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Begegnungen mit Halldór Kiljan Laxness

0723
2008
978-3-7720-5288-0
978-3-7720-8288-7
A. Francke Verlag 
Wilhelm Friese

Von den frühen 50er bis in die 90er Jahre des verflossenen Jahrhunderts kam es zu Begegnungen unterschiedlichster Art zwischen Halldór Kiljan Laxness, dem isländischen Literaturnobelpreisträger von 1955, und dem späteren Tübinger Nordistik-Professor. Eine Korrespondenz über den isländischen Roman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand am Beginn, es folgte ein Briefwechsel über das 1954 uraufgeführte Drama "Silbermond", das Peter Huchel, damals Chefredakteur von "Sinn und Form", gern in deutscher Übersetzung veröffentlicht hätte. Zu seinem 80. Geburtstag verlieh die Universität Tübingen Laxness den Ehrendoktor, die dabei gehaltenen Ansprachen sind im vorliegenden Buch wiedergegeben. "Begegnungen" mit den Werken des Romanciers und Erzählers beschließen den Band.

<?page no="0"?> Wilhelm Fr ie s e BEGEGNUNGEN MIT HALLDÓR KILJAN LAXNESS A. Francke Verlag Tübingen und Ba s el <?page no="1"?> Wilhelm Friese Begegnungen mit Halldór Kiljan Laxness <?page no="3"?> Wilhelm Friese Begegnungen mit Halldór Kiljan Laxness <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8288-7 <?page no="5"?> Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vom isländischen Roman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ein Briefwechsel mit Halldór Laxness (1953/ 54) . . . . 9 „Silbermond“: Ein missglückter Versuch „Silfurtúnglið“ (Silbermond). Handlung des Dramas; Übersetzung des Zweiten Aktes. . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Ein Briefwechsel mit Peter Huchel und Halldór Laxness (1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 „Undir Helgahnúk“ und „Kristnihald undir Jökli“: Der Ring schließt sich (1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Ehrendoktor der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Halldór Kiljan Laxness und Knut Hamsun (1982) . . . 83 Religion in Leben und Werk von Halldór Kiljan Laxness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5 <?page no="6"?> Freundesgruß aus Tübingen (1998) . . . . . . . . . . . . . . 121 Arbeiten des Verfassers zu Halldór Kiljan Laxness . . . 125 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 6 <?page no="7"?> Vorbemerkung Jahrzehnte lang, nahezu die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, sollte es zu Begegnungen mit Halldór Kiljan Laxness kommen, dem Schriftsteller und dem Menschen, wenn auch, bedingt durch die Zeitläufe, oft für längere oder kürzere Zeit unterbrochen. Zu Beginn, in den frühen fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts stand der isländische Roman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt unseres schriftlichen und mündlichen Gedankenaustausches, insbesondere natürlich seine bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichen Romane, d.h. also bis Gerpla, 1952 (dt. Gerpla, 1977; Die glücklichen Krieger, 1991). Sein 1954 erschienenes Drama Silfurtúnglið in deutscher Übersetzung in Sinn und Form zu bringen, geht zurück auf den Wunsch von Peter Huchel, dem damaligen Chefredakteur der in (Ost-)Berlin herausgegebenen Literaturzeitschrift. Aus verschiedenen Gründen sollte das Unternehmen scheitern. Zum 70. Geburtstag (23. April 1972) des Literaturnobelpreisträgers brachte die in London & New York erscheinende Scandinavica eine Spezialnummer mit Beiträgen von acht Literaturwissenschaftlern aus mehreren europäischen Ländern und den USA heraus, aus dem deutschsprachigen Raum steuerte ich „Undir Helgahnúk“ und „Kristnihald undir Jökli: Der Ring schließt sich“ bei. Zehn Jahre später, zu seinem 80. Geburtstag, durfte ich ihm im Auftrag der Neuphilologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in Reykjavík im Rahmen einer von der Botschaft der Bundesrepublik ausgerichteten Feier die Urkunde über 7 <?page no="8"?> die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors überreichen. Einige Tage später sprach ich in der Háskoli Íslands (Universität Islands) über „Halldór Kiljan Laxness og Knut Hamsun“; hier bringe ich die deutsche Übersetzung (S. 78). Im vollbesetzten Auditorium saßen in der ersten Reihe Halldór und seine Frau Auður. In den neunziger Jahren, nach Halldórs Aufnahme in ein Pflegeheim (Reykjalundur), war ich häufig Auðurs Gast in Gljúfrasteinn, dem Wohnsitz des Ehepaares seit 1945. Von der Bedeutung der Religion in Halldór Laxness’ Leben und Werk handelt der letzte Beitrag (S. 95), der hier erstmals gedruckt erscheint. Der „Freundesgruß aus Tübingen“ / „Vinarkveðja frá Tübingen“ (S. 120) ist der Extraausgabe „Halldór Kiljan Laxness“ entnommen, die „Morgunblaðið“, die größte isländische Tageszeitung, aus Anlass des Todes des Dichters am 14. Februar 1998 herausgab. Tübingen, im April 2008 Wilhelm Friese 8 <?page no="9"?> Vom isländischen Roman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ein Briefwechsel mit Halldór Laxness (1953/ 54) Die erste Begegnung mit Halldór Kiljan Laxness, dem Autor und dem Menschen, fand in den frühen fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts statt. Natürlich stand ein Buch von ihm am Anfang: „Salka Valka“. Diesen von Elisabeth Göhlsdorf übersetzten Roman, der 1931/ 32 im Original in zwei Bänden erschienenen war, brachte 1951 der Dietz Verlag Berlin(-Ost), der Verlag der SED, heraus. Da Bücher aus dem „kapitalistischen“ oder „nicht-sozialistischen Ausland“ in der DDR nur unter bestimmten Voraussetzungen verlegt wurden - der Kauf der Bücher gegen „westliche“ Währung war verboten -, war man dankbar, das Werk eines isländischen Gegenwartsautors kaufen zu können. Dies galt insbesondere auch für mich, zu jener Zeit Nordistik-Student der Universität Jena. Schon ein Jahr später konnte ich ein weiteres Buch von Laxness erwerben: Der Aufbau-Verlag Berlin(-Ost) veröffentlichte 1952 in der Übertragung von Ernst Harthern die Romantrilogie „Islandglocke“, die im Original in den Jahren 1943 bis 1946 herausgekommen war. Ausdrücklich war vermerkt: „Diese Ausgabe darf nicht nach Westdeutschland und in die Schweiz eingeführt werden“, eine Lizenz-Ausgabe also, war das Werk doch bereits 1951 bei Suhrkamp, Frankfurt veröffentlicht worden. 9 <?page no="10"?> Halldór Kiljan Laxness 1951 <?page no="11"?> 1952, nach Abschluss meines Studiums in Jena, machte ich mich daran, zuerst als Lektor des Aufbau-Verlags in Berlin, dann als wissenschaftlicher Assistent am 1954 wieder eröffneten Nordischen Institut der Universität Greifswald, Material für eine Dissertation zusammenzutragen, die sich mit dem isländischen Roman der Gegenwart (1918-1950) auseinandersetzen sollte. Die Texte von einigen älteren Autoren waren leicht zu beschaffen, das galt aber nicht für die Werke von Halldór Laxness. Was war zu tun? Hier nun beginnt meine erste Begegnung mit dem Autor. In den letzten März-Tagen 1953 schrieb ich Halldór Laxness, leider ist mein Brief - wie auch die in der Folge von mir in dieser Angelegenheit geschriebenen Briefe - verloren gegangen. Eine Antwort von Halldór Laxness traf schon zu meiner Überraschung und Freude nach wenigen Tagen ein. 11 <?page no="14"?> Hotel d’Angleterre Copenhagen 4. april 1953 Denmark Lieber Herr Friese! Ich bin für Ihren Brief sehr dankbar. Leider besitze ich keines meiner Bücher. Islandglocke, Salka Valka und Freisasse sind Deutsch erschienen, Das Weltlicht, eine Tetralogie kommt im Herbst. Meine Bücher sind in beiden Teilen Deutschlands zu haben. Ich glaube Sie täten recht daran sich in Verbindung mit Dr. Peter Hallberg zu setzen; er hat ein kleines Buch über mich geschrieben, das bei Bonniers (Stockholm) erschien. Seine Adesse: Dr. P. Hallberg, Iskällare liden 5A, Gothenburg. Ich bin viel in Anspruch genommen und kann nicht viel in diesen Sachen helfen, bin auch sehr viel auf Reisen, immer unter Verträgen, sowie jetzt: Filmatisierung Salka Valkas und noch dazu ein Schauspiel. Freundliche Grüsse. gez. Laxness (Faksimile) ----- Islandglocke, Frankfurt (Suhrkamp)1951. Salka Valka, Berlin(-Ost) (Dietz)1951. Der Freisasse, Leipzig, Wien, Berlin (Zinnen) 1936. Weltlicht, Frankfurt (Suhrkamp) 1955; Berlin(-Ost) (Aufbau) 1955. Hallberg, Peter: Halldór Kiljan Laxness. Stockholm (Bonniers) 1952. (Verdandis Småskrifter 527). 14 <?page no="15"?> Reykjavík P.O.B. 664. 4.- V.- 1953 Herrn W. Friese Berlin-Pankow Granitzstr. 1 II/ b. Henke Deutschland Lieber Herr Friese: Danke für Ihren Brief und Ihre freundlichen Wünsche. Da Sie eine Übersicht der isl. Prosa von 1850-1918 geben wollen, muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich für diesen Zeitraum nicht in Frage komme. Keines meiner Bücher ist vor 1918 geschrieben. Es muss erst festgestellt werden ob ich überhaupt im Brennpunkt bin, ehe ich die anderen Fragen beantworte. Es ist gewiss ein Kuriosum, dass unter gut 100.000 Seelen Bücher geschrieben werden; aber ein reiner Zufall ist es - wie zum Beispiel eine Geburt von Vierlingen - wenn unter so wenigen Menschen (ungefähr die Einwohnerzahl einer Berliner Strasse) ein vollgültiger oder sogar maßgebender Roman verfasst wird; die Masse des Geschriebenen in jedemVolkssektor auf 100.000 Seelen sind dilettantische Versuche - in Island ebenso wie in einer Berliner Strasse mit derselben Einwohnerzahl. Eine Vierlinggeburt kann natürlich auch in Island vorkommen - ebenso wie in einer Berliner Strasse. Ich glaube man muss die Sache in einem grösseren Zusammenhang betrachten, z.B. des skandinavischen Romans während der letzten 100 Jahren. So bildet sich doch eine Perspektive. Island ist als eine kleine Sprachinsel für germanistische Philologen interessant; aber man kann nicht erwarten, dass wir „einen isländischen Roman“ haben, - d.h. eine literarische Schule oder grosse Konvention des Romans, die als solche von der Forschung ernst genommen werden könne; nicht mehr als eine gewöhnliche Berliner Strasse. 15 <?page no="16"?> Die Entstehung der Sagaliteratur im 13.-14. Jahrhundert erklärt sich auf eine ganz andere Weise. Mir scheint die grundliegenden Prinzipien der Sache müssen erst untersucht werde; dann kommen die sekundären Fragen. Mit freundlichen Grüssen, Ihr ergebener gez. Halldór Laxness 16 <?page no="17"?> Reykjavík P.O.B. 664 20. Mai 1953 Herrn W. Friese Berlin-Pankow Granitzstr. 1 II/ b. Henke Lieber Herr Friese: Besten Dank für Ihren Brief. - Wir führen eine interessante Diskussion. Ich vergleiche natürlich nicht direkt eine Vierlingsgeburt mit einem vollgültigen Roman; diese Vorkommnisse liegen ja nicht in demselben Plan und es gibt keine Parallelen: ich spreche von der potentiellen Häufigkeit solcher Ergebnisse in einem beliebigen Volkssektor von 100.000 Köpfen: dürfte nicht die Entstehung eines ernst zu nehmenden Romans ein ebenso seltener Zufall sein in einem Volkssektor wie z.B. eine Vierlingsgeburt? Es ist nicht normal, dass ein mustergültiger Roman unter 100.000 Menschen entstehe, und man kann über so ein Vorkommnis nur wie einen Zufall sprechen. Möglich, dass im Isländischen ein Paar Romane existieren, die als Literatur rangieren, aber das sind Einzelfälle, und es gibt keinen „isländischen Roman“ als literarische Konvention betrachtet. Nehmen wir als Beispiel eine Berliner Strasse, Granitzstrasse, mit einer Einwohnerzahl von 100.000 Seelen. Ein Forscher oder ein Rezensent schreibt: „Herr Friese ist der grösste Romanschriftsteller der Granitzstrasse.“ Das wäre den Herrn Friese direkt zu verhöhnen; und was noch schlimmer ist, so ein Urteil würde alle die anderen schreibenden armen Teufel der Granitzstrasse noch kleiner machen und direkt beleidigen. Ich zum Beispiel werde in Skandinavien für einen Romanschriftsteller mittlerer Grösse gehalten; ein mittelmässiger Autor unter 18.000.000 Millionen Menschen ist schon etwas, obwohl nicht sehr viel, ein solcher wird doch vielleicht in gewissem Grade ernst genommen. Der grösste 17 <?page no="18"?> 18 Autor unter 100.000 Menschen bezeichnet werden, ist ein direkter Hohn. Ich fürchte dass eine exklusive Forschung der Literatur einer solchen diminutiven Volksgruppe die notwendige Perspektive vermissen wird. Die meisten isländischen Literaturgeschichten, von Poestion bis Stefán Einarsson, sind aus dem Grunde dilettantisch, komisch und dazu ganz irreführend für den fremden Leser, weil sie notwendigerweise meistens „Schriftsteller“ behandeln, die unter aller Kritik sind. Was Gunnar Gunnarsson, Guðmundur Kamban und Kristmann Guðmundsson betrifft, so sind sie literaturhistorisch gesehen nicht Isländer insofern als sie ihr Hauptwerk in Dänisch bzw. „Norwegisch“ (Norwegisch ist ja wie Sie wissen ein mit einheimisch-bäuerischen Dialekteinschlag gemischtes degeneriertes Dänisch) geschrieben, und erst in späteren Jahren Isländisch zu schreiben versucht haben. Diese drei von der Perspektive des skandinavischen Romans entrissen zu behandeln, wäre im doppelten Sinne irreführend. Ihr Hauptwerk kann man nicht einmal als isländische Emigrantenliteratur bezeichnen, weil es eben nicht Isländisch geschrieben ist. Meiner Meinung nach ist Gunnar Gunnarsson der interessanteste Schriftsteller der dänischen Sprache der zwanziger und dreissiger Jahren. Kamban ist, unter uns gesagt, ein aufgeblasener literarischer Unter offizier; Kristmann Guðmundsson ist ein Verfasser von Unterhaltungsbüchern, die nicht als Literatur rangieren. Mit freundlichen Grüssen, Ihr ergebener, gez. Halldór Laxness Poestion, Joseph C.: Isländische Dichter der Neuzeit in Charakteristiken und übersetzten Proben ihrer Dichtung. Leipzig 1897 Einarsson, Stefán: History of Icelandic Prose Writers 1800-1940. Islandica 32-33. Ithaca, NY 1948. Gunnar Gunnarsson, 1889-1975 Guðmundur Kamban, 1888-1945 Kristmann Guðmundsson, 1901-1983 <?page no="19"?> Der Briefpartner 1953 <?page no="23"?> Sochi 28. Oktober 1953 Mein lieber Herr Friese, es besteht die Möglichkeit, dass wir uns treffen und die vielen Probleme besprechen können, für die wir gemeinsames Interesse haben, als ich wahrscheinlich am 16. oder 17. November in Berlin Ost eintreffen werde en route für Prag und Wien. Ich habe an Aufbau geschrieben und meine Ankunft angekündigt. Ich habe noch 10-14 Tage hier in Sochi (am Schwarzen Meer) und reise dann wieder nach Moskau und danach werde ich nach Berlin mit Eisenbahn fahren. Meine Adresse in Moskau ist UNION OF SOVIET WRITRR’S FOREIGN COMMISSION, Ul. Vorovskogo 52, MOSKAU. Mit freundlichen Grüssen Ihr gez. Halldór Laxness (FAKSIMILE) Wir trafen uns in Berlin und führten ein mehrstündiges Gespräch über die isländische Gegenwartsliteratur, insbesondere natürlich über seine Werke. Auch war er so freundlich, mir in der folgenden Zeit einige seiner Bücher zu schicken. 23 <?page no="24"?> Helgafell, 1954 <?page no="25"?> „Silbermond“: Ein missglückter Versuch „Silfurtunglið“ (Silbermond). Handlung des Dramas; Übersetzung des Zweiten Aktes. Silfurtúnglið. Leikrit í fjórum þáttum (Silbermond. Drama in vier Akten) erlebte seine Uraufführung am 9. Oktober 1954 am þjóðleikhusið (Nationaltheater) in Reykjavík. Am gleichen Tag erschien das Stück im Verlag Helgafell, Reykjavík. Silbermond Drama in vier Akten Der Erste Akt führt uns in ein „Wohnzimmer eines kleinbürgerlichen Hauses in einem Ort ca. 300 km von der Hauptstadt“ entfernt. In der Mitte des Raums steht eine Wiege. Die junge Mutter, Loa, singt für ihren kleinen Jungen ein Wiegenlied, das sie selbst verfasst und komponiert hat. Ihre Freundin, eine berühmte Sängerin, ist von dem Gesang begeistert und macht Feilan, den Direktor des Varietés „Silbermond“, auf ihre Entdeckung aufmerksam. Die Überredungskünste von Feilan und die Aussicht auf Geld und Ruhm erweisen sich stärker als Loas Bedenken und Zweifel - sie verlässt Mann und Kind und unterschreibt einen Vertrag, der sie an das Varieté „Silbermond“ in der Hauptstadt bindet. 