undenkbar und wie potentiell grundsätzlich jeder an allem teil hat und an allem schuldig ist, Nora, die »Füchsin« aber, die alle Männer düpiert und benützt, einschließlich des durchtriebenen und hartgesottenen Theaterdirektors Jarowitz, den sie dazu bringt, sie gegen seinen eigenen Willen und gegen seine eigenen Interessen aus dem Kontrakt zu entlassen, nicht um einer egoistischen Laune willen, Nora drückt diesen Gegensatz Kunst und Leben folgendermaßen aus: »Der Künstler muß alle verfluchten Begierden spüren, sie müssen gräulich um ihn herumtanzen, wie um den heiligen Antonius, und er muß verzichten wegen der eingebildeten Arbeit, wegen der Entschädigung durch die Phantasie. So oft er das Abenteuer draußen aufsucht, wird er um eines drinnen ärmer.« 34 Ist es ein Zufall, daß die Gesamtausgabe der Werke Otto Stoessls, die auf zehn bis zwölf Bände angelegt war, und die infolge Hitlers Machtergreifung in Österreich abgebrochen werden mußte, mit jenem vierten Band von Novellen und Erzählungen endete, der den Sammeltitel Schöpfer trug, womit künstlerische Schöpfergestalten gemeint waren? 35 Schon in der Sonnenmelodie läßt er 32 Schelmengeschichten, op. cit., S. 79-80 33 Schelmengeschichten, op. cit., S. 168 34 Schelmengeschichten, op. cit., S. 197 35 Otto Stoessl: Schöpfer. Wien 1938 <?page no="59"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 47 den musikalischen Schöpfer Johann Körrer sagen: »gibt es denn andere wirkliche Menschen überhaupt als die Schöpfer? Die anderen sind ja nur das geschaffene, unvollkommene Abbild der wenigen Weisen, Gerechten, der Deuter, der Dichter, der Sänger. Das Leben der vielen ist ein Schein und Spiel und ein Schatten. Sinn, Liebe, Zusammenhang bekommt es doch von dem Schöpfer. Sich selbst überlassen, wird es Betrieb, Verwirrung, Mord. Erst wenn die Menschen aufblicken und die Stimme der Deuter vernehmen, ahnen sie die Wahrheit, haben sie Religion und Sitte und Natur. Wir sind Natur, Schöpfer und Schöpfung, Liebe und Wahrheit. Wir haben das Schicksal der Menschen in unserer Hand, in unserem Inneren. Wir alle vermögen noch etwas unter uns zu erkennen. Darauf aber beruht jede Sittlichkeit und Liebe. Darum haben wir jetzt erst unser Reich wieder, da die Welt der Sinnlosen, der Betriebstiere wieder einmal zerstreut ist.« 36 Gewiß, der Band Schöpfer 37 vereinigt Novellen und Erzählungen aus seiner gesamten Schaffenszeit von 1903 bis 1934 und der Begriff des Schöpferischen ist sehr weit gefaßt: Er reicht von der märchenhaften Darstellung der Weltschöpfung durch den Windgott Ungefähr und den Lichtgott Laune über besondere Augenblicke aus dem Leben schöpferischer wie darstellender Künstler bis zum nichtkünstlerischen, schöpferischen »Dienst an höheren ideellen Werten« 38 und selbst der kurze, bei einem Sommeraufenthalt in Italien durch einen jungen Studenten zwei schelmischen und kindlichen italienischen Mädchen erteilte Unterricht im Deutschen fällt noch darunter. Gerade diejenigen Novellen der letzten Jahre aber, die hier von besonderem Interesse sind, »Der chinesische Diener« und »Die Geschichte eines Bildes«, »Der einzige Kenner«, »Orpheus« und »Piranesi« behandeln künstlerische Themen. Drei der fünf Novellen sind zudem mit Österreich verbunden. »Der chinesische Diener« behandelt die Entstehung einer der ersten repräsentativen westlichen Anthologien chinesischer Lyrik durch die Zusammenarbeit von Theophile Gautiers Tochter mit einem durch den Autor geretteten und als Diener aufgenommenen gebildeten Chinesen. »Piranesi« ist die romantische Geschichte einer Liebe auf den ersten Blick zwischen dem venezianischen Kupferstecher und Archäologen und einer schönen jungen Gärtnerin, ein halbes Jahrhundert ehe Venetien an Österreich fiel. Die Novelle »Geschichte eines Bildes«, sucht die geheimnisvollen Beziehungen zwischen dem Schöpfer und dem Dargestellten zu enthüllen im vorliegenden 36 Sonenmelodie, op. cit., S. 359 37 Schöpfer, op. cit.: Zusammengestellt nach Richtlinien Otto Stoessls aus dessen Nachlaß im Sommer 1937 durch Gusti und Franz Stoessl, erschienen Wien 1938. Auch der Titel und das Motto stammen noch von Otto Stoessl selbst. 38 Schöpfer, op. cit., S. 319 <?page no="60"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 48 Fall zwischen dem Maler Hogarth und dem Ehepaar Garrick. Stoessl macht als die leitende, verbindende und stimulierende Kraft Garricks Frau sichtbar, eine berühmte Tänzerin, die mit ihrem Mädchennamen Eva Veigel geheißen hatte und als Tochter eines Wiener Handwerkers zunächst an der Wiener Oper ausgebildet worden war. Die antinomisch gesehenen Spannungen zwischen Leben und Kunst behandeln die Novellen »Orpheus« und »Der einzige Kenner«. In »Orpheus« ist es der aus dem ungarischen Teil der alten Monarchie stammende Franz Liszt, der in Rom, überredet von einem ungarischen Grafen, bei dessen Hochzeit mit einem unirdisch schönen und sängerisch begabten jungen Mädchen zu spielen, die mythische Rolle des Orpheus annimmt. Sein Spiel bezaubert das Mädchen so, daß sie aus der Gefahr der »Unterwelt« einer solchen Ehe zurückgeholt wird und von der Hochzeit weg in ein Kloster flieht. »Der einzige Kenner« schildert das tragische Ende des großen österreichischen Malers Anton Romako, der im Unterschied zu den rauschenden Erfolgen des künstlerisch weit weniger bedeutenden Hans Makart zuletzt nur mehr einen Käufer und »Kenner« seiner Bilder hat, von dem er schließlich herausfindet, daß er blind ist. Das Erlebnis dieser Entdeckung ist das auslösende Element für den Ausbruch des Wahnsinns. Ein halbes Jahrhundert nach Stoessls Tod wurde aus dem Nachlaß ein weiterer Roman herausgegeben: Der Kurpfuscher. 39 Der Roman ist bereits 1925/ 1926 entstanden und ist vielleicht aus rechtlichen Gründen nicht veröffentlicht worden wegen der zu offenkundigen Nähe zu einem wirklichen Modell des Helden. Dieser Kurpfuscher Gridlbach ist ein typisch Stoesselsches Original und abgewandelter Schelm, der sich aus kleinen Verhältnissen zum erfolgreichen Wunderdoktor empor arbeitet und dessen Leben zu einem permanenten Kampf gegen die Verfolgung durch den Neid der Ärzteschaft wie durch engstirnige Behördenvertreter ausartet. Gridlbach glaubt an sein eigenes Naturheilverfahren, er hilft vielen Menschen und verlangt niemals Bezahlung, sondern begnügt sich mit dem, was die Leute selbst geben können oder wollen, wobei er Mittellose gratis behandelt. Sein Anwalt erklärt einem Richter privat, er könne keinen Menschen wertlos finden, der wegen eines Höheren gegen das Gesetz handelt. Aber die grausame bürokratische Gerichtsmaschine läßt ihn nicht aus ihren Klauen. Nachdem er einen Prozeß gewonnen hat, beginnt ein neuer und zuletzt ein besonders gefährlicher wegen Betruges. Als sein Anwalt den inzwischen schwer Erkrankten besucht, um ihm mitzuteilen, daß die Untersuchung wegen Betruges endlich eingestellt ist, da sagt der Kranke darauf: »Ich habe die Untersuchung eingestellt«, und stirbt in der folgenden Nacht. 39 Otto Stoessl: Der Kurpfuscher. Graz - Wien - Köln 1987 <?page no="61"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 49 Kontrapunktisch hat Stoessl eine Episode eingearbeitet, welche seinen immer wieder behandelten Gegensatz von Kunst und Leben so beleuchtet, daß man auch Gridlbach als Heilkünstler gegen die reale Welt stehen sieht. Er läßt sich nämlich von einem begabten aber erfolglosen Maler namens Leipold portraitieren. Der Maler aber geht freiwillig in den Tod, um durch die Sensationsnachricht den Preis seiner Bilder so hinauf zu treiben, daß seine Familie in Sicherheit leben kann. Der Roman Der Kurpfuscher spielt in und um Wien und die österreichische Atmosphäre ist so wichtig wie bei der späten Novelle Ein Beutestück, in der ebenso wieder ein Hauptgrundzug von Stoessls Erzählkunst, seine Liebe zur alten Monarchie, sichtbar wird. Seine autobiographische Figur Mainone hat dies einmal in besonderer Deutlichkeit und Genauigkeit beschrieben, als er vom alten Österreich erklärte, daß er es »trotz allem liebte wie ein Kind das Bodengerümpel, worunter es mit einer Freude schaltet, der ein leichtes Grauen besonderen Geschmack gibt. Dieses Reich, bunt wimmelnd von mannigfachen Figuren und von Erlebnissen, ganz wirklich und halb erfunden, vom Zufall und der Laune aus der nächsten Nähe herbeigeholt, darum untrüglich, unabänderlich und fabelhaft, unglaublich, weil wahr, blieb eben dasselbe Österreich, dessen Wirklichkeit und Untergang dem Amtsmenschen Mainone, aber auch dem denkenden und fragenden Beobachter hart genug zu schaffen machte, weil es ihm trotz allem nahe ging. Er liebte es nämlich, obschon er darunter litt, er liebte es, wie man eben seine Welt und das Leben liebt, woran unser Leib, darum auch unsere Seele hängt.« 40 Die Wirklichkeit des letzten halben Jahrhunderts der alten Donaumonarchie verband sich mit Stoessls Träumen von ihr und gewann durch seinen zusammenfassenden und ordnenden Geist gerade auch durch die anscheinenden Abschweifungen und Weitschweifigkeiten Leben und Gestalt. Darum konnte gesagt werden, daß sich aus seinem Werk die ganze österreichische Kulturgeschichte jener Zeit ablesen läßt und daß diese in ihm den »wohl kundigsten und gewissenhaftesten Chronisten und dichterischen Nachgestalter gefunden« hat. 41 Und dies dazu in einem Stil, von dem ein Karl Kraus erklärt hatte, Stoessls meisterhafte Prosa würde die Ehre dieses schwätzenden Landes retten. Ja man kann von Stoessl selbst wohl auch dasselbe sagen, was er über Lenau geschrieben hat, nämlich daß er »der Dichter dieses Staates« war, in dessen »Österreichertum zugleich seine Weltbedeutung« liegt. 42 Wie aber der frü- 40 Sonnenmelodie, op. cit., S. 350 41 Edwin Rollett, op. cit., S. 14 42 Otto Stoessl: Lenau, In: Das Junge Wien, op. cit., Bd. II, S. 1193 f. <?page no="62"?> Otto Stoessl. Ein vergessener, großer Humorist 50 he Stoessl bereits zusammenfassend über Lenau geurteilt hatte, so kann man es auch für den späten Stoessl selbst, rückblickend auf sein gesamtes Werk kaum besser aussprechen: »In seinen Künstlern hat Österreich eine seinem Leben versagte Einheit gefunden. Daß aber dieser Widerspruch zwischen dem politischen Dasein und den Wünschen und der Kultur seiner Geister besteht und sich immer schärfer äußert, macht das Schicksal der schöpferischen Menschen in Österreich so qualvoll und tragisch. Lenaus Leben und Kunst bedeutet in der Geschichte der deutschen Literatur die besondere Tragik Österreichs.« 43 Stoessls Geheimnis und Eigenart, dies nicht nur zu ertragen, sondern in einer positiven und warmherzigen Weise zu gestalten, seine Brücke zwischen Realität und Idealität, zwischen Wirklichkeit und Traum ist der Humor und schon früh hat man ihn deshalb in eine Reihe mit Gottfried Keller und den »besten englischen Humoristen« gestellt. 44 Wieder war es Stoessl selbst, der es am Beispiel seiner Mainone-Figur schlagend ausgedrückt hat: Er hatte »für das Zweifelhafte im Großartigen, für das Lächeln im Tragischen, für die Komik im Ungeheuren Sinn« und ein »gewisser Humor des Unwillkürlichen« schien ihm »durchaus zu der Offenbarung des Göttlichen selbst« zu gehören. 45 43 Otto Stoessl: Lenau, op. cit., S. 1199 44 Johann Willibald Nagel, Jakob Zeidler und Eduard Castle (Hg.): Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Bd. 4, Wien 1937, S. 1740 45 Sonnenmelodie, op. cit., S. 353 <?page no="63"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil In der letzten Zeit ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß Hermann Broch kein so großer Autor sein könnte, da er in Marcel Reich-Ranickis »Kanon« des Romans des zwanzigsten Jahrhunderts nicht vorkommt. Nun kann man aber wohl nicht gut das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, das die katholische Kirche bereits abgeschafft hat, nunmehr für einen Papst der Literaturkritik wieder neu aufrichten. Darum sei zunächst grundsätzlich etwas über die Relativität von Urteilen der Zeitgenossen und der unmittelbar nachfolgenden Generation zur Bewertung des Werks von großen Autoren festgestellt. Aus diesem Grund soll eine Parallele zu Goethe aufgezeigt werden, dem es in dieser Hinsicht keineswegs besser ergangen ist. Infolge der größeren zeitlichen Distanz von Goethe erlaubt es ein solcher Vergleich nämlich, das Problem besonders plastisch anschaulich zu machen. Goethe gilt heute für den Großteil der ernsthaften Literaturkenner als der größte deutschsprachige Dichter und es spricht für Wien, daß der Wiener Goethe-Verein die älteste Goethe-Gesellschaft der Welt ist. Aber diese Stellung Goethes war keinesfalls von allem Anfang an eine Selbstverständlichkeit. Vor allem war sie es nicht, als Goethe noch lebte und auch nicht in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod. So wie damals der meist gespielte und meist gefeierte Dramatiker nicht Friedrich Schiller war, sondern August Kotzebue, so waren etwa Goethes Romane mit Ausnahme seines Jugendwerks, des Werther, keineswegs von einer großen Zahl von Lesern gekauft und rezipiert worden. Die meist gelesenen und zum Teil auch besonders berühmten Romanautoren jener Zeit hießen Carl Gottlob Cramer, Johann Heinrich Spieß und Christian Vulpius. Sogar in Weimar selbst, wo Goethe eine ganze Reihe von öffentlichen Ämtern bekleidete, war als großherzoglicher Rat nicht er Bibliothekar, sondern Christian Vulpius. Da viele wahrscheinlich und zu Recht nicht einmal die Namen der damaligen Berühmtheiten kennen werden, soll jeder der drei Autoren wenigstens durch einen Satz vorgestellt werden. Cramer war der Lieblingsautor der damaligen Leihbibliotheken, deren Geschäftsbetrieb er durch Romane wie Hermann Nordenschild und Der deutsche Alkibiades zum Florieren gebracht hat. Johann Heinrich Spieß hatte als besonderes Spezialgebiet die Gattung der blutigen Gespenstergeschichten und sein viel bewundertes Meisterwerk war Das Petermännchen. Eine Geistergeschichte aus dem 13. Jahrhundert. Der dritte aber, Christian Vulpius, schrieb nicht nur über das traurige Geschick verfolgter junger Mädchen, wie Die Schreckenshöhle oder die Leiden der jungen <?page no="64"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 52 Miranda und auch an das Geisterhafte grenzende Romane wie Hulda, das schöne Wasserfräulein. Vor allem hatte er die bereits vor ihm bestehende Gattung der Räuberromane durch seine Geschichte des unübertrefflich romantischen und zärtlichen Räubers Rinaldo Rinaldini auf eine Höchststufe damaliger literarischer Bewunderung gehoben. Dies alles muß einer kleinen Geschichte über Goethe vorausgeschickt werden, die angeblich wahr sein soll, die aber auch für den Fall, daß sie es nicht ist, auf die wahre Situation ein grelles Licht wirft: Im Gasthof »Zum Elefanten« in Weimar war zu Goethes Lebzeiten ein vornehmer, reicher Fremder abgestiegen. Er saß beim Frühstück und blickte auf die Straße hinaus, als ein ungewöhnlich stattlicher und imposanter Mann diese Straße heran geschritten kam: so stattlich und imposant, daß der Fremde sich an den Kellner wandte und fragte: »Sagen sie mir bitte, wer ist dieser eindrucksvolle Herr? « »Oh«, sagte der Kellner, »Das ist der Herr von Goethe.« Der Fremde schüttelte den Kopf: »Also der Name sagt mir nichts.« sagte er. »Aber wer ist er denn? Was macht er? « Der Kellner antwortete: »Er ist der Direktor der großherzoglichen Mineralienkabinette.« »Aber da muß es doch auch noch etwas anderes geben.« beharrte der Fremde. Der Kellner zählte weiter auf: »Er hat auch den großherzoglichen Straßenbau unter sich.« Der Fremde gab aber nicht auf, sondern verlangte noch mehr zu hören. Da gab der Kellner sein letztes Stück an Information preis und endete: »Er ist auch der Schwager des berühmten Dichters Christian Vulpius.« Diese kleine Geschichte beleuchtet die damalige Tatsachenlage außerordentlich treffend. Gewiß, es gab die zahlreichen und zum Teil auch berühmten Besucher aus dem Ausland, es gab den Einfluß Goethes auf bedeutende Autoren. Es gab die vielen Glückwünsche und Geburtstagsgedichte von Bürgern Weimars wie von anderen. Kein geringerer als Napoleon hat als Bewunderer des Werther bei ihm zu Mittag gegessen. Aber diese positiven Erscheinungen sind trotzdem begrenzt und sind immer wieder bekannt gemacht worden, während die andere Seite der Wirklichkeit in Vergessenheit geriet. Hätte man nämlich im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts eine Gruppe der bedeutendsten (und nicht der etwas schwächeren) Professoren für deutsche Literatur in den deutschsprachigen Ländern einer modernen Meinungsumfrage unterzogen und nach dem größten deutschsprachigen Dichter gefragt, die überwiegende Mehrheit hätte geantwortet: Lessing. Im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hätte die Antwort wohl gelautet: Schiller. Und erst im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhundert begann Goethe allgemein in den Vordergrund zu treten. Vergessen wir nicht, daß der unbestechlichste und verläßlichste kritische Richter des Werts einer Dichtung die Zeit ist - von Ausnahmen abgesehen, <?page no="65"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 53 die jedoch in der Regel ebenfalls durch spätere »Entdeckungen« korrigiert werden. Jedenfalls gibt es als gleichsam objektive, literaturwissenschaftliche Bestätigung der kleinen Geschichte vom Fremden und vom Kellner ein heute nur mehr wenig bekanntes Buch mit dem Titel Der unbegabte Goethe. 1 Es besteht aus einer zweihundertsieben Seiten umfassenden Sammlung negativer Kritiken von Goethes Werken, die zu seinen Lebzeiten erschienen sind. Man darf aber ja nicht glauben, daß sich nur obskure Namen unter diesen Kritikern befinden. Der Reigen wird von Friedrich dem Großen eröffnet, der seine Kritik des Götz von Berlichingen pikanter Weise in französischer Sprache geschrieben hat und bei dem Shakespeare gleich in einem zusammen mit Goethe »erledigt« wird. Dann folgen an bedeutenden Autoren Wieland, Schubart, Klopstock, August Wilhelm Schlegel, Novalis, Heine, Grabbe und sogar Schiller. Natürlich besteht die überwiegende Zahl der negativen Kritiker aus geistigen Liliputanern, die sich selbst aufblasen und überheben, manches Mal sogar gewiß in der zumindest unbewußten Hoffnung, sich selbst durch die negative Kritik eines Großen sogar noch über ihn zu stellen. Aber auch wenn man die kritischen Einwände eines Wieland, A. W. Schlegel und Schiller etwas genauer unter die Lupe nimmt, dann zeigt sich nicht nur, daß sie jeweils auf einzelne Züge eines bestimmten Werks von Goethe beschränkt sind, sondern daß sie sich aus der historischen Distanz als Mißverständnis oder gar als irrelevant erweisen. Weshalb aber wird hier eine solche kurze Betrachtung über Goethe angestellt, wo es doch um Broch geht? Darum, weil sich an dem mehr zeitentrückten Beispiel Goethes in neutraler und eindringlicher Weise ein Parallelfall zu jenem von Hermann Broch abzeichnet. Zu Broch seien hier zwei gegensätzliche, grundlegende Beispiele angeführt. Das erste ist ein besonders positives Beispiel, nämlich jenes von Ernst Schönwiese, der mit Broch befreundet gewesen ist. Er hat schon vor dem Krieg an der Volkshochschule Leopoldstadt Broch durch Vorträge über dessen Werk wie auch durch Einladungen von Broch selbst zu Dichterlesungen einem größeren Publikum bekannt gemacht wie er auch Werkauszüge Brochs in seiner Zeitschrift das silberboot zum Abdruck gebracht hat. Nach dem Krieg hat er nicht nur diese Veröffentlichungen in seinem silberboot fortgesetzt, sondern hat auch im Rundfunk in vielfältiger Weise für die Bekanntmachung von Hermann Brochs Werk gewirkt. So hat er unter anderem das einzige ernsthafte Drama Brochs in einer Hörspielfassung nicht nur gesendet, sondern auch zum ersten Mal überhaupt in Buchform veröffentlicht. Er hat 1 Leo Schidrowitz: Der unbegabte Goethe. Wien o. J. <?page no="66"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 54 auch den zehnten Band der ersten Gesamtausgabe von Brochs Werken herausgegeben und hat durch wiederholte Veröffentlichungen von Erinnerungen an seinen Freund Broch unser Broch-Bild wesentlich erweitert. Das zweite Beispiel - als Gegenbeispiel - ist ein besonders negatives: Aus Anlaß von Brochs hundertstem Geburtstag hielt bei einem internationalen Broch-Symposium in Budapest der habilitierte Ordinarius einer österreichischen Universität, über dessen Namen hier der Mantel taktvollen Schweigens gebreitet sei, einen Vortrag über den Roman Der Tod des Vergil. Er begann den Vortrag mit der grundlegenden Feststellung, daß Der Tod des Vergil ein in jeder Hinsicht unzulänglicher, ja schlechter Roman sei. Und weil er ein gründlicher Wissenschafter ist, hielt er auch sofort eine Begründung dafür bereit. Hier ist die Begründung: Nachdem Broch kein humanistisches Gymnasium, sondern eine Realschule besucht hatte, hätte er nicht Latein gelernt. Deshalb fehlte ihm jede Voraussetzung sowohl zur Lektüre der Aeneis wie auch zu einem wirklichen Verständnis Vergils. Im Unterschied zu den meisten Rednern des Symposiums, die allerdings nicht über den Tod des Vergil sprachen, wußte er nicht, daß Broch in den Jahren seiner Tätigkeit als Fabriksdirektor in Teesdorf ein Doppelleben geführt hatte, daß er tagsüber die Fabrik leitete und in der Nacht seinen eigenen, geistigen Interessen oblag, wobei er auch Latein und Hebräisch lernte. Und er wußte natürlich auch nicht, daß es im Tod des Vergil Dutzende von nicht nur versteckten, sondern auch ganz offenkundigen Vergil-Zitaten gibt. Aber mit dem Hinweis auf diese Zitate begibt man sich bereits auf die Ebene der Argumentation dieses Herrn hinunter, denn auch wenn es kein einziges Vergil- Zitat gäbe, hätte dies keineswegs notwendig das geringste mit der Qualität des Romans zu tun. Ich habe, als ich die Vorträge dieses Symposiums in einer meiner Buchreihen herausgab, etwas sehr Gutes für das Buch sowohl wie für den Ruf meines österreichischen Kollegen getan, indem ich diesen Vortrag nicht abgedruckt habe. Das Bestürzende ist, daß der Fall Schönwiese eher eine Ausnahme von der Regel bildet, während mein negatives Einzelbeispiel alles andere als einen einzelnen Sonderfall darstellt. Im achten Kapitel meines erst vor einigen Jahren erschienenen Broch-Buches habe ich eine ganze Reihe ähnlicher Fälle aufgelistet, so daß dieses Kapitel geradezu als Nukleus für ein Buch mit dem Titel Der unbegabte Broch dienen könnte. 2 Nachdem im zwanzigsten Jahrhundert gleich zwei Barbarisierungstornados über die österreichische Literatur und Literaturkritik hinweggegangen sind, einer 1938 und einer 1968, darf man das geistige Liliputanertum, das sie besonders gut überlebt hat, einfach nicht zu ernst nehmen. Im allgemeinen hat sich 2 Joseph P. Strelka: Poeta Doctus Hermann Broch. Tübingen und Basel 2002 <?page no="67"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 55 die Einsicht in die hohe Bedeutung Brochs im letzten halben Jahrhundert trotz allem eher gefestigt, als daß sie in Vergessenheit geraten wäre. Und es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, daß ich zum ersten Mal ein Buch Hermann Brochs in Händen hielt. Es war mir von der Redakteurin einer Zeitschrift zugeschickt worden, die in Wien erschien, die für Volksbibliothekare herausgegeben wurde und die zur Gänze aus Buchbesprechungen für Volksbibliothekare bestand. Das Broch-Buch war mir zur Rezension zugeschickt worden. Ich las das Buch in einem Zug und bevor ich mich noch zur Besprechung hinsetzte, schrieb ich einen Brief an die Redakteurin, in dem ich ihr mitteilte: »Bitte schicken Sie mir ab jetzt alles von Broch.« Es war der Roman Die Schuldlosen, den sie mir geschickt hatte, und ich betrachte dies als einen doppelten Glücksfall. Erstens weil ich dadurch wirklich mit Broch bekannt geworden war, von dem ich vorher nur kleine Auszüge aus dem Werk im silberboot gekannt hatte und zweitens, weil es nicht der Tod des Vergil gewesen ist. Natürlich hat es einen Grund, weshalb es ein Glücksfall war, daß es nicht Der Tod des Vergil gewesen ist, denn eigenartiger Weise haben fast alle als erstes Buch den Tod des Vergil gelesen oder genauer: zu lesen versucht. Denn von meinen Freunden, denen ich das Buch empfahl, hat kaum einer das Buch wirklich zu Ende gelesen. Die einzigen, die den Roman wirklich zu Ende lasen - wenn sie Broch nicht schon vorher gekannt und geliebt hatten -, waren amerikanische Studenten, die in einer Broch-Veranstaltung von mir saßen und denen ich gesagt hatte, die Lektüre des Romans würde für die Schlußprüfung verlangt. Ich erwähne darum zum Eingang, um anschaulich zu machen, nicht nur wie sehr ich sie mit diesem Kapitel überfordere, sondern auch wie sehr ich mich selbst dabei übernehme. Der Roman ist nämlich so schwierig, daß es so gut wie unmöglich ist, ein wirkliches Tiefenverständnis in einem relativ kurzen Kapitel zu vermitteln. Das Haupthindernis zu einem auch nur einigermaßen angemessenen Verständnis dieses Romans zu kommen, liegt in erster Linie an der Komplexität seiner Struktur. Das Beste, was aus diesem Grund getan werden kann, ist, die Komplexität dieser Struktur zu beschreiben. Ein solches Verständnis der Schwierigkeit bietet die erste und wichtigste Voraussetzung zu ihrer Überwindung und damit zum Verständnis des Romans. Diese Komplexität entsteht zunächst einmal aus der Verschmelzung von drei verschiedenen Schichten, deren jede einzelne nicht gerade einfach ist. Diese drei Schichten sind dadurch in eins zusammengeschlossen, als der Roman als ein einziger, riesiger innerer Monolog des sterbenden römischen Dichters Vergil angelegt ist. Die erste Schicht besteht in der durchlaufend kontinuierlichen Darstellung des Kontradiktorischen von Vergils Seele. Die zweite Schicht besteht in der gleichfalls kontinuierlichen und sich weiter ent- <?page no="68"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 56 wickelnden Verkettung der gesamten Motivenfülle, die sich analog zu den Motiven einer musikalischen Symphonie entfalten. Die dritte Schicht schließlich versucht eben dadurch eine Simultaneität des Geschehens zu konstituieren. Die vier Teile des Romans sind aber nicht nur samt den Motivverkettungen analog den vier Sätzen einer Symphonie nachgebildet, sondern sie bieten in mehrfacher Hinsicht als symbolische Quaternität eine totale Ganzheit, wobei die einzelnen Teile in verschiedenen Richtungen weisen. So ist etwa der erste Teil mit dem Titel »Ankunft« - gemeint ist die Ankunft des sterbenden Vergil auf einem Schiff der kaiserlichen römischen Flotte im Hafen von Brundisium - mit dem Begriff »Wasser« verbunden. Der zweite Teil, der den Titel »Der Abstieg« trägt und der den »Abstieg« in die tiefsten Regionen der Todesahnungen und des Unbewußten in der Nacht im Palast beschreibt, ist mit dem Begriff »Feuer« verbunden. Der dritte Teil mit dem Titel »Die Erwartung«, der die irdischen Reaktionen des Dichters seiner Umwelt gegenüber und vor allem seine große, einem platonischen Dialog nachgebildete Auseinandersetzung mit dem Kaiser Augustus beschreibt, ist dem Begriff »Erde« zugeordnet. Der vierte Teil schließlich mit dem Titel »Heimkehr«, der die endgültige und totale Abwendung vom Irdischen sowie die vollständige Ich-Auflösung und innere Rückverwandlung bis zum Bersten der »eisigen Schlange« darstellt, gehört dem Begriff »Äther« zu. Wie aber die Quaternität nach der Beobachtung des großen Psychologen Carl Gustav Jung immer eine Totalität ausdrückt, so umgreifen die vier Begriffe Wasser, Feuer, Erde und Äther oder Luft die vier Urelemente, aus denen sich nach dem Mythos der westlichen Antike das gesamt Universum zusammensetzt. Die Bezüge der vier einzelnen Teile ergeben dabei das Gefüge einer viel mehr einschließenden Erkenntnis, wie etwa, daß Wasser und Erde das ruhend Erleidende gegenüber dem tätige Bewegenden von Feuer und Äther darstellen. Echte Dichtung hat nach Hermann Broch eine Totalität zu erfassen, die einerseits einschließt, was Wissenschaft bis jetzt zu erarbeiten imstande gewesen ist. Darüber hinaus hat dichterische Erkenntnis aber auch noch jenseits der einerseits zwingenden und großen, andererseits jedoch zersplitterten und verstandesmäßig beschränkten Erkenntnissen der Wissenschaft auch noch eine Erkenntnis anderer Art zu bieten. Es handelt sich um eine Art gnostisches Wissen, eine Art nicht Wissens-, sondern Weisheits-Erkenntnis. In der komplexen Struktur des Romans Der Tod des Vergil zeigt sich dies unter anderem in besonderer Deutlichkeit durch die auffällig stark lyrisierende Sprache. Denn die spezifisch dichterische Erkenntnis Brochs ist nach seiner eigenen Darstellung »geradezu lyrisch von Irrationalität«, wenn auch ihre Ausarbeitung, selbst im <?page no="69"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 57 Roman, ein »Maximum an Rationalität« zu erreichen sucht. 3 Die Synthese, die sich aus solchem Zusammenspiel von lyrischer Ahnung und rationaler Abstraktion ergibt, ermöglicht die Verwirklichung einer Hauptabsicht Brochs, das Unendliche im Endlichen aufzuzeigen wie auch das Zeitliche im Zeitlosen und führt zu einer Art von Symbolstrukturen und Symbolverkürzungen, welche die Schwierigkeiten des Vollverstehens noch erhöhen. Sie begründen dabei einen Stil, den ich einmal als Neusymbolismus bezeichnet habe und der mit dem herkömmlichen Stil des Symbolismus am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nur sehr wenig zu tun hat. In diesem Stil fällt die monologische Grundstruktur des Romans mit der geradezu »lyrische vor Irrationalität« geprägten Erkenntnisahnung harmonisch in eins zusammen. Dieser Stil hat grundsätzlich mit der herkömmlichen Guckkastenmanier der epischen Darstellung gebrochen, um stattdessen den Erzähler selbst, nicht vordergründig als handelnde Person, sondern in seiner abstrakten Funktion als erkennender Beobachter des Dargestellten in den Roman selbst einzubauen. Es geschieht dies durchaus bewußt in Analogie zu jenem Grundsatz der physikalischen Relativitätstheorie, der sich im Gegensatz zur klassischen Physik nicht mehr darauf beschränkt, die Vorgänge der Außenwelt einfach und möglichst genau zu registrieren, sondern in ebensolcher Weise die Figur des Beobachters - Broch spricht »gewissermaßen« von der »platonischen Idee« des Beobachters - als integrierenden Mitfaktor in das physikalische Beobachtungsfeld einzuführen. Um Brochs Romantheorie nicht nur als solche, sondern auch in ihrer praktischen Auswirkung auf den Vergil-Roman zu verstehen, muß man einige seiner Essays gelesen haben, vor allem die beiden »Bemerkungen zum Tod des Vergil« und »The Style of the Mythical Age«. Freilich läßt sich das Wesentliche des Romans auch ohne Kenntnis seiner Romantheorie verstehen. Entwickelt der Roman selbst doch ausführlich seine eigene Ästhetik, die er bis ins Detail herausgearbeitet im Monolog seines sterbenden Vergil zum Ausdruck gebracht hat. Aber auch hier ist es wiederum etwas kompliziert, da der Leser mit zweierlei Arten von Ästhetik konfrontiert wird, erstens der alten Ästhetik, welche weitgehend die Ästhetik des historischen Vergil ist und zweitens mit der neuen Ästhetik, des Vergil-Charakters von Brochs Roman, die er erst durch die Todeserkenntnis der Sterbenserfahrung entdeckt hat. Es ist die letztere, die Brochs eigene Ästhetik darstellt und die sich sowohl von jener des historischen Vergil als auch von jener des so oft berufenen James Joyce wesentlich unterscheidet. 3 Hermann Broch: Briefe. Hg. von Robert Pick, Zürich 1958, S. 416 <?page no="70"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 58 Diese beiden Ästhetiken, die erste des historischen Vergil und jene neue, die er erst als Romancharakter Brochs durch die Todeserkenntnis erworben hat, stehen sich aber nicht als präzise voneinander abgegrenzte, statische Fakten einander gegenüber, sondern die zweite, neue wird im Verlauf des Sterbeprozesses im Kontrast zur alten Punkt für Punkt entwickelt. Hier aber zeigt sich ein weiteres, höchst wichtiges Merkmal dieses großen Romans, daß nämlich Broch dem Leser keineswegs absichtlich unnötige Schwierigkeiten bereitet, sondern daß er so weit als nur irgendwie möglich alles so klar und einsichtig macht, wie es nur geht. Gerade das Beispiel der sukzessiven Entwicklung von des Romancharakters Vergil Ästhetik Nummer zwei durch den Erkenntnisprozeß während des Sterbens und im großen Dialog mit dem Augustus raffiniert entwickelt, zeigt dies in aller wünschenswerten Deutlichkeit. Allerdings hat Broch auch keine unzulässigen Zugeständnisse einer Übersimplifizierung an sein Publikum gemacht. Er hat nicht auf »schön«, geschweige denn überhaupt auf »Effekt« hin oder gar aus Ruhmsucht so kompliziert geschrieben, sondern weil die Erkenntnisfunktion dieses Romans es notwendig so erfordert hat. Worum es ihm einzig und wirklich ging, das hat er selbst im Roman in aller wünschenswerten Deutlichkeit und überaus einfach mit Nachdruck statuiert, als er schrieb: »Echte Kunst durchbricht Grenzen, durchbricht sie und betritt neue, bisher unbekannte Bereiche der Seele, der Schau, des Ausdrucks, bricht durch ins Ursprüngliche, ins Unmittelbare, ins Wirkliche …« 4 Es liegt nun aber eben in der Natur solch hoher geistiger wie dichterischer Ebene, daß sich eine gewisse Komplexheit ergibt und dies nicht nur ausschließlich im Hinblick auf die Struktur und Gestalt des Romans, sondern zum Teil auch im Hinblick auf den Gehalt. Denn wenn es beispielsweise in dem soeben zitierten Schlüsselsatz als Abschluß- und Höhepunkt heißt, echte Kunst hätte »ins Wirkliche« durch zu brechen, dann liegt die Frage nahe, was Vergil-Broch hier unter dem »Wirklichen« versteht. Geht man aber dieser Frage etwas eingehender nach, dann zeigt sich, daß auch hier die Antwort darauf gar nicht so simpel ist. Gewiß, auch hier hat Broch im Rahmen der unumgänglichen Schwierigkeit des Erkenntnisproblems die Antwort insofern relativ einfach zu gestalten versucht, als er sie einmal in einem einzigen Satz schlagend zusammengefaßt hat. Aber der eine Satz ist lang genug und zeigt die Komplexität auch dieses Problems. Er lautet: »Wirklichkeit türmte sich hinter Wirklichkeit: hier die Wirklichkeit der Freunde und ihrer Sprache, dahinter die einer unauslöschlich holden Erinnerung, in der ein Knabe spielte, dahinter die der Elendshöhlen, in denen 4 Hermann Broch: Der Tod des Vergil. Zürich 1951, S. 281 <?page no="71"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 59 der Augustus wohnen mußte, dahinter die des drohend spröden Liniengewirrs, ausgebreitet über das Seiende, über Welten und Aberwelten, dahinter die Wirklichkeit der Blumenhaine, oh, und dahinter unerkennbar, unerkennbar die wirkliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit des niemals gehörten, trotzdem seit je vergessenen, trotzdem seit jeher verheißenen Wortes, die Wirklichkeit der wieder erstehenden Schöpfung, überstrahlt vom Gestirn des unerschaubaren Auges, die Wirklichkeit der Heimat - und der Becher in der Hand des Plotius war aus Elfenbein.« 5 Der Satz bedarf zumindest einer wichtigen Erläuterung, um richtig verstanden zu werden und zwar im Hinblick auf den Becher, den Vergils Freund Plotius Tucca in der Hand hält. Denn viele Seiten vor diesem Satz wird der Becher auch beschrieben, jedoch als ein »einfacher Bauernbecher aus Horn«. In seinen Fiebervisionen durchschaut der durch die Todeserkenntnis geschärfte Blick des Sterbenden die allgemeine und unkritisch hingenommene Oberflächenerscheinung des gedankenlosen Alltags und dringt durch zum eigentlichen, inneren Wesen dieses Bechers, der für ihn nunmehr die Kostbarkeit eines Elfenbeinbechers besitzt. Man muß den Roman nicht nur ganz, man sollte ihn auch ganz genau lesen, um den Sinn des Dargelegten erblicken zu können. Symbolische Schlüsselmotive, die das ganze Werk durchziehen - um als Beispiele nur drei willkürlich herauszugreifen: der goldene Zweig, die Wiedergeburt und die Schlange -, können harte Nüsse sein, die nicht immer leicht geknackt werden können. Aber der Preis des richtigen Verstehens lohnt die Mühe, so wie der Preis des herrlichen Ausblicks den mühevollen Aufstieg auf einen schwierig zu erklimmenden Berggipfel lohnt. Das winzige Gerippe der Fabel des Romans ist denkbar einfach: Der sterbende Dichter Vergil landet auf einem Schiff der kaiserlichen Flotte des Augustus im Hafen von Brundisium, wird in den dortigen Palast getragen, empfängt eine Reihe von Besuchern, solche aus der Realwirklichkeit wie auch andere, die er selbst aus seinen Fieberphantasien heraus in den Raum projiziert, hat eine Auseinandersetzung mit dem Kaiser, macht sein Testament und stirbt. Die Funktion dieser Fabel besteht vor allem darin, die Grundlage für die verschiedenen Themen der Monologe des Vergil zu bieten, deren durchgehender roter Faden die sich immer weiter steigernde Entwicklung der Einsicht und des Wissens über den Tod ist, welche auch das Wissen über Dichtung und Leben korrigieren. Das geht so weit, daß er den Hadesabstieg sowohl des Orpheus wie des Aeneas in der Dichtung des historischen Vergil als relativ beschränkt erklärt, was impliziert, daß der sterbende Vergil-Charakter seines Romans noch tiefer abgestiegen sei. Dies wird damit begründet, daß er aus einem tieferen, schick- 5 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 470 f. <?page no="72"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 60 salhaften Müssen heraus, seine »eigene Gestalt in der des Todes« suchte, »um hiedurch der Seele Freiheit zu gewinnen: denn die Freiheit ist ein Müssen der Seele, deren Heil und Unheil stets auf dem Spiele steht, und er hatte sich dem Befehl gefügt, gehorsam seiner Schicksalsaufgabe.« 6 Dabei vollzieht sich die innere Entwicklung von Brochs Vergil-Charakter nicht einsträngig direkt in eine Richtung, sondern hat ihre retardierenden Momente. Gewiß, nahezu permanent ist er dem Akt des Sterbens und der Todeserkenntnis hingegeben. Doch einmal, gegen Ende des ersten Teils, entringt sich ihm der Schrei »Ich will leben! « Gewiß ist das Ganze in besonderem Maße darauf angelegt, zu zeigen, wie der sterbende Romancharakter seine alte Ästhetik ablegt um einer neueren, wesentlich richtigeren willen. Um dieser neuen Einsicht des Unzureichenden seiner alten Ästhetik, die seinem Hauptwerk, der Aeneis zugrunde liegt, will er nun deren Manuskript vernichten. Und doch gibt es auch einmal, lange vor dem Dialog mit dem Augustus, einen Augenblick, in welcher die visionäre Gestalt des Knaben Lysanias sagt: »Ewig ist der Widerhall deines Gedichtes.« 7 Und in dem er die Versuchung empfindet, an diesem, seinem größten Werk haften zu bleiben und es zu retten. In dem großen Dialog mit Augustus, wird der Kaiser als höchst intelligent gezeichnet, der nicht nur einen feinen Instinkt für staatsgefährliche Implikationen von Vergils Äußerungen an den Tag legt und der eine sehr kluge, an Broch gemahnende Parallele zwischen der Zeit des griechischen Dramatikers Aischylos und jener Vergils zieht, sondern der sich auch zutiefst bewußt ist, daß Vergils geistig-dichterisches Werk der Aeneis wesentlich längeren Bestand haben werde als sein eigenes, machtvolles Werk der Staatskunst des Römischen Reiches und der Pax Romana. 8 Dennoch reden die beiden in ihrem Dialog fast ständig aneinander vorbei, da Augustus nicht imstande ist, den durch die Todeserkenntnis vertieften Argumenten Vergils zu folgen. Der Kontrast dieses Widerspruchs bringt das Wesentliche der neuen Ästhetik Brochs und seiner Figur des sterbenden Vergil besonders deutlich heraus. Worum geht es nun im besonderen in dieser neuen, für den Romancharakter Vergil erst im Sterben gewonnenen Todeserkenntnis? Eine der Antworten des Monologs von Vergil auf diese Frage lautet: »… nur wer den Tod auf sich nimmt, vermag den Ring im Irdischen zu schließen, nur wer des Todes Auge sucht, dem bricht nicht das eigene, wenn er ins Nichts schauen soll, nur wer 6 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 93 7 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 171 8 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 367 <?page no="73"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 61 zum Tode hinlauscht, der braucht nicht zu flüchten, der darf bleiben, denn seine Erinnerung wird zur Gleichzeitigkeitstiefe, und wer in die Erinnerung taucht, dem erklingt der Harfenton jenes Augenblickes, in dem das Irdische sich zum unbekannt Unendlichen öffnen soll, geöffnet zur Wiedergeburt und Auferstehung unendlicher Erinnerung.« 9 Wiedergeburt ist einer der Haupt-Schlüsselbegriffe dieses Romans und er ist kaum sehr viel weniger komplex als jener der bereits kurz behandelten »Wirklichkeit«. Das Wesentliche läßt sich dennoch recht schnell klarstellen. Der Begriff der »Wiedergeburt« in Hermann Brochs Tod des Vergil hat jedenfalls nichts zu tun mit der Metempsychose, der Seelenwanderungslehre fernöstlicher Religionen. Er hat zwei andere Bedeutungen oder wenn man lieber will: eine andere Doppelbedeutung. Erstens bezieht er sich auf den seelischen Wiedergeburtsakt eines Individuums innerhalb von dessen Leben und vor dem körperlichen Tod, wie ihn auch der Romancharakter des Vergil hier, zwar schon sterbend, aber trotzdem noch lebend durchmacht und erfährt, wodurch das oft zitierte Broch-Wort vom »Nicht mehr und doch schon« seinen tieferen Sinn erhält. Zweitens aber, und darüber hinaus, wird der Wiedergeburtsbegriff hier im übertragenen Sinn auf Zeitperioden angewendet, etwa das »Goldene Zeitalter«, das im Roman als Herrschaft des Saturn apostrophiert wird, oder vor allem auch auf Zeitperioden innerhalb einer Zeit, in denen beispielsweise Dichtung die barbarische Periode des Niedergangs überdauert hat, so daß in einer Art Wiedergeburtsakt die neuerliche Schöpfung großer Dichtung möglich wird: also etwa die Parallele und der Bezug von des historischen Vergils Aeneis zu Brochs Vergil-Roman. Der Tod des Vergil ist darum kein »historischer Roman« im herkömmlichen Sinn des 19. Jahrhunderts, weil er aus der historischen Wiedergeburtsphase heraus dichterisch die Parallele einer anderen Periode gleicher Art darstellt. Er entstand wie die Aeneis in einer Zeit tiefer Krise und weist wie auch das alte Epos auf eine Zeit geistiger und religiöser Erneuerung voraus. Dabei erscheinen sowohl Vergils Aeneis wie auch der Roman Brochs ebenso parallel sowohl als Phänomene einer Krisenzeit wie auch als deren Thematisierung. Was den persönlichen Wiedergeburtsakt betrifft, so läßt der historische Vergil seinen Charakter des Aeneas im sechsten, dem Abschlußgesang des ersten Teils seiner Aeneis, in den heute durch den Lago Averno gefüllten Vulkankrater bei Cumae in die Unterwelt hinabsteigen. Nach seiner Rückkehr aus dem Totenreich setzt der zweite Teil ein, der mit dem Sieg des Aeneas über seinen 9 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 89 <?page no="74"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 62 Hauptgegner auf dem italischen Festland in Latium, dem Rutulerkönig Turnus endet. Aber auch ein zweites Mal spielt beim historischen Vergil der Wiedergeburtsbegriff eine große Rolle und zwar in seinem Epos Georgica, das auf den ersten, oberflächlichen Blick lediglich ein Lehrgedicht über den Landbau zu sein scheint, dessen erster Gesang dem Ackerbau, dessen zweiter Gesang dem Obst- und Weinbau, dessen dritter Gesang der Viehzucht und dessen vierter Gesang der Bienenzucht gewidmet ist. Aber durchaus charakteristisch für Vergil - wie übrigens auch für Broch - eröffnet sich hinter dieser Oberflächenschicht eine zweite, tiefere, die ins Politische und weltanschaulich Prophetische hineinführt. Es geht um den Mythos vom Bauerntum als Grundlage des legendären »Goldenen Zeitalters« sowie um dessen Krise und verhängnisvolle Entwicklung in Vergils eigener Zeit und mündet schließlich in eine apokalyptische Prophetie aus. Ganz besonders der vierte und letzte Gesang, welcher oberflächlich der Bienenzucht gewidmet ist, und der in der ersten Ausgabe aus einem groß angelegten Hymnus auf den Dichter Gajus Cornelius Gallus bestanden haben soll, wurde in der zweiten Ausgabe durch die tiefere Schicht von einer Art eigenem Klein-Epos ersetzt, in welchem der Hirt Aristäus, ein Sohn Apolls und der Nymphe Cyrene, seine abgestorbenen Bienenschwärme durch einen Wiedergeburtsakt zu neuem Leben erweckt, indem er sie aus dem Aas von Opfertieren, die auf besondere Weise getötet und sodann präpariert wurden, neu aufsteigen läßt. Vergil bringt vergleichsweise auch die Überlieferung von des Orpheus Abstieg in die Unterwelt herein. Während aber Orpheus’ Abstieg bei ihm den negativen Aspekt des Mißlingens dieses Abstiegs repräsentiert, da des Orpheus Klage der Unabänderlichkeit des Todes und dem Schmerz über das Verlorene gewidmet ist, steht Aristäus mit dem Wiedergeburtsakt seiner Bienen für den positiven Aspekt, wonach verlorenes Leben nicht endgültig verloren zu sein hat. Die offenen und versteckten Vergil-Zitate in Brochs Roman stammen zwar in überwältigender Mehrheit aus der Aeneis und den Eklogen, aber einige wenige sind auch der Georgica entnommen und die beiden wichtigsten davon beziehen sich auf den Mythos von Orpheus. Brochs Roman schließt denn auch mit einem dreißig Zeilen langen Satz, der unter anderem vor allem auf das Wiedergeburtsproblem hinausläuft, so daß in gewissem Sinn der Roman in dieses Problem ausmündet. Im wesentlichen Ausschnitt dieses Schlußsatzes, der sich darauf bezieht, hört der sterbende Vergil zuallerletzt ein Brausen, »hervorbrechend als das reine Wort … das Wort der Unterscheidung, das Wort des Eides … so brauste es daher und schwoll an … wurde so übermächtig, daß nichts mehr davor bestehen sollte, vergehend das All vor dem Worte, aufgelöst und aufgehoben im Worte … vernichtet und neu- <?page no="75"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 63 erschaffen für ewig, weil nichts verloren gegangen war, weil das Ende sich zum Anfang fügte, wiedergeboren, wiedergebärend …« Schon davor gab es vorbereitend mehrere Hinweise in dieselbe Richtung. Wenn man den Roman wirklich ganz zu Ende liest, dann findet sich gegen Schluß etwa eine Stelle, an welcher sich der Becher aus Horn, den Plotius in der Hand hielt und der sich später in einen Becher aus Elfenbein verwandelte, sich wieder in einen solchen aus Horn zurück verwandelt. 10 Dabei verwandelt sich der Becher selbst natürlich überhaupt nicht, sondern lediglich die Perspektive des sterbenden Vergil von diesem Becher. Es geht um eine bildhaft-gleichnishafte, plastische und meisterhafte Beschreibung von außen her über die innere Entwicklung Vergils, über seinen Abstieg in das Totenreich des Nichts und seine Wiedergeburt knapp vor dem wirklichen körperlichen Tod. Denn obwohl das erste Bild genau so einen Becher aus Horn beschreibt wie das dritte Bild, so sind diese Perspektiven dennoch keineswegs identisch miteinander, weil nämlich das zweite Bild des Bechers aus Elfenbein dazwischen liegt, das im dritten Bild unausgesprochen mit enthalten ist. In diesem Zusammenhang sollte auch ein Buch erwähnt werden, das eine interessante Vermittlerstellung, ja mehr noch, ein echtes und direktes Bindeglied zwischen Vergil und Broch im Hinblick auf das Wiedergeburtsproblem darstellt. Dieses Buch, das einen der großartigsten Überblicke über die Wesenszüge moderner Literatur und Kunst im zwanzigsten Jahrhundert bietet und das man fast als das adäquate theoretische Werk Brochs Roman Der Tod des Vergil parallel an die Seite stellen könnte, trägt den Titel Les abeilles d’Aristée 11 - Die Bienen des Aristäus. Und in dem Buch spielt die frühe große Romantrilogie Hermann Brochs Die Schlafwandler eine wichtige Rolle. Als das Buch herauskam, war Der Tod des Vergil noch gar nicht erschienen. Broch hat das Buch natürlich gekannt und geschätzt. In einem Brief an Ruth Norden nennt er sich selbst scherzhaft eine »Ober-Biene« 12 und noch in einem Brief an seine zweite Gattin aus dem vorletzten Jahr vor seinem Tod taucht der Name des Autors dieses Buches, Wladimir Weidlé, wieder auf. 13 Wie aber Broch aus der Georgica vor allem zwei Wiedergeburts-Stellen in seinen Roman gesetzt hatte, so drängte Weidlé, als sein Buch nach dem Krieg ins Deutsche übersetzt wurde, darauf, daß der Titel in Die Sterblichkeit der Musen 14 abgeändert werden soll- 10 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 493 11 Wladimir Wéidle: Les Abeilles d’Aristée. Paris 1936 12 Herman Broch: Briefe. Hg. von Paul Michael Lützeler, Bd. I., Frankfurt 1981, S. 42 13 Der Tod im Exil. Hermann Broch - Anne Marie Meier-Graefe Briefwechsel 1950-51. Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 2001, S. 19 14 Wladimir Weidlé: Die Sterblichkeit der Musen. Stuttgart 1958 <?page no="76"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 64 te. In der Widmung, die er mir in mein Exemplar schrieb, verlieh er dabei der Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Musen nach unserer traurigen Krisenzeit Hoffnung. Obwohl zunächst vor allem vor der Komplexität des Romans und deren Schwierigkeiten gewarnt worden ist, möchte ich abschließend nicht verabsäumen, darauf hinzuweisen, daß einiges des Großartigsten an diesem Roman auch besonders einfach, sogar ganz einfach ist. Auch dies dient einer Größe, wie sie gerade durch Einfachheit nachdrücklicher zum Tragen kommen kann, als dies durch preziöse manieristische Schnörkel oder unnötig kompliziertes Herumreden erreicht werden könnte. Wenn es bei Broch - wie so oft - kompliziert wird, dann entspringt dies immer einer unausweichlichen Notwendigkeit. Deren Grundlage besteht in der Funktion der Erkenntniserweiterung, dem über das der Wissenschaft erreichbare hinausreichende Erfassen neuer Realitätspartikel. Vor hier aus erschließt sich der zweite Aspekt des dreißig Zeilen langen Schlußsatzes im Tod des Vergil, und es ist der Aspekt durch Wiedergeburt zu einer neuen letzten Wirklichkeit vor zu stoßen. In dem Schlußsatz wird diese letzte Wirklichkeit so umschrieben, daß das Brausen, welches der Sterbende in seinen letzten Sekunden hört, aus einer Vereinigung des Lichtes mit der Finsternis heraus ertönt. Um dies zu verstehen, muß man auch den vorletzten - sehr kurzen - Satz noch mit einbeziehen, der lautet: »Quellender Brunnen der Mitte, unsichtbar leuchtend in unermeßlicher Wissensangst: das Nichts erfüllte die Leere und ward zum All.« Am Schluß seines Romans wollte er so genau wie möglich sein und da konnte es nicht ganz unkompliziert abgehen. Aber 257 Seiten zuvor ist er zu jener großen Einfachheit vorgestoßen, die ich Ihnen angekündigt habe und da drückte er jene letzte Wirklichkeit, die das Ziel ist, so aus, daß er seinem Vergil die Worte in den Mund legte: »Die Wirklichkeit ist die Liebe.« 15 Aber solch große Einfachheit scheint mitunter - vielleicht auch aus Furcht vor ihrer Realisierung - noch schwerer verständlich zu sein als die kompliziertesten Probleme der Struktur des Vergil-Romans. Broch selbst hat das in dem Roman einmal in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht, als er seinen Vergil- Charakter monologisch reflektieren läßt: »… sollte er, mußte er dies nicht laut hinausschreien? … ach, sie würden es nicht begreifen, sie hatten gar nicht den Willen, es zu begreifen …« und was war es genau, das er hinausschreien wollte und dann doch unterdrückte? Es lautete: »Das Gesetz? Es gibt nur ein Gesetz, das Gesetz des Herzens! Die Wirklichkeit der Liebe! « 16 15 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 276 16 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 272 <?page no="77"?> Hermann Broch und sein Tod des Vergil 65 Und wiederum wenige Minuten später beweist der neben dem sterbenden Freund sitzende Plotius Tucca, daß er solch große Einfachheit tatsächlich nicht versteht, da der Sterbende es schließlich in knappster Verdichtung aussprach: »Die Reinheit des Herzens, allein unsterblich.« 17 17 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 284. Broch ist sich durchaus der Tatsache bewußt gewesen, daß nicht zuletzt durch die zahlreichen propagandistischen Verlogenheiten und die Demoralisierung im Zweiten Weltkrieg einige große und viele weniger große Autoren zu dem Trugschluß verleitet wurden, die tatsächliche Existenz verlogener Gefühle impliziere notwendig, daß es gar keine echten Gefühle gibt. So wie er eine neue, wahre Demut gefordert hat und dabei jegliche falsche, heuchlerische Demut verwarf, so hat er sich auch in seinem Vergil-Roman vor dem Mißverständnis abgesichert, daß er, weil er für echte und positive Gefühle eintrat, die verlogenen nicht verwerfen würde. Die Verneinung sämtlicher Gefühle jedoch, diese neue Sentimentalität der Unsentimentalität läßt er seinen Vergil-Charakter mit den Worten beklagen: »- oh, in der dämmernden Unerweckbarkeit der menschlichen Seele ist all ihr Unheil beschlossen.« (S. 286) Weshalb es ihm bei großer Dichtung vor allem um die Erfüllung der »Erweckungspflicht« geht! Wie er seinen Vergil auch einmal reflektieren läßt: »Vergessenes stieg in ihm auf. Daphnis! Die Ekloge der Zauberin! Hatte er nicht schon damals geahnt, daß Liebe jeglichem Zauber vorangeht? Daß das Unheil, alle Verfehlung zugleich ein Fehlen von Liebe ist? « (S. 306) <?page no="79"?> Der Gnostiker Hermann Broch Hermann Broch wurde von einer Autorin 1980 als »Gnostiker« bezeichnet 1 , eine Zuordnung, die in ihrer lapidaren Konsequenz fünfzehn Jahre später von einer anderen Autorin zurückgewiesen wurde. 2 Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer und kann gelöst werden. Da dies für die Klärung der Thematik des Kapitels hier wichtig ist, soll dies sofort geschehen. Denn natürlich hängt jegliche derartige Zuweisung davon ab, was man unter den Begriffen Gnostik und Gnostiker versteht. Es existiert nämlich ein recht breites Spektrum von Möglichkeiten der Verwendung dieser Begriffe. Das Buch von Grabowsky-Hotamanidis selbst verwendet auf den Seiten 1-79 einen relativ weit gefaßten Begriff, ab Seite 80 jedoch einen allzu weit eingeengten. Da es sich mit Gnostik bei Broch systematisch und ausführlich auseinandersetzt, sind einige Bemerkungen hierüber hier notwendig. Das Buch liefert im einzelnen eine ganze Reihe neuer ausgezeichneter Einsichten, ist in seiner Gesamtheit aber dennoch nicht frei von großen Schwächen. Das hängt zunächst damit zusammen, daß die Autorin gewissen Wissenschaftsmoden der Siebziger- und Achtzigerjahre folgend Ansichten von Bloch, Benjamin, Habermas und Lukács in einer Weise einbezieht, wie sie weder für die Gnosis noch für Broch zutreffend sind, obwohl sich die Autorin sehr genau bewußt darüber ist, daß etwa der Atheismus eines Bloch mit Hermann Broch nichts gemein hat. Andererseits ist das Buch im Hinblick auf das Abweisen falscher Interpretationen von Brochs Werk etwa durch Lützeler, Madelkow, Menges und Venzlaff ganz hervorragend, da es eben von der für Brochs Werk adäquaten Bewußtseinsebene mystischer und gnostischer Ideen ausgeht. Gerade was den Begriff der Gnostik betrifft, so geht sie ab Seite 80 so gut wie ausschließlich von der Begriffsbestimmung eines Buches von Hans Jonas aus, 3 weil »diese Arbeit das Verhältnis von Mystik und Gnosis in besonders differenzierter Weise« herausarbeite, wobei es den Begriff der Gnosis jedoch zu eng faßt. Denn auch im beschränkt geistesgeschichtlichen Sinn der Spätantike hatte der Begriff seine Gültigkeit in einem weiteren Sinn, in dem er auch hier im folgenden gebraucht 1 Sigrid Schmid-Bortenschläger: Dynamik und Stagnation. Hermann Brochs ästhetische Ordnung des politischen Chaos. Stuttgart 1980, S. 3. Davor noch besonders Adelgunde Wachtler: Hermann Brochs Roman »Der Versucher« als Roman des religiösen Erlebens. Innsbruck, Diss. 1968 2 Anja Grabowsky-Hotamanidis: Die Bedeutung mystischer Denktraditionen im Werk von Hermann Broch. Tübingen 1995, S. 134 3 Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist. Teil I, dritte Auflage 1964, Teil II, 1954 <?page no="80"?