25 <?page no="26"?> ZWEITER AKT Silbermond. Hinter den Kulissen, ein Stück der Bühne ist zu sehen. Gläserklirren, Zuprosten, laute Musik, draußen im Saal Lärm. Drei Tänzerinnen machen noch einige Übungen vor ihrem Auftritt, sie rauchen. Loa vor dem Spiegel im Sonntagskleid, wie eine Frau vom Dorf, die einen Besuch machen will. Garderobiere sitzt zwischen den Kulissen und strickt, schaut einmal auf die Bühne, dann wieder in die Szene, betrachtet Loa voller Skepsis. Ein Kraftathlet quält sich mit einem Fass, fast so groß wie eine Tonne. Die Musik im Saal verstummt, eine neue Nummer wird erwartet. Erste Tänzerin (schreit auf): O Gott, eine Ratte! Kraftathlet (fährt hoch): Eine Ratte? Tänzerinnen (schreien laut durcheinander) O du lieber Gott, uh, uh, eine Ratte, eine Ratte! Garderobiere Seid ruhig, nehmt euch zusammen, man hört euch ja draußen im Saal. Die Leute müssen ja glauben, man wollte euch umbringen. (schlägt sich sorgfältig den Rock um ihre Beine) Wenn es auch eine Ratte ist, sie wird kaum unter euren kurzen Röckchen kriechen. Zweite Tänzerin Ach nein, seht euch diese Hinterwäldlerin an, was tut sie denn hier? Dritte Tänzerin Och, das ist eine von diesen Weibern vom Norden. Erste Tänzerin Bei Gott! Dieser Feilan muss völlig verrückt geworden sein! Zweite Tänzerin Sie soll ein Lied singen, ich weiß wirklich nicht, ob es in diesem Haus nicht nur Ratten gibt, hier gibt es auch noch Gespenster. Loa (wendet sich an die Garderobiere) In was für eine Gesellschaft bin ich denn hier geraten? Es scheinen alles Schwachsinnige zu sein. 26 <?page no="27"?> Garderobiere: Na, das wäre ja nichts Neues. Feilan (man hört seine Stimme draußen auf der Bühne) Und nun, verehrte Gäste, die nächste Nummer. Der Silbermond zeigt die nächste Attraktion: wir bringen ihnen nun die strahlenden Sterne der Nacht, die vom Himmel herabgestiegen sind und heute und auch an den nächsten Abenden hier über die Bühne schweben werden. (Klatscht) Bitte! (kommt hinter die Szene, mit einem Monokel, ganz wie ein Conferéncier aufgemacht. Die Tänzerinnen steppen durch die Kulissen hinaus; man hört gedämpfte Tanzmusik und Schritte vom Balletttanz, während sie draußen sind) Feilan (schätzt mit einem Blick Loas Ausstattung ab, heftig) sind sie denn vollkommen verrückt geworden, Menschenskind? Wollen sie etwa meine Show zugrunde richten? Glauben sie denn, sie gingen zur Kirche, oder was denken sie? Wissen sie nicht, dass dies gesetzwidrig ist: Das ist Vertragsbruch (nimmt den Vertrag aus seiner Tasche und schlägt mit dem Handrücken darauf) Das ist unerhört! Das ist unerhört! Garderobiere, sie haben mich gleichfalls enttäuscht! Wo ist der Eimer? Wo ist der Besen? Und der Leinenrock, den ich für sie anfertigen ließ? (geht zu Loa und wischt mit seinem Taschentuch die Schminke und die Lippenstiftfarbe ab) Garderobiere: Die Dame lehnte es einfach ab, so etwas anzuziehen. Ich kann mich nicht mit ihren Künstlern herumschlagen. (wirft ihm Loas Ausstattung zu) Da ist das Zeug. Loa: Ja, aber warum muss ich denn wie ein altes Bettelweib aussehen? Feilan: Wissen sie, was ein Vertragsbruch ist? Was für einen style soll denn diese Haarfrisur darstellen? (fährt mit den Händen durch ihr Haar und bringt die Frisur durcheinander) Sind sie die Vorsitzende eines Frauenvereins? Oder was? (reißt ihr die Kleider vom Leib, als sie vor dem Spiegel steht. Der Kraftathlet hört auf, sich mit seiner Tonne abzuquälen und schaut verwundert zu; die Garde- 27 <?page no="28"?> robiere kommt mit einem Schirm, um Loa dahinter zu verbergen) Loa (während der Varietédirektor hinter dem Schirm ihr Kleid herunterreißt) Nein, nein, nicht, nicht, zerreißen sie doch nicht meinen Rock, ich werde selbst … Feilan: Hat man so etwas schon gesehen? Bis oben hin mit Nylonstrümpfen, mit schwarzen Fersen, wie sie schon seit zehn Jahren nicht mehr Mode sind! so etwas kann doch nur einem einfallen, der vom Lande kommt (wirft die Kleider hinter dem Schirm hervor der Garderobiere zu) Garderobiere, das ist ihre Arbeit, wo sind die Wollstrümpfe, die sie anhaben sollte? (Garderobiere reicht ihm die Wollstrümpfe). Loa: Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich solche groben Strümpfe getragen. Feilan: Nein, nein, nein, nicht festmachen, sie müssen etwas herunterrutschen. Loa: Ach Gott, noch nie in meinem Leben haben meine Strümpfe so lose gesessen. Feilan: Sie sind eben vom Lande. Loa: Ja, aber trotzdem noch ein freier Mensch, und ich bestimme, ob ich die Strümpfe hoch habe oder nicht. Feilan: Aber begreifen sie denn immer noch nicht, Menschenskind: sie sind eine Nummer! Sie stehen in Arbeit, und dies hier gehört zur Arbeit: Die Strümpfe herunterrutschen lassen. Wer bezahlt ihnen ihr Geld nach den Bestimmungen des Vertrages dafür, dass sie Strümpfe herunter haben? Das bin ich. Wer will sie dadurch berühmt machen, dass ihre Strümpfe herunterrutschen? Ich bin das. (weiter hinter dem Schirm dabei, sie auszukleiden, stülpt ihr den Leinenrock über). Loa: O Gott. O Gott, soll ich vielleicht in diesem Zeug vor den Leuten auftreten? Feilan: Was glauben sie denn, was sie anhaben, wenn sie die Kühe melken? Meinen sie, sie wären im Taftkleid und 28 <?page no="29"?> Nylonstrümpfen? So, und lassen sie wenigstens die Schnürsenkel von dem einen zerlumpten Schuh herunterhängen. Garderobiere, wo haben sie die Puppe versteckt? Garderobiere: Ich werde sie sicherlich gegessen haben! (Wirft ihm die Puppe über den Schirm zu, er legt sie in Loas Arme, tut den Schirm weg, sie steht in schäbigen Lumpen mit der Puppe auf dem Arm. Der Eimer etwas entfernt von ihr). Loa (halb weinend) Ich will nach Hause! Feilan (greift sich an den Kopf: ) Wissen sie, dass ich Schadenersatz von ihnen verlangen kann, wenn sie den Vertrag brechen? Wollen sie etwa, dass ich ihren Mann bis auf’s Hemd ausziehe? Loa: Ja, lieber das, als ihm und meinen Jungen zu einer öffentlichen Schande zu werden. Feilan: Oh, die schlagen sich schon durch in der Bank. Loa: Ach du lieber Himmel, wenn mein Junge dies erfährt, wenn er einmal genug Verstand besitzt. Feilan: Die lieben Kinder leben und gedeihen, gleichgültig in was für Lumpen die Mutter tanzt. Leben und gedeihen, das ist nun einmal ihre Eigenart. (bringt ihre Ausstattung in Ordnung, legt die Puppe richtig in ihre Arme) So, nun versuchen sie, diesen kleinen Engel ein wenig mütterlich zu tragen. (Während Loa verzweifelt zwischen den Kulissen steht, kommen die Tänzerinnen herein, am Schluss ihrer Nummer starker Applaus). Feilan (geht auf die Bühne, um die nächste Nummer anzusagen, man hört seine Stimme auf der Bühne, wie vorher) Feilan: Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, ihnen jetzt die Stimme des Volkes selbst anzusagen, jene namenlose, unbekannte Stimme, die wir vergessen haben, weil wir immer nur an die berühmten Stimmen denken, die uns von den Plakaten angepriesen werden und weil uns erzählt wird, nichts geringeres als die Atombombe schaffe Frieden und Lebensfreude in der Welt. Und doch werden wir die 29 <?page no="30"?> Stimme sofort erkennen, wenn wir sie hören. Wir verstehen sie vor allen anderen Stimmen, weil es die innerste Stimme unseres eigenen Ich ist. Ich weiß, wir alle werden ihr nach Gebühr danken, zumindest die unter uns, die wissen, was es heißt, eine Mutter zu haben. Zugleich erkennen wir, dass diese namenlose, einfache Stimme aus den fernliegenden ländlichen Gegenden und kleinen Städten, irgendwo am letzten Ende der Welt, verloren gegangen ist - wir erkennen zugleich, sage ich, dass diese leise Stimme - die verborgenste und leiseste aller Stimmen - nicht mehr oder weniger ist, als die Stimme dieses unberechenbaren, weltberühmten und internationalen Muskels, den wir mit Herz bezeichnen. Es ist die Stimme der Frau, die die Kühe zu einer Zeit melkt, wenn andere Frauen ausgehen, um einen Cocktail zu trinken, der Frau, die Wollstrümpfe und einen Leinenrock trägt, wenn die ladies in Taftkleidern und Nylonstrümpfen mit amerikanischen Mustern an den Fersen daherkommen, aber zugleich der Frau, die die Mutter eines kleinen Jungen in der bescheidenen Kate unseres kleinen Volkes ist. Meine Damen und Herren! Es lebe unser kleines Volk! Lang lebe es! Hurra! Die Stimme aus der Tiefe des Volkes! Bitte schön! (Klatscht. Garderobiere stößt Loa auf die Bühne. Feilan kommt herein, schaut gespannt durch die Kulissen hinaus solange Loa ihre Nummer bringt. Großes Gelächter, doch kein Applaus im Saal, als sie auf der Bühne erscheint. Die Mitarbeiter des Unternehmens treten näher an die Kulissen heran, um zuzuhören, gleichfalls die Tänzerinnen, die Musiker mit ihren Instrumenten; der Kraftathlet übt weiter mit seiner Tonne. Melodie des Wiegenliedes. Alles ist still und ruhig auf der Szene während des Gesangs, nur Rori schleicht sich von hinten heran. Loa hat kaum den letzten Ton gesungen, als ihr mit donnerndem Applaus und Bravorufen gedankt wird. Als sie hinter den Vorhang tritt, umarmt und küsst Feilan sie, schiebt sie wieder und 30 <?page no="31"?> wieder hinaus auf die Bühne, um den Applaus des Publikums entgegen zu nehmen). Feilan: Hinein! Hinein! Verbeugen sie sich! Verbeugen! Großartig! Wunderbar! Unvergleichlich! Nun wiederholen sie die erste und die letzte Strophe und zum Schluss verstärken sie die Stimme etwas - Ich gehe in der Zwischenzeit zum Telefon und rufe die Presse … (schiebt sie noch einmal auf die Bühne). Loa: Das ist ja ganz unmöglich, dass die Leute meinetwegen so klatschen. Feilan: … und dann engagiere ich Dichter und preisgekrönte Komponisten und lasse sie ein großartiges Repertoire für sie zusammenstellen. London, Paris und New York sollen ihnen zu Füßen liegen. (geht zum Telefon). Garderobiere (zu Rori): Wie kommen sie hierher? Rori: Durch die Tür. Garderobiere (zum Portier, der ebenfalls von hinten gekommen war, um Loa zu hören) Portier, wo treiben sie sich denn herum, wenn das Haus von düsteren Gestalten aus dem Hafenviertel überschwemmt wird? Meinen sie, sie wären hier angestellt, um sich zu amüsieren, oder was haben sie sich gedacht? Portier (zu Rori): Wer bist du? Rori: Ich bin der Schwager. Portier: Können sie das beweisen? Rori: Ich habe eine Nachricht für sie. Portier: Du lügst, mit solch einem Mann kann sie nicht verwandt sein. (stößt ihn weg) Loa (erblickt Rori): Was … was will er denn hier? Wo ist mein Portemonnaie? Sicherlich hat er kein Geld mehr. Rori: Oli und dein Vater haben es schon zwei Tage lang versucht, dich zu erreichen. - Der Junge ist krank. Sie schickten mich … Loa: Oh, lieber Gott, mein kleiner Nonni ist krank, ich muss sofort nach Hause! 31 <?page no="32"?> Feilan (kommt vom Telefon): Leute aus dem Saal kommen. Sie wollen sie begrüßen. Loa: Was ist mit dem Kind? Wann ist es krank geworden? Ist es schwer krank? Rori: In der Nacht nach deiner Abreise wurde es krank. Loa: Ich muss fort. Besorgen sie schnell ein Taxi. Ich muss heim. (einige Zuschauer kommen von hinten und umarmen Loa) Ein gesetzter Herr (stottert): Sie sind grogrogroßartig! Ein Künstler (würdevoll): Sie gehen einem zu Herzen. Eine korpulente Frau: Allmächtiger Gott! und wenn ich auf der Stelle tot umfalle, ich finde keine Worte! Isa (in Pelz und Diamanten, kommt gleichfalls und umarmt sie: Meinen allerherzlichsten Glückwunsch, meine Liebe. Wie natürlich du gesungen hast! Da siehst du selbst, dass ich recht gehabt habe: nun ist dein Karussell in Schwung gekommen. Loa: Ja, ja, Isa, mir ist es einfach unbegreiflich, warum die Menschen alle klatschen. Noch kann ich es nicht glauben, dass es meinetwegen sein soll, mir ist, als drehe sich alles bei mir im Kopf. Weißt du schon, dass mein kleiner Nonni krank geworden ist? Ich muss ein Taxi mieten und sofort heimfahren. Rori (zeigt ihr die leere Medizinflasche, leise und im vertrauten Ton): Ganz auf dem Trockenen! (sie sucht in ihrem Portemonnaie nach Geld für ihn. Der Kraftathlet trägt die Tonne zur Bühne. Feilan tritt hinaus und kündigt ihn an) Feilan: Nun werden wir zum Schluss, verehrte Gäste, unser aller Liebling sehen: den stärksten Mann des Landes! Die Experten behaupten, er sei einer der stärksten Männer in der Welt heute, unser guter Freund Simson, auch genannt „Windmühle“. Er wird uns dieses phantastische Kunststück vorführen, das noch keiner in der Geschichte der Menschheit bis heute fertig gebracht hat: Er wird eine Tausend-Liter-Tonne, bis obenhin angefüllt mit starkem 32 <?page no="33"?> Branntwein, über den Kopf heben - so wahr ich hier vor ihnen stehe -, bitte schön! Kraftathlet (drängt sich mit seiner Tonne durch die Menge): Vorsicht! Schmeißt mir meine Tonne nicht um! Kommt ihr nicht zu nahe! Ein Reifen ist lose, lasst mich jetzt durch auf die Bühne! Ihr tragt die Verantwortung, wenn meine Nummer nicht klappt. Feilan (kommt herein, schließt auch die Sängerin Isa in seine Arme): Allerherzlichsten Dank für diese Entdeckung, Isa, bei Gott! dagegen ist die Atombombe ein Blindgänger! Du hast mir eine Goldmine vermittelt, d.h., soweit heute noch ein Mensch so altmodisch ist und noch von Gold spricht. Dieses Geschöpf ist zumindest eine Uranmine, sie ist einfach Plutonium! Sie ist buchstäblich schweres Wasser! Loa: Ich muss einen Wagen haben, ich will heute Abend nach Hause fahren … Feilan: Nach dem Nordland? Wohin? Jetzt vielleicht? - wo nun alles losgeht! (zeigt mit dem Daumen auf Rori) Portier, weshalb werfen sie dies verkommene Subjekt nicht die Treppe hinunter? nein, nun müssen wir die Sache schon richtig anpacken. Gleich kommen die Leute von der Presse und dem Rundfunk und die Fotografen - Garderobiere! Cocktail! Jetzt heißt es, sich mit aller Kraft in die Sache knien. Heute Nacht organisieren wir wenigsten noch fünfzig Liebesbriefe. Loa (verdutzt): Organisieren was? Bei ihnen ist wohl im Kopf eine Schraube locker oder was fehlt ihnen? Nein, ich sage ihnen, wie die Angelegenheit steht: noch in dieser Stunde werde ich fahren! Ich werde mein Möglichstes versuchen, zur rechten Zeit morgen Abend zu meinem Auftritt wieder hier zu sein (geht zum Telefon, wählt eine Nummer) Hallo! Taxizentrale! Bitte, schicken sie einen Wagen zum Silbermond … Mein Name ist Olöf Gudlaugsdóttir. Ich muss unbedingt heute Nacht nach dem Nordland fahren. Mein Junge ist krank geworden. 33 <?page no="34"?> Feilan (zu langsam gewesen, um sie vom Telefon fernzuhalten, schaut ihr überrascht zu, doch statt wütend zu werden, bricht er in ein Gelächter aus): Jaaa, die braucht nicht lange, um sich in der Rolle einer Primadonna heimisch zu fühlen. Seehunden braucht man das Schwimmen nicht beizubringen. Hahaha! (nimmt den Vertrag aus seiner Tasche) Hier steht: erst drei Abende, sind die gut angekommen, weitere sieben Abende, insgesamt zehn Abende. Aber die Erde ist nicht länger ein Trabant der Sonne, wenn der Welt ein Künstler geschenkt wird: Gnädige Frau, sie tragen einen göttlichen Funken in sich! Ich verlängere den Vertrag auf 25 Abende! Isa: Ich habe eine Neuigkeit für euch: ein Telegramm von unserem alten Freund von der Universal Concert Incorporated! (reicht Feilan das Telegramm aus ihrer Tasche) Er befindet sich auf einer Geschäftsreise von Amerika nach dem Kontinent, höchstwahrscheinlich kommt er auf der Hin- und Rückreise hier vorbei. Feilan (überfliegt das Telegramm): Ach nein, Mensch, was sagst du da. Mr. Peacock von der Universal Incorp. - schon übermorgen ist er hier, er wird sich zwei Stunden hier aufhalten. Dazu braucht’s nichts weniger als Champagner! Isa: Wahrscheinlich wird ihm der Whisky besser schmecken? ! Feilan: Aber ja, natürlich, woran denke ich denn! (wendet sich zu Loa) Übrigens, ich biete ihnen einen Vertrag für das ganz Jahr, einen Vertrag, der alles einschließt: Konzert, Schauspiel, Schallplattenaufnahmen, Tonband und alles, was es sonst noch gibt, Foto und Film - in aller Welt, und was gibt es sonst noch? (im Vertrauen zu Isa) Hm, wir sprechen unter vier Augen weiter über den Mann, der kommt; wahrscheinlich bekommst du, wenn alles gut geht, deine dicken Prozente, Mensch! (zu Loa) Sicherlich ist ihnen alles klar, meine Gnädige: Kleider und Mäntel und alle erstklassigen Pariser Garnituren nach Wunsch, 34 <?page no="35"?> die gesamte Kleidung und Unterwäsche-, Wohnung im besten Hotel der Stadt, alle Reisen kostenlos, immer steht ihnen ein Cadillac zur Verfügung, - und natürlich Geld, Geld wie Heu, Menschenskind, das versteht sich ja von selbst, das brauchen wir wohl erst gar nicht zu erwähnen … Loa: Ja, aber wenn das Kind krank ist, da pfeife ich auf alle Verträge-, und jetzt ziehe ich dies Zeug aus, sie können sagen, was sie wollen. (zieht die Schuhe aus) Feilan: Ja, entschuldigen sie, ich bin es nicht gewohnt, mit Frauen zu feilschen, wenn sie sich ausziehen. Ich lasse euch einen Augenblick allein (ab). Loa: Meine Liebe, wenn ich nur wüßte, was ich tun soll! Kannst du mir einen Rat geben? Meinst du, es sei nicht richtig von mir, sofort nach Hause zu fahren? Ich weiß, es wird etwas schwer werden, morgen Abend wieder pünktlich hier zu sein, besonders wenn der Junge sehr krank sein sollte. Isa: Ich meine, wenn du so einen tüchtigen und energischen Impresario wie Feilan erwischt hast … Loa: Feilan erwischt? Isa, wie kannst du nur so etwas sagen? Ich habe noch nie in meinem Leben einen Mann so verabscheut wie ihn. Es ist mir fast unmöglich, ihn unter die Menschen zu zählen. Isa: Freu dich, Olöf Gudlaugsdóttir, und danke deinem Schöpfer, dass du ihm nicht mehr Frau bist als sein Kraftathlet. Ich will ja nicht zu viel sagen, aber es haben nicht viele Sängerinnen so ein Glück. Loa: Zum Glück ist man noch nicht so tief gesunken! (zieht die Strümpfe aus) Übrigens, was meinst du, habe ich nicht einen zu starken Haarwuchs an den Beinen? Vor kurzem passierte es, ich hatte gerade die Strümpfe ausgezogen, was glaubst du, was der liebe Gute da machte? Er pustete mich an die Beine; er hatte nämlich einmal gesehen, wie ich Fussel vom Harmonium weggeblasen habe … 35 <?page no="36"?> Isa: Na, da hast du dir aber etwas zusammengesponnen, - er und dich an die Beine blasen! Nein, das ist nun doch das stärkste Stück, was ich bis jetzt von ihm gehört habe. Loa: Kannst du dir etwas reizenderes vorstellen als Fusseln von meinen Beinen pusten? Isa: Entschuldige, doch das ist mir unmöglich zu glauben, von wem redest du denn? Loa: Von wem sollte ich sonst reden als von meinem lieben kleinen Jungen, - ich hoffe, das Auto wird hier sein, wenn ich mich umgezogen habe. Nie vergesse ich, wie er mein Muttermal entdeckte, - er pickte mit seinen kleinen Finger darauf, (ahmt es nach) es war nämlich seine Angewohnheit, die Rosinen aus dem Weihnachtsstollen zu picken. (beide lachen). Kraftathlet (schleppt sich erschöpft mit der Tonne von der Bühne, unter mäßigem Applaus): Hat vielleicht eine von euch etwas Arnika? (Sie schütteln den Kopf) Die Schultergelenke sind mir ganz geschwollen. Das Publikum hier ist furchtbar langweilig. Loa (zu Isa): Wenn ich gegen Mitternacht abfahre, bin ich morgen früh daheim … Kraftathlet: Habt ihr vielleicht so etwas ähnliches wie eine Zigarette? Isa: … und damit endet dann der Weg zum Ruhm, der sich heute Abend vor dir auftat. Unter uns Künstlern sagen wir: Nicht zweimal begegnet einem das Glück - nur einmal. Ich sage dir, du hast all das, was man braucht, um eine berühmte Künstlerin zu werden. (von draussen vernimmt man Lärm und lautes Stimmengewirr) Aha! Nun rette sich, wer kann! Gott sei Dank bin ich heute Abend nicht an der Reihe - jetzt halt die Ohren steif! Cheerio! (küßt sie und entfernt sich schnell durch die Kulissen zur Seite. Der Kraftathlet sitzt in der Ecke und massiert sich. Feilan führt eine Gruppe von laut sprechenden Journalisten und Fotografen herein, auf ihren Fersen folgen die 36 <?page no="37"?> Tänzerinnen und tragen Erfrischungen, dann die Musiker und Bühnenarbeiter) Feilan (schiebt die Garderobiere weg und stellt sich auf ihren Stuhl, klatscht): Meine Herren! Hier erleben sie die gewaltige Überraschung: Vor ihnen steht der Star des Abends! Ich hatte heute Abend die Ehre, aus dieser hochbegabten und wunderschönen Frau vom Land einen hellglitzernden Star zu machen. Ich habe diese Fee im gewöhnlichen Alltag hinter den Gletschern, Gebirgen und Heiden, wo bis jetzt niemand etwas gefunden hat, gesucht und gefunden. Hier steht sie, vollkommen in der Kunst, gleich einer Pallas Athene, die dem Haupt des Zeus entsprang, - mit der ganzen Lebenserfahrung der Seele des Volkes in ihrer Stimme. Sie ist Dichterin, Komponistin und Sängerin, - alles in einer Person. Ihr Vortrag war solch eine Attraktion, dass wir die Leute kaum aus dem Haus schaffen konnten, als sie heute Abend zu singen aufhörte. So mussten wir diesen erprobten und unbeliebten Kraftathleten Simson Windmühle mit der Schnapstonne auf die Bühne schicken, um den Saal leer zu bekommen. Vor wenigen Augenblicken hat die Polizei die letzten Studentenansammlungen, sie standen hier draussen auf dem Bürgersteig und brüllten Hurra, zerstreut. Ich habe manch einen Erfolg in der Kunst erlebt, meine Herren, aber keiner kann sich mit diesem messen. Wenn so ein Spürhund für Talente wie ich irgendeinmal wahre Freude an seiner Arbeit findet, dann ist es an einem Abend wie dem heutigen, schauen sie sie an, dort steht sie, das ist sie, bitte sehr! (grelle Lichter werden auf Loa gerichtet, sie steht dort in einem Leinenrock, oben kaum bekleidet, mit ungeordnetem Haar), bitte, stellen sie kurze und präzise Fragen, bringen sie sie schnell vor, später wird die Künstlerin alle Fragen auf einmal vor dem Mikrophon beantworten. Journalisten: Vielen Dank! (sie drängen sich um sie) 37 <?page no="38"?> Kraftathlet: Mit Verlaub, wenn mir auch die Schultern schmerzen, darf ich einen von den Herren hochheben? Garderobiere: Ob du Dummkopf dir das nicht zweimal überlegtest, wenn einer ja sagen sollte. Fragen der Journalisten 1. Frage: Sind sie eine Opernsängerin? Oder was sind sie? 2. Frage: Was wiegen sie und was muss man essen, um ein berühmter Künstler zu werden? 3. Frage: Sind sie Sopran? Oder Alt? 4. Frage: Beabsichtigen sie eine Reise in das Ausland? 5. Frage: Sind diese Leinenröcke im Nordland Mode? 6. Frage: Gedenken sie, vielleicht in Paris ein Konzert zu geben? 7. Frage: Haben sie eine romantische Ader? Oder sind sie eine realistisch denkende Frau? 8. Frage: Was für Anschauungen haben sie über die Ehe? Insbesondere wenn es eine Künstlerin betrifft? 9. Frage: Hm, sind sie verheiratet und mit wem? 10. Frage: Denken sie vielleicht an eine Ehescheidung? 11. Frage: Was meinen sie übrigens zu all den Ismen in der Kunst, gnädige Frau? 12. Frage: Singen sie hot? 13. Frage: Was für Ansichten haben sie über Beethoven? Reporter (hält ihr das Mikrophon hin): Bitte, teilen sie den Hörern ihre Antworten mit (ruft) Ruhe! Ruhe! Ruhe sage ich. Loa (steht sprachlos vor dem Mikrophon) sagen sie etwas, sagen sie doch etwas! Loa: Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Reporter: Begrüßen sie zuerst die Menschen draußen im Lande und bezeigen sie ihre Freude und Begeisterung für die Kunst. Ja, beginnen sie jetzt, sagen sie: Ich begrüße sie alle, und sagen sie, dass es Freude macht, in der künstlerischen Arbeit einen Erfolg zu erringen, sagen sie, dass sie sich darauf freuen, im Rundfunk zu singen, und sagen sie, dass sie nach London, Paris und New York 38 <?page no="39"?> wollen … (bringt das Mikrophon ganz nahe vor ihr Gesicht). Loa (während sie spricht werden weiterhin Blitzlichter abgeschossen und Fotos von ihr gemacht): Ich begrüße sie alle auf das herzlichste, es ist ungeheuer interessant, in einer künstlerischen Laufbahn einen Erfolg zu erringen, ich soll nach London, Paris und New York reisen … Was soll ich noch sagen? Was wollen diese Männer mit all diesen Apparaten? Ich bin ganz geblendet. Wo bin ich? Ich bin nicht berühmt. Ich ging hin und sang das Wiegenlied für meinen Jungen. Dann klatschte man auf einmal. Ich hatte nicht angenommen, dass applaudiert würde, zumindest nicht so viel. Ich wollte, man hätte nicht so viel geklatscht. Es ist ganz furchtbar. Ich bin nicht länger mehr ich selbst, ich bin noch nicht richtig angezogen und habe kaum Kleider an - und mein Junge ist krank geworden, ich muss heute Nacht noch zu ihm. O Gott, wer bin ich? Bin ich denn nicht die Mutter meines Kindes? (Man hört von draußen eine Autohupe) Ich muss nach Hause (springt vom Mikrophon fort, sie scheint, wie sie da steht, weg zu wollen, doch Feilan tritt ihr in den Weg, nimmt sie in die Arme, küsst sie, reicht ihr ein Glas. Die Journalisten und die anderen klatschen mit aller Kraft). Feilan: Hoch die Gläser! Freunde! Hier sehen sie das wahre Mutterbild unseres Volkes, jene ewige Frau, die es auf Erden am höchsten schätzt, die Mutter ihres Jungen zu sein. In der Stunde des Sieges und Ruhmes ist sie bereit, alle Herrlichkeiten der Welt wie wertlosen Tand von sich zu werfen, und mitten in der Nacht zu dem langen Weg über die Berge, durch die Dunkelheit und durch Unwetter aufzubrechen - Ein Prosit auf sie! Seien sie alle willkommen! Hoch die Bleistifte, Journalisten! Hoch die Instrumente, Musiker! Hoch die Beine, Tänzerinnen! Hoch die Tonne, Windmühle! Fotografen und Aufnahmeoperateure, lasst die Apparate sausen! (leise, heftig zur Gardero- 39 <?page no="40"?> biere) Lassen sie das verdammte Auto da draussen mit dem Krach aufhören und sagen sie, es soll fortfahren, aber schnell, es sei ein Missverständnis gewesen. (schreit) Der Star des Abends lebe hoch! Er lebe hoch! Hurra! Hurra! … Vorhang Der Dritte Akt beginnt mit einer Loa-Ausstellung: auf Schautafeln werden Lebensstationen Loas seit ihrer Kindheit präsentiert. Loa ist entsetzt, wütend und erbost; wenig später auch ihr Mann, der vom Nordland gekommen ist. Feilan bietet dem auf einer Durchreise sich wenige Stunden in Island aufhaltenden Direktor der Universal Incorporated New York, London, seinen neuen Star an. Der Gewinn versprechende Vertrag soll später abgeschlossen werden. Der Vierte und letzte Akt zeigt in der ersten Szene Loa, Feilan und die Künstlertruppe in ihrem Heimatort im Norden des Landes; Loa ruft vor ihrem Haus nach dem kleinen Jungen und ihren Mann, sie will sie trotz Feilans Widerspruch aufsuchen. Doch vergeblich ihr Rufen, niemand meldet sich. Von den Nachbarn erfährt sie, dass ihr Mann mit dem schwerkranken Kind nach dem Süden, d.h. Reykjavík, gefahren ist. Die Schlussszene des Stückes spielt in der Vorhalle des Flughafenhotels in der Hauptstadt. Die Abschiedsfeier für Mr. Peacock neigt sich dem Ende zu, alle Teilnehmer sind ziemlich angetrunken. Auch Loa, die mit Mr. Peacock die Treppe hinauf zu seinem Zimmer geht. Inzwischen ist ihr Mann gekommen, mit einer Kiste unter dem Arm, in dem sich der Sarg mit seinem toten Jungen befindet. Es wird ihm erlaubt, die Kiste vorläufig abzustellen. Loa kommt die Treppe herab, Peacock wirft ihr Geld nach, das sie zerreißt. Ihr 40 <?page no="41"?> Mann erblickt sie, bittet sie, mit ihm nach Hause zu kommen. Vergeblich. Am Schluss ruft Oli, der nach draußen gelaufen ist, verzweifelt seiner Frau nach, der Sarg steht in der Mitte der Szene; diese wird langsam dunkel, „während der Vorhang fällt, hört man nur Olis Stimme, der seiner Frau nachruft“ lautet die letzte Regieangabe. 41 <?page no="43"?> Ein Briefwechsel mit Peter Huchel und Halldór Laxness (1955). Die erste Übersetzung des Dramas in eine fremde Sprache - das Russische - brachte die Zeitschrift „Oktjabr“, nr. 1, S. 97-134, Moskau 1955, unter dem Titel „Prodannaja Kolybelnaja“ (Das verkaufte Wiegenlied) heraus. 1956 folgten eine französische (aus dem Russischen) und tschechische, 1957 eine slowakische, 1959 eine chinesische Übersetzung. Zu Aufführungen außerhalb Islands kam es 1955 in Moskau und 1956 in Helsingfors. Im Februar 1955 erreichte mich ein Schreiben von Peter Huchel, dem Chefredakteur der Literaturzeitschrift Sinn und Form, in dem er mich um die Übersetzung des Dramas bat. Der weitere Verlauf der Geschichte ist den folgenden Briefen zu entnehmen. 43 <?page no="44"?> Sinn und Form Beiträge zur Literatur Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Künste Chefredakteur Peter Huchel Potsdam-Wilhelmshorst Hubertusweg 43-45 Telefon, Michendorf 394 Den 17. Februar 1955 Herrn W. Friese Berlin-Pankow Neumannstr. 45 ptr. b. Wißmann Sehr geehrter Herr Friese, soeben sind die Bücher von Halldór Kiljan Laxness in unseren Besitz gekommen, unter anderem ein Band Gedichte und „Silfurtúnglið / Leikrit í fórum þáttum“ (150 Druckseiten mit jeweils wenig Text), an dessen schneller Übersetzung wir sehr interessiert sind. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, sich recht bald mit uns in Verbindung zu setzen, schriftlich, eventuell auch am Dienstag in der Zeit zwischen 10 und 15 Uhr telefonisch unter 42.5311 (Akademie der Künste, Robert-Koch-Platz 7). Mit vorzüglicher Hochachtung Redaktion SINN UND FORM gez. Narr 44 <?page no="45"?> Den 22. Februar 1955 Sehr geehrter Herr Friese, leider muß ich diesen Sonnabend nach Hamburg, weil ich dort an einer Tagung der Deutschen Begegnung teilnehmen werde, so daß es mir nicht möglich ist, mich mit Ihnen schon am 26. Februar zu treffen. SINN UND FORM möchte aber im zweiten Heft 1955, dessen Redaktionsschluß ungefähr Ende März sein wird, etwas von Laxness bringen. Herr Laxness, mit dem ich während seines letzten Berliner Aufenthalts eine mehrstündige Besprechung hatte, machte mir damals unter anderem den Vorschlag, daß Sie zusammen mit Herrn Professor Bergsveinsson das Schauspiel „Silfurtúnglid“ übersetzen könnten oder eine der anderen Arbeiten, die er mir zusenden wollte. Es sind inzwischen nachstehende Bücher von Laxness eingetroffen: Den gode fröken och Huset Gerpla (isl. und schwed.Exemplar) Silfurtúnglið þættir Kvæðakver (Gedichte) Mir läge sehr daran, wenn wir mit dem Schauspiel „Silfurtúnglið“ beginnen könnten, zumal Laxness noch niemals mit einer dramatischen Arbeit in Deutschland vorgestellt wurde und auch Brecht in dieses Stück Einblick nehmen möchte. Das Recht zur Übersetzung habe ich von Laxness erhalten. Die Redaktion würde den Erstdruck für die Zeitschrift honorieren, und zwar für die Übersetzung mit DM 20.- pro Druckseite SINN UND FORM, denn wir müßten ja an Laxness noch außerdem ein Seitenhonorar von mindestens DM 30.- zahlen. Ich würde allerdings dafür sorgen, daß einer unserer Verlage - es käme der Aufbau-Verlag in Frage und für den Bühnenvertrieb der Henschel-Verlag - diese Arbeit übernähme, d.h. ihre Übersetzung würde dann 45 <?page no="46"?