> Der Gnostiker Hermann Broch 68 werden soll. 4 Aus diesem Grund weist die Autorin einerseits zahlreiche gnostische Elemente im Werk Brochs nach, verweigert jedoch die Anerkennung Brochs als Gnostiker, der er tatsächlich gewesen ist. Zumindest indirekt hängt damit wiederum zusammen, daß die Autorin etwa wohl zum ersten Mal überhaupt auch gnostische Ideen in Brochs Massenpsychologie aufdeckt oder beispielhaft richtig Brochs engen Zusammenhang mit Ideen von Origines deutlich macht, 5 andererseits aber den weitaus überwiegenden Anteil ihres Buches auf die Schlafwandler-Trilogie beschränkt. Nun ist es sehr verdienstvoll nicht nur auf die führende Rolle Bertrands in dieser Trilogie hinzuweisen, sondern außerdem seine Rolle als »gnostischer Bote von außen« aufzudecken. 6 Andererseits verstellt diese Überbetonung der Schlafwandler jedoch die Einsicht in die Tatsache, daß die Gnosis gerade in den Romanen, die chronologisch auf die Schlafwandler folgten, in besonders wichtiger, ja grundsätzlicher Weise zum Tragen kommt. Von diesen folgenden Romanen ist Die unbekannte Größe überhaupt nicht erwähnt und ist die Behandlung und Deutung der drei folgenden großen Romane nicht nur recht kursorisch, sondern auch oberflächlich. Dabei scheint es von tief sinnbildlicher Bedeutung zu sein, daß Broch an den Schluß- und Höhepunkt seiner Schlafwandler-Trilogie ein Zitat des Paulus gestellt hat, der als erster großer Vertreter des Katholizismus seinen Bannstrahl gegen die Gnostiker geschleudert hat. 7 Ohne dies zu wissen, weist Grabowsky- Hotamanidis ausdrücklich darauf hin, daß der »Epilog« der Schlafwandler Brochs »gnostische Daseinshaltung« relativiert. 8 In einem gewissen Sinn könnte man geradezu im Gegensatz zu ihr sagen, daß die eigentliche und grundsätzliche Beeinflussung von Hermann Brochs Werk durch die Gnosis gerade erst nach den Schlafwandlern einsetzt und zwar mit dem kleinen Roman Die unbekannte Größe. Zum Begriff der Gnosis selbst sei hier noch folgendes vorausgeschickt: Die Encyclopedia Britannica hat in ihrer besonders durch die Beiträge zu den Geisteswissenschaften berühmten 11. Auflage »Gnostik« so definiert, daß sie in allen ihren Weisen »in ihrer Form und ihrem Charakter unter die große Kategorie der mystischen Religionen« fällt. 9 Das bedeutet demnach, daß das Wort »Gnosis«, nämlich »Wissen« nicht im allgemeinen Sinn wissenschaft- 4 Vgl. The Encyclopedia of Philosophy. Hg. Von Paul Edwards, Band III, New York und London 1972, S. 336 5 Anja Grabowsky-Hotamanidis, op. cit., S. 132, 276 ff. und 159 ff. 6 Anja Grabowsky-Hotamanidis, op. cit., S. 113-34 7 Erster Brief an Timotheus, Kapitel 6, Vers 20-21 8 Anja Grabowsky-Hotamanidis, op. cit., S. 127 9 Encyclopedia Britannica. Vol. XII, New York 1910, S. 153 <?page no="81"?> Der Gnostiker Hermann Broch 69 lichen oder verstandesmäßigen Wissens begriffen werden darf, sondern wie jede mystische Tradition eine andere, besondere Art von Wissen darstellt, das auf initiiertem Wissen oder einem mystischen Erfahrungsakt beruht, der Außenstehenden unzugänglich 10 ist und der von den »Initiierten ängstlich als Geheimnis bewahrt wird.« Gerschom Scholem, der in der Kabbalah die gegenseitige Durchdringung von jüdischer Gnostik und Neuplatonismus erblickte, 11 hat den Begriff der Gnosis noch weiter gefaßt. Nach ihm umfaßte die Kabbalah eine Esoterik, die eng mit dem Geist der Gnosis verwandt war, einem Geist, »der nicht nur auf die Anleitung zum mystischen Weg beschränkt war, sondern auch Ideen über Kosmologie, Angelologie und Magie einschließt.« 12 Wenn man an die philosophische Kosmologie denkt, in der es um die Struktur und Entwicklung der Natur als Teil der Metaphysik geht, dann spielen solche Ideen in Brochs Roman Der Versucher 13 eine überaus wichtige Rolle. Am weitesten gefaßt hat den Begriff »Gnosis« aber wohl Hans Thomas Hakl, der in ihr primär einfach einen »a-rationalen Erkenntnisweg zu einer inneren und äußeren Transzendenz« erblickt. 14 Im Folgenden wird der Begriff Gnosis sowohl im engeren historischen Sinn der ersten drei Jahrhunderte nach Christus wie auch in einem sehr weiten Sinn gebraucht, wobei in der Regel im ersten Fall besonders auf die »historische« Gnosis verwiesen wird. Was nun das Werk Hermann Brochs betrifft, so war Egon Vietta einer der ersten, der darauf hingewiesen hat, wie der kleine Roman Hermann Brochs Die unbekannte Größe 15 über die Thematik der Schlafwandler-Trilogie hinaus die bisherigen Grenzen aufgebrochen und damit den Vergil-Roman vorbereitet hat. Hier kommt natürlich der Begriff Gnosis im weitesten Sinn ins Spiel. Gewiß, vieles von den geistigen Ergebnissen der Schlafwandler - wie vor allem die Theorie vom »Zerfall der Werte« - blieben weiterhin ein unabdingbarer Grundstein in Brochs Gedankengebäude. Wie sich umgekehrt bereits in seiner frühen Zeit einzelne Einsichten und Erfahrungen finden, die voraus weisen auf Die unbekannte Größe und den Tod des Vergil. So hat Broch gnostische Ideen im engeren historischen Sinn bereits sehr früh durch die Lektüre der Kirchenväter kennen gelernt, von denen er eine Ausgabe besaß. Diese Ausgabe ist darum nicht in das Verzeichnis der Titel seiner Bibliothek aufgenommen, 16 weil sie in 10 Encyclopedia Britannica, op. cit., S. 153 11 Gerschom Scholem: Kabbalah. New York 1978, S. 45 12 Gerschom Scholem, op. cit., S. 45 13 Herman Broch: Der Versucher. Zürich 1953 14 Hans Thomas Hakl: Der verborgene Geist von Eranos. Bretten 2001, S. 354, Fußnote 81 15 Hermann Broch: Die unbekannte Größe. Zürich 1961 16 Klaus Amann, Helmut Grote: Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. Wien 1990 <?page no="82"?> Der Gnostiker Hermann Broch 70 dem von der Universität Klagenfurt verwalteten Bestand fehlen. Sie waren nämlich, als Broch aus Österreich in die USA floh, gerade von ihm seinem Freund George Saiko geborgt worden. Broch kannte aber jedenfalls jene Autoren wie Irenäus, Clemens von Alexandria, Tertullian und Origines und vielleicht auch Epiphanios, durch welche die meisten gnostischen Quellen vor Entdeckung der Schriftrollen nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt gewesen sind. Ob er Hilgenfelds Ketzergeschichte des Urchristentums gekannt hat, er muß das Buch ja nicht besessen haben, vermag ich nicht nachzuweisen. Später, im amerikanischen Exil, war Broch mit der Bollingen Foundation, die unter anderem auch eine Art amerikanischer Verbindung zu Eranos darstellte, so eng verbunden, daß diese Stiftung ihn für seine Arbeit am großen Hofmannsthal-Essay bezahlte. Brochs Verleger und Freund Daniel Brody aber nahm wiederholt an Eranos-Tagungen teil, so daß Eranos auch im Briefwechsel Broch-Brody auftaucht. Aber vor allem auch in einem weiteren Sinn war er mit gnostischen Ideen bestens vertraut. Hat er doch bereits in seinen Teesdorfer Jahren hebräisch gelernt, um ein Kernstück der Kabbalah, den Sohar, im Original lesen zu können. Im Jahr 1935 bereits hatte er seine Freundin Ruth Norden auf die beiden ersten Bände der Eranos-Jahrbücher aufmerksam gemacht 17 und schon drei Jahre vorher gab es einen interessanten Plan der Zusammenarbeit mit C. G. Jung, der damals eine internationale Monatsschrift herauszugeben plante. Jakob Wilhelm Hauer, Heinrich Zimmer und Wolfgang Paulsen hatten ihre Mitarbeit bereits zugesagt und Jung dachte ferner an Erich Rouselle, Leopold Ziegler, Hermann Keyserling und eben Hermann Broch. Ja, da diese Zeitschrift auch einen literarischen Teil enthalten sollte, war Broch für die Leitung dieses Teils in Aussicht genommen und hat dadurch Jung persönlich kennen gelernt. Leopold Ziegler aber war der eigenständige deutsche Vertreter des französischen Religionsphilosophen und integralen Traditionalisten René Guénon. 18 Von Jung aber, der durch viele Jahre die zentrale Figur des Eranos-Kreises bildete, hat Karl Kerényí zu Recht geurteilt: »Zu den geistigen Voraussetzungen Jungs gehört seine Sympathie für neoplatonisch beeinflußte Kirchenväterliteratur, einschließlich der Gnostiker.« 19 War die Schlafwandler-Trilogie als anspruchsvolle, dichterische Erkenntnis- Erweiterung gedacht gewesen, um Abhilfe gegen den Ungeist des Nationalsozialismus zu schaffen, so wendet sich der kleine Roman Die unbekannte Größe 17 Hermann Broch: Briefe. Bd. I., Frankfurt 1981, S. 343 18 Vgl. Hans Thomas Hakl, op. cit., S. 148 19 Karl Kerényí: Wege und Weggenossen I. München - Wien 1985, S. 58 <?page no="83"?> Der Gnostiker Hermann Broch 71 trotz der weniger durchgeführten künstlerischen Tiefe nunmehr der entscheidenden Problematik zu, die Broch vorschwebte, als er seinem damals jungen Freund Ernst Schönwiese im Jahre ihrer Entstehung einmal sagte, daß das Wichtigste die Theologie sei, da die wirklichen Entscheidungen im Religiösen getroffen werden müßten. 20 Die unbekannte Größe ist von den Charakteren her gesehen so angelegt, daß im Sinn der historischen Gnosis die Mutter des Helden Richard Hieck und sein junger Bruder Otto als »Hyliker« angelegt sind und auch die Figur des Dozenten Kapperbrunn ist ein Hyliker. Über diese erhebt sich die Schwester Richards Susanne, die das rein Materielle zwar eindeutig, jedoch nur beschränkt fundamentalistisch transzendiert. Infolge dieser Beschränktheit gehört sie der Kategorie der »Psychiker« an. Nur der Ordinarius für Physik Weitprecht hat wie der Held des Romans selbst, Richard Hieck, Anlagen zur höchsten Stufe der »Pneumatiker«. Obwohl der späte Broch ein gebrochenes Verhältnis zu dem frühen kleinen Roman gehabt hat, wußte er dennoch, daß er in diesen engen Raum eine so große Menge an Thematik hinein gepreßt hatte, daß es für ihn ein Einfaches gewesen wäre, bei einer Überarbeitung den Umfang zu verdoppeln, ja zu verdreifachen. Die fünf Kapitel des Romans - Broch nennt sie »Teile« - geben eine Darstellung der äußeren und vor allem der inneren Entwicklung des Helden Richard Hieck von seiner Zeit als Dissertant am Physikalischen Institut der Universität einer deutschen Stadt bis zu seiner begründeten Hoffnung auf eine akademische Karriere aus der inzwischen erreichten Stelle einer wissenschaftlichen Hilfskraft am Astronomischen Institut derselben Institution heraus. Das innere Bindeglied dieses Institutswechsels ist über ihre rationale Plausibilität hinaus die Mathematik, die im Roman bereits zur inneren Entwicklung überleitet. Richard Hieck wird im ersten Kapitel im Zusammenhang mit seiner beruflichen wie familiären Umwelt vorgestellt. Was aber die wichtige innere Entwicklung betrifft, so ist der besonders mathematisch orientierte, junge Physiker ein zwar körperlich unbeholfener, geistig jedoch mit visionären und schöpferischen Gaben ausgestatteter Charakter. Als er daheim in der Stille der Nacht über einer Arbeit für seinen Lehrer, Professor Weitprecht, sitzt, erscheint ihm plötzlich »eine kristallische Landschaft«, eine »erleuchtet sternenhafte Landschaft, in der die Zahlengruppen zwar nicht als solche zu sehen, wohl aber so leicht einzuordnen waren, daß man die den Zahlen geöffnete, mit Zahlen 20 Ernst Schönwiese: Erinnerungen an Hermann Broch. In: Literatur und Kritik, Nr. 86 (1986), S. 412-27 <?page no="84"?> Der Gnostiker Hermann Broch 72 sich erfüllende Landschaft in eine beglückend logische und gleichzeitig ein wenig karussellhafte Bewegung versetzen konnte.« 21 Der erste Schritt Hiecks in seiner inneren Entwicklung über diese Einführung hinaus im zweiten Kapitel ist im Grunde ein mathematischer. Es ist auf diese Weise, daß er sich nämlich nicht nur der Größe, sondern auch der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis bewußt wird: »… das Erreichte, es bliebe immer nur ein geringer, geringfügiger Teil des unbezwinglichen Erkenntnisgebirges, es bliebe immer nur ein geringer Teil des ahnenden Erlebens und der unendlichen und kosmischen Fernsicht, ein kleiner beschreibbarer Teil des ewig Unbeschreibbaren.« 22 Gerade da, wo es aber über jene Grenze hinaus geht, beginnt der Bereich der Gnosis und obgleich Broch den Begriff nicht beim Namen nennt, so hat er doch in der Sache selbst sehr klar gemacht, worum es ihm geht, ja im Grunde deckt der Begriff in einem gewissen Sinn den Titel des ganzen Romans von der »unbekannten Größe« ab. Broch hat denn ausdrücklich erklärt: »der Roman des Mathematikers Hieck hat sich sohin mit der Mathematik so weit zu beschäftigen, als sie zum Kristallisationspunkt jener seelischen Urkräfte geworden ist, m. a. W. soweit sie in der Mechanik seelischen Geschehens selber Symbolwert besitzt und der Erkenntnisvorgang der Mathematik als Exponent der tieferen seelischen Symbolik dient.« 23 So führt denn auch Richard Hiecks innere Entwicklung im dritten Kapitel über das Mathematische hinaus durch die erwachende Liebe zu Ilse Niedahl und im vierten Kapitel durch den Tod seines jungen Bruders Otto, der ihm ein letztes, neues »Wissen« in gnostischer Hinsicht erschließt: »… es war ein Wissen, das, über Otto und über Ottos Tod hinausreichend, die Ganzheit der Welt umfaßte, und bei aller Unbeweisbarkeit, bei aller Isoliertheit eindeutig, hell und bestimmt war, befreit von aller Mehrsinnigkeit, befreit vom Flackern der brennenden Dunkelheit.« Es geht nämlich um nichts weniger als um die einfältige und zugleich große »Erkenntnis des Seins schlechthin, unabhängig von jedem Seinsinhalt, verbunden jeglichem Sein, verbunden jeglichem Leben, allumfassend in ihrer Einfachheit und in der Einfachheit des Gefühls, letzte Evidenz des Logischen, das erst von hier aus seine Rechtfertigung findet. Und angesichts des toten Bruders und erfüllt von aufsteigenden Tränen, wußte Richard, daß dieses Erkennen die Liebe sei, und daß auch die Liebe nichts anderes ist als Erkennen.« 24 21 Die unbekannte Größe, op. cit., S. 50 22 Die unbekannte Größe, op. cit., S. 91 23 Hermann Broch: Grundzüge des Romans »Die unbekannte Größe«. In: Die unbekannte Größe, op. cit. S. 169 24 Die unbekannte Größe, op. cit., S. 161 <?page no="85"?> Der Gnostiker Hermann Broch 73 Ja, durch Ottos Tod findet indirekt die Liebe zu Ilse Niedahl eine Art innere Bestätigung und im Rückblick des sehr kurzen, zusammenfassenden fünften Kapitels heißt es, daß es war, als hätte Otto durch seinen Tod viel vorherige Unsicherheit mit sich genommen, und hätte Richard Hieck dafür etwas anderes gegeben: »es war, als sei eine Verschiebung und gleichzeitig damit eine Erhellung des Unendlichen eingetreten.« 25 Hier ist bereits in nucleo angelegt, was in den beiden folgenden großen Romanen, im Tod des Vergil durch den monologisch wiedergegebenen Sterbeprozeß des römischen Dichters, und im Versucher durch den Tod Irmgards, den Nachvollzug des Todes des Jägers Gisson durch Mutter Gisson und schließlich durch deren eigenen Tod nicht nur ausführlicher, sondern vor allem auch durch eigene seelische Erfahrungen des Dichters Broch in vertiefter Form als Todeserkenntnis künstlerische Gestaltung gefunden hat. Die von Gerschom Scholem genannten Zusammenhänge mit der Kosmologie, die gleichfalls bereits in der Unbekannten Größe durch den Einbezug von Aspekten des Wetters bis zu astronomischen Perspektiven ansatzweise vorhanden sind, werden im Vergil-Roman und noch mehr im Versucher ebenso wesentlich erweitert und vertieft. Was den Vergil-Roman betrifft, so sind es keineswegs nur Seitenaspekte der Gnosis, die Broch hier gestaltet hat. Im Zentrum der Darstellung des menschlichen Dramas in der Gnosis stand der Wiederaufstieg der Einzelseele zum alles umgreifenden, göttlichen Ganzen jenseits aller durch die Materie verschmutzten Räume und Bindungen. Die gnostische Sekte der Peraten etwa, der »Überschreitenden«, drückte dies sinnbildlich so aus, daß ihre Mitglieder imstande waren, die Vergänglichkeit zu überschreiten. Leisegang hat dazu aus den Orakeln der Sibylle zitiert: »wenn etwas ›geboren ist, muß es auch wieder zugrunde gehen‹.« 26 Das heißt, das materiell beschmutzte Ich, das dem im Wege steht, muß überwunden werden, um zur Erkenntnis und Verwirklichung des innersten, göttlichen Seelenkerns, des »Selbst« zu gelangen. Diese Ich- Überwindung geschieht in einem Wiedergeburtsakt innerhalb dieses Lebens und wird oft durch den Abstieg in die Unterwelt oder Hölle zu Lebzeiten dargestellt, wie er sich von Vergils Aeneis bis zu Dantes Göttlicher Komödie findet. Broch, der die vom Autor Vergil selbst gestellte Frage nach der Zulänglichkeit seines Hauptwerks, der Aeneis zu seinem Generalthema gemacht hat, unterließ es natürlich nicht, an entsprechend entscheidender Stelle den von Vergil geschilderten Abstieg des Aeneas in die Unterwelt zu behandeln. Sybille, die 25 Die unbekannte Größe, op. cit., S. 164 26 Hans Leisegang: Die Gnosis. Stuttgart 1955, S. 142 <?page no="86"?> Der Gnostiker Hermann Broch 74 Hekate-Priesterin führt ihn am Averner See zu jener Höhle, vor der sie ihm jenen »goldenen Zweig« weist, den er brechen und mit sich tragen muß, um aus dem Hades wieder lebendig zurückkehren zu können. Er ist ein Auserwählter, der den Styx zwei Mal überquert, das erste Mal in diesem Leben und das zweite Mal nach seinem körperlichen Tod. Broch hat in seine faszinierende Schöpfung der tagtraumhaften Fieberphantasien des sterbenden Vergil auch einige Verse aus der Aeneis selbst eingebaut. Sogar verglichen mit der »klassischen« alten Übersetzung von Voß ist die Übertragung Brochs ein dichterisches Ereignis, 27 das in Gehalt wie Gestalt Vergils Verse in ein neues dichterisches Original umgesetzt hat, welches den Prägestempel Brochs trägt. 28 Was bei Vergil mythische Legende ist, uns Heutigen wohl rational verständlich, jedoch im Wesen nicht mehr nachvollziehbar, das wird bei Broch zu einer sinnbildlichen Einblendung in einen gnostisch-mystischen Initiationsakt, zumindest kaum nachvollziehbar, indessen durch die dichterische Gestaltung von einer detaillierten Genauigkeit und ergreifenden Prägung, welche trotz aller Beschränkung die erkenntnisstiftende Gabe dichterischer Sinnbildlichkeit zum Ausdruck bringt: Der »goldene Zweig der Wahrheit«, wie es diese hier übermittelt, ist imstande, das Erkennen bis zu den unüberschreitbaren innersten und äußersten Grenzen des Seins auszudehnen, »weil sich hier das tiefste Wirklichkeitsgeheimnis, das Geheimnis der Entsprechung auftut, der gegenseitigen Entsprechung von Ich-Wirklichkeit und Welt-Wirklichkeit, jener Entsprechung, welche dem Sinnbild die Schärfe der Richtigkeit verleiht und es zum Wahrheits-Sinnbild erhebt, die wahrheitsgebärende Entsprechung, von der alle Wirklichkeitsschöpfung ausgeht, Schichte um Schichte vordringend, vortastend, vorahnend bis zu den unerreichbaren Dunkelregionen des Anfangs und Endes, vordringend zum unerforschlich Göttlichen im All, in der Welt, in der Seele des Nebenmenschen, vordringend zu jener letzten Gottesverborgenheit, die aufdeckungs- und erweckungsbereit allüberall und selbst noch in der verworfensten Seele da ist ….« 29 Broch läßt den sterbenden Vergil im Augenblick der Todeserkenntnis die schicksalsbefohlene Verstrickung im Gezweige des Außen und Innen erblicken, »schicksalsverboten, götterverboten die Hoffnung des Führerlosen«, die Hoffnung auf den »golden aufleuchtenden Zweig im Gestrüpp der Kerkerwände.« 30 Und der Hinweis auf den goldenen Zweig macht es eindeutig 27 Vergils Äneide. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Neu herausgegeben von Otto Güthling. Leipzig, o. J. 28 Hermann Broch: Der Tod des Vergil. Zürich, o. J., S. 151, Zeile 8 ff. 29 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 154, Zeile 4-15 30 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 157 <?page no="87"?> Der Gnostiker Hermann Broch 75 klar, um welche »Führung« es dabei ginge: jene der Sibylle, nach gnostischer Überzeugung von göttlichem Pneuma befruchtet, welche den Suchenden zur Verwirklichung des Wiedergeburtsaktes hinunter in den Hades und wieder zurück zu führen vermag. Eines der wichtigsten Symbole der historischen Gnosis ist die Schlange. Sie spielt infolge der engen Verbundenheit der Gnosis mit den antiken Mysterienkulten eine ebenso weit verbreitete, wie vielschichtige und bedeutende Rolle in mehrfacher Hinsicht. Der Okeanos umschließt wie eine riesige Schlange die ganze Erde. Als Ouroboros, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, versinnbildlicht er den Kreislauf alles Werdens der Entwicklung des Einen zum Allen und wieder zurück des Allen zum Einen. Auch für die Verwandlung von einem Erkenntnisgrad zum nächst höheren, numinosen, steht die Schlange und sie ist »das prophetische, mantische, ja geradezu das pneumatische Tier.« 31 Die Schlange wurde einmal als Logos aber auch als Erlöser, das andere Mal als Teufel, ja als Gott selbst betrachtet, war jedoch vor allem ein Symbol des Heiligen Geistes, der in den Menschen eingeht, um ihn zum Pneumatiker zu machen. In Brochs Vergil-Roman überschneidet sich das Schlangensymbol mit jenen des Wahrheitskreises und des ewigen Sinnbildkreises als Kennzeichen steter Wiedergeburt. Zunächst taucht das Schlangensymbol vereinzelt auf, doch gegen Ende des vierten und letzten Abschnitts des Romans tritt es häufiger und in besonderer Wichtigkeit hervor und zwar unmittelbar vor der »Wende« zum eigentlichen Tod. 32 Nach dieser »Wende« wird es abgelöst durch das Symbol des gnostischen »Logos«, (der auch der Logos des esoterischen Johannes Evangeliums ist), der bei Broch als das »Wort der Unterscheidung, das Wort des Eides, das reine Wort« bezeichnet wird, vor dem zu allerletzt das All sich auflöst, »weil das Ende sich zum Anfang fügte, wiedergeboren ….« 33 , so daß er also noch ein letztes Mal zurückkehrt zum schlangenhaften Ouroboros, nunmehr jenseits der Sprache. Zunächst besteht eine kleine direkte gnostische Beziehung zwischen dem Vergil-Roman und dem darauf folgenden, letzten großen Roman Der Versucher. Die Führerin des Aeneas in die Unterwelt, jene Vergil-Stelle, die bei Broch an so wichtiger Stelle figuriert, war die Sibylle. Die Sibylle war eine Priesterin der Göttin Hekate. Hekate wurde aber von den Gnostikern mitunter mit Demeter vermengt und mitunter wurde Demeter auch der Hekate bei der Suche nach deren Tochter Persephone als Begleiterin oder Dienerin von den Gnostikern bei- 31 Hans Leisegang, op. cit., S. 111 32 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 518-524 33 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 533 <?page no="88"?> Der Gnostiker Hermann Broch 76 gegeben. Einer der Arbeitstitel Brochs für den Roman Der Versucher war daher Demeter. Darüber hinaus gibt es jedoch auch noch eine sehr wichtige grundsätzliche Beziehung solcher Art zwischen den beiden großen Romanen. Nach dem Gnostiker Markos wurden nämlich durch die Mutter des Demiurgen die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft als Abbild der oberen Tetras emanniert. Sie stellen das Grundgerüst des gesamten Vergil-Romans dar. Zählt man zu ihnen aber auch ihre Kräfte hinzu, das Kalte, das Warme, das Feuchte und das Trockene, so stellen sie genau ein Abbild der Ogdaos dar. Die Ogdaos aber ist nichts anderes als die Sophia, die große Mutter, und es ist der irdische Aspekt ihrer Geistigkeit, den Mutter Gisson repräsentiert, die Geistigkeit, welche die Grundlage des gesamten Romans Der Versucher darstellt. Es ist dieser Roman, der am ausgedehntesten und tiefsten der Gnosis verpflichtet ist. Dies zeigt sich schon äußerlich dadurch, daß die wichtigste und positivste Figur der Charakter der »Mutter Gisson« ist, deren Name ein Anagramm für Gnosis darstellt. Einmal wird sie zudem noch ausdrücklich als Tochter der »großen Mutter« apostrophiert, und das Sinnbild der großen Mutter war eines der zentralen, archetypischen Symbole der gnostischen Tradition. Ein einziges Mal wird im Roman auch der Vorname der Mutter Gisson erwähnt und zwar vom alten Pellich, der sie Magdalena nennt. Nun ist aber Maria Magdalena in der gnostischen Pistis Sophia zusammen mit Jesus eine der beiden Hauptpersonen. Es heißt von ihr da: »Vortrefflich Maria, du selige, welche das ganze Lichtreich erlösen wird, und vortrefflich Maria, du Erlöserin des Lichtes - Vortrefflich, du pneumatische, reine Maria.« 34 Das ganze apokryphe gnostische Evangelium Maria bezieht sich nicht auf die Mutter von Jesus, sondern auf Maria Magdalena. Ja, in einem Buch über Rosslyn heißt es, daß viele Gelehrte heute glauben, daß die großen Notre-Dame-Kathedralen, die von den Templern und Zisterziensern gebaut wurden, ursprünglich nicht Maria, der Mutter von Jesus geweiht waren, sondern »Unserer Frau Maria Magdalena.« 35 Die Mutter Gisson des Romans besitzt eine besondere Art von Wissen. Der Arzt und fiktive Erzähler verdankt ihr sein »Berg-Wissen«, sie kennt alte, sakrale Traditionen, kennt Heilkräuter und besitzt besonderes diagnostisches Wissen. Vor allem aber hat sie gnostische Einsichten in Leben und Tod. Sie gibt ihr Wissen an das junge Mädchen Agathe weiter, der sie erklärt: »Es ist nur Tee und 34 Zitat aus zweiter Hand nach Hans Leisegang, op. cit., S. 114 35 Tim Wallace-Murphy und Marilyn Hopkins: Rosslyn. Shaftesbury, Dorset - Boston, Massachusetts - Melbourne, Victoria 1999, S. 105. Vgl. auch Andrew Sinclair: The Discovery of the Grail.New York 1998, besonders S. 113 und 257, sowie Laurence Gardner: Blood Line of the Holz Grail. Shaftesbury - Rockport - Brisbane 1996 und Lynn Picknett and Clive Prince: The Templar Revelation. New York 1998. <?page no="89"?> Der Gnostiker Hermann Broch 77 Schnaps und manchmal Medizin, und doch ist es mehr, und du mußt es behüten.» Denn wie jegliches gnostische Wissen hütet sie das ihre streng geheim. Der Widersacher von Mutter Gisson, Marius Ratti, der als der Versucher dem Roman den Titel gegeben hat, ist ihr absoluter Gegenpol. So wie die ganze Persönlichkeit der Mutter Gisson im Sinn der alexandrinischen Gnosis dem Pleroma, der Fülle, entspringt, so Marius Ratti dem Kenoma, der negativen Leere. Sein Standpunkt ist auch insofern ein antignostischer, als er die Dichotomie zwischen dem Göttlichen des Himmels einerseits und der Materie, der Erde andererseits leugnet. Er glaubt nicht nur an ein harmonisches Zusammenliegen beider, sondern versucht sogar das Jenseitige, Absolute und Unendliche auf das endlich Irdische zu reduzieren. Der Roman ist dem Dorfarzt als gleichsam außenstehenden Beobachter und fiktivem Erzähler in den Mund gelegt, der den Charakter des Marius so beschreibt, daß ihm klar wurde, daß der Bauer Suck, wenn er vom Unendlichen erzählte, es auch meinte, während der Marius, unwissend der Tiefe, doch immerzu nach ihr fahndend, sie in den Menschen aufrühren mußte. Es wird aus des Doktors Bericht klar, daß Marius eine Art Wanderprediger war, der ähnlich Hitler großartig klingende, hohle Phrasen von sich gab, die er andauernd wiederholte, damit sie doch einmal haften blieben, und denen er gewisse Schlüsselworte, welche die Dorfbewohner gerne hörten, hinzufügte. So machte er große Versprechungen wie auch die, daß er die wegen mangelnder Resulate eingestellte Goldförderung aus dem Berg wieder aufnehmen und zu Erfolg führen werde. Es gelingt ihm zunächst, den Großteil der Dörfler auch tatsächlich auf seine Seite zu ziehen. Seine Phrasen repräsentieren eine typische Hyliker- Ideologie, da er materielle Werte und die Erde verabsolutiert. Der Dorfarzt entdeckt hoch auf dem Felsen des Kuppron-Berges, der über dem Dorf thront, im Gestein eine dunkle Ader, die ihn an das Abbild einer riesigen Schlange erinnert, Sinnbild des Ouroboros. Als er zu Mutter Gisson davon spricht, erklärt sie ihm: »Hättst die Schlange nicht im Leib, du würdest nix wissen von der am Kuppron und nix von der am Meer.« 36 Auch einen sinnbildlichen Zusammenhang, weshalb der Ouroboros sich selbst in den Schwanz beißt, erläutert sie ihm auf ihre einfache Weise: »Schlangen hin, Schlangen her, keiner glaubt wirklich daran. Aber ans Gewesene, das keinen Namen mehr hat, muß jeder glauben, und das ist unser Wissen, weil wir um die Zeit in uns wissen … die geht durch uns hindurch und liegt in uns mit ihrem Anfang und ihrem End, mit ihrem End und ihrem Anfang.« 37 Auch die sinnbildli- 36 Hermann Broch: Der Versucher. Zürich 1953, S. 183 37 Der Versucher, op. cit., S. 183 f. <?page no="90"?> Der Gnostiker Hermann Broch 78 che Austauschbarkeit der Symbole der Schlange und des Drachens sind dem Dorfarzt - und natürlich schon gar Broch - bewußt. Die oben gegebenen Erklärungen Mutter Gissons finden in vierten Kapitel des Romans statt, das den Titel »Erinnerung« trägt, dem letzten Kapitel der dritten Fassung des Romans, das Broch noch vor seinem Tod zu schreiben vergönnt gewesen ist. Es war die Fassung, in der er auch den Versucher auf die künstlerische Höhe des Vergil-Romans bringen hatte wollen. Während der Arbeit an der ersten Fassung, noch in Österreich, hatte er Jean Gionos Roman Die Sternenschlange in die Hand bekommen und etwas unglücklich die seiner Erstfassung künstlerisch so überlegene Leistung des französischen Autors erkennen müssen. Weshalb er die erste Fassung zu Recht auch nicht im Druck hatte sehen wollen. Sein eigener, künstlerisch ahnungsloser Sohn hat ausgerechnet diese erste Fassung ins Englische übersetzt. Infolge der gnostischen Inhalte des Romans spielt natürlich auch das Problem der Wiedergeburt eine äußerst wichtige Rolle. So trägt das ganze achte Kapitel den Titel »Wiedergeburt«. Hier geht es allerdings um eine besondere Art von Wiedergeburt, nämlich um jene eines sterbenskranken Knaben. Der Dorfarzt, durch seine Liebesfähigkeit, seine Nähe zu Mutter Gisson und vor allem durch die unvergessene tiefe Liebe zu einer ehemaligen Kollegin und jetzt toten Freundin dazu instand gesetzt, nimmt sich einen Sessel am Bett des kranken Kindes und erzwingt gleichsam entgegen jeder medizinischen Prognose, rein psychisch dessen Umkehr zur Genesung. Mutter Gisson, die Pneumatikerin, ist zweifellos durch ihren eigenen wirklich, inneren Wiedergeburtsakt in diesem Leben gegangen, auch wenn er wahrscheinlich rein äußerlich nur durch das ländliche Ritual ausgelöst worden war, in dem sie als »Bergbraut« den »Bergsegen« bewirkt hatte, in dem die Kirche altes, »heidnisches« Gedankengut übernommen und absorbiert hatte. Es mag fast waghalsig sein, es in direkten Worten auszusprechen, denn natürlich hat der Dichter Broch es nicht plump direkt erklärt, 38 trotz des Umstandes, daß es sich sowieso um reine Dichtung handelt: Es scheint aber doch durch vorsichtige, ahnungsvolle Andeutungen und Hinweise zumindest als Möglichkeit offen gelassen zu sein, daß Mutter Gisson in dem Kind wiedergeboren würde, mit dem Agathe schwanger ging. Der Roman schließt aber mit Mutter Gissons Tod und einer gnostisch-kosmologischen Umweltsreaktion darauf, denn bis zu ihrem Begräbnis hielt das Sommerwetter an und sie ging mit der Sonne in die Erde. Doch am selben Abend brachte ein plötzlicher Schneesturm den Winter zur vollen Entfaltung. 38 Der Versucher, op. cit., S. 389 <?page no="91"?> Der Gnostiker Hermann Broch 79 Broch hat übrigens auch von der Zahlenmystik der Gnostiker gewußt, wie ein Brief an einen Kenner vom Format Karl Kerényís beweist, 39 der ein ständiger Besucher der Eranos-Tagungen gewesen ist. Anlaß des Briefes war übrigens die Übersendung der Bücher Kerényís Prometheus und Niobe an Broch gewesen, wobei der Autor in Niobe einen Aufsatz von Broch besprochen hatte. Natürlich hängt auch die magische und kosmologische Zahlenmystik der Gnostiker mit dem innersten Kern der gesamten Gedankewelt gnostischer Tradition eng zusammen, jener Gedankenwelt, von der Broch in absichtlich vereinfachter Weise aus der Umwelt eines österreichischen Alpendorfes ein gutes Stück seinen Lesern zu vermitteln versucht hat. Diese Gedankenwelt wirft Fragen übersinnlicher Art darüber auf, »wer wir sind, woher wir stammen und wohin wir geraten; wohin wir eilen und wovon wir erlöst sind.« 40 Oder um mit den Worten des »Erzählers« von Brochs Versucher zu sprechen: Es geht ihm um ein »Wissen, das erfüllt ist von der Überzeitlichkeit der Seele, von dem Gestern ebensowohl wie von dem Morgen, das erfüllt ist vom Sinn des Gewesenen wie von dem des Zukünftigen, stark genug … um uns mit einem frohen Warten über die kurze Zeitspanne unseres Daseins hinweg zu helfen.« 41 39 Hermnn Broch: Briefe. Bd. 3, Frankfurt am Main 1981, S. 162-65. Vgl. dazu auch F. C. Endres: Mystik und Magie der Zahlen, 1951 und Hans Leisegang, op. cit., S. 41-45 40 Hans Leisegang, op. cit., S. 1 41 Hermann Broch: Vorwort des Erzählers. In: Der Versucher, op. cit., S. 6 <?page no="93"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz Die große Lyrikerin Rose Ausländer ist in Czernowitz am 11. Mai 1901 geboren worden, als die Stadt noch Hauptstadt des altösterreichischen Kronlandes Bukowina war. Ihre Gedichte stellen eine Art Bekenntnislyrik im Sinne Goethes dar, wenn auch in modernem Gewand. Man braucht nicht die literaturwissenschaftliche Todsünde zu begehen, vom Werk auf das Leben zurück zu schließen, sondern echte Einsichten eröffnen sich dadurch, daß sie ihre persönlichen Lebenserfahrungen, Gedanken, Visionen und Phantasien in poetische Bekenntnisse umgesetzt hat. Es sind universalmenschliche Erfahrungen, nicht eingegrenzt durch irgendwelche kollektivegoistischen Vorurteile und lange bevor sie als Exilautorin durch zahlreiche Länder wanderte, gestand sie bereits von sich eine Art Heimatlosigkeit ein, wie sie ein Zug der Werke zahlreicher altösterreichischer Dichter gewesen ist. 1 So heißt es in ihrem frühen Gedicht »Amor Dei«: Kein Halt und Halten, keine Heimat hat die Welt für mich und dich in ihrem Ring. Wir sind Verzauberte in fremder Stadt, und ewig Wandelnde von Ding zu Ding, bald grünend, bald verwelkend wie ein Blatt, bald Larve, Raupe, Bunter Schmetterling. Diese Haltung erhielt später eine zusätzliche, empirisch verfestigte Dimension durch die unentrinnbare und schicksalhafte Exilerfahrung, wie Rose Ausländer dies in »Der Schatten« zum Ausdruck gebracht hat: Der Weg war verweht. Ich wußte nicht, wo das Daheim lag - in Amerika, in der Schneeschweiz, am Romhügel oder im Pruthtal … 2 Freilich war sie infolge ihrer Herkunft aus dem legendären Czernowitz für eine solche Haltung bestens vorprogrammiert. Nicht umsonst hat sie immer wieder die multiethnische Atmosphäre ihrer Vaterstadt besonders betont. Eine italienische Literaturwissenschafterin hat darum aus guten Gründen dieses 1 Obwohl der direkte Anlaß zu diesen Versen wahrscheinlich die Erfahrung von Rose Ausländers erster Emigration in die USA in den Zwanzigerjahren gewesen ist, war die Bewußtseinslage der Heimatlosigkeit vielen österreichischen Autoren sehr nahe, so sehr, daß Oskar Benda sie in seinem Buch Die österreichische Kulturidee, Wien 1936 sogar als charakteristisches Merkmal des Österreichischen heraus gearbeitet hat. Die in Czernowitz besonders offenkundige Multiethnizität hat das bestimmt besonders deutlich gemacht. 2 Rose Ausländer: Die Musik ist zerbrochen. Frankfurt am Main 1993, S. 67 <?page no="94"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 82 Wesensmerkmal an den Beginn ihrer schönen Ausländerdarstellung gesetzt. 3 Sie erinnert daran, wie es bereits in Rose Ausländers Gedicht »Bukowina I« ausdrücklich heißt: Grüne Mutter Bukowina Schmetterlinge im Haar … Vier Sprachen Viersprachenlieder Menschen die sich verstehen. In ihrem Gedicht »Bukowina II« hat sie dies noch einmal wiederholt, als sie von viersprachig verbrüderten Liedern in entzweiter Zeit sprach. In ihrem Gedicht »Czernowitz« hat sie dann allerdings sogar von Fünfsprachigkeit gesprochen. Wenn es heißt: Der Spiegelkarpfen in Pfeffer versulzt schwieg in fünf Sprachen dann geht es um eine Rückblendung auf das alte Czernowitz vor 1918: Schwarz-gelb Die Kinder der Monarchie träumten deutsche Kultur Legenden um den Baal-Schem Aus Sadagura: die Wunder Und Ausländer gibt eine verdichtete Gesamtbeschreibung, wie die alte Kultur der Menschlichkeit durch eine neue Barbarei der Unmenschlichkeit abgelöst wurde: Nach dem roten Schachspiel wechseln die Farben Der Walache erwacht - schläft wieder ein Ein Siebenmeilenstiefel steht vor seinem Bett - flieht. 3 Maria Enrica D’Agostini: »Scherzer geboren - Ausländer geworden«. In: Joseph P. Strelka (Hg.): Kunstprosa, Lyrik, Exil. Festschrift zum 65. Geburtstag von Klaus Weissenberger. Tübingen 2004 <?page no="95"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 83 Im Ghetto: Gott hat abgedankt Erneutes Fahnenspiel: Der Hammer schlägt die Flucht entzwei Die Sichel mäht die Zeit zu Heu. Aus der Zeit der schwarz-gelben Fahne der alten Donaumonarchie geht es weiter und hinein in die Zeit, die von dem sowjetischen Sinnbild von Hammer und Sichel geprägt war, welche die Fluchtmöglichkeiten der deutschsprachigen jüdischen Autoren in ein Exil zu fliehen, zunächst »entzweischlägt«. Wenn aber von Fünfsprachigkeit die Rede ist, dann bedeutet das, daß Rose Ausländer hier den Sprachen deutsch, jiddisch, rumänisch, ukrainisch noch als fünfte Sprache polnisch hinzufügte, die sie auch verstand. Die oben genannte italienische Literaturwissenschafterin hat jedoch diesen vier beziehungsweise fünf Sprachen noch eine weitere hinzugefügt, nämlich englisch. 4 Dies ist schon dadurch legitim, als Rose Ausländer nicht nur etliche Jahre im amerikanischen Exil zugebracht hat, sondern hier auch etliche Jahre nur englische Gedichte geschrieben hat. Rose Ausländer hat jedenfalls Czernowitz als eine »buntschichtige Stadt« beschrieben, in der sich »das germanische mit dem slawischen, lateinischen und jüdischen Kulturgut durchdrang. Bis 1924 - obwohl die Bukowina schon 1918, nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien zugesprochen wurde - war die Landessprache rumänisch und deutsch, nachher bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs war sie offiziell rumänisch, praktisch aber weiter deutsch. Deutsch war nicht nur die Muttersprache des größten Teiles der Bevölkerung. Eigentlich blieb Czernowitz bis 1944 eine österreichische Stadt …« 5 Jene übernationale Mischung, welche die österreichische Kultur und Literatur geprägt hatte, dauerte noch etliche Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg fort, obwohl das tragende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Fundament längst weggefallen war. 6 Dabei hat Rose Ausländer selbst darauf hingewiesen, daß die verschiedenen Spracheinflüsse einerseits ungünstig auf das Bukowinaer Deutsch abfärbten, andererseits jedoch auch eine »Bereicherung durch neue Worte und Redewendungen« darstellte: »Es hatte eine besondere Physiognomie, sein eigenes Kolorit. Unter der Oberfläche des 4 Maria Enrica D’Agostini, op. cit. Ein Privatlehrer unterrichtete sie in hebräisch. 5 Rose Ausländer: »Erinnerungen an eine Stadt«. Hier zitiert nach Rose Ausländer: Aschensommer. Ausgewählte Gedichte. München 1977, S. 207 6 Vgl. Joseph P. Strelka: Zwischen Wirklichkeit und Traum. Tübingen und Basel 1994 <?page no="96"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 84 Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinander griffen und dem Wortlaub, dem Laut und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten.« 7 Die enge Bezogenheit auf die ursprüngliche Czernowitzer Herkunft, die auch in den bösesten Krisenjahren Heimat blieb, geht bis ins Sprachliche hinein. In ihrem Gedicht »Mutter Sprache« bekennt Rose Ausländer, in ihrer Entwicklung »zersplittert« worden, jedoch durch die Sprache wieder zum »Menschenmosaik« zusammengesetzt worden zu sein. Im Gedicht »Mutterland« aber heißt es, daß ihr Vaterland gestorben sei, daß sie jedoch in ihrem Mutterland »Sprache« lebe. Obwohl die Heimatgeborgenheit einerseits auf die Sprache hinausläuft, ist sie doch keineswegs auf diese beschränkt. Da ist die Landschaft, »die sie erfand«, wie es in einem Gedicht heißt, da sind rote Melonenmilch und weiße Kukuruzmilch, violette Föhrenzapfen, Vögel, Laub und der Karpatenrücken, wie es in einem anderen Gedicht heißt, und in einem dritten verkündet sie: »immer zurück zum Pruth! « Aber es ist nicht nur das »Schwalbennest unter dem Schindeldach« im Gedicht »Dorf in der Bukowina«, nicht nur das »Dorf Duminika«, das sie an Exilsonntagen in ihrer Erinnerung gerne besucht, wo sie von Bauern mit »Kornbrot, Milch und buntgestickten Geschichten« bewirtet wird, es ist die Vielfalt der Menschen, aus welcher der achtzigjährige »Sadagorer Chassid« herausragt, es sind die Zigeunerzelte, die Harmonikamelancholie und nicht zuletzt, erinnerungsverklärt, die Stadt Czernowitz, die wie die »Grüne Mutter« Bukowina auch über sich selbst hinaus weist auf die Erinnerungen der eigenen Kindheit, auf die Erinnerungen an Vater und Mutter. Der Vater war bereits 1920 verstorben, die Mutter, welche ihr die Liebe zur Dichtung vererbt hatte, überstand noch den Zweiten Weltkrieg in einem Kellerloch und starb 1947 in Rumänien. In ihrem Gedicht »Kindheit« spricht sie von den Kindergeburtstagen, an denen die Eltern den Engeln erlaubten »in unseren Kinderbetten zu schlafen« - und die Schlußfolgerung lautet: »Ja meine Lieben, da ging es uns gut.« Noch ein sehr spätes Gedicht beginnt mit der Strophe: Als ich aus der Kindheit floh erstickte mein Glück in der Fremde. Vom Vater berichtet sie in einem Gedicht über ihn, wie er in seiner Jugend am Hof des Wunderrabbi von Sadagora bei Czernowitz - »Der Jordan mün- 7 Rose Ausländer: »Erinnerungen an eine Stadt«, op. cit., S. 207 <?page no="97"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 85 dete damals in den Pruth« - in die Geheimnisse der Kabbala eingeweiht worden war. »Einmal« aber heißt es historisch wahrheitsgemäß dann, »wollte der Siebzehnjährige die andere Seite sehen, ging in die weltliche Stadt / verliebte sich in sie / blieb an ihr haften.« Er entschloß sich für ein weltliches Leben und wurde Prokurist einer angesehenen Firma. Aber der Sabbat blieb geheiligt, die jüdischen Feiertage wurden begangen und jüdische Legenden und Vorstellungen prägten bereits den Geist des Kindes. Rose Ausländer wuchs in einem Judentum auf, in dem nicht eine manches Mal fanatisch übersteigerte Ghetto-Orthodoxie ihre eigenen Anhänger an Finsternis und Unglück fesselte, wie Karl Emil Franzos es in seinem Werk kritisch dargestellt hatte, noch in einem radikalen und totalen Assimilantentum, welches die jüdische Tradition voll ablehnte. In der Zeit der Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs hatte sich, wie bei nahezu allen jüdischen Autoren, so auch bei Rose Ausländer das jüdische Selbstbewußtsein im doppelten Sinn wesentlich vertieft und noch in einem späten Gedicht beschwört sie Sadagora, den Hof des Wunderrabbi, betende Scharen, erzählte Wunder und schließt mit dem Anruf: »Komm Stern / gib Zeichen / Lächle Rabbi.« Was die Mutter betrifft, so taucht ihre Gestalt in einem ganzen Dutzend von Gedichten auf. Das beginnt mit dem frühen Gedicht »Zwei Silben verirrt« und steigert sich zu »Meine Nachtigall« aus dem Band Blinder Sommer 8 , in dem der Vers steht: »halb Engel halb Mensch - in der Mitte war Mutter« und, heißt es weiter, sie wäre am liebsten eine Nachtigall geworden. Nun hört die Tochter sie im schlaflosen Traum der Rückerinnerung »singen«. Sie singt das Zion der Ahnen, singt das alte Österreich, singt die Berge und Buchenwälder der Bukowina, singt der Tochter Wiegenlieder »im Garten meines schlaflosen Traums«. Schon die Titel mancher dieser Gedichte sagen alles, wie »Die Mutter«, »Immer die Mutter« und »Nur die Mutter«, wie es auch gleich zwei »Requien« für die Mutter gibt. Im Gedicht »Heimat I«, in dem erwachende Träume die ewigen Züge der Mutter tragen, steht sie für die Heimat und im Gedicht »Stille der Nacht« erblicken die Kinder jene Stille der Nacht im Antlitz der Mutter, »zwischen Sternen und Mond / wo der liebe Gott wohnt.« In dem Gedicht »Amen« aber trägt die Gestalt der Rebekka das Antlitz der Mutter. Noch in dem späten Gedicht »Lied I« heißt es: »Was ich einst geliebt / war mir muttertreu« und das ebenfalls späte Gedicht »Das Glück« beginnt bezeichnenderweise mit dem Vers: »Einmal Gott Engel Mutter«. Rose Ausländer legt nicht nur im Gehalt ihrer Gedichte Zeugnis ab für den Bildungshunger und die hohe Stufe der Kultur im Czernowitz der alten Tage, 8 Rose Ausländer: Blinder Sommer. Wien 1965 <?page no="98"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 86 sondern nennt auch die wichtigsten literarischen Einflüsse auf ihr Werk. Von den zwei allgemein verehrten Czernowitzer Literaturheiligen Rilke und Karl Kraus tönen uns Rilkes Verse aus dem Stundenbuch und den Neuen Gedichten aus den Sonetten von Rose Ausländers erstem Gedichtband Der Regenbogen entgegen. In den reifen Gedichten wird sodann eine Art eigener Version von Rilkes orphischem Doppelbereich sichtbar und in ihrem späten Gedicht »Rilke« beschwört sie ihn neuerlich als Vorbild: Holt ihn wieder zurück jenen der mit Göttern sprach wie mit seinesgleichen. Karl Kraus spielt dagegen vergleichsweise eine geringere Rolle, obwohl sie wiederholt auf seine hohe Bedeutung für viele ihrer Czernowitzer Landsleute ausdrücklich hingewiesen hat. Für sich selbst hat sie diesen strengen Ethiker allerdings weitgehend durch einen anderen Ethiker ersetzt, nämlich durch Constantin Brunner. Dieser hatte in Czernowitz mehr Anhänger als in seinem heimatlichen Berlin. Rose Ausländer hat als Mitglied des »Ethischen Seminars« in Czernowitz seit 1919 Brunner nicht nur gelesen, sondern hat auch - verloren gegangene - längere Essays über ihn geschrieben und hat nach ihrer ersten Einwanderung in die USA auch 1926 einen Czernowitzer »Constantin-Brunner- Kreis« in New York mitbegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, während ihrer zweiten Emigration in den USA schrieb sie ein Gedicht über ihn, das die Verse enthält: Er sah der Welt unendliche Gestalten zu einem Ganzen sich zusammenfalten, sah, was getrennt schien, heimlich sich verbinden und sich in einem Wesen wiederfinden. Und sah den Riß: den Geist entzweigerissen; und sonderte das Licht von Finsternissen. Constantin Brunner, der zumindest teilweise von Spinoza herkam - einem anderen Leitbild-Denker von Rose Ausländer, hat auch Gedichte von ihr sehr geschätzt. Als Lyrikerin wurde auch sie, wie so viele andere Czernowitzer Autoren, von früh an gefördert durch Alfred Margul Sperber. Kaum überschätzt werden kann der Einfluß zweier jiddischer Dichter auf ihr Werk. Zuerst ist da der große jiddische Fabeldichter Elieser Steinberg, der in Czernowitz seine Wahlheimat gefunden hatte und von dem der junge Paul Celan einmal einbekannte, er wage sich nicht an ihn als Übersetzer heran. Sodann ist da ein Cernowitzer poète maudit und zugleich der bedeutendste <?page no="99"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 87 jiddische Lyriker der Zeit Itzig Manger. Jedem der beiden hat Rose Ausländer unter anderem ein Gedicht mit dem Titel »Dichterbildnis« gewidmet, was trotz der völligen Verschiedenartigkeit der beiden Autoren ihre gleichartige Ehrfurcht für diese zum Ausdruck bringt. Über Elieser Steinberg schrieb sie: Gott schuf die Welt. Er hat sie uns gegeben als einen Acker roh und unbestellt. Da kam der Dichter und erschuf das Leben, und nun erst sahen und erfühlten wir die Welt. Über Itzig Manger aber heißt es: Zerlumpt und schmierig ist sein Rock und Hemd. Er zecht mit Tod und Nacht und Hur und Laus. - Vom Meere der Gesichte überschwemmt, strömt er, den Mond im Arm, verzückt nach Haus. Bereits siebzehnjährig, als Lyzeumsschülerin in Wien, wohin die Familie von 1916 bis 1918 wegen der Besetzung von Czernowitz durch die Russen geflohen war, hatte sie Gedichte zu schreiben begonnen. Die Familie optierte zwar 1918 für Rumänien und ging zurück in das nunmehr rumänische Czernowitz, doch starb der Vater 1920 nicht zuletzt an gebrochenem Herzen über den Zusammenbruch der alten Monarchie. Aus sozialen Gründen war Rose Ausländer daraufhin gezwungen, in die USA auszuwandern. Vom 1921 bis 1922 war sie in Minneapolis - St. Paul und daraufhin in Winona (Minnesota) Hilfsredakteurin bei der Zeitschrift Westlicher Herold und bis 1927 Redakteurin der Kalenderanthologie American Herold. Hier in den USA veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte. Ein ganzer Gedichtzyklus »New York« ist nur teilweise erhalten geblieben. Die meisten Gedichte dieses Zyklus verleihen dem Kulturschock Ausdruck, den sie in dieser Stadt nach dem vergleichsweise gemüthaften und gemütlichen Leben in Czernowitz und auch in der kleinen Stadt Winona nun plötzlich ausgesetzt war. Schon die Titel der Gedichte »Dämon der Stadt«, »Bankfabrik«, »Das laufende Band« und von ihr geprägte Begriffe wie »Babeltürme« für die Wolkenkratzer oder »Tiefbahnmassengruft« für die Subway zeichnen ein bedrückendes Bild. Die stolze, große, grellgeputzte Stadt Die Wolkenkratzer, doch kein Obdach hat heißt es einmal und nur das »Paradies« der »Parks im Sommer« läßt sie gelten. Sie wird Bankbeamtin, heiratet 1923 ihren Czernowitzer Freund Ignaz Ausländer, bewirbt sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft und erhält sie im Jahr 1926. Im selben Jahr trennt sie sich von ihrem Mann. Formell wird die Scheidung 1930 durchgeführt. Sie gründet mit anderen Czernowitzern ei- <?page no="100"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 88 nen Constantin-Brunner-Kreis. Im Jahr 1931 folgt sie ihrem Lebensgefährten Helios Hecht, einem Graphologen, zurück nach Czernowitz. Im Jahr 1934 verliert sie auf Grund der damaligen Gesetzeslage wegen dreijähriger Abwesenheit vom Heimatstaat ihre Staatsbürgerschaft. Nach 1936 arbeitete Rose Ausländer in Bukarest, unternahm 1939 Reisen nach Paris und New York und brachte ebenfalls 1939 ihren ersten Lyrikband Der Regenbogen im Literaria Verlag in Czernowitz heraus, der im Grunde eine Art Selbstverlag der Czernowitzer Autoren darstellte, die durch ihre jüdische Herkunft vom Verlagswesen Hitler-Deutschlands abgeschnitten waren. Der Organisator des Verlags wurde später von den Sowjets nach Sibirien verschickt. Sie selbst war auch nach Czernowitz zurückgekehrt. Mit der Besetzung von Czernowitz durch SS-Truppen begannen für Rose Ausländer die Jahre der Verfolgung. Zunächst mußte sie in das neugeschaffene Ghetto, dann folgten Zwangsarbeit und in Todesangst die Flucht in ein verstecktes Kellerverlies. Es war im Jahr 1944, daß ihr ein Freund Paul Celan mitbrachte, der ihr einige seiner Gedichte vorlas. Dies war der erste Schritt zu den nur gelegentlichen, aber wiederholten Kontakten des großen lyrischen Dreigestirns von Czernowitz Ausländer - Celan - Gong. Nah Kriegsende kam Rose Ausländer wie auch Celan und Gong nach Bukarest und im September des Jahres 1946 gelingt ihr die Ausreise in die USA. Sie arbeitete als Fremdsprachenkorrespondentin bei einer New Yorker Speditionsfirma und begann plötzlich, ohne bewußten Anlaß, von 1949 bis 1956 ihre Gedichte englisch zu schreiben. Im Jahr 1957 gab es drei neue Treffen mit Paul Celan in Paris. Er las ihr neue Gedichte vor, sie hatte sechs Gedichte von sich mitgebracht und fünf von ihnen fanden seine Anerkennung und sein Lob. Ein Jahrzehnt zuvor hatte er in Wien Gedichte Alfred Gongs - wie er auf einer Durchgangsstation - durchgesehen, kritisch kommentiert und verbessert. Alle drei, Ausländer, Celan und Gong, hatte es auf Grund des legendären Glanzes der Hauptstadt der alten Donaumonarchie zunächst nach Wien gezogen und alle drei waren vom Nachkriegswien nach 1945 tief enttäuscht. Rose Ausländer hatte von vornherein nach New York gehen wollen, Celan zog weiter nach Paris und Gong ebenfalls nach New York. Ausländer und Gong kannten und schätzten einander in New York und Ausländer widmete ein ebenso treffendes wie ergreifendes Gedicht »Mensch aus Versehen« Gongs Gattin Norma. Als Gong in Wien Rudolf Felmayer kennen gelernt hatte, der hier eine ähnliche Rolle spielte wie Margul Sperber in Czernowitz, und nachdem Felmayer in seiner Reihe »Neue Dichtung aus Österreich« einen Band Gongs herausgebracht hatte, empfahl Gong Rose Ausländer an Felmayer. In dessen Reihe erschien daraufhin 1965 der zweite <?page no="101"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 89 Gedichtband Rose Ausländers Blinder Sommer, der auch vier jener sechs Gedichte enthält, die sie Paul Celan in Paris vorgelegt hatte. Sie gehören bereits der zweiten, »modernen« Phase ihrer Lyrik an, die mitunter nicht ganz zu Recht ab 1957 angesetzt wird. Denn sie hat bereits in ihren englischen Gedichten, die sie in den USA geschrieben hatte, unter amerikanischem Einfluß moderne Struktur- und Formprinzipien ihren Gedichten zu Grunde gelegt. Eine ganze Reihe von Gedichten Rose Ausländers gelten Paul Celan. Da ist das verhältnismäßig frühe Gedicht »Für P. A.« - das ist Paul Antschel, Celans bürgerlicher Name. Das nächste Gedicht »Glück« bedeutet insofern eine Steigerung, als sie ihn darin mit dem Vornamen allein als »Paul« apostrophiert, der als »Ebenname« für ein vierblättriges Kleeblatt als Zeichen des Glücks steht. Sodann sind da die späten Gedichte »In memoriam Paul Celan« und »Paul Celans Grab«. Bestürzend fast ist, daß in dem einen frühen Gedicht an ihn bereits der Vers steht: »Denn wo ist Heimat? Keiner weiß Bescheid.« Dieser Vers mag bereits auf der Erfahrung beider in der Zeit der Verfolgung in der Bukowina beruhen, doch nimmt er die noch viel größere Umhergetriebenheit der Zeit des Exils vorweg, in das sie beide flohen, als sie aus dem kommunistischen Rumänien nach dem Westen gingen. In zwei von ihren Gedichten listet Rose Ausländer Namen von Autoren auf, deren Einfluß auf ihr Werk von Bedeutung gewesen ist, abgesehen von den beiden bereits genannten jiddischen Dichtern. Das eine Gedicht trägt sogar geradezu den Titel »Fünf Dichter«. Die fünf sind Hölderlin, Trakl, Rilke, Celan und Li-Tai-Po. Das zweite Gedicht, mit dem Titel »Ich denke« nennt wiederum Hölderlin, Trakl, Celan und dazu noch Kafka. In ihrem Essay »Alles kann Motiv sein« erklärt sie dazu, daß die »nachhaltigsten Impulse« von Hölderlin und Kafka ausgegangen seien. 9 Letzterer spielt auch in ihrem Prag-Gedicht eine Rolle. Zu den weitaus wichtigsten Themen und Motiven in Rose Ausländers Lyrik gehören selbstverständlich Verfolgung und Exil. Was das Motiv der Verfolgung betrifft, so schließt das Gedicht »Obdachlosigkeiten« mit den Versen: Es wehen Obdachlosigkeiten um unser heimatloses Haus Und in dem Gedicht »Autobiographie in Flüssen« lautet ein Vers: Die Hadesfahrt überlebt. 9 Rose Ausländer: »Alles kann Motiv sein«. Hier zitiert nach Rose Ausländer: Aschensommer, op. cit., S. 212 <?page no="102"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 90 Im Gedicht »Anklage« geht es um ein geläufiges Motiv der Exildichtung, nämlich die Anklage gegen sich selbst, daß man im Unterschied zu Freunden und Schicksalsgenossen, die umkamen, überlebt hat: Du weinst um sie und lachst schon wieder mit neuen Freunden. Was das Exilmotiv betrifft, so gibt es überaus eindrucksvolle Gedichte, bei denen schon der Titel darauf hinweist, daß ihr Gehalt zur Gänze der Exilerfahrung gewidmet ist wie etwa »Bruder im Exil« oder »Ein Tag im Exil«. Sodann gibt es Gedichte, in denen das Exilproblem im Titel nur indirekt angesprochen wird. »Fremde« ist etwa ein solches Gedicht, dessen erste Strophe lautet: Unser Schiff ohne Fahne gehört keinem Land kommt nicht an. Ein anderes Gedicht dieser Art ist »Gespräch mit dem Wind«, dessen erste Strophe verkündet: In Hast Wind ein Gespräch mit dir deine Ungeduld treibt mich zur Eile wohin nichthier, nichtdort wir haben kein Haus. In manchen Gedichten wird das Exilproblem schließlich zu geradezu mythischen, zeitlosen Symbolfiguren verdichtet wie etwa in »Le Chaim« in die Person Ahasvers oder in dem Gedicht »Odysseus« in einen der verbreitetsten Topoi der Exildichtung, in die Figur des rastlos herumgetriebenen altgriechischen Dulders. Mitunter wird das Exilschicksal am Beispiel von anderen Exilanten gestaltet, wie etwa in dem Nelly Sachs gewidmeten Gedicht »Pieta«, das mit der Frage- Strophe endet: Wo Schwester der Schwalben Schmetterlingsschwester wo finden sie Zuflucht? <?page no="103"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 91 Die entsetzlichsten Schrecken von Mord und Vernichtung aber sind in Rose Ausländers Lyrik - da sie zu wirklicher Dichtung gestaltet sind - fast durchwegs in Form von Metaphern, Bildern, Symbolen ins Indirekte der Anspielung, des Hinzeigens, der fassungslosen und durch Schrecken sprunghaften Teilevokationen sublimiert wie etwa auch in Celans berühmter »Todesfuge« oder in manchen der größten Exilromane. In dem Gedicht »Wir überstehn« etwa ist von der »Luziferzeit« die Rede, da im »rostigen Reich voll Stacheldraht« der Lager »Flocken himmlischer Vögel« hängen. Das Gedicht »Und manchmal der Wind« beginnt mit den Versen: »Die Toten huschen / Hand in Hand / durch den Nebel« und in dem Gedicht »Schallendes Schweigen« steht die Strophe: Aus der Nacht krochen Hände ziegelrot von Blut der Ermordeten In dem Gedicht »Rauch« aber heißt es: … meine Stimme erstickt im Rauch des ewigen Gettos in schönen barbarischen Ländern Bezeichnend für Rose Ausländer aber ist es, daß sie sogar hier, unter dem Entsetzen der Massenvernichtung eine Wendung ins Positive aufzeigt, wenn es in ihrem Gedicht »Phönix« heißt: Phönix mein Volk das verbrannte auferstanden unter Zypressen und Pomeranzen … jerusalemneu. Unter den Ländern, in denen sie nach ihrem Weggang aus Rumänien ins Exil lebte, sind das wichtigste die USA. Hier hatte sie schon während ihrer ersten Auswanderung ihre ersten literarischen Veröffentlichungen durchgesetzt. Für die damals, dem alten Czernowitz entstammende Autorin, war der Schock der in so vielem andersartigen Kultur eine Belastung gewesen, die ihren Niederschlag in negativen Aussagen vor allem über New York gefunden hatte. Bei ihrer zweiten Auswanderung aus dem kommunistischen Rumänien und nach der Verfolgung in Czernowitz hatte sie ganz andere und sehr viel bösere Schocks hinter sich. <?page no="104"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 92 Außerdem war sie keiner Überraschung mehr ausgesetzt, sondern wußte, was sie zu erwarten hatte. Verglichen mit dem menschlich wie kulturell verpesteten Osteuropa, dem sie entfloh, war die amerikanische Freiheit trotz aller kulturellen Unterschiede ein Paradies. Jetzt schreibt sie begeisterte New-York-Gedichte wie etwa »New York fasziniert«, das mit der Strophe beginnt: New York fasziniert in den frühen Morgenstunden wenn zwischen Pflaster und Himmelskristall die eleganten Wolkenkratzer gemmengleich stehen auf lachsrotem Grund. Unabhängig von ihren frühen Reaktionen spielten die Jahre ihres ersten Amerika-Aufenthalts dennoch auch für ihr Schaffen beim zweiten Aufenthalt eine wichtige Rolle. Etliche Exilautoren begannen in den USA ihre Werke in englischer Sprache zu schreiben und auch Rose Ausländer schrieb ihre Gedichte von 1949 bis 1956 nur englisch. Während jedoch bei den anderen Exilautoren dabei bewußte Überlegungen im Hinblick auf ihr Publikum eine Rolle spielten, das sie erreichen wollten, war es im einzigen Fall von Rose Ausländer so, daß sie plötzlich, einem tief inneren Aufruf aus dem Unbewußten folgend, von deutsch auf englisch wechselte und sieben Jahre später ebenso unreflektiert und plötzlich deutsch zu schreiben begann. Zweifellos hat in ihrem Fall dabei die eigene, innere Rückerinnerung auf den ersten Aufenthalt, ein Rückgriff, den die anderen nicht besaßen, eine Rolle gespielt. Im Unterschied zu vielen anderen, auch sehr bedeutenden Exilautoren, nahmen auch amerikanische Autoren wichtigen Einfluß auf Rose Ausländers Schaffen. Um nur die wichtigsten zu nennen, denen sie je ein eigenes Gedicht gewidmet hat, seien hier E. E. Cummings, Robert Frost, Marianne Moore und Gertrude Stein genannt. Gewiß, Rose Ausländer hat 1971 die USA endgültig verlassen, nachdem sie schon zuvor wiederholt ein Dutzend anderer Staaten bereist und sich kurz in ihnen aufgehalten hatte. Gewiß hat sie auch bewußt Düsseldorf als letzte Lebensstation gewählt. Aber sie hatte Düsseldorf nicht um der BRD wegen gewählt, sondern wegen der vielen Czernowitzer Freunde und Bekannten in der dortigen jüdischen Gemeinde und sie starb in Düsseldorf als amerikanische Bürgerin. Alle ihre Aufenthalte in den verschiedenen Ländern haben auf die eine oder andere Art ihren Niederschlag in ihren Gedichten gefunden. Die Schweiz und Norwegen kommen in Gedichten vor, Mexiko wird durch ein Gedicht auf die Maya-Pyramiden erwähnt, Spanien zumindest indirekt durch eine ganze Reihe von Don-Quixote-Gedichten. Über Holland gibt es das schöne Gedicht <?page no="105"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 93 »Amsterdam im Oktober«, über Griechenland ein Gedicht auf die »Akropolis«. Obwohl sie die kommunistische Tschechoslowakei nicht besuchte, gibt es ein Prag-Gedicht, das mit den Versen schließt: Mein Traum trauert um Prag. Von der Bundesrepublik Deutschland heißt es in ihrer »Autobiographie in Flüssen«: Im Rhein suchte ich die ertrunkene Lorelei unter Steinen »ein Märchen aus uralten Zeiten« und es ist auch die Lorelei, die das Bild des Dichters in ihrem Heine-Gedicht geprägt hat. In einem Gedicht auf Königstein im Taunus aber wird sie an das Kafka-Schloß erinnert. Österreich gibt es natürlich wiederholt. Einmal als Rückerinnerung an die Zeit der alten Donaumonarchie, die in »Das Erbe I« mit den Versen beginnt: Wo in der österreichischen Zeit wächst mein Wort in die Wurzeln. Das zweite Mal als Erinnerung an die drei Jahre des Aufenthalts in Wien während des Ersten Weltkriegs in »Autobiographie in Flüssen« und das dritte Mal als das »Wiedersehen mit dem Wienerwald« nach dem Zweiten Weltkrieg. Abgesehen von den zahllosen Gedichten auf die österreichgeprägte Gestalt ihrer Heimat der Bukowina gelten die meisten Gedichte Frankreich, Italien und Israel. Was Frankreich betrifft, so zeigen die Gedichte »Aix«, »Arles« und »Avignon« Ausländers Liebe zum Süden, - vielleicht auf den Spuren Rilkes. Daneben gibt es mehr als ein Paris-Gedicht und ein Gedicht auf die St. Chapelle in Paris. Es gibt auch mehr als ein Rom-Gedicht in Italien, ein eigenes Gedicht auf die Villa d’Este in Rom und eine ganze Reihe von Venedig-Gedichten. Einmal heißt es sogar: »Italien, mein Immerland« und das Gedicht »Offener Brief an Italien« schließt mit den Versen: Ich huldige deinen Ruinen in Blau deinen traumäugigen Bettlerkindern deinen gesprächigen armen sanften singenden stolzen Menschen der unerschöpflich dich liebenden Sonne in Blau. <?page no="106"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 94 Die wohl wichtigste Rolle neben der Bukowina und den USA spielt aber trotz eines nur vierwöchigen Aufenthalts wahrscheinlich Israel. Es zeichnet sich gleichsam als eine Art Abschluß und Höhepunkt ihrer zahllosen allgemeinen Bekenntnisse zu ihrem jüdischen Erbe ab, die ihr Schaffen begleiten. In den Gedichten über das jüdische Erbe im allgemeinen spielen Jakobs Sohn Josef und Moses eine wichtige Rolle und im Hinblick auf das Religiöse selbst zwei Passah-Gedichte und ein Jom-Kipur-Gedicht. Das Gedicht »Le Chaim« spielt auf den unbekannten Sabbatgast an, der in diesem Fall den unsteten Wanderer der neuen Verfolgung und des neuen Exils in der zeitlosen Symbolgestalt Ahasvers versinnbildlicht. Wie es auch allgemein Sabbat- Gedichte gibt. Ein Gedicht aber gilt der berühmten jüdischen Legende, wonach die Erde durch sechsunddreißig völlig unbekannte Gerechte im Gleichgewicht gehalten wird und zwei Gedichte, »Wenn« und »Sadagorer Chassid« beschwören die mystische Tradition des Chassidismus. Was Israel betrifft, so beginnt das Gedicht »Jerusalem« mit den israelischen Nationalfarben: Wenn ich den blauweißen Schal nach Osten hänge schwingt Jerusalem herüber zu mir mit Tempel und Hohelied. Das bereits erwähnte Gedicht »Phönix« ist im Grunde eine Apotheose Israels, wie es sich in Neugeburt aus dem Feuer der Verfolgung und Massenmorde in neuem Glanz emporhebt. Ein Vers des Gedichts »Israel I« aus dessen letzter Strophe hat einem ganzen Gedichtband den Namen gegeben: Wir pflanzen Zedern 10 und das Gedicht »Israel II« schließt mit den Versen: Komm ins Zurück die Stacheln grünen Saft aus dem Stein schlägt der Mosessohn In dem Gedicht »Vermächtnis« hat sie eine Zusammenfassung der wichtigsten Stätten ihres Lebens versucht. Und welche waren es? Ich zähle meine Besitztümer 7 Romhügel 10 Rose Ausländer: Wir pflanzen Zedern. Frankfurt am Main 1993, S. 118 <?page no="107"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 95 50 abstrakte Sterne Amerikas ein umstrittenes Jerusalem mein Grab in der Bukowina Obwohl sie aber in ihrer Dichtung, wie sie in »Der Brunnen III« schrieb, »über den Himmel / gebeugt / Erinnerung« trank, obwohl aber die Motive viele ihrer Gedichte Verfolgung, Elend und Massenmord sind und obwohl sich in ihren späten Gedichten die Themen von Altersbewußtsein und Todesahnungen häufen, ja, obwohl sie die geradezu Dantesken Verse geschrieben hat: Sieben Höllen durchwandert Der Himmel sieht es gern geh sagt er du hast nichts zu verlieren so hat sie dennoch auch die programmatischen symbolhaften Verse geschrieben »Mein Venedig versinkt nicht«, hat sie es dennoch fertig gebracht, die Wirklichkeit anzunehmen und in positiven Haltungen zu zeigen, ja sie in Dichtung zu sublimieren, welche die »Träumer der wahren Wirklichkeit« die »poetische Wahrheit« nennen, wie sie es in »Vergiß II« beschrieben hat, ja hat sie dennoch schließlich anklingend fast an den späten Rilke die Verse geprägt: Ja es ist Zeit sich zu öffnen allen ein Freund zu sein das Leben zu rühmen. Was die Gestalt und Struktur von Rose Ausländers Gedichten betrifft, so waren sie zunächst durch lange Zeit in herkömmlichen regelmäßigen Strophenformen mit Endreim geschrieben. Sie selbst hat in diesem Zusammenhang »unseren Sprachmeister Karl Kraus« erwähnt 11 ; dessen Worte in Versen in größter traditioneller Formstrenge abgefaßt waren. Auch die Vorbilder von Rilkes Stundenbuch und Neuen Gedichten gehören hierher, von den meisten anderen Czernowitzer Lyrikern dieser frühen Zeit nicht erst zu reden. Nur ganz winzige Anzeichen einer Auflockerung gibt es schon früh. So findet sich etwa im Sonett-Zyklus des Regenbogen-Bandes eines mit vierhebigen Versen oder beginnt das Gedicht »Trauer« mit vierzeiligen Strophen und endet mit zweizeiligen. Vielleicht nicht zufällig sind die Verse gerade im Gedicht »Manhattan’s Stil« verschie- 11 Rose Ausländer: »Alles kann Motiv sein«. Op. cit., S. 212 <?page no="108"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 96 den lang und finden sich in ihm ungewöhnliche bildhafte Ausdrücke wie »Subwaykanäle«, »Neonrasen« und »Reklameplaneten«. Man hat einen Einfluß Georg Heyms vermutet, doch ist er nicht belegbar. Mitunter gibt es auch wohl unter dem Einfluß Trakls - unüblich alles überlagernde Synästhesien wie etwa in den Eingangsversen zum Regenbogen: Ein Hauch, der sich zu Tönen weitet, Ein Licht, das sich im Klang zerschlägt. Ein Duft, der aus den Blüten läutet, Ein Herz in einen Laut gelegt. Wirklich aufgebrochen wurde die erste Phase von Rose Ausländers frühen Gedichten, als sie von 1949 bis 1956 englische Gedichte schrieb. In jener zweiten Phase übersetzte sie auch Gedichte nicht nur des großen polnischen Autors Adam Mickiewicz, sondern vor allem auch solche der Expressionistin und Exil- Schicksalsgenossin Else Lasker-Schüler ins Englische. Mindestens ebenso sehr wie der Einfluß Lasker-Schülers waren aber für ihre zweite Phase amerikanische Autoren: die Imagisten mit Marianne Moore und die an Kubismus und Futurismus orientierte Lyrik von E. E. Cummings. Wohl ist etwa ihr Gedicht »Seascape« noch in regelmäßigen Strophen gehalten, doch ist es bereits völlig reimfrei. Noch weiter geht das Aufbrechen der alten Formen in ihrem Marianne Moore gewidmeten Gedicht »The door«. Vergleicht man es mit der deutschen Übertragung des Gedichts, die Rose Ausländer selbst angefertigt hat, dann erweist sich das englische Gedicht sowohl noch freier als auch verdichteter als die deutsche Übertragung. Als sie 1957 wieder deutsch zu schreiben begonnen hatte und am Beginn dieser Phase ihres Schaffens sechs Gedichte Paul Celan in Paris vorlegte, da sind diese bereits modern reimlos und zumindest im Fall von »Ruf und Kristall«, »Das unhörbare Herz« und »Immer Atlantis« gibt es auch keine regelmäßigen Strophenformen mehr. Ein deutscher Kritiker hat dies sehr treffend beschrieben, obwohl er die amerikanische Entwicklung nicht ganz überblickte. Er schrieb, daß, nachdem Rose Ausländer »Rilke und Karl Kraus aufgenommen hatte«, diese beiden Autoren inzwischen »längst entschwunden waren«. Ja, daß »die aus der amerikanischen Fremde in die europäische Fremde Zurückgekehrte« rasch »begriff. Sie begann reimlos und freirhythmisch, sogar im Parlando-Ton zu schreiben.« 12 Obwohl sich der Übergang von den traditionellen Strophenformen zu neuen Strukturen bereits in Amerika vollzogen hatte, ist die Beschreibung des neuen Stils durch unseren Kritiker ganz ausgezeichnet: »In Alliterationen und 12 Paul Konrad Kurz: Nachwort. In: Rose Ausländer: Die Musik ist zerbrochen. Op. cit., S. 216 <?page no="109"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 97 Assonanzen« schrieb er, »versuchte sie, die melodische Wärme des Klangs zu bewahren, vor allem aber in ihren Bildern die Seele des Gedichts. Sie verkürzt den Satz, verfremdet die Fügung, bricht den Vers, sperrt den im Satz fließenden Rhythmus. In den Bildern gewinnt sie eine neue metaphorische Freiheit. Gegenwärtige poetische Anschauung verbindet sich rückwärts mit Erinnerung, poetische Bewußtseinsarbeit künftig mit Traum. Zeit verdichtet sich in andeutende Dauer. Sinnliche Konkretion transzendiert mit mythischen Bildern auf Erahnbares, auf Vorstellbares mit assoziativen Sprüngen. Chiffren markieren gewonnene Verdichtungen. Das individuelle sprachliche Wortfeld, Bilder, die im Märchen- und Mythengrund waten, eine ins religiös Mystische ausgreifende prophetische Rede erschaffen sich Ausdruck. Ohne Argumentation, ohne intellektuelle Vorzeigearbeit teilen sich ihre Bilder dem sympathiewilligen, einfühlungsfähigen Leser zu.« 13 Wenn sich aber »Zeit in andeutende Dauer« verdichtet, dann geschieht sie oft durch einen Vorgang der Verräumlichung und in dieser Hinsicht ist Rilke, der in der Spätzeit verstärkt wiederkehren wird, keineswegs »entschwunden«. Ja er hängt sogar gerade auch mit Rose Ausländers Überwindung der herkömmlichen Gedichtformen durch moderne Strukturen zusammen. Ausländers Entwicklung spiegelt sich auch recht gut in parallelen Zügen, die sie in der Malerei bewundert. Hier stehen Cezanne, Picasso und Chagall im Vordergrund. Nun ist es aber bezeichnend, daß auch am Wendepunkt von Rilkes Wende zur Moderne sein Cezanne-Erlebnis steht, da er bei diesem insofern eine Parallele zu dem von ihm selbst erreichten Punkt der Entwicklung erblickt, an dem sich der im Grunde auf einem radikalen Realismus basierende Impressionismus zu transzendieren und neuen Horizonten zu öffnen beginnt. Es ist bei größerer Wirklichkeitsähnlichkeit, als die Neuromantik sie bot, dennoch eine Hinwendung zu einer zutiefst idealistischen Haltung. Unser Kritiker, der nur in deutschen Begriffen denkt, spricht von »expressionistischem Urgrund«. 14 Obwohl dies in der Sache ebenfalls durchaus richtig gesehen ist, bedeutet es vom Begriff her eine nationale Einengung, die auf Rose Ausländer - wie übrigens auch auf Rilke - nicht ganz paßt. Wie bei so manchen modernen Lyrikern, nicht zuletzt bei Paul Celan, findet sich auch bei Rose Ausländer eine Art Auflösung des Ich-Begriffs. Das Ich bildet keine ganzheitliche Einheit mehr, sondern zerfällt in einzelne Elemente, ganz abgesehen von den Änderungen des zeitlichen Wandels, dem es unterliegt. Diese Einsicht führt bei Rose Ausländer so weit, daß sie in ihrem Gedicht »Mutter Sprache« einbekennt: 13 Paul Konrad Kurz: Nachwort, op. cit., S. 216 14 Paul Konrad Kurz: Nachwort, op. cit., S. 216 <?page no="110"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 98 Ich habe mich in mich verwandelt von Augenblick zu Augenblick in Stücke zersplittert auf dem Wortweg Es ist nur die Sprache des Gedichts, die sie wenigstens auf der ästhetischen Ebene wieder zu einer Art Ganzheit zusammensetzt: Mutter Sprache Setzt mich zusammen Menschenmosaik In einem anderen Gedicht beschreibt und zeigt sie durch die Form des Gedichts selber, wie sich Begriffe zu Symbolen ausweiten und sich auf diese Weise zu einer integralen Ganzheit verdichten, gerade auch im Hinblick auf das »Menschen«- Ich. In dem Gedicht »Weil« heißt es: du ein Mensch bist weil ein Mensch eine Muschel ist die manchmal tönt … weil das Wort Welle ist weil du Wort und Welle bist ... weil wir manchmal zusammenströmen Wort Welle Muschel Mensch Es gibt kein hohles Pathos, ja es gibt überhaupt kein Pathos mehr, wie es von Schiller bis Karl Kraus als Donner durch die Dichtung grollte, sondern es gibt nur Verhaltensein und Unterspielen. Rose Ausländer hat diese Art selbst in ihrem Gedicht »Werben« durch den Begriff der »winzigen Worte« umschrieben. Nach den Posaunenstößen und dem Geschrei der Hetzpropaganda für totalitäre Ideologien sind die »großen Worte« eher in Verruf gekommen. Die großen Worte sind verloren gegangen Es heißt mit winzigen Wörtern werben um Frieden und Liebe <?page no="111"?> Rose Ausländer und der Geist des alten Czernowitz 99 Sie schafft es auch nur mit winzigen Worten eine ganz große Dichterin zu sein. Wenn sie aber auch in dieser Hinsicht mit einer bestimmten Tradition bricht, so bricht sie - wie einmal sehr schön gesagt wurde - nur mit der Tradition in Worten, nicht mit der Tradition im Geist. Denn auch hier hat unser Kritiker recht, wenn er auf ihre »Verbundenheit mit allem, was lebt,« hinweist, »mit allem, was ist; mit allem, was menschliches Antlitz trägt …« 15 Ja in manchen ihrer Gedichte geht sie auch noch darüber hinaus. »Wir erfahren« heißt es einmal, in endlosen Metamorphosen unsere Urväter und Urmütter Luft Fische Pflanzen und daß unsere Brüder und Schwestern stille Tiere sind giftige Kreaturen feuerspeiende Krater träumende Steine. Es ist jene universale Alliebe die ein jahrhundertealtes Hauptmerkmal charakteristisch österreichischer Geistigkeit und Dichtung darstellt. 16 Es sind im Grunde Wesenszüge alter österreichischer Dichtungstradition, die dem Leser bei Rose Ausländer in wahrhaft bezaubernder neuer Kleidung entgegen treten. Sie hat es in die schlagenden knappen sieben Worte der aufs höchste verdichteten letzten Strophe ihres Gedichts »Rad / aus Wolkenerz« zusammengefaßt: Ich schwöre es das Losungswort heißt Liebe. 15 Paul Konrad Kurz: Nachwort, op. cit., S. 219 16 Vgl. Oskar Benda: Die österreichische Kulturidee, op. cit. und Joseph P. Strelka: Zwischen Wirklichkeit und Traum, op. cit., S. 161, 231-32, 234-37, und 311-15 <?page no="113"?> Ernst Schönwiese und Amerika Eine Erinnerung Wenn ich an Ernst Schönwieses Berichte über sein eigenes Leben und seine frühen Jahre zurückdenke, dann waren es zwei Dinge, die immer wieder mit besonderer Betonung und Lebendigkeit im Vordergrund standen: Das eine war die »Zirkusgasse«, die als Schlüsselbegriff für die Volkshochschule im Wiener Gemeindebezirk der Leopoldstadt stand, in den frühen Dreißigerjahren die Elite- Schule der Wiener Erwachsenenbildung. Hier hatte der Vierundzwanzigjährige seinen ersten Vortrag über zeitgenössische Literatur gehalten und hier war er 1931 zum »Dozenten« ernannt worden. Der zweite wichtige Gegenstand der Berichte war der »Blei-Kreis« oder um präzise zu sein, der zweite Blei-Kreis der Dreißigerjahre im Wiener Café Herrenhof, denn es hatte bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs einen Blei-Kreis gegeben. Der Kreis war nach dem Vorsitzenden der Stammtischrunde Franz Blei benannt, einem interessanten Autor, einem geradezu unheimlichen Literaturkenner und einem der bedeutendsten deutschsprachigen Kritiker des 20. Jahrhunderts. Der zweite Blei-Kreis wurde 1936 begründet, als Blei von Mallorca nach Wien zurückgekehrt, seine Nachmittags- und Abendresidenz in Café Herrenhof aufgeschlagen hatte. Dabei bestand zwischen der »Zirkusgasse« und dem »Blei-Kreis« eine enge Beziehung. Schönwiese hatte als einer der ersten, wenn nicht als erster, in der Zirkusgasse über die größten deutschsprachigen Romanciers der Zeit, Robert Musil und Hermann Broch Vorträge gehalten und hatte sie auch zu Lesungen eingeladen. Wenige Jahre später waren es Musil und Broch als »Mitglieder« des Blei-Kreises, die dafür sorgten, daß Schönwiese als weitaus jüngster von allen dazu eingeladen wurde. Weitere »Mitglieder« waren Ernst Polak-Schwenk, der einzige der selbst kein Schriftsteller, jedoch bedeutender Literaturkenner und »Berater« von Autoren wie Broch und Werfel und überdies auch noch der Gatte von Kafkas Milena war. Außerdem der Romancier und Maler Albert Paris Gütersloh und der aus Czernowitz stammende Lyriker Isaac Schreyer. Bereits ein Jahr vor Gründung des Blei-Kreises hatte Schönwiese eine bemerkenswerte Anthologie zeitgenössischer österreichischer Lyrik unter dem Titel Patmos herausgegeben, die Gedichte von zwölf Autoren brachte. Unter diesen waren wiederum Musil und Broch und außerdem Friedrich Bergammer, Heinz Politzer und Ernst Waldinger. Im Jahr 1936 gründete Schönwiese sodann seine Literaturzeitschrift das silberboot, dessen tschechischer Repräsentant Johannes Urzidil war. Auch ein kleines Theater hat er gegründet. Sein erster Intendant war Dr. Hans Schlesinger und dessen Nachfolger war Walter Sorell. <?page no="114"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 102 Als 1938 deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, wurde Schönwiese im Auftrag der Gestapo von einem Schriftstellerkollegen verhört und erkannte, daß er so rasch als möglich das Land verlassen mußte. Das war nicht nur darum schwierig, weil er keineswegs ein etablierter Autor und zudem noch völlig mittellos war, sondern weil er auch seine jüdische Frau und Tochter mitnehmen mußte. Die einzige Möglichkeit, die sich bot, war der Posten bei einer privaten internationalen Presseagentur in Budapest. Während Schönwiese nach Budapest ging, emigrierten drei Mitglieder des Blei-Kreises, Hermann Broch, Isaac Schreyer und Franz Blei, selbst in die USA. Aber auch etliche Mitarbeiter an seiner Zeitschrift das silberboot flohen in die Vereinigten Staaten: Friedrich Bergammer, Ernst Waldinger und auf dem Umweg über Palästina auch Heinz Politzer. Schließlich ging auch der tschechische Repräsentant der Zeitschrift Johannes Urzidil und der zweite Intendant des kleinen Theaters Walter Sorell in die USA. Dazu kamen noch weitere befreundete Schriftsteller, die nicht direkt mit ihm beruflich verbunden waren, wie der damals in Wien bekannte und einflußreiche Max Roden. Alle diese Freunde im amerikanischen Exil legten einen ersten Grundstein für seine direkten Beziehungen zu Amerika. Natürlich hatte er gewisse Beziehungen zu Amerika schon vor 1938 gehabt, hatte er doch im silberboot Beiträge amerikanischer Autoren wie William Faulkner, Sinclair Lewis, Thomas Wolfe und Edna St. Vincent Millay veröffentlicht. Zum ersten direkten Kontakt mit Amerika kam es im Jahr 1945. Bereits 1944 hatte die deutsche Wehrmacht auch Ungarn besetzt und die Gestapo folgte ihr auf dem Fuße. Schönwiese war nun weitaus mehr gefährdet als vorher. Seine Presseagentur, voll Verständnis für seine prekäre Lage, traf Vorbereitungen, ihn nach Ankara zu versetzen. Aber die russischen Truppen waren rascher als die Bürokratie der Presseagentur und standen plötzlich vor Budapest. Da Schönwiese für Stalin so wenig übrig hatte wie für Hitler, schien seine Lage geradezu ausweglos. Als die rote Armee begann, in die Vorstädte Budapests einzudringen, faßte Schönwiese den verzweifelten Entschluß, sowohl die Deutschen wie die Russen dadurch zu vermeiden, daß er sich mit Frau und Tochter zu Fuß auf den Weg zurück nach Österreich machte, gleichsam zwischen den Fronten, hinter den Deutschen, aber noch vor den Russen nach Westen wandernd. Er gelangte durch das Burgenland und über Graz bis nach Salzburg. Als er mit Frau und Tochter vom Süden her in Salzburg einzog, stießen aus dem Norden gerade die amerikanischen Truppen in die Stadt vor. Schönwiese hatte Frau und Tochter in einem Kaffeehaus zurück gelassen, um einen billigen Schlafplatz zu finden. An einer Straßenecke stieß er mit einem amerikanischen Offizier zusammen, der sich durch das abgerissene und elende Äußere Schönwieses nicht täuschen ließ und der ihn ausfragte, woher er <?page no="115"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 103 käme und wer er sei. Zwei Stunden später saß Schönwiese in einem amerikanischen Auto mit einem großen Lautsprecher auf dem Dach und verlas die ersten Nachrichten an die Bevölkerung von Salzburg, die nicht von Goebbels zensuriert waren. Dieser erste Zusammenstoß mit Amerika sollte bald weitreichende Folgen haben, denn kurze Zeit später fand er sich als Chef der Literaturabteilung der amerikanischen Sendergruppe Rot-Weiß-Rot in Salzburg. Schönwiese stellte Sendungen für eine Reihe »Die Vereinigten Staaten von Amerika sprechen« zusammen und schrieb einen Funkessay über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Er begründete eine fortlaufende Programmfolge, in welcher er amerikanische Autoren wie Nathanael Hawthorne, Joseph Hergesheimer und William Saroyan vorstellte. Er bediente sich des Beispiels Hemingways, um seinen österreichischen Hörern Technik, Struktur und Wesen der amerikanischen Short Story zu erklären. In der Zeitschrift Schönleitners Monatshefte schrieb er einen Essay über »Amerikas Geist und Kultur im Spiegel seiner Literatur«. Und im Jahr 1946 begründete er eine Fortsetzung seiner Zeitschrift das silberboot, wobei er ohne Unterbrechung da anschloß, wo er neun Jahre zuvor gezwungen gewesen war, abzubrechen. Der einzige kleine Unterschied zur ungebrochenen alten Tradition bestand darin, daß er nun noch mehr und neue amerikanische Beiträger brachte, wie Robert Nathan, William Saroyan, John Steinbeck, Howard Mumford Jones und Elinor Wylie. Ein anderer Unterschied gegenüber dem »alten« silberboot bestand darin, daß etliche der ehemals österreichischen Mitarbeiter als amerikanische Bürger ihre Beiträge aus dem amerikanischen Exil an ihn schickten wie Broch, Bergammer, Urzidil und Waldinger. Franz Blei war noch während des Krieges verstorben und Isaac Schreyer blieb für Schönwiese zunächst verschollen. Dafür kamen zwei wichtige neue Autoren aus dem amerikanischen Exil dazu, die vor 1938 noch nicht Mitarbeiter gewesen waren, nämlich Ernst Lothar und Friedrich Torberg. Es gab keine bessere und zugleich hochwertigere literarische und geistige Brücke zwischen Amerika und Österreich als Schönwieses silberboot. Obwohl er große Autoren der Weltliteratur überhaupt brachte wie Gide und Proust, Joyce, Aldous Huxley, Charles Morgan und Alexander Blok, so standen im Hinblick auf die Quantität die amerikanischen Autoren im Vordergrund, sogar wenn man die österreichischen Exilautoren in Amerika abrechnete. Im Jahr 1954 verließ Schönwiese Salzburg und Rot-Weiß-Rot, um im Wiener Hauptquartier des Österreichischen Rundfunks als stellvertretender Programmdirektor sämtliche Literatur- und Wissenschaftsprogramme zu übernehmen, auch innerhalb der einzelnen Länder-Studios. Seine besondere Pflege amerikanischer Autoren sowie österreichischer Exilautoren, vor allem auch in den USA, blieb ihm weiterhin ein besonderes Anliegen. <?page no="116"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 104 Um nur zwei Beispiele aus Schönwieses Rundfunkproduktion amerikanischer Literatur herauszugreifen, seien zwei seiner eigenen Hörspieladaptionen angeführt, bei denen er auch selbst Regie führte. Das erste ist seine Hörspielbearbeitung von Eugene O’Neills Meisterdrama Trauer muß Elektra tragen, jene Trilogie, welche die Vorfälle des trojanischen Krieges auf solche aus dem amerikanischen Bürgerkrieg überträgt am Beispiel der neuenglischen Familie Mannon, in der die Schicksalsmacht des Aeschylus durch moderne Psychologie ersetzt wird. Das zweite Beispiel ist Schönwieses Hörspielfassung von Truman Capotes Roman Die Grasharfe. In dem Jahr, in dem er nach Wien übersiedelte, lernte ich ihn auch kennen. Es war mehr als ein Jahr vor dem Österreichischen Staatsvertrag, in welchem die Sowjetunion zustimmte, daß ihre Armee - und mit dieser auch die Armeen der drei anderen Besatzungsmächte - das Land verlassen würden. Niemand hatte die leiseste Idee oder gar Hoffnung, daß dies so bald geschehen könnte. Die Zentrale des Österreichischen Rundfunks befand sich im vierten Wiener Gemeindebezirk und lag damit in der russischen Zone. Eines Tages lud mich mein Freund Dr. Ernst Glaser ein, der damals Intendant des Wiener Hauses des Rundfunks war, ihn zu besuchen. Als ich ihm gegenüber saß, berichtete er mir, daß die Russen plötzlich ihr Zensurbüro im Haus geschlossen hätten. Die Zensoren, österreichische Kommunisten, die unter dem Kommando eines sowjetischen NKWD- Obersten gestanden hatten, waren abgezogen worden. »Wir wissen nicht, was das bedeutet«, sagte Dr. Glaser, »heißt das, daß wir jetzt senden können, was wir wollen oder bedeutet es, daß wir versteckt von außen her zensuriert werden. Es ist überaus wichtig für uns, heraus zu finden, was los ist. Darum wollen wir einen Versuchsballon steigen lassen. Wir brauchen jemanden, der ein nachdrücklich antikommunistisches Manuskript schreibt, das wir senden werden. Dann wird sich zeigen, was geschieht. Wir dachten, du seiest die ideale Person für diese Aufgabe. Mach Dir nicht zuviel Sorgen. Wir werden nicht zulassen, daß sie Dich nach Sibirien schicken. Vielleicht ein paar Tage im Keller der Kommandantur auf der Bellaria. Wir würden dich herausholen. Aber vielleicht geschieht auch gar nichts.« Kurze Zeit vor unserem Gespräch war ein Buch von Ernst Fischer Von Grillparzer bis Kafka erschienen. Fischer genoß den Ruf, der Intellektuelle der Kommunistischen Partei zu sein, und war Mitglied ihres Zentralkomitees. Er war aus dem Exil in Moskau zurück gekehrt, wo er nicht nur selbst jeder Biegung und jedem Knick der Parteilinie Stalins gefolgt war, sondern auch darauf geachtet hatte, daß die anderen es taten. Ich schrieb eine Besprechung, die auf eine völlige Vernichtung des Buches hinauslief. Das Manuskript wurde gesendet und nichts geschah. Als ich das nächste Mal Dr. Glaser sah, sagte er nur: »Gut gemacht«. Sodann fügte er hinzu: »Es gibt jetzt einen neuen Chef aller Literatursendungen. <?page no="117"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 105 Sein Name ist Schönwiese. Er möchte den Mann kennen lernen, der dieses Manuskript geschrieben hat. Warum gehst du nicht gleich hinauf. Er ist im dritten Stock.« Also ging ich hinauf und es war gegenseitige Sympathie auf den ersten Blick. Nach einer halben Stunde angeregter Unterhaltung fragte er mich: »Wollen Sie mit mir mittagessen? « Es war das erste von hunderten Mittagessen, die folgen sollten und es war gleichzeitig eine Doppellektion: einerseits auf dem Gebiet des Gourmets, der er war, und andererseits auf dem Gebiet des profunden Kenners der Weltliteratur, der er ebenfalls war. Es war diese Kennerschaft, die ihm erlaubte, auf höchst eindrucksvolle Weise Beziehungen zwischen der amerikanischen Literatur und Österreich herzustellen. Es wurden bereits seine Hörspielfassungen eines Dramas von O’Neill und eines Romans von Capote als Beispiele angeführt. Er hatte das Drama O’Neills Trauer muß Elektra tragen unter anderem darum gewählt, weil der Autor selbst eine ganze Reihe von Möglichkeiten akustischer Effekte in das Stück eingebaut hatte, die dem Hörspiel besondere Möglichkeiten eröffneten: den Monolog von Orin, dem amerikanischen Orest im neunten der dreizehn Akte, der auf der rein akustischen Ebene der Hörspiels wirkungsvoller herauskommt als auf der Schaubühne oder das nicht weniger als vier Mal gesungene Seemannslied, das der alte Seth Beckwith an Schlüsselstellen des Stückes singt: O, Shenandoa, könnt ich hören dein Lied In der Ferne, mein rauschender Fluß. Wenn Seth diese Takte zum dritten Mal singt, fällt plötzlich ein Schuß und der Effekt des Knalls aus unsichtbarer Quelle verkündet rein akustisch den Zuschauern der Schaubühne wie den Hörern des Hörspiels, daß sich Christine das Leben genommen hat. Gewiß eine zusätzliche Hilfe für die Vertiefung der amerikanisch-österreichischen Literaturbeziehungen war Schönwieses Freundschaft mit österreichischen Exilautoren in den USA. Da ist beispielsweise Friedrich Bergammer, sein engster Freund aus den Jahren vor 1938, der damals jene Rolle spielte, die nach 1954 mir zufiel. Schönwiese liebte es, jenes Gedicht Bergammers zu zitieren, in welchem dieser bekennt, er liebe an der amerikanischen Fahne am meisten die rot-weiß-roten Streifen, weil sie ihn an die österreichische erinnerten. Über seinen Freund Friedrich Torberg schrieb er einmal einen Aufsatz »Die chassidische Seele singt«, in welchem er Torbergs Lyrik behandelte. Neben den Gedichten, die durch Torbergs Verehrung für den jüdischen Mystiker Martin Buber entbunden worden waren, sind es vor allem seine Heimwehgedichte aus dem Exil, die von Wichtigkeit sind. <?page no="118"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 106 Oder da ist das Beispiel von Ernst Lothar, der im amerikanischen Exil seinen Roman The Angel with the Trumpet verfaßt hatte, in welchem er seiner amerikanischen Leserschaft im Brennspiegel der Geschichte einer Wiener Familie eine großartige Schau der Entwicklung Österreichs vom Beginn des Zerfalls der alten Donaumonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum »Anschluß« an Hitler-Deutschland vermittelte. Ein Kritiker hat dieses Buch »das österreichische Nationalepos« genannt. An den Beginn des Romans hat Lothar aber als Motto das Grillparzer-Zitat gesetzt: »Wüßten die Österreicher besser, was Österreich ist, sie wären bessere Österreicher; wüßte die Welt besser, was Österreich ist, die Welt wäre besser.« Einer der besten frühen österreichischen Filme nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nach diesem Roman gedreht, dessen deutsche Fassung Schönwiese in seinem Salzburger Verlag, dem silberboot- Verlag, herausgebracht hat. Da ist schließlich der größte von allen: Hermann Broch, ein österreichischer Exilautor in Amerika von weltliterarischem Format, der selbst interessiert daran war, Brücken zwischen Amerika und Österreich zu bauen. So plante er eine Loyalitätsliga der österreichischen Emigranten zu ihrem Gastland Amerika zu gründen, unter anderem auch, um den Aktivitäten von Hitlers »Fünfter Kolonne« entgegen zu wirken sowie um »guten« Neuankömmlingen im Exil Hilfe zu leisten. Broch war zwar keineswegs der einzige Beiträger zu Schönwieses Zeitschrift das silberboot, doch er war der einzige, zu dessen 60. Geburtstag Schönwiese eine eigene Broch-Nummer herausbrachte. Wie er auch eine Anthologie aus Brochs Gesamtwerk unter dem Titel Nur das Herz ist das Wirkliche veröffentlicht hat. Schönwiese publizierte auch zum ersten Mal das einzige Drama Brochs, Die Entsühnung, in einer von ihm adaptierten Hörspielfassung und er ist der Herausgeber des zehnten Bandes der ersten Gesamtausgabe von Brochs Werk im Rhein Verlag. Schönwieses literarische Mittlertätigkeit, wie auch seine dichterische Bedeutung im allgemeinen, blieben nicht unbemerkt in den Vereinigten Staaten. Es war auf dem Kopfpapier der Brandeis University, auf dem der Text getippt wurde, der ihn im Dezember 1986 für den Nobelpreis vorschlug. Ich hatte die Idee bei einem Besuch bei meinem Freund Harry Zohn in Boston geäußert und er war so angetan davon, daß er sich sofort an den Schreibtisch setzte, um selbst den Vorschlag zu formulieren. Acht Literatur-Professoren aus fünf Staaten: Deutschland, Holland, Kanada, Österreich und den USA haben den Vorschlag unterzeichnet. Es war bereits in den späten Siebzigerjahren, daß ich zum ersten Mal Hermann Salinger begegnete, der damals Vorstand der Deutsch-Abteilung der <?page no="119"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 107 Duke University war. Es stellte sich heraus, daß er nicht nur von Schönwieses Lyrik beeindruckt war, sondern daß er bereits eine Reihe seiner Gedichte ins Englische übersetzt hatte. Er plante einen ganzen Band von Schönwiese- Gedichten herauszugeben. Überaus erfreut schrieb ich sofort an Schönwiese und bat ihn, Salinger die Übersetzungerechte für einen solchen Band einzuräumen. Zu meiner Überraschung zögerte er. Nicht etwa, daß er den geringsten Zweifel an der Qualität von Salingers Übersetzungen gehabt hätte. Aber er hatte bereits einige sehr gute Übersetzungen von Gedichten von einer in vieler Hinsicht bemerkenswerten und bedeutenden Frau, Virginia Sease, erhalten und zudem hatte sich Gitta Holroyd Rice an ihn mit dem Ersuchen um die Übersetzungsrechte gewandt. Er wollte die Übersetzungen aller in einen Band vereinigt sehen und wollte mich als Herausgeber haben. Obwohl ich gewiß ein guter Kenner seines Werkes war und bin, hielt ich mich nicht für die ideale Person, einen Band von Übersetzungen zusammen zu stellen und herauszugeben. Meiner Überzeugung nach mußte ein solcher Herausgeber englisch als Muttersprache haben und ich hatte das Glück, auch einen solchen Mann zu finden. Frank Gado war zudem damals gerade Direktor eines kleinen College- Verlags im Staat New York und war ein ungewöhnlich guter Literaturkenner und Kritiker. Er stellte denn auch einen hervorragenden Band von Gedichten im deutschen Original wie in englischer Übersetzung zusammen. Er selbst hatte eines der Gedichte Schönwieses, das ihm besonders gefiel, übersetzt. Es hatte keinen Titel und begann mit dem Vers »Alles ist nur ein Bild in einem Spiegel«. Frank gab dem übersetzten Gedicht den Titel »Secrets in the Glass« und das wurde auch der Titel des Bandes. Nun war Frank zwar ein guter Kenner von Literatur und ein kluger Kritiker, aber leider kein guter Manager und Kaufmann. So gut und hübsch der Band geworden war, so unbekannt blieb er. Es gab jedoch auch andere Anerkennungen von Schönwieses Werk. Das New York Writers Institute in Albany, das auf jeden Fall damals sehr wählerisch in der Auswahl einzuladender ausländischer Autoren war, lud ihn zu einer Lesung ein. Während er bis dahin der einzige eingeladene österreichische Autor dieses Instituts gewesen ist, so gab es eine ganze, wenngleich kleine Gruppe österreichischer Autoren, die von der Library of Congress eingeladen worden waren, aus ihrem Werk für das Stimmen-Archiv dieser berühmten Bibliothek zu lesen. Natürlich begleitete ich ihn nach Washington und war bei der Aufnahme anwesend. Er hatte eine Reihe von Gedichten aus seinen beiden letzten Bänden Versunken in den Traum und Antworten in der Vogelsprache ausgewählt. Die Aufnahme fand ein Jahr vor seinem Tod statt, an den damals kein Mensch dach- <?page no="120"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 108 te. Ich saß neben ihm und hörte ihm aufmerksam zu. Er las die Gedichte in der Reihenfolge, in der sie in den beiden Bänden abgedruckt waren, die mir sehr geläufig war. Plötzlich zuckte ich zusammen, als er nach dem Vortrag der letzten drei Gedichte des zweiten Bandes die Lesung nicht beendete, sondern noch ein Gedicht anfügte. Als letztes Gedicht für das Stimmen-Archiv las er: Nichts wird bleiben, keine Erinnerung. So schnell wie du einen - Traum vergißt, wirst auch du vergessen sein. Es war wie eine Vorwarnung und ich war recht deprimiert. Ich sagte aber kein Wort darüber. Er flog zurück nach Wien und ein Jahr später war er tot. Hier könnte ich schließen, denn die offenkundigen »Fakten« von Schönwieses Beziehung zu Amerika sind damit im wesentlichen aufgezählt. Dennoch sollten noch zwei Dinge erwähnt werden, bei denen der Zusammenhang nicht so direkt offen zu Tage liegt, die aber eine tiefere geistige Beziehung zum Ausdruck bringen. Als erstes sollte hier ein bestimmtes Gedicht Schönwieses Erwähnung finden. Es ist eines der typischen kurzen Gedichte seiner späten Jahre und trägt den Titel »Geheimnisvolles Ballspiel«. Es lautet: Schleuder deinen alten Ball! Wirf alles fort, was du hast, - und dich selber dazu! Schon rollt dir die Welt, eine goldene Kugel, in deinen Schoß. Gibt es hier tatsächlich eine Beziehung zu Amerika? Es gibt eine: In alten Zeiten gab es keinen indianischen Tempel von Honduras bis Südost-Arizona ohne ein Feld für ein Ballspiel daneben. Man hat angenommen, daß in diesem Fall der Ball ursprünglich nicht die Welt wie in Schönwieses Gedicht, sondern die Sonne versinnbildlichte. Aber es gibt Interpretationen späterer Zeiten indianischer Kultur, als die frühe mythische Bedeutung vergessen war und durch eine spätere, ritualistische Symbolik ersetzt wurde. In manchen Fällen wurde der Sieger im Ballspiel später den Göttern geopfert. Es besteht kein Zweifel, daß es in Schönwieses Gedicht um eine innerlich orientierte, mystische Version des Ballspiels geht. Aber die mystische Version ist nur allzu oft nichts anderes als eine Form der Sublimierung älterer Mythen und es handelt sich um Zwischenbeziehungen. Es gibt auch keinen Zweifel darüber, daß Schönwiese von jenen indianischen Balllspiel-Formen keine Kenntnis hatte. Ich erzählte ihm davon, nachdem er <?page no="121"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 109 das Gedicht geschrieben und ich es gelesen hatte. Natürlich ist es theoretisch möglich, daß die Beziehung zwischen dem historischen indianischen Ballspiel und der Eingebung des Gedichts im wahrsten Sinn des Wortes nichts anderes ist als blinder Zufall. Es ist jedoch ebenso möglich, daß es um den dichterischen Ausdruck des kollektiven Unbewußten im Sinne C. G. Jungs geht. Dann würde das Gedicht unter anderem eine mystische Sublimierung des alten indianischen Ballspiel-Mythos darstellen. Obwohl es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, scheinen doch manche Anzeichen dafür zu sprechen. So gibt es etwa ein Gedicht Rilkes über ein Ballspiel, in dem der Ball in ähnlicher Weise wie in dem Gedicht Schönwieses fortgeworfen wird, wobei das Ich mit ihm fortgeworfen wird. Ein doppelter Zufall? Zudem war Schönwiese ein Mystiker, der manches andere Mal aus seinem Unbewußten sinnvolle Symbole in das Licht des Bewußtseins gehoben hat, so schon sehr früh in seinem Gedicht »Vor dem Einschlafen«. Abgesehen von dem Gedicht »Geheimnisvolles Ballspiel« gibt es jedoch noch eine zweite Sache, die hier angeführt werden sollte und die eine der tiefreichendsten geistigen Beziehungen Schönwieses betrifft, in diesem Fall zu einem weitgehend amerikanisierten Yoga-Lehrer. Es war während seines Exils in Ungarn, daß Schönwiese seine tiefe Beziehung zur Mystik entdeckt hatte. Der zunächst erfolgten Hinwendung zu judäo-christlicher Mystik folgte bald eine Erweiterung, die auch mittel- und fernöstliche einbezog, von der vedantischen Tradition Indiens über den chinesischen Taoismus bis zum japanischen ZEN- Buddhismus. Wenn Arthur Koestler einmal erklärt hat, daß ZEN die Antwort der ersten westlichen Generation des nuklearen Zeitalters darstellte, dann war Schönwiese in Österreich einer der ersten, der in diesem Zusammenhang genannt gehört. In seinem Gedichtband Der alte und der junge Chronos findet sich das erste ausdrückliche ZEN-Gedicht über das fünfte Koan des Mumonkan. Es steht vom Sinn her in einer gewissen Parallele zum »Geheimnisvollen Ballspiel«, da es auf Ich-Überwindung hinausläuft. Schönwiese hatte sich eine eigene Bibliothek aufgebaut, die mystische Traditionen der verschiedensten Herkunft abdeckte und er besaß ungewöhnliche Kenntnisse auf diesem Gebiet. Er hielt auch nach einem Lehrer für die Praxis Ausschau und er fand schließlich einen, jedoch nicht vielleicht wie zu erwarten wäre in einem indischen Yoga-Zentrum oder in einem japanischen ZEN-Kloster, sondern eben in Amerika! Aber obwohl dieser Lehrer gebürtiger Chinese war, der seine eigene Schulung in Tibet erhalten hatte, war sein geographischer amerikanischer Wohnort keineswegs das einzige Amerikanische an ihm. Sein Name war Chang Chen Chi (sein tibetischer Name Garma Chang) und daß er amerikanischer Bürger und Professor an einer amerika- <?page no="122"?> Ernst Schönwiese und Amerika. Eine Erinnerung 110 nischen Universität war, gehörte zumindest zum Teil zu den oberflächlichen Äußerlichkeiten. Changs eigene Haltung gegenüber der ehrwürdigen tibetischen Tradition, aus der er kam, erinnerte aber nur allzu sehr an Mark Twains Helden in seinem Roman Ein Yankee am Hofe des Königs Artus. Denn sein angeborener chinesischer Pragmatismus hatte sich unter dem Einfluß seiner amerikanischen Umgebung noch wesentlich ausgeweitet. Eines seiner ersten bedeutenden Bücher trägt nicht den Titel The Practice of Mahamudra, sondern The Practice of ZEN. Ja die pragmatische Haltung und der offene Horizont Changs gingen so weit, daß er alles ausprobierte, was ihm über den Weg kam. Als es Mode war, LSD zu schlucken, versuchte er auch dies und er besuchte einen amerikanischen Kurs in transzendenter Meditation. Er war recht negativ beeindruckt vom LSD und zu seiner eigenen Überraschung sehr positiv beeindruckt von der transzendenten Meditation. Manches Mal aber, wenn er Erinnerungen aus seinem Klosterleben in Tibet erzählte und sich lustig machte über die Mißbräuche vieler teils korrupter, teils dümmlicher Mönche, benützte er in seinem abschließenden Urteil der Ablehnung eine ganz und gar nicht tibetische Redewendung. Er sagte ganz wie ein Yankee: »It stinks.« Schönwiese betrachtete seine Begegnung mit diesem amerikanischen Chinesen als eines seiner wichtigsten, wenn nicht als sein wichtigstes geistiges Erlebnis. Er ist in seinen späten Jahren als Lyriker verstummt und hat alle Zeit auf die Übersetzung von Büchern fernöstlicher Traditionen, vor allem Büchern von Chang, aufgewendet. Ich sah ihn das letzte Mal auf einem amerikanischen Flugplatz, als er die Maschine bestieg, um nach Hause nach Wien zu fliegen. Das letzte Bild, das mir die Erinnerung bewahrt hat, ist sein Gesicht mit den guten Augen und dem unendlich gütigen Lächeln. Dazu paßt kaum etwas besser als seine eigenen Verse: Eines bleibt. Ein Bild der Erinnerung, darin heimlich Leben war. Niemand kennt es, dir aber wärmt es das Herz. <?page no="123"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie Die Parapsychologie ist die Wissenschaft, die sich mit okkulten Erscheinungen verschiedenster Art auseinander setzt. Immer schon haben sich nicht zuletzt Dichter mit diesen Phänomenen beschäftigt, die seit altersher so verschiedene Gebiete wie okkulten Mediumismus, Magie und Mystik umfaßten, welche einerseits voneinander durchaus verschiedene Erscheinungen sind, aber trotzdem in der Dichtung oft zusammen auftreten. Wenn etwa in Meyrinks berühmten Roman Der Golem der Held, Athanasius Pernath, wiederholt den Geist des Golem erblickt, dann ist dies okkulter Mediumismus. Die zugespitzte Feile, die von vornherein dazu bestimmt erscheint, im selben Roman das Herz Wassertrums zu durchbohren, gehört zum Bereich der Magie. Das im Golem-Roman erwähnte »Buch der Seelenschwängerung« und der auf ägyptische Symbole anspielende Schluß aber schließlich berühren das Gebiet der Mystik. Ja, die Parapsychologie umfaßt noch mehr Phänomene als jene drei. Was sämtliche parapsychologischen Phänomene verbindet, ist der Umstand, daß sie über den Bereich der Oberflächlichkeit des platten Verstandes hinaus weisen. Diese Eigenschaft bringt es mit sich, daß das ganze Gebiet zu Schwindel und Scharlatanerie geradezu einlädt, da schwärmerische Wirrköpfe und leichtgläubige Naive nur allzu gerne bereit sind, darauf hinein zu fallen. Diese Eigenschaft bringt es aber auch mit sich, daß andererseits hartnäckige Skeptiker, nicht selten geradezu aus einem provinziellen Unverstand heraus, alles rundweg ablehnen, was damit zusammenhängt. Arthur Koestler, einer der meist bewunderten und meist gehaßten, auf jeden Fall aber einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, gehört seit seiner Ernüchterung von einer politischen Illusion zu den kritischen Geistern, der nichts so hoch hält wie Fakten, Logik und das Streben nach unverfälschter, echter Wahrheit. Deshalb bezichtigt ihn die eine Hälfte seiner Freunde eines Übermaßes an wissenschaftlicher Pedanterie, die andere Hälfte aber einer durch und durch »unwissenschaftlichen« Vorliebe, ja Marotte für solch widersinnige Phänomene wie etwa »Außersinnliche Wahrnehmung« (ASW. Englisch: ESP für extrasensory perception), die sie in den Bereich des Übernatürlichen einordnen. Jenen Freunden, die überall nur Aberglauben und falsche Sensationen sehen, wirft Koestler vor, daß sie mit dem neuesten Stand der Wissenschaften ebenso wenig vertraut sind wie mit jenem der Parapsychologie. »In den letzten Jahrzehnten« schrieb er, »hat sich das Klima in beiden Lagern wesentlich <?page no="124"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 112 geändert. Die parapsychologische Forschung ist strenger, statistischer geworden und weitgehend computerisiert, die theoretische Physik dagegen ›okkulter‹, indem sie übermütig beinahe jedes vormals geheiligte ›Naturgesetz‹ brach. Somit könnte die Anschuldigung in gewissem Maße umgedreht werden: die Parapsychologie hat sich dem Vorwurf wissenschaftlicher Pedanterie ausgesetzt, die Quantenphysik dem Vorwurf der Beschäftigung mit solchen ›übernatürlichen‹ Vorstellungen wie negative Masse und rückwärts laufende Zeit.« 1 Wer Koestler nur als den Verfasser des wahrscheinlich berühmtesten und jedenfalls in 33 Übersetzungen verbreiteten politischen Romans des 20. Jahrhunderts, Sonnenfinsternis, kennt, könnte vielleicht den Verdacht schöpfen, er wisse nicht, wovon er rede. Aber derselbe Koestler hat in seiner späteren Entwicklung unter anderem in seinen beiden Büchern Der göttliche Funke und Das Gespenst in der Maschine gezeigt, daß er einen ganz unglaublichen Überblick über die letzten Ergebnisse der Naturwissenschaften wie auch der Psychologie und Anthropologie besitzt. Er selbst ist es auch gewesen, der darauf hingewiesen hat, daß er nicht der einzige ist, der parapsychologische Forschungen ernst nimmt. So hat er daran erinnert, daß das amerikanische Atom-U-Boot Nautilus, schon in den frühen Siebzigerjahren unter das Eis des Polarkreises getaucht war, in telepathischer Verbindung mit seinem Heimathafen stand, und daß eine der wichtigsten Personen, welche diese Entwicklung verfolgte, der sowjetische Professor Leonid L. Vassilev war, Vorstand der psychologischen Abteilung der Universität Leningrad, Träger des Lenin-Ordens, der selbst fünfundzwanzig Jahre hindurch telepathische Versuche im Stillen durchgeführt hatte. 2 Heute gibt es kaum noch ein Entwicklungsland auf der Erde, das sich nicht wenigstens mit einem Universitätsinstitut an der parapsychologischen Forschung beteiligt und seit den Achtzigerjahren wird auch im Rahmen der amerikanischen Raumfahrtorganisation NASA an der Untersuchung telepathischer Phänomene gearbeitet. Für Koestler kamen die ersten Anstöße für sein Interesse an Telepathie durch eigene Erlebnisse und eines davon sei hier kurz beschrieben. Als er im spanischen Bürgerkrieg über drei Monate in einer Todeszelle Francos saß, war ihm eine Stelle aus Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks angesichts des nahen Todes in Augenblicken besonderer Depression zu einem geistigen Trost geworden. Es ist die Stelle, an welcher der noch keineswegs alte Senator Thomas Buddenbrook angesichts seines nahen Todes überraschend nach einem bisher ungelesenen Buch seiner Bibliothek greift, in dem er den Hinweis darauf fand, daß der Tod nichts Endgültiges ist, sondern ein Übergang zu einer anderen, 1 Arthur Koestler: Die Wurzeln des Zufalls. Frankfurt 1974, S. 7 2 Arthur Koestler: The Heel of Achilles. London 1974, S. 104 <?page no="125"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 113 unpersönlichen Existenzform. Der Senator fühlt sein ganzes Wesen auf ungeheuerliche Art geweitet »… und nichts hinderte ihn mehr, die stete Ewigkeit zu begreifen.« Der Senator verdankte diese tröstliche Einsicht Schopenhauers Aufsatz »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsres Wesens an sich«. Am Tag nach seiner Freilassung schrieb Koestler an Thomas Mann und dankte ihm für den auf dem Umweg über Thomas Buddenbrook durch Schopenhauer vermittelten Trost. Thomas Mann schrieb zurück an Koestler, daß er die Schrift Schopenhauers nur einmal, eben zur Zeit der Abfassung der Buddenbrooks, also Ende der Neunzigerjahre, gelesen hätte und seither nie wieder. Am »gestrigen Tag« aber, das ist der Tag an dem Koestlers Brief eintraf, hätte er einen plötzlichen Impuls verspürt, nach vierzig Jahren den Aufsatz wieder zu lesen. In dem Augenblick, in dem er den Band aus der Bibliothek holte, läutete der Postbote und brachte Koestlers Brief mit seinem Dank für den Trost durch Schopenhauer. Man fühlt sich fast an den »Zufall« in Meyrinks Leben erinnert, als er sich das Leben nehmen wollte und in demselben Augenblick ein Buchhandlungsgehilfe oder Hausierer eine Broschüre über Geheimwissenschaften unter die Tür in sein Zimmer schob, wodurch die Absicht verhindert wurde. Gewiß war es von diesem Erlebnis bis zu Meyrinks Buch An der Grenze des Jenseits ein wohl ebenso langer Weg wie jener von Koestlers Schopenhauer-Erlebnis über Politik und Naturwissenschaften bis zu dessen Buch Die Wurzeln des Zufalls. 