> vom Verlag zu den üblichen Bedingungen honoriert werden. Wert legen wir als Zeitschrift der Deutschen Akademie der Künste aber auf jeden Fall auf den Erstdruck, was Sie wohl verstehen werden. Haben Sie nun in den nächsten Wochen Zeit, diese doch immerhin in SINN UND FORM etwa 70 Seiten umfassende Arbeit zu übersetzen? Ich möchte nicht auf Kosten der Qualität drängen. Sollte Ihnen diese Übersetzung in so kurzer Zeit nicht möglich sein, so müßte man aus den Erzählungen, die Sie ja auch besitzen, eine Arbeit wählen, die noch nicht in Deutschland publiziert worden ist. Hier besteht allerdings die Gefahr, daß Suhrkamp gleichfalls wohl den Band Erzählungen in Händen hat. Aber ich glaube, daß er vorläufig nur Laxness’ Romane herausbringen wird. Später einmal könnte man auch die Rohübersetzung des einen oder anderen Laxness-Gedichtes durch Sie oder Herrn Professor Bergsveinsson vornehmen lassen; ich habe Laxness den Vorschlag gemacht, einige Gedichte von ihm in deutscher Sprache nachzuschaffen. Sollten Sie aber, sehr geehrter Herr Friese, Lyrik gut übersetzen, so versteht es sich von selbst, daß ich Ihnen auch diese Arbeit gern gäbe. Über all diese Dinge müßten wir uns einmal aussprechen, um so mehr, als ich ja durch völlige Unkenntnis der isländischen Sprache ganz auf ihr literarisches Urteil angewiesen bin. Paßt Ihnen eventuell der übernächste Sonnabend - das wäre der 5. März? In Erwartung Ihrer Antwort Mit freundlicher Begrüßung f. Peter Huchel i.A. gez. Narr Sekretärin 46 <?page no="47"?> Den 15. Juni 1955 Sehr geehrter Herr Friese, ich habe Ihre Mitteilungen an Herrn Huchel weitergegeben, und er bittet Sie, auch die Übersetzung des Gedichts im „Silbermond“ zu übernehmen. Ein Honorarvorschuß bei Ablieferung Ihres Manuskripts läßt sich einrichten. Die von Ihnen erwähnten Erzählungen eines jungen isländischen Autors werden von der Redaktion gern auf ihre Verwendbarkeit für SINN UND FORM angesehen, desgleichen ihre Arbeit über Laxness. Mit vorzüglicher Hochachtung i.A. gez. Chr. Narr Sekretärin 47 <?page no="48"?> Den 6. Juli 1955 Herrn Dr. W. Friese Nordisches Institut G r e i f s w a l d Käthe-Kollwitz-Str. 4 Lieber Herr Dr. Friese, es ist ein Jammer! Ich werde morgen mit Herrn Janka sprechen, wenn ich mit ihm nach Leipzig zur Ernst-Bloch- Feier fahre. Aber was kann schon Herr Janka machen? Harthern hat schon einmal versucht, uns Schwierigkeiten zu bereiten, und leider hat er alle Möglichkeiten, denn er besitzt wohl die gesamten Übersetzungsrechte für Laxness. Allerdings verstehe ich Laxness nicht, denn er selbst hat mir den Vorschlag einer Übersetzung durch Sie gemacht, nachdem wir vorher über Harthern gesprochen hatten. Ich nehme an, daß Harthern dem sehr feinen und gutmütigen Laxness die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Wenn man nur Laxness telegraphisch oder gar telefonisch erreichen könnte! Er allein kann diese Sache regeln. Auf jeden Fall dürfen wir - um bei unseren militanten Bildern zu bleiben - nicht die Flinte ins Korn werfen. Nach Rücksprache mit Janka werde ich an Laxness schreiben, und ich bitte Sie, ebenfalls an Laxness zu appellieren. Das ist alles, was ich Ihnen heute sagen kann, - ich bin genauso aus allen Wolken wie Sie. Mit freundlichem Gruß Ihr Peter Huchel 48 <?page no="49"?> Den 22. Juli 1955 Herrn Dr. W. Friese Nordisches Institut G r e i f s w a l d Käthe-Kollwitz-Str. 4 Lieber Herr Dr. Friese, erst heute hatte ich Gelegenheit, mit Herrn Janka zusprechen, der natürlich von sich aus nichts unternehmen kann, mich aber in meinem Vorhaben bestärkte, an Laxness einen Brief zu schreiben. Der Aufbau-Verlag wird wohl erst im Herbst über dieses Schauspiel abschließen; eine Übersetzung liegt also noch nicht vor. Sie müßten unbedingt sofort versuchen, von Herrn Laxness die Bestätigung zu erhalten, daß Sie die Rechte für die Übertragung des Stückes haben. Dann wäre es ein leichtes für mich, neben der Veröffentlichung in „Sinn und Form“ Ihre Übertragung auch als Buch im Aufbau-Verlag unterzubringen. In der Anlage mein sehr dringender Brief an Herrn Laxness; er ist zur Zeit, wie mir Janka mitteilen konnte, in Island zu erreichen. Schreiben Sie also sofort, und teilen Sie mir die Antwort Laxness’ mit. Auch ich werde Sie umgehend benachrichtigen, wenn mir Herr Laxness geschrieben hat. Mit freundlichem Gruß Peter Huchel Anlage Den 22. Juli 1955 Sehr verehrter, lieber Herr Laxness, wie mir Herr Dr. Friese schreibt, erhielt er vom Leiter des Aufbau-Verlags nachstehenden Brief: „Herr Ernst Harthern, Sigtuna, teilte uns in seinem letzten Brief mit, daß Herr Laxness Sie bittet, Abstand 49 <?page no="50"?> davon zu nehmen, das Stück „Silbermond“ zu übersetzen. Wie wir gleichzeitig erfahren, ist Herr Harthern mit der Übertragung vom Autor beauftragt worden. Mit freundlichen Grüßen Aufbau-Verlag gez. Janka“ Herr Dr. Friese ist natürlich mit Recht über diesen Bescheid sehr erbittert, denn er hat Monate hindurch, gemeinsam mit Herrn Professor Bergsveinsson, an der Übersetzung des Stückes gearbeitet und sie gerade Anfang Juli abgeschlossen. Dazu kommt, daß er nach Rücksprache mit Ihnen, hochverehrter Herr Laxness, im Hotel Newa von mir fest beauftragt worden ist, diese Arbeit für „Sinn und Form“ vorzunehmen. Unsere Zeitschrift ist also auf jeden Fall verpflichtet, Herrn Dr. Friese die Übertragung zu honorieren, was uns nicht leicht fallen würde, denn bei unserem sehr mageren Akademie-Etat bedeutet das Zahlen eines Honorars für eine umfangreiche Übertragung, die nicht von uns gebracht werden kann, nahezu eine Existenzfrage für die nächste Nummer. Deshalb möchte ich Sie herzlichst bitten, mir einen kurzen Bescheid zukommen zu lassen, ob die Nachricht von Herrn Ernst Harthern an den Aufbau-Verlag Ihrem Wunsch entspricht. Sollten Sie aus irgendwelchen Gründen bei einer solchen Entscheidung bleiben müssen, so wäre es freundlich von Ihnen, mir in Ihrem Schreiben eine Begründung dafür zu geben. Und das allein aus folgendem Grund: ich muß dann bei der Deutschen Akademie der Künste den Antrag stellen, über den Etat hinaus Herrn Dr. Friese eine Entschädigungssumme für seine Arbeit zu bewilligen. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, wie sehr mir daran gelegen ist, wieder einmal einen Beitrag von Ihnen bringen zu dürfen. Mit allen guten Wünschen für Sie und Ihr Schaffen stets Ihr 50 <?page no="51"?> Dr. W. Friese Berlin-Pankow Neumannstr. 45 pt.r. 26.7.1955 Sehr geehrter, lieber Herr Laxness, abschriftlich übersende ich Ihnen folgenden Brief von Herrn Harthern, Sigtuna, an mich: „Herr Janka, Aufbau-Verlag, Berlin, hat, wie er mir in seinem Brief vom 28. Juni u.a. schrieb, Ihnen bereits mitgeteilt, daß ich seit langem von Herrn Laxness autorisiert worden bin, genau wie seine übrigen Werke auch sein Schauspiel „Silbermond“ ins Deutsche zu übertragen. Herr Janka gab mir Ihre Adresse und fügte hinzu: Um sicher zu gehen, empfehlen wir, daß Sie selbst noch einmal Mitteilung geben.“ Wohl weiss ich von Herrn Laxness, dass er Ihnen auf Ihren Wunsch ein Exemplar des Schauspiels dediziert hat, wobei er aber mir gegenüber ausdrücklich bemerkte: „Ausschliesslich zur Lektüre, aber nicht zur Übersetzung.“ Ich möchte heute hinzufügen: durch die Aufführung in Moskau sind im Text verschiedene Änderungen, Streichungen und Ergänzungen vorgenommen worde, von denen Herr Laxness mir Kenntnis gegeben hat, um sie bei meiner Übersetzung zu berücksichtigen.Was auch geschieht. Meine Übersetzung wird in 2 Wochen abgeschlossen vorliegen. Möglich, daß bei den deutschen Aufführungen wieder Änderungen vorgenommen werden. Dies möchte ich jedenfalls abwarten und erst danach dem Aufbau-Verlag die Drucklegung des Schauspiels empfehlen. Beste Grüße Ihres gez. Ernst Harthern.“ Zu diesem Brief möchte ich folgendes bemerken: Im Frühjahr wurde ich von dem Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“, Herrn Huchel, beauftragt, Ihr Schauspiel „Silbermond“ mit Unterstüzung von Herrn Prof. Sveinn Bergsveinsson bis Ende Juli zu übersetzen. Diese Regelung hatten 51 <?page no="52"?> Sie wohl mit Herrn Huchel vereinbart. Sie werden sich vorstellen können, daß ich über obiges Schreiben von Herrn Harthern sehr erstaunt war. Da meine Übersetzung des Schauspiels fertig ist, möchte ich Sie bitten, mir kurz mitzuteilen, ob Sie bei der Abmachung mit Herrn Huchel bleiben und mir das Recht der Übertragung geben oder ob die Angaben in Herrn Hartherns Brief stimmen. Sollte letzteres zutreffend sein, sehe ich ein, daß ich meine Übertragung zurückziehen muß, obgleich ich dadurch einen beträchtlichen finanziellen Schaden erleide. In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit allen guten Wünschen für Sie stets Ihr 52 <?page no="53"?> P.O.B. 664 1. August 1955 Lieber Herr Friese, Ich danke für Ihren Brief vom 26. Juli. Ich schicke Ihnen eine Kopie meines Briefes an Herrn Huchel, damit Sie im Bilde sind. Ich hoffe dass eine Vereinbarung mit Harthern zustandekommen wird, wie in seinem Brief an Herrn Huchel empfohlen. Es darf nicht vorkommen dass Sie einen Schaden wegen Mangel an Klarheit in dieser Sache leiden. Mit freundlichen Grüssen gez. Halldór Laxness 53 <?page no="54"?> Reykjavík P. O. B. 664 29. Juli 1955 Chefredakteur Peter Huchel Sinn und Form Potsdam-Wilhelmshorst Hubertusweg 43-45 Lieber Herr Huchel, ich danke Ihnen für den Brief vom 22. Juli anlässlich Silbermond. Ich erinnere mich in Berlin im vorigen Herbst, in unserem Gespräch den Namen des jungen Gelehrten Friese genannt zu haben und befürwortet, dass ihm die Chance gegeben würde, kleinere Sachen von mir, für welche mein Übersetzer Ernst Harthern nicht Zeit hätte, zu verdeutschen. Mit dieser, von meiner Seite wohlwollenden aber allgemeinen Empfehlung (ich kenne ja Frieses wirkliche Fähigkeiten nicht), ist doch nicht ohne Weiteres meine Autorisierung an Friese gegeben aus meiner Produktion zu übersetzen und im deutschen Sprachgebiet zu veröffentlichen was er will, ebensowenig wie zur Übersetzung eines bestimmten Werkes von mir, wie in diesem Falle Silbermond. Eine solche Autorisierung gebe ich überhaupt nie, wenigstens nicht für die Sprachen, die ich einigermassen beherrsche, ohne die Fähigkeiten des Betreffenden durch Stichproben geprüft zu haben. Ich hatte nicht das Gefühl, dass unser angenehmes Gespräch einen geschäftlichen Charakter hatte, oder dann dies nur nebenbei, wenigstens ist - leider - kein konkretes Abkommen über die Veröffentlichung meiner Sachen zustandegekommen. Auch sind auf das Gespräch zwischen uns keine weiteren geschäftlichen Verhandlungen erfolgt, - nichts Konkretes über die Veröffentlichung meiner Sachen in Sinn und Form. Und so verging der ganze Winter. Als mein deutscher Übersetzer Harthern im Frühling mich um die 54 <?page no="55"?> Autorisierung für die Übersetzung des Silbermondes formell bat, habe ich ihm sie schriftlich gegeben. Im Mai, als ich in Moskau war, habe ich einen Brief von Friese bekommen (- dessen Inhalt ich nicht genau erinnert habe, als ich vor wenigen Tagen an Harthern schrieb, jetzt aber bei mir gefunden und schliesslich genau gelesen habe.) Aus diesem Brief geht es wirklich hervor, dass Herr Friese im Auftrage von Herrn Huchel (und nicht des Berliner Ensembles wie Professor Bergsveinsson geglaubt hat) die Übersetzung des Silbermondes vorgenommen hat. Jetzt kann ich nur bemerken, dass zwischen Sinn und Form und mir kein Abkommen über die Veröffentlichung des Stückes vorhanden ist; ein Abkommen mit Friese wegen der Übersetzung scheint vorhanden zu sein ohne dass mit mir als Autor ein Abkommen gemacht worden wäre. Erst heute, in Ihrem vom 22. Juli datierten Brief, bekomme ich von authentischer Seite zu wissen, dass Sinn und Form wirklich wünscht dieses Schauspiel in pleno zu bringen. Da ist schon wieder ein Fall, wo ich in eine peinliche Situation gebracht worden bin, dadurch dass ich von Anfang an ein Geschäft kontraktmässig und juridisch zu machen versucht habe. Prinzipiell lasse ich doch alle meine Geschäfte von meinem Kopenhagner Anwalt, P.F. Jacobsen, regeln. Hätte Sinn und Form im vorigen Winter, gleich nach meinem kurzen Berliner Besuch, um die Autorisierung für Friese und einen Vertrag mit mir über die Veröffentlichung des Stückes gebeten, würde ich es formell gegeben haben, und alles wäre klar. Als im April Harthern formell um die Autorisierung bat, habe ich ihm diese gegeben, in dem keine Vertragsbindung zwischen deutschen Interessenten und mir über die Veröffentlichung des Stückes vorhanden war. Jetzt muss aus der Sache das Beste gemacht werden. Ich schlage vor, das schleunigst mit Ernst Harthern eine Vereinbarung gemacht wird, dass Sinn und Form die Übersetzung von Friese benützen darf, die Theaterrechte in der 55 <?page no="56"?> DDR, das Recht das Stück in Buchform herauszugeben, sowie die westdeutschen Rechte, der Übertragung Harthern vorbehalten werden. Sie werden verstehen dass es mir angelegen ist in Sinn und Form, einer Zeitschrift von der höchsten Kvalität, gedruckt zu werden. Es darf nicht vorkommen, dass die Existenz eines Jahrgangs von Sinn und Form durch diesen unglücklichen Vorfall gefährdet wird. Ich bin bereit Alles zu tun - auch ökonomische Opfer zu bringen - damit kein Schaden an einem so kulturell hochstehenden Vornehmen wie Sinn und Form durch mich angerichtet wird. Mit grosser Hochachtung und freundschaftlichen Grüssen, Ihr 56 <?page no="57"?> 57 Chefredakteur Den 1. August 1955 Peter Huchel Lieber Herr Dr. Friese, inzwischen ist auch ein sehr langer Brief von Laxness eingetroffen, in dem er mir klar macht, daß er von seiner Seite nur eine „wohlwollende aber allgemeine Empfehlung“ für Sie damals gegeben habe, keineswegs aber „unser angenehmes Gespräch einen geschäftlichen Charakter“ gehabt hätte. Bei wem liegt also die Schuld? Aber lassen wir das! Auf jeden Fall werde ich es Ihnen immer zu danken wissen, daß Sie auf eine so zuvorkommende, faire Art alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen wollen. Die Redaktion hat heute hin und her überlegt, wie wir Sie trotz unseres kleinen Honoraretats für Ihre mühselige Arbeit entschädigen können. Ich muß Sie bitten, sich mit einem Übersetzerhonorar von DM 750.- (abzüglich der Honorarsteuer) zufrieden zu geben; das ist wirklich das äußerste, was wir tun können. Wann schicken Sie mir Ihre Doktorarbeit? Vielleicht kann man aus dieser einen Laxness-Essay von ca. 30 bis 40 Seiten herauskristallisieren. Mir tut es aufrichtig leid, daß unsere erste Zusammenarbeit unter einem so schlechten Stern gestanden hat. Seien Sie versichert, daß ich nach wie vor daran interessiert bin, von Ihnen Übersetzungen aus dem Isländischen zu erhalten. Mit herzlichem Gruß stets Ihr gez. Peter Huchel <?page no="58"?> Halldór und Auður Laxness in den 1980er Jahren <?page no="59"?> Sinn und Form brachte das Drama nicht, Bertolt Brecht lehnte die Veröffentlichung von „Silbermond“ in einem Brief an Peter Huchel ab; er hatte eine Aufführung des Stückes („Das verkaufte Wiegenlied“) in Moskau gesehen und fand die Aufführung des „außerordentlichen Prosaisten … enttäuschend, altmodisch in Inhalt und Form.“ (zit. nach E. Hilscher: Kunstspiele für mitdichtende Leser. Zum 100. Geburtstag von Halldór Laxness am 23. April 2002. In: Studia Niemcoznawcze. Warszawa 2002. vol. XXI, 426. - vgl. zu dem ganzen Vorgang auch Halldór Guðmundsson: Halldór Laxness. Eine Biographie. München 2007. S. 635ff.). Das war das Ende der Bemühungen, ein Drama von Halldór Laxness auf die deutsche Bühne zu bringen. Ein Schaden? Das war aber auch das einstweilige Ende unserer Begegnungen, sie sollten erst wieder einsetzen mit dem nachstehenden Beitrag zum 70. Geburtstag von Halldór Laxness. In den dazwischen liegenden Jahren geschah einiges: Der isländische Literaturnobelpreisträger von 1955 wurde weltberühmt, seine Bücher in viele Sprachen übersetzt. Die meisten Leserinnen und Leser fand er im „sozialistischen“ Teil der Welt; in der DDR erschien eine Gesamtauflage von rund 400 000 Exemplaren im Aufbau-Verlag Berlin (vgl. Nordeuropa Studien, Greifswald 1977, S. 112). Ich verließ 1958 das Nordische Institut der Universität Greifswald und floh aus der DDR, dem „ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ In der „Stalinisierungsphase“ des Hochschulwesens, konnte ich der Forderung, dass jeder an einer Hochschule tätige Assistent die Lehren des dialektischen und historischen Materialismus als einzig verbindliche Grundlage für sein wissenschaftliches Arbeiten anerkennen musste, mit meinem Wissenschaftsverständnis nicht vereinbaren. Da es in jenen Jahren keine neuere Skandinavistik an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland gab, ging ich nach dem Refendariat in den Schuldienst. Nach der Habilitation („Nordische Barockdichtung“, 1968) wurde ich 59 <?page no="60"?> schließlich Professor für Nordische Philologie an der Universität Tübingen. Bei der Flucht aus der DDR blieb mein Exemplar der Übersetzung des „Silbermonds“ dort zurück. Es lag gut versteckt - das Eigentum von „Republikflüchtlingen“ wurde konfisziert! - viele Jahrzehnte bei inzwischen verstorbenen Verwandten, wurde schließlich vergessen. 1991 wird es durch Zufall gefunden und ich bekam es wieder in die Hände. Der weiter oben gedruckte Zweite Akt des Dramas ist dem Manuskript entnommen. 60 <?page no="61"?> „Undir Helgahnúk“ und „Kristnihald undir Jökli“: Der Ring schließt sich (1972) 61 „Das Reich der Mythen“ <?page no="62"?> „Der Gletscher thront ganz weiß und still.“ Snæfellsjökull <?page no="63"?> Eine nicht eben kurze Zeitspanne - nahezu ein halbes Jahrhundert - liegt zwischen der Veröffentlichung von „Undir Helgahnúk“ (Am heiligen Berg)) und „Kristnihald undir Jökli“ (Christsein am Gletscher), gleichwohl läßt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Titeln dieser zwei Bücher von Halldór Laxness schlechthin nicht übersehen, zeigen sie doch beide auf dem Titelblatt die Präposition undir verbunden mit einem Dativ von Helgahnúkur (Heiliger Berg) und Jökull (Gletscher). Die Bezeichnung Helgahnúkur verrät vielleicht ein wenig von der stillen und verklärenden Sehnsucht des jungen in Zentraleuropa über dem Manuskript zu seinem zweiten Roman sitzenden Schriftsteller nach der fernen unter dem Polarkreis liegenden heimatlichen Insel. Was immer auch diese Bezeichnung bedeuten mag: Ein poetisches Bild oder bloße Wiedergabe einer geographischen Realität - unter den sich beim Leser einstellenden Assoziationen wird höchst wahrscheinlich auch das Wort Helgafell auftauchen: Ein sehr bekannter und recht berühmter Name auf Snæfellsnes, einer Halbinsel im Westen Islands, auf der sich der Snæfellsjökull zu einer Höhe von beinahe 1500 Meter erhebt. „Jökullin trónar allhvítur og alkyr“ („Der Gletscher thront ganz weiß und still“, Kap. 34; hier und in der Folge stammen die Übersetzungen vom Verf.), meint einmal der Ich-Erzähler (Umbi) in „Kristnihald undir Jökli“, und nur wenig andere Worte wählt der Erzähler in „Undir Helgahnúk“, wenn er in seiner knappen Beschreibung des „Heiligen Berges“ davon spricht, er sei ein „Hátt og tignarlegt fjall“ (Hoher und majestätischer Berg; I,3). Für einen aufmerksamen Leser der beiden Bücher scheinen so nachfolgende Überlegungen nicht gänzlich aus der Luft gegriffen: Im Juli 1967, zu einer Zeit also, da Halldór Laxness, wie wir den Datenangaben (Mars 1967 - Júli 1968) am Schluss von „Kristnihald undir Jökli“ entnehmen können, mitten in der Arbeit an diesem Roman steckt, schreibt er ein 63 <?page no="64"?> kurzes Nachwort für die zweite Auflage von „Undir Helgahnúk“. Liegt nicht die Vermutung nahe, der Titel oder einzelne Wörter auf dem Titelblatt des frühen Buches könnten den Autor bewußt oder unbewußt bei der Gestaltung des Titels für das Werk, mit dem er sich gerade intensiv beschäftigt, beeinflußt haben? Die in beiden Fällen mit einem Dativ des Ortes (Berg, Gletscher) verbundene Präposition undir läßt einen solchen Gedanken zumindest nicht abwegig erscheinen. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant und sollte doch erwähnt werden, daß Halldór Laxness der dramatisierten Fassung des Romans „Kristnihald undir Jökli“ den Titel „Úa“ - der Name der weiblichen Hauptfigur des Werkes - gibt. „Undir Helgahnúk“ erscheint 1924, „Kristnihald undir Jökli“ kommt 1968 heraus. Bleibt der erste Romanversuch des Autors fragmentarisch, so setzt sich „Kristnihald undir Jökli“ mehr oder weniger aus „Bruchstücken“ zusammen; aus stenographischen Aufzeichnungen und Tonbandaufnahmen eines fiktiven Berichterstatters. Fast ein halbes Jahrhundert trennt die beiden Bücher, und sehr richtig bemerkt Halldór Laxness denn auch in seinem Nachwort zur zweiten Auflage von „Undir Helgahnúk“ (1967): „Siðan er meira en ein kynslóð um götur geingin … (Seitdem - seit der Erstveröffentlichung von Udir Helgahnúk, der Verf. - ist mehr als eine Generation dahingegangen). So wahr diese Feststellung gewiß ist, lassen sich dennoch neben der frappierenden Ähnlichkeit der Titel noch andere und tiefgreifendere Gemeinsamkeiten zwischen diesen zwei Prosaarbeiten beobachten und aufzeigen. Als der zwanzigjährige Laxness im Winter 1922/ 23 in dem Benediktinerkloster Saint Maurice de Clervaux in Luxemburg das Manuskript zu „Undir Helgahnúk“ schreibt, zählt zu dem von ihm hochgeschätzten französischen Autoren auch Henri Bordeaux, von dessen Arbeiten insbesondere „La peur de vivre“ (1902) einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen 64 <?page no="65"?> soll. In diesem wie auch in anderen Romanen des Schriftstellers findet er jene genaue und einfühlsame Landschaftsbeschreibung und jene subtile Gestaltung seelischer Vorgänge, um die sich der junge Halldór Kiljan Laxness bei der Niederschrift seines Werkes bemüht. Wiederum sollte es ein französischer Autor sein - dieses Mal Jules Verne -, bei dem der inzwischen weltberühmte Romancier und Nobelpreisträger das Modell - soweit es das äußere Auftreten betrifft - für die männliche Hauptfigur in „Kristnihald undir Jökli“ vorgezeichnet findet. Pastor Jón Primus ähnelt in manchen Zügen jenem Geistlichen, dem Professor Otto Lidenbrock und sein Begleiter in „Voyage au centre de la terre“ am Fuß des Snæfellsjökull, dem Ausgangspunkt ihres kühnen und abenteuerlichen Unternehmens, gegenüberstehen. Gleich Lidenbrock sieht sich ein vom Bischof von Island beauftragter Berichterstatter in Halldór Laxness’ Roman mit einem Mann konfrontiert, der sich auf das Schmiedehandwerk versteht und der sich durch keine Fragen beim Hufbeschlag unterbrechen läßt. Jules Vernes garstiges und vor Schmutz starrendes weibliches Wesen hingegen nimmt bei Laxness in der Gestalt des Fräulein Hnallþóra ein wenig freundlichere Züge an, wenngleich sich die Gastlichkeit dieses vierschrötigen und derben Frauenzimmers dann als recht eigenartig erweisen wird. Schließlich lässt der Autor im Verlauf der absonderlichen und absurd anmutenden Vorgänge am Fuß des Gletschers auch noch Saknussemm II. auftreten, einen geistigen Nachkommen von Jules Vernes Alchimisten Sacknussemm, dessen geheimnisvolle „Runeninschrift“ Professor Lidenbrock nach Island und zum Snæfellsjökull aufbrechen ließ. Mit einem gewissen Recht mag eingewendet werden, die bislang aufgezeigten Parallelen blieben doch zu sehr an der Oberfläche und wirkten allzu sehr konstruiert und herbeigeholt, um eine Ähnlichkeit oder gar Gemeinsames zwischen den Arbeiten des 20-jährigen und 65-jährigen Halldór 65 <?page no="66"?> Laxness herausstellen zu wollen. Um so mehr fällt bei dem Vergleich dann ins Gewicht, dass „Undir Helgahnúk“ und „Kristnihald undir Jökli“ auch in der Wahl ihrer Themen übereinstimmen. In beiden Prosawerken geht es letztlich um die uralten und wiederum doch ewig jungen Fragen: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es einen Gott? Legt der Autor in dem frühen Buch die Antwort oder den Versuch einer Antwort in den Mund eines jungen und unreifen Menschen, der sich anschickt, die Welt zu erobern, so lässt er in dem 44 Jahre später veröffentlichten Buch eine Frau und einen Mann, die beide die Welt zutiefst er- und durchlebt haben, Antworten formulieren. Atli Kjartansson heißt die Hauptfigur in „Undir Helgahnúk“: Sein Leben von der Geburt bis zur Konfirmation und der bald bevorstehenden Abreise aus dem Elternhaus bildet den äußeren Rahmen des Erzählten. Dieser träumerisch veranlagte und phantasievolle Knabe, Sohn des Pastors Kjartan Einarsson und dessen Frau Jóhanna auf Staður am Fuße des „Heiligen Berges“, erfährt in einem Tagtraum die unterirdische Welt der Elfen und Trolle und tauscht bei dieser Gelegenheit sein Herz gegen den „Stein der Macht“ ein, um einmal in der Zukunft ein berühmter Mann draußen in der Welt zu werden. Als jedoch seine gleichaltrige Spielgefährtin Áslaug, eine Art Schutzengel für ihn, den Namen Jesus auf den Stein ritzt, verliert dieser seine vom Teufel stammenden Kraft. Atli findet zurück auf den rechten Weg, und gegen Ende des Buches singen sich die beiden jungen Stimmen durch die Strophen der beliebten Ballade „Ólafur reið með björgum fram“ (Olaf ritt von weither) immer „tiefer und tiefer hinein in die Poesie, das Feierliche jenseits des Tages“ („Undir Helgahnúk“, 2.A. 1967, S. 235). Kein Ton klingt reiner als die schwermütige Weise dieser naturmystischen Folkevise, deren Melodie die Seele ein wenig von der Herrlichkeit des Jenseits und von der Schönheit der Dichtung ahnen lässt. 66 <?page no="67"?> Diese Strophen beschließen eine Erzählung, die den geistigen Reifeprozess des kindlich-jugendlichen Grüblers Atli nachzeichnet. Sein Suchen und Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Existenz Gottes lassen ihn voller Skepsis das Wort der Bibel und die Lehre Martin Luthers betrachten und die Antworten bei Darwin, J.P. Jacobsen und August Strindberg entdecken. All seine religiösen Skrupel aber schwinden sobald er sich in der freien Natur aufhält: „… es war, als habe die Natur eine Seele, die Hundert Millionen mal schöner und mächtiger als die Seelen der Menschen war“ (a.a.O., S. 213). Im Betrachten der ihn umgebenden Landschaft und der einfachen und alltäglich wiederkehrenden Dinge überkommt ihn der Gedanke: „… wenn dies auch nichts anderes als das Alltäglichste unter dem Alltäglichen ist, so ist es doch gleichwohl ein Bruchstück von etwas Mächtigem und Unendlichem und Unsagbarem. Es war, als wäre etwas Feierliches hinter den Tagen verborgen. Und dieses Feierliche nahm eine jede Seele gefangen, die schauen und hören wollte“ (a.a.O., S. 214). Jene am Schluss der Fragment gebliebenen Erzählung stehenden Folkeviser-Strophen setzen wider das sinnbetörende Gaukelwerk des Elfenzaubers den Glauben an Christus und erflehen den Beistand von Sancta Maria. Gleichfalls an sie wenden sich die dem Angelus Dei entnommenen Verse, mit denen das umfangreiche nächste Prosawerk des Autors schließt. Voran aber stellt Halldór Kiljan Laxness dem bereits im Sommer 1925 im Manuskript abgeschlossenen, jedoch erst 1927 veröffentlichten „Vefarinn mikli frá Kasmir“ („Der große Weber von Kaschmir“) Verse aus Dante Alighieris „Divina Commedia“ (Par. XVII, 127-132), die dazu auffordern, „ungeschminkt und vollständig“ die Wahrheit zu sagen. In Nachahmung jener Dichtung mit ihren einhundert Gesängen unterteilt er sein Werk in einhundert Abschnitte, doch entwirft Laxness in diesem „großen Gerichtstag“ über ein Sta- 67 <?page no="68"?> dium seiner geistig-religiösen Entwicklung mehr eine „menschliche“ als eine „göttliche Komödie“. Die männliche Hauptfigur Steinn Elliði, das Alter ego des Autors, durchwandert nicht Welten im Jenseits, sondern die weltanschaulichen und künstlerischen Höllen der sich so revolutionär gebärdenden Ismen im Europa der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Sein „Paradies“ findet der ruhelose Pilger und Sucher der Wahrheit in der Dilja, der weiblichen Hauptfigur, gegenüber geäußerten Erkenntnis: „Der Mensch ist eine Täuschung. Geh und suche Gott, deinen Schöpfer, denn alles außer ihm ist Täuschung.“ (Kap. 99) In dem leidenschaftlichen Ringen um die Wahrheit und in der dramatischen Auseinandersetzung zwischen Gott und der Welt in seiner Seele stößt Steinn die ihn liebende Dilja von sich, als sie ihn in Rom in einem Salesianer Konvent aufsucht, wohin er sich zurückgezogen hat, um über seine Berufung zum Priester nachzudenken. Überzeugender als in dieser Schlußszene des Romans spricht sein Ich in vielen anderen Passagen. Von den geistigen und religiösen Fragen und Problemen, die Steinn zutiefst erfassen und quälen, erfährt der Leser aus einem sehr ausführlichen, viele Kapitel des dritten Buches füllenden Brief an Vater Alban, bis es schließlich eruptiv aus dem schreibenden Bekenner hervorbricht: „Was würde meine Seele zufrieden stellen? Sehne ich mich nach dem Himmelreich und der ewigen Seligkeit? Nein, davon will ich nichts hören … Vielleicht ist kein Paradies, weder im Jenseits noch im Diesseits, mehr der Sehnsucht wert als ein isländisches Tal“. Und dann folgt in feierlich lyrischer Prosa ein Hohes Lied auf die Stille und Reinheit der isländischen Berge: Die „gesegneten Berge! Dorthin steht mein Sinn, dorthin und nicht weiter, dort, wo die hohen Berge sich heilig erheben --da bist du, meine Seele daheim --dort finde ich dich schließlich, meine Göttin! 68 <?page no="69"?> Hier ist alles, was ich liebe; hier ist meine Kirche; hier will ich schlafen und wachen, leben und sterben. Die isländische Bergwelt ist meine Geliebte und meine Frau, laß mich in ihren Armen sterben“. Er sehnt sich danach, nach seinem Tod als Vogel in stillen Hochsommernächten über den isländischen Bergen zu schweben (Kap. 46). Diesem leidenschaftlichen Bekenntnis zur isländischen Natur entspricht die beglückende Erfahrung einer mit Dilja verbrachten Nacht. Er sieht die Welt mit neuen Augen und bringt seine Gefühle am frühen Morgen mit den nahezu eintausend Jahre alten Worte der Völuspa zum Ausdruck: Sér hún upp koma öðru sinni jörð úr ægi iðjagræna: falla fossar; flýgur örn yfir, sá er á fjalli fiska veiðir. (Emporsteigen sieht sie zum zweiten Male die ewig grüne Erde aus dem Meer; die Wasser rauschen; hoch schwebt der Adler, der auf dem Berge Fische fängt.) Die Stille und der Friede der Berge rings um Thingvellir überkommen Steinn, er fühlt sich wie neu geboren, weiß er doch nun, dass es gilt ein „Mensch zu sein, wie Gott ihn geschaffen hat“ und dass „die Liebe des Mannes zur Frau das einzig Wahre im Leben“ ist: „gibt es ein schöneres Evangelium? “ (Kap. 88 f.). 69 <?page no="70"?> Diese prosalyrischen Passagen, deren emphatisch-exaltierte Sprache ein isländisches Echo auf die literarischen Strömungen im Europa der zwanziger Jahre ist, nehmen bereits vorweg, was Halldór Laxness in den folgenden Jahren rational nachvollziehen wird: Einsichten und Erkenntnisse, die er in einer Sammlung Essays 1929 unter dem Titel „Alþýðubókin“ („Das Volksbuch“) veröffentlicht. Angesichts des sozialen Elends der Menschen - die Verhältnisse in isländischen Torfkaten und in den Städten der Vereinigten Staaten liefern ihm das unmittelbare Anschauungsmaterial - werden die weltanschaulichen und religiösen Probleme zweitrangig. Halldór Kiljan Laxness findet zum Du: Er entdeckt den Menschen als höchstes Gut, und insbesondere weiß er sich mit jenen Menschen solidarisch, die sich auf der Schattenseite des Lebens befinden. „Trú“ („Glauben“), eine längere Abhandlung in der Essay-Sammlung, beschließt er so mit den ein wenig pathetisch klingenden Worten: „Der Mensch ist das Evangelium dieser neuen Kultur, der Mensch als die vollkommene biologische Art, der Mensch als gesellschaftliches Wesen, der Mensch als Zeichen des Lebens und als Ideal, der eine wahre Mensch - Du. Deshalb sollst du nicht glauben, was in christlichen Büchern gesagt wird: Wird der Schwache getreten, dann wird deinen Brüdern Unrecht getan; nein, in Wirklichkeit ist es doch so: das bist Du. Wo die Kinder des Proletariats zum Profit für die Wölfe des Kapitalismus ausgesaugt werden - dort tritt man dich selbst in den Schmutz, den einen wahren Menschen, die höchste Offenbarung des Lebens, Dich.