3 Wie aber Meyrink in seinem Buch wie in seiner Dichtung sowohl Phänomene des Okkulten als auch der Magie und Mystik behandelt, so erwähnt auch Koestler in seinem Buch neben den ›okkulten‹ Erscheinungen der Telepathie und des ›Zufalls‹, ja einer ganzen Reihe der sogenannten Psi-Phänomene, zumindest kurz und kursorisch auch Magie und Mystik. Als magieartig beschreibt er die ›integrierten‹ Kräfte der Natur am Beispiel des Plattwurms (Plathelminthes): Man kann diesen Wurm in etliche Teile zerschneiden und jeder Teil regeneriert sich zu einem neuen, vollständigen Individuum. Über die Mystik aber schreibt er, daß es nach Jean Piaget der »protoplasmische« oder »symbiotische« Zustand des Kleinkindes ist, der nach der rationalen Entwicklung verloren gegangen, von Mystikern und Künstlern auf einer höheren Entwicklungsebene, »einer höheren Windung der Spirale wieder zu gewinnen versucht wird.« 4 Als Koestler dies schrieb hatte der berühmte britische Astronom Sir Arthur Eddington bereits sein Gleichnis von den zwei Schreibtischen bekannt ge- 3 Gustav Meyrink: An der Grenze des Jenseits. Leipzig 1923. Arthur Koestler: Die Wurzeln des Zufalls, op. cit. 4 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 119 und 123 <?page no="126"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 114 macht. Der erste Schreibtisch ist so, wie die Sinne und der Verstand ihn sehen und be-»greifen«, das alte Möbelstück, auf dem beim Schreiben seine Ellbogen aufliegen und der zweite Schreibtisch, der natürlich derselbe ist, nur von der Perspektive der modernen Physik aus gesehen. Dieser »zweite« besteht fast ganz aus leerem Raum; aus schierem Nichts, das von unvorstellbar kleinen Teilchen durchsetzt ist, von Elektronen, die um ihre Kerne wirbeln, von ihnen jedoch durch Entfernungen getrennt sind, die hunderttausendmal größer als ihr eigenes Volumen sind. Und dazwischen nichts. »In der Welt der Physik« schrieb Eddington, »betrachten wir das Drama des Lebens als ein Schattenspiel. Das Schattenspiel meines Ellbogens ruht auf einem schattenhaften Tisch, und meine Schattentinte fließt über schattenhaftes Papier.« 5 Aber noch während er dies schrieb, ging eine noch radikalere Veränderung unserer wissenschaftlichen Einsicht vor sich: Die winzigen Teilchen waren einerseits wirklich Teilchen, andererseits jedoch und gleichzeitig waren sie Wellen und Energie! Eine Erkenntnis, wonach die Atome nicht einfach »Dinge« sind und daß auf ihrer Ebene die »objektive« Welt zu existieren aufhört, hat viele Physiker bewogen, der Parapsychologie sehr viel offener ja oftmals interessiert gegenüber zu treten. Als Koestler sein Buch Die Wurzeln des Zufalls schrieb, konnten im Unterschied zur Zeit Meyrinks überdies manche Phänomene der Parapsychologie wie Telepathie und Kurzzeit-Präkognition bereits als wissenschaftlich etabliert gelten. Diese feststehenden Ergebnisse regten Koestler aber nur an, zu fordern, daß man nicht bei Telepathie und Kurzzeit-Präkognition halt machen dürfe, ja daß es reine Willkür wäre, wollte man Hellsehen - das ist außersinnliche Wahrnehmung nicht psychischer Zustände einer Person wie Telepathie, sondern objektiver Ereignisse -, ja wollte man Psychokinese oder synchronistische Koinzidenzen ausklammern. 6 Aus diesem Grund lehnt er auch den Watson-Skinnerschen Behaviorismus als zu reduzierend und beschränkt ab und er ist anglisiert genug, um ein Zitat, das Sir Cyril Burt aus Alice in Wonderland gebraucht hatte, von diesem zu übernehmen, um seine Ablehnung recht drastisch zu gestalten. Im Zusammenhang mit der Auffassung vom Gehirn des Menschen als bloßen Computer und von der Natur des Menschen als Automat läßt er die Figur des Dideldum aus Alice sagen: »Wenn du glaubst«, sagt Dideldum zu Alice, »wir seien Wachsfiguren, mußt du Eintrittsgeld zahlen.« Das Eintrittsgeld, daß die Psychologie des 5 Zitat aus zweiter Hand aus Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 52 f. 6 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 125 <?page no="127"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 115 Behaviorismus dafür bezahlt, sich an mechanistische Lehren zu klammern, ist nach Koestler ein »hoher Preis.« 7 Koestler erinnert auch daran, wie C. G. Jung zunächst in einem Vortrag, den er 1919 vor der britischen »Society for Psychical Research« gehalten hat, trotz mancher persönlicher Erfahrungen mit parapsychologischen Phänomenen jegliche Hypothese einer Existenz von Geistern noch abgelehnt hatte. Er sah damals keinen Beweis für wirkliche Geister, sondern ordnete die diesbezüglichen Erscheinungen unbewußten Projektionen oder Exteriorisationen der Psychologie zu. Koestler zeigt aber, wie Jung später diese apodiktische Ablehnung von Geistern zurück genommen hat. 8 Wie Koestler auch auf den Versuch des Physiologen Sir John Eccles und des Mathematikers Adrian Dobbs hingewiesen hat, ein Bindeglied zwischen der Psi- Funktion der Quantenmechanik und den Psi-Phänomenen der Parapsychologie zu schaffen. Auch über die Heilung eines sechzehnjährigen Jungen vom erblichen Leiden der Fischschuppenkrankheit (Ichthyosis) durch Hypnose berichtet er, wozu A. Mason im British Medical Journal kommentierte, daß dieser einzige Fall ausreiche, um die »gegenwärtigen Vorstellungen von der Beziehung zwischen Leib und Seele zu revidieren.« 9 Besonders ausführlich beschäftigt sich Koestler mit der Entstehung des Jung-Paulischen Prinzips der Synchronizität als einem Prinzip akausaler Zusammenhänge. Es hat für seine Wurzeln des Zufalls wichtige Vorarbeit geleistet. Daß C. G. Jung seine Formulierung dieses Prinzips nach Zusammenarbeit mit Wolfgang Pauli gemeinsam in einem Band mit Paulis Aufsatz »Der Einfluß der archetypischen Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien« veröffentlicht hat, scheint ihm von tief sinnbildlicher Bedeutung zu sein. Einer der größten Physiker und einer der größten Psychologen des zwanzigsten Jahrhunderts versuchten in gemeinsamer Arbeit der Hypothese eines akausalen Faktors und seiner Wirkung im Kosmos Geltung zu verschaffen Koestler steht in diesem Fall dabei eher den Formulierungen Jungs als denen Paulis kritisch gegenüber, weil er hier als eine Fehlerquelle entdeckt, was Sidney Hook als ein Grundproblem der Grenzen westlicher Denkgewohnheiten beschrieben hat: »Als Aristoteles seine Kategorientafeln aufstellte, die für ihn die Grammatik der Existenz darstellten, projizierte er in Wirklichkeit die Grammatik der griechischen Sprache auf den Kosmos.« 10 Seit zweitausend Jahren 7 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 79 8 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 100, vgl. auch L. L. Le Shan in: Journal of Transpersonal Psychology, Autumn 1969, S. 82 9 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 130 10 Sidney Hook: Conscienece and Consciousness in Japan. In: Commentary, Januar 1959 <?page no="128"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 116 verfängt sich demnach der westliche Mensch »in derselben Schlinge«, welche die logischen Kategorien der griechischen Philosophien unserer Denkweise das Gepräge gaben: »Die parapsychologische Literatur ist reich an verführerischen Theorien, die aus demselben Grund von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren.« 11 Nach dem weltberühmt gewordenen Synchronizitätsprinzip von Jung-Pauli zitiert Koestler noch eine ganze Reihe weiterer Begründer von Hypothesen zur Erklärung paranormaler Phänomene: den Biologen Sir Alister Hardy, die Philosophen Charlie D. Broad und Henry H. Price, den Mathematiker G. Spencer Brown 12 und in seinem letzten Buch sogar auch noch einen Ballistiker, E. Harris Walker, der die hypothetischen »verborgenen Variablen« als »nichtkörperliche, aber reale Wesenheiten« mit dem Bewußtsein identifiziert. Sie sind unabhängig von Zeit und Raum und durch »quantenmechanische Wellenfunktion mit der körperlichen Welt verbunden.« 13 Koestlers vorsichtige Auflistung zahlreicher Ergebnisse und Hypothesen der modernen Physik wie auch der Psychologie und Parapsychologie enthüllen keineswegs alle »Wurzeln des Zufalls« vollständig und mit zwingender Logik, doch weist er für den dafür offenen Leser völlig überzeugend darauf hin, daß es nur eine Frage der Zeit ist, daß die gegenwärtigen Unwägbarkeiten auf diesem Gebiet genau so exakt vorausgesagt werden können wie die Planetenbahnen. Vor allem aber gelingt es ihm in vorurteilsfreien Lesern eine neue Empfänglichkeit für parapsychologische Erscheinungen und Gegebenheiten zu erwecken, an deren bisheriger Vernachlässigung eine einseitige und beschränkte materialistische Orientierung die Schuld trägt. Wenn man erst einmal weiß, was er in gedrängter und verdichteter Form mitteilt, dann »spüren wir vielleicht, wie sehr es durch die Ritzen des kausalen Denkgebäudes zieht, können den koordinierten Ereignissen mehr Aufmerksamkeit schenken, die parapsychologischen Phänomene in unsere Vorstellung vom Normalen einbauen und erkennen, daß wir bisher im ›Land der Blinden‹ gelebt haben.« 14 Die Wendung vom »Land der Blinden« stammt übrigens von einem anderen Schriftsteller, nämlich von H. G. Wells. Wie Koestler überhaupt der Dichtung im Gesamtzusammenhang mit der Parapsychologie eine nicht unwichtige Funktion zuweist. Nicht nur, weil es Fälle wie jenen gibt, in dem der amerikanische Autor John Updike der physikalischen Entdeckung des geradezu »gespen- 11 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 102 f. 12 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 104 f. 13 Arthur Koestler: Der Mensch - Irrläufer der Evolution. Bern und München 1978, S. 293 14 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 144 <?page no="129"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 117 stisch« winzigen Mikroteilchens des Neutrinos ein eigenes Gedicht gewidmet hat. Auch für Hermann Broch war ja Dichtung, unter anderem, Ungeduld der Erkenntnis gewesen. Die großen Tiefenpsychologen, die Koestler keineswegs mit vielen ihrer beschränkt reduktionierenden Schülern und Nachäffern gleichsetzt, auch Alfred Adler, Sigmund Freud und C. G. Jung haben übereinstimmend darauf hingewiesen, wie sich vieles ihrer bahnbrechenden Ideen schon lange zuvor in der Dichtung der Weltliteratur gefunden hätte. Koestler zitiert lediglich als ein Beispiel für seinen Fall einmal Tolstoi als einen Wissenden um Telepathie und er findet es vor allem auch von weitreichend symbolischer Bedeutung, daß Einstein ein Vorwort zu Upton Sinclairs Roman Mental Radio geschrieben hat. Nicht zuletzt weist Koestler darauf hin, daß sich Zukunftsromane als erstaunlich zuverlässige Prophetien erwiesen haben. 15 Was keineswegs die Gültigkeit eines Ausspruchs des Oxforder Philosophieprofessors Henry H. Price verkleinert, geschweige denn aufhebt, den Koestler an den Schluß seines Buches über die »Wurzeln des Zufalls« gestellt hat, und der besagt, »daß die Parapsychologie das bedeutendste Forschungsgebiet ist, das der menschliche Geist je in Angriff genommen hat.« 16 Alsbald nach dem Erscheinen des Buches Die Wurzeln des Zufalls wurde Koestler von Leserbriefen förmlich überschwemmt, in denen das eigenartige Zusammentreffen von Vorfällen, Begegnungen und Hinweisen besprochen wurde. Dabei stammten die interessantesten Zuschriften von Menschen, die zunächst erklärten, es sei reiner Unsinn, Zufällen irgendeine Bedeutung bei zu messen, die aber nach dieser Präambel einfach nicht widerstehen konnten, ihre eigene »unglaubliche Geschichte« von »zufälligen« Zusammentreffen zu berichten. Koestler hat diese Zuschriften, aus denen sich einige spezifische Muster ergaben, in seinem folgenden Buch abgedruckt, das er gemeinsam mit Sir Alister Hardie und Robert Harvie verfaßt hat. Dieses Buch, The Challenge of Change 17 , war so entstanden, daß zunächst der Linacre Professor der Zoologie in Oxford Sir Alister Hardy, der auch von 1965 bis 69 Präsident der »British Society for Psychical Research« gewesen ist, im Unterschied zu den bisherigen spezifischeren Experimenten über Telepathie, die im Unterschied zu den bisherigen Massenexperimenten über Versuche mit Karten und Würfeln immer je mit nur einer Person, höchstens mit zwei oder drei Personen durch geführt worden waren, ein Massenexperiment über Telepathie in der Caxton Hall in Westminster veranstaltete. Um mit wissenschaftlicher Präzision zu gesicherten Ergebnissen zu gelangen, gewann Hardy 15 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 36, 49 und 145 16 Die Wurzeln des Zufalls, op. cit., S. 144 17 Alister Hardy, Robert Harvie, Arthur Koestler: The Challange of Change, London 1973 <?page no="130"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 118 den Psychologen Robert Harvie, der zugleich auch ein Experte auf dem Gebiet der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung war, dazu, eine Serie damit zusammenhängender »Kontrollexperimente« zu machen. Das Hauptergebnis bestand in der Aufdeckung erstaunlich detaillierter telepathischer Resultate, die allerdings auf eine äußerst geringe Zahl der Teilnehmer beschränkt war. Das Überraschendste war ein »Neben-Ergebnis«, auf das man gar nicht gerechnet hatte und das darin bestand, daß es auch außerhalb des eigentlichen Experiments selbst überraschend weitreichende Fälle von Koinzidenz zwischen einer Reihe von Versuchspersonen gab, welche die normal zu erwartenden Grenzen des Zufalls weit überstiegen. Da nun gerade Koestlers Buch über die Wurzeln des Zufalls erschienen war, traten die beiden Gelehrten Hardy und Harvie an ihn heran, um ihn zu einer Mitarbeit an einer gemeinsamen Veröffentlichung zu gewinnen: Ein Fellow der naturwissenschaftlichen »Royal Society«, Hardy, und ein Fellow der »Royal Society of Literature«, Koestler, lieferten gemeinsam mit einem Psychologen und Statistiker, Harvie, der gleichsam die verbindende Brücke bildete, indem er die übergreifenden Verbindungsmethoden lieferte, ein Buch, das die ernsthafte parapsychologischer Forschung einen Schritt weiter brachte. Der erste Teil des Buches besteht in einer Darstellung der Experimente Hardys durch diesen selbst, der zweite Teil eine Beschreibung der »Kontroll- Experimente« Harvies und der dritte Teil in einer Auflistung der Ergebnisse der Analyse der wichtigsten Leserzuschriften auf Koestlers Buch durch diesen. Er gab diesem dritten Teil den vorsichtigen Titel »Anekdotische Fälle«. Schließlich gibt es noch einen vierten, zusammenfassenden Teil, den ebenfalls Koestler geliefert hat, und der letzte Schlußfolgerungen zieht. Koestler geht dabei hier in seiner (Über-)Vorsicht so weit, auch die Experimente Hardys und Harvies als allerdings besonders erhärtete und wohl dokumentierte Fälle anekdotischer Evidenz« anzuführen. Diese Vorsicht ist vor allem aus dem einen Grund wohl angebracht, weil die Unterscheidung zwischen signifikantem Zusammentreffen von Erscheinungen einerseits, hinter denen eine akausale, geheimnisvolle Macht steht und zwischen trivialem Zusammentreffen, welches dem blinden Zufall unterliegt, oft schwer zu ziehen ist. Auch hier verweist Koestler wie so oft und so gerne auf Parallelen in der modernen Molekularphysik und zwar auf das sogenannte Ausschließungsprinzip des Nobelpreisträgers Wolfgang Pauli. Dieses besagt in simplifizierter Form, daß die »Planetenbahnen« innerhalb eines Atoms jeweils nur von einem Elektron besetzt werden können. Die Folgerungen daraus führen zu einem Prinzip, das die Erscheinungen der Natur als von formalen mathematischen Gleichungen geprägt erweist. Da dieses mathematische Prinzip aber keinerlei mechanische Kraft entfaltet, wirkt es zwar wie eine Kraft, ist aber dabei keine Kraft. Es stellt im Grunde eine mathematische Symmetrie dar, welche die prinzipiellen Gleichungen der Natur beherrscht. <?page no="131"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 119 Koestler sinnt darüber nach, wie Galilei wohl auf solches reagierte, würde er heute auferstehen und er ist sicher, daß Galilei Pauli (und auch Heisenberg) beschuldigen würde, »okkulten Phantasien« zu frönen. Nach Koestler kann aber Telepathie kaum noch unvorstellbar sein in einem von der Physik entworfenen Universum, in welchem auch weit voneinander entfernte Regionen durch sogenannte Wurmlöcher des Superkosmos in Kontakt gebracht werden können. Gewiß, er ist sich bewußt, daß reine Analogie in die Irre führen kann. Aber er findet es zumindest ermutigend zu wissen, daß, wenn die Parapsychologie sich an den Grenzen der Wissenschaft bewegt, die Physik gleichsam auf einem Drahtseil balanciert. The Challenge of Chance führt jedenfalls über Die Wurzeln des Zufalls hinaus und Koestler zeigt im vierten Teil des Buches, daß die deterministische und mechanistische Auffassung von der Welt einfach nicht mehr haltbar ist, ja daß der Materialismus nicht mehr als Wissenschaft gelten kann. Mögen die Ergebnisse dieses Buches aber auch nur einen kleinen Zipfel des Vorhangs vor dem Mysterium der Kausalität und Akausalität lüften, so zielen sie doch geradewegs in die Richtung, nach welcher hin die parapsychologische Grenzerweiterung unseres Wissens sich zu vollziehen hat. Noch einen Schritt weiter auch darüber hinaus geht Koestler sodann in dem folgenden Buch Life after Death 18 (Leben nach dem Tod). In den Wurzeln des Zufalls hatte er nicht nur erklärt, daß das gesamte Gebiet des Mediumismus lediglich durch die extreme Schwierigkeit in Verruf geraten war, eine deutliche Trennlinie zwischen vorsätzlichem Schwindel, unbewußter Selbsttäuschung und sporadischem Betrug an »schlechten Tagen« zu ziehen. Er hatte auch, wenngleich nur in einer Fußnote, im Positiven auf den Fall von Mrs. Winifried Coombe-Tennant hingewiesen, der ersten Frau, die von der britischen Regierung zur Delegierten für die Vollversammlung der UNO ernannt worden war. Sie hatte als Medium unter dem Pseudonym Mrs. Wilett automatische Schriften produziert. Auch Bücher der Countess of Balfour, von Rosalind Heywood und Geraldine Cummings hatte er empfohlen. In Life after Death hat er nun, wieder einmal ausgehend von Einsichten der modernen Physik, eine Hypothese der möglichen Grundlage für die Existenz von Geistern aufgestellt. Die Feldtheorie der Physik verweist darauf, daß Photone von Licht gleichzeitig die Eigenschaft von materiellen Partikeln und immateriellen Wellen besitzen. Er argumentiert, daß darum das Fassungsvermögen von Seelen, die ein Gefühl für Wahrnehmung wie menschliche Wesen besitzen, immateriell ist und wahrscheinlich eine Beziehung zum Gehirn besitzt. Man könnte solche Erscheinungen demnach wohl mit Wellen oder einem Feld in der Physik 18 Arnold Toynbee, Arthur Koestler and others: Life after Death. London 1976 <?page no="132"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 120 vergleichen, die immateriell sind und dennoch eine Beziehung zu subatomen Partikeln besitzen. Er nimmt an, daß eine solche Welle oder solch ein magnetisches Feld als eine Art Geist unabhängig vom menschlichen Körper zu existieren vermag, obwohl er nicht weiß, auf welche Weise sie mit dem Körper in Beziehung steht. Ein solcher »Geist« kann nach dem Tod des Körpers weiter existieren. Er funktioniert wie ein Rundfunksender und kann nach dem Tod des Körpers sich überall hin bewegen. Die Person, die einen Geist sieht, hat in diesem Augenblick dieselbe Frequenz wie der Geist. Psychologen und Neurologen, die zur Zeit der Niederschrift des Buches die Existenz von Geistern annahmen, gingen von der Hypothese des Bewußtseins einer Seele aus. Sie nehmen an, daß dieses Bewußtsein eine tiefere Existenz besitzt als das Gehirn, da es zu diesem nicht durch körperliche Eigenschaften in Beziehung steht. Im Fall einer körperlichen Beziehung verschwände diese tiefere Existenz, wenn das Hirn stirbt, doch ist sie eben nicht an das Gehirn, sondern nur an Bedingungen von Zeit und Raum gebunden, die nach dem körperlichen Tod weiter existieren. Der erste Teil des Buches Life after Death besteht aus einer Art langer und ausführlicher Einleitung des berühmten Universalhistorikers Arnold Toynbee zum Thema. Der zweite Teil besteht aus Aufsätzen von neun Beiträgern, welche »die des Nachher« in Gegenwart und Vergangenheit von Perspektiven verschiedener religiöser und ethnischer Standpunkte her behandeln. Der dritte Teil versucht die »Idee des Nachher« von einer zukunftsweisenden Perspektive her zu erörtern. Koestler hat den letzten der vier Beiträge dieses dritten Teils verfaßt. Er hat damit das letzte Wort und umreißt die Grenzen und Möglichkeiten eines Ausblicks auf das Nachher. Gegen Ende seines Beitrags beschwört er das Gleichnis eines Flusses, der in den Ozean mündet, für den Mystiker Andeutung der Ewigkeit. Im Ozean verliert der Fluß allen Schmutz und alle Spuren von Geröll, Erde und Sand, doch wird er darum keineswegs vollständig vernichtet. Er wurde identisch mit dem Meer, ausgebreitet über dieses, allgegenwärtig, jeder Tropfen einen Funken der Sonne empfangend. Der Vorhang ist nicht gefallen; er hat sich gehoben. Ins Konkrete übersetzt: so subjektiv und vage jegliche Vorausschau dieser Art derzeit auch sein muß, ist es doch ziemlich sicher, daß es keine persönliche Unsterblichkeit gibt, die Warzen, die man hatte, mit einbezogen. Andererseits ist die Annahme eines kosmischen Psi-Feldes keineswegs mehr phantastisch, da der Physiker Superspace angefüllt ist mit Quantum-Schaum. Man könnte vermuten, daß der kosmische Geist-Stoff sich entfaltet wie das materielle Universum und daß es eine Art Form von historischer Aufzeichnung der schöpferischen Errungenschaft des geistigen Lebens nicht nur unseres Planeten, sondern auch anderer enthält. Unsere Astrophysiker sind überzeugt, daß es <?page no="133"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 121 nicht weniger als hundert bis tausend Millionen potentieller Leben erhaltender Planeten in unserer Milchstraße allein gibt. Manche von ihnen sind dabei so viel älter als die Erde, daß die evolutionäre Entwicklung ihrer Bewohner einen Punkt erreicht hat, verglichen mit dem die Menschen wie Amöben wirken. Der Horizont der Science Fiction ist viel zu eng und begrenzt, um auch nur eine leise Ahnung solcher Formen der Existenz zu besitzen. Und darum zitiert Koestler am Schluß J. B. S. Haldane, der geschrieben hat: »Die Wirklichkeit ist nicht nur phantastischer als wir denken, sondern phantastischer als alles, was wir uns vorstellen können.« Und zu allerletzt meint er: Vielleicht, wenn wir nicht länger in den die Aussicht verstellenden Schleier der Maya verstrickt sind, werden wir einen flüchtigen Blick davon erhaschen können. In seinem letzten Buch, das eine Art Zusammenfassung all seiner naturwissenschaftlichen, psychologischen und anthropologischen Arbeiten und Einsichten liefert, kurz, das neue Welt- und Menschenbild, das er gestaltet hat, und das unter dem Titel Der Mensch - Irrläufer der Evolution (englisch: Janus. A Summing Up) 19 erschien, sind die beiden letzten Kapitel in einem besonders hohen Grad Problemen der Parapsychologie gewidmet. Das Neue an diesen beiden Kapiteln ist vor allem, daß sie sich nicht mehr bemühen, neue Beweise für parapsychologische Erscheinungen aufzulisten, wie dies in den Büchern Die Wurzeln des Zufalls, The Challenge of Change und The Heel of Achilles geschehen ist, sondern daß sie Erscheinungen wie Telepathie und verwandte Phänomene einfach als Faktum nehmen und nunmehr ihre »Bedeutung für unser Weltbild« untersuchen. 20 Auf diese Weise entsteht ein neues Modell der Stellung des Menschen, seiner Herkunft, Gegebenheiten und Möglichkeiten in einem größeren mikrokosmischen wie makrokosmischen Zusammenhang. Es leistet nicht weniger, als den Weg aufzuzeigen, der aus dem alten, materialistischen, von blindem Zufall gesteuertem Chaos heraus zu einer neuen Ordnung führt. Neu ist dabei vor allem die Einarbeitung der Ergebnisse der Wissenschaften als Beweismaterial, während die grundlegende Idee einer solchen großen Ordnung durchaus sehr alt ist, worauf Koestler selbst nachdrücklich hinweist. Eine solche Vorstellung der Einheit in der Vielheit findet sich bereits in der pythagoräischen Auffassung von der »Harmonie der Sphären«, zieht sich durch etliche der bedeutendsten religiösen und philosophischen Menschheitslehren und findet sich beim italienischen Renaissancehumanisten Pico della Mirandola in einer Weise vorformuliert, wie sie Einsichten der modernen Physik bestätigt hat. Beide Formulierungen, zwischen denen vier Jahrhunderte liegen, »wurzeln« 19 Arthur Koestler: Der Mensch - Irrläufer der Evolution. Bern und München 1978. Arthur Koestler: Janus. A Summing up. London 1978 20 Der Mensch - Irrläufer der Evolution, op. cit., S. 283 <?page no="134"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 122 nach Koestler »in einer holistischen Betrachtung des Universums, die über die physikalische Kausalität hinausgeht.« 21 Das führt ihn wieder zur Parapsychologie, zu ASW und Synchronizität. »In unserer Theorie«, - Koestler bezieht sich hier auf das Buch The Challenge of Chance - ist das Prinzip »Ordnung aus der Unordnung« der integrativen Tendenz zu einem unteilbaren Ganzen zugeordnet. Er listet eine ganze Reihe von Theorien aus der Physik und Biologie auf, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie die morphische oder syntropische Tendenz besitzen, das universale Streben Ordnung aus der Unordnung, Kosmos aus dem Chaos zu schaffen. Diese Tendenz besteht in einem letzten, nicht weiter zerlegbaren Prinzip jenseits der physikalischen Kausalität. Diejenigen Forscher aber, die sich dabei nicht ausdrücklich auf akausale Faktoren berufen, implizieren diese dadurch, daß sie jene Tendenz als »irreduzibel« annehmen. »Unsere Theorie«, fährt er fort, geht aber noch weiter, da sie ausdrücklich statuiert, daß jene integrative Tendenz »auf kausale und akausale Weise wirkt, wobei beide Wirkungsarten in einem komplementären Verhältnis analog zu den Teilchen und Wellen in der Physik stehen.« 22 Sie umfaßt nicht zuletzt auch die Phänomene der Parapsychologie und die ›konvergierenden Ereignisse‹, denen die beiden letzten Kapitel vor allem gewidmet sind. Dabei spielt es keine Rolle, wenn ASW und Synchronizität sich oft so überschneiden, daß ein angeblich paranormales Geschehen sowohl als Ergebnis von ASW wie auch als ein Fall von Synchronizität gedeutet werden kann. Bereits die klassische Physik hat dargetan, daß es verschiedene Energiearten gibt, wie kinetische, potentielle, thermische, elektrische, atomare Energie und Strahlenenergie und daß diese verschiedenen Energieformen durch bestimmte Prozesse jeweils in andere transformiert werden können. Man könne solcherart Transformationen mit der Konvertierbarkeit von Geldwährungen vergleichen. Nach Koestlers Theorie sind aber auch Telepathie, Hellsehen, Präkognition, Psychokinese und Synchronizität lediglich »verschiedene Äußerungsformen eines unter verschiedenen Bedingungen tätigen universalen Prinzips.« 23 Es ist das der integrativen Tendenz zugrunde liegende Prinzip, durch welches sie sowohl mit kausalen wie mit akausalen Mitteln arbeitet. Auf welche Weise dieser Vorgang sich vollzieht, bleibt ein Geheimnis, doch können die Indizien der paranormalen Erscheinungen damit zumindest in einen vereinigten Gesamtentwurf eingepaßt werden. Dabei sind es keineswegs nur die paranormalen Phänomene der letzten beiden Kapitel von Koestlers letztem Buch, son- 21 Der Mensch - Irrläufer der Evolution, op. cit., S. 367 22 Der Mensch - Irrläufer der Evolution, op. cit., S. 312 23 Der Mensch - Irrläufer der Evolution, op. cit., S. 313 <?page no="135"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 123 dern sind es die Holarchien des Menschen im Mikrokosmos wie Makrokosmos, die sich hier zu einer umfassenden »Summa Philosophiae Koestleri« zusammenschließen. Arthur Koestler wäre aber nicht der leidenschaftliche und furchtlose Wahrheitssucher und Ketzer, der die Verleumder und Attacken aus Dummheit wie aus Böswilligkeit anzieht wie das Licht die Motten, wäre es mit der schriftlichen Niederlegung seiner Einsichten und Überzeugungen in Probleme der Parapsychologie in Buchform getan. Es paßt zu ihm, daß es auch über seinen Tod hinaus ein weiteres Kapitel gibt, daß für die Parapsychologie und seine Einstellung zu ihr von Bedeutung ist. Koestler hat nämlich in seinem Testament eine halbe Million Pfund der University of Edinburgh vermacht, mit der Auflage, einen besonderen Lehrstuhl zu errichten, der seine eigenen Untersuchungen und Theorien weiterführen sollte, um die sogenannten parapsychologischen Erscheinungen durch ihre Analogie und Verbindungen mit subatomaren Einsichten auf dem Gebiet der Physik auf zu zeigen und zu erklären, Hauptthesen also, die er bereits in den Wurzeln des Zufalls aufgestellt hatte. Ebenfalls bereits in den Wurzeln des Zufalls hatte er eine Lanze für die britische »Society of Psychical Research« gebrochen. Von 1886-1897 war deren Präsident der berühmte Physiker und Chemiker Sir William Crookes, F. R. S., gewesen, Entdecker des chemischen Elements Thallium, Konstrukteur des Radiometers und anderes mehr. Crookes hatte bereits 1874 die Ergebnisse seiner Experimente mit einem materialisierten Medium veröffentlicht und war 1882 einer der Gründer der »Society for Psychical Research« gewesen. So wie Naturwissenschafter keine Mikroben ohne Mikroskop sehen können und so, wie wir Fernsehsignale nicht ohne das Medium eines Fernsehapparats wahrzunehmen vermögen, so bedarf es zur Kontaktaufnahme mit Wesen im unsichtbaren Teil des Universums eines materialisierten menschlichen Mediums. Nach Koestlers Tod war der Herausgeber der Zeitschrift der »Society for Psychical Research« Dr. John Beloff der ausschlaggebende Mann für die Besetzung des Koestler-Lehrstuhls in Edinburgh gewesen. Nun war jedoch im Verlauf der letzten Jahre die »Society for Psychical Research« offenkundig mehr und mehr von Physikern und Psychologen infiltriert worden, die Anhänger exoterisch-orthodoxer Religionen und vorurteilsbeschränkte Gegner allzu kühner Untersuchungen parapsychologischer Phänomene waren. Ob nun Dr. Beloff einer von ihnen war oder ob er aus einem menschlichen Irrtum heraus gehandelt hat, sei dahingestellt: Tatsache ist, daß er für die Besetzung des Lehrstuhls Professor Robert Morris vorschlug, der diesen Lehrstuhl nun auch seit 1985 inne hat und der wiederholt öffentlich kritisiert wurde, daß er nichts weniger als im Geiste Arthur Koestlers arbeite. <?page no="136"?> Arthur Koestler und die Parapsychologie 124 Das Haupt der britischen »Campaign for Philosophical Freedom« Michael Roll und der australische Anwalt Victor Zammit nannten die ängstliche Vorsicht von Robert Morris keine mediumistischen Phänomene zu untersuchen, zu erforschen, sowie darüber zu veröffentlichen und zu lehren einen besonders bösen Verrat in der Geschichte psychischer Erscheinungen. 24 Es scheint das Geschick nahezu aller Großen zu sein, von ungeistigen Menschen mißverstanden und attackiert zu werden. Was nicht heißt, daß der Geist Koestlers nicht zuletzt triumphieren wird, wie es auf lange Sicht die Wahrheit immer tut. 24 Michael Roll: We cannot See Microbes Without a Microscope. Http: / / www triballi.mybravenet.com/ after life.html und Victor Zammit: One of the greatest betrayels in the history of psychic phenomena: http: / / www.cfpf.org.uk/ letters/ 2002/ 2002-09-14_vz2mr. html. <?page no="137"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien Im Nachwort zu seinem Roman Die Fischmanns schrieb Henry William Katz über sich selbst: »Ich wurde in der östlichen Provinz der ehemaligen k. u. k. österreichisch-ungarischen Monarchie des damaligen Kaisers Franz Joseph geboren, in der gleichen Provinz wie Joseph Roth, Manès Sperber, Soma Morgenstern, Elisabeth Bergner, Alexander Granach und viele andere. 1 Er hat damit sofort seine Position als einer der vier großen Exil-Romanciers aus Galizien geklärt, deren Namen er den zweier großer Schauspieler angefügt hat. Was in quantitativer Hinsicht den Umfang seines Werkes betrifft, so kann Katz mit den drei anderen nicht wetteifern, was in qualitativer Hinsicht die hohe dichterische Qualität betrifft, aber sehr wohl. Mit Soma Morgenstern zusammen war er übrigens an Bord der »Guynee« von Lissabon nach New York emigriert. Als Herz Wolff Katz war er am 31. Dezember 1906 in dem kleinen galizischen Städtel Rudky geboren worden. In der frühen Kindheit bereits schickte ihn der Vater in einen Cheder, eine hebräisch religiöse Schule, und ließ ihm bald darauf einen Melamed, einen Privatlehrer, ins Haus kommen. In dieser frühen Kindheit sprach Katz nicht nur jiddisch, sondern auch etwas hebräisch, deutsch, polnisch und ukrainisch. Seine Kindheit endete abrupt mit dem traumatischen Einschnitt einer Flucht des Siebenjährigen mit seiner Familie vor den heranrückenden russischen Truppen im Jahr 1914, als er in die kleine mitteldeutsche Stadt Gera verschlagen wurde. Hatte es bereits im heimatlichen Rudky leichte assimilatorische Einflüsse dadurch gegeben, daß die Mutter national polnisch orientiert war, während die Großmutter, die unter den damaligen Ostjuden weit verbreitete Liebe zu Schiller und Lessing besaß, die sie im deutschen Original las. Jetzt, in Gera, setzte der Prozeß der Assimilation an die deutsche Sprache und Kultur radikal ein. Das Leben des jungen Heinrich Wilhem Katz, wie er jetzt hieß, wurde einerseits durch seine rasch entbrennende Liebe zu Meisterwerken der Weltliteratur, andererseits durch seine Mitgliedschaft zur Sozialistischen Arbeiter Jugend geprägt und rasch kam es zu einer Entfremdung vom jiddisch sprechenden, orthodoxreligiösen Vater. Die Mutter war früh verstorben. Ab 1925 begann er für lokale und später auch für Berliner Zeitungen zu schreiben, von 1930 an führte er einige Zeit ein Bekleidungsgeschäft in Bad Dürrenberg und 1932 wurde er der jüngste Redakteur der Berliner Wochenzeitung Welt am Montag. 1 Henry William Katz: Nachwort. In: Die Fischmanns. Weinheim - Berlin 1994, S. 249 <?page no="138"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 126 Im Sommer des Jahres 1932 wollte er endlich seinen erfolgreichen österreichischen »Landsmann« Adolf Hitler sehen und hören und fuhr deshalb zu einer Großkundgebung in Halle an der Saale, »wo Regierungsrat Hitler, in einem Zirkuszelt, auf einer Massenversammlung der Partei eine Wahlrede hielt.« 2 Er wurde Zeuge, als Tausende wie unter Hypnose der Hetzrede gegen den jüdischen Untermenschen lauschten. Der Jude sollte die Inflation verschuldet und die Deutschen verarmt haben. Der eingewanderte Jude sollte Millionen von Deutschen arbeitslos gemacht haben. Und ganz besonders der eingewanderte Ostjude hätte wie eine Schmarotzerpflanze das Leben zahlloser deutscher Frauen und Kinder auf dem Gewissen. Rückblickend entsann sich Katz, daß schöpferische Prozesse oft an seltsamen Plätzen in Gang kommen. Für die Geburt seines ersten Romans, Die Fischmanns, war es ein Nazizelt. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er sich plötzlich bewußt, daß er bereits an Erlebnisse dachte, die in diesem Roman geschildert werden müßten. Er würde mit der Schilderung des Landes beginnen, aus dem »seine« Ostjuden kamen. So arbeitete sein Gehirn automatisch: es waren bereits »seine« Ostjuden. Er kannte viele Kinder, die wie er aus dem Osten in die kleine mitteldeutsche Stadt verschlagen worden waren und er kannte ihre Eltern. Auch lebte er ja mit Nicht-Juden in der Stadt. Er spielte Fußball in der Turngemeinde, und er hatte sein erstes Liebeserlebnis in dieser Stadt gehabt. Da waren auch die antisemitischen Professoren des Realgymnasiums gewesen und die sozialistische Jugendbewegung, welcher er »wie ein Kriegsfreiwilliger« beitrat, als die Nazis in der Stadt ihren Bürgerkrieg gegen die Anti-Nazis und die Juden begannen und dabei immer gewalttätiger wurden. Es sollte aber noch zwei Jahre dauern, ehe Katz sich wirklich hinsetzte, um den geplanten ersten Roman nieder zu schreiben. Bis zu Hitlers Machtübernahme hatte ihn der tagespolitische, journalistische Kampf völlig in Anspruch genommen und als er nach der Bücherverbrennung nach Frankreich floh und nach Lyon verschlagen wurde, hatte er zunächst einen besonders harten Kampf mit einem aufsässigen Beamten er Fremdenpolizei zu führen, der ihm nur für jeweils vier Wochen die Aufenthaltsgenehmigung verlängerte und ihm überhaupt keine Arbeitsgenehmigung gab. Der Besitzer eines Restaurants in der Nähe des Bahnhofs Brotteau stellte ihn ohne Arbeitserlaubnis als Gläserspüler an. Ein Mitglied der Liga für Menschenrechte, die zu helfen versuchte, machte ihm den Vorschlag, er könne bei ihm kostenlos in einer leeren Dachkammer wohnen, wenn er dafür seinem Sohn jede Woche eine Nachhilfestunde in Deutsch gäbe. 2 Henry William Katz: Nachwort, op. cit., S. 250 <?page no="139"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 127 So saß er schließlich im Februar 1934 in Pullover und Regenmantel in seiner ungeheizten Dachkammer mit einem Bleistift in der Hand und begann in ein Schulheft seinen ersten Roman zu schreiben. Das wenige Geld, das er besaß, gab er für Bleistifte, Schreibhefte und Kerzen aus. »Ich war der Erzähler. Aber je mehr ich schrieb, desto mehr spaltete ich mich auch in viele andere Personen auf. Ich lebte jetzt Tag und Nacht ununterbrochen und zutiefst verbunden mit fremdartigen Menschen, die ganz offensichtlich und mit Erfolg mein Denken beeinflußten. Manchmal versuchte ich, das Denken und Benehmen dieser Geschöpfe zu ändern, aber sie spielten nicht mit. Sie bestanden darauf, daß ich sie unter keinen Umständen umgestalten dürfe. Sie zwangen mich, sie so leben zu lassen, wie sie tatsächlich lebten oder gelebt hatten, mit allen guten Seiten und allen Fehlern ohne Beschönigung.« 3 Die Charaktere des Buches selbst waren es, die sprachen. Sie diktierten ihm, was er zu schreiben hatte. Es war ihre Idee, daß er der Protagonist Jakob Fischmann werden sollte. Dieser Jakob Fischmann trägt viele autobiographische Züge des Autors. Auch sein Vater besitzt die Schenke des Ortes, auch er hat einen jüngeren Bruder, auch er wird in den Cheder geschickt und hat einen Melamed und auch seine Großmutter verehrt Schiller und Lessing. Die Geschichten, welche ihm seine Mutter vor dem Einschlafen erzählt, seine Kenntnisse von jiddisch, hebräisch, deutsch, polnisch und ukrainisch, seine Flucht als Siebenjähriger auf einem Leiterwagen vor den russischen Truppen nach dem Westen und schließlich nach Deutschland, die Entdeckungen seiner Kindheit, alle diese Elemente aus dem eigenen, wirklichen Leben des Autors verbinden sich mit Zügen der Phantasie und Fiktion zum Charakter des Jakob Fischmann. Der Charakter dieses Jakob Fischmann ist es aber vor allem, der den Autor Katz zwingt, »bei der Wahrheit zu bleiben«, wenn es auch freilich eine dichterische und keine empirische Wahrheit ist. Je mehr die Großmutter Malke in ihren deutschen Goldschnittbänden las, desto mehr wurde sie zur Kämpferin »für das Glück der Kinder«. Schon früh hatte sie gepredigt, »Fahrt nach Deutschland oder Amerika.« Später erzwingen die wirtschaftliche Not und der Antisemitismus förmlich zur Verwirklichung von Malkes Traum, die vom Westen sprach wie weiland die Juden im alten Ägypten vom »gelobten Land«. Also wurde beschlossen, daß Jakobs Vater Jossel Fischmann nach Amerika fahren sollte, zuerst nur er, ganz allein, und wenn er Fuß gefaßt hätte, sollte die Mutter Lea mit den beiden Kindern nachkommen. Es gibt einen tränenreichen Abschied am kleinen, heimatlichen Bahnhof, dann eine entsetzliche Überfahrt auf dem Zwischendeck und daraufhin setzt der doppelte Druck der Riesenstadt und der Fremde ein, in welcher er zunächst 3 Henry William Katz: Nachwort, op. cit., S. 258 <?page no="140"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 128 kein Wort versteht. Gottlob nahm sich zunächst ein heimatlicher Bekannter um ihn an. Als ihm endlich der Sinn des kleinen Wörtchens »yes« einleuchtet, beginnt eine neue Hoffnung. Er wird Mitglied des »Klubs der Lemberger« und legt Dollar auf Dollar für die Überfahrt von Frau und Kindern auf die Seite. Er beginnt sogar das amerikanische Leben zu lieben und unterhält sich oft mit Freunden darüber, ob er wohl ein richtiger Amerikaner werden könnte. Endlich konnte er die Schiffskarten in das fiktive Heimat-Städtel Strody schicken. Aber da erkrankte Jakob an Scharlach und war erst nach sechs Monaten wieder hergestellt und daraufhin erkrankte der jüngere Bruder Hersch und als Hersch endlich wieder hergestellt war, erkrankte die Großmutter an Gallensteinen. Endlich kam ein Brief, der ankündigte, daß die Überfahrt im August erfolgen werde. Es war der August des Jahres 1914. Da las der Vater in einer jiddischen Zeitung, daß der Krieg ausgebrochen war. Darauf folgte aber ein noch ärgerer Schlag. Denn in einer Zeile des Berichts las er, daß die Russen auf den Fluß Stryi zu marschierten. Der kleine Heimatort Strody lag aber am Flusse Stryi. Die Familie war in Gefahr! Sein Herz schrie - gellte - jammerte - befahl: Sofort auf nach Strody! Alle die Freunde versuchten, ihn zur Vernunft zu bringen. Vergeblich. Noch am selben Abend stach er mit einem dänischen Dampfer in See. Während aber Jossel Fischmann auf dem Weg nach Strody war, hatte der siebenjährige Jakob zusammen mit Mutter, Bruder und Großeltern dieses Strody bereits verlassen und floh vor den herannahenden Russen auf einem Leiterwagen nach Westen. Sie hatten bereits die Ausläufer der Karpaten erreicht und noch ging es immer weiter. In der Zwischenzeit hatte Jossel Fischmann aus Dänemark bereits ein Telegramm nach Strody geschickt: »Habt keine moire vor dem Krieg bin in europa jossel.« Der dänische Postbeamte schöpft durch das fremdklingende - jiddische - Wort »moire« zuerst Verdacht, Jossel könnte ein Spion sein. Aber dieses erste Mal geht noch alles gut: Moire bedeutet Angst und damit ist alles geklärt. Aber das Telegramm geht durch Deutschland. Die deutsche Militärbehörde vom »Inlanddienst« schöpft auch an dem Wort »moire« Verdacht und gibt das Telegramm an die Politische Polizei weiter, die noch größeren Verdacht schöpft und das Telegramm an das »Oberste Kriegsamt« und an das »Auswärtige Amt« schickt. Da sie alle außerstande sind, das Geheimnis der »moire« zu lösen, wird das Telegramm weiter gekabelt an die zuständigen Behörden des verbündeten Staates Österreich-Ungarn. Nicht weniger als sieben Behörden waren hier für dieses Telegramm zuständig. Während ein hoher Beamter der österreichischen Überwachungsstelle für Kriegsspionage mit Jossels Telegramm in das inzwischen von den Österreichern zurück eroberte Strody fährt, Lea Fischmann aufsuchen will und das Haus leer <?page no="141"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 129 und zerstört findet, wird Jossel beim Überschreiten der Grenze von Dänenmark nach Deutschland verhaftetet, nach Berlin gebracht und verhört. Der Beamte der »Überwachungsstelle für Kriegsspionage« hatte inzwischen nach Wien berichtet, daß das Haus leer stünde und dort konnte man sich nicht erklären, weshalb Lea Fischmann das Haus verlassen haben sollte. Der Hofrat Sekira vom Sicherheitsbüro war der einzige, der eine Erklärung bei der Hand hatte: »Sicherlich ist es eine Raffinierte vom Fach. Aber, lieber Kanzleirat, man wird sie schon fassen, dieses ausgekochte Frauenzimmer! Es gibt ja viele Bäume in der Monarchie. Einer steht auch für sie bereit.« 4 Das »ausgekochte Frauenzimmer« war völlig ahnungslos in diesem Augenblick gerade dabei, ihren Kindern mit einem Staubkamm die Läuse aus dem frisch gewaschenen Haar heraus zu kämmen. Der auktoriale Erzähler Katz schlußfolgert aber aus all dem über die Spionen- Jäger: »Wehe, wenn diese Gattung, die aus dem Verfolgungswahn einen Beruf gemacht hat, ein Opfer wittert! « 5 Der kleine Jakob lernte inzwischen das Elend der Massenflucht kennen. Er verliert seine Kindheit an jenem Tag, da der Tod ihn berührte. Eine Stunde etwa waren sie auf ihrem Leiterwagen aus dem kleinen Karpatenstädtchen weiter nach Westen gefahren, gerade waren sie an einem Gehöft vorbei gekommen, an dessen nackten Lattenzäunen tote Bäuerinnen lehnten, als sie von einem Dutzend Kosaken überholt wurden. Kaum hielten die Russen ihre Pferde an und schauten auf den nahen Wald empor, als aus diesem heraus Schüsse zu knattern begannen und zehn der zwölf Reiter tot am Boden lagen. Die Fischmanns erreichten ihr Ziel, das nächste Karpatenstädtchen zum Glück noch am selben Tag: Es war der Tag, an dem der letzte Zug nach dem Westen abfuhr. Im Gedränge und beim Kampf, einen Platz in einem der Waggons zu ergattern, verloren Lea Fischmann und ihre beiden Kinder die Großeltern aus den Augen. Sie dachte, sie wären in einem anderen Waggon. Aber die Großeltern hatten es nicht geschafft. Vor den Russen geflüchtet und gerettet gerieten sie nun in die Hände von »Fachleuten für Flüchtlingswesen«. Erst kam der Zug nach Wien, aber sie durften nicht aussteigen. Dann ging es nach Budapest und von da nach Prag. Aber man ließ sie wieder nicht aussteigen. Es waren ja hauptsächlich galizische Juden. Und dann ließ man sie endlich einmal doch aussteigen. Sie kamen in ein Lager mit vielen Flüchtlingsbaracken. In eine solche Baracke, in der schon hundertfünfzig Flüchtlinge lagen, wurden zweihundert neue hinein gestopft. Noch hieß es: »Es sind Österreicher, brave Landsleute, die Zuflucht vor den Russen suchen …« Aber zwei Monate später 4 Die Fischmanns, op. cit., S. 178 5 Die Fischmanns, op. cit., S. 185 <?page no="142"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 130 hieß es bereits: »Es sind verdammte Galizier.« Die Leute in der Stadt riefen ihnen »Dreckiger Jud« nach. Der kleine Jakob schloß sich einer Bande von Kindern an, die auf den Feldern Krautköpfe stahlen und später auch Holz und Kohlen aus abgestellten Eisenbahnwaggons. Sie bestahlen Fremde und belogen die Mutter, der sie erzählten, sie hätten das alles geschenkt erhalten. So verbrachten sie ein ganzes Jahr. Dann trafen sie plötzlich auf Riewke und Mendel Singer, die in der Stadt wohnten. Von ihnen erfuhren sie, daß viele jetzt nach Deutschland gingen, wo Arbeiter gebraucht würden - und auch Arbeiterinnen. Um der Kinder willen schloß sich Lea Fischmann den Singers an und ging nach Deutschland. In der Zwischenzeit war Jossel Fischmann wie durch ein Wunder frei gekommen, mußte sich aber zur »Nachassentierung« melden und wurde trotz seiner schlechten Augen frontdiensttauglich geschrieben. Was die Frau und Kinder im Flüchtlingslager betrifft, so war Katz von der empirischen Faktizität abgewichen, zweifellos, weil er das Risiko einer solchen Fahrt ins Blaue und die Zustände in den Flüchtlingslagern zeigen wollte. Tatsächlich hatte sich Jenny Katz, die wirkliche Mutter des Autors, von vornherein entschieden, nach Deutschland zu gehen, weil es in Gera Verwandte gab, auf deren Unterstützung sie hoffen durfte. 6 Am Anfang dürfte die Familie sogar bei den Verwandten gewohnt haben, da Aaron Katz erst 1917 im lokalen Adreßbuch mit einer eigenen Wohnung aufscheint. Wohl nicht nur im Roman sind Jakob und Hersch, später Hermann Fischmann besonders gute Schüler, die Auszeichnungen erhalten. Aber ansonsten gibt es nur traurige Nachrichten. Von den Briefen, die Lea Fischmann an ihren Gatten in New York geschrieben hatte, war der erste mit dem Vermerk zurückgekommen: »Adressat mit unbekanntem Ziel verzogen.« Später kam dann die Mitteilung, daß Leib und Malke Fischmann, die Großeltern, in dem kleinen böhmischen Ort Levin verstorben seien und dort auch begraben lägen. Ein deutscher Beamter der Fremdenpolizei in dem »kleinen sächsischen Städtchen« - das biographisch-empirische Gera lag aber in Thüringen - erwies sich als besonders freundlich und hilfsbereit. Die Mutter fand Arbeit bei einem Wilnaer Juden, der eine Altmetall- und Lumpenhandlung betrieb. Sie wanderte für ihn in die umliegenden Dörfer, um alte Säcke auf zu kaufen. Es kam der Tag, an dem zwei seiner besten Spielkameraden Jakob mitteilten, daß er ein Dreckjud sei und ihre Mutter verboten hätte, mit ihm länger 6 Vgl. die erste und sehr gute H. W. Katz-Biographie von Ena Pedersen: Writer on the Run. German-Jewish Identity and the Experience of Exile in the Life and Work of Henry William Katz. Tübingen 2001, S. 17 <?page no="143"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 131 zu spielen. Es kam der Tag, an dem die Mutter unter einer anscheinend schweren Krankheit zu leiden begann. Und es kam auch der Tag, an dem der Vater endlich den Aufenthaltsort der Familie herausgefunden hatte, und auf Urlaub kam. Die Mutter ist überglücklich. Doch als er ihr sagt, sein Urlaub würde in fünf Tagen ablaufen, bricht sie zusammen. Der Arzt kommt und weiß zunächst nicht, was ihr fehlt. Etwas später entdeckt er das böse Magengeschwür und kann nicht mehr helfen. Dann kommt der böseste Tag im Leben des Jakob Fischmann und der ist mit dem bösesten Tag im Leben seines Autors H. W. Katz identisch: der Tag, an dem seine Mutter stirbt. Es ist - wohl auch infolge der minutiösen Wahrhaftigkeit des Berichts - eine der erschütterndsten Sterbeszenen nicht nur der Exilliteratur. Die Witwe des Autors Henry William Katz hat berichtet, daß sein Schmerz über den Tod der Mutter so heftig und intensiv war, als er den Tod Lea Fischmanns fast zwei Jahrzehnte später im Roman beschrieb, wie in dem Augenblick, da sie gestorben war. »Als er das Kapitel über den Tod seiner Mutter schrieb«, erinnerte sie sich, »war er stumm. Man konnte mit ihm nicht reden. Ich habe ihn vollkommen in Ruhe gelassen. Es war dann eine Erleichterung, als er das Kapitel geschrieben hatte. Er hat gesagt: ›Jetzt fühle ich mich besser.‹« 7 Der Roman schließt mit dem Abschied des Vaters nach dem Begräbnis, da er zurück an die österreichisch-russische Front fahren mußte. Jakob und Hermann kamen »in Pflege«. Die letzten sechs Zeilen sind ein Ausblick auf die folgende Zeit der späteren Jugend Jakobs, eine Zeit erfüllt von Träumen nach Heimat, Verwurzeltsein, nach Freunden, nach der fehlenden Mutter, jüdische Träume einer jüdischen Jugend. Wie sehr er aber auch all das ersehnt, erfleht, darum gerungen hatte, so sehr wurde er betrogen. Der letzte Satz lautet: »Doch dies ist eine andere Geschichte für sich.« Es ist die Geschichte des zweiten großen Romans von Katz, Schloßgasse 21. Doch zuvor feierte der erste Roman unerwarteten Erfolg. »Zufällig« las er in einer Zeitung von einem literarischen Preisausschreiben des Pariser »Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller«. Er sandte sein Manuskript gemäß den Anweisungen anonym ein. Etliche Monate später erhielt er die Mitteilung, daß er den ersten Heinrich-Heine-Preis erhalten hatte. Er zog nach Paris, er heiratete, es kam der Tag der Preis-Verleihung. Er las vor einigen hundert Zuhörern ein Kapitel aus seinem Roman. Und wurde plötzlich von Applaus unterbrochen. Aber der Applaus galt nicht seinem Buch, sondern dem soeben eingetretenen Arthur Koestler, der zum ersten Mal nach seiner Verurteilung zum Tod in Spanien und dem Gefangenenaustausch seiner Rettung in Paris öffentlich gesehen wurde. 7 Writer on the Run, op. cit., S. 20 <?page no="144"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 132 Der Heinrich-Heine-Preis tat jedoch trotzdem seine Wirkung: Hermann Kesten, der Lektor des Exilverlages Allert de Lange, las das Manuskript und brachte den Roman 1938 in Amsterdam heraus. Ben Huebsch, den Katz in Paris traf, nahm das Buch für die Viking Press in New York an. Eine polnische Übersetzung erschien in Warschau und dieser folgte eine englische Ausgabe in London. Am 10. Mai 1933 stand Katz um elf Uhr nachts in Berlin in einer riesigen Menschenmenge zwischen der Staatsoper und dem Aulagelände, um Zeuge der Bücherverbrennung zu werden. Er hat es die Nacht genannt, in der die Ungeistigen in Deutschland versuchten, das Denken in Deutschland auszurotten. Es war auch die Nacht, in welcher ihm plötzlich klar wurde, daß er in diesem Land nicht leben konnte. Und es war die Nacht, in welcher er die Hoffnung faßte, daß die Nazis ihre Antwort erhalten sollten: Freie Schriftsteller würden entkommen und im Ausland jedes verbrannte Buch durch mindestens ein neues ersetzen. Sein Roman Die Fischmanns sollte seine eigene erste Antwort auf die Herausforderung werden, sein Roman Schloßgasse 21 seine zweite. Er schrieb diesen zweiten Roman noch im französischen Exil und vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Frankreich. Es sollte sein letzter veröffentlichter Roman während seines Lebens werden. Als Hitlers Truppen in Frankreich einfielen, hatte er sich zur Fremdenlegion gemeldet und fand keine Zeit mehr zum Schreiben. Er kämpfte bei Soissons und war einer von 268 Überlebenden seines 3000 Mann starken Regiments. Später erhielt er das Croix de Guerre. Nach der Abrüstung gelang ihm die Vereinigung mit Frau und Tochter und die Flucht nach Marseille. Er war einer jener vielen Exilautoren, die Varian Fry über Spanien und Portugal in die USA rettete. Aber in den USA gab es wiederum kaum Zeit zu schreiben. Er hatte für eine große Familie zu sorgen: Frau und Tochter, Schwiegereltern und die Schwester der Frau. Er begann in Fabriken zu arbeiten und schaffte es, Vizepräsident zweier Betriebe zu werden. Trotz der ungeheuren Überlastung, begann er einen dritten Roman zu schreiben, aus dem er im Jahr 1943 in New York ein Kapitel öffentlich vorlas. Aber die wirtschaftlichen Sorgen und Anstrengungen erlaubten nicht die Fertigstellung. Als er nach seiner Pensionierung 1970 begann, einen neuen Roman zu schreiben, dessen Manuskript auch 1975 fertig gestellt wurde, konnte er keinen Verlag dafür finden. Bei seinem Besuch in Deutschland im Jahr 1987 ermutigte ihn Ulrich Walberer vom S. Fischer Verlag seine Autobiographie zu schreiben. Er begann zu schreiben, vernichtete aber dann das Manuskript. Das veröffentlichte Werk blieb im wesentlichen auf die beiden großen Romane beschränkt. Der zweite dieser Romane, Schloßgasse 21, hat seinen Titel daher, daß in der Fischmann-Fiktion die beiden mutterlosen Söhne Jossel Fischmanns in das Haus Schloßgasse 21 einer kleinen sächsischen Stadt <?page no="145"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 133 übersiedeln, wo sie bei dem ostjüdischen Ehepaar Chaskel und Dwore Weiß in Pflege wohnten. Im faktischen Leben des Autors H. W. Katz war es so, daß sie nur kurze Zeit in Pflege waren und dann bei ihrem Vater wohnten, der alsbald eine neue Frau heiratete, um der Kinder willen. H. W. Katz haßte die orthodoxe Stiefmutter vom ersten Tag an, da er seine wirkliche Mutter nicht ersetzt wissen wollte. Im Roman taucht die böse Stiefmutter erst später auf, doch dann entwickelt sich die Beziehung Jakob Fischmanns zu ihr ganz so wie jene von Katz zur wirklichen Stiefmutter. Im Jahr 1923 verläßt der sechzehnjährige Jakob aus Protest gegen die Stiefmutter die väterliche Wohnung. 