“ („Alþýðubókin“, 5.A. 1956, S. 206). Auf der letzten Seite des Essaybandes stehend, erhalten diese Worte ein besonders starkes Gewicht: Sie bilden eine programmatische Erklärung für das Schaffen des Autors in den folgenden Jahren. Lässt Halldór Kiljan Laxness in „Vefarinn mikli frá Kasmir“ Steinn Elliði in seinen Überlegungen - und wir dürfen hinter seinen Gedankengängen wohl teilweise die Ansichten 70 <?page no="71"?> des Autors vermuten - noch meinen, der Kommunismus und das wahre Christentum, d.h. Benedikt und nicht Alexander Borgia, könnten einander gut ergänzen, so bringt er in seinen beiden ersten gesellschaftskritisch - realistischen Romanen, den Prosaepen, wie er sie selbst einmal ironisch genannt hat, über den Fisch und das Schaf, mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck, dass allein der Sozialismus einen Ausweg aus der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Misere unserer Zeit eröffnet. Zweifelsohne gibt der Schriftsteller in „Salka Valka“ (1931/ 32) ein stark sozialkritisch gefärbtes Bild eines isländischen Fischerdorfs, wenn auch nicht zu übersehen ist, dass im Mittelpunkt der Romanhandlung zwei Individuen stehen: Salka Valka, die weibliche Titelfigur, und Arnaldur müssen erfahren, dass in der Liebe und im Tod der Mensch allein ist. Arnaldur, ein „armer Grübler“ - er gleicht Atli und Steinn -, ist ein rechtgläubiger Marxist, Vertreter einer weltlichen Heilsarmee (vgl. Salka Valka, 3.A. 1959, S. 298), der mit seinen politischen Dogmen an der rauhen Wirklichkeit eines erbärmlichen Alltags scheitert … „Aber welchen Wert haben Ideale, wenn man stirbt, ehe sie in Erfüllung gehen? “ (a.a.O., S. 433) setzt das herbe und stolze Fischermädchen Salka, in ihrem nüchtern - pragmatischen Denken und Handeln ein Sinnbild des Lebens, seinen auswendig gelernten Lehr- und Glaubenssätzen entgegen. Am Ende des Romans kehrt Arnaldur, der lieber utopischen Vorstellungen nachjagt als sich auf die harten Forderungen des Alltags einzulassen, diesem abgelegenen kleinen Küstenort unter den übermächtigen Bergen den Rücken zu, um jenseits des Atlantiks, in Amerika, das Gelobte Land zu suchen. Der Verwirklichung seines Gelobten Landes, nämlich ein freier, unabhängiger Mensch zu werden, opfert die männliche Hauptfigur in „Sjálfstætt fólk“ (1934/ 35), der Kleinbauer Bjartur, viele Jahre, doch die Erfüllung des lang gehegten Wunsches, selbständig zu sein und ein Stück Grund und 71 <?page no="72"?> Boden sein Eigen nennen zu dürfen, bringt nichts als Elend und bittere Not für ihn und seine Angehörigen. Bjarturs Lebensweg wähnt der Autor in vielen Menschenschicksalen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu begegnen, und ihm scheint in den dreißiger Jahren die Welt des Sozialismus - so wie sie sich ihm in der Sowjetunion darstellt, nachzulesen in den Bänden „Í austurvegi“, 1933 (Auf östlichem Weg) und „Gerska æfintýrið“, 1938 (Russisches Märchen), - eine politisch realisierbare Möglichkeit eines Paradieses auf Erden zu sein. Gegen Ende des Romans läßt der Erzähler Bjartur streikenden Arbeitern begegnen: Vielleicht werden sie einmal jene Welt schaffen, in der sein Traum in Erfüllung gehen wird. Er aber geht eigensinnig und stur seinen Weg weiter. Allein das Mitleid mit seiner Tochter Ásta Sóllija, der „Blume seines Lebens“, verleiht dieser tragikomischen Figur einen Zug menschlicher Größe. Mitleid sei „das Adelszeichen des Menschen“, nicht aber die radikale Forderung nach Gerechtigkeit um jeden Preis, wie Örn Úlfar gegenüber seinem Dichterkollegen Ólafur Kárason behauptet. Ólafur, ein Dichter aus dem einfachen Volk, geht als „krossberari“ (Kreuzträger) durch die Welt, er sehnt sich nach der Schönheit sein ganzes Leben hindurch, da sie sich nicht einstellt, steigt er am Ostersamstag hinauf zum „jökull“: In die eisige Welt des Gletschers, „wo die Schönheit allein herrschen wird“. Isländische Naturmystik und christlicher Auferstehungsglaube verschmelzen in dem Schlussbild der Tetralogie „Ljós heimsins“ (1937/ 40; später „Heimsljós“). Von mittelalterlichen isländischen Handschriften ist in der Trilogie „Íslandsklukkan“ (1943/ 46) die Rede. Arnas Arnaeus, dem Gelehrten Árni Magnússon aus dem 17. Jahrhundert nachgezeichnet, widmet viele Jahre seines Lebens dem Sammeln der Pergamentblätter und Handschriften, bewahren sie doch für ihn „die Seele der nordischen Völker“. Seine Suche wird ihn eines Tages auch nach Rom führen, und 72 <?page no="73"?> in der Beschreibung der ewigen Stadt, insbesondere der vielen Pilger aus aller Welt in einem Jubeljahr, erinnert sich Laxness an seinen Rom-Aufenthalt in den zwanziger Jahren, als auch er auf der Suche war, auf der Suche nach der Wahrheit. Gleich Arnas hätte der Autor auf die Frage „Wohin geht der Weg? “ antworten können: „Suchet und ihr werdet finden - alles andere als ihr suchet“ („Hið ljósa man“, Die lichte Maid, Kap. 9). Diese Erfahrung wird auch dem Skalden þormóður in „Gerpla“ (1952) nicht erspart bleiben. Der Dichter, der sein Leben und sein Schaffen in den Dienst einer Ideologie gestellt hat, muss allzu spät erkennen, dass er einem Trugbild gefolgt ist. Und wohin führt in „Paradísarheimt“ (1960) den Kleinbauer Steinar Steinsson seine Suche nach dem Paradies? Lange Zeit meint er, das irdische Glück und die Wahrheit bei den Mormonen in Salt Lake City gefunden zu haben. Am Ende aber steht er wieder vor seinem verfallenen Hof in Island und macht sich daran, ihn in mühevoller Arbeit wieder aufzubauen. Vergeblich hat Steinar die Wahrheit gesucht - ist dies nicht auch die Erfahrung, die der Autor machen musste? Religiöse Dogmen, weltanschauliche und politische Lehrsätze sind voller Skepsis zu betrachten. Wie steht es zum Beispiel um das christliche Leben am Gletscher, um „Kristnihald undir Jökli“? Dies soll im Auftrag des Bischofs ein junger Theologe untersuchen. Er soll überprüfen, auf welche Weise Pastor Jón Primus am Fuß des Snæfellsgletscher sein Amt ausübt. Für ihn scheint es die größte Untersuchung seit den Tagen Jules Vernes und so fragt er sich „En hvar kem ég upp? “ (Aber wo komme ich heraus? , Kap. 11) bei seinen Nachforschungen über die Einhaltung der christlichen Gebote. Wie recht er mit dieser Frage hat, stellt sich sehr bald heraus. Jón Primus kommt seinen Pflichten als Geistlicher nur äußerst unvollkommen nach: An hohen kirchlichen Feiertagen fallen die Gottesdienste aus, die Kirche ist geschlossen und dem völli- 73 <?page no="74"?> gen Verfall preisgegeben. Jón zeigt sich hingegen als ein sehr geschickter Handwerker und gefragter Hufschmied, von der Philosophie und von der Theologie jedoch hält er nicht allzu viel: Was bieten sie denn anderes als fein ersonnene Fabeln? Wenig hält er auch von den Bildern, die sich die Menschen von der Allmacht Gottes machen und von den Namen, die sie ihm geben: „Wer einen Berg verehrt, wie es unzählige Völker getan haben, dessen Gott ist der Berg; der Stein, wenn du einen Stein anbetest; der Stock, wenn du an einen Stock glaubst; und so weiter: ein Strom, Wasser in einer Quelle, Wasser in einer Schale; Fisch, Brot, Wein; ein Kalb wie ein Elfenwidder; und die Jungfrau Maria aus einem bemalten Stück Holz ist nicht geringer als die weitschößige Witwe Libido oder das Riesenweib Revolution, das Menschenopfer fordert“ (Kap. 18). Was für die Theologie und die Philosophie gilt, trifft aber weit mehr noch für jene Wissenschaften zu, die, wie sie vorgeben, sich allein auf die Vernunft verlassen. Die Phänomene dieser Welt - Götter, Dinge, Meinungen und Worte - sind ihm nichts als Illusionen, Offenbarungsformen eines Wesens, das der Mensch nicht kennt. Für Jón gibt es nur eine Gewißheit: „Ich habe den Gletscher; und natürlich die Lilien auf dem Felde, sie sind bei mir, ich bin bei ihnen; aber vor allem den Gletscher.“ (Kap. 13). Majestätisch zum Himmel ragende Gletscher und erhabene „heilige“ Berge begegnen uns häufig in Laxness’ Werken, seit seinen ersten Prosaarbeiten: Die Stille und Reinheit preist Steinn in „Vefarinn mikli frá Kasmir“, und der Dichter Ólafur Kárason in „Heimsljós“ steigt hinauf zum Gletscher „wo die Schönheit allein herrschen wird“. Von irdischer Vollkommenheit und göttlicher Reinheit ist der Gletscher, dort ist „wohl das Reich der Mythen“. Am Fuß des Snæfellsgletscher ereignen sich geheimnisumwitterte Dinge, sonderbar exotisch wirkende Gestalten treten auf: Jünger einer neuen Heilslehre, Welterlöser, Hippies und Blumenjünglinge. Schließlich Úa oder Guðrún Sæmundsdót- 74 <?page no="75"?> tir, derem Zauber selbst der theologische Berichterstatter erliegt, wenngleich er nur halb so viele Jahre zählt wie sie. Nur ein Lachen in einer regnerische Nacht bleibt zum Schluss von ihr. Ist sie ein Elfenwesen? Hat sie nicht wie alle Frauenfiguren in Laxness’ Romanen - Diljá und SalkaValka, Ásta Sóllilja und Snæfriður oder Ugla - trotz ihres ausgesprochen nüchternen Sinnes für die Realitäten des Lebens etwas Unwirkliches und Märchenhaftes über sich? „Hver skrifaði þessa bók og hvar er sá maður? “ (Wer schrieb dieses Buch und wo ist der Mann? ) fragt Halldór Laxness in dem eingangs erwähnten Nachwort zu der Neuauflage von „Undir Helgahnúk“. So verständlich diese Frage klingt, lässt sich doch keinesfalls übersehen, dass ein ganz wesentlicher Zug des 65-jährigen Fragestellers bereits in dem 20-jährigen Debütanten vorhanden gewesen ist, der ihn sein Leben hindurch nicht verlassen sollte: Die stete Suche nach der Wahrheit. Mancherlei Wahrheit ist ihm in der Welt begegnet, nicht wenige Jahre gingen dahin, bis er erkennen musste, dass über allen religiösen und ideologischen Dogmen, über allen philosophischen und politischen Lehrsätzen der Mensch in seiner Erbärmlichkeit und Hilflosigkeit steht. „Die Quelle des erhabensten Gesangs ist das Mitleid“ lesen wir im 56. Kapitel in „Sjálfstætt fólk“, und in „Kristnihald undir Jökli“ erinnert Úa den Berichterstatter des Bischofs an das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe; denn ohne Mitleid und Nächstenliebe sei menschliche Existenz nicht möglich. Dieses „größte Gebot“ läßt selbst für den Autor und Künstler Halldór Laxness den „reinen Ton“ der Dichtung ein wenig spröde erklingen. Aus: Special issue devoted to the work of Halldór Laxness. Edited by Sveinn Skorri Höskuldsson and published on the occasion of Halldór Laxness’ 70th birthday, 23 April 1972. Scandinavica. An International Journal of Scandinavian Studies. Supplement. London & New York. pp. 21-31. 75 <?page no="77"?> Ehrendoktor der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen (1982) Im Wintersemester 1981/ 82 beschloss die Neuphilologische Fakultät der Universität Tübingen auf meinen Antrag Halldór Laxness die Würde eines Ehrendoktors zu seinem 80. Geburtstag am 23. April 1982 zu verleihen. Mit einem Schreiben vom 1. März bedankte dieser sich beim Dekan der Fakultät. Reykjavík, P.O.B. 664, den 1.3.1982 Herrn Dekan Prof. Dr. Alfred Weber Neuphilologische Fakultät der Universität Tübingen Wilhelmstrasse 50 74 Tübingen 1 Deutschland Hochverehrter Herr Dekan: Für Ihren Brief worin Sie mir zu meinem achtzigsten Geburtstag den Grad eines Ehrendoktors der Universität Tübingen verkündigen, danke ich demütigst, wohl wissend 77 <?page no="78"?> dass im Gebiet der Literatur bin ich nur ein einfacher Arbeiter im Felde. Für Ihre Einladung vor dem Schluss des Sommersemesters nach Tübingen zu kommen, wo ich auch von Alters her persönliche Freunde habe, e.g. Professor Wilhelm Friese, bin ich auch sehr dankbar; und wenn ich, wie gewöhnlich im Frühsommer, bei meinen Freunden in St. Gallen Halt machen werde, möchte ich sehr gern von dort einen Abstecher nach Tübingen machen, alte und neue Freunde zu begrüssen. Bitte, einen genaueren Bescheid von mir in April zu erwarten. Mit vorzüglicher Hochachtung, gez. Halldór Laxness Am 20. April durfte ich bei einer Feier, zu der die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Reykjavík geladen hatte, im Auftrag der Neuphilologischen Fakultät die Ernennungsurkunde zum Ehrendoktor Halldór Laxness überreichen. Hochverehrter Herr Laxness, sehr geehrter Herr Botschafter Dr. Krieg, meine Damen und Herren, Ich habe den ehrenvollen Auftrag, Ihnen, verehrter Herr Laxness, im Auftrag der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen die Urkunde über die Ernennung zum Ehrendoktor zu überreichen. Ich darf Ihnen die aufrichtigsten Grüße und die herzlichsten Glückwünsche der Fakultät überbringen, zugleich möchte ich mich im Namen aller Lehrenden und Studierenden schon heute für Ihren brieflich angekündigten Besuch im Laufe des Sommersemesters in Tübingen bedanken. 78 <?page no="79"?> Die Universität Tübingen, die in ihrer über 500 Jahre alten Geschichte nicht wenige hervorragende Persönlichkeiten kennt, ist stolz und glücklich, dass nun mit Ihnen ein weltberühmter Autor und Literaturnobelpreisträger dazu gerechnet werden darf. Wir freuen uns sehr, verehrter Herr Laxness, dass Sie, der bedeutendste Schriftsteller Nordeuropas der Gegenwart, nun Ehrendoktor unserer Fakultät sind. Ehrendoktor einer Fakultät und Universität, die sich seit über 150 Jahren mit der Literatur der nordischen Länder beschäftigt: Ludwig Uhland, Dichter und Professor, las in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts über die nordische Sagengeschichte und Mythologie, im 20. Jahrhundert hat sich Hermann Schneider mit der alt- und neuisländischen Literatur beschäftigt. Und die mittelalterliche „Lieder-Edda“ wurde von dem Juristen Felix Genzmer ins Deutsche übertragen, seine Übertragung eröffnet die Sammlung „Thule“. Im Geist dieser Tradition möchten wir Ihre Ernennung zum Ehrendoktor verstanden wissen. Ihre Romane werden in vielen Ländern der Erde in Übersetzungen gelesen; nach der berühmten mittelalterlichen Literatur Islands haben Sie Ihrem Land erneut einen Platz in der Weltliteratur verschafft. Dafür gilt Ihnen unserer Dank. Lieber Herr Laxness, bevor ich die Promotionsurkunde verlese und Ihnen überreiche, gestatten Sie mir noch ein ganz persönliches Wort: Für mich ist diese Stunde ein bedeutsamer Moment. Sie werden sich, lieber Herr Laxness, an unsere erste Begegnung vor nunmehr fast dreißig Jahre erinnern. Sie waren damals so freundlich und großzügig, einem Ihnen unbekannten deutschen Doktoranden bei seinen Studien über den modernen isländischen Roman, d.h. also im wesentlichen über Ihr 79 <?page no="80"?> Werk, zu helfen: Im Briefaustausch, in Gesprächen und mit Büchern. Seit jenen Jahren habe ich mich immer wieder in Ihre Werke hineingelesen. Mit Steinn Elliði, Salka Valka, Bjartur, Jón Hreggvidsson, Snæfriður Íslandssól, Úgla, Alfgrímur und Jón Primus stehe ich auf Du und Du. Sie sind gute Bekannte, ich lebe mit ihnen. Ich freue mich, als dankbarer Leser und als - ich darf dies wohl sagen - alter und treuer Freund Ihnen diese Urkunde überreichen zu dürfen. 