8 Zuvor aber schildert Katz die Spiele der Kinder im Krieg im Hause Schloßgasse 21 und schildert vor allem auch alle Bewohner des Hauses, vor allem die freundliche und gütige, liebenswerte Dwore Weiß. Dann auch außerhalb des Hauses den Charakter des dümmlichen, deutschnationalen Turnlehrers Zunk und des ehemaligen Frontkämpfers und brutalen Verbrechers Hermann Kupke, der schließlich gleichfalls in das Haus Schloßgasse 21 einzieht. Zuletzt kommt mit Jakob Fischmanns jüngerem Bruder auch noch ein Auswanderer nach Palästina dazu, was übrigens auch der biographischen Wirklichkeit entspricht, da der Bruder von H. W. Katz nach Palästina ging. Ja, die Bewohnerschaft dieses Hauses weitet sich im Lauf des Romans zu einem solchen umfassenden Mosaik von menschlichen, sozialen und politischen Typen aus, daß es gleichsam einen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung Deutschlands und deren Entwicklung in der Zwischenkriegszeit darstellt. Das Haus Schloßgasse wird gleichsam geradezu zu einer Art Miniaturmodell Deutschlands. Hier, in der Schloßgasse 21 erlebt Jakob Fischmann im November 1918 die Revolution. Mit Demonstrationen und Plünderung. Hier erlebt er auch die Heimkehr seines Vaters aus dem Krieg. Der war mit dem Vorsatz gekommen, ein Deutscher zu werden und trotzdem ein guter Jude zu bleiben, ein Vorsatz dessen Verwirklichung die größten Schwierigkeiten machen sollte. Frau Weiß hatte für Jossel Fischmann bereits eine leere Wohnung im vierten Stock des Hauses gemietet. Der Vater reiste als Vertreter einer Wäschefirma von Montag bis Freitag durch die Dörfer und war mit den beiden Kindern am Freitagabend zum Sabbatmahl bei Dwore Weiß und ihrem Mann. Tragisch ist die Beschreibung wie sich die Beziehung zwischen dem assimilierten Jakob und seinem orthodoxen Vater zuspitzt, schreckenerregend die Art, wie sich bereits unmittelbar nach Kriegsschluß viele deutsche Oberschullehrer zu Ausschreitungen gegen jüdische Schüler hinreißen ließen. Einen ersten Höhepunkt der anwachsenden 8 Nach den Angaben der sehr genauen und gründlichen Ena Pedersen scheint der wirkliche H. W. Katz die elterliche Wohnung fünfzehnjährig verlassen zu haben. <?page no="146"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 134 politischen Gefahr stellte bereits 1920 der Kapp-Putsch dar, dessen Ausbruch und Niederschlagung Jakob in seiner kleinen, mitteldeutschen Stadt erlebte. Da standen schließlich vierzig in die Stadt einmarschierte bayerische Soldaten hinter Stacheldraht und Maschinengewehren vor dem Rathaus auf dem Marktplatz und zweitausend lokale Arbeiter und deren Frauen einander gegenüber. Ein sozialdemokratischer Redakteur forderte die Soldaten auf, sich zu ergeben, worauf deren Hauptmann Befehl zum Feuern gibt. Sechsundzwanzig Tote und über hundert Verletzte gab es. Dann war der Spuk in der kleinen Stadt vorüber. Durch Wirklichkeitsnähe, Knappheit und durch schweigende Identifizierung mit den jeweiligen Akteuren erreicht Katz die ungewöhnliche Eindringlichkeit und Suggestivkraft seines Stils. Die oftmals angewandte satirische Ironie eines auktorialen Erzählers lockert das Ganze auf. Gelegentlich gibt es, ebenfalls durch den auktorialen Erzähler, knappe Vorausblicke auf den Gang der Fabel, die spannungserhöhend wirken. Auch der laufende Wechsel zwischen dem Bericht des auktorialen Erzählers einerseits und der erzählten Rede und dem inneren Monolog - nicht nur Jakobs - andererseits, trägt sehr zur Verlebendigung bei. Die Spaltung zwischen West- und Ostjuden steigert sich so sehr, daß die letzteren in der gemieteten Kegelbahn eines in Konkurs gegangenen Gasthauses ihr eigenes, kleines Bethaus eröffnen. In gleichem Maße beginnt sich die Kluft zwischen den jiddisch sprechenden, zugewanderten, religiösen Eltern und ihren mehr und mehr assimilierten Kindern im allgemeinen zu vertiefen. Da Jakob sechzehnjährig aus Protest gegen die orthodoxe, ungeliebte Stiefmutter die Wohnung verläßt, wird er zunächst Autowäscher und kann sich nicht einmal ein Zimmer, sondern nur eine Schlafstelle leisten. Als der Vater ihn sucht und findet, hat er bereits ein Zimmer bei der Witwe Grimme, die sich auch etwas um ihn sorgt. Jakob war während sein Vater in der Wohnung seiner Quartiergeberin vorspricht, beim Stadtbibliothekar Karl Rascher, der ihn bei seiner Lektüre großer Werke der Weltliteratur berät, was nicht nur seinen literarischen Geschmack sehr verbessert, sondern vor allem auch seinen Horizont überhaupt erweitert. Jakob kehrt nicht in die väterliche Wohnung zurück, sondern bleibt fest auf seinem eigenen Weg und übersiedelt schließlich in die Pension einer Frau Moll. Diese Pension Moll entwickelt sich alsbald zu einer überaus wesentlichen Art von Ergänzung zum Haus Schloßgasse 21, da sich hier Menschentypen finden, die dort kaum denkbar gewesen wären. Obwohl die Schloßgasse 21 zweifellos das eigentliche Zentrum bleibt, wäre die Erfassung eines Gesamtquerschnitts der Bevölkerung ohne die »Dependance« Pension Moll des Hauses Schloßgasse 21 nicht möglich gewesen. <?page no="147"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 135 Dort, in der Pension Moll lebt auch Jakobs Mentor Karl Rascher und dort lernt er auch die junge Musikschülerin Marie kennen, die ein romantisches Geheimnis umgab. Mitunter spielte sie ihm in seinem Zimmer etwas auf ihrer Geige vor und dann wieder las er ihr in ihrem Zimmer seine Gedichte und Erzählungen vor. Nichts von den vielen Manuskripten, die er allwöchentlich wegschickte, wurde gedruckt. Er ließ aber nicht nach, ja er hätte gar nicht nachlassen können, selbst wenn er gewollt hätte. »Verleger und Redakteure bedauerten ergebenst. Platzmangel und Überangebot an Material waren die Worte, die mich damals bis im Traum verfolgten … Ich glaube nicht, daß Schreiben nur eine Beschäftigung ist. Für mich ist Schreiben lebensnotwendig wie Essen und Trinken und Schlaf und Träume.« 9 Der Schriftsteller Huster, ein anderer Gast der Pension Moll, dem nichts zum Schreiben einfiel, erzählte beim Frühstück, er bekomme seine Arbeiten nicht los, weil in Deutschland nur Juden gedruckt würden. Jakob war aber auch Jude und wurde auch nicht gedruckt. Fast vier Jahre hindurch ging das so. Bis plötzlich der Tag kam, an dem Marie und Karl ihn nach Arbeitsschluß am Fabriktor seines Betriebs abholten und ihm eine Zeitung unter die Nase hielten. Er las: »Der Druckmesser im Bau 479. Erzählung von J. Fisch-Fischel.« Das war eines seiner drei Pseudonyme. Es war um jene Zeit, daß zum ersten Mal einige Blätter vor der Gefahr für die Demokratie warnten, die von dem Bündnis zwischen etlichen Industriellen, Agrariern, Bankiers und hohen Offizieren mit dem unerklärlich erfolgreichen Demagogen eines wüsten Antisemitismus mit seinem kleinen Schnurrbärtchen ausging. »Vergebens bemühten sich ein paar Linksjournalisten, die Republik auf diese Stimme, die so geschickt donnern und zugleich sanfte Versprechungen machen konnte, aufmerksam zu machen. Aber die Republik war ohne Augen und Ohren zur Welt gekommen. Und einflußreicher als diese warnenden demokratischen Journalisten waren die antidemokratischen Geldgeber dieses Trommlers.« 10 Es ist interessant, daß Katz ganz so wie Ernst Weiß und sehr viel später der bereuende Ex-NS-Autor Bruno Brehm Hitler als »Trommler« charakterisiert. Die überwiegende Mehrzahl der Ostjuden besaß zwar das Bewußtsein ihrer jüdischen Identität, glaubte aber, wenn sie passiv bliebe, würde sie in Ruhe gelassen werden. Viele der assimilierten, zumal der erfolgreichen Juden, hatten sogar ihr jüdisches Identitätsgefühl verloren und standen geistig und psychisch dem »Trommler« völlig wehrlos gegenüber. Der Jakob Fischmann 9 Henry William Katz: Schloßgasse 21, op. cit., S. 295 10 Schloßgasse 21, op. cit., S. 324 <?page no="148"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 136 des Romans gehörte zwar zu jenen Ostjuden, welche die alte Beschränktheit und Unterdrückung der Orthodoxie abgeworfen hatte, die jedoch gerade durch die antisemitische Gefährdung Hitlers nicht nur ein neues jüdisches Identitätsgefühl, sondern auch neue Werte entwickelt hatten. Vor allem hatten sie als die große Gegenkraft die Prinzipien wahrhafter Demokratie erkannt, um deren Stärkung und Verbesserung es ihnen in ihrem Kampf ging. In diesem Sinn steht Katz in einer Reihe nicht nur mit den anderen großen galizischen Exil-Romanciers wie Soma Morgenstern und Manès Sperber, sondern auch mit den größten Exilautoren überhaupt von Hermann Broch bis Arthur Koestler. Auch dem späten Joseph Roth war es um eine konstitutionelle Monarchie auf demokratischer Basis zu tun gewesen, der er wegen der Anfälligkeit vieler Menschen für besondere Autoritäten den praktischen, taktischen den Vorzug im Kampf gegen Hitler gab. Während in der empirischen Wirklichkeit der Vater Fischmann gemeinsam mit seinen beiden Brüdern ein Textilwarengeschäft eröffnete, kann sich im Roman Jossel Fischmann allein zum Besitz eines allerdings sehr kleinen Geschäfts für Damen-, Herren- und Kinderbekleidungsartikel in einer kleinen Nebenstraße emporarbeiten, dem großen Glück eines jüdischen Eingewanderten: einem eigenen Geschäft. Im Krisenjahr 1931 waren Not und Elend so groß, daß die Kinder auf dem Trockenboden des Hauses Schloßgasse 21 das Spiel spielten: Kasperle ist arbeitslos. Die Beschreibung dieses zweifellos vom Autor Katz beobachteten Spiels ist gespenstischer und erregender als es jegliche direkte naturalistische Beschreibung des Elends selbst sein könnte: Kasperle ist arbeitslos, geht stempeln und erhält nur acht Mark Unterstützung. Zu Hause wartet seine Frau - sie wird durch eine Puppe dargestellt -, die seine Rückkehr herbeisehnt, weil sie Geld braucht, um Brot kaufen zu können. Aber da kommt der Gasmann, das ist der schwarze Mann, und er will Geld haben. Dann kommt der Lichtmann, das ist auch der schwarze Mann. Auch er will Geld. Darauf kommt der Wassermann und möchte Geld. Und zuletzt kommt einer, beklebt alles mit Zetteln und will die Sachen mitnehmen. Da kommt der Kasperle nach Hause, verhaut den schwarzen Mann und wirft ihn die Treppe hinunter. Aber dann kommt Herr Liebig, der Polizist, der im Haus wohnt, verhaftet Kasperle und der darf jetzt lange nicht mehr mitspielen. Seine Frau daheim weint, bis sie nicht mehr kann. Dann stürzt sie sich aus dem Fenster zu Tode. Sie wird in einem langen schwarzen Kasten weggetragen. Als dann Kasperle heim kommt, ist die Frau verschwunden. Da schreit er draußen auf der Straße: »Ich schlage alles kurz und klein, ich schlage alles in Klumpen, es muß anders werden, ich mache da nicht mehr mit, es muß anders werden! « Dann nehmen die Kinder die beiden Puppen in Naziuniform auf, welche die Tochter des Hausbesitzers ihren beiden <?page no="149"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 137 kleinen Töchtern zu Weihnachten geschenkt hatte, marschieren im Kreise und singen das Nazi-Marschlied: »Die Straße frei den braunen Bataloonen …« Und der kleine Hans Bieber hält eine Ansprache, Hitler imitierend: »Vierzehn Jahre der Schmach habe ich gekämpft! « Die sozialdemokratische Frau Berta Schaller, die das Spiel beobachtet hat, berichtet davon ihrem kommunistischen Gatten Franz Schaller. Der ruhige Ton des Berichts ist ungewohnt. Meist schreien sich die beiden erzürnt große Worte in ihrer kleinen Wohnung zu. Berta hält ihm vor, die Kommunisten hätten mit ihrer ständigen Kritik die Kraft der Arbeiterorganisationen gebrochen. Er schreit zurück. Und unten im Hof steht der Nazi Kupke und lacht und lacht und lacht. Einer ganzen Reihe von Frauen in der Schloßgasse wird es immer klarer, daß der Jude schuld an den Millionen Arbeitslosen war, an dem Hunger und Elend in Deutschland. Viele Zeitungen machten es doch klar, daß die Juden Untermenschen waren. Dürften sie das schreiben, wenn es nicht wahr wäre? Der radikalste Nazi im Haus, Hermann Kupke, stellte selbst of diese Frage und hatte auch gleich eine Antwort bei der Hand: Weil die Fischmanns Juden waren, waren sie Verbrecher und Untermenschen und noch viel schlimmeres. Am Morgen des 30. Januar 1933 saß Jakob Fischmann zusammen mit Marie und Karl Rascher am Frühstückstisch im Speisesaal der Pension Moll, als Fräulein Nachtigall ungewöhnlich laut, ja polternd hereinstürzte und dem Schriftsteller, Herrn Huster, etwas ins Ohr flüsterte. Fräulein Nachtigall war eine dunkle Bankbeamtin unbestimmten Alters, so sehr Beamtin, daß sie sogar am Sonntag um sieben Uhr aufstand. Abends häkelte sie Tischdecken für Geschenke. Jetzt, nach dem Einflüstern der Nachtigall, sprang Huster plötzlich auf, schlug mit einem Kaffeelöffel an die Tasse mit Pfefferminztee und verkündete strahlend: »Er ist Reichskanzler.« Alle starrten ihn an, als hätte er Chinesisch gesprochen. Als Frau Moll die Nachtigall fragte, woher sie das wisse, erklärte jene: »Mein Radio.« Und fuhr gleich fort: »Und jetzt werde ich das Braune Haus anrufen! « Ehrfurchtsvoll wurde ihr Platz gemacht. »Heitla! Hier Nachtigall! Wer dort? - Ich hörte es eben im Radio. Also ist es authentisch? Ich bin so glücklich! Er ist doch Alles für mich! Ich habe sein Bild in meinem Zimmer hängen! Wenn ich ihn ansehe, dann empfinde ich ganz tief, wie groß er ist! Ich habe nie den Glauben an ihn verloren! … In meiner Kindheit habe ich vom lieben Gott geträumt. Jetzt träume ich vom Führer! Ich spreche sogar mit ihm! Jede Nacht! Im Traum natürlich! … Er ist herrlich! - Er ist wunderbar! - Es ist also wirklich authentisch? - Ich danke Ihnen vielmals! Heitla! - Es ist authentisch! Augenblicklich löste sich die Spannung. Alle riefen durcheinander. Anschließend sangen all jene Gäste, die sich plötzlich als Nazis entpuppt hat- <?page no="150"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 138 ten, ein strammes Marschlied. Und schließlich hielt Jakobs Freund Karl Rascher einen Monolog, der leise begann, sodann immer lauter wurde und sich zuletzt in eine Art Ansprache an Jakob verwandelte, die alle hören konnten. Er nannte Hitler einen Abenteurer, der sich Deutschland als Tummelplatz für seine Politik gewählt hätte. Da das Land ihn gewähren ließ, gründete er eine Bande. Auch sie wurde nicht behelligt und wuchs immer mehr. Verzweiflung und Haß nach dem verlorenen Krieg schuf viele verkrachte Elemente, haltlose Landsknechte, Gescheiterte, Erfolglose, die gern einem Bandenführer folgten, der Geld, Erfolg und hohe Gönner hat. Jetzt ist er sogar Regierungs-Chef geworden. Und sie jubeln, ohne zu wissen, welches Unglück heute über unser Land hereingebrochen ist.« 11 Katz legte diese Worte seinem Charakter des Karl Rascher nicht 1945 oder noch später in den Mund, sondern 1938 oder 1939, als die Macht Hitlers gegenüber 1933 sogar noch größer angewachsen war. Wie die Verzückung der Nachtigall eine hervorragende Fall-Beschreibung für die Massenpsychose ist, die damals ausgelöst worden war. Hitler war an die Macht gekommen. Menschen wurden verhaftet, wurden in Schutzhaft genommen, geprügelt, in Lager deportiert, ermordet. Der Tag des ersten April 1933 war offiziell zum Boykott-Tag gegen die Juden erklärt worden. Jossel Fischmann ging - da es ein Samstag war - zuerst ins Bethaus und von hier ins Geschäft. Er glaubte, alle blickten ihn an, erkannten ihn als Juden und er hastete ängstlich. Von Plakatsäulen schrieen ihm Parolen entgegen: »Die Juden sind unser Unglück! « Vor seinem winzigen Laden standen zwei Nazis in Uniform mit einem Riesenplakat: »Achtung, Lebensgefahr! Die Juden der ganzen Welt wollen dein Land vernichten! Deutsches Volk, wehr dich! Kauf nicht bei Juden. Juda Verrecke! « Jossel Fischmann schlich in seinen Laden und räumte von innen das kleine Schaufenster aus. Nie zuvor hatte sein Schaufenster so viel Aufmerksamkeit erregt. Passanten, die niemals in die kleine Gasse gekommen waren, grüßten lachend die Wache oder zeigten auf das Firmenschild. Das Rathaus, die Gerichte, die Banken, die Schulen blieben geschlossen, damit alle Zeugen des Kampfes gegen die Juden werden könnten. Jossel Fischmann blickte in das Gedränge vor seinem Geschäft und sah johlende Jugendliche, die mit Ölfarbe Hakenkreuze an das schmale Schaufenster malten. Da kam plötzlich ein Mann auf die Ladentür zu, Paul Hummel, der auch in der Schloßgasse 21 wohnte. »Halt! Bei Juden wird nicht gekauft! « schrie die eine der Nazi-Wachen, der junge Xaver Wunder, der mit Fischmanns Sohn Jakob im selben Haus aufgewachsen war. »Ich kaufe, wo es mir paßt«, brumm- 11 Schloßgasse 21, op. cit., S. 412 und 414 f. <?page no="151"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 139 te Hummel. Da brüllte der andere Nazi: »Eintritt verboten! Die Juden sind unser Unglück! « Aber Paul Hummel sagte nur »Weg da! «. Allerdings wurde er am Arm gepackt und es wurde ihm ein Stempel auf die Stirn gedrückt: »Dieser Verräter kauft bei Juden! « »Judenknecht! « riefen sie ihm haßerfüllt nach, als er die Ladentür öffnete. »Am Samstag ist mein Geschäft geschlossen, Herr Hummel« begrüßte Jossel Fischmann seinen Hausgenossen. Hummel erklärte, daß er nichts kaufen wollte, sondern daß er da sei, um Jossel Fischmann im Ernstfall zu schützen. Da Hummel über die mangelnde Gerechtigkeit schimpfte, erklärte ihm Jossel Fischmann: »Wer weiß, wozu dieser Tag gut ist? … Wir wissen oft nicht, warum wir leiden. Aber alles hat einen Sinn. … Zum Beispiel haben mich die Nazis heute zu einer großen Persönlichkeit gemacht … Jeder Mensch weiß heute, daß es einen Fischmann gibt und wo er sein Geschäft hat und daß es ihm schlecht geht, weil er Jude ist. Die ganze Welt sieht heute mich und meine Feinde. Und alle Menschen mit Verstand vergleichen mich mit meinen Feinden, und ich brauche mich nicht zu schämen. Ich nicht! Und einmal wird ein Tag kommen, vielleicht noch nicht nächstes Jahr, aber dieser Tag, auf den ich von heute ab warten werde, wird bestimmt kommen. Es wird vielleicht auch ein erster April sein. … Ich verliere nicht den Glauben.« Dem bitter enttäuschten Hummel erging es seltsam. Er bekam bei diesem Juden wieder Mut und Hoffnung. Natürlich hatte dieser Fischmann recht! Nach jedem Heute kommt ein Morgen und ein Übermorgen! Der Freidenker Hummel forderte also Fischmann auf, mit ihm gemeinsam gegen die Nazis zu kämpfen. Wollte er denn nicht mithelfen, daß es in Deutschland anders wird? Doch er erhält die Antwort: »Lieber Herr Hummel, ich helfe euch schon genug! Später werden Sie vielleicht verstehen, daß ich sogar sehr mithelfe, damit es hier einmal wieder besser wird für ehrliche und unschuldige Menschen. Mit meinem Leiden helfe ich …« 12 Für den jungen Jakob Fischmann in Berlin ist dieser erste April ein Wendepunkt in seinem Leben. Es wird ihm plötzlich klar, daß er dieses Land verlassen muß. Und er denkt zurück an die Flucht vor achtzehn Jahren, als er siebenjährig auf einem Leiterwagen das heimatliche Strody verlassen hatte. Damit hatte der erste Roman, Die Fischmanns, begonnen und mit der zweiten Flucht nunmehr, aus Deutschland weiter nach dem Westen, nach Frankreich, am Ende des zweiten Romans schloß sich der Kreis. Jakob hatte den ersten April in Berlin erlebt. Punkt zehn Uhr hatten Umzüge mit Sprechchören und Plakaten begonnen. Auf allen Trambahnmasten waren kleine, bunte Zettel geklebt worden mit Aufschriften wie »Juda verrecke! « und 12 Schloßgasse 21, op. cit., S. 530-37 <?page no="152"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 140 »Tod den Juden! « Die ganze Leipzigerstraße war belebt wie bei einem Volksfest. Sein Mentor Karl Rascher war in Prag. Er hatte ihm geschrieben, wie man sicher aus Deutschland hinauskommen konnte. Bis am Vortag hatte Jakob Fischmann sich noch nicht entschließen können. Jetzt war es ihm selbstverständlich, daß er fahren mußte, fahren würde. Noch spät in der Nacht würde er abfahren und am zweiten April würde er bereits in Paris sein. Er besaß gerade noch genug Geld, um die Fahrt bezahlen zu können. Er beschloß, sicherheitshalber nicht direkt über Straßburg, sondern über Lörrach und die Schweiz zu fahren. Um drei Uhr früh stieg in Fulda ein Nazispitzel zu. Er versuchte ihn auszufragen, ob er ins Ausland fahre. Jakob war aber auf der Hut und in Karlsruhe stieg der Spitzel enttäuscht aus. Jakob reflektierte darüber, daß es ein Abschied von Deutschland war, wo er das Grab seiner Mutter zurückließ - und einen gealterten Vater - und einen Bruder. Es war das Land gewesen, in dessen Sprache er träumen, denken, sprechen und schreiben gelernt hatte, das er sich als heimatloses Kind erkämpft hatte und dem er verfallen war. »Daß es heute auf dem Kopf stand, hatte nichts mit mir zu tun … Ich haßte die Nazis, aber ich liebte Deutschland … Und jetzt mußte ich es verlassen … Aber was nun aus mir werden würde, wußte ich noch nicht. Ich machte mir meine Gedanken darüber. Alles Unbekannte erschien leicht, wenn man am zweiten April 1933 aus Deutschland floh.« 13 Der zweite Roman von Henry William Katz hat mehr als den doppelten Umfang des ersten. Der Grund dafür liegt zumindest unter anderem darin, daß er das Schicksal der Fischmanns hier in eine Darstellung der gesamten Entwicklung Deutschlands von 1916 bis 1933 im Spiegel des Hauses Schloßgasse 21 einer mitteldeutschen Stadt eingebettet hat, in welchem Spiegel die Geschichte der Fischmanns nur den innersten Brennpunkt bildet. Wie ein anderer österreichischer Exilautor, Ernst Lothar, die gesamte Entwicklung Österreichs durch drei Generationen am Beispiel der fiktiven großbürgerlichen Familie Alt geschildert hat, die das große Wiener Haus bewohnt hatte, dessen Wahrzeichen Der Engel mit der Posaune war, so hat Henry William Katz die Entwicklung Deutschlands durch zwei Generationen am Beispiel der Bewohner des Hauses Schloßgasse 21 dargestellt, deren innerster Kern die Geschichte der altösterreichisch-galizischen Familie Fischmann ist, deren Sohn Jakob sich ganz an Deutschland assimiliert hatte. Aber es ist nur ein besonderer Ausschnitt aus dem Leben des weitgehend autobiographischen Helden Jakob Fischmann, der hier beschrieben wird. Denn die Flucht von Henry William Katz selbst, die im heimatlichen Strody be- 13 Schloßgasse 21, op. cit., S. 587 <?page no="153"?> Henry William Katz. Ein Exilautor aus Galizien 141 gonnen hatte, führte noch weit über die zweite Flucht aus Deutschland nach Frankreich hinaus, mit welcher der zweite Roman schließt. Es folgte nach bewegten Jahren im französischen Exil eine weitere, abenteuerliche Flucht nach den USA, wo sich sein Leben erst wirklich voll entfalten können sollte. Wie auch dieses kleine Kapitel nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Geschick des Jakob Fischmann in Deutschland wieder gibt, wie Katz es in der Fischmann- Saga seines großen Romans dargestellt hat. <?page no="155"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit Einer der bedeutendsten Nachkriegsautoren, Erich Pogats, existiert bis jetzt in der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung so gut wie gar nicht. Geboren am 8. April 1919 in Klein-Meinharts bei Zwettl, schien in den Fünfzigerjahren sein Name in Zeitungen und Zeitschriften oft auf. Doch seit den Siebzigerjahren sieht es ganz so aus, als würde sein Name unterdrückt und tot geschwiegen, sei es aus Dummheit, sei es aus Bösartigkeit, oder sei es aus beiden Gründen. 1 Die einzige rühmliche Ausnahme bildet eine längere Würdigung des Verlegers Pogats durch Wolfgang Kraus, wobei infolge des Themas seines Essays diese Beschränkung durchaus legitim erscheinen mag. Daß jedoch der einst berühmte Gründer der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und angebliche Experte auf diesem Gebiet nicht einmal mit einem Wort am Rande erwähnt, daß der Generaldirektor des Riesenverlags auch ein bedeutender Autor war, ist einfach unverständlich. Es war der Verleger Pogats gewesen, der Wolfgang Kraus nach dessen Worten die »Chance« geboten hat, »ein unpolitisches, intellektuelles, literarisches Programm« in seinem Verlag aufzubauen. 2 Dabei war dieses Programm keineswegs rein literarisch und schon ganz und gar nicht unpolitisch, sondern lediglich überparteilich aber ohne ideologische Scheuklappen, wie es schon die Vielfalt der Namen auch nur einiger wichtiger Autoren anschaulich macht, die Kraus selbst anführt: Gabriel Marcel, Mircea Eliade, Roger Bauer, Martin Esslin, Elie Wiesel, aber auch Theodor Sapper, Ernst Gombrich, Robert Flinker, Herbert Zand und Julien Green. Aber nicht nur was die editorische Tätigkeit von Wolfgang Kraus als Lektor betrifft, sondern auf einer viel breiteren Grundlage machte Pogats seinen Gesamtverlag zu einer einmaligen Kulturinstitution der Nachkriegszeit. 1 In den folgenden Büchern wird sein Name nicht einmal erwähnt: Kurt Adel: Aufbruch und Tradition. Einführung in die österreichische Literatur seit 1945. Wien 1982. Hilde Spiel (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs. Zürich und München 1976. Werner M. Bauer: Die deutschsprachige Literatur Österreichs nach 1945. In: Herbert Zeman: Literaturgeschichte Österreichs. Graz 1996, S. 511-63. Joseph McVeigh: Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Literatur nach 1945. Wien 1988. Das Buch ist dem Thema der Vergangenheitsbewältigung der Dreißiger- und Vierzigerjahre gewidmet und obwohl dies das Thema des gesamten Schaffens von Pogats ist, wird sein Name auch hier nicht erwähnt. 2 Wolfgang Kraus: Zwischen Trümmern und Wohlstand. Das literarische Leben in Österreich von 1945 bis zur Gegenwart. In: Herbert Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in Österreich. Band 7: Das zwanzigste Jahrhundert. Graz 1999, S. 628-29 <?page no="156"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 144 Seine Mammut-Buchreihe »Europäische Perspektiven«, hob die Europaidee lange vor der Gründung der Europäischen Union und sogar auch an die noch bestehenden alten Beziehungen zu den sogenannten Nachfolgestaaten der alten Donaumonarchie anknüpfend einer breiten Leserschaft ins Bewußtsein. Obwohl Pogats sich die Oberleitung vorbehielt, hatte er für das umfangreiche, beratende Herausgeberkomitee Persönlichkeiten vom Rang eines Friedrich Heer, Hans Kelsen, Salvado de Madariaga, Robert Minder, Ernst Schönwiese, Ignazio Silone und das Mitglied des Nobelpreiskomitees für Literatur Max Tau gewinnen können. Er brachte in dieser Reihe unter anderem Bücher von Richard F. Behrendt, Ossip Flechtheim, Paul Lazarsfeld, und Roland Nitsche. Diese Weltoffenheit und die Betonung geistiger Freiheit hing nicht zuletzt damit zusammen, daß Pogats auf Grund seines eigenen Charakters und seiner eigenen Lebenserfahrung der von Amerika aus gegründeten, denkwürdigen Bewegung des »Kongresses für Kulturelle Freiheit« zugehörig war, was auch direkt seinen Niederschlag in seiner Tätigkeit gefunden hat. Als dieser Kongreß im Juni 1950 in West-Berlin gegründet wurde, da hatte nicht nur Hermann Broch, der aus Krankheitsgründen nicht kommen konnte, ein Glückwunschtelegramm gesandt, sondern da war Österreich durch Fritz Molden und Rudolf Brunngraber, Felix Hubalek und Peter Strasser vertreten. Dabei gab es parallel zur Gründung des Kongresses selbst auch durch die Etablierung der »Allgemeinen Jugendwerk-Gesellschaft« eine Art Jugend-Sektion, deren österreichischem Vorstand zusammen mit Christine Busta, Reinhard Federmann und Wieland Schmid auch Erich Pogats angehörte. So ist es kein Zufall, daß Oscar Pollak, der in das internationale Komitee des Kongresses gewählt worden war, einen der ersten und programmatisch wichtigsten Bände der Reihe »Europäische Perspektiven« unter dem Titel Der neue Humanismus verfaßte. Sowohl Mitglied des Herausgeberkomitees der »Europäischen Perspektiven« als auch Verfasser eines eigenen Bandes war Ignazio Silone, der seit November 1950 dem Exekutivkomitee des Kongresses angehörte. Die beiden ebenso unkonventionellen wie herausfordernden Bücher des bedeutenden rumänischen Kulturkritikers Emile M. Cioran, die Pogats in seiner Reihe brachte, waren von François Bondy, einem der aktivsten Mitarbeiter des Kongresses ins Deutsche übersetzt worden. Von größter Bedeutung war aber zweifellos die Betreuung des Werks von Manès Sperber, die Pogats gleichfalls Wolfgang Kraus anvertraut hatte. Sperber war ebenso wie Silone Mitglied des kleinen und ausschlaggebenden Exekutivkomitees des Kongresses. Kraus hat für den »Europa-Verlag« von Pogats sowohl Sperbers frühen Essayband Sieben Fragen zur Gewalt, wie auch eine Neuauflage seiner großen Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean und seine drei autobiographischen Erinnerungsbände herausgegeben. Darüber hinaus <?page no="157"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 145 hat er auch noch eine Festschrift für Sperber unter dem Titel Schreiben in dieser Zeit ediert. 3 Außerhalb der Tätigkeit von Kraus hat der Europa-Verlag von Pogats vor allem auch die große Romantrilogie Arthur Koestlers, Die Gladiatoren, Sonnenfinsternis und Ein Mann springt in die Tiefe gebracht und später auch das letzte Buch Koestlers, jenen letzten autobiographischen Band, an dem er gemeinsam mit seiner Gattin Cynthia bis zu seinem Tod geschrieben hatte, Auf fremden Plätzen. Später wurde auch der Beitrag Koestlers zu dem Sammelband Der Gott, der keiner war allein unter dem Titel Das rote Jahrzehnt gebracht. Erich Pogats ist auch selbst als Übersetzer aus dem Amerikanischen hervorgetreten. Zuerst hat er Mark Twains köstliche Satire Ein Yankee am Hofe des Königs Artus übersetzt, in welcher der Autor aus Missouri aus der Haltung des Grenzers und der amerikanischen Gründermentalität heraus sich über die alte Welt lustig macht. Sodann hat er aber auch eine Auswahl von Erzählungen Edgar Allen Poe’s unter dem Titel Unheimliche Geschichten übertragen. Poe war der erste amerikanische Erzähler der dunklen Seiten der menschlichen Seele, des Morbiden, des Niedergangs und des Grauens. 4 Dabei war die Kunsttheorie Poe’s jener von Pogats zumindest in einem Punkt verwandt. Denn Poe hatte die Forderung nach »totality or unity of effect« erhoben, was abgesehen von den Lesern die Totalerfassung des Gegenstandes implizierte und abgesehen von den poetisch technischen Mitteln ein rigoroses Wahrheitsstreben beinhaltete. Die beiden Romane von Pogats, sein literarisches Hauptwerk, erfüllen durchaus jene Forderung. Der erste von ihnen spielt in einer Umwelt, die er aus seiner eigenen Jugend sehr gut kannte: Der Raum ist das Wiener Becken in der Umgebung Schwechats und die Zeit sind die frühen Dreißigerjahre. Der engere Schauplatz aber ist ein großer Gutshof mit vielen Landarbeitern und den Menschen, die deren Leben bestimmen vom Gutsverwalter bis zum Postenkommandanten der Gendarmerie. Der Hauptheld schließlich ist einer der Söhne der bitter armen Landarbeiterfamilie Tarnowski, Ladislaus Tarnowski, gerufen Lado, »ein schwerfälliges, störrisches Tier in Menschengestalt«, Lado der Schweigsame … der Prahler … der Sanftmütige … der Grausame …« 5 Lado ist so gezeichnet, daß er weitgehend stellvertretend für die ganze Familie Tarnowski, ja für alle Tarnowskis dieser Welt steht, für alle die »Hungrigen … Bösen … Sündigen … erbarmungslosen Tiere in Schmutz und Unrat, den 3 Mitarbeiter dieser Festschrift waren unter anderem Jean Améry, François Bondy, Pierre Emmanuel, André Malraux, Carlo Schmid, Friedrich Torberg und Elie Wiesel. 4 Mark Twain: Ein Yankee am Hof des Königs Artus. Wien - Frankfurt 1953 und Edgar Allen Poe: Unheimliche Geschichten. Frankfurt - Wien 1957 5 Erich Pogats: Licht in der Nacht. Wien 1952, S. 8 <?page no="158"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 146 Wölfen unter den Menschen«, die, so lange man zurückzudenken vermag, die »ewig dunkle Drohung gegen unsere gerechte menschliche Ordnung« dargestellt haben. 6 Trotzdem ist es über den Typus hinaus die einmalige Individualität Lados, die er durch dessen innere Monologe bis in den letzten Winkel der Seele ausleuchtet und die er so in den Vordergrund stellt, daß es Pogats’ Kunst gelungen ist, das Los aller Tarnowskis dieser Welt anschaulich zum Leben zu erwecken und in das Bewußtsein des Lesers zu heben. Die Beschreibung des auktorialen Erzählers der »erbarmungslosen Tiere in Schmutz und Unrat« stellt einen wirksamen Kontrast zur minutiösen Beschreibung von des Helden Innenleben dar, durch welche sie so weitgehend relativiert wird, daß sie einen manches Mal ironischen, zumindest jedoch ambivalenten Charakter annimmt. Wie aber die Tarnowskis der Welt den negativen Aspekt darstellen gegenüber den »Helden … Guten … Barmherzigen, denen die niemals sündigen« - man beachte die bittere Ironie - als positiven Aspekt und notwendigen Gegensatz, ohne welchen das Ganze nicht existieren könnte, so hat auch das durchgehende Hauptmotiv des Romans, das ihm den Titel gab, das »Licht in der Nacht«, sowohl einen positiven wie auch einen negativen Aspekt und es ist sein negativer Aspekt, der Lado zum Schicksal seines jungen Lebens wird. 7 Vielleicht hängt das damit zusammen, daß Lado, da er den negativen Aspekt des Menschen, den Aspekt der Tarnowskis repräsentiert, vor allem auch den negativen Aspekt jenes Lichts in der Nacht erblickt. Dieser negative Aspekt stellt jenes Licht in der Nacht dar, welches wie eine »goldene Ampel« über der relativ nahen Großstadt Wien zu sehen ist, wo sich die zahlreichen angezündeten Lichter zu einem glassturzähnlichen Schein über dem Häusermeer zusammen schließen: »Wie ein Ofen muß diese Stadt sein, über der das Licht in der Nacht hängt; so heiß wie Lados Gier und Leidenschaft, so groß, wie seine brennende Sehnsucht nach einem Leben, das er nicht kennt … und das die Erfüllung aller seine primitiven Wünsche in sich tragen würde.« 8 Der zweite, positive Aspekt des »Lichts in der Nacht«, der am nachdrücklichsten am Schluß des Romans in der inneren Wandlung des Charakters des Rechtsanwalts Dr. Franz Havelka zutage tritt, ist kein warmes Licht, wie die »goldene Ampel« über der Stadt, sondern ein kaltes jedoch helles und erleuchtendes Licht, das auf die stille Einsicht und auf das Ziel des harmonischen Friedens einer Gemeinschaft freier Menschen verweist, frei von Hunger und Angst. Es ist am Rande interessant zu vermerken, daß der negative Aspekt ei- 6 Licht in der Nacht, op. cit., S. 5 7 Licht in der Nacht, op. cit., S. 7 8 Licht in der Nacht, op. cit., S. 8 <?page no="159"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 147 nes »warmen Lichts« und der positive Aspekt eines »kalten Lichts« auch im Tibetischen Totenbuch zu finden sind, welches Pogats zur Zeit der Abfassung des Romans bestimmt nicht gekannt hat. Aber es gibt nicht nur eine solche gleichsam archetypische Erkenntnisahnung in diesem Roman, sondern die Sensitivität oder Intuition oder wie immer man manche Ergebnisse des dichterischen Wahrheits- und Erkenntnisstrebens auch nennen möchte, sind zumal für ein Erstlingswerk oft überraschend tief, etwa im Hinblick auf die psychologische Entwicklung des Helden Lado oder aber auch im Hinblick auf massenpsychologische Phänomene wie etwa die Konfrontation des Gutsverwalters mit den beiden feindlichen Gruppen der heimischen und der slowakischen Gastarbeiter. So gesellt sich eine wesentliche dichterische Erkenntnisahnung zusätzlich zur Haltung des Eintretens für Toleranz und Freiheit zu den wichtigen Seiten dieses Romans. Schließlich besteht der hohe Wert dieses Romans aber auch darüber hinaus in dem Umstand, daß die unendliche, bittere Armut dieser Landarbeiter nicht durch die Darstellung einer ideologiekastrierten Pseudorealität einsichtig gemacht wird, sondern durch eine nüchtern-sachliche Beschreibung. Dazu trägt gewiß auch die eigene Erfahrung des Autors in einer solchen Umwelt bei, doch spielen darüber hinaus auch der Wille und die Fähigkeit zur Wahrheitserfassung eine Rolle. Pogats entwickelt eine Haltung, die man als eine Art Wirklichkeitsfrömmigkeit bezeichnen könnte, welche selbst das Negative der Umwelt und Schöpfung nicht ablehnend haßt, sondern akzeptiert. Im Unterschied zum Kitsch, der auf künstliche Beschönigung oder Verteufelung hinausläuft, besteht die Lösung hier im schlichten Hinweisen auf die jeweilige Faktizität. Die dargestellte Gegenständlichkeit beschwört wirklichkeitsgetränkte, echte Erinnerung jener Zeit des Romangeschehens von der »Schichtseife« über die Zigarettensorte »Film« über die »Kronenzeitung« bis zu der im Winkel des elterlichen Schlafzimmers ausgebreiteten, alten, muffigen Steppdecke, auf welcher Lado schläft und bis zum verbotenen Kopf- und Adler-Spiel. Durch solch detaillierte Realitätsschilderung wird echte Wirklichkeit sichtbar. Seine Mutter hätte ihn keineswegs vergessen, heißt es von Lado, aber das Elend hatte ihn eine dunkle Seite entwickeln lassen, so daß er davon nichts wissen will. Er weiß, daß in der Mutter Herz sein kleiner, wehleidiger Bruder Stani ebenso eingeschlossen ist wie sein großer Bruder Juro. Die Mutter kann aber Lado nicht finden, weil er selbst »ohne Liebe ist, weil Lado nur Haß und Grausamkeit kennt.« 9 9 Licht in der Nacht, op. cit., S. 112 <?page no="160"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 148 Der Roman von Lado ist der moderne Roman eines negativen Helden. Er hat sich entschlossen, den negativen Aspekt des Lichts in der Nacht zu sehen. Er folgert daraus, daß er selbst so klein ist, so armselig, so ohne Kraft und Selbstvertrauen wie der klapperdürre, langhaarige Hund Prinz, dem man einen Knochen hinwirft, den keiner mehr will: »Darum ist er, Lado, »der Grausame … Darum wird er sich rächen, fürchterlich und ohne jedes Erbarmen. Darum wird er sich rächen, für alles Unrecht, das ihm angetan worden ist, das jedes Wort, jeder Blick, jede Tat für ihn bedeutet.« 10 Wie bitter aber die Armut der Landarbeiter auch sein mag, der Autor differenziert auch dies, indem er Menschen von noch tieferer Armut und noch größerer Ausgesetztheit vorführt in Form einer Gruppe von Zigeunern, die in der Nähe des Gutshofes eine Nacht ihre Wagen abstellen und ein Nachtlager aufschlagen dürfen. Sowohl die permanenten, ansässigen Landarbeiter wie auch die Saisonarbeiter aus der Slowakei sind getrieben von Neugierde zu den Zigeunern hinaus gepilgert. Zunächst hören sie sich die Lügen des jungen Zigeunerburschen Bela an, der behauptet, reich zu sein. Da sie ihn alle auslachen, ist es kein böses, sondern ein herzliches Lachen, denn sie alle, die armen Hofleute und die noch ärmeren Slowaken spüren, daß sie diesen verlogenen, prahlerischen Bela und alle anderen Zigeuner jederzeit verjagen und niederschlagen könnten. Es ist jenes Gefühl der Sicherheit, das sie bestärkt, und von dem der auktoriale Erzähler eröffnet, daß es ihnen erlaubt, gut und edel zu sein. Denn nur dieses Gefühl der Sicherheit, das sie über alle erhebt, die es nicht haben, machte alle »die Tarnowskis« für diesen einen Abend gut und edel. Als Bela genötigt wird, die beiden Zigeunerinnen zu zeigen, die seine Frauen sind, erweist es sich, daß die Alte von den beiden trotz der noch tieferen Armut eine noch stärkere, im Irrationalen wurzelnde Kraft innerer Sicherheit besitzt, welche den Hofleuten fremd ist und die sie brennend interessiert: Sie kann wahrsagen. Unter den Hofleuten aber stellt sich als Freiwillige, die ihre Hand zum Wahrsagen hinhält, die junge, hübsche Klara Gozki zur Verfügung, die mit allen schläft und die von Lado aus der Ferne geliebt wird. Lado, der neben Klara steht, fühlt wie kalter Schweiß aus seiner Hand ausbricht, ob der Spannung, was die Zigeunerin prophezeien wird. Die Zigeunerin sieht auch sofort, daß Klara viele Liebhaber hat und viele liebt. Sie prophezeit ihr, daß sie wahrhaft aber nur einen lieben würde, der lange nicht zu ihr kommen, zuletzt aber auftauchen würde, um sie reich und glücklich zu machen. Und sie spricht sogar von dem Feuer, das in jeder Nacht brennt, sogar auch dann, wenn Klara es nicht sehen kann. 10 Licht in der Nacht, op. cit., S. 112 <?page no="161"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 149 Lado, der später in der Nacht allein Wache hält, damit die Zigeuner nicht die Hühner der Tarnowskis stehlen können, blickt in das Licht in der Nacht, das über der Stadt hängt und das ihm Verheißung zu bedeuten scheint. Er glaubt daran, daß er einmal reich sein wird, dann wird Klara ihm gehören und er wird sie heimführen in das Licht der Nacht, »mitten hinein in den glühenden, roten Schmelzofen, in dem es warm und gut sein muß.« 11 Mehrere Wochen später bricht Lado plötzlich auf, enthemmt durch seine Fieber-Phantasie des Lichts, um Klara in der Nacht im Bett aufzusuchen. Er hastet in das Haus ihres Dienstherrn, des lokalen Gastwirts. Die riesige Laterne über der Nacht der nahen Donaustadt hatte ihr Licht zu Lado und allen Tarnowskis geschickt, die es angezündet hatten: »Für Lado ist das Licht in der Nacht ein Ofen, in dem es warm und gut ist, wo fünf Schilling«, die er besitzt, da er sie im Kopf- und Adler-Spiel gewonnen hat, »sechs Paar Würstl mit Senf« kaufen können, Klaras Lieblingsspeise und wo diese fünf Schilling »der nackte und glatte Körper der kleinen, schwarzhaarigen Klara Gozki sind.« 12 Lado findet in der Dunkelheit die Türe zu Klaras Zimmer im Gasthof, hört hinter der Tür Geräusche, stößt sie auf und findet den Wirt und Dienstgeber Klaras bei ihr im Bett. Der Wirt hält ihn für einen Dieb, stürzt sich auf ihn, schlägt auf ihn ein und wird von Lado mit seinem Taschenfeitel erstochen. Aber gerade in der Katastrophe und durch sie glimmt eine neue Erkenntnis in Lado auf. Da der Postenkommandant der Gendarmerie ihn verhaftet, schreit seine Mutter auf in Liebe um das gefährdete Kind. Lado hält sich die Ohren zu, um es nicht hören zu müssen, und muß dabei doch auch sehen, was er bisher nie gesehen hat: wie der kleine Strani sich an die Mutter drängt und der große starke Juro seinen Arm um sie legt und eine wirkliche erste Ahnung von Liebe geht ihm auf. Sogar der Rayonsinspektor Kuppelwieser, der ihn verhaftet, hat plötzlich Mitleid mit einem Totschläger. Vollends aber entdeckt Lados Anwalt, Dr. Franz Havelka, der doch immer schon mit den Tarnowskischen Schicksalen befaßt gewesen ist, plötzlich durch seine Verteidigung Lados den wirklichen Sinn und das bedeutet den positiven Aspekt des Lichts in der Nacht. Ausgelöst durch Lados trauriges Schicksal identifiziert er sich mit den Erniedrigten und Beleidigten, den Unterdrückten und Versklavten, und erkennt dadurch, worum es bei diesem Licht wirklich geht, das in der Nacht der Verzweiflung ein Zeichen der Hoffnung auf ein mögliches Ende dieser Verzweiflung darstellt. »Ja, schaut mich nur an, mich, den Herrn Dr. Franz Havelka«, heißt es in der stummen Form inneren Monologs, der 11 Licht in der Nacht, op. cit., S. 59 12 Licht in der Nacht, op. cit., S. 242 <?page no="162"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 150 jetzt plötzlich, am Schluß, nicht mehr der Monolog des beschränkten Lado, sondern wörtlich wie auch sinnbildlich jener seines »Anwalts« ist, »mich, Lados Bruder.« 13 Eine Fülle an epischer Darstellung des Lebens Lados und aller Tarnowskis ist zwischen den Polen des Wahrsagens der Zigeunerin und der Erleuchtung des Dr. Franz Havelka eingebettet und manchmal auch breit ausgeführt, wie anderes auch oftmals nur kurz angedeutet, wenn nicht ganz ausgespart wird, wie etwa Details aus dem Februar-Aufstand des Jahres 1934, die das Ganze in einer Art Propaganda-Reportage hätten absinken lassen können. Aber die Welt der bitteren Armut der Landarbeiter und ihrer oft dummen und bösen, oftmals aber auch weisen und gütigen Reaktionen darauf, sie werden lebendig: wie etwa der oft betrunkene Rudl Karlmann seine Frau und Tochter prügelt oder andererseits, wie Lado den kleinen toten Franjo nach Hause trägt, der beim Stehlen von Zwetschken vom Baum zu Tode stürzte. Anschaulich und mit großer Scharfsicht wird geschildert, wie sich einmal die einen Unterdrückten, die ansässigen Landarbeiter, gegen die anderen Unterdrückten, die slowakischen Saisonarbeiter, wenden. Und wie der kluge und kundige Gutsverwalter um des Friedens willen, zu deren eigenem Besten wie zu jenem des Guts beide Gruppen zu befrieden versteht. Diese Darstellung mit ihren psychologischen Einblicken erinnern fast an Hermann Brochs Roman Der Versucher, der ähnliche und oft subtile massenpsychologische Probleme am Beispiel des Bewohner eines Tiroler Alpendorfs anschaulich gemacht hat, so wie sie hier am Beispiel der Menschen eines Gutshofs im Wiener Becken illustriert werden. 14 Darüber hinaus gibt es mitunter auch Stellen von großer poe- 13 Licht in der Nacht, op. cit., S. 260 14 Nicht nur die Spannung zwischen den Mächtigen, welche Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten vergeben können und den Unterdrückten, sondern auch Spannungen innerhalb der Reihen der Ohnmächtigen, von denen sich manche auf Seiten der Unterdrücker schlagen, sind lebendig dargestellt und sine ira et studio analysiert. Pogats vermeidet fast grundsätzlich die Nennung der Namen der politischen Parteien der Zeit, da es ihm nicht um parteidoktrinäre Stellungnahmen, sondern um die dichterische Behandlung menschlicher Probleme geht. Lediglich wenn einmal gezeigt wird, wie sich aus den sozialen Spannungen als bösester Ausweg und Abweg die Hoffnung auf Hitler geäußert wird, stellt er klar, daß hier vom »Führer« gesprochen wird, »der es ihnen schon zeigen wird.« Obwohl es sich um einen Roman handelt und obwohl er sehr viel weniger Raum zur Verfügung hat, tritt die objektive Ganzheit des Geschehens in Form wahrhafter und überzeugender Darstellung hier besser zu Tage als in dem dicken, quasi-historischen Wälzer von Gottfried Karl Kindermann Österreich gegen Hitler, München 2003, der vielfach nur - wenngleich belegte - Teil- und Halbwahrheiten liefert und kaum wirklich in eine Reihe mit Hans J. Morgentau und Henry A. Kissinger gestellt werden kann, was er in seinem Vorwort versucht. <?page no="163"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 151 tischer Schönheit und Trauer, wie etwa jene, da Lado den kleinen toten Franjo auf seinen Armen nach Hause trägt, an den Wohnungen der slowakischen Gastarbeiter vorbei, die um einer ganz anderen Trauer, jener des Heimwehs willen, ihre melancholischen Lieder singen und unbewußt einen stimmungsmäßig erschütternden Rahmen der Schmerzes rings um dieses Bild errichten, da die Worte ihres Liedes auch wie gezielt auf den kleinen Franjo passen: Meiner Jugend Jahre ohne Schönheit waren, meiner Jugend Zeiten waren ohne Freuden, waren ohne Freuden. Es ist ein Bild von größter dichterischer Prägekraft, nicht zuletzt auch darum, weil Lado ursprünglich voll von Zorn zu den Zwetschkenbäumen gekommen war, um den kleinen Sünder Franjo zur Verantwortung zu ziehen, den er nun, liebevoll an sich gepreßt, heim trägt. Pogats gelingt es durch seine Kombination von modernen Techniken wie der erzählten Rede und des inneren Monologs mit Passagen eines auktorialen Erzählers einen überaus lebendigen Stil zu schaffen. Dazu kommen noch Vorausblendungen und Motivverkettungen wie etwa des wiederholt erwähnten grünen Taschenfeitels von Lado, der zuletzt seinen Weg in den Körper des erstochenen Gastwirts findet, von ähnlicher magischer Kraft wie die zugespitzte Feile, die den Charakter des Wassertrum in Meyrinks Golem treffen wird. Den Vorausblendungen stehen Rückblendungen gegenüber wie etwa jene des verdienstvollen Oberschweizers Vargas Antal, der sich in seiner Erinnerung seiner frühen Tage als Führer der unterdrückten Arbeiter entsinnt, da er noch ein Held gewesen war, auf dem hundert Augen geruht hatten, und der nun schließlich von einem Herrn aus dem Ministerium einen Orden erhalten hat. Beim Warten auf die Feuerwehrkapelle, die sich verspätet hat, um ihn zu feiern, greift er beim Hören der ersten Marschklänge nach der Medaille und erliegt einem Herzschlag. Es ist ein anderes jener dichterischen Bilder, die gleichzeitig mit plastischer Bildhaftigkeit der Außenwirklichkeit sinnbildlich tieferen, inneren Sinn verbinden. Eine Meisterleistung ist auch der Perspektivwechsel gegen Ende des Romans. Nachdem fast den ganzen Roman hindurch - mit auktorialen Erzählpassagen als Ausnahme - aus der Perspektive Lados erzählt wurde, wechselt gegen Ende die Perspektive plötzlich hinüber zu jener des Anwalts Dr. Franz Havelka. Es ist sehr viel eindrucksvoller, wenn die »Saga von Lado« weder von diesem selbst, noch vor einem auktorialen Erzähler zur letzten Schlußfolgerung gebracht wird, sondern durch die verlebendigende Technik des inneren Monologs eines anderen, »außenstehenden« Charakters und zumal eines solchen, der im Helden soeben seinen »Bruder« entdeckt hat. Dies wirkt auch darum machtvoller, da der <?page no="164"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 152 Roman dadurch über das beschränkte und konkrete einmalige Geschick Lados weiter hinaus ins Allgemeine verweist. Galt der erste Roman von Pogats der Unterdrückung der Freiheit im Inneren eines Landes, nämlich Österreichs, so gilt sein zweiter Roman einer noch sehr viel bösartigeren Unterdrückung der Freiheit von außen her, nämlich der Unterdrückung der Tschechischen Republik durch die Schergen Hitlers, dem er den Titel Ihr zwingt die Flüsse nicht gegeben hat. 15 So hat auch der zweite Roman ganz wie der erste keine großen historischen Persönlichkeiten zu Helden, sondern kleine Leute, in diesem Fall die Mitglieder einer Widerstandsgruppe gegen Hitler in Prag in den Jahren 1939 und 1940, als der tschechische Teil des Landes unter dem Namen »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« praktisch ein Teil Hitler-Deutschlands geworden war. Die Helden des Romans »gehören dem Chor aus der Statisterie« an, wie ein Kritiker richtig bemerkte, »die allemal zu den Inszenierungen der Großen herangezogen wird, die deren Inszenierungen realisieren hilft und sie unter Umständen zum Debakel werden läßt.« Manche der Choristen glauben an ihre Eigenständigkeit, weil sie selber singen dürfen. Aber andere durchschauen, daß sie keineswegs eigenständig sind und einige wenige weigern sich sogar, sich zwingen zu lassen: diese sind hellhörig, sie sehen in den Zuschauerraum und hinter die Kulissen. Verschiedene Motive können den Anstoß dazu geben, doch »Ideologien werden dabei selten - und in der Regel nur vordergründig - eine Rolle spielen.« 16 Wie aber im ersten Roman der Charakter Lados für alle Tarnowskis steht, so fällt diese Rolle im zweiten Roman dem Charakter des jungen tschechischen Studenten Jiři Tuma zu, der allerdings kein negativer, sondern ein überaus positiver Held ist, wenngleich kein papierener Idealheld ohne Fehl und Schwächen, sondern ein sehr menschlicher Held, der bei aller Intelligenz und allem Mut auch Augenblicke der Angst und des Zweifels kennt. Die Handlung des Romans setzt mit der dramatischen Flucht Jiři Tumas aus seinem Heim in der Studentenkolonie Dejvice bei Prag ein. Er flieht vor der Gestapo, die in der Nacht eine Razzia auf die Studentenkolonie veranstaltet hat, da die Studenten am 28. Oktober, dem Tag der Tschechischen Republik, auf dem Prager Wenzelsplatz eine große Demonstration veranstaltet hatten. Die Flucht ist nicht nur durch den inneren Monolog des Helden spannend erzählt, sondern dieser Monolog ist zugleich auch ein Kabinettsstück psychologischen Einfühlungsvermögens. Denn er veranschaulicht in lebendiger Weise 15 Erich Pogats: Ihr zwingt die Flüsse nicht. Zweite Auflage, Wien 1971. Wie in der Erstauflage des Romans, Stuttgart 1957, wurde auch hier »die Namensschreibung des Bedürfnissen des deutschsprachigen Lesers angepaßt«, wie es auf Seite 265 heißt. 16 Hugo Pepper: Nachwort. In: Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 261 f. <?page no="165"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 153 wie er zwischen verzweifeltem Resignationsdrang einerseits und dem Mut zur Hoffnung andererseits schwankt. Im Pyjama, barfuß, doch wenigstens mit einem dünnen Mantel bekleidet, stürmt er durch die menschenleeren, nächtlichen Straßen Prags. Sein Ziel ist es, die Moldau zu überqueren und jenseits des Flusses, in der Altstadt, bei seiner Großmutter Zuflucht zu suchen. Als er sich aber der Manesbrücke nähert, kommt ihm auf der hell erleuchteten Brücke ein SS-Mann entgegen und da er halb unbekleidet sofort Verdacht erregen würde, flüchtet er sich in die Dunkelheit unter die Brücke, direkt am Wasser des Flusses. Damit klingt zum ersten Mal das Leitmotiv des ganzen Romans auf: der Fluß, der wie »Heimweh« ist, »lockender Friede«. Und so liegt der Flüchtling eine »Ewigkeit« am Wasser, hier am Fluß »frei von Unruhe, Furcht und Qual und Bitterkeit«. Immer wieder wird das Motiv des Flusses, der Moldau, aufklingen: Wenn Jiři seine geliebte Jitka in die Arme nimmt und zum ersten Mal küßt, liegt Prag mit der Schleife der Moldau in der Farbe matten Silbers unter ihnen. Wenn der Gestapo-Chef Dr. Forst die unverständlichen Aufzeichnungen eines ermordeten Gestapospitzels zu entziffern versucht und sich fragt, weshalb dieser wohl auf die andere Seite der Moldau gegangen war. Wenn die Ärztin Zdenka Tolorova in einem Angsttraum hinunter an die Moldau stürzt. Wenn Pavel Kleiner aus Angst vor der bevorstehenden Verhaftung seinen letzten Ausweg im Freitod in der Moldau Wellen findet. Wenn nach dem Auffliegen der kleinen Widerstandsgruppe der alte Milchfahrer Tomas Hrdina Jiři Tuma an der Moldau erwartet, um ihn zu retten. Und wenn schließlich zuletzt Jiři bei Tomas im Wagen und in Sicherheit sitzt und dieser während der Fahrt auf den Fluß zeigt, der tief unter ihnen liegt. In diesem letzten Fall ist der Fluß Sinnbild der großen kosmischen Ordnung der Natur gegenüber welcher auch die größten Erfolge menschlicher Ideologieverdummung und Machtwahns auf Dauer zum Untergang verurteilt sind, wie viele Opfer jene auch verschlingen mögen. Auch drei der sieben Mitglieder der Widerstandsgruppe, welche Jiři nach seiner Rettung aufgenommen hat, werden zu solchen Opfern. Es ist ein Mitglied der Gruppe selbst, welche die Verräterin ist, Zdenka Tolorova, die Vasa Ostry vor die Pistolenläufe der Gestapo lockt, die Pavel Kleiner in die Wellen der Moldau treibt und die Bronislav Laholik an den Galgen bringt. Wie Pogats in seinem ersten Roman die Umwelt seines Helden trotz all ihrer Traurigkeit in geradezu liebevoller Kleinmalerei beschworen und zu erstaunlichem Leben erweckt hat, so tut er dies auch mit Jiřis Umwelt in Prag. Er hat diese Stadt, ihre Menschen und deren Probleme, ja er hat die gesamte Atmosphäre von Prag im Jahr 1939 in einer Weise vor dem Leser aufgebaut, wie dies nur jemand tun konnte, der dies alles aus eigener Anschauung gekannt und gut gekannt hat, was auch auf den Autor zutrifft. Aber diese großartige atmo- <?page no="166"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 154 sphärische Erfassung gelingt nicht zuletzt deshalb so gut, weil sie nicht in naturalistischer Äußerlichkeitsbeschreibung erstickt, sondern weil sie über das mit dem Verstand fest Greifbare hinausreicht. Das beschränkt sich keineswegs auf das Leitmotiv des Romans, der geradezu mythischen Rolle der Moldau als kosmisches Ordnungsprinzip der Natur, sondern Pogats legt manches Mal einen wirklichen Hauch des Poetischen über einzelne Stellen der Ortsbeschreibung, indem er etwa aus der tschechischen Folklore die Märchenfigur des kleinen Honzo mit seiner geflickten roten Hose hereinbringt. Diese Stellen haben zudem noch überdies die Funktion einer Kontrastwirkung gegenüber jenen, in denen Angst und drohende Verzweiflung das Leben der Gruppenmitglieder überschatten. Als etwa Jiři Tuma aus dem Fenster der Tolorova auf die stille Gasse der Mala Strana blickt, da denkt er, es müsse im Sommer hier idyllisch sein, so sehr, daß Honzo aus den hundert Märchen kommen würde, um hier seine Streiche zu verüben. Und auch die Tolovorva flüstert einmal ihrem geliebten Vasa zu, daß in dieser Straße Wunder geschehen: »Sie gehört nämlich Honzo.« Und sie sehnt sich nach dem Zustand, wo alles still und friedlich ist, wie in Honzos Gasse: »Ach, ich weiß gar nicht mehr, wie das ist.« 17 Es ist das Leben unter dem Terror der totalitären Unterdrückung durch die Gestapo, das Mißtrauen, Angst und Depression gebiert, ja das für die Mitglieder der Gruppe geradezu eine Teilung und Spaltung in zwei verschiedene Leben erzwingt, in ein nach außen hin sichtbares und in ein anderes des Widerstands, welches durch niemals endende Ängste und Spannungen beherrscht wird. Jiři Tuma wird nach seiner gelungenen Flucht am Beginn des Romans zunächst von der Ärztin Tolorova versteckt. Da die NS-Verwaltung alle tschechischen Universitäten wegen der Demonstration auf dem Wenzelsplatz drei Jahre geschlossen hat und Jiři ohnehin nicht weiter studieren kann, erhält er sodann eine Anstellung bei einem anderen Mitglied der Gruppe, Pavel Kleiner, dessen Firma Gablonzer Steine verkauft und exportiert. Hier verliebt er sich in eine andere Angestellte Kleiners, die blonde Jitka Kralova. Er entdeckt, daß ein ehemaliger studentischer Kollege, Bedřich Novy, ein Gestapospitzel ist und er plant, ihn zu töten. Gemeinsam mit Jitka wird er in die Widerstandsgruppe aufgenommen, die damit sieben Mitglieder umfaßt. Er erlebt, wie Menschen plötzlich verschwanden und, nachdem sie etwas später ermordet worden waren, die Angehörigen zusammen mit der Todesnachricht den Befehl erhalten, keine Trauerkleidung zu tragen, da man um »Verbrecher« nicht trauert. Als Jiři sich endlich entschließt, den Gestapospitzel zu erschießen und auf ihn wartet, hat kurz zuvor Vasa Ostry das bereits erledigt. Als bald darauf die Gestapo die Tolorova so weit bringt, zu sprechen, zeigt sich der Wahnwitz des Systems 17 Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 177 <?page no="167"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 155 in krassester Klarheit: Pavel Kleiner reflektiert nämlich vor sich hin, daß die Tolorova Vasa noch lieben würde, wenn sein Fluch sie trifft und ihn ihre Gedanken unter den Galgen begleiten würden. Diese Situation tritt jedoch nicht ein, da die Kugeln der Gestapo Vasa auf den Weg zu ihr treffen, um sie vor ihm zu schützen. Pogats läßt seinen Charakter des Pavel Kleiner auch über eine Art Gesamterklärung des ganzen Wahnsinns meditieren, da er denkt, er wisse nicht, »wie viele zu schwach für dieses Leben in der Nacht sind.« 18 Das hängt mit einem der wichtigsten Züge dieses Romans zusammen, nämlich mit dem Zug, daß es keine Schwarz-Weiß-Zeichnungen gibt. Von der Verräterin Zdenka Tolorova heißt es einmal, sie träume in endlosen Stunden der Qual und Verzweiflung davon, daß Vasa sie frei und rein machen, daß er einen Ausweg finden werde. Als sie Jiři versteckt, denkt sie nur einen Augenblick an ihre eigene Sicherheit, ist jedoch dauernd tief bedrückt von der Gefahr, welche dies für Vasa bedeuten könne. Nach dem Besuch des Gestapo-Chefs Dr. Forst bei ihr schildert Pogats über mehr als fünf Seiten die Selbstvorwürfe, die sie sich macht, ihr qualvolles Grübeln, bis ein verzweifeltes Schluchzen ihren ganzen Körper schüttelt. Nicht einmal der Schlaf vermag vorübergehend Erleichterung zu bringen, da die psychisch völlig Erschöpfte von einem Angsttraum verfolgt wird, der ihr Schreckensbilder von des geliebten Vasas Folterung und Tod am Galgen vorgaukelt. Tomas Hrdina, Mitglied der Widerstandsgruppe, sucht selbst in den Feinden noch nach kleinen Merkmalen von Menschlichkeit. Und da die ganze Gruppe schließlich aufgeflogen ist, wird Jiřis geliebte und nun so gefährdete Jitka nicht von einer Tschechin, sondern von einer Deutschen, der Ulrichova, unter Lebensgefahr versteckt und es heißt ausdrücklich, daß man nicht einfach alle Deutschen mit den »Hitlerovci« identifizieren darf. Dieselbe Rolle, welche im ersten Roman auf die Handlung vorausdeutend das Dingsymbol des grünen Taschenfeitels spielt, kommt im zweiten Roman der Pistole zu, welche ein Freund plötzlich Jiři Tuma zusteckt. Hier öffnet sich außerdem in diesem Zusammenhang der Blick auf ein Problem, das im zweiten Roman infolge der größeren existenziellen Gefährdung der Beteiligten noch viel wichtiger ist als im ersten, nämlich der Blick auf die Rolle des »Zufalls« oder Schicksals für den Ablauf der Fabel. Durch das Zustecken der Pistole kommen Jiři die Gedanken, den Gestapospitzel zu erschießen. Dadurch wieder kommt es zur tatsächlichen Tötung des Spitzels durch Vasa. Und dadurch beginnt der Gestapo-Chef Dr. Forst die hinterlassenen Papiere des Spitzels zu studieren, was zur Tolorova führt und schließlich zur Aufdeckung der Gruppe. 18 Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 219 <?page no="168"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 156 Schon als der Spitzel plötzlich in der Ordination der Tolorova auftaucht, reflektiert diese selbst über diesen ›Zufall‹: »Zufälle? Sind es denn Zufälle? Jetzt auch noch? Warum ist dieser Novy, der so weit von mir wohnt, zu mir gekommen? « 19 Und obwohl es in diesem Fall tatsächlich ein »Zufall« gewesen zu sein schien, weiß sie im Grunde, »daß es kein Entrinnen gibt«. 20 So wie der Roman mit der schier hoffnungslosen Flucht Jiři Tumas vor der Gestapo und seiner wunderbaren Rettung durch den alten Milchfahrer beginnt, so schließt sich der Kreis am Ende, da es nach dem Auffliegen der Gruppe wiederum der alte Milchfahrer ist, der Jiři aus seiner zweiten verzweifelten Flucht in Sicherheit bringt. Der Gestalt des »alten Raben«, des alten Milchfahrers, wachsen dabei fast mythische Züge zu. Bevor aber Pavel Kleiner den Freitod in der Moldau der Verhaftung vorzieht, reflektiert er darüber, daß sie nach Anbruch des ersehnten Lebens in Freiheit die Helden feiern und die Schwachen verurteilen werden, daß sie jeden mit dem gleichen Maß messen werden und daß vielleicht gerade diejenigen, die niemals »unser Leben« in der Nacht des Widerstandes gelebt haben, es wägen werden, »gerecht und kalt, mit versteinertem Gesicht«. Und so, wie dem alten Milchfahrer fast mythische Züge zuwachsen, so wächst die Geschichte jener kleinen Widerstandsgruppe in der Tschechischen Republik der Jahre 1939 und 1940 empor zu einem exemplarischen Roman des Widerstands gegen Willkürgewalt und Terror von sinnbildlicher Bedeutung. Spannend und weise, ergreifend und packend, bedrückend und zugleich in tiefer Menschlichkeit erhebend ist dieses Prosaepos des Schreckens, der Ängste und des Mordens, nicht zuletzt aber auch tröstlich, trotz, nein, gerade wegen der gebrachten Opfer. Denn es stellt ganz seinem Titel entsprechend, die Angst und das Leid, den Haß und den Schmerz, die Hoffnung und die Liebe der kleinen - großen - Helden in den gewaltigen, alles umgreifenden Rahmen jener großen, kosmischen Ordnung der Natur, für welche sinnbildlich die Moldau steht, wie diese selbst wieder für »alle Flüsse dieser Erde« steht 21 , als eherne Gewähr, daß »zuletzt die Liebe den Schmerz und den Haß verbrennt und das verheißene, ersehnte Leben geboren wird.« Geboren geheimnisvoll aus dem Dunkel, wie der Fluß, der »strömt und strömt, unaufhörlich, unbezwingbar, bis er den Tag erreicht«. 22 Erich Pogats hat seine Verpflichtung als Verleger sehr ernst genommen. Er arbeitete oft zwölf und mehr Stunden am Tag. Als er 1960 den Förderungspreis der Stadt Wien erhielt, war dies vor allem auch als Ermutigung und Ansporn 19 Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 192 20 Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 177 21 Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 45 22 Ihr zwingt die Flüsse nicht, op. cit., S. 242 <?page no="169"?> Erich Pogats. Erzähler der Menschlichkeit und Freiheit 157 zu weiterem Schaffen gedacht. In den Jahren zwischen 1957 und 1964, in denen ich ihm in Wien ein Freund sein durfte, habe ich ihn wiederholt zu überreden versucht, etwas von der Verlagsarbeit abzugeben und weiter zu schreiben. Er hörte nicht nur zu, er versuchte es sogar. So erzählte er mir, er hätte an einem dritten Roman mit dem Arbeitstitel Kolo zu schreiben begonnen. Der Titel sollte das durchgehende Leitmotiv sein, wie das Licht in der Nacht im ersten und die unbezwingbaren Flüsse im zweiten Roman. Das Buch sollte in Südosteuropa spielen und der Kolo, der Rundtanz der Makedonier, sollte den Tanz des Lebens versinnbildlichen. Aber zuletzt wurde sein Leben von seinem Pflichtgefühl völlig absorbiert. Mein Versuch, etwas über das Kolo-Fragment für dieses Kapitel in Erfahrung zu bringen, ist gescheitert. Aber auch ohne dieses Fragment ist es für mich keine Frage, daß die Zeit des Autors Erich Pogats noch kommen wird. <?page no="171"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen Reinhard Federmann, geboren in Wien am 12. Februar 1923, wurde so ziemlich am Höhepunkt von Hitlers Siegen zur Deutschen Wehrmacht eingezogen und machte die Jahre der verlustreichen Rückzüge und des Niedergangs als kleiner Infanterist mit. Die Beschreibung einzelner Episoden seiner Strapazen und Leiden im Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet durch strenge Wahrheitsliebe bis in letzte Einzelheiten stehen am Beginn seines schriftstellerischen Schaffens. Kriegserlebnisse, die das zentrale Trauma seines Lebens bildeten, hat er in den ersten fünf kleinen Prosastücken des zweiten Buches, das er herausbrachte, in einem nüchtern sachlichen und sehr knappen Stil beschrieben. 1 Er beschreibt hier die Psychose seiner »Angst vor Erinnerung« am Beispiel der Erinnerung an die Fahrt mit einem Leidensgenossen im Zug an die russische Front. Der andere fuhr zu seiner Feldstrafabteilung. Federmann schildert die hoffnungslose Situation des Hungers, des Durstes, der Verzweiflung permanenter Bedrohung unter Verwundeten und Toten eingekesselt von den Russen. In einem anderen Prosastück berichtet er, wie ihm eine strenge, geistliche Schwester im Lazarett einmal ihre Brille geborgt hatte. Eine Verkettung von Umständen - unter anderem der, daß er sich damals unter dem Druck der Verhältnisse zum leidenschaftlichen Kettenraucher entwickelt hatte - führte dazu, daß er die Brille nie wieder zurück erstattete. Sodann gibt es da, auch in der dritten Person erzählt aber eindeutig selbst erlebt, die persönliche Beschreibung eines Konzertcafés in Braunschweig im Jahr 1943, das er als Urlauber besucht hatte. Und schließlich gibt es bis in die letzten Einzelheiten seiner erinnerten Gedanken und Gefühle die Schilderung seiner Gefangennahme durch russische Soldaten, gefolgt von Impressionen des Kriegsgefangenendaseins. Es ist keine Anklage und kein Aufschrei, sondern gleichsam aus epischer Distanz berichtet er vom Hunger und von einem Leben, das nicht »schön« war, »aber archaisch und einfach«. Alles war »selbstverständlich, auch das Sterben, das immer nahe war und jeden Tag kommen konnte, mit dem eisigen Wind, mit der dünnen Suppe, mit den schweren Steinen, und der großen Sehnsucht; und es kam zu vielen.« 2 Dieser zweite Prosaband Federmanns war dadurch zustande gekommen, daß er wie etliche andere junge Autoren nach dem Krieg Hans Weigel im Café 1 Reinhard Federmann: Es kann nicht ganz gelogen sein. Wien, o. J. (1951) 2 Es kann nicht ganz gelogen sein, op. cit., S. 521 <?page no="172"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 160 Raimund getroffen hatte, der sich seiner annahm und den kleinen Band als einen der ersten in seiner Buchreihe »Junge Österreichische Autoren« herausgab. So wurde Federmann auch Mitherausgeber des ersten Bandes der anderen Buchserie Weigels »Stimmen der Gegenwart«, die im Auftrag der Gesellschaft für Freiheit der Kultur erschien. Wie Federmann auch Mitglied des österreichischen Vorstands der Jugendsektion des »Kongresses für Kulturelle Freiheit« gewesen ist, dem jene Gesellschaft mit angehörte. Auch wurde er zum Mitherausgeber des ersten Bandes von Rudolf Felmayers parallelen Anthologie-Bänden »Tür an Tür«, welche ebenfalls junge Autoren förderten. Seine Erfahrungen als Landser im Rußlandkrieg, die ihn zum erbitterten Gegner Hitlers gemacht hatten, führten dazu, daß er all seine Hoffnung und all seinen Einsatz in die Waagschale der Freiheit warf. Dies war die brennende Motivation nicht nur zu seinen eigenen Büchern, sondern eben auch zu einem ungewöhnlichen Engagement im Literaturbetrieb. Hierher gehört auch die Polemik »NS-Parnass aus Österreich«, die er gemeinsam mit Milo Dor 1952 für den Hessischen Rundfunk verfaßte. Sofort nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft hatte er sein Programm als Schriftsteller in einer durchaus anspruchsvollen Weise statuiert: »Ein Materialist als Künstler«, schrieb er, »ist ein Paradoxon. Die Mission des Künstlers ist eine rein ideelle.« 3 Ein Materialist ist er auch nie gewesen und steckte konsequenter Weise fast immer in Schulden. Ein grelles Licht auf sein Leben und seine Schulden wirft eine Stelle aus einem Brief an seinen Freund und Schriftstellerkollegen Bertrand Alfred Egger. Es heißt da: »… meine Vorausschau auf 67 sieht besser aus als die Rückschau. Da kann ich dann sogar meine Schuld bei Dir abstottern und, in einer Verlagsstadt wohnend, vielleicht sogar bescheidene Hilfestellung geben. Im Moment habe ich folgendes vereinbart: pro Woche eine 4-Seiten Zeitung für den ehemaligen Verlagsdirektor von Kindler, der sich selbstständig gemacht hat. … Ferner ein Fernsehspiel für Mainz, 1 Hörspiel für Berlin und Köln, Buchverträge mit Kiepenheuer, Desch, Scherz, außer dem alten, zu erfüllenden mit Langen-Müller und Mosaik. Ferner große Rosinen, über die man nicht redet, weil sie nicht untergebracht sind. Augenblicklich mache ich gerade die mit Hakel vereinbarte hakeloide Chagall-Sendung fertig …« 4 Federmann, der in erster Linie Erzähler und Essayist war, hat auch durch Stücke und Hörspiele - manche gemeinsam mit Milo Dor verfaßt - wie Der 3 Reinhard Federmann: Das Recht der Kunst. In: Plan, 1. Jg. (1946), S. 845 4 Brief aus Offenburg, Hildastraße 66 vom 7. 12. 66 an Bertrand Alfred Egger. Der Brief befindet sich im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Unter der Datumseintragung hat Federmann vermerkt: »25 Jahre nach Pearl Harbour.« <?page no="173"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 161 Weg zum Frieden (1949), Narr und Welt (1950), Salto Mortale (1953) oder Freitag 16 Uhr 45 (1955) Geld zu verdienen versucht. Vor allem aber hat er sowohl allein wie ebenfalls gemeinsam mit Milo Dor Sachbücher und sogar Sammlungen von Witzen herausgegeben. Trotzdem hat er es niemals zum wirklichen Materialisten und zu Reichtümern gebracht und nach seinem plötzlichen und raschen Dahingerafftwerden durch eine Krebserkrankung war die Witwe mit einem riesigen Schuldenberg zurück geblieben. Unter den Sachbüchern gibt es übrigens auch sehr interessante und blendend geschriebene wie etwa die von Federmann allein verfaßte Geschichte der Alchimie Die Königliche Kunst (1964). Zumeist genügt ein kurzer Blick auf den Titel, um zu sehen, welche Bücher »wirkliche« Bücher und Literatur sind und welche lediglich um des Geldverdienens geschrieben wurden. Er hat größtenteils die Trennung schon dadurch äußerlich selbst vollzogen, als er für reine Erwerbsbücher ein Pseudonym benutzte. Für die Kriminalromane, die er allein geschrieben hatte, war das Pseudonym Randolph Milis, für jene gemeinsam mit Milo Dor verfaßten Alexander Dorman. Federmann hat am österreichischen Literaturbetrieb nicht nur als Herausgeber, sondern auch als Übersetzer teilgenommen. So hat er aus dem Amerikanischen Jay Richard Kennedys Buch Prince Bart unter dem Titel Der Pakt mit dem Teufel übersetzt. Vor allem aber stammt von ihm die Übertragung aus dem Englischen eines der ganz großen Enthüllungsbücher über die Wirklichkeit des Kommunismus im zwanzigsten Jahrhundert Die neue Klasse (1958) des berühmten jugoslawischen Ex-Kommunistenführers Milovan Djilas. Wie er auch ein Buch des berühmten russischen Erzählers Isaak Babel Petersburg 1918 herausgegeben hat, der ursprünglich selbst Kommunist gewesen war und zuletzt als Opfer der stalinistischen Säuberungen geendet hatte. Auch ein Buch über eine ganze Reihe von russischen Autoren, die Opfer politischer Ermordung geworden waren, hat er unter dem Titel Die gemordete Literatur ediert. Sogar Bücher, die auf den ersten Blick aussahen, als seien sie lediglich des Gelderwerbs und der Massensensation willen geschrieben worden, wie etwa der gemeinsam mit Bertrand Alfred Egger verfaßte Band Raubersg’schichten (1962) stellen Dokumente und Zeugnisse literarisches Engagements dar. Denn dieser Band, für den Federmann selbst die drei ersten historischen Porträts von Räuberhauptleuten verfaßt und für den Egger die darauf folgenden drei ebensolchen Porträts geschrieben hatte, endete mit einer siebenten Abschlußerzählung Federmanns, mit welcher der inhaltliche Schritt zur aktuellen Gegenwart vollzogen wurde: Der negative Held dieser siebenten Geschichte ist ein zeitgeschichtlicher Räuber der damaligen Gegenwart, kein Geld-Räuber, sondern ein Menschen-Räuber im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht <?page no="174"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 162 in Wien, der als Gegenleistung für seine Untaten von den Sowjets Schutz für seinen Zigarettenschmuggel erhält. Dieselben willkürlichsten und gröbsten Verbrechen gegen die Menschenrechte waren bereits zuvor das Thema eines der bekanntesten Romane gewesen, die Federmann gemeinsam mit Milo Dor geschrieben hatte, der bereits 1953 unter dem Titel Internationale Zone veröffentlicht worden war. Auch Federmanns Roman Das Himmelreich der Lügner (1959) ist von demselben Ethos zeitgeschichtlicher Verantwortung getragen. Wie die Romane zweier der bedeutendsten Sprecher für Freiheit und Menschenrechte, Die Verteidiger von Franz Höllering, der eine der prominentesten Stellungen aller österreichischen Exilautoren in den USA im Krieg gegen Hitler eingenommen hatte und wie Der Weg durch das Labyrinth Rudolf Brunngrabers, der an der Gründung des Kongresses für Kulturelle Freiheit in West-Berlin im Juni 1950 als österreichischer Vertreter teilgenommen hatte, so galt auch Federmanns Roman den tragischen Umständen des Februaraufstandes von 1934 in Wien. Federmann besaß zudem noch durch sein Geburtsdatum eine eigenartige innere Affinität zu diesem Ereignis. Sein Roman ist überdies insofern aus der Zeit seiner Entstehung heraus zu verstehen, als Österreichs Freiheit und Unabhängigkeit - trotz des »Staatsvertrages« - durch eine totalitäre Großmacht aus dem Osten, der Sowjetunion gefährdet war, so wie sie 1934 durch eine totalitäre Großmacht aus dem Norden, aus Hitler-Deutschland, gefährdet gewesen war. Federmann schrieb den Roman bewußt nicht als auktorialer Erzähler, sondern er schob einen Charakter seines Romans, Bruno Schindler, vor, der selbst nicht am Aufstand teilgenommen, sondern begonnen hatte, die Biographie eines der Opfer des Aufstandes zu schreiben. Diese Biographie wird in schöner Sinnbildlichkeit niemals abgeschlossen. In der Fabel des Romans ist es die Verhaftung Schindlers, die seinem Plan ein Ende bereitet. Vor allem aber stellt Federmann dem Charakter seines Bruno ein ehemaliges Mitglied der antisozialistischen, »Vaterländischen Front« und dessen Parteilichkeit als Gegencharakter gegenüber. Dies führt zur weisen Einsicht Brunos in eine gewisse Relativierung beider Parteilichkeiten: »Die meisten Thesen, zu deren Anhängern ich mich machen ließ, haben sich zu irgendeinem Zeitpunkt als falsch herausgestellt. Für mich. Das gilt alles nur für mich … es geht nicht an, daß man aus meinem Verhalten Rückschlüsse auf meine Freunde zieht, auf meine Partei, auf meine Landsleute. Das bin nur ich. Wenn ich es bin.« 5 Dies aber führt wieder zu der Überzeugung und Einsicht in die persönliche Verantwortung Brunos, die immer wieder auf ihn zurückfällt sowie auf jeden 5 Reinhard Federmann: Das Himmelreich der Lügner. München 1959, S. 8 <?page no="175"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 163 einzelnen, genau so, wie Broch es in seiner Theorie des Massenwahns beschrieben hat. Von den zahlreichen Romanen, welche das Thema Februar 1934 in Wien behandeln, stellt Federmanns Buch das vielleicht radikalste Gegenstück zum Weg durch den Februar (1935) von Anna Seghers dar. Denn was bei Federmann durch menschliche Weisheit relativiert erscheint, ja was gerade durch den von ihm zugestandenen Subjektivismus zu einem viel wahrhafteren und richtigeren Bild des behandelten Themas führt, dem steht bei Seghers eine dogmatisch behauptete Scheinobjektivität gegenüber, die alles ganz genau weiß. Aber die Genauigkeit dieses »Wissens« ist darum besonders falsch, weil es der Autorin gar nicht um Faktizität und Wahrheit ging, sondern lediglich um die Stützung des kommunistischen Dogmas und seiner Glaubensartikel zu jenem Thema. Manès Sperber, damals selbst noch Kommunist, jedoch als Altösterreicher den Wiener Verhältnissen ebenso nahe, wie Seghers ihnen fern und fremd war, hat sie im Gespräch mit ihr auf die Unhaltbarkeiten hingewiesen. Dabei merkte er jedoch, »wie sehr sie entschlossen war, sich in keinem einzigen Fall von der jeweiligen Parteilinie zu entfernen.« 6 Dies alles gehört unter anderem auch darum hier her, weil nach dem Roman über Das Himmelreich der Lügner in den Siebzigerjahren das praktische Engagement Federmanns als Generalsekretär des österreichischen PEN- Clubs fällt, der kaum jemals vorher oder nachher einen so aktivistischen, wohl informierten und in jeder Weise den PEN-Idealen hilfreichen Generalsekretär gehabt hat und der sich in Fortführung der Einsichten seines eigenen Romans gegen jegliche Gefährdung der Wahrheit und Freiheit durch Parteidoktrin gewendet hat. Ich entsinne mich noch der Umsicht und des Nachdrucks, mit denen er mich in einem einzigen Brief 1975 dazu brachte, trotz meiner Überlastung sofort alles stehen und liegen zu lassen, um Vorbereitungen für die Ankunft des russischen Dissidenten und Exilautors Jurij Mamlejew in den USA zu treffen. Nebenbei charakterisierte er den russischen Autor ebenso knapp wie treffend. Jener berufe sich auf die Tradition Dostojewskis, schrieb er, seine metaphysischen, religiösen, esoterischen Gedanken mündeten in eine Art stenografischen Realismus, der ihn stellenweise an die Petrograder Reportagen Isaak Babels erinnert hätten. Er hat unter anderem zwei der Erzählungen des Russen in seiner Zeitschrift Die Pestsäule abgedruckt. Mich hatte er eben als eine Art Quartiermacher Mamlejews eingesetzt, während jener, wie alle russischen Exilanten, etliche Zeit auf sein Einreisevisum in die USA warten mußte. Da Mamlejew zu jenen Autoren gehörte, die auch im amerikanischen und später im Pariser Exil nicht nur weiter russisch schrieben, sondern in einer fremdspra- 6 Manès Sperber: Bis man mir Scherben auf die Augen legt, Wien 1977, S. 101 <?page no="176"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 164 chigen Umgebung auch hauptsächlich weiter russisch veröffentlicht haben, ist er kein »Haushaltsname« geworden, sondern kann man seine hohe Bedeutung nur bei Fachexperten wie Wolfgang Kasack nachlesen. In die Siebzigerjahre - von 1972 bis 1976 - fällt auch eine andere besonders wichtige literarische Aktivität Federmanns, seine Herausgeberschaft der Monatsschrift für Literatur und Kulturpolitik Die Pestsäule. In diesen Jahren war Ernst Schönwiese Präsident des Österreichischen PEN-Club gewesen und Federmann sein Generalsekretär. Wie aber Schönwiese vor 1938 und nach 1945 seine Literaturzeitschrift von höchster literarischer Qualität das silberboot zur Abwehr und Überwindung des Barbarismus von 1938 herausgegeben hatte, so Federmann seine Zeitschrift zur Abwehr und Überwindung des Barbarismus von 1968. Gewiß gab es gewisse Unterschiede. Da Schönwiese bereits vor der Barbarisierung von 1938 begonnen hatte, konnte er sich einen feinsinnig und edel klingenden Namen für seine Zeitschrift leisten, in welcher er einfach ganz große Literatur wie Musil und Broch veröffentlichte. Federmann begann mit seiner Zeitschrift nach gleich zwei riesigen Barbarisierungswellen. Er konnte nur auf Wirkung und ein Echo hoffen, wenn die Dinge kulturpolitisch direkt beim Namen genannt wurden. Zur Erklärung des Namens der Zeitschrift wurde in jeder Nummer ein Karl-Kraus-Zitat aufs Neue abgedruckt, das lautete: »Hier ist das Herz von Wien und in dem Herzen von Wien ist eine Pestsäule errichtet.« Der Pestbekämpfung sollte sie auch dienen. Wobei es keineswegs ausschließlich um literarische Aktivitäten in Österreich allein ging. Gleich im ersten Heft machte sich Federmann über die »Gruppe 47« und besonders über Böll und Grass lustig. Was das bedeutete, als jene damaligen Literaten nahezu alle wichtigen Feuilletonredaktionen und Literaturabteilungen des Hörfunks fest in der Hand und unter Kontrolle hatten, ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Ein kleines Beispiel dafür ist der Wall des Schweigens, der einige Jahre zuvor sofort rings um den damals erfolgten Angriff von Karl Krejci in der Literaturzeitschrift Wort in der Zeit folgte, in welchem er die Gruppe »altgewordene Public Relations Fanatiker in eigener Sache« genannt hatte. Natürlich brachte Die Pestsäule auch Beiträge über die literarische Tradition Österreichs. Da ist etwa eine ganze Serie über Wiener Literaturcafés von der Jahrhundertwende an und da ist ein Erinnerungsaufsatz von Ernst Schönwiese an das Literaturzentrum Zirkusgasse der Volkshochschule Leopoldstadt, in der vielfach jüdische Hörer seine eigenen Vorlesungen wie die von ihm organisierten Dichterlesungen wiederum von Musil und Broch gehört hatten. Wie es auch keineswegs nur Jurij Mamlejew war, der dort zu Wort kam, sondern eine ganze Reihe literarischer Dissidenten aus den kommunistischen Ostblockstaaten. Einen besonders langen Beitrag gab es zum Andenken an einen der größten Exilautoren aus Osteuropa, Paul Celan. <?page no="177"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 165 Hans Heinz Hahnl schrieb Glossen zur österreichischen Gegenwartsliteratur, die sich später als wertvolles Material für seinen erst 1993 erschienenen, späten Schlüsselroman über die österreichische Literatur Hexeneinmaleins erwies, in welchem er die »68er« mit Spott und Hohn überschüttete und dies in einem anspruchsvollen, nach-Joyceschen modernen Roman von höchster Qualität. Ein Zentrum seiner Attacken nahm dabei die sogenannte »Grazer Autorenversammlung« ein, wie auch Federmann selbst dieser Grazer Gruppe vorwarf, daß sie unbewiesene Thesen lautstark verkündete und damit eine besonders für Nicht-Intellektuelle geeignete Taktik von Demagogie triebe, wie er auch eine von Handke gehaltene Schmährede zur Feier des Österreichischen Staatsvertrags attackierte. Die Grazer Autorenversammlung bestätigte diesen Vorwurf des Nicht-Intellektualismus in ihrer Zeitschrift manuskripte in rührend offener Weise, da sie die feierlich hohe Sprachauffassung von Karl Kraus, die in der Pestsäule hoch gehalten wurde, ablehnte und damit naturgemäß auch den untrennbar mit seiner Sprachtheorie verbundenen intellektuellen Kampf gegen Unwahrheit, Dummheit und Dogma. Abgesehen von dieser Bestätigung schossen aber aus den Seiten der manuskripte Franz Schuh, der später in Hahnls Roman Hexeneinmaleins unter dem Namen Stiefel firmieren sollte, und Ernst Jandl auf die Pestsäule zurück. Hilde Spiel, die sich auf die Seite der Grazer geschlagen hatte, rächte sich dadurch an Federmann, einen der produktivsten und bedeutendsten Autoren jener Jahre, indem sie in ihrem über siebenhundert Seiten dicken Buch Die zeitgenössische Literatur Österreichs, der im Todesjahr Federmanns erschien und in welchem sie auch die schwächste Literatur über Gebühr berücksichtigte, Federmanns Namen einfach hatte totschweigen lassen. Eine besonders interessante und wichtige Stellung in Federmanns Romanschaffen nimmt sein Buch Die Chinesen kommen ein. 7 Er hat diese dichterische Persiflage der chinesischen Version des Kommunismus, des Maoismus, in der Form der fiktiven Memoiren eines »Mitteleuropäers aus den Alpenländern«, sprich, Österreichers, gestaltet. Das Buch ist ein utopischer Zukunftsroman, der nach seinem eigenen Untertitel »aus den Memoiren unserer Enkel - nach dem Untergang des Abendlandes« berichtet, nachdem die hier blau gekleideten Rotchinesen nicht nur einmal, sondern sogar zwei Mal »gekommen« sind und das Land übernommen haben. Es ist ein witzig bitterer, satirischer Roman, dessen Stil daran erinnert, daß sein Autor drei Jahre vor seinem Erscheinen ein Buch mit dem Titel … und treiben mit Entsetzen Scherz über »Die Welt des schwarzen Humors« herausgegeben hat. 8 7 Reinhard Federmann: Die Chinesen kommen. Tübingen und Basel 1972 8 Reinhard Federmann: … und treiben mit Entsetzen Scherz. Die Welt des schwarzen Humors. Tübingen und Basel 1969 <?page no="178"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 166 Außerdem ist das Buch auch als Rahmen-Roman angelegt. Denn die Lebensbeschreibung des Helden und Memoirenschreibers wird auf besondere Weise der Welt bekannt gemacht: In einiger Zukunft treffen sich bei einer Historiker-Tagung in Prag der fiktive Charakter des Professor C. F. Heimsheimer, Ordinarius für vorrevolutionäre Zeitgeschichte an der Universität Pöngjang und Frau Doktor I-dschu-Dschau, Dozentin für verschollene Sprache an der Universität Dallas, Texas. Sie tauschen per Fernschreiber (E-Mail hatte es im Erscheinungsjahr des Romans noch lange nicht gegeben) Gedanken aus über einen »Vorsitzenden« namens Salomo und ein Gedicht »Das Hohe Lied«, das ein »Sekretär« Goethe ins Deutsche übersetzt haben soll. Die Methode erinnert - freilich ins Satirische gewandelt - an den Roman Die Inseln des Doms von Rolf Schott, von dem nicht dokumentiert ist, daß Federmann ihn gekannt hat, von dem aber feststeht, daß Federmanns enger Freund Schönwiese mit ihm befreundet gewesen ist. Sodann übermittelt der Professor der Dozentin drei Blätter mit »authentischen« Berichten über Federmanns Gegenwart, den frühen Siebzigerjahren, die zum Teil im verlogenen Propagandaton der Nazis und Kommunisten gehalten sind, woraus Fräulein I-dschu-Dschau schließt, es wäre ein Glück, daß die chinesische Kulturrevolution mit solchen Dingen radikal aufgeräumt hätte. Sie fragt jedoch an, ob der Professor außer derartig Negativem nicht auch ein Dokument besäße, in dem die Menschen der vergangenen Zeit irgendeine und sei es auch noch so vage Hoffnung geäußert hätten. Als Antwort darauf und damit als ein Zeichen solcher Hoffnung sendet ihr der Professor »die Memoiren eines mitteleuropäischen Generals, die im Augenblick der großen Kulturrevolution abreißen.« Der Mikrofilm mit diesen Memoiren wurde bei einem Leichnam gefunden, wobei es ungeklärt geblieben sei, ob es sich um den Leichnam des Generals selbst oder von jemand anderen gehandelt hätte. Damit setzen die Memoiren selbst ein und damit die Geschichte des unverwüstlichen, durch niemand und nichts umzubringenden, trotz aller Niederlagen immer wieder hoffenden und neu beginnenden Generals, der in der Zeit der großen Kulturrevolution verschwand. Er trug im Laufe seines Lebens viele Decknamen wie Ming, Franz und Päng Päng, doch sein wirklicher Name war Gustav Adolf Schloissengeier, was auf seine Herkunft aus der Alpenregion hinweist. Die große Kulturrevolution aber ist der wirklichen, historischen Kulturrevolution des Maoismus höchst ähnlich, ja gleich, jedoch insofern verschieden von ihr, als die historische Kulturevolution, die 1966 ausgebrochen war, auf China beschränkt gewesen ist, während die »große Kulturrevolution« der Memoiren in der Zukunft, der Zeit von Federmanns Enkeln stattfindet, die ganze Welt umgreift, in welcher die Chinesen nach einer zum ersten Mal gescheiterten nun eine zweite Weltherrschaft aufgerichtet haben. <?page no="179"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 167 Die Memoiren beginnen mit dem Tag, als vierundzwanzig Jahre nach der Zerstörung der gesamten westlichen Zivilisation in kürzester Zeit durch einen Atomkrieg die Chinesen als »Freunde und Helfer« in Wien einmarschieren und den Memoirenschreiber und Helden im jugendlichen Alter zusammen mit einer Handvoll anderer Männer aus einem Flakturm holen, hinter dessen dicken Betonwänden er nicht nur den Atomangriff, sondern auch die folgenden zwölf Jahre mehr vegetierend als lebend überstanden hatte. In den darauf folgenden zwölf Jahren hatten die Chinesen das Wichtigste wieder aufgebaut. Vieles war natürlich so vollkommen zerstört worden, daß es keine Überlebenden gab. Der noch jugendliche Held und spätere General berichtet etwa vom »Volk der Polen«, von dem es jetzt noch drei Dutzend Individuen gäbe. Diese seien vollzählig im Fernsehen der Oberprovinz Europa mit einem reizenden neuen Chor »Noch ist Polen nicht verloren« aufgetreten: »Ein bißchen Optimismus kann man ja immer brauchen.« 9 Besonders hart hatten es die Chinesen, Rußland vom Südosten her zu infiltrieren und zu übernehmen, so daß sie sich vor allem bundesdeutscher Studentengruppen vom Westen her bedienten. Als sich herausstellt, daß der alte Professor Meyer, ein Flakturm-Bekannter des Helden, ein Intellektueller mit etlichem Wissen und Bildung ist, wird er von einer »Kommission«, die ganz wie in der historischen Kulturrevolution Chinas aus einer Rotte von Halbwüchsigen besteht, zum Tode verurteilt und die ganze Alpenprovinz konnte seine Zuckungen in der Gaskammer auf dem Fernsehschirm verfolgen. Der Held, der erst im Flakturm geboren worden war, wird zuerst im Eisenbahnbau beschäftigt, bis er zusammen mit fünf anderen Jugendlichen auf ein Lastauto verfrachtet und in eine Schule gefahren wird. Der erste Satz, den ihnen ihr chinesischer Lehrer, Herr Tse-Kung beibringt, lautet: »Es gibt nur eine Partei: Ihr Lehrer ist Mao.« In der Schule trifft der Held eine ehemalige Schicksalsgefährtin mit dem Namen Isi wieder, die es verstanden hatte, sich trotz Verbots die chinesische Sprache anzueignen. Er lernt von ihr chinesisch und beginnt sodann in einer Schlucht den Widerstand gegen die Chinesen zu organisieren. Als größte Hilfe im Kampf gegen die Maoisten erweist sich dabei die ursprünglich gelehrigste Schülerin Maos, des Helden alte Freundin Isi. Sie ist es auch, die als erste den Begriff »Infiltration« in die Debatte wirft. Es wird beschlossen, daß einer der Gruppe sich von einem Hilfssanitäter zuerst mit Gelbsucht infizieren und sich sodann einer kosmetischen Operation der Augenlider unterziehen lassen soll. Die Wahl fällt auf den Helden 9 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 35 <?page no="180"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 168 als Versuchskaninchen dafür. Worauf dieser im Geist für sich in satirischer Umkehrung ein Mao-Zitat produziert: »Im revolutionären Kampf gewinnen manchmal die ungünstigen Bedingungen die Oberhand über die günstigen Bedingungen.« 10 In derart antikommunistischem Sinn werden des öfteren Mao-Zitate gebracht und nur ein einziges Mal ein Lao-Tse-Zitat. Da der Held nicht das Opferlamm der gewagten Operation sein will, verrät er den ganzen Plan dem einen Chinesen, dem er glaubt vertrauen zu können, Herrn Tse-Kung. Sein Verrat hat Erfolg und da er sich bereits als Denunziant die Sporen verdient hat, wird er zur Schulung als »einheimischer Überwacher« in die nächste Gehirnwaschanstalt geschickt. Mit diesem ersten Schritt beginnt ein Hin und Her von der einen pro-chinesischen zur anderen pro-westlichen Seite, wodurch der ganze Wahnwitz des Totalitarismus aller Zeiten drastisch vor Augen geführt wird. Dabei verläuft die Entwicklung so, daß unzählige Menschen gefoltert, ermordet, hingerichtet werden und natürlich keineswegs nur »Aktivisten«, sondern kaum weniger unschuldige Außenseiter. Der Held entwickelt sich nach jenem ersten Schritt auf die schnellste Weise in einen Meister der Spionage und Gegenspionage, der Infiltration, der Überlistung, der erfolgreichen subversiven Aktion. Kaum ist er nach »Schulterschluß« als »Berater« für die Bauleitung einer neuen Stadt eingesetzt, wo alle vor dem einzigen »chinesisch Approbierten« zittern und katzbuckeln, da beginnt er auch schon mit der Gründung von Widerstandszellen gegen die Chinesen, dieses Mal in einer sehr viel besser durchdachten und klüger organisierten Weise. An seine Mitverschworenen beginnt er die erste, einführende Ansprache stets mit den Worten: »Meine lieben Abendländer, Kameraden, Erbauer der Vergangenheit! Schwer ist die Aufgabe, die vor uns liegt. Gefährlich. Praktisch undurchführbar. Laßt uns also zu ihrer Durchführung schreiten.« 11 Er lehrt seine Mitverschworenen den rechten Weg, überzeugte Maoisten bei der Obrigkeit zu denunzieren und dadurch unschädlich zu machen. Er lehrt sie auch, in den Gehirnwaschanstalten sich zwar den Körper und Geist durchwalken zu lassen, jedoch ihre Seele sauber zu halten, was darum nicht schwer war, da die Maoisten an keine Seele glaubten. Von einem schlauen Kadermitglied wird er überlistet und soll selbst verhaftet werden. Obwohl es ihm gelingt, die Beweise für seine Schuld abzuleugnen, wird er kurz darauf seines Postens enthoben. Er wird als Einpauker zum 13. Gebirgsjägerbataillon der Vierten alemannischen Division versetzt. Das bedeutet jedoch echte Gefährdung, da dieses Bataillon im Einsatz gegen die 10 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 72 11 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 83 <?page no="181"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 169 Schweizer Guerillas steht, die sich geschützt durch ihre unwegsame Landschaft und bestärkt durch ihre Dickköpfigkeit der chinesischen Invasion erfolgreich entgegengestellt hatten. Wie unser Held die Schriften des Mao, so hatten die Schweizer offenkundig jene des kommunistischen Terroristen Che Guevara genau studiert, in denen es heißt: »Der Guerillero ist im höchsten Sinn des Wortes der Freiheitskämpfer, der Auserwählte des Volkes, dessen kämpfende Avantgarde im Kampf für die Befreiung …« 12 Der Held, nunmehr politischer Kommissar des 13. Gebirgsjägerbataillons, faßt den Plan, zu den helvetischen Brüdern über zu laufen. Auf Grund seiner Position waren ihm durch die Auswertung von Geheiminformationen die wichtigsten Dienststellen des Gegners bekannt. Er setzt sich telefonisch mit dem Chef des Intelligence- und Informationsdienstes der Graubündner Scharfschützendivision Oberst Vetterli in Verbindung und die Schweizer nehmen ihn alsbald als den ihrigen auf. Federmann läßt Oberst Vetterli Marx zitieren und den Kommissar nach den Schweizer Immobilienpreisen fragen. Er gibt dem Schweizer Kultusminister den jüdischen Namen Pollak-Löwenfels und dem Schweizer Chef-Sinologen den wienerisch-tschechisch klingenden Namen Prohaska. Der Schweizer Geheimdienst-Chef jedoch nennt sich dezent lediglich »Oskar« und trinkt amerikanischen Bourbon-Whisky. Im Verlauf seines Überwechselns zu den Schweizern zeigt der »Kommissar« noch zwei Mal seine wahre Herkunft und Identität auf, indem er einmal Hölderlin und ein anderes Mal Ovids Tristia zitiert. Da Zürich von den Chinesen besetzt ist, hatten die Schweizer die Universität raketen- und radarsicher ins Finsteraarhorn eingebaut und dieser neuen Stätte des Geistes gaben die Studenten den Scherznamen »Eispalast«. Hier war nun der Held etliche Zeit Professor für Sinologie und hier arbeitete er weiter an seiner abendländischen Bildung, obwohl er zuletzt und gerade darum wie Sokrates sagen konnte: »Ich weiß, daß ich nichts weiß.« »Zuletzt«, - das war, als die Einwohner des Eispalastes selbst diesen sprengten, nicht ohne zuvor so viel als möglich des gehorteten Wissens zu retten. Denn die »Bohrwürmer« Maos hatten den »Eispalast« entdeckt und so war nur die »Flucht ins Nichts« geblieben. In einer Großaktion der Maoisten wird sodann auch der Held selbst gefangen, gottlob ohne erkannt zu werden. Er sprach ja reines graubündnerisch und behauptete der Sprößling eines sozial benachteiligten Hausdienerehepaares in einem Abtreibungssanatorium für die Oberen Zehntausend zu sein, ferner Analphabet und Multipfleger. Da er zudem, wann immer ein Vorgesetzter ihm forschend ins Auge blickte, die Mundwinkel hob, so daß ein süßliches Grinsen 12 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 91 f. <?page no="182"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 170 entstand und da er nicht nur immer freudig alles tat und dazu noch freudig krähte: »Es gibt nur eine Partei. Ihr Lehrer ist Mao! « vermochte er versteckt und einigermaßen gut zu leben. Freilich hatte er für sich selbst ein geheim gehaltenes »elftes Gebot« festgelegt, das lautete: »Es kommt ein Tag, da die heilige Stadt pulverisiert wird, pulverisiert und nicht ein Stäubchen mehr übrig bleibt von den Verrätern am Menschengeschlecht, dieser denkwürdigen Kreuzung aus Frosch und Vogel, Schaf und Hyäne, Alge und Computer, Schnecke und Aasgeier, Blindschleiche und Falke, Finsternis und Licht.« 13 Später wird der Held in ein Schulungslager nach Timbuktu gebracht, wo adrett uniformierte Pygmäen seine Erzieher sind. Wiederum stellt er sich mit Macht strohdumm und überdies auch taubstumm. Als man ihn an einem Seil an seinen Handgelenken hochzog und ihm anstatt den früher üblich gewesenen Stein- oder Bleigewichten eine erstaunlich fett gebliebene Holländerin an die Füße band, da tat er so, als krähte er vor Vergnügen und Begeisterung für die menschheitserlösenden Lehren des Vorsitzenden Mao. Nach erfolgreich durchgemachter Schulung geht es zusammen mit Tausenden anderer Gefangener in Gewaltmärschen zu Fuß durch den Sudan, durch Arabien, den Irak und Persien bis zur Kirgisensteppe südlich des Ural. Genau zwei Prozent der »Truppe« überleben den Marsch. In Boguruslan in der Kirgisensteppe gab es »endlich wieder Chinesen«. Auf Anordnung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas sollen die Überlebenden unter Befehl des chinesischen Genossen Hai-wai für das kirgisische Erholungsheim all das wieder erstehen lassen, was ihren Vorfahren gut und teuer war: Notre Dame de Paris, die Westminster Abbey, den Kreml, den Kölner Dom, die Berliner Kongreßhalle, das Zeltdach des Münchner Olympiastadions und das Wiener Kanalisierungssystem. 14 Der Held meldet sich sofort als Baumeister, gewinnt mit seiner bescheidenen, kleinen, mittelalterlichen deutschen Stadt den Orden des Grünen Drachens am Bande der Loyalität und wird daraufhin von seiner alten Freundin Yao-Ling besucht. Sie teilt ihm geheimnisvoll mit, daß sich große Dinge vorbereiten, wie dies auch die gleichfalls auftauchende alte Freundin Isi und schließlich auch der ebenso herbei gefahrene Herr Tse-Kung tut. Yao-Ling war der Meinung, er hätte auf Seiten der Chinesen gegen die Schweizer operiert, Isi war der Meinung er hätte auf Seiten der Schweizer gegen die Maoisten operiert und als Herr Tse-Kung ihn selbst fragt, auf welcher Seite er denn stünde, da antwortet er ihm: »Ich? Auf Seitens des Fortschritts natürlich. Es ist dieselbe Seite, auf der 13 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 111 14 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 121 <?page no="183"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 171 auch Sie stehen, wenn ich recht verstanden habe.« 15 Unser Held selbst versteht schon gar nichts mehr, bis schließlich das allerletzte geschieht, was er sich hätte träumen lassen: Es brach die große Pekinger Revolution aus. Ganz nach dem Muster der von Marx entdeckten und von Lenin praktisch durchgeführten Idee, war eine revolutionäre Situation dadurch entstanden, daß die Herrschenden in Erkenntnis ihrer Schwäche die Schraube überdreht hatten. Die Herrschenden waren die Pekinger Partei-Ideologen. Die Unterdrückten waren praktisch die gesamte Bevölkerung der Erde, in der Pekinger Revolution repräsentiert zunächst durch zweihundert Spitzenmanager, welche die Ideologen in einem Hinterhof umbrachten. Freiheit für alle, lautete die Parole. Ankurbelung der Konsumgüterindustrie, Liberalisierung, Tauwetter! Aber im Unterschied zu den Ideologen hatten die revoltierenden Manager die Folgen ihrer Aktion nicht im Griff. Zwei Wochen später wurden in Großbritannien, Kanada, Israel und der Schweiz Nationalregierungen proklamiert, die chinesischen Satrapen wanderten ins Gefängnis und die Weltherrschaft war zu Ende. Die hunderttausend Schüler der Ideologen errichteten mit Hilfe von Teilen der Technischen Brigaden und der Streitkräfte ein Komitee, das die Zentralgewalt proklamierte, während die Liberalen ihre Gegenregierung der »Hundert Millionen« behaupteten. Die Truppen beider angeblich allein regierenden Mächte erschossen, folterten, hängten und köpften einander in schönem Gleichmaß. Im kirgisischen Erholungsheim von Boguruslan führte die Entwicklung zunächst zur Enthauptung des Genossen Hai-wai im Speisesaal des Verwaltungsgebäudes. Isi als Vorsitzende des Urteil fällenden Jungkomitees übernahm das Kommando. Gegen Schluß jagen die Ereignisse geradezu einander. Der Held glaubt, Isi gefangen nehmen und hinrichten zu lassen, um selbst das Kommando zu übernehmen. Da sie jedoch seine Gedanken lesen kann - er nimmt darum an, sie sei eine Hexe - will sie sofort ihn festnehmen lassen. Die Sirene heulte das Generalalarmzeichen, worauf sofort Bewaffnete auf ihn zustürzen und fast gleichzeitig die Bluthunde losgelassen werden. Die Hunde fallen aber nicht über den Helden, sondern über die Bewaffneten her und Herr Tse-Kung, der die Situation unter Kontrolle hat, entwaffnet sie und fordert unseren Helden auf, die gesamte kommunistische Prominenz des Erholungsheims festzunehmen. Auch Isi ist unter den Gefangenen. Als sie aber mit den anderen zusammen erschossen werden soll, verhindert dies Herr Tse-Kung und gibt dem 15 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 139 <?page no="184"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 172 Helden den Auftrag, sich mit ihr zu versöhnen, da sie beide seine Schüler gewesen seien. Yao-Ling kommt aus Taschkent angeflogen und verkündet den Sieg: die Vereinigten Staaten hätten ihren Unabhängigkeitskrieg so gut wie gewonnen und die Europäische Föderative Republik hätte sich unter dem Präsidenten Pollak-Löwenfels konstituiert. Aber damit ist im Ural noch lange nicht alles vorbei. Yao-Ling und der Held werden von Isi verhaftet und ebenso Herr Tse-Kung. Aber Yao-Ling gelingt es, zuerst sich und sodann ihre beiden Leidensgenossen zu befreien und Herr Tse-Kung besitzt plötzlich die Geheimnummer Oberst Vetterlis, der zur Überraschung unseres Helden nicht tot ist, sondern in Rußland weiterhin den Widerstand gegen die Chinesen unterstützt hat. Der Oberst bestellt die drei für zwei Tage später um 20 Uhr 13 zum Hauptbahnhof von Kuibyschew. Geschickt werden sie Herr der Situation im Erholungsheim und sogar Isi unterwirft sich. In ihrem weißen Sportwagen erreichen sie Kuibyschew. Oberst Vetterli besteigt mit ihnen ein altes Flugzeug und Herr Tse-Kung fliegt sie alle zum Züricher Flughafen Kloten. Endlich meinen alle, der Friede sei endgültig ausgebrochen. Der Held etabliert sich als Sinologe an der Universität Wien. Er hatte Lieblingsschülerinnen und das Leben hätte immer so weiter gehen können. Die »Hundert Millionen« hatten gesiegt, die Weltmächte rappelten sich wieder auf und Präsident Pollak- Löwenfeld verlieh dem Helden das große Europa-Kreuz in Granit. Dieser reiste in der Welt herum, besuchte alte Bekannte und in den letzten Weihnachtsferien Freund Vetterli in Bern. Während eines beschaulichen Gesprächs am offenen Kamin drehte Vetterli die Spätestnachrichten auf und da hörten sie das Schreckliche: Die USA haben kapituliert, Präsident Pollak-Löwenfels erklärt im Pariser Fernsehen: »Wir weichen der Gewalt.« - eine Abwandlung der Abschiedsszene des österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg beim Einmarsch der Hitlertruppen in Österreich. Der Oberst knurrt nur: »Wir gehen in den Untergrund.« Zum Abschluß der Memoiren wie des Buches gibt es noch eine Silvesterparty beim zurückgetretenen Präsidenten trotz aller unmittelbar drohenden Gefahren. Die Chinesen waren bereits auf dem Anmarsch zum Bodensee. Der Präsident hatte eine unterirdische Hotelhalle errichten lassen. Oberst Vetterli berichtet, daß einige chinesische Geschwader auch bereits über der Schweiz aufgetaucht seien. Der Präsident fragt müde, ob etwas gegen diese unternommen worden sei. Der Oberst berichtet, sie seien »heruntergelasert« worden. Dann heben um Mitternacht alle ihre Champagnergläser. Der Präsident bringt den ersten Toast »Auf eine leuchtende Vergangenheit« aus. Der Oberst toastet auf den kommenden Partisanenkrieg. Unser Held aber <?page no="185"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 173 erklärt: »Viele werden sich retten, wie die Wanzen, wenn es brennt. Wir werden untergehen.« 16 Damit sind die Memoiren selbst zu Ende, deren utopische Darstellung mit Huxleys Brave New World, Orwells 1984 und Jewgenij Samjatins My verglichen worden ist. Die erste Rahmenhälfte des Romans gibt eine wichtige Diagnose der Gegenwart des Autors, wie sie die Machtübernahme der Chinesen zumindest indirekt vorbereiten geholfen haben. Sie schildert ferner die Umstände, woher das Manuskript der »Memoiren« eigentlich stammt und wie es in die Hände der Dozentin I-dschu-Dschau gelangt ist. Man fragt sich, was da noch für die zweite Rahmenhälfte bliebe. Aber nach all dem wahnwitzigen Hin und Her der Ereignisse, welche die Memoiren so anschaulich berichten, hat Federmann noch eine Art letzter Überpointe im Ärmel versteckt, um die ihn der Drehbuchautor der James Bond Filme beneiden könnte und die er jetzt als allerletzte Karte in der zweiten Rahmenhälfte ins Spiel wirft. Nachdem die Dozentin I-dschu-Dschau die Memoiren gelesen hat, ist sie nicht besonders begeistert darüber und meint, den Professor Heimsheimer darüber aufklären zu müssen, daß das Ganze eine böswillige Verleumdung des chinesischen Volkes ist: »Wir Chinesen sind nicht so brutal«, erklärt sie, »wir sind nicht für die Herrschaft der Gewalt, sondern für die Herrschaft der Vernunft. Der Mann hat nie eine Zeile von Konfuzius gelesen.« 17 Dieser Nachhang, der im Gegensatz zur vermeintlichen Aufklärungsarbeit der Dozentin die tatsächliche Aufklärungsarbeit leistet, zeigt, wie im Raum totalitärer Staaten der echte und blinde Glaube an Propagandalügen eine Selbstverständlichkeit darstellt. Die »Beweise« dafür können so lächerlich sein, wie im vorliegenden Fall der Hinweis darauf, daß der große chinesische Weisheitslehrer Konfuzius nirgends die maoistische Praxis empfohlen hat, von welcher die Memoiren berichten. Da der E-Brief der Dozentin I-dschu-Dschau unbeantwortet bleibt, sendet sie weitere Briefe, auf die gleichfalls keine Antwort eintrifft. Daraufhin wendet sie sich an das Institut von Professor Heimsheimer in Pöngjang. Worauf ihr die Lehrstuhlvertreterin Frau Dr. Amy Meyer mitteilt, daß es einen Professor Heimsheimer in Pöngjang nie gegeben hätte, die Kopien der Korrespondenz jedoch infolge elektronischer Irritation zum damaligen Zeitpunkt gelöscht worden wären. Da ahnt der Frau Dozentin plötzlich die Überpointe: »Könnte es nicht sein«, schreibt sie an die »Weltschutz-Kommission Peking«, »daß der falsche Professor Heimsheimer mit dem anonymen Autor des Tagebuchs … identisch 16 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 161 17 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 165 <?page no="186"?> Reinhard Federmann und sein Roman Die Chinesen kommen 174 ist? « 18 Damit trifft sie nicht nur die Wahrheit, sondern ist in dieser Utopie sogar nach dem anscheinend letzten und endgültigen Endsieg der »großen Kulturrevolution« der Weg zu einer allerletzten positiven Lösung frei: Der Untergrund lebt, der Untergrund arbeitet, die Zukunft bietet immer noch Möglichkeiten! In diesem Zusammenhang sei hier daran erinnert, daß die wirkliche, historische »Kulturrevolution« in China, die 1966 begonnen hatte, noch keineswegs vorüber war, als Federmanns Buch erschien. Sie dauerte noch fünf Jahre länger und als er den Roman verfaßte, konnte niemand wirklich wissen, daß sie zusammenbrechen werde. So ist der positive und im Grunde optimistische Ausblick nach den Memoiren der utopischen, künftigen »großen Kulturrevolution«, der sich durch die Überpointe des einfach unzerstörbaren und im Untergrund weiter arbeitenden Helden Gustav Alois Schloissengeier ergibt, um so erstaunlicher und bewundernswerter. Oder vielleicht auch nicht. Denn er beruht im Grunde in Federmanns Wissen um die Unzerstörbarkeit des menschlichen Geistes selbst unter der Vergewaltigung der größtmöglichen Macht. Aber auch damit ist noch nicht die letzte Schlußfolgerung des Romans erreicht. Die findet sich vielmehr im allerletzten Brief der zweiten Hälfte des Rahmens, den die Abteilung XIII b (Bekämpfung von Spitzelwesen und Denunziantentum) der Weltschutz-Kommission an das Rektorat der Universität Dallas richtet. Die Dozentin I-dschu-Dschau, welche die Wahrheit über den Verfasser der Memoiren entdeckt hatte, konnte wie so viele Entdecker von Wahrheiten in einer totalitären Ära nicht ungestraft bleiben. Das Rektorat wurde angewiesen, sie sofortiger psychotherapeutischer Behandlung zuzuführen. Dieses Buch ist vordergründig von komischer Leichtigkeit und hintergründig von tragischer Schwere. Es mag auf den ersten Blick oberflächlich wirken wie ein Schelmenroman und doch nimmt der Held und Schelm im Verlauf der Entwicklung tragische Dimensionen an. Paradoxer Weise ist das Buch aber auch zugleich vordergründig pessimistisch und hintergründig hinterläßt es einen unvergeßlich glühenden Funken existenzieller Hoffnung, so daß auf diese Weise im Sinne Hofmannsthals die Tiefe an der Oberfläche versteckt ist. Es ist diese Eigenschaft, die der Auseinandersetzung des westlichen Helden Schloissengeier mit dem Maoismus trotz der oftmals vordergründigen Satire eine durchaus echte, dichterische Weihe verleiht. 18 Die Chinesen kommen, op. cit., S. 171 <?page no="187"?> Kurt Klinger als Lyriker Als Kurt Klingers denkwürdiger Essayband Die Ungnade der Geburt um die Jahrhundertwende erschien, damals von Helmuth A. Niederle herausgegeben wie heute die gesammelte Lyrik, da hat er mit diesem Buch nicht nur seine vielleicht wichtigste Stellungnahme zur Lyrik seiner Reifezeit abgegeben, indem er Essays über die großen österreichischen Lyriker Rilke und Trakl sowie über Werfels Exillyrik schrieb, sondern er hat mit dem schlagwortartigen einzigen und heftigen Trommelschlag des Buchtitels sein eigenes innerstes Wesen frei gelegt. Der tief empfundene Pessimismus dieses Wesens reiht ihn nicht nur an die großen modernen poétes maudits von Verlaine bis Trakl an, sondern stellt ihn auch in eine Tradition größter und effektivster Denker. Von Schopenhauer hat man gesagt, daß es sein Wahrheitsdrang gewesen ist, der den geistigen Racheakt seines Pessimismus entbunden hätte, da er nicht fähig und gewillt war, sich mit Lebenslügen und Scheinbefriedigungen zufrieden zu geben. Buddha aber hat als die vier großen Übel der Menschen Alter, Krankheit, Tod und Wiedergeburt bezeichnet, wobei seine Ungnade der Wiedergeburt lediglich eine verlängerte und vertiefte Ungnade der jeweils einzelnen Geburt darstellt. Kurt Klinger hat selbst einmal in einer einbekannten Jugenderinnerung den Kern dieses Pessimismus frei gelegt, gleichsam die Parallele zu des jungen Buddha Fahrt nach Kapilavastu, auf der ihm zuerst ein ausgemergelter Greis, sodann die Schreie eines Pestkranken und zuletzt ein Leichenzug begegneten. Bei Klinger war es die Begegnung mit einem der drei Gedichte Goethes »Der Harfenspieler«. Darum hat er seinen Essay »Nachdenken über Gedichte« auch mit diesem Gedicht begonnen: Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nicht die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. Klinger zitiert auch die Stelle im Wilhelm Meister, an der dieser beim Hören des Lieds des Harfenspielers völlig überwältigt in dessen Zimmer stürmt und dem greisen Sänger zuruft: »Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter! Alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelöst …« Und obwohl <?page no="188"?