80 <?page no="81"?> Wortlaut der Ehrendoktorurkunde Die Neuphilologische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen verleiht Herrn Halldór Laxness dem Meister des Essays für seine kritischen und erhellenden Beiträge zur isländischen Literatur, dem wortmächtigen Schriftsteller, der die große epische Tradition seines Landes erneuerte und weiterführte, dem weltoffenen Humanisten, der die existenziellen Fragen unserer Zeit in seinen Romanen in künstlerisch vollendeter Form gestaltet hat, den Grad und die Würde eines Ehrendoktors der Philosophie Zum Zeugnis ist diese Urkunde mit dem Siegel der Universität versehen und von Präsident und Dekan unterschrieben. Tübingen, den 3. Februar 1982 Der Präsident Der Dekan gez. Theis gez. Weber 81 <?page no="82"?> Dankeswort von Halldór Laxness Herr und Frau Botschafter, Professor Friese, meine Damen und Herren, Die Verleihung des Titels Ehrendoktor der berühmten Universität von Tübingen hat mir grosse Genugtuung und Freude bereitet. Sicher wird es auch vielen von meinen deutschsprachigen Lesern eine gewisse Freude bereiten. Die deutsche Sprache ist die erste Sprache, worin meine Alster von der Aussenwelt beobachtet wurde, so Novellen, wie, später, grössere Schriftstücke. Meine erste Novelle außerhalb Skandinaviens ist in den „Mitteilungen der Islandfreunde“ durch den Wissenschaftler Dr. Heidenreich am Anfang der zwanziger Jahre zugänglich gemacht worden. Mein dicker Roman, das Buch über den Kleinbauer, der später in Amerika einen grossen Erfolg hatte, wurde kurz vor dem zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache vernichtet (eingestampft). Von diesem Buch gibt es in Deutschland immer noch verschiedene Übersetzungen unter ebensovielen Titeln; doch nur eines aus dem Isländischen übersetzt (Sei eigener Herr). Die Spaltung Deutschlands durch den Krieg hat dazu beigetragen, dass dieses Buch zu verschiedenen Zeiten in vier selbständigen Ausgaben unter verschiedenen Titeln im deutschen Sprachraum herausgegeben wurde; und zwar in solchen berühmten Verlagen wie Rowohlt und Suhrkamp. Die vielen Nachdrucke, hier und dort, von diesen Büchern, machen einem Literaturhistoriker so wie Buchverkäufern das Leben schwer. Der Aufklärung der Frage nach dem Status meines Schriftstellertums im deutschen Sprachraum wird die Nachricht dienen, dass mein Name durch ein Doktorat der berühmten Universität Tübingen jetzt verbunden ist. 82 <?page no="83"?> Halldór Kiljan Laxness und Knut Hamsun (1982) Auf dem isländischen Buchmarkt erscheint im Oktober 1919 der etwas über 200 Seiten umfassende Roman „Barn náttúrunnar“ (Ein Naturkind) von Halldór Guðjónsson frá Laxnesi. Der eben siebzehn Jahre alte Verfasser - nach dem Namen des elterlichen Gehöfts, in einiger Entfernung nordöstlich von Reykjavík gelegen, wählt er diesen Namen - gibt sein Erstlingswerk auf eigene Kosten heraus, wie einer entsprechenden Notiz auf dem Titelblatt zu entnehmen ist. Zu dem Zeitpunkt, da der Roman veröffentlicht wird, befindet sich der junge Autor schon einige Monate nicht mehr in Island, hatte er doch im Sommer jenes Jahres seine erste Reise ins Ausland angetreten. Nach Dänemark und Schweden sollte sie ihn führen. Noch vor seiner Abreise jedoch hatte er das im Sommer 1918 begonnene Manuskript in Druck gegeben. Einige Reykjavíker Zeitungen melden das Buch an, doch läßt sich schwerlich behaupten, das Debüt des jungen Schriftstellers habe viel Aufsehen bei den Rezensenten und dem Publikum gefunden. In wenigen Worten lässt sich der Inhalt des Romans wiedergeben: Der junge Isländer Randver Olafsson - die männliche Hauptfigur - hat sich einige Zeit in Amerika aufgehalten; seelisch völlig zerbrochen kehrt er auf die heimatliche Insel zurück. Jenseits des Atlantiks, in der neuen Welt, hat er 83 <?page no="84"?> das erträumte Glück nicht gefunden, seinen Kindheitsglauben aber hat er verloren, und auch in der Liebe hat er eine Enttäuschung erfahren. Bar aller Ideale kehrt er in die Heimat zurück, doch findet er hier allmählich wieder zu sich selbst. Ein alter Bauer weist Randver jenen Weg, der allein ein zufriedenes Leben verspricht: Nur durch harte, mühevolle und strebsame Arbeit auf der heimatlichen Scholle wird er das Glück im Leben erlangen. In der Bauerntochter Hulda lernt er ein Mädchen kennen, das ihr Vater in völliger Freiheit erzogen hat: Sie ist weder getauft noch konfirmiert, die Bibel oder den Katechismus hat sie nie gelesen. Hulda lebt und fühlt wie die sie umgebende Natur. In sie, das „Naturkind“, verliebt sich Randver, er ist bereit, alles für sie zu tun, doch als sie ihn dazu überreden will, mit ihr in die Welt hinauszuziehen, gesteht er ihr, dass er sein Lebensglück allein in der Arbeit auf der heimatlichen Scholle finden könne. Zornig und wütend stößt sie ihn von sich; Randver verfällt in seiner Verzweiflung dem Alkohol und verkommt mehr und mehr; das Bild des Elends, das er nun bietet, erweckt aufs neue Huldas Gefühle für Randver, und so finden sie schließlich wieder zusammen. Hulda, „das Naturkind“, und Randver gehen gemeinsam der Glück und Segen bringenden bäuerlichen Arbeit auf dem Boden der Heimat nach. Eine bedeutende Prosaarbeit ist „Barn náttúrunnar“ gewiss nicht; unübersehbar ist der Einfluss der Natur- und Bauernromantik des Norwegers Björnstjerne Björnson auf den jungen talentierten und phantasiebegabten Debütanten. Nicht nur Björnson, auch die Werke von Sigbjörn Obstfelder und der Schwedin Selma Lagerlöf haben einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Schreiber gemacht. Insbesondere die Beschreibung der schwedischen Natur und der heimattreuen Bauern im ersten Teil (I Dalarne) des Romans „Jerusalem“ (1901f.) hat ihre Spuren hinterlassen: So lässt der Erzähler sogar den amerikamüden Randver in diesem Roman lesen. In seinem Urteil über die amerikanische Zivilisation befindet 84 <?page no="85"?> sich der junge Isländer in der Nachfolge eines weiteren Norwegers, nämlich Knut Hamsuns. 1889, ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Amerika, erschien Hamsuns Buch „Fra det moderne Amerikas Aandsliv“ (Amerika, 1981), in dem er die Erfahrungen seines zweimaligen Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten zusammenfasste. Beide Male war er etwa zwei Jahre dort gewesen und hatte sich als Holzfäller, Erntearbeiter und mit Hilfe anderer Arbeiten durchgeschlagen, doch befasste er sich auch eingehend mit der Kultur des Landes. Die Folgerungen aus seinen Betrachtungen legte er in dieser kritischen Schrift vor: ein vernichtendes Urteil über Amerika, eine Land ohne Seele, seine Kultur durch und durch materialistisch, dort hatte die Maschine über den menschlichen Geist gesiegt. Die Vorstellung, dass Amerika Geist und Seele des Menschen zerstöre, gestaltet der junge isländische Schriftsteller in seinem ersten Roman in der Figur des Randver, vorgezeichnet fand er sie in Hamsuns Buch. Höchst interessant ist es, dass Laxness zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Barn náttúrunar“ zu ähnlichen Ansichten über Amerika - nach einem längeren Aufenthalt jenseits des Atlantiks - in seinem Buch „Alþýðubókin“ (1929, Das Volksbuch) gelangen sollte. Die tiefreichende und nachhaltige Wirkung von Knut Hamsuns Romane auf den jungen Laxness macht eine ebenfalls im Oktober 1919 - also im gleichen Monat, da sein Erstling erschien - publizierte Erzählung überdeutlich. In der Sonntagsnummer der dänischen Zeitung „Berlingske Tidende“ vom 19. Oktober erscheint die Erzählung „Den tusendaarige Islænding“ (Der tausendjährige Isländer). Geldsorgen zwangen den jungen Weltreisenden, sich auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Erzählung behandelt ein ähnliches Sujet wie „Barn náttúrunar“, sie ist eine Art Variation über das Thema „Ein Naturkind“. Der Titel der isländischen Version der Erzählung bestätigt dies. In der ersten Sammlung - „Nokkrar sögur“ (Einige Erzählungen) - seiner 85 <?page no="86"?> Erzählungen, die 1923 erscheint, gibt Laxness ihr den gleichen Titel wie dem Debütroman: „Barn náttúrunar“. In einer drei Jahrzehnte später veranstalteten Gesamtausgabe der Erzählungen, „þættir“, 1954, wählt er den Namen einer der drei Hauptfiguren für den neuen Titel „Heiðbæs“. Hat Laxness sich für diesen Titel entschieden, um Verwechslungen zwischen dem Roman und der Erzählung auszuschließen? Oder will er mit der Wahl dieses Titels andeuten, dass er seine Meinung über die inhaltliche Aussage der Erzählung geändert hat? Sieht er die beiden Gegenspieler, den Kunstmaler und Städter Heiðbæs und den naturverbundenen Knecht Helgi im Jahr 1954 unter anderen Aspekten? Dies ist keine pure Spekulation, denn schon gegen Ende der Erzählung ist eine gewisse Akzentverlagerung zu Gunsten von Heiðbæs zu beobachten: „Vielleicht war er der Mann der Zukunft, der, auf dem das Wohlergehen des jungen Islands gründen würde; es ist durchaus denkbar, dass neue Zeiten wenig für Kühe im Stall und Schafe auf der Weide übrig haben.“ (dt. Übersetzung, Mein heiliger Stein, 1995 S. 58). Die Handlung in „Den tusindaarige Islænding“ spielt vor der gewaltigen Kulisse des Vulkans Ketill. Unweit entfernt liegt der Hof Hrauntun, auf dem die Witwe Gunnhildur wohnt. Dort hält sich für einige Zeit der von Reykjavík kommende Kunstmaler Heidbaes auf, der die achtzehnjährige Tochter der Witwe, Astridur, mit seinem weltmännischen Auftreten stark beeindruckt. Sie verliebt sich in ihn und vergißt über ihn Helgi, den starken und schweigsamen jungen Knecht auf dem Hof; er ist ein unermüdlicher Arbeiter, nur selten gönnt er sich Ruhe, und dann liest er in der Saga von Grettir. Den Höhepunkt der Geschichte bildet der Ausbruch des Ketill. In dieser Situation offenbaren sich die Charaktere der beiden Männer: Der Kunstmaler Heidbaes verläßt so schnell wie möglich den Hof. Helgi hingegen kennt nur die Sorge um den Hof; am Tag nach dem Ausbruch macht er sich auf, um die Schafe zu suchen. Die Reaktion der zwei Männer 86 <?page no="87"?> in solch einem gefährlichen Moment lässt Astridur wieder zu Helgi finden. „Helgi, der den ganzen Tag im Gebirge herumgegangen war und die Schafe gesucht hatte, jetzt kam er nach Hause und wusch sich. Die hübsche, kleine Asta sah ihn hingerissen an - den ewigen Isländer, abgehärtet gegen Feuer und Eis und Strapazen aller Art, Generation um Generation, seit tausend Jahren.“ (a.a.O., S. 57). Diese Worte erinnern den Leser an Knut Hamsuns zwei Jahre zuvor erschienenen Roman „Markens Grøde“ (Segen der Erde, 1918), ein in Europa viel gelesenes Prosaepos nach dem Ersten Weltkrieg. Und auch der Schluß eifert dem Stil des Norwegers nach, wenn auch der jugendliche isländische Debütant noch mehr Gefühl und Pathos aufbringt. „Als er den Hofweg hinter sich gelassen hatte, standen Helgi und Astridur allein da. Sie sah den Berg Ketill an und dann ihn. Dort ragte der Vulkan himmelwärts, so kalt und gleichgültig aussehend, doch in seinem Innern war ein sprudelndes Feuermeer verborgen; so war ganz Island. An ihrer Seite stand der Isländer, der Sohn von Eis und Feuer, das legitime Kind der Natur, von derselben Wesensart wie sein Land.“ (a.a.O., S. 58f.). In keiner seiner frühen Prosaarbeiten ist Hamsuns Wirkung auf Laxness so unübersehbar wie in dieser Erzählung, er steht völlig im Bann von Hamsuns „Markens Grøde“. Diese Bewunderung sollte aber bald ein Ende finden. In der Zeitung „Morgunblaðið“ findet sich am 15. September 1921 eine Anmeldung des im Jahr zuvor erschienenen Romans „Konerne ved vandposten“ (Die Weiber am Brunnen, 1921) unter der Überschrift „Siðasta bók Hamsuns“ (Hamsuns letztes Buch). Der Verfasser, Halldór Laxness, setzt sich nicht nur mit diesem Roman kritisch auseinander, er geht auf Hamsuns ganzes Werk ein. In „dieser Zeit einer kulturellen Dekadenz“, schreibt er, sei es nicht verwunderlich, dass das Buch über „die gesegneten Kartoffeln“ - Zitat aus „Markens Gröde“ - so viele Bewunderer finde. Schon diese leicht ironischen Worte zeigen die neue Position des jungen Autors 87 <?page no="88"?> gegenüber seinem noch bis vor kurzem hochgeschätzten Dichterideal an. Weitaus schärfer bezieht er Stellung zu Hamsuns „Konerne ved vandposten“: „Aber jetzt ist mir sein letztes Buch, Die Weiber am Brunnen, in die Hände gekommen, und wie sich auch andere von Hamsuns Leser dazu stellen, hat es bei mir, kurz gesagt, Abscheu für den Dichter und seine Verfasserschaft erweckt. Plötzlich sind mir die Augen dafür aufgegangen, dass die Welt, die bisher einen so starken Eindruck auf mich gemacht hat, zutiefst äußerst ärmlich und dunkel und bedrängend ist, und dass ich unter keinem guten Einfluss gestanden habe, so lange ich mich dazu verlocken ließ zu glauben, dass diese Welt schön und bewundernswert sei.“ Allein Hamsuns meisterhafter Stil, schreibt er weiter, verleihe dem Roman eine gewisse Stärke. Doch welchen Sinn habe ein künstlerisch vollendeter Roman, wenn von ihm ein menschenfeindlicher Geist ausgehe? Das Elend der Menschen künstlerisch zu gestalten, sei einem Dichter nicht verwehrt - und Laxness verweist auf Maxim Gorki -, aber der Leser müsse merken, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nicht durch die Verachtung des Menschen, sondern durch die Liebe zum Menschen gefördert werde. Diese Rezension schreibt Laxness kurz vor Antritt seiner zweiten Auslandsreise, auf der er die politischen, philosophischen und literarischen Ismen Europas der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts kennenlernt. Gegen Ende des Jahrzehnts, nach einigen Jahren in Amerika, wird er zum Sozialismus finden: In „Alþýðubókin“ (1929; Das Volksbuch), einer Essaysammlung, äußert er sich kritisch zu allen möglichen gesellschaftlichen Problemen. Mit „Þú vínviður hreini“, 1931, und „Fuglinn í fjörunni“, 1932, in der zweiten Auflage 1951 zusammengefasst unter dem Titel „Salka Valka“ (dt. 1951), legt er seinen ersten gesellschaftskritischen Roman vor. Wir lesen von einem Küstenort, dessen Bewohner allein vom Fischfang leben; das Bild ist grau in grau, und doch verspürt der Leser in dieser Darstellung des Elends und der 88 <?page no="89"?> Armut das Mitleid des Erzählers mit den Menschen seiner heimatlichen Insel. 1934/ 35 erscheint der Roman „Sjálfstætt fólk“ (Sein eigner Herr, 1968), ein zutiefst isländisches Werk. In der Geschichte von Bjartur vom Sommerhof gestaltet Laxness das Schicksal eines isländischen Bauern im frühen 20. Jahrhundert, Bjartur ist aber darüber hinaus ein typischer Vertreter der Kleinbauern aller Zeiten. Er ist ein Bruder von Isak in Knut Hamsuns „Markens Grøde“, und doch trennen sie Welten voneinander. „Sjálfstætt fólk“ und „Markens Grøde“ sind großartige Dichtungen, zugleich aber auch weltanschauliche Bekenntnisse von Halldór Kiljan Laxness und Knut Hamsun. „Markens Grøde“ erzählt von der Arbeit auf eigenem Grund und Boden. Sellanraa, das Anwesen im Ödland, auf dem Isak, „Ein Wiedererstandener aus der Vorzeit, der in die Zukunft hinausdeutet, ein Mann aus der ersten Zeit des Ackerbaus, ein Landnamsmann, neunhundert Jahre alt und doch wieder der Mann des Tages“ (Knut Hamsun, Sämtliche Romane und Erzählungen, München 1958, Bd. II. S. 1152) mit seinem hasenschartigen Weib Inger lebt und arbeitet, ist ein paradiesischer Ort: „Glückliche Menschen auf Sellanraa.“ (a.a.O., S. 1000). Das geschäftige Treiben außerhalb dieser Welt bleibt nur ein Abenteuer, nur eine Episode. Allein die Erde und das, was sie dem Menschen gibt, ist nicht vergänglich; wohl ist sie hart und streng, doch darf sich der Mensch auf sie verlassen: „Hier wächst und gedeiht alles, Menschen und Tiere und die Früchte des Feldes. Isak sät. Die Abendsonne bescheint das Korn, er streut es im Bogen aus seiner Hand, und wie ein Goldregen sinkt es auf die Erde … Der Wald und die Berge stehen da und schauen zu, alles ist Macht und die Hoheit, hier ist ein Zusammenhang und ein Ziel“. (a.a.O., S. 1153). Dürfen wir in den Worten Geisslers, dieser nebulosen Gestalt, an Sivert, den Sohn Isaks, die Stimme Knut Hamsuns vermuten? „Sieh da ist die Natur, sie gehört dir und den Deinen. Der Mensch und die Natur bekämpfen einander nicht, 89 <?page no="90"?> sie geben einander recht, sie treten nicht in Wettbewerb, laufen nicht um die Wette irgendeinem Vorurteil nach, sie gehen Hand in Hand. Mitten drin geht ihr Leute auf Sellanraa und gedeiht. … Hör auf mich, Sivert, sei zufrieden mit deinem Los! Ihr habt alles, was ihr zum Leben braucht, alles, wofür ihr lebt, ihr werdet geboren und erzeugt neue Geschlechter, ihr seid notwendig auf der Erde. Das sind nicht alle, aber ihr seid es: notwendig auf der Erde. Ihr erhaltet das Leben. Bei euch folgt ein Geschlecht dem andern, wenn das eine stirbt, tritt das nächste an seine Stelle.Das eben ist unter dem ewigen Leben zu verstehen.“ (a.a.O., S. 1147f.). In einer Festschrift zum 70. Geburtstag des norwegischen Literaturnobelpreisträgers - er erhielt den Preis für „Markens Grøde“ - finden wir Gruß- und Dankesworte von vielen zeitgenössischen Autoren, darunter auch von Thomas Mann, der aber nicht versäumt, auf einen eklatanten Mangel Hamsuns hinzuweisen: „Das gesellschaftliche Element fehlt seiner Geistigkeit - das läßt ihn heute, wo selbst Widerstrebende sich gewöhnt haben, im Politisch-Sozialen das beherrschende Element der Epoche anzuerkennen, nicht gerade als ‚Führer‘ erscheinen …“. (Knut Hamsun, Festskrift til 70 aarsdagen. 4. August 1929. S. 129) Wie sehr Thomas Mann Recht hatte, wird durch Hamsuns Verhalten in den nachfolgenden Jahren bewiesen. Er ist der einzige repräsentative europäische Dichter im Lager Hitlers; 1947 des Landesverrats angeklagt, erklärt er vor einem norwegischen Gericht: „Ich habe zu verstehen versucht, was der Nationalsozialismus war, ich versuchte, mich damit vertraut zu machen, aber es wurde nichts daraus. Doch es ist wohl möglich, daß ich hin und wieder im Geist des Nationalsozialismus geschrieben habe. Ich weiß es nicht, denn ich weiß nicht, was der Geist des Nationalsozialismus ist …“ (Knut Hamsun, a.a.O., Bd. V, S. 776). Von einem Mangel des „gesellschaftlichen Elements“ oder des „Politisch-Sozialen“ lässt sich bei Laxness ganz gewiss nicht sprechen; werden doch seit den frühen dreißiger Jahren 90 <?page no="91"?> des 20. Jahrhunderts seine Werke ganz wesentlich durch politisch-soziale und gesellschaftliche Elemente geprägt. Dies gilt insbesondere für den 1934/ 35 publizierten Roman „Sjálfstaett fólk“, den Laxness mit dem Untertitel „Hetjusaga“ (Heldensaga) versieht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Bjartur, der sich vom Knecht zum Kleinbauer emporarbeitet: „Der Mann, der ein eigenes Grundstück besitzt, er ist sein eigener Herr im Lande. Niemand hat ihm etwas zu sagen“ (Sein eigener Herr, 1968; S. 19). Weder sich noch seine Familie schont er auf seinem Anwesen, das Haus aus Stein und Beton und sein Land wird nach dem Zusammenbruch der wirtschaftlichen Hochkonjunktur des Landes in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts versteigert. Gegen Schluß des Romans zieht er mit seiner todkranken Lieblingstochter in den Armen hin zur Torfkate der Mutter seiner zweiten Frau. Sein Traum von der Selbständigkeit und Freiheit scheitert an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das Schlußbild des Buches: Bjartur mit seiner Tochter auf dem Weg zu seiner Schwiegermutter, erhebt sein tragisches Schicksal ins Allgemeine, wie ihm erging es allen Kleinbauern auf Island seit Jahrhunderten, stets sehnten sie sich nach Freiheit und Selbständigkeit, doch scheiterten sie zumeist. „Der alleinarbeitende Bauer kommt nie aus der Klemme, er lebt weiter im Elend, solange der Mensch nicht des Menschen Schutz, sondern der schlimmste Feind des Menschen ist. Das Leben des alleinarbeitenden Bauern, das Leben des unabhängigen Menschen, ist in seinem Kern die Flucht vor anderen Menschen, die ihn töten wollen. Eine Kleinbauernfamilie zieht um, vier Generationen von den dreißig, die tausend Jahre lang Leben und Tod in diesem Land aufrecht erhalten haben - für wen? Keinesfalls für sich und die Ihrigen.“ (a.a.O., S. 621). Laxness sieht einen Ausweg aus diesem ewig gleichen Schicksal der Generationen. Bevor er den Roman endgültig niederschreibt, besucht er die Sowjetunion und lernt dort u.a. die Kollektivlandwirtschaft kennen, wenn auch meist aus 91 <?page no="92"?> Glúfjrasteinn 1996, bei Auður Laxness <?page no="93"?> Büchern, und erfährt von der Einteilung der Bauern nach Klassen: Großbauern, Mittelbauern, Kleinbauern. „Diese Einteilung … machte mir das gesamte Problem deutlich und befähigte mich, es in voller Klarheit auf gesellschaftlicher Grundlage anzupacken.“ (a.a.O., S. 624) schreibt er in einem Nachwort zu einer erneuten Auflage des Romans 1954. Sein Buch sei eine Antwort auf Hamsuns „Segen der Erde“, meint er weiter, seien doch Hamsuns „gesellschaftliche Schlußfolgerungen“ in „Segen der Erde“ im „allgemeinen falsch“. Die Tragödie Bjarturs, des isländischen Kleinbauern, wiederhole sich immer wieder in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, stellt er fest. Die Selbständigkeit und Freiheit sei in dieser Form menschlichen Zusammenlebens nicht möglich. Laxness sieht in jenen Jahren in der Schaffung einer Kollektivwirtschaft nach sowjetischem Vorbild - Jahre später wird er seinen Irrtum einsehen! - die einzige Möglichkeit, den Menschen in aller Welt eine lebenswertere Zukunft zu ermöglichen. In Bjarturs Kampf um Selbständigkeit und in Asta Solliljas, seiner Tochter, Sehnsucht nach der Liebe gestaltet Laxness eindrucksvoll das ewige Streben des Menschen nach Freiheit und Glück. 93 <?page no="95"?> Religion in Leben und Werk von Halldór Kiljan Laxness Man on the contrary is ever changing. I am ever changing in myself. Youth is not like age; and I am continually changing, as I pass along out of youth towards the end of life. John Henry Newman (1801-1890) In Halldór Kiljan Laxness’ Biographie fallen zwei Ereignisse, die nicht wenig über seine geistig-religiöse Entwicklung verraten, ins Auge: Am 6. Januar 1923 empfängt der Zwanzigjährige die Taufe und Firmung im Benediktinerkloster St. Maurice de Clervaux in Luxemburg, am 14. Februar 1998 nimmt „heila þjóð“ (ein ganzes Volk), so der Gemeindepfarrer Jakob Rolland in seiner Predigt im Requiem für den fast hundertjährigen Verstorbenen in der Christ König-Domkirche auf Landakot in Reykjavík, Abschied von seinem „Nóbelsskáldið“ (Nobelpreisdichter). An Halldórs Festhalten an den Grundaussagen der Kirche erinnert Gunnar Kristjánsson, evangelischer Propst von Reynimellur í Kjós, in seiner Gedenkrede, an des Dichters zornig-heftiger Kritik an der Kirche und an seine bitter-bösen Angriffe auf das Christentum viele Jahre hindurch, an seine im hohen Alter wieder erfolgte Annäherung an die katholische Kirche: „hér í þessum helgidómi átti hann góðar stundir“ (hier in diesem Gotteshaus erlebte er gute Zeiten). 95 <?page no="96"?> Taufe und Seelenamt: Der säkular gestimmte Zeitgenosse wird für diese beiden kirchlichen Vorgänge wenig oder keinerlei Verständnis aufbringen, ist die Kirche doch heute den meisten Menschen überwiegend eine Ritual-Institution von Fall zu Fall geworden, der sie sich bei Taufe, Konfirmation oder Firmung, bei der Trauung und beim Begräbnis aus traditionellen Gründen bedienen. Und Halldór Kiljan Laxness? Er empfing die Taufe und Firmung, kurz vor seinem Tod die Krankensalbung - drei Sakramente der katholischen Kirche, die das Leben eines gläubigen Menschen in wichtigen Situationen und Stationen begleiten. Sagt der Empfang der Sakramente letztlich wenig über den Glauben des Empfangenden aus, so ist doch sicher ein Minimum von innerer Offenheit für den Glauben vorhanden: „Ich konvertierte zum katholischen Glauben und schrieb mich danach frei vom Katholizismus im Großen Weber, doch ohne die Grundidee der Kirche zu leugnen“, schreibt Laxness in „Úngur eg var“ (1976, S. 220; Jung war ich. - Hier und in der Folge stammen die Übersetzungen von mir.).Wenige Jahre später, 1981, erklärt er einem schwedischen Interviewer: „Ich bin Katholik. Nicht dass ich in die Kirche gehe, aber ich beziehe lieber einen katholischen als einen protestantischen Standpunkt. Ich bin seit 1923 katholisch.“ Der Interviewer, Harald Gustafsson, fügt eigens hinzu, diese Aussage sei „ernsthaft und aufrichtig“ von Laxness vorgetragen worden. (BLM, November 1981, årg. 50, Nr. 5. S. 286.). Die Grundfragen aller Religionen - Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens? Existiert Gott? - haben nicht erst den zwanzigjährigen Täufling Halldór Kiljan umgetrieben. Wir begegnen ihnen schon in seiner ersten veröffentlichten Arbeit, dem 1919 publizierten Roman „Barn náttúrunnar“ (Ein Naturkind). In dieser „Liebesgeschichte“ entdecken nach einigen Irrungen und Wirrungen die beiden Liebenden die Wahrheit des biblischen Wortes: „Denn was nützt es dem 96 <?page no="97"?> Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, doch dabei seine Seele Schaden nimmt“ (Matthäus 16,26). Der nach Island heimgekommene Randver, der in Amerika reich geworden ist, doch seinen Glauben darüber verloren hat, und das keinerlei Moralvorstellungen besitzende „Naturkind“ Hulda entschließen sich, ihre Zukunft in der Arbeit auf eigenem Grund und Boden im Namen Gottes zu gestalten. Ein gemeinsames Gebet bildet den Schluss des schmalen Prosawerks. In Randvers „Himmlischer Vater! Gib uns heute unser tägliches Brot! “ stimmt Hulda ein mit den Worten: „Und vergib uns unsere tägliche Schuld! “ Der Einfluss der Bauernerzählungen des Norwegers Björnstjerne Björnson und des „Jerusalem“-Romans (1901) der Schwedin Selma Lagerlöf auf das Werk des Debütanten ist unübersehbar. Insbesondere das religiös-ethische Pathos konnte er bei den beiden skandinavischen Nobelpreisträgern finden, es entsprach aber wohl auch seinem eigenen Denken und Fühlen. „Ein Naturkind“ besitzt keinen großen literarischen Wert; und dies gilt weit mehr noch für die nächste Prosaarbeit des jungen Autors, die 1924 erscheint: „Undir Helgahnúk“ (Am Heiligen Berg). Skizzenhaft und wenig durchdacht wirkt dies Stück Prosa, es macht einen fragmentarischen und unausgegorenen Eindruck. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Atli Kjartansson; sein Vater - Pfarrer am Fuß des Heiligen Berges - und seine Mutter sind wenig bedeutsame Nebenfiguren, sie dienen allein zur Beschreibung seines Heranreifens. Nur Aslaug Snjolfsdottir, die gleichaltrige Spielgefährtin, gewinnt ein gewisses Profil. Von Atlis Leben von der Geburt bis zur Konfirmation und seiner bevorstehenden Abreise aus dem elterlichen Heim lesen wir, jedoch nur seine geistige Entwicklung interessiert den Erzähler, seine Auseinandersetzung mit Fragen der Religion und Kirche: sie sei „Hirngespinst und Unsinn“, das Neue Testament nichts anderes denn ein Roman, Christus kein Gott. Was für ihn zählt, was allein erstrebenswert, ist Macht und Größe. Etwas 97 <?page no="98"?> abrupt und allzu plötzlich lässt Atli im letzten Kapitel davon ab. Eben noch bringt er im Gespräch mit Aslaug seine tiefe Verachtung für das Christentum zum Ausdruck, dann stimmt er mit Aslaug in ein Lied ein, das von der Schönheit jenseits des Tages, von Maria und Christus handelt. Warum dieses Ende? So fragen sich der Leser und die Leserin unwillkürlich. Die Frage muss auch dem jungen Autor gekommen sein, stellt er doch dem Buch ein kurzes Vorwort voran, in dem es heißt: „Das Buch ist im Stadium der Vorarbeit steckengeblieben und wird in seiner Gesamtheit der Allgemeinheit nicht präsentiert. Als eine Art Fortsetzung dieser Erzählung liegt als Vorarbeit ein weiterer Roman über Atli Kjartansson vor, etwa doppelt so lang wie der jetzt publizierte. Ob diese Arbeit jemals vollendet wird, ist jedoch nicht sicher - in jedem Fall aber nicht in den nächsten sieben Jahren. Das Buch ist in Saint Maurice de Clervaux im Winterhalbjahr 1922-23 geschrieben.“ Was will er damit sagen, dass eine Fortsetzung über Atli Kjartansson vorliege, „ob diese Arbeit jemals vollendet wird, ist jedoch nicht sicher - auf jeden Fall aber nicht in den nächsten sieben Jahren“? Verständlich werden die Worte, wenn wir Halldór Laxness’ weiteren Lebenslauf betrachten. Aus Bruchstücken setzt sich der Roman „Am Heiligen Berg“ zusammen. Fragment sollte auch das nächste Prosastück des Autors bleiben. „Heiman eg fór“ (Von daheim ging ich fort) setzt er auf das Titelblatt. Das Manuskript bleibt fast dreißig Jahre im Kloster Saint Maurice de Clervaux in Luxemburg liegen, ehe es wieder entdeckt wird. Der junge Schriftsteller hatte es im Herbst 1924 dort liegen gelassen, hatte es vergessen. 1952 erst erscheint „Von daheim ging ich fort“, dieses „Selbstporträt aus der Jugend“, so Laxness in einem knappen Vorwort, „eines Jünglings Dichtung und Wahrheit (im Original deutsch) über die Übergangszeit bis zum Alter von 17 Jahren“. Das zweite Kapitel beginnt der Erzähler mit den Worten: „Spreche ich von Begebenheiten 98 <?page no="99"?> und Ereignissen, so meine ich damit etwas, was meiner Seele widerfahren ist“, und in der Tat spielen die äußeren Vorgänge des Erzählten - sie spielen vom Herbst 1918 bis zum Frühjahr 1919 - keine wesentliche Rolle. Im Zentrum steht die geistige Entwicklung des Ich-Erzählers, der viel mit dem jungen Laxness gemeinsam hat, zumindest die Lebensdaten entsprechen den seinen. Der Roman-Entwurf ist nicht geglückt, dies ist auch dem jungen Autor bewußt, so läßt er das Manuskript im Kloster liegen. Es ist ein erneut misslungener Versuch, seine Erfahrungen in einem Roman zu gestalten, nicht mehr. Doch dürften die Worte des Erzähler-Ichs am Schluß des ersten Kapitels nicht nur so dahin geschrieben sein: „Jetzt bin ich bald zweiundzwanzig, und werde ich gefragt, was ich treibe, dann nenne ich mich gern einen Pilger“. Worte, die auf den gleichaltrigen Autor zutreffen - er fühlt sich ebenfalls als Pilger auf dieser Erde. Doch wohin wird ihn seine Wanderung führen? Der Siebzehnjährige begibt sich im Sommer 1919 nach Dänemark, Schweden und Norwegen. Gewiss trifft er dort mit allen möglichen Menschen zusammen, die meiste Zeit aber verbringt er beim Bücherlesen, mit wahrem Heißhunger verschlingt er August Strindbergs Prosa mit ihren gesellschaftskritischen Ausbrüchen und dem immer wieder durchbrechenden Frauenhass. Im Sommer 1920 ist Laxness wieder zurück in Island, im Herbst 1921 geht es erneut hinaus in „hinn stóra heim“ (die große Welt); diesmal nach Deutschland und Österreich: Er macht Bekanntschaft mit den politischen, philosophischen und literarischen Ismen und Erscheinungen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Im April 1922 fährt er nach Amerika, doch geht es mit dem gleichen Schiff, mit dem er gekommen ist, wieder zurück, da ihm das Geld ausgegangen ist. Im Sommer hält er sich auf Bornholm bei einigen Katholiken auf; ein Empfehlungsschreiben des in jener Zeit sehr bekannten dänischen Schriftstellers Johannes Jørgensen (1866-1956) öffnet ihm die Tür zu dem Benedikti- 99 <?page no="100"?> nerkloster St. Maurice de Clervaux in Luxemburg, wo er im