> Kurt Klinger als Lyriker 176 Klinger beim ersten Lesen nur das Gedicht und nicht jene Stelle des Romans kannte, löste das Gedicht einen durchaus gleichartigen Gefühlsausbruch bei ihm aus. Er hatte geradezu den Eindruck, die Verse wären aus ihm selbst entstanden oder kamen gleichsam von überall her »und ließen das Opfer einer inhumanen, hoffärtigen Weltordnung« vor ihm erscheinen, »im Augenblick seiner tiefsten Verzweiflung als Ankläger … stellvertretend für Millionen.« 1 Er empfand, nein, er erfuhr die zeitlose symbolische Kraft der Dichtung, die für ihn sofort für Millionen von Weggewiesenen und Weggeworfenen aus den Slums und Verschleppungslagern stand. Diese Jugenderinnerung wirft ein gleichermaßen grelles und schlagartiges Licht auf Kurt Klingers Wesen, da sie seine doppelte Sensitivität zeigt, der empirischen Welt sowohl wie der Dichtung gegenüber. Diese zweite Sensitivität faßt der Untertitel des Bandes ebenfalls schlagwortartig knapp in drei Worte zusammen: »Literatur als Schicksal«. Und wenn Klinger in seinen Essays dieses Bandes zeigt, wie für die von ihm behandelten Autoren Dichtung nicht einfach Spiel und Unterhaltung war, sondern zu ihrem Schicksal wurde, so gilt dies auch für ihn selbst. Er litt unter der Gnade seiner Sensitivität umso mehr, als er kaum jemals bereit war, Kompromisse einzugehen, was mitunter zu einer gewissen Radikalität führen konnte. So lauten die letzten drei Verse seines Gedichts »Antwort auf Christine Bustas Gedicht ›Ein Ölbaum auf Korfu‹«: Mein Fenster ist nicht »voll Ankunft und Ausfahrt«, mit schwimmendem Mond, treibendem Wolkenrauch. Es ist aufgestoßen in die Kälte. In dem Gedicht »Privates Protokoll« heißt es: Also wäre es ratsam, Frieden zu schließen mit den Meuten und der heiligen Armut im Geiste. Aber er hat es nicht getan. Wie es ein anderes Mal im Titelgedicht des Bandes Auf dem Limes heißt: Sogar die Hoffnung auf galaktische Kriege, die das Herz der Strategen höher schlagen läßt, wird die Menschheit nicht von der Pflicht erlösen, mit sich selber Frieden zu schließen. 1 Kurt Klinger: Die Ungnade der Geburt. Literatur als Schicksal. München - Wien 1999, S. 225 <?page no="189"?> Kurt Klinger als Lyriker 177 Dabei hat er seine Kompromißlosigkeit nicht nur angesichts der verbrecherischen Gewalttätigkeit von Kriegen aufrecht erhalten, sondern auch gegenüber Bürgerkrieg und Revolutionen und er ist wie Goethe gegen das Vulkanisch- Revolutionäre aber für das Neptunisch-Evolutionäre eingestanden. So schrieb er in seinem Gedicht »Das Pendel«: Revolution ist ein Gewaltakt. Aber wir sind doch gegen die Gewalt. Also sind wir gegen die Revolutionen. Also bleibt das Unrecht bestehen. Aber wir sind entschieden gegen Unrecht, und wir sind entschieden gegen Gewalt. Die Antwort auf diesen Widerspruch, die einzig wirklich verläßliche Verbesserung der Welt durch Selbstveredlung findet sich als letzter Schluß in seinem Bekenntnisgedicht »Selbstinterview«: Durchforschen will ich das Aussichtslose, Student der Geheimwissenschaft Sprache, der Geheimwissenschaft Wahrheit, der Geheimwissenschaft Gott. Wissen Sie sich besser zu trösten? Es ist kein Zufall, daß er eine besondere Affinität zur Literatur von Jung- Wien hatte, vor allem zu Hofmannsthal, aber auch zu Schnitzler, Beer-Hofmann, Altenberg. Er schrieb denn auch einmal ausdrücklich vom »lyrischen Lebensgefühl« des Wiener Fin de Siècle. 2 Die Jung-Wiener aber, übrigens genau so wie der manche von ihnen verachtende Karl Kraus, der ebenso bedeutende Lyrik geschrieben hat, litten ebenso wie Klinger unter dem Elend und Wahnsinn der Menschen, ohne daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, womöglich sogar gewaltsam, systematische Patentlösungen zur Schaffung eines irdischen Paradieses anzubieten, eine biologische Lösung etwa, wie der Nationalsozialismus oder eine ökonomische, wie der Kommunismus, die in der Regel ein Unheil durch ein anderes und auf lange Sicht noch viel größeres und unmenschlicheres Unheil ersetzen. Gerade Klingers Lyrik zeigt, daß er ähnlich wie die Großen des Wiener Fin de Siècle nicht nur ihr lyrisches Lebensgefühl der Selbstsuche und Selbstbestätigung des einzelnen und seiner Freiheit, sondern auch ihren Wunsch und Glauben an Selbstveredlung teilt. Gewiß war er zunächst wohl vor allem Dramatiker, aber auch hier hat sein bedingungsloses Einstehen für dichterische Qualität und sei- 2 »Lyrisches Drama - lyrisches Lebensgefühl. Zur Theaterkunst des Wiener Fin de Siècle«, in: Die Ungnade der Geburt, op. cit., S. 45-69 <?page no="190"?> Kurt Klinger als Lyriker 178 ne kompromißlose Konsequenz alle Rücksichten beiseite geschoben. Ähnlich wie Hofmannsthal mit seinem Chandos-Brief als Lyriker verstummt ist, hat Klinger im Jahr 1983 sein dramatisches Schaffen eingestellt und hat die letzten zwanzig Jahre seines Lebens nur mehr Lyrik, Essays und Erzählendes verfaßt. Nicht weil auch für ihn, der sich als ein Erbe Kassandras gefühlt hat, wie Arthur Koestler es von sich sagte, Kassandra »heiser« geworden war, sondern weil er sich in der Zeit des Verfalls des Theaters vor allem durch das Regietheater, von diesem bewußt distanzieren und ein Exempel statuieren wollte. Seine eigenen Nachdichtungen von Sophokles, Shakespeare, Strindberg und Arabal ebenso wie seine Bearbeitungen von Euripides, Goldoni und Congreve stellen einfühlsamen und ehrerbietigen Dienst am Geist der Dichtungen jener Autoren dar. Sie haben nichts mit den sinnentstellenden Verrücktheiten und dem Absinken in den Schwachsinn zu tun, wie das moderne Regietheater sie liebt. Abgesehen von seinen zahleichen eigenen Dramen, seinen Hörspielen und Fernsehspielen ist er durch seine langjährige Tätigkeit als Chefdramaturg an fünf angesehenen deutschsprachigen Bühnen wie auch durch seinen Essayband Theater und Tabus und seinen Erzählband Die vierte Wand ein Mann des Theaters gewesen. Aber die Lyrik hat nicht nur die Zeit des Verstummens als Dramatiker überdauert und nicht nur sechs Gedichtbände sprechen für die große Bedeutung, die sie für ihn gehabt hat. Er hat eine ganze Reihe von Essays über Lyrik und Lyriker verfaßt. Ein ganz allgemeiner davon, »Nachdenken über Gedichte« bildet den Abschluß seines Bandes Die Ungnade der Geburt. Manches von seiner Lyrik ist in einzelne frühe Stücke ähnlich den lyrischen Dramen Hofmannsthals mit eingeflossen. Nicht zuletzt aber hat ihn Hilde Spiel überredet, für ihr Buch Die zeitgenössische Literatur Österreichs 3 den Abschnitt über Lyrik zu schreiben, eine Gesamtdarstellung der österreichischen Lyrik von 1945 bis 1975 und eine Arbeit von Buchlänge (183 Seiten). Auch wenn er darin, wahrscheinlich auch auf Drängen von Spiel, das armselige Untermittelmaß der Lyrik Ernst Jandls, der inzwischen längst begonnen hat, im Orkus zu verschwinden, zur Hochkunst hinauf stilisiert hat und auch die »Wiener Gruppe« in erstaunlicher Weise feierte, auch wenn er dadurch dem lokalen Wiener Zeitgeschmack seinen Tribut zollte, da der Provinzialismus auch im staatlichen Kulturmanagement Österreichs weidlich um sich gegriffen hatte, so ist sein Beitrag noch immer der weitaus beste des ganzen Bandes gewesen. Die anderen Beiträge enthielten so viele Fehler, daß die ganze erste Auflage des Buches eingestampft werden mußte. 3 Hilde Spiel (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs. Zürich und München 1976 <?page no="191"?> Kurt Klinger als Lyriker 179 Das war immer noch der frühe Klinger gewesen. Der Klinger der Reifezeit hat dann auch einzelne seiner Gedichte anderen Lyrikern gewidmet: Ernst Schönwiese und Michael Guttenbrunner. Über manche andere Lyriker hat er selbst Gedichte gemacht: über Celan und Byron, Rilke, Busta und Brecht Einige Gedichte gelten Ingeborg Bachmann, die immer als die in Rom lebende »Poetessa« ohne Namensnennung apostrophiert wird. Wie er auch Auszüge aus Dramen von Sophokles und Shakespeare in seiner Nachdichtung als »Gedichte« seinen Lyrikbänden einverleibt hat. Bei so viel unüblichem Sinn für Qualität ist es kein Zufall, daß er bis jetzt von allen Herausgebern der repräsentativen österreichischen Literaturzeitschrift Literatur und Kritik (zuvor: Wort in der Zeit) über all die Jahre hinweg der weitaus bedeutendste und größte gewesen ist. Einige seiner ganz frühen Gedichte sind in dem damals ausgezeichnet redigierten Kulturteil der Oberösterreichischen Nachrichten erschienen. Er hat sie in keinen seiner Bände aufgenommen, vielleicht weil er sie nicht als wirklich Eigenes betrachtet hat, sondern als Imitation anderer. Aber sogar sie hatten mitunter drastische Wirkungen. Eine in der Manier Brechts geschriebene »Ballade vom Heldentod« hat etwa dazu geführt, daß Klinger von einem Mann auf offener Straße gestellt wurde, der mit Beschimpfungen über ihn herfiel, er hätte die Ehre der deutschen Wehrmacht besudelt. Klinger hat es als eine besondere Delikatesse empfunden, daß der Mann, der in Linz eine Putzerei und eine Wanzenvertilgungsfirma betrieb, einer der Gaslieferanten für das Konzentrationslager Mauthausen war. Klingers erstes Buch war jedenfalls ein Gedichtband, Auf der Erde zu Gast (1956). In einigen Stücken dieses sehr schmalen Bandes zeigt sich das Vorbild Hofmannsthals. Besonders wichtig jedoch, nicht nur für den frühen Klinger, ist der Titel des Bandes, bei dem man sofort an Klingers Rilke Essay »Rilke und die Fremdheit der Welt« erinnert wird. 4 Tatsächlich sind einige der Gedichte des Bandes jener Geistigkeit Rilkes durchaus nicht unverwandt, die Klinger in seinem Essay als jene »existenzielle Freigesetztheit« bezeichnet hat, die »für eine so verletzbare, empfängliche, schwankende und nostalgische Natur wie die Rilkes zur Zerreißprobe anwachsen mußte, zum Trauma einer lebenslänglichen Isolation, eines schutzlosen Ausgesetztseins in einer Welt, in der nichts auf gültige und heilsame Weise aufeinander bezogen, in der nichts (schon vom Schöpfungsplan her, falls es einen gegeben haben sollte) auf zufriedenstellende Weise in Ordnung ist.« Die ersten sechs Worte des Gedichts von Rilke, das Klinger in seinem Essay als erstes zitiert, »Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens« könnten als Motto über diesem ganzen ersten Band stehen. Das zweite Gedicht Rilkes aber, das er 4 »Rilke und die Fremdheit der Welt«, in: Die Ungnade der Geburt, op. cit., S. 45-69 <?page no="192"?> Kurt Klinger als Lyriker 180 zitiert, das »Gebet für die Irren und Sträflinge«, könnte über Klingers gesamter Lyrik als Motto stehen, hat er doch selbst lapidar prosaisch festgestellt, daß die Bewährung, die ihm auferlegt war, immer dieselbe ist: »Das Gute, wo immer es sich finden läßt, zu bestärken und die Unmenschlichkeit zu bekämpfen.« 5 Im zweiten Gedichtband Klingers, Entwurf einer Festung (1970), ist das Titelgedicht besonders bezeichnend für ihn. Man erwartet die Beschreibung eines kriegerischen Forts und die ersten Strophen scheinen dies auch zu bestätigen. Es heißt in ihnen, daß jeder, der die erste Mauer der Festung bezwingt, die Hälfte seiner Streitmacht verliert. Wenn er die zweite Mauer erstürmt, büßt er seine Reserven ein. Wenn er die dritte erkämpft, ruft er einsam seine Befehle. Die kurze vierte Strophe bringt die poetische Überraschung, bei der es sich herausstellt, daß es tatsächlich um die Metapher einer Festung des Friedens geht: So sind die Werke des Friedens zu errichten, daß jeder, der gegen sie aufbricht. siegend sich selbst zerstört. Ob der Italienfreund, der in späteren Jahren in Rom einen Zweitwohnsitz hatte, damals schon Dino Buzzatis Roman gekannt hat? Als sieben Jahre später sein dritter Gedichtband Löwenköpfe (1977) erschien, da wohnte er bereits zeitweilig in Rom und der Band enthält zwei Drittel von Gedichten nach italienischen Motiven. In einem gewissen Sinn war es eine Flucht aus Österreich gewesen. Wenige Jahre später, in seinem Essay »Der Österreich Mythos« 6 hat er seiner Österreichkritik in manches Mal übertriebener Heftigkeit Ausdruck verliehen. Man kritisiert aber Dinge, nicht nur weil man sie haßt, sondern ebenso sehr, wenn man sie liebt und sie nur so weit davon entfernt sind, das erwünschte, innere Idealbild, das man von ihnen besitzt, zu erreichen. Der berechtigte Kern von Klingers Kritik war die so unzufriedenstellende Aufarbeitung der NS-Barbarei der eigenen Vergangenheit Österreichs, die ungenügende Weise vertriebenen und vernichteten vor allem auch jüdischen österreichischen Autoren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, was zu einem völlig schiefen Bild der österreichischen Literatur geführt hat und mit ein Grund für die zunehmende Provinzialisierung geworden ist. Rom empfand er im Unterschied zu Wien als eine Weltstadt von geistigem Rang. Klinger hat sich aber nicht nur Italien und der römischen Antike, sondern er hat sich auch Griechenland zugewendet. Im Zusammenhang damit hat er in manchen seiner Gedichte eine Methode der Darstellung entwickelt, wie 5 Die Ungnade der Geburt, op. cit., S. 5 6 Kurt Klinger: Theater und Tabus. Eisenstadt 1984 <?page no="193"?> Kurt Klinger als Lyriker 181 man sie auch in seinem Erfolgsdrama Odysseus muß wieder reisen findet: eine eigenartige Verbindung von mythischer Tradition mit der Welt und den Menschen der Gegenwart. Seine doppelte Hinwendung, sowohl zu Italien wie auch zu Griechenland, hat eine ihrer beredsten Zeugnisse in seinem Essayband Erinnerung an Gärten gefunden. 7 In seinem Odysseus-Drama aber ist mit dem Trojanischen Krieg im Grunde jeder Krieg, vor allem aber der Zweite Weltkrieg, gemeint. Obwohl die Charaktere des Stücks ihre antiken Kostüme beibehalten, ruft sein Odysseus nicht Zeus, sondern den judäo-christlichen Gott an und er benützt neben seiner Axt auch eine moderne Pistole. Klinger bedient sich hier antiker Mythen nicht nur als Metaphern und Bilder, sondern als dichterisches Medium überhaupt, um die vordergründige Oberfläche der zeitgenössischen Fabel zu transzendieren, womit er verhindert, daß das Ganze in eine politische Reportage absinkt. Das Stück wird dadurch auf eine höhere, dichterische Ebene gehoben und erhält damit den Stempel zeitloser menschlicher Gültigkeit aufgedrückt. Parallel dazu treten umgekehrt in seinem Gedicht »Die Bar der Götter« im Band Löwenköpfe Mars, Athene, Apollo, Eos und Hermes in einer modernen, italienischen Bar auf, und daß die Götter auch hier »nicht immer bekommen, was sie haben möchten«, das heißt, daß ihnen ihre Gültigkeit und Bedeutung nicht zuerkannt wird, bringt den Autor, der auch in der Bar sitzt, dazu, das Lokal »mit einem Wutschrei« zu erschüttern. Im Gedicht »Piazza Navona« tritt Jupiter in der »unauffälligen Verkleidung« als Giorgio Strehler auf. Auch in einem seiner Gedichte, in denen er auf Ingeborg Bachmanns tragischen Feuertod bezug nimmt, »Die Einäscherung der Poetessa« und in welchem dieser Tod poetisch zu einer feierlichen Einäscherung transponiert wird, bringt er als Parallele Dido herein, die sich »auf dem Balken eines seeuntüchtigen Schiffes, das Aeneas im Hafen zurückgelassen hatte« verbrannt hat. Klingers enges und lebendiges Verhältnis zur großen Kulturtradition der klassischen Antike hat nicht zuletzt auch in seiner Mitgliedschaft zur Società Onoranze di Rosso di San Secundo Ausdruck gefunden. So beginnt denn auch der folgende und vierte Gedichtband Auf dem Limes mit zwei Gedichten über Rom, doch ist die Gesamtzahl der »italienischen« Gedichte verglichen mit den Löwenköpfen sehr zurückgegangen. Dafür gibt es ein Gedicht »Singe von Griechenland« und die Nachdichtung eines Chorliedes von Sophokles. Dafür gibt es keineswegs zuletzt auch ein sehr berührendes Gedicht »Begrüßung eines Flüchtlings«, das sich auf den Ungarn-Aufstand von 1956 bezieht, ein Gedicht »Kindheit«, das mit dem Vers beginnt »Heute hab ich mich vorm Tod versteckt« und ein Gedicht »Der Stillstand«, das die 7 Kurt Klinger: Erinnerung an Gärten. Salzburg 1989 <?page no="194"?> Kurt Klinger als Lyriker 182 Erinnerung des Schocks der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg beschwört und sie dabei in die Distanz lyrischer Schönheit transponiert: Die Bomben schweben über der Stadt, fast schön in ihrer Ruhe, Ballons in einem schwarzen Herbst, kein Wind vertreibt sie hinter die Hügel. Da ist aber auch das sehr persönliche Bekenntnisgedicht »Die Spur meiner Wege« mit den Versen: Wüßte ich nicht: diese Nacht ist von Sterben erfüllt, wüßte ich nicht: jeder Trost ist gefährlich, wüßte ich nicht, daß des Suchens kein Ende ist, hätte ich jetzt einen Vorwand zur Rast und strecke mich hin auf die brennende Matte des Traums: ja, im Feuer erfrieren. Auch eines der trotz aller äußeren Ruhe und Harmonie bösesten und erschütterndsten italienischen Gedichte steht in diesem Band, »Besuch aus dem Süden«. Ein Freund aus Italien besucht den Autor und erfährt viele »Dunkelheiten« des Nordens, aber die schrecklichste nicht: die Gedanken der Menschen im Norden. Vor den wenigen ruhigen Versen dieses Gedichts versteht man, weshalb Klinger so hellsichtig und bestürzend zugleich über Trakl hat schreiben können, der in sich das Widersprüchlichste in trügerischer Ruhe vereinigt hatte: »Lasterhaftigkeit und Reinheit, Exzeß und Askese, Trotz und Ohnmacht, Auflehnung und Ergebenheit, das Edle und das Verworfene, verzweifelter Lebenswille und Todesbereitschaft, Haß und Demut, unerhörte Sinnlichkeit und der Ekel von ihr, das Leiden der Kreatur und die verhängnisvolle Gnade, so tief in die eigene Seele zu sehen, daß die Fallhöhe zum Sog werden mußte, dem nicht zu widerstehen war.« 8 Wie Trakl hätte er es in den einen einzigen Vers zusammenfassen können: »Der Erde Qual ohne Ende.« Diese ungeheure Spannweite von Gedanken, Empfindungen und Gefühlen, wie er sie bei Trakl verstehen und sehen konnte und die auch für ihn selbst gültig war, ist im Grunde in diesem »Besuch aus dem Süden« versteckt und verstellt durch die freundliche, stille Kulisse der Liebe seines südlichen Freundes, dem dies alles so völlig fremd ist. Der fünfte Gedichtband, Das Kirschenfest (1984), besteht aus einer eigenartigen Mischung früher Gedichte aus den Jahren 1953 bis 1961 mit späten Gedichten der Achtzigerjahre. Das erste Gedicht, »Neue Zeit« ist erfüllt von 8 Kurt Klinger: »… dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.« Mensch und Natur im Werk Georg Trakls. In: Die Ungnade der Geburt, op. cit., S. 74 <?page no="195"?> Kurt Klinger als Lyriker 183 jugendlicher Aufbruchsstimmung, das zweite, sehr lange »Lied des Günstlings« steht direkt unter jenem Hofmannsthal-Einfluß, wie er so manche frühe Gedichte beherrscht hatte und dann gibt es dazu noch ein »Venezianisches Sonett«, eines der wenigen Sonette, die Klinger jemals geschrieben hat. Später gibt es zupackende Verse wie jene aus dem Gedicht »Fundstelle«: Du wählst die Stelle nicht, wo du gestellt wirst. Jede, jede ist der Eingang zur Unterwelt oder das weit ausschwingende Poem »Der Herbst der Heiligen« für sein Schauspiel La Sera geschrieben, in dem er sich völlig Italien zugewandt hatte. Es gibt auch Gedichte mit einem trotz gewisser Einschränkungen durchaus positiven Ausgang wie »Für Katakomben«, das an Rilkes Neunte Elegie erinnert und dessen letzt Verse lauten: Mit deinem schwierigen Handwerk … schürfst du aus dem Gestein des bedrohten Sterns den kargen Umriß des Heils. Drei Tiber-Sonette schreiten feierlich einher, der Erinnerung an die Faszination durch einen diabolisch schönen Italiener gilt das böse »Lied aus der Campagna« und dann zwischen einigen der schönsten Italiengedichte gibt es eines über »Attika« und eines über »Ganymed«. Einen eigenartig passiven und vermenschlichten Christus zeichnet das Gedicht »Der Erstandene« und mit den beiden Abschlußgedichten »Das gute Märchen« und »Winterlich« vollzieht sich völlig die Wendung zum Guten und zur Güte. Die letzte Strophe von »Winterlich« lautet: Auf den Lippen erwachte ein schmaler Lichthof der Güte, Hand und Gesicht eint die erschrockene Besinnung. Gewiß, da es ihm um Güte geht, hat er das Gedicht bei Zusammenstellung des Bandes an den Schluß gestellt. Aber es ist nur ein schmaler Lichthof der Güte und Besinnung zu ihr erwacht durch einen Schrecken, denn der Besucher von ihm, um den es geht, hätte sich auch ganz anders besinnen können. Ist das wirklich ein echtes und vor allem ein bleibendes Gegengewicht gegenüber der entfesselten Wucht des Bösen des Liedes aus der Campagna? Die Antwort des sechsten und letzten Gedichtbands Zeitsprung (1987) ist ein klares Nein auf diese Frage. Er beginnt nicht zufällig mit der Hinwendung zum Zynischen. Aber das Zynische ist nicht Ausdruck der Befriedigung, sondern <?page no="196"?> Kurt Klinger als Lyriker 184 Ausdruck der Flucht aus dem Leiden am Bösen und es kann fast als Befreiung wirken, da es auch eine positive Funktion haben kann. In einzelnen Gedichten dieses letzten Bandes hebt mitunter mehr versteckt als offen die Düsternis der Verzweiflung und Isolation das Haupt. Da ist ein Gedicht über Ingeborg Bachmann. Aber nicht einmal mehr als »Poetessa« wird sie apostrophiert, sondern ist aus ihrer Anonymität nur durch ein kurzes Zitat aus einem ihrer Gedichte kenntlich: »Böhmen liegt an Meer.« Die erste wie die dritte Strophe beginnen mit demselben Vers, der seine Nichtbeziehung zu ihr beleuchtet: »Die Telefonnummer blieb unbenützt.« Und da ist ein anderes Gedicht »Beschwörung des Grases«, das seine Aufforderung an das »himmelschreiende, fleischfressende Gras« verkündet, das Land seiner Herkunft zuzudecken, für immer und ganz, es zum unauffindbaren, zum nie gewesenen Land zu machen. Das Gedicht »Römischer Schnee« beschreibt wie in Rom gefallener Schnee seine irrationale Angst vor Verfolgung und Untergang beschwört, da der Schnee seine Spur freigegeben hat und seine Verfolger ihn nun finden werden. Die im Frost brechenden Äste dröhnen für den Erregten wie Schüsse und manchmal wie Panzerketten - im Traum. Er schrieb mir, daß das zentrale Erlebnis seines Lebens im Grunde die Naziherrschaft gewesen ist, die er als Zehnbis Siebzehnjähriger durchlebt hatte und die einen »tief eingeprägten Schock« hinterlassen hatte, der in »fast allen« seinen »Arbeiten nachweisbar ist.« Er wußte, daß er zu einem Generations- und Schicksalskollegen sprach. Darum hat er mir ursprünglich das Gedicht »Römischer Schnee« auch widmen wollen. Er fügte noch an, er hätte eigentlich niemals »spezielle Antinazigedichte geschrieben, auch keine Friedens-, Freiheits- und Schuldbekenntnishymnen, weil ich diese Vernichtungsmentalität nie als etwas Überwundenes, sondern als ein weiterhin Gegenwärtiges und zwar weltweit Gegenwärtiges empfunden habe.« 9 Mehr noch als seine Gegenwart haben die Jahre nach seinem Tod bescheinigt, daß er visionäre Gaben besessen hat. Und es bleibt zu bedenken, ob im Hinblick auf das Gesagte nicht so manches, das böse und negativ erscheint, aus einer tief sitzenden Angst entstanden ist. Im Titelgedicht »Zeitsprung« stehen die Verse: »Vor uns das klare Nichts / die Leere der Leere der Leere.« Das persönliche Bekenntnisgedicht »Privates Protokoll« aber beginnt mit der rhetorischen Frage: »Zynisch geworden? « Immer schon waren Klingers Gedichte von Selbstsuche, manches Mal auch Selbstzerfleischung und von Sozialkritik bestimmt und immer schon waren viele seiner Gedichte satirisch angelegt. Als die Perspektive dieser Satire jene ra- 9 Brief vom 19. Oktober 1987. Er wird zur allgemeinen Einsicht demnächst dem Archiv der Stadt Wien übergeben werden. <?page no="197"?> Kurt Klinger als Lyriker 185 dikale Schwelle zum Zynismus überschritt, hat der Autor selbst von »cinismo« gesprochen und hat sogar einmal ein Lob auf die Zynik geschrieben. Sie soll helfen, Irrtum und Lüge zu vernichten und sie soll zu Fragen und zu Dialog anregen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß Klinger zunächst ein italienisches Wort benützte, um einen wichtigen Zug eines Teils zumal seiner späten Lyrik zu beschreiben. Seine Ausgangsposition im Hinblick auf seine lyrische Sprache ist - wiederum nach seiner eigenen Aussage - mehr »romanisch« als »germanisch«. Dieser Einfluß der italienischen Dichtungstradition sowohl wie seine eigenen poetologischen Überlegungen haben ihn vor den Fußangeln jener »experimentellen Lyrik« etlicher österreichischer Zeitgenossen bewahrt. Nun ist es aber so, daß Klinger nicht geplant zynische Gedichte zu schreiben begann, weil er sich überlegt hatte, daß sie auf diese Weise die erwähnte Funktion der Vernichtung von Lüge und der Anregung zu Fragen erfüllen. Diese Rechtfertigung trat erst in sein Bewußtsein, als er bereits zynisch geschrieben hatte. Hält man nach einem tieferen Grund Ausschau, wieso es zu dieser Wendung gekommen ist, dann hilft wieder ein Hinweis weiter, der von ihm selbst kommt. Er hat einmal bei einem Dichter mit ähnlichen radikal sarkastischen Negationen, bei Thomas Bernhard, auf dessen Bekenntnis aufmerksam gemacht: »Die Kunst ist ein Mittel, sich zu erretten.« 10 Klingers Reflexionen, daß Bernhard damit gemeint hat, daß der Künstler sich selbst retten will und rettet ohne die Rettung anderer zu beabsichtigen, mag vielleicht für Bernhard zutreffen. Für ihn selbst trifft es gewiß nicht zu. Bei Klinger ist die radikale Wendung zum Zynismus zweifellos auch auf die Wirkung auf andere, auf seine Leser beabsichtigt, die durch solche Radikalität aufgerüttelt werden sollen, da alles andere nicht mehr ausreicht. Als er von der weltweiten Gegenwärtigkeit der Vernichtungsmentalität schrieb, da ahnte er nicht, da wußte er, daß diese in der Zukunft mit ungeheurer Gewalt neu hervorbrechen könnte und würde. Klinger hat durch seine Sensibilität vorausgesehen, daß die Gefährdung der Freiheit und mit ihr jene der Menschlichkeit rasant zunehmen würde und daß neue Gewalthaber, ohne Rücksicht auf ihre jeweilige nationale, politische oder religiöse Herkunft mit Hilfe der modernen Technologie eine so voll kontrollierte Diktatur aufbauen können werden, daß die bösartigsten Diktatoren der Vergangenheit davon kaum träumen konnten. Orwells Schreckensvision seines Romans 1984 würde zur Idylle verblassen. Es ist ein gefährliches Signal, daß das amerikanische PEN-Zentrum im Jahr 2007 allein mit verschiedenartigem Erfolg im Fall von nicht weniger als 1020 Autoren aus 98 Staaten intervenierend eingreifen mußte. 10 Die Ungnade der Geburt, op. cit., S. 45 <?page no="198"?> Kurt Klinger als Lyriker 186 Dabei sind die Autoren - und zumal die guten - zwar zumeist die herausragenden Fackelträger der Freiheit und Menschlichkeit, doch geht es nicht nur um die Autoren, sondern um alle. Noch gab es öffentlichen Protest - aber wie lange? Und von wie wenigen wurde er wahrgenommen? Der zumindest zeitweilige Wahlitaliener Kurt Klinger hat der mythischen Idealfigur seiner Lupa Romana im gleichnamigen Gedicht die wesentlichen Fragen in den Mund gelegt: Bist du Romulus oder Remus? Baust du die Mauer, oder trittst du sie nieder? Wirst du uns schützen, oder willst du nur herrschen? Dienst du wirklich dem Staat, oder wirst du uns unterdrücken? Es sind seit der mythisch grauen Vorzeit der Lupa Romana unverändert dieselben wesentlichen Fragen geblieben und es ist das Verdienst Kurt Klingers, sie auch in seiner Lyrik in immer neuen Variationen gestellt und sie in Erinnerung gerufen zu haben. <?page no="199"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze Es gibt bis jetzt nur einen kleinen Kreis von Kennern, die das lyrische Werk von Karl Lubomirski hoch einschätzen. Er ist, was man oft einen »Geheimtip« nennt. Dies gilt übrigens nicht nur von seiner Lyrik, sondern auch von seiner Prosa, in welcher er sich in den verschiedensten Formen versucht hat. Unter der breiten Skala seiner Prosa finden sich die frühe Monographie der Tiroler Autorin Anni Kraus - Lubomirski ist in Innsbruck geboren -, aber auch Kurzgeschichten, die unter dem Titel Bagatellen großartig erzählte, kleine fiktionalisierte Bilder aus seinem eigenen Leben geben. Daneben gibt es auch eine »orientalische« Liebesgeschichte Tahira und Schahiti und dazu noch ein ebenso unzeitgemäßes wie eigenartig reizvolles Werk mit dem Titel Menschen-Opfer, das an die Diktion von Novalis erinnert. Überdies gibt es auch zwei Bände von Reiseberichten, die vor allem von ihrer sprachlichen Form her wichtig sind. Außerdem schrieb er den Text eines Oratoriums und ein Bühnenstück Sturm und Geist, das aus acht locker verbundenen fiktionalen Szenen aus der tausendjährigen Geschichte der Tiroler Abtei St. Georgenberg-Fiecht besteht und das in diesem Kloster selbst mit Erfolg aufgeführt wurde. Von großer literarischer Bedeutung sind Lubomirskis Aphorismen, die 2005 unter dem für ihn bezeichnenden Titel Rechts oder Links / Oder Mensch erschienen sind. Wie bei seiner Lyrik in zunehmendem Maße die größte Bedeutung seiner Meisterschaft der Kürze zukommt und wie auch von seiner Prosa die äußerst kondensierten, knappen Kurzgeschichten des Bandes Bagatellen besonders herausragen, so glänzen auch seine Aphorismen besonders durch ihre Kürze. Lubomirskis Aphorismen, die den Untertitel »Mailänder Reflexionen« tragen - Lubomirski lebt in Mailand -, sind vielfach noch kürzer und knapper als jene anderer Aphoristiker. Die besonders verdichteten von ihnen umfassen nur wenige Worte einer einzigen Zeile wie etwa: »Größe ist immer unbequem.« oder »Hoheit buhlt nicht.« Aber auch seine Zweizeiler sind immer noch relativ knapp und in der Regel von eindrucksvoller schlagender Prägnanz, wie etwa: »Einige belügen lieber die ganze Welt, / als sich selber die Wahrheit einzugestehen.« Oder: »Den Edlen macht Großmut dankbar, / den Schäbigen dreist.« Selbst längere Einzeiler zeigen drastische Verdichtung wie etwa »Verzichte auf alles und du verzichtest aufs Sein.« Besonders wenn man nicht nur die Ausdruckskraft, sondern auch die gewählte Schönheit der Sprache dieser Aphorismen mit vielen Erscheinungen gefeierter »Gegenwartsliteratur« vergleicht, in der sprachliche (wie inhaltliche) <?page no="200"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 188 Barbarismen oftmals gepriesen werden und die angesehene Preise erhalten, wird die hohe Kunst dieser Aphorismen deutlich. Etliche von Lubomirskis Aphorismen sind überdies auch noch dadurch gekennzeichnet, daß sie in Ergänzung zu den direkt ausgedrückten Einsichten und Forderungen noch eine zusätzliche, - wahrscheinlich dem Autor selbst unbewußte - Eigenschaft besitzen, nämlich einen Anhauch von Lyrischem. Sie zeigen im Unterschied zu den Aphorismen vieler anderer Autoren, daß er eigentlich ein Lyriker ist, so daß zu der Qualität des Inhalts und der Knappheit noch metaphorische und symbolische Züge hinzutreten. Zwei Beispiele dafür sind etwa: »Zufriedenheit / heißt die Ebene, / aus der die Hügel des Glückes ragen.« Oder aber: »Leid heißt die Axt, / die den guten oder faulen Kern bloßlegt.« Alles in allem sind Lubomirskis Aphorismen seiner Lyrik ebenbürtig. Trotz ihrer Entwicklung zu größerer Kürze hin ist die Lyrik Lubomirskis in ihrer Gesamtheit viel einheitlicher als seine Prosa. Es sind fast durchwegs freirhythmische Gedichte ganz selten mit einem Reim oder Binnenreim ausgestattet, der durch seine Seltenheit dann immer eine besondere Funktion und ein besonderes Gewicht besitzt. Lubomirskis Gedichte gehören jenem breiten Strom freirhythmischer Gedichte an, wie er sich im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Literatur zu ergießen begann, von Gottfried Benn bis Paul Celan reicht und wie ihn Hugo Friedrich in seiner ganzen, vielfältigen Breite meisterhaft dargestellt hat. 1 Bis zum Jahr 2003 waren es insgesamt neun Bände von Gedichten, die Lubomirski vorgelegt hat und die in einem Sammelband seines lyrischen Œuvres unter dem Titel Propyläen der Nacht (2003) erschienen sind. Der Waldemar Weber Verlag hat das Risiko, einen bisher weithin Verkannten heraus zu bringen, bis jetzt teuer bezahlt. Zudem verkündet bereits der Titel, wie sehr diese ganze Lyrik gegen die machtvollen Strömungen der Barbarismen der Gegenwartsliteratur auftritt. Denn Propyläen sind die Säulen des Torbaus zu Heiligtümern, in diesem Fall dem Heiligtum der Dichtung. Es ist ein überaus passender Titel, denn diese Lyrik verhält sich zu den experimentellen »Texten« konkreter Lyrik wie ein Bild Leonardos oder Rembrandts zur Geometrie- Hausaufgabe eines Realschülers. Weshalb denn auch der bedeutende Autor Jean Améry einmal an Lubomirski geschrieben hat: »Ihre Gedichte, die wirklich Gedichte sind, nicht ›Texte‹ haben mir sehr gut gefallen. Ich habe sie mit Freude gelesen, zumal das meiste an moderner Poesie mich nicht anspricht.« Karl Popper aber hat besonders die Sprachmusikalität dieser Gedichte gerühmt. 1 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Erweiterte Neuausgabe. Hamburg 1968 <?page no="201"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 189 Die zweite Hälfte des Titels, Propyläen der Nacht, evoziert nicht nur wie der Sprachduktus lyrisierender Prosa des Bandes Menschen-Opfer Novalis und seine Hymnen an die Nacht, sondern bezieht sich vor allem auf einen visionär geschauten Säuleneingang in das Reich des Todes, da der schwer herzkranke Autor zur Zeit der Titelentstehung jede Stunde mit seiner Abberufung rechnen hatte müssen. Das Bild auf dem Umschlag aber, das kaum ohne Zustimmung des kunstverständigen Autors verwendet worden sein konnte, zeigt exotische Bäume, deren hoch aufstrebende Stämme wie Säulen von Propyläen wirken und die nur ganz oben, an ihrer Spitze, Äste, Zweige und Blätter entfalten. Diese Bäume allein machen auf den westlichen Betrachter bereits einen irrealen Eindruck, der durch die Dämmerungsstimmung der herannahenden Nacht mit einer fahlen Mondscheibe noch verstärkt wird. Im Band selbst heißt es, daß Paul Metzl für »Entwurf und Gesamtgestaltung« verantwortlich ist. Das Bild erinnert jedenfalls an die Bilder Giorgio de Chiricos, den mehr als ein Kenner als malerisches Äquivalent zu den dichterischen Bildern Kafkas empfunden hat. Seine Bilder sind durch eine ähnliche Art transealer, traumhafter und visionärer Unwirklichkeit gekennzeichnet, wie sie in wohl nicht gleicher, aber doch ähnlicher Weise in manchen der späten Gedichte Lubomirskis aufscheint. Der Titel Propyläen der Nacht, der die Atmosphäre eines an der Schwelle Stehens evoziert, weitet sich in den Gedichten über die Schwelle zum Tod weiter aus als in einen Bereich führend, der das konkret Wirkliche vor einer Folie des Visionären, Traumhaften und Numinosen aufzeigt. Natürlich zeichnet sich im Verlauf der mehr als vier Jahrzehnte innerhalb deren die Gedichte dieses Sammelbandes entstanden sind, eine Entwicklung ab. So etwa ist der erste Band 2 mehr als die folgenden Bände von einer noch Chirico-fernen, innigen, warmherzigen Romantik geprägt, die in vielen geradezu das Gegenteil der Verse des späten Bandes Vogel über brennendem Wald darstellt. In diesem frühen Band ist vom »Regenbogen des Lebens« die Rede, von dem »blauen Geheimnis«, das der Dichter in den Rahmen der Nächte spannt und es wird das tröstliche Bild von den »Sternenhänden der Nacht« beschworen, die »sich wieder gefaltet« haben. Auch hier erscheinen wieder durch die Schlüsselbegriffe der Nacht und des Blau Anspielungen auf Novalis. Aber auch die Vereinigung »Blauer Reiter« drängt sich assoziativ auf und der Symbolwert der Farbe blau in Trakls Gedichten. Die Farbmetapher blau sollte in den späteren Gedichten auf höherer Ebene, machtvoll wiederkehren. Mit dieser Grundhaltung dieses ersten Bandes hängt es durchaus natürlich zusammen, daß manche Eigenarten der Struktur moderner Lyrik noch nicht entfaltet sind und 2 Stille ist das Maß der Weite. Darmstadt 1973 <?page no="202"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 190 daß es Metaphern wie der »Tannenprinz« für einen Christbaum gibt oder Verse wie »Die Stille der Seele lockt mich / die Fracht der Gedanken zu löschen.« Nur sehr selten gibt es einen Reim wie etwa in den letzten beiden, besonders schwer wiegenden und zusammenfassend abrundenden Versen des Gedichts »Lächelnd wölbt sich wieder der Tag«, die lauten: »wir blicken vom Silberschiffe der Zeit / heiter ins Branden der Ewigkeit.« Wobei das »Silberschiff« zumindest unbewußt eine Beziehung zur Zeitschrift das silberboot von Ernst Schönwiese aufweist, den Lubomirski gekannt und verehrt hat. Die Grundhaltung zu tief empfundener und akzeptierter Einsamkeit wird in dem Gelegenheitsgedicht »Geburtstag« ausgesprochen: Unerbittlich legt die Geburt dich an die Schwelle der Einsamkeit, in deren Tiefe du dich verlieren wirst. So wenig neu diese Grundhaltung ist, so sehr sind es die lyrischen Bilder, durch die sie ausgedrückt wird. Was aber die Form und besonders den Rhythmus dieser ersten und frühesten Gedichte ausmacht, so gibt es in dem frühesten Band, - der freilich für die Veröffentlichung im Sammelband des Gesamtwerks verbessert wurde - etliche Holprigkeiten und Ungeschicklichkeiten, die zeigen, welch weiten Weg der Autor zu seinen späteren Gedichtbänden zurück gelegt hat. Das gilt nicht nur für Formprobleme, sondern auch für solche des Gehalts. Im zweiten Band nimmt nämlich das Gedankliche und dies wieder vor allem im Hinblick auf ein mitmenschlich engagiertes Sozialgewissen zu. Im Titelgedicht nennt sich der Autor einen »Untermieter des Lebens«, seit er das »Elend duldet«. Das Geld wird als »make-up der Dummheit« abgewertet und eines der Gedichte verkündet, daß es noch »Webstühle des Mitleids« gäbe. Der Hang zu einer gewissen Feierlichkeit und zu gewählten, klangvollen Metaphern nimmt zu, als sollte der Verlust rein lyrischer Elemente und das zeitweilige Dominieren durch gelegentliche gedanklich-kritische und skeptische Züge auf diese Weise ausgeglichen und abgegolten werden. Obwohl gelegentlich noch immer auch eher abschätzig das »Treibeis Intellekt« auftaucht. Die vorherrschende Haltung besteht jedenfalls in einer Abwendung von den »Fallbeilen der Gleichgültigkeit«. Am Beginn des dritten Bandes mit dem Titel Meridiane der Hoffnung stehen zu Beginn weiterhin »Gedicht« gegen »Gedanke« und »Ahnen« gegen den »Verstand«, wobei der Dichter natürlich die Seite des »Gedichts« und des »Ahnens« nimmt. Trotzdem erhalten gedankliche Verse vor allem in persönlichen Bekenntnisgedichten ein noch stärkeres Gewicht. Außerdem finden sich <?page no="203"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 191 hier zum ersten Mal eine ganze Reihe von Landschafts- und Ortsgedichten - etwa an und über Innsbruck, Segesta, Sizilien, Sardinien, bestimmte Kirchen - wie sie später eine noch größere und wichtigere Rolle spielen sollen. Gegen Ende des Bandes werden wieder sozialkritische und mitmenschliche Töne lauter, die »Wohlstandswelt« wird abgekanzelt, den politischen Parteien eine Rüge erteilt und das Schlußgedicht endet mit einer Apotheose auf die Menschenwürde. Am Beginn des vierten Bandes, Blick und Traum, dominieren Landschafts- und Ortsgedichte, doch steigert er sich in wohldurchdachtem Aufbau auf die beiden abschließenden Gedichtzyklen »Privat« und »Traum« zu, die sich komplementär ergänzen. Denn der individuelle Raum des privaten Ich, das nach dem abgeschiedenen Raum seiner Unabhängigkeit und Freiheit strebt, ist Voraussetzung für die Realisierung jener Welt der Träume, die der Natur und dem Göttlichen gelten, der Welt der Kinder und dem großen liebenden Heiligen, Franziskus, den Krypten des eigenen Inneren und der Wärme des Herzens. Auch im fünften Band, welcher den Titel Licht und Asche trägt, geht es um Mitmenschliches, das durch bedrückende Bilder in Gedichten wie »Altersheim«, »Strafvollzug«, »Metrofahrer« und »Zigeuner« ausgesprochen wird. Auch dem ganzen unterdrückten Land seiner Ahnen, Polen, gilt ein Gedicht. In zahlreichen Gedichten über Leitbilder von Heiligen und Helden, über Ereignisse der judäo-christlichen Tradition und sogar in den »Veduten« geht es vor allem um zeitlos menschliche Werte, die konstituiert und dem Leser ins Bewußtsein gerufen werden. In der »Veduten« genannten Gedichtgruppe haben sich die Landschafts- und Ortsgedichte, die auch schon früher eine Rolle spielten, zum Zyklus einer eigenen Sub-Gattung verfestigt, deren Name allerdings irreführend sein kann, wenn man ihn wörtlich und beschränkt oberflächlich auffaßt. Denn die ersten Gedichte dieses Zyklus haben kaum etwas mit geographischen Orten zu tun, sondern gelten einer reinen Topographie menschlicher Probleme und Erfahrungen. Aber auch in den späteren Gedichten des Zyklus, die geographische Titel tragen, wie »Korfu« oder »Venezianisch«, sind die geographischen Namen nur Anlaß und Auslöser für »sinnbildliche« Veduten von Erlebnis, Gefühl, Erinnerung und menschlicher Existenz überhaupt. Denn stärker als jede objektive, distanzierte Beschreibung wirkt dichterisch das lyrische Ineinander von subjektiver Vision und Topographie. Ja, in dem Abschnitt, der dem Veduten-Zyklus folgt, finden sich mehr Landschafts- und Ortsgedichte als im Zyklus selbst und eines ist sogar »Venezianische Vedute« betitelt. Vor allem aber finden sich in diesem Band bereits etliche Kurzgedichte von nur vier, drei, ja sogar von nur zwei Versen, wie sie für Lubomirski von nun an charakteristisch werden sollten. <?page no="204"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 192 Diese Kurzgedichte, die entfernt an Haikus und Senrys erinnern, sind Musterbeispiele für das, was Friedrich Theodor Vischer »das punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt« genannt hat. 3 Trotz ihres oftmals eher epigrammatischen Charakters wirken sie deshalb durchwegs sehr lyrisch. Eines von ihnen, das sogar nur aus einem einzigen Vers besteht, enthält in diesem einen Vers in nucleo Lubomirskis ganze Poetik: Unter dem Titel »Gedicht« steht der eine Vers: »Schlüssel zu meinem Kerker.« Das Gedicht öffnet ihm die Kerkertür nach außen, die zur Freiheit einer Ich-Überwindung und Selbst- Verwirklichung führt. Daß diese Poetik das wohlfundierte Gebäude eines poeta doctus darstellt, verrät die Überschrift über dem ersten der vier Abschnitte dieses fünften Bandes, der im Sammelband des Gesamtwerks leider weggefallen ist: »Die Immen des Vergil.« 4 Es ist eine Anspielung auf jene Stelle in den Georgica, an welcher Aristäus bei seiner Klage um die verlorenen Bienen von seiner Mutter, der Nymphe Cyrene, den Rat erhält, Proteus, den Seher zu fesseln. Es ist kein Zufall, daß einer der größten Kenner und Kritiker der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts, Wladimir Weidlé, demjenigen seiner Bücher, das die Essenz des großen Erreichten sowohl wie die Gefahr der Krise der Zeit für Dichtung, Kunst und Musik analysiert, den Titel »Die Bienen des Aristäus« gegeben hat. 5 Für ihn ist die Öffnung zum Religiösen im weitesten Sinn des Wortes, jenseits konfessioneller Beschränkung, die Antwort auf die Krise und Lubomirski nimmt ganz offenkundig Weidlés Haltung ein. Das Hauptthema des sechsten Bandes Das Ausbleiben ist Leidüberwindung, unter anderem durch die Einsicht in die große kosmische Ordnung, die ebenfalls ganz im Sinne Weidlés durch eingeengte, dem Numinosen verschlossene, materialistische Gedanken und Ideologien versperrt wird, da diese das Absolute und Göttliche verendlichen, zur Endlichkeit reduzieren. Das Unendliche und Ewigkeit sind Schlüsselbegriffe in Lubomirskis Werk, die ihn mit in fast allem anderen so verschiedenen großen Autoren wie Hermann Broch und Arthur Koestler verbinden. Das Hauptthema des Bandes, Leidüberwindung, hat indessen mehrere Facetten und diese reichen von der Freude über oftmals kleine und stille Garanten der Beglückung bis zur einfachen Entschlossenheit des Annehmens von Wirklichkeit und Schicksal. Eine besondere Stellung nehmen dabei die Mutter-Gedichte ein, die gar nicht immer direkt als solche bezeichnet sind. Der vorhergehende, fünfte Band war denn auch zur Gänze seiner eigenen 3 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. München 1923, Bd. VI, S. 208 4 Karl Lubomirski: Licht und Asche. O. O. (Wien), o. J., S. 7 5 Wladimir Weidlé: Les abeilles d’Aristee. Paris 1935 <?page no="205"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 193 Mutter gewidmet. Von der Mutter-Beziehung her eröffnet sich dabei natürlich ein weiterer, besonderer Aspekt des Themas der Leidüberwindung. Wie im fünften Band ein ganzer seiner vier Abschnitte »Veduten« gewidmet war, so ist der dritte Abschnitt dieses sechsten Bandes parallel dazu »Orten« gewidmet. Wobei diese »Orte« so wenig rein auf geographische Topographie beschränkt sind, wie es die Veduten des fünften Bandes waren. Einer dieser Orte ist etwa, an Rilkes Elegien gemahnend, das Land des Schmerzes, und es »wächst / an deiner Kraft.« Ein anderer Ort ist das Firmament als Sinnbild des Unendlichen, das »Blatt, von dem die Nachtigallen singen«. Mitunter sind die Bilder der Gedichte erinnerungsträchtig, reichen weit zurück und beschwören in lyrischer Gegenwärtigkeit Vignetten der Vergangenheit, sei es der persönlichen Vergangenheit des Autors, wie des inzwischen zerstörten Heims der Kindheit, sei es der geschichtlichen Vergangenheit, wie etwa die Gräber der von den Sowjets hingemordeten polnischen Offiziere im Wald von Katyn, die von den weißen Wolken des Himmels und dem Gesang polnischer Mädchen aus Mnemosynes dichterischer Erinnerung gehoben werden. Der letzte Abschnitt gilt ebenso wie der letzte des vorherigen Bandes der Liebe, dem »Flügel, der dich wohlbehalten übers Leben trägt.« Die Beschwörung der Liebe des großen Ur-Sängers Orpheus ist ein Gedicht auf zwei knappe Verse kondensiert: »Hell steigt das Lied / aus der Nacht der Flöte.« Wie überhaupt die Zahl der Kurzgedichte und auch deren Intensität zugenommen hat. »Am Zügel der Sterne / weiter« lautet eines aus dem Abschnitt »Anrufung« und eines aus dem Abschnitt »Liebe«: »Vom Oktober lernen / vor Vergangenheit leuchten.« Der siebente Band, Gegenstunde, umfaßt Gedichte der »Annäherung« an die Wahrheit, die Welt und das Leben, »Begegnungen« mit der Natur, der Kunst und dem Mythos, sowie Zeugnisse mannigfacher »Heimkehr«. Dabei bezieht sich der Begriff Heimkehr keineswegs allein auf den Wohnort des Autors in Brugherio, sondern auch hier geht es wie bei fast allen seinen Gedichten weniger um äußere Beschreibungen als um innere Erfahrungen. Die »Heimkehr« in diesem Sinn kann sich auch an anderen Orten Italiens als Brugherio, kann sich aber auch in Zypern, Polen, Israel und in den USA vollziehen. Gelegentlich scheint ein Gedicht lediglich ein Bild in Worten wieder zu geben, wie etwa »Sestium«, aber es ist ein Bild, dem des Autors lyrischer Zauberstab Farbe, Duft und Klang verliehen hat. Viele Gedichte sind zumindest indirekt Gedankenlyrik, jedoch von solch dichterischer Bildhaftigkeit und Plastizität, daß die Gefahr der Austrocknung ins Unlyrisch-Abstrakte weitgehend gebannt erscheint. Wie gewöhnlich stehen den kritischen und anklagenden Versen über den Zustand der Welt viele positive, ja mitunter geradezu feierlich-rühmende Gedichte gegenüber. Dies gilt auch für die immer häufiger werdenden Kurz- <?page no="206"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 194 gedichte, von denen eines mit dem Titel »Apokalypse« aus den beiden knappen Kurzzeilen besteht: »Die Wiedergeburt / unseres Jahrhunderts.« Andererseits gibt es auch Kurzgedichte mit Motiven von Trost, Hoffnung, ja Beglückung, wie etwa »Das Lächeln der Kinder / weiß noch heute / Verkündigung.« Oder der Rat: »Warum / schiebst du nicht den Stein / vor deinem Grab zur Seite / und stehst auf.« In einem Annäherungsgedicht an die Wahrheit erinnert der Autor den Leser, daß demjenigen, dem die Welt fehlt, nichts fehlt, demjenigen aber, dem nichts fehlt, die Welt fehlt. Das ist keineswegs ein reines formalistisches Wortspiel, sondern ein Paradox von kafkaeskem Tiefsinn. Auf die Frage jedoch, was denn überhaupt zählt, lautet Lubomirskis Antwort: »Nach soviel Tod / vor soviel Tod / bleibt Güte.« Die Eingangsverse des fünften Bandes über den Dichter sind die Metapher, welche dem achten Band den Titel gibt: Vogel über brennendem Wald. Aber diese Metapher darf wie so vieles in dieser Lyrik nicht allzu pedantisch eng verstanden werden, so nämlich, als stünde der Dichter der aus der Vogelperspektive die Schrecken und das Leid, das Grauen und die Entsetzlichkeit der Welt, die einem brennenden Wald gleicht, betrachtet, diesem distanziert gegenüber. Eine derart unlyrische »Distanz« trifft auf fast keines der Gedichte zu. Das Bild stellt vielmehr eine Ganzheit dar, die den betrachtenden »Vogel« wie den betrachteten »Wald« zu einer untrennbaren Einheit zusammen schließt, in der vom Autor er-innerten Form. Was Emil Staiger im zeitlosen Meisterwerk seiner Poetik dargelegt hat, trifft auch hier zu: »Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie doch auch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht die Außenwelt darstellt, so stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern ›innen‹ und ›außen‹, ›objektiv‹ und ›subjektiv‹ sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden.« 6 Wie der Lyriker auch das Vergangene und das Gegenwärtige im Gedicht im Grunde nicht trennt. Beides ist ihm gleich nah und geht auf im lyrischen Ineinander des Klanges, der Verflüssigung, des sinnbildlichen Bildes. Wobei das Eigenartige der Lyrik Lubomirskis darin besteht, daß durch die menschliche Anteilnahme, der er sich nicht entziehen kann noch will, aus jenem Einssein mit dem »brennenden Wald« Thema und Motive geistiger Bewältigung der Einsicht in dieses Einssein mit eingebunden werden. Nicht nur der Titel des achten Bandes findet sich bereits in Licht und Asche, sondern auch jene lyrische Beschreibung der Gedichte selbst. Sie findet sich gegen Ende des Bandes Licht und Asche, da der Autor einem Rollengedicht, in 6 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1951, S. 61 <?page no="207"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 195 welchem er nicht einen Menschen, sondern ein Gedicht sprechen läßt, diesem die Worte in den Mund legt: Ich komme zu blühen in dir über Steppen klaffende Wunden verstachelte Lippen verschnürte Seelen Aschenaugen komme ich zu blühen in dir. Die Aufzählung von den klaffenden Wunden bis zu den Aschenaugen, all dies umschließt das Bild vom »brennenden Wald«. Da aber dieser eins geworden ist mit dem Dichter selbst, vermag dieser vieles zu sublimieren, ja ins Tröstliche zu wenden, kraft seines eigenen Inneren. So gibt es das Kurzgedicht »Vergibt nicht allen Wolken / eine einzige Sonne? « oder den Hinweis: »Vergiß ihn nicht / den schmalen grünen Streifen / in deiner Seele / wenn deine Gedanken rasen.« Es ist eines der ganz wenigen Gedichte des Bandes, in denen der brennende Wald unmittelbar und direkt beschworen und dargestellt wird, wenn die ersten Verse des Gedichts »Ukraine« lauten: »Ich habe dein Angesicht gesehn / es war voller Narben.« Ja es wird sogar eine Art innerer Ausweg aus dem brennenden Wald gezeigt, denn jenseits der Wahrheit wie jenseits von Zweifel und Hoffen »steht das Tor / der Liebe offen.« Wie es auch Erscheinungen gibt, die dem brennenden Wald völlig entzogen erscheinen wie etwa das erinnerte Bild der toten Mutter, die beschworen wird als »Stern am Himmel / meiner Nacht.« In einem manches Mal jubelnden Hymnus auf den Dodekanes endet der Band. Dieses Abschlußgedicht enthält die utopischen Hoffnungsverse auf eine schönere Zukunft: »Erde, halt aus / bis jeder Stein Grabstein / des Bösen.« Der neunte Band, der Verse aus den Jahren 2000 bis 2003 enthält, trägt den Titel Vernähte Lippen. Zunächst hat der Autor darin die Tradition seiner Landschafts- und Ortsgedichte fortgesetzt, die anstatt einer gleichwohl poetischen Beschreibung der Außenwelt dichterische Visionen entwerfen und trotz der oftmals erfaßter wesentlicher Einzelpunkte der Orte darüber hinaus nur Anlaß für eigene dichterische Ausdruckswelten zu sein scheinen. Eine ganze Reihe dieser Gedichte des neunten Bandes sind der Landschaft an der Südküste Kleinasiens gewidmet, welche die alten Griechen Lykien genannt hatten. Dabei gebraucht der Autor bei den Namen der Städte die alten griechischen Namen als Titel, nämlich »Simena«, »Telmessos« und »Temiussa«, bei jenen der Inseln aber die neuen türkischen Namen, nämlich »Gemiler« und »Kekova«. <?page no="208"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 196 In dem besonders eindrucksvollen Gedicht »Telmessos« beschwor er im Ausgang die Toten, die durch »zarte Tempelsäulen« - man wird an den Titel des lyrischen Gesamtwerks Propyläen gemahnt - »blaue Segel weiter Horizonte prüfen«, und diese Horizonte der blauen Unendlichkeit des Firmaments sind so überwältigend, daß in Fortführung der Tradition expressionistischer Farbmetaphorik die realistische Farbe weiß der Segel vom Auge des Dichters als blau erschaut wird. Gerade der Schluß des »Telmessos«-Gedicht, läßt es als möglich erscheinen, daß hier in Form einer Anspielung das lykische Telmessos vom karischen Telmessos überlagert wird, das durch seine Weissager berühmt gewesen war. Der Dichter als vates, als Seher und Prophet, ist eine uralte Tradition, die zumindest in einem anderen und dazu einem der schönsten Gedichte des Bandes im Unterschied zu »Telmessos« direkt zum Ausdruck gebracht wird. Wiederum handelt es sich um ein Landschaftsgedicht und wiederum trägt es den Namen des Ortes, »Segesta«. Hier ist nicht das Segesta Liguriens oder jenes in Krain angesprochen, sondern ganz eindeutig die sizilianische Ruinenstadt. Die im Gedicht genannten »Säulen« beziehen sich wohl auf die wichtigste der Ruinen, den einsam gelegenen Tempel. Hier taucht der »Fremdling Elimoi« auf, jener Trojaner, der vor Aeneas mit Segestus nach Sizilien ausgewandert war. Der Dichter entwirft im Nachvollzog eine fiktive Vision, die jener in den wiederum an die Propyläen gemahnenden »Säulen« gehabt hat: er sah die weissagende Sybille Kassandra, die nicht nur den Untergang Trojas vorausgesagt hatte, sondern auch den Ort, an dem die Geretteten sich niederlassen würden. Aber das ist nur die zweite, tiefere und unausgesprochene Bedeutungsschicht, die sich dem gebildeten Leser öffnet. Ist er aber nicht nur gebildet, sondern auch noch besonders einfühlsam, dann vermag sich hinter jener sogar noch eine dritte Schicht auf zu tun: Elimoi, der »Fremdling« aus einer zerfallenen und zerstörten Welt, für welche Troja als Sinnbild steht, könnte ein gleichnishaftes dichterisches Bild für den Autor selbst sein, da er so genau seine Vision nach zu vollziehen versteht, den Autor, dem der Fluchtort der Ruinenstadt zum Tympanon wird, in welchem er in einer anderen Vision ein Ebenmaß verwirklicht erblickt, das einem noch größeren, unsichtbaren Ebenmaß eines großen Schöpfungsplans verpflichtet ist. Auch »Sasso Simone« und der kleine Marktflecken Sestino in der Toskana sind italienische »Orte« und gleich zwei Gedichte sind dem Mailänder Dom gewidmet. Die Gedichte »Koh Samui« und »Pataya« aber entstanden auf einer Reise in Thailand. Keineswegs zuletzt gibt es ein »Istanbul«-Gedicht, das in einem einzigen großen Bogen die technisierte moderne Gegenwartswelt der Mobil-Telefone mit dem Exilautor des Altertums Ovid verbindet. Es gibt Gedichte, die sich auf ganze Landschaften, ja Länder beziehen, wie »Ionischer Morgen« und »Apenninischer August« oder »Tibetanisches Gebet« <?page no="209"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 197 und »Kaukasus«. Und es gibt andererseits Gedichte, die sich wie in einem Brennspiegel auf einen ganz bestimmten, konkreten Punkt konzentrieren, etwa auf eine ganz bestimmte, wenn auch nicht direkt genannte »Sizilianische Stiege« oder auf das sehr präzise genannte Haus Anna Achmatowas in Petersburg. Der sowjetische Terror unter dem die große Dichterin zu leiden hatte, wird hier poetisch als »Meer des Leids« beschworen. Für einige durchaus wichtige Gedichte, ist es für ein vertieftes Verständnis hilfreich, etwas biographische Kenntnisse über den Autor zu besitzen. Nicht wenn der Titel klar und eindeutig »Mutter« lautet und sich auf die Mutter des Autors bezieht, wohl aber, wenn das Gedicht »Nathalia« heißt und seine Tochter meint. Oder aber, wenn der Titel »Milena« lautet und auf den Namen der Gattin des Autors hinweist, die trotz ihres exotisch tschechischen Namens aus der Toskana stammt und als »Fenster« im »Haus des Lebens« engelsgleich den Blick auf das Firmament öffnet. Das Gedicht »Alter Freund« aber besitze ich mit einer handschriftlichen Widmung des Autors an mich. Es scheint für mich geschrieben zu sein. Ernst Jünger hat Lubomirskis Gedichten jene »Breviloquenz« nachgerühmt, »die gleich vor dem Schweigen kommt.« Das bezieht sich zwar auf alle, ganz besonders jedoch auf die knappen Kurzgedichte des Autors, von denen auch der neunte Band wiederum etliche enthält. So besteht eines der Städte-Gedichte, »Gent«, nur aus drei knappen Versen, in welchen die eigenartige Schönheit der Stadt geborgen in den faltigen Händen Gottes erblickt wird. Auch das Gedicht »Casalpalocco« besteht nur aus drei Versen, so knapp, daß es insgesamt mit fünf Wörtern auskommt. Es beschwört am Beispiel des äußeren Bilds eines Rasens die menschliche Sublimierungsfähigkeit der Leidverwandlung. Die Gedichte »Weihnachtsgabe« und »Tagesgeschenk« bestehen nur aus je zwei Versen und ein Gedicht gibt es, daß sogar nur aus einem einzigen Wort besteht. Es trägt den Titel »Luxus« und lautet schlicht und einfach »Seele«. Vor allem aber sind es verschiedene Formen der Liebe, die etlichen Gedichten ihren Gehalt geben. Da ist eines, in welchem der Autor beschreibt, wie er in Alliebe zur Natur seine Arme um einen starken Baum gelegt hatte, auf daß sein kleines Herz an jenem großen Herzen schlage. Ein anderes Mal legt er das Bekenntnis ab: »Wir / die wir die Welt / mit dem Herzen lesen« und schließlich lauten die insgesamt fünf Worte eines Kurzgedichts: »Mehr / als kämpfen / ist / umarmen.« Auch das allerletzte Gedicht, in welchem der Band gipfelt, gehört hier her, da seine positive Zuwendung im Grunde eine Art Liebesbeschwörung impliziert. Es lautet: <?page no="210"?> Der Lyriker Karl Lubomirski oder die dichterische Macht der Kürze 198 So viel du auch Soviel du auch verneinen magst die letzte Antwort ist ein Ja. Der Dichter aus polnischem Hochadelsgeschlecht, der in Österreich aufwuchs, der den größten Teil seines Lebens in Italien für eine deutsche Firma gearbeitet hat und auch heute in Mailand lebt, zählt sich selbst zu Recht der österreichischen Literatur zu. Vielleicht ist es geradezu eine Bestätigung seiner hohen Bedeutung, daß er bis jetzt in Österreich, mit Ausnahme von Tirol, wo er aufwuchs, kaum die Anerkennung fand, die er verdiente. In diesem Österreich, das seit Jahren eine große Literaturpreisinflation durchmacht und in dem unglaubliche Mediokritäten hohe Preise erhalten, ist gerade er bisher ausgenommen worden. Zur Ehre des Landes sei aber hinzugefügt, daß dies durch die Verleihung eines allgemeinen hohen Ordens für Wissenschaft und Kunst auszugleichen versucht worden ist. Seine Gedichte sind ins Amerikanische von einem Mann vom Rang Max Knights übersetzt worden und ins Russische von keinem geringeren als Waldemar Weber. Sie wurden aber auch übersetzt ins Italienische, Französische, Hebräische, Tschechische, Polnische, Litauische, Ukrainische, Bulgarische, Georgische, Aserbeidschanische, Chinesische und Türkische. Kritiker vom Rang eines Heinrich Ellerman, Gustav René Hocke, Ernst Jünger und Karl Krolow in Deutschland, François Poncet in Frankreich, Sir Karl Popper in England, Mario Luzi und Enzio Fabiani in Italien, Werner Kraft in Israel, Dominik Jost in der Schweiz, Jean Améry in Belgien und Robert Weigel in den USA haben für die hohe Bedeutung seiner Lyrik Zeugnis abgelegt. Von der letzten Ausgabe seines lyrischen Gesamtwerks in einem Band wurden im ganzen ersten Jahr trotz alledem nicht mehr als zwanzig Exemplare verkauft. Karl Lubomirski ist ein besonders drastisches Beispiel eines Verkannten. <?page no="211"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer Vielleicht könnte man sagen, daß mit Erich Wolfgang Skwaras Roman Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer eine neue Phase in seinem Romanschaffen beginnt. Um dies zu verstehen, muß man allerdings einen kurzen Blick auf sein vorhergehendes Schaffen werfen. 1 Dieses Romanschaffen beginnt mit der Pest in Siena 2 , einem Buch, in welchem der Autor am Beispiel eines anderen autobiographischen Helden in gleichwohl indirekter Weise unter anderem seinen Ablösungsprozeß von Österreich und seine Hinwendung zu den USA beschreibt, obwohl er geistig wesentlich von den alten Kulturen der europäischen Romania geprägt ist. Als der junge Skwara diesen frühen Roman schrieb, war er zutiefst vom Werk Hermann Brochs beeindruckt. Obwohl aber Broch als Flüchtling direkt aus Hitler-Deutschland flüchten hatte müssen, als er in die USA ging und obwohl es sich bei Skwara um ein »freiwilliges« Weggehen handelte, sind es doch weitgehend dieselben Ursachen, welche beide Autoren aus Österreich vertrieben hatten, nämlich nazistisches Spießertum, wie es auch parallele Eindrücke und Wesenszüge der USA waren, welche beide dieses Land als Ziel wählen hatten lassen. Im neuen Roman Zerbrechlichkeit gibt es eine Rückblendung auf diese frühe Zeit: »Hatte diese Sehnsucht mit der Blödheit des jungen Mannes zu tun, der auf einer weltverlorenen Landstraße Marylands unweit der amerikanischen Hauptstadt … sein Auto angehalten und bei laufendem Motor in einer bitterkalten Jännernacht unter Sternen Radio gehört und sich vor Weinen ein würgendes Schluchzen war es gewesen - geschüttelt hatte bei der Übertragung der ›State of the Union Address‹ des amerikanischen Präsidenten? « 3 Vielleicht wichtiger noch als der parallel zu Broch vollzogene Wechsel der Länder war für Skwara seine innere Affinität zu Brochs Werk. Es geht dabei vor allem um jene Eigenschaft dieses Werks, welche Broch selbst einmal im Hinblick auf seinen Roman Der Tod des Vergil in die Worte gefaßt hat, daß darin »auch eine ethische Erkenntnis« enthalten sei, »infolge ihres Wissens um die ›verités fondamentales‹ der Menschenseele«, wodurch es unter anderem »ethi- 1 Erich Wolfgang Skwara: Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer. Frankfurt am Main und Leipzig 2002 2 Erich Wolfgang Skwara: Pest in Siena. 1. Auflage, Karlsruhe 1976, 2. Auflage, Frankfurt am Main - Berlin - Wien 1983 3 Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer. Op. cit., S. 251. Vgl. auch Joseph P. Strelka: Nachwort. In: Pest in Siena, op. cit., 2. Auflage 1983, S. 116. 3. Auflage, Wien 2001 <?page no="212"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 200 sche Warnung und Unheilsbotschaft zugleich ist.« 4 Wie nach Broch ein Dichter »in dieser Welt« nur dann »Lebensberechtigung« hat, wenn er der Verpflichtung zum Ausdrücken seiner »ethischen und metaphysischen Meinung« nachkommt. 5 Wenn aber schon ein Vergleich mit Broch angeschnitten ist, dann mag es sinnvoll sein, darauf hinzuweisen, daß ein kluger Kritiker zum Verständnis des so weitgehend autobiographischen Helden Skwaras, Stein, den Begriff des »Dandy« herein gebracht hat. 6 Auch vom frühen Broch vor dem Ersten Weltkrieg konnte gesagt werden, er hätte einen »dandyhaften« Eindruck gemacht. 7 Aber der späte Broch war über die Grenzen des zerbrechlichen Stein weit hinaus. Derselbe Kritiker hat übrigens auch zur Verständnisvertiefung auf eine gewisse Tiefe dieses Romans in der Hinsicht hingewiesen, daß sowohl der Held Stein wie auch sein Freund Stéphane »frei nach Italo Svevo« durch jugendliche Senilität verbunden sind. In einem mehr oberflächlichen Sinn zeigt sich dies beim langsam alternden Stein mehr noch als bei Stéphane durch die Rückwendung zur eigenen Kindheit und in einem tieferen Sinn wird man auch mehr bei ihm als bei Stéphane an den alten Topos vom »puer senex« erinnert. Curtius hat darauf hingewiesen, daß dieser aus der heidnischen Spätantike, also aus einer Verfallszeit wie der unseren stammte. 8 Freilich fehlt ihm die archetypische Dimension, welche etwa die Lysanias-Gestalt in Brochs Tod des Vergil besitzt. Was die Entwicklung von Skwaras Romanschaffen betrifft, so begann nach der Pest in Siena im Gleichschritt mit der Vervollkommnung der erzählerischen Technik eine Art Substanzverlust ein zu setzen und in dem Roman Bankrott- Idylle 9 ging es weniger um echte Erkenntniserweiterung und wirkliches ethisches Anliegen als um geschickte rhetorische und eristische Selbstverteidigung des eigenen Verhaltens. Den Bogen zurück zur strengen Forderung Brochs vollzog erst wiederum wirklich - noch vor dem Roman Zerbrechlichkeit - die Erzählung Versuch einer Heimkehr 10 , die eigenartiger Weise in einer Hinsicht insofern eine Gegenstück 4 Hermann Broch: Schriften zur Literatur. Bd. 2, Theorie, Frankfurt 1975, S. 208 5 Hermann Broch: Briefe. Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 360 6 Volker Breidecker: »Es fällt der Stein und er zerbricht«. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. 6. 2002 7 Manfred Durzak: Hermann Broch. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 32 8 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 106 ff. 9 Erich Wolfgang Skwara: Bankrott-Idylle. München 1985 10 Erich Wolfgang Skwara: Versuch einer Heimkehr. Frankfurt 1998 <?page no="213"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 201 zur Pest in Siena darstellt, als sie den gescheiterten Versuch eine Rückkehr in die alte österreichische Heimat schildert, die damit endet, daß der wiederum autobiographische Autor seinen beiden amerikanischen Kindern »seine Toten« auf dem Salzburger Petersfriedhof zeigt. Was das Wesentliche des »Bogens« zurück ausmacht, ist jedoch nicht die Fabel, sondern die unerbittliche Wahrheitserforschung nach dem eigenen Geschick, die hier nicht auf Weißwäsche, sondern auf mitleidlose Selbstanklage hinaus läuft. Jene sowohl Erkenntnis erweiternde wie ethische Funktion, welche die Erzählung im zeitlich beschränkten Sinn auf die versuchte Heimkehr erfüllt, leistet der Roman Zerbrechlichkeit im weitesten Umfang gleichsam für das gesamte Leben Stein-Skwaras und die Entwicklung des Helden Stein. Der Roman ist ganz in der Tradition Brochs als moderner Roman angelegt, im wesentlichen ein einziger riesiger innerer Monolog mit einem ganz schmalen Gerüst einer äußeren Fabel. In einer weitaus direkteren Form als irgendein Roman Brochs ist er dabei bis ins letzte Detail auch autobiographisch. Das einzige Wesentliche, was den Autor von seinem Helden Stein unterscheidet, ist der Umstand, daß nichts auf eine Tätigkeit Steins als Schriftsteller hindeutet. Die Fabel des Romans setzt damit ein, daß Stein auf dem südkalifornischen Flugplatz San Diego die Ankunft seines alten Freundes aus Pariser Studententagen Stéphane erwartet, den er zu sich als Gast nach San Diego eingeladen hat und mit dem er daraufhin eine Reise durch Südkalifornien unternimmt. Die Geschichte der Ankunft des Freundes sowie der Fahrt ist durch weit ausladende Rückblenden besonders zu Liebeserfahrungen in Paris und Lucca unterbrochen, die nebenbei einen Lichtkegel auf nahezu alle äußeren und vor allem inneren Situationen in Stein-Skwaras Leben werfen. Diese ausgedehnten Rückblendungen während des Wartens auf den französischen Freund und Rechtsanwalt Stéphane, von dem der Leser im Gegensatz zu Stein nur den Vornamen erfährt, zusammen mit der winzigen Fabel des äußeren Geschehens, des Wartens und der Reise nehmen die Teile zwei und drei ein. Sie sind von einem knappen Rahmen der Teile eins und fünf umschlossen, die jeweils nur vier Seiten lang sind und die beide äußerlich mit dem Fliegen zusammen hängen. Der erste Teil, betitelt »Stumme Stimmen«, gibt Gedanken wieder, die Stein auf einem Flug von Chicago nach Paris gehabt hat, was aber nur den Anlaß zu einer ersten inneren Standortbestimmung bietet, in welcher er sich als ein »draußen im Leben« doch eher Bedachter und Besorgter, und das heißt als Konservativer zeichnet. Der vierte Kurzteil, betitelt »Startverspätung«, das den Rahmen schließt, zeigt ihn wieder im Flugzeug sitzend, dieses Mal zurück auf dem Flug von Paris nach Amerika und dieser Teil weist im Unterschied zum ersten, das auf die Vergangenheit zurück gerichtet ist, voraus in die Zukunft. <?page no="214"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 202 Aber Vergangenheit und Zukunft, ja die Zeit überhaupt, die vor allem eine innere Zeit ist, beginnt sich aufzulösen und zwischen der Gegenwart der Erinnerung und der Gegenwart des Vorausblickens wird alles in den Brennpunkt des jeweiligen Augenblicks eingebettet. Dazu ist der Rahmen in den beiden Flugzeugen von tiefer sinnbildlicher Bedeutung, denn der monologisch resümierende Stein beantwortet die Frage, wo es mehr zu sehen gäbe und wo das Wunder steckte, in der »alten oder neuen Welt« mit der Enthüllung, er hätte beiden, Europa wie Amerika »abgewinkt«, und da ihm der ferne Osten fremd geblieben war, hatte er in tiefem Pessimismus der geistigen Überlieferung der Welt überhaupt abgewinkt. Er rettet sich einerseits in scheinbare Blasiertheit und andererseits in die Abkehr von der festen Erde, um sich ihr durch eine Art Flucht zu entziehen: »und wenn er seine Flüge addierte, hatte er dann nicht Wochen, ja Monate bei minus fünfzig Grad Außentemperatur in zehntausend Meter Höhe ohne Nabelschnur zur Erde verbracht? « 11 Hier klafft allerdings bereits einer der Widersprüche oder scheinbaren Widersprüche, die sich durch den Roman ziehen. So gibt es trotz des »Abwinkens« gegenüber der Welt eine ganze Menge von Dingen, die Stein nicht nur bejaht, sondern liebt: Frauen, gutes Essen und Trinken, die blühenden Sträucher im Luxembourg. Und von seinem Wohnort San Diego heißt es einmal: »Er wunderte sich nicht nur, warum er es hinnahm, sondern mehr noch, warum es ihm trotz seiner Klagen hier gefiel.« 12 Wenn er ausnahmsweise einmal seine Zeit gepriesen hatte, die Technik und das Unmaß an Errungenschaften, die er benutzte, genoß und nicht verstand, dann fällt er wieder zurück in die Generalablehnung. Dies sind bewußt vom Autor konstruierte Widersprüche. Es gibt aber auch andere, solche die seinen Helden Stein selbst »aus den Schienen warfen«. So hatte er sich als junger Student entschlossen, Frankreich zu lieben, obwohl kein Anlaß dazu bestand. Er wurde trotz seiner Vorliebe für technischen Luxus von seinen Studenten geschätzt, weil sie seinen »Gegenentwurf« zu einer mechanisierten Gegenwart spürten. Und obwohl ihm die Sonnenstunden alles bedeuteten, stieg er erst mittags aus dem Bett. Seit der Kindheit hatte er von einem Leben am Meer geträumt, aber doch nicht gleich an diesem Ozean. Und als sein Freund Stéphane ihn einmal fragt: »Soll das ein Vorwurf sein? « da lautet die Antwort: »Natürlich nicht, natürlich doch.« Also ein Ja und ein Nein. Überzeugend berichtet Stein von der tiefen Liebe zu seiner Frau, die er ständig betrügt und geradezu packend berichtet er von seiner leidenschaftlichen Liebe zur Freundin Sophie. Aber als er sich in Rückblendung der platonisch 11 Zerbrechlichkeit oder DieToten der Place Baudoyer, op. cit., S. 8 12 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 68 <?page no="215"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 203 homoerotischen Bindung als Fünfzehnjähriger an den zwölfjährigen Giovanni erinnert, heißt es plötzlich ernüchternd: »Als später Frauen in mein Leben traten, viele Frauen, eine nach der anderen, hatte ich meine Lust, doch keine Liebe mehr.« 13 Sogar mit dem Alter seines Helden springt der Autor willkürlich um: einmal ist er achtundvierzig Jahre alt, ein anderes Mal sechzig. 14 Bei dem großen Übergewicht des inneren über dem äußeren Leben dieser Darstellung Steins könnte es natürlich auch sein, daß der Autor in dichterischer Weise vom inneren Monolog her einen Wechsel der inneren Perspektive Steins über sein Alter zum Ausdruck bringen will. Mitunter mausert sich Stein überhaupt zu einem entschlossenen und erbitterten Kohlhaas der Augenblickslaunen, deren falschen Behauptungen oft weise Einsichten gegenüber stehen. Ja, es gibt Eingeständnisse Steins von Angeberei: »erlogene Geschichten« etwa, die er seinem Freund Stéphane erzählt, oder Lügen, die er seinen Studenten gegenüber ausspricht, um Kenntnisse vorzutäuschen, die er nicht besitzt. 15 Stein, der zunächst nur das Schöne verehrte und gelten ließ, beginnt schließlich auch Bestätigungen für das Häßliche zu suchen, wobei die Unterscheidung aber etwas oberflächlich ist. Es gibt zwei Gründe für all dies: Erstens ist es das alte épater le bougeois, das bereits die deutsche Romantik hervorragend beherrschte. Der zweite, tiefere und wichtigere Grund aber besteht zweifellos in jenem aufrichtigen Streben nach Wahrheit, das schon im Versuch einer Heimkehr zu ähnlich ernüchternden Einsichten geführt hatte und das wesentlich mit diesem Roman seine hohe Bedeutung verleiht. »Keiner hatte die Jahre so gründlich vergeudet wie er«, heißt es einmal von Stein, und: »er wußte auch, daß er seit Jahren nichts mehr geschaffen hatte und nutzlos lebte«, ja daß er zu einem »Deserteur des Lebens« geworden war. 16 Aber es bleibt nicht bei derart generellen Feststellungen am Beginn des Romans. Durch das ganze Buch hindurch kommt es Steins Weg und Entwicklung zur Gegenüberstellungen mit Menschen, die ihn auf zu rütteln suchen und diese Konfrontationen sind viel drastischer, lebendiger und eindrucksvoller. So schwärmt Stein davon, daß es nichts Schöneres gäbe, als im Flugzeug, auf der Flucht vor der Außenwirklichkeit also, zwölf Stunden lang neben einem fremden Mann zu sitzen und kein Wort zu sagen, nicht einmal einen Gruß. Da er es am Familientisch ebenso halten möchte wie neben dem Fremden im 13 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 168 14 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 20 und 191. Allerdings bezieht sich die erste Zahl auf den Roman selbst, die zweite Zahl aber auf die eingeblendete Rahmennovelle des dritten Teils, der mehr fiktiv ist als der Roman selbst. 15 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 71 und 76 16 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 37, 38, 39 <?page no="216"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 204 Flugzeug, nennen ihn Frau und Töchter grausam und böse. Er räumt sogar ein, daß er vielleicht wirklich »grausam und böse« ist, wobei dem Helden Stein nicht einmal die Erklärung einer Totalhingabe an das dichterische Schaffen im Unterschied zu seinem Autor entschuldigen kann. So spricht denn auch Steins ältere Tochter mit ihm in jenem mild nachsichtigen Ton, den das Pflegepersonal einer Klinik gegenüber harmlosen Geisteskranken anschlägt. Sophie, die leidenschaftlichste Liebe seines Lebens, ist entsetzt, als er sich vor ihr aufspielt, indem er sich »böse … über die Frauen seiner Leidenschaft« lustig macht und möchte ihn zwingen, gut zu machen, was er falsch gemacht hat. Damals, an jenem Juniabend im Bois de Vincennes hatte er nicht einmal verstanden, wovon sie sprach. Die Mutter Giovannis, den er mit seiner homoerotischen Liebe bedrängt hatte, hatte ihn den oberflächlichsten Menschen der Welt genannt und er hatte es fertig gebracht, dies in eine Auszeichnung umzumünzen. Als er die junge Sibylle, die er einer wahrhaften Folter erotischer Unterdrückung unterworfen hatte, nur mehr im Elternhaus erreichen zu können glaubte und deshalb dort anrief, beantwortete Sibylles Mutter den Anruf und sagte ihm nur trocken: »Es reicht. Meinen sie nicht auch? « - und hing auf. 17 Als er dem »Alten« im Hotel »Universo« die Geschichte seiner pubertären Liebe zu dem schönen, italienischen Knaben Giovanni beichtete, da reduzierte jener, ein wahres alter ego Steins im Sinn von dessen Gegensatz, diese Geschichte von ihrer überspitzten, verstiegenen, künstlichen und schwülen Version im Munde Steins auf die tatsächliche Realität. Er hielt Stein vor, Giovanni mit Erwartungen und Wertungen behängt zu haben, die ihm nicht zukamen, wohl aber Stein selbst. »Um einen Menschen, um ein Du haben sie sich nie bemüht.« Sagte er ihm. Giovanni wäre für Stein zur fixen Idee geworden: »Ideen aber sind das Erbärmlichste, caro signore.« Giovanni wußte weder, wer er war, noch was Stein in ihm sah: »So erkaltete der Ton seiner Briefe im Verhältnis zu ihren nördlich perversen, kreischenden Liebesbeteuerungen.« 18 Obwohl Stein gewußt hatte, daß dieses Urteil des Greises gültig war, hatte er ihm das Recht bestritten, ein solches Urteil zu fällen. Wie Stein-Skwara in dem Roman, in welchem er ganz nach Ibsens Forderung Gerichtstag über sein eigenes Ich hält, zusammenfassend schlußfolgert: Er war aus Österreich davon gelaufen, weil er die Naziluft nicht hatte ertragen können: »Und dann übte sich Stein draußen in der Welt in den Nazi-Folterknecht-Methoden, die ihn zur Flucht getrieben hatten.« 19 17 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 19, 52, 212, 268 18 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 188 und 189 19 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 266 <?page no="217"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 205 Es gehört ebenso viel Entschlossenheit zur Wahrheit wie Mut dazu, in einem so offenkundig autobiographischen Roman all dies einzubekennen. Wenn es aber nicht krankhafter Exhibitionismus ist - und aus dem Kontext geht klar hervor, daß es das nicht ist - dann ist es nicht weniger als das Aufzeigen der notwendigen Voraussetzung und Möglichkeit zur Läuterung. Dies umso mehr und umso deutlicher, als er genau so wahrheitsgetreu von den Grundlagen berichtet, die ihn zu solcher Läuterung befähigten. Da ist etwa die Erinnerung an die Zeit, da Stein als junger Mann Reiseleiter in Griechenland war, »und der Reiseleiter, nicht seine Gäste, hatten Tränen in den Augen verspürt, als der Bus entlang der Küste und später, schon in der Dunkelheit, landeinwärts nach Olympia fuhr.« Oder da ist die Erinnerung an die Geburt der jüngeren Tochter: Aber als man Stein in der Neugeborenen- Intensiv-Station jenes weltberühmten Krankenhauses in Baltimore das an Schläuchen und elektrischen Kontakten hängende Wesen in die Arme gelegt hatte … hatte er um ihr Überleben gebetet. Er hatte dem nahezu gewichtlosen Bündel in seinem Arm Dinge versprochen, die ihm in seinem Schrecken das Höchste und Lebenswerteste erschienen …« Oder aber, wenn er zur Weihnachtszeit nach Hause gefahren war, da hatte er es geliebt, um die Weihnachtszeit am Glockenturm einer Kirche einen Stern mit Lichterschweif zu sehen. Er war Stein am wichtigsten: Er hätte mit jedem anderen Verschwinden fertig werden können, nur nicht mit dem Ausbleiben des Sterns: »Wenn er nach Hause fuhr, machte er meilenweite Umwege, um diesen Stern an der Kirche zu sehen. Warum wurde ihm, dem Ungeduldigen, dem Spötter, beim Anblick solcher Dinge warm ums Herz? « Oder aber, da er in Lucca die älteste Kirche der Stadt, die Basilika San Frediano betreten hatte, da hatte gerade ein Nonnenchor das Sanctus geprobt: »Daß es solchen schönen Widerspruch zur äußeren Welt noch gab, war mir vor Betreten San Fredianos kaum mehr bewußt gewesen. Ich schüttelte mich vor so viel Weltverneinung. Oder war das Weltbejahung? « Oder da er an den Satz eines Landpfarrers gedacht hatte, »Alles ist Gnade«, da war seine unmittelbare Reaktion darauf gewesen: »Natürlich war alles Gnade.« Oder schließlich, bei dem Gedanken daran, daß an der Küste des Stillen Ozeans in Steins nächster Umgebung das kleinste Grundstück für Millionen gehandelt wurde: »Stein lachte darüber. Er ging am Strand spazieren, und die Küste gehörte damit ihm.« 20 Alle Kinder- und Jugend-Verbrechen Steins werden aufgelistet und dazu heißt es: »Es war ihm lange nicht bewußt gewesen, daß er ein falsches, verirrtes 20 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 30, 41, 84, 180, 260, 277 <?page no="218"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 206 Leben führte, doch auch die Einsicht, als sie endlich kam, hatte ihn nicht verändert.« 21 Die Einsicht in das Fehlverhalten allein schuf allerdings eine ganze Reihe von neuen, positiven Ausblicken. Die meisten von ihnen sind auf vage Kindheitserinnerungen einer katholischen Vergangenheit und neue Impressionen eines an sich eher oberflächlichen, weltabgewandten katholischen Fundamentalismus beschränkt, die den noch oberflächlicheren Glaubensbekenntnissen an einen Sensualismus der gleichwohl durch eine echte und tiefe Verbundenheit mit höchsten Werten westlicher Kulturtradition sublimiert ist. Von der Erreichung des Ideals eines Werks, von der Höhe eines Broch, wie es dem jungen Skwara vorgeschwebt war, kann kaum die Rede sein. Dennoch liegt im Hinweis auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer Läuterung der wesentliche positive Wendepunkt, den dieser Roman gegenüber den unmittelbar vorangegangenen darstellt. Wobei diese Wendung über den persönlichen Aspekt ihrer Reichweite hinaus insofern eine weit größere Tiefendimension annimmt, als die aus Steins Sensibilität entspringende Ratlosigkeit und Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Leben eine wesentliche und zusätzliche Dimension dadurch erhält, daß seine persönliche Krise in eine recht gründliche Darstellung der Gesamtkrise unserer Zeit eingebettet wird. Hier liegt noch weiter reichend als im Hinblick auf Steins persönliche Entwicklung das Positive dieses Romans in der Analyse des Negativen als Voraussetzung von dessen Überwindung. Einmal vermerkt Stein, wenn es Habenichtse gäbe, müsse es auch Seinsnichtse geben und er wolle kein Seinsnichts sein. Es ist die Implikation dieses Anspruchs, welche mit der Einbeziehung der persönlichen Krise Steins in die Krise der Zeit zutiefst verbunden ist. Viele, wenn nicht die meisten großen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts und bis hinein in das einundzwanzigste sind Darstellungen der Krise der Zeit. Der Autor macht diesen Zusammenhang nachdrücklich klar, wenn er seinem Stein einmal die Worte in den Mund legt: »Es war nicht die Verfallenheit an ein Ideal, der ich gehorchte, sondern der wilde Aufstand gegen die Zeit.« 22 Gerade was die Darstellung der Krise der Zeit betrifft, erfüllt der Roman eine geradezu Brochsche Erkenntnisfunktion, als er durch die Analyse des Negativen die Voraussetzung zu positiven Lösungsversuchen bietet. Denn er steht für die größte Gefahr der Zeit gegen den Menschen wie für die Menschheit, nämlich gegen jeglichen Totalitarismus. Aus Protest gegen die »Naziluft« in Österreich ist auch - der autobiographischen Wahrheit des Autors entsprechend - Stein lange nach dem Zweiten Weltkrieg fort gegangen und wurde zum amerikani- 21 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 233 und 57 22 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 178 <?page no="219"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 207 schen Bürger. Nicht weniger heftig wendet er sich aber auch gegen den kommunistischen Totalitarismus. Für diesen stehen in diesem Roman, durchaus richtig beobachtet, die von östlichen Geheimdiensten angestifteten »Revolutionen« der »68er«. So hatten Stein 1968 die in Paris von den Revolutionären in Brand gesteckten Autos weit weniger berührt als die blühenden Sträucher im Luxembourg. Zu einer solchen geradezu an Stifter gemahnenden Haltung der Verachtung gegenüber dem Rummel gehört das Einbekenntnis: »Wo eine Menge war, bekam er es mit der Angst und - schlimmer noch - mit der Abscheu zu tun. Wenn sich das Volk zur Revolution anschickte und fordernd durch die Straßen zog, hielt er sich die Ohren zu und verweigerte den Blick.« 23 Dies stimmt nicht nur für Stein, sondern auch für den Autor Skwara und sein gesamtes Werk und ist um so eindrucksvoller, wenn man bedenkt, daß die große Mehrheit der österreichischen Autoren seiner Generation die linke Modewelle aus welchen Gründen auch immer mit gemacht hatte. Skwaras Stein ist Individualist durch und durch, ist im Grunde zutiefst menschlich, gerade auch dort, wo er an Konventionen aneckt, ja gerade in dieser Hinsicht steht er in einer ehrwürdigen alten Tradition von Autoren, die bis zum Archipoeta und zu François Villon zurück reicht. Und er steht mit seiner Haltung auch - sehr im Unterschied zu der Heuchelei der 68er legitim in der großen österreichischen Literaturtradition. So wie diese von 1938 bis 1945 nicht von den in Österreich lebenden Naziautoren vertreten wurde, sondern von Autoren im Exil, so wird sie nunmehr nicht von den in Österreich zur machtvollen Literaturmafia aufgeblasenen 68er-Clique vertreten, sondern vom amerikanischen Bürger und Professor Erich Wolfgang Skwara, der in Kalifornien arbeitet und in seiner freien Zeit nach Paris geht. So steht denn auch Stein gegen jene platte Spießereigenschaften des Bürgers, der dessen Affinität zum Totalitarismus bildet auch wenn es in anderer Hinsicht kleine Ansätze zu einem harmlosen Spießertum gibt, wie etwa, wenn er in seinem Haus die modernste Einbrecheranlage anbringen läßt oder wenn er als Gast in dem Berghaus auf dem Mount Palomar Angst vor versteckten Räubern hat. Jedoch nachdrücklich und kompromißlos steht er gegen jene Spießereigenschaften, wie sie die letzte und tiefste bürokratische Grundlage des Nazismus wie Kommunismus bildet, jene psychologische Grundlage des politischen Verbrechens, wie es auch das hübscheste ideologische Feigenblatt nicht wirklich verbergen kann und wie sie gerade von großen österreichischen Autoren von H. G. Adler bis Hermann Broch sichtbar gemacht worden ist. Ja in der Abwehr gegen jeglichen Totalitarismus treibt Stein seinen Individualismus fast wie ein Mynona in einen radikalen Solipsismus hinein, dem 23 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 109 <?page no="220"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 208 jedes Sozialgefühl mangelt. Während der Held von Hermann Brochs Versucher zum Wunsch des Helfenwollens mitunter die Gnade des Helfenkönnens findet, heißt es über Stein einmal: »Das berühmte Helfenwollen, das Stein im Gaunerland der Kindheit gepredigt worden war, das mühselige Helfenwollen, dem viele seiner Kameraden verfallen waren, er glaubte nicht daran.« 24 Dies läßt sich nur aus dem Zusammenfallen einer Überreaktion auf die verlogenen und heuchlerischen »Hilfe«-Ideologien totalitärer Systeme einerseits - darum auch der Hinweis auf das naziverseuchte Österreich - mit jener Art oft gereizter und übertriebener Augenblickslaunen Steins erklären, welche zu unüberlegten Aussagen solcher Art führen können. Denn ein sachlich-nüchterner Rückblick Steins auf sein eigenes Leben würde ihm wohl klar machen, daß er selbst wiederholt Gebender sowohl wie Nehmender solch zwischenmenschlicher Hilfe geworden war. Auch bricht er in dieser Aussage mit der österreichischen Literaturtradition, welcher er in allen anderen Belangen so fest verankert erscheint. Jedenfalls entspricht die Darstellung der persönlichen wie die Zeit-Krise durchaus der bereits zitierten Forderung Brochs nach »ethischer Warnung und Unheilsbotschaft« des Romans und lediglich die von Broch gleichfalls gewünschte »mythische Erbschaft der Dichtung« ist kaum zu finden oder wenn, dann vielleicht nur im Bild des Ankaufs einer römischen Homerbüste durch Stein in einem unerhört punktuellen wo nicht oberflächlichen Sinn, wobei der Herkunftsvermerk »römisch« auch auf den Verdünnungscharakter des Mythischen zielen könnte. Der Titel Zerbrechlichkeit aber trifft tatsächlich den Kern des Romans und zwar ebenso im Hinblick auf die doppelte Darstellung der Krise des Helden wie seiner Zeit, auch wenn er darüber hinaus noch andere Aspekte mit umgreift. Von der eigenen, persönlichen »Zerbrechlichkeit« Steins heißt es nicht zufällig, daß sie »zu überspielen« vielleicht »die einzige Aufgabe im Leben« wäre. 25 Dieses Hauptmotiv kehrt variiert wieder, zuerst in der Zerbrechlichkeit, welche wiederholt der Geliebten Sophie zugeschrieben wird 26 , sodann von einem negativen Aspekt her als »verlogene Zerbrechlichkeit« aller Frauen und schließlich als allerletzte Schlußbehauptung eines menschlichen »Rechts« auf ein Zerbrechen. 27 Aber zu diesem Schluß noch später ein Wort. Notwendig und untrennbar verbunden mit dem Begriff der Zerbrechlichkeit ist die zweite Hälfte des Titels, sind die »Toten der Place Baudoyer«. Diese Toten 24 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 252 25 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 44 26 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 53 und 87 27 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 233 und 298 <?page no="221"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 209 stammen aus der geschichtlichen Ferne eines karolingischen Fischerdorfes, welche bei den Grabungen zu einer Tiefgarage im 4. Pariser Stadtbezirk an den Tag gefördert worden waren und welche zunächst der Funktion dienen, Stein mit zwingendem Nachdruck auf die Zerbrechlichkeit des Lebens, auf das notwendige Ende selbst der größten Liebe, wie sie sich in Sophies Kuß dokumentiert, zu stoßen. Aber obwohl Stein später einmal sogar das eindringliche und schockierende Bild dieser Toten in seinem Bewußtsein vergessen haben wird, wenn er die fertige Tiefgarage benützt, bleibt ein Anhauch der Todeserkenntnis in seinem Unbewußtsein haften. Das Ergebnis ist keineswegs eine oberflächliche »Carpe diem«-Schlußfolgerung, sondern das Durchbrechen einer ersten Schicht reiner Oberflächenbewältigung des Lebens ohne Einbeziehung einer Todeserfahrung. Zu einer tieferen Wahrheit, welche diese Erfahrung mit sich einschließt, möchte er durchbrechen. Am deutlichsten zeigt sich dies an dem wichtigen Verhältnis Steins zu seinem Freund Stéphane und dessen Entwicklung. Sogar der Waschzettel des Romans weist darauf hin, daß die Freunde Stein und Stéphane außer ihrer gemeinsamen Vergangenheit und ihrem Hunger nach gutem Essen nicht viel verbinde. Im Roman selbst werden weitere Gemeinsamkeiten sichtbar: Einmal werden sie »Komplizen« genannt, die sich darin einig waren, daß sie »die Welt für dumm verkauften« und daß ihnen bei gar nichts der Verdacht kam, sie könnten sich dabei selbst betrügen. Ein anderes Mal wird ihrem negativen Leben nachdrücklich gleicherweise eine »Paradieses«-Variante gegenüber gestellt, welche die Gefahr aufzeigt, in solcher Gemeinsamkeit der Unwahrheit in den Kitsch abzusinken. Sei es aber, daß die in der ersten Romanhälfte beschworene Rückwendung Steins zu seiner Kindheit (und Kindlichkeit) als Entwicklungskatalysator gewirkt hat, oder sei es, daß sich auch aus anderen Gründen tatsächlich ein echter Ausweg »Hinaus. Hinaus« aus dem alten »Kreisverkehr« anbahnt, ein Markstein der Weiterentwicklung nach dem anderen taucht auf und wird nicht zuletzt in den zunehmenden Verschiedenheiten zwischen Stein und Stéphane sichtbar. Es wird den Freunden in zunehmender Weise bei ihrer gemeinsamen Reise klar, nicht nur wie wenig sie im Grunde verbindet, sondern wie viel sie eigentlich trennt. Hier aber spielt als Hauptmotiv jene durch die Toten der Place Baudoyer gewonnene Todeserkenntnis herein, welche den Grund für das zunehmend tiefere Wesen Steins gegenüber der platten Oberflächlichkeit Stéphanes bildet. Unbewußt vielleicht sogar für den Autor selbst öffnet sich dabei unbeschadet der weiter gültigen, tiefen Affinität zur Kultur und Literatur Frankreichs die zunehmende Distanzierung des Österreich-Amerikaners Stein vom wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verfall Frankreichs und den Schattenseiten der modernen Wirtschaftswelt, die sein Freund Stéphane in geradezu idealtypischer Weise repräsentiert. <?page no="222"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 210 An einer Stelle ihrer gemeinsamen Reise bewegen Stein seine Gedanken an die Toten der Place Baudoyer wie an den örtlich wie zeitlich so fernen Giovanni mehr als der neben ihm sitzende Stéphane. Während er aus der Erinnerung an die Toten sogar in überspitzter Impulsivität so etwas wie ein »Stadtrecht auf Paris« ableitet, wiegt Giovanni in keiner Weise schwer genug, um sogleich auch ein »Stadtrecht« auf Lucca von ihm abzuleiten. Er war mehr Anlaß zu einer so engen Kenntnis mit der italienischen Sprache und Kultur, wie sie Stein ansonsten vielleicht niemals hätte erreichen können. Als Stein einmal an Eichendorffs Gedicht »Mondnacht« denkt: »Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus …«, da wird ihm klar, daß Stéphane auch mit der besten Übersetzung des Gedichts ins Französische nicht geholfen wäre, da er es doch nur »mit dem Kopf zu erfassen« suchte. Und als ein anderes Mal Stéphane eine von Claras Krippenfiguren aus der Krippe hob und gegen das Licht hielt, als wollte er sie prüfen, schätzen, kaufen, da erkannte Stein, daß er Schäfer wie Engel viel zu rauh anfaßte und nichts »von der Seele ahnte, die Clara ihnen eingehaucht hatte«. 28 Stéphane verteidigt auch einmal einen bösartigen Terroristen und befreit den Schuldigen aus dem Gefängnis. Die Herausarbeitung all der Gegensätze zwischen Stein und Stéphane stellt die Vorbedingungen für einen nächsten weiteren Schritt in der inneren Entwicklung Skwaras als Autor dar. Denn in früheren Romanen trat oftmals dem Stolz auf die Kenntnis ausgefallener Speisegerichte lediglich der Stolz auf den völligen Unverstand grundlegendster zwischenmenschlicher Beziehungen an die Seite. Sowohl durch die Darstellung der Krise wie der vertieften Stellungnahme gegen jeglichen Totalitarismus wie durch die Unterschiedlichkeit zu Stéphane und die Erfahrung mit den Toten der Place Baudoyer wäre zu erwarten, daß der vierte und letzte Teil des Romans, der Abschlußrahmen eine entsprechende letzte Schlußfolgerung zieht. Im vordergründigsten Sinn der Fabel folgt der Roman auch vollkommen der inneren Logik der Dichtung: dem Flug Amerika nach Europa des ersten Teils wird nun ein Flug von Europa nach Amerika gegenüber gestellt, wodurch sich der Kreis schließt. Nach so viel Bestehen Steins auf dem Zufügen von Schaden und Leid seinen Mitmenschen gegenüber bestünde aber nun eigentlich die Notwendigkeit zur Sühne. Wie sieht es damit aus? Ein erster, äußerst ernsthafter Ansatz findet sich in Form einer Vorausdeutung bereits im zweiten Teil, in dem in geradezu packender Weise geschildert wird, wie Stein die ernsthafte Versuchung kennt, sich vor den heranbrausenden Zug zu werfen. Es ist kein Zufall, daß einige der berühmtesten weitgehend autobiographischen 28 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 82 und 97 <?page no="223"?> Erich Wolfgang Skwara und Die Toten der Place Baudoyer 211 Romanhelden den Freitod wählen, auch wenn ihre Autoren am Leben blieben, ja geradezu weil und damit sie empirisch am Leben bleiben konnten. Es ging um den literarischen Freitod eines Stirb und Werde als ästhetischer Lösung, wenn nicht sogar in psychologischer Identifikation, den Freitod des jeweiligen Helden nach zu vollziehen. Goethes Werther, Hesses Hans Giebenrath, Hermann Brochs Andreas in seinen Schuldlosen, sie alle mußten sterben, damit ihre Autoren überleben könnten. Stein begnügt sich mit der Forderung, wonach Menschen und Dinge ein Recht auf Zerbrechen haben und auf einer letzten vielleicht doch fragwürdigen Anschauung, wodurch der Bankrott schon dadurch »zum Sieg« wird, »daß wir ihn mit eigener Stimme eingestehen«. 29 Das wirklich »Stirb und Werde« wird vom Helden weg auf die Concord-Maschine übertragen. Er fordert nach dem katastrophalen Absturz, der zur Einstellung der Concord-Flüge geführt hatte, deren neuerlichen Flugeinsatz. Dadurch liest sich aber jener Rahmenabschluß eher wie eine bezahlte Reklame der Concord- Linie denn als der adäquate Abschluß eines großen Romans. Man könnte aber natürlich in solcher Stellvertretung eine besonders subtile Weiterentwicklung der alten Stirb-und-Werde-Schlüsse des Helden selbst erblicken. Eine solche Schlußfolgerung liegt umso näher, als es sich um den bisher reifsten Roman eines der bedeutendsten österreichischen Gegenwartsautoren handelt. Im Grunde kann auch das »Eingestehen« des Bankrotts wenn auch vielleicht nicht gerade als Sieg, so doch als eine Erkenntniserweiterung gewertet werden. Dazu kommt noch die Einsicht in die eigene Einsamkeit Steins wie seine Entschlossenheit zum »Einmannbetrieb«, die durchaus positive Lösungen darstellen. Überhaupt mögen in gewissem Sinn die Zusammenstellungen paradoxer Gegensätze tragende positive Lösungen verdecken, wenn auch nicht die Darstellung der großen Krise der Zeit. Zu dieser kommen als wichtigste Ergebnisse die Ablehnung eines jeglichen Totalitarismus und das Bekenntnis zur westlichen Kulturtradition im weitesten Sinn, mögen auch die Romania und die westliche Antike eine besondere Stellung dabei einnehmen. Dazu kommt noch überdies die Perspektivmöglichkeit jener Relativierung, welche durch das Einbringen der Unendlichkeitsdimension beim Besuch der Sternwarte von Mount Palomar zum Tragen kommt, von der aus nahezu alles in die Geringfügigkeit räumlicher wie zeitlicher Grenzen verwiesen wird. 29 Zerbrechlichkeit … op. cit., S. 298 <?page no="225"?> Brecht, Bert 179 Brehm, Bruno 135 Breidecker, Volker 200 Broad, Charlie D. 116 Broch, Hermann IX, X, XI, 16, 25, 33, 51-79, 101, 102, 103, 105, 117, 130, 164, 192, 199, 200, 201, 206, 207, 208 Brody, Daniel 70 Brown, G. Spencer 116 Brück, Eva X Brunner, Constantin 86, 88 Brunngraber, Rudolf 144, 162 Buber, Martin 105 Buddha 175 Burt, Sir Cyril 114 Busta, Christine 144, 175, 179 Buzzati, Dino 180 Byron, Lord George Gordon Noel 179 Capote, Truman 104, 105 Castle, Eduard 50 Celan, Paul IX, 86, 88, 89, 91, 96, 97, 164, 179, 188 Cezanne, Paul 97 Chagall, Marc 97 Chamfort 32 Chang Chen Chi 109 Chang, Garma: siehe Chang Chen Chi Che Guevara 169 Chirico, Giorgio de 189 Christian der Vierte, König von Dänemark 27 Christus 183 Cioran, Emile M. 144 Clemens von Alexandria 70 Congreve, William 178 Coombe-Tenant, Winifried 119 Cramer, Carl Gottlob 51 Crookes F. R. S., Sir William 123 Cummings, E. E. 92, 96 Cummings, Geraldine 119 Curtius, Ernst Robert VII Dante 18, 73 Achmatowa, Anna 197 Adel, Kurt 143 Adler, Alfred 117 Adler, H. G. IX, 207 Aischylos 60 Altenberg, Peter 177 Altmann, Bernhard 24 Amann, Klaus 69, 70 Améry, Jean 145, 188 Antschel, Paul: siehe Celan, Paul Arabal, Fernando 178 Ausländer, Ignaz 87 Ausländer, Rose X, 81-99 Babel, Isaak 161, 163 Bachmann, Ingeborg 179, 181, 184 Bahr, Hermann 11, 15, 16 Balfour, Countess of 119 Balzac, Honoré de 7, 38 Baudissin, Graf Wolf von 19 Bauer, Roger 143 Bauer, Werner M. 143 Bauernfeld, Eduard von 4 Baumgarten, Franz Ferdinand IX Beer-Hofmann, Paula: siehe Lissy, Pauline Beer-Hofmann, Miriam 18 Beer-Hofmann, Richard 15-28, 177 Behrendt, Richard F. 144 Beloff, John 123 Belzner, Emil VII Benda, Oskar 81, 99 Benjamin, Walter 67 Benn, Gottfried 188 Bergammer, Friedrich 101, 102, 103, 105 Bergner, Elisabeth 125 Bernhard, Thomas 185 Bettelheim, Anton 8 Blei, Franz 101, 102, 103 Bloch, Ernst 67 Blok, Alexander 103 Bolbecher, Siglinde X Böll, Heinrich 164 Bondy, François 145 Brahe, Tycho 27, 28 Personenregister <?page no="226"?> Personenregister 214 Darwin, Charles Robert 2 Demeter 75 Demus, Klaus IX Deschner, Karlheinz VII, VIII Djilas, Milovan 161 Dobbs, Adrian 115 Dor, Milo 160, 161, 162 Dorman, Alexander: siehe Federmann, Reinhard Dostojewskij, Fjodor 163 Durzak, Manfred 200 Eccles, Sir John 115 Eddington, Sir Arthur 113 Edwards, Paul 68 Egger, Bertrand Alfred 160, 161 Eichendorff, Joseph von 39, 210 Einstein, Albert 117 Eliade, Mircea 143 Ellermann, Heinrich 198 Emmanuel, Pierre 145 Endres, F. C. 79 Enzensberger, Hans Magnus VIII Ernst, Paul 29, 33 Esslin, Martin 143 Euripides 178 Faulkner, William 102 Federmann, Reinhard VII, 144, 159-174 Felmayer, Rudolf 88, 160 Fischer, Ernst 104 Fisch-Fischel, J.: siehe Katz, Henry William Flechtheim, Ossip 144 Flesch, Hans IX Flinker, Robert 143 Franco 112 Franz Joseph, Kaiser 115 Freud, Sigmund 117 Friedrich der Zweite, König von Dänemark 27 Friedrich, Hugo 188 Fringeli, Dieter VII Frost, Robert 92 Fry, Varian 132 Gado, Frank 107 Galilei, Galileo 119 Gallus, Gajus Cornelius 62 Gardner, Laurence 76 Garrick, David 48 Garrick, Eva geb. Veigel 48 Gide, André 103 Giono, Jean 78 Glaser, Ernst 10 Goethe, Johann Wolfgang XI, 6, 51, 52, 53, 166, 175, 177, 211 Goldoni, Carlo 178 Gombrich, Ernst 143 Gong, Alfred IX, 88 Gong, Norma 88 Götz, Richard 43 Grabbe, Christian Dietrich 53 Grabowsky-Hotamanidis, Anja 67, 68 Graf Attems, Fürsterzbischof von Seckau 4 Grafe, Felix 17 Granach, Alexander 125 Grass, Günter 164 Green, Julien 143 Grillparzer, Franz VIII, 3, 4, 8, 12, 22, 41, 104, 106 Grimmelshausen, Johann Jakob C. 33 Grün, Anastasius 11 Guénon, René 70 Gütersloh, Albert Paris 101 Guttenbrunner, Michael 179 Habermas, Jürgen 67 Hahnl, Hans Heinz VII, VIII, 165 Hakl, Hans Thomas 69, 70 Haldane, J. B. S. 121 Hamerling, Robert 6 Hand, Rainer 23 Handke, Peter 165 Hardy, Sir Alister 116, 117, 118 Härtling, Peter VII Hartmann, Moritz 4 Harvie, Robert 117, 118 Hauer, Jakob Wilhelm 70 Hauer, Josef Matthias 41, 42 Hawthorne, Nathanael 103 Hecht, Helios 88 Heer, Friedrich 144 Heine, Heinrich 53, 94, 131 Hellingrath, Norbert von VIII Helmes, Günter VII, 16 Hemingway, Ernest 13, 103 Hergesheimer, Joseph 103 Herzl, Theodor 18 <?page no="227"?> Personenregister 215 Hesse, Hermann 211 Heym, Georg 96 Heywood, Rosalind 119 Hilgenfeld, Adolf 70 Hiller, Kurt VII Hitler, Adolf 27, 102, 106, 126, 132, 135, 136, 137, 138, 152, 160, 172 Hocke, Gustav René 198 Hofmannsthal, Hugo von IX, 11, 15, 17, 30, 70, 174, 177, 183 Hogarth, William 48 Hohenlohe, Fürstin Marie zu 8 Hölderlin, Friedrich VIII, 89, 169 Höllerer, Walter IX Höllering, Franz 162 Holroyd-Rice, Gitta 107 Hook, Sidney 115 Hopkins, Marilyn 76 Hubalek, Felix 144 Huxley, Aldous 103, 173 Ibsen, Henrik 204 Irenäus 70 Jandl, Ernst 178 Jesenska, Milena 101 Johnson, Uwe VIII Jonas, Hans 67 Jones, Howard Mumford 103 Josephus Flavius 23 Jost, Dominik 198 Joyce, James IX, 57, 103 Jung, Carl Gustav 56, 70, 109, 115, 117 Jung, Josef C. 34 Jünger, Ernst 197, 198 Kafka, Eduard Michael 15 Kafka, Franz 89, 93, 101, 104, 189 Kahler, Erich von 23 Kaiser, Konstantin X Kallir, Otto 25, 26 Kapp, Wolfgang 134 Kasack, Wolfgang 164 Katz, Henry William 125-141 Katz, Herz Wolff: siehe Katz, Henry William Katz, Jakob 131 Katz, Jenny 130 Keller, Gottfried 30, 31, 50 Kelsen, Hans 144 Kennedy, Jay Richard 161 Kerényí, Karl 70, 79 Kesten, Hermann 132 Keyserling, Hermann 70 Kindermann, Gottfried Karl 150 Kissinger, Henry 150 Klinger, Kurt IX, X, 175-186 Klopstock, Friedrich Gottlieb 53 Knight, Max 198 Koestler, Arthur X, 8, 109, 111-123, 131, 136, 145, 178, 192 Koestler, Cynthia 145 Korrodi, Eduard VII Kosenina, Alexander 25 Kotzebue, August 51 Kraft, Werner 198 Kraus, Anni 187 Kraus, Karl VIII, 43, 49, 86, 95, 96, 98, 165, 177 Kreijci, Karl 164 Kreuzer, Helmut VII Krolow, Karl 198 Kurz, Paul Konrad 96, 97, 99 La Rochefoucault, François 32 Lang, Siegfried VII Lao Tse 158, 168 Lasker-Schüler, Else 96 Laube, Heinrich 3 Lazarsfeld, Paul 144 Lederer, Moritz 8 Lederer, Melanie 8, 9 Leisegang, Hans 73, 75, 79 Lenau, Nikolaus 49, 50 Lenin 171 Leonardo da Vinci 188 Lesage, Alain René 33 LeShan, L. L. 115 Lessing, Gotthold Ephraim 52, 125 Lewis, Sinclair 102 Lichtenberg, Georg Christoph 32 Liptzin, Solomon 15, 18, 24 Lissy, Pauline 17, 18, 24, 25, 26, 27, 28 Li-Tai-Po 89 Lothar, Ernst 40, 103, 106, 140, 145 Lublinski, Samuel 29 Lubomirski, Karl 187-198 Lukács, Georg 67 <?page no="228"?> Personenregister 216 Lützeler, Paul Michael 63 Luzi, Mario 198 Mach, Ernst 18 Madariaga, Salvador de 144 Malraux, André 145 Mamlejew, Jurji 163, 164 Manger, Itzig 87 Mann, Thomas 41, 112, 113 Mao Tse-tung 158, 167, 168, 169, 170 Marcel, Gabriel 143 Maria Magdalena 76 Marx, Karl 169, 171 Mason, A. 115 Massinger, Philip 19, 20, 21 McVeigh, Joseph 143 Merimée, Prosper 4, 5 Metzl, Paul 189, 198 Meyer-Gräfe, Anne Maria 63 Meyrink, Gustav 111, 113, 114, 151 Mickiewicz, Adam 96 Milis, Randolph: siehe Federmann, Reinhard Milow, Stephan 2, 3, 4, 5, 7 Minder, Robert 144 Minor, Jakob 3 Mirandola, Pico de 121 Molden, Fritz 144 Montaigne, Michel de 32 Moore, Marianne 92, 96 Morgan, Charles 103 Morgenstern, Soma 125, 136 Morgentau, Hans J. 150 Morris, Robert 123, 124 Moses 23 Mulford, Prentice IX Müller, Robert VII Muschg, Walter VII Musil, Robert VII, 17, 33, 43, 101, 164 Nagel, Johann Willibald 50 Nathan, Robert 103 Nestroy, Johann VIII, 25, 26 Neumann, Hans Gerhard 22, 23 Niederle, Helmuth A. 175 Nietzsche, Friedrich VIII Nitsche, Roland 144 Norden, Ruth 63 Novalis 53 O’Neill, Eugene 104, 105 Oberholzer, Otto 22 Origines 68, 70 Orwell, George 173, 185 Ovid 169, 196 Pauli, Wolfgang 115, 116, 118, 119 Paulsen, Wolfgang 70 Paulus 68 Pedersen, Ena 130, 133 Pepper, Hugo 152 Persephone 75 Perutz, Leo IX Piaget, Jean 113 Picasso, Pablo 97 Pick, Robert IX, 57 Picknett, Lynn 76 Poe, Edgar Allen 145 Pogats, Erich X, 143-157 Polak-Schwenk, Ernst 101 Politzer, Heinz 101 Pollak, Oscar 144 Poppenberg, Felix 30 Popper, Sir Karl 198 Prince, Clive 76 Prize, Henry H. 116, 117 Proust, Marcel 103 Quevedo y Villegas, Francisco Gómez de 33 Reich-Ranicki, Marcel 51 Reif, Wolfgang VII Reinhardt, Max 20 Rembrandt 188 Rilke, Rainer Maria 86, 89, 95, 96, 97, 109, 175, 179, 183, 193 Roden, Max 102 Roll, Michael 4 Rollett, Edwin 33, 49 Roth, Joseph 39, 40, 125 Rouselle, Erich 70 Rubinstein, Anton 4 Rudolph der Zweite, Deutscher Kaiser 28 Saar, Ferdinand von 1-13, 37 Saar, Johann Michael 1 Sachs, Nelly 90 Saiko, George 70 Salm, Fürstin Elisabeth 7 <?page no="229"?> Personenregister 217 Salten, Felix 17 Samjatin, Jewgenij 173 Sapper, Theodor 143 Schardt, Michael M. 16 Scherer, Stefan 16 Scheu, Robert 29 Schidrowitz, Leo XI Schiller, Friedrich 51, 52, 53, 98, 125 Schlesinger, Hans 101 Schmid, Carlo 145 Schmid, Wieland 144 Schmid-Bortenschläger, Sigrid 67 Schnitzler, Arthur 11, 15, 17, 18, 19, 30, 177 Scholem, Gerschom 9, 73 Schönberg, Arnold 41 Schönwiese, Ernst XI, 53, 54, 71, 101- 110, 144, 164, 166, 179, 190 Schopenhauer, Arthur 2, 5, 175 Schott, Rolf X, 166 Schreyer, Isaac 101, 102 Schubart, Christian Friedrich Daniel 53 Schuh, Franz 165 Schuschnigg, Kurt 172 Schütz, Hans J. VII, VIII, XI Schwind, Moritz von 4 Sease, Virginia 107 Seghers, Anna 163 Shakespeare, William 6, 20, 178, 179 Sichelschmidt, Gustav XI Silone, Ignazio 144 Sinclair, Andrew 76 Sinclair, Upton 117 Skinner, B. F. 114 Skwara, Erich Wolfgang 199-211 Sophokles 178, 181 Sorell, Walter 101, 102 Soroyan, William 103 Sperber, Alfred Margul 86 Sperber, Manès 125, 136, 144, 163 Spiel, Hilde 143, 165, 178 Spieß, Johann Heinrich 51 Šrámek, Frána IX St. Vincent-Milley, Edna 102 Staiger, Emil 194 Stein, Gertrude 92 Steinbeck, John 103 Steinberg, Elieser 86 Sterne, Laurence 39 Stifter, Adalbert VIII, 22, 30, 31, 32, 39 Stoessl, Franz 33, 47 Stoessl, Gusti 47 Stoessl, Otto 29-50 Strasser, Peter 144 Strehler, Giorgio 181 Strelka, Joseph XI, 54, 82, 83 Strindberg, August 178 Tau, Max 144 Tertullian 70 Thomasberger, Andreas 16 Timotheus 68 Tolstoi, Leo 117 Torberg, Friedrich 103, 105, 145 Toynbee, Arnold 119, 120 Trakl, Georg 89, 96, 175, 182 Turgenjew, Iwan 5, 10 Twain, Mark 110, 145 Unger, Joseph 4 Updike, John 116 Urzidil, Johannes 101, 102, 103 Vassilev, Leonid L. 112 Vergil 60, 62, 73, 74, 192 Verlaine, Paul 175 Vischer, Friedrich Theodor 192 Vulpius, Christian 51, 52 Wachtler, Adelgunde 67 Wagner, Richard 10 Walberer, Ulrich 132 Waldinger, Ernst 101, 102, 103 Walker, E. Harris 116 Wallace-Murphy, Tim 76 Watson 114 Weber, Waldemar 188, 198 Weidlé, Wladimir 63, 192 Weigel, Hans 159, 160 Weigel, Robert 198 Weiss, Ernst IX, 135 Weiß, Georg 3 Weissenberger, Klaus 82 Wells, H. G. 116 Werfel, Franz 101, 175 Werner, A. 21 Wertheimstein, Josephine von 4, 5, 6 <?page no="230"?> Personenregister 218 Wieland, Christoph Martin 53 Wiesel, Elie 143, 145 Wilder, Thornton 25, 26 Wilett, Mrs.: siehe Coombe-Tenant, Winifried Wolfe, Thomas 102 Wunberg, Gotthart 29, 31 Wylie, Elinor 103 Zammit, Victor 124 Zand, Herbert 143 Zeidler, Jakob 50 Zeman, Herbert 143 Ziegler, Leopold 70 Zimmer, Heinrich 70, 83 Zohn, Harry 106, 107 <?page no="231"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Edition Patmos Karl S. Guthke Die Erfindung der Welt Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur Band 11, 2005, VI, 589 Seiten, € 78,- ISBN: 978-3-7720-8142-2 Joseph P. Strelka Arthur Koestler Autor - Kämpfer - Visionär Band 10, 2006, 179 Seiten, € 39,- ISBN: 978-3-7720-8144-6 Joseph P. Strelka (Hrsg.) Lyrik - Kunstprosa - Exil Festschrift für Klaus Weissenberger zum 65. Geburtstag Band 9, 2004, 288 Seiten, € 68,- ISBN: 978-3-7720-8067-8 Joseph P. Strelka, Exil, Gegenexil und Pseudoexil in der Literatur Band 8, 2003, X, 172 Seiten, € 38,- ISBN: 978-3-7720-2887-8 Hartmut Steinecke Von Lenau bis Broch Studien zur österreichischen Literatur von außen Band 7, 2002, 215 Seiten, € 34,- ISBN: 978-3-7720-2886-1 Joseph P. Strelka Poeta Doctus Hermann Broch Band 6, 2001, VI, 157 Seiten, € 24,- ISBN: 978-3-7720-2885-4 Joseph P. Strelka Der Paraboliker Franz Kafka Band 5, 2001, VIII, 111 Seiten, € 19,- ISBN: 978-3-7720-2884-7 Robert G. Weigel Zerfall und Aufbruch Profile der österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert Band 4, 2000, XII, 213 Seiten, € 29,- ISBN: 978-3-7720-2883-0 Karl S. Guthke Der Blick in die Fremde Das Ich und das andere in der Literatur Band 3, 2000, VI, 451 Seiten, € 74,- ISBN: 978-3-7720-2882-3 Stefan H. Kaszynski Kleine Geschichte des österreichischen Aphorismus Band 2, 1999, X, 163 Seiten, € 29,- ISBN: 978-3-7720-2881-6 Joseph P. Strelka Des Odysseus Nachfahren Österreichische Exilliteratur seit 1938 Band 1, 1999, X, 276 Seiten, € 29,- ISBN: 978-3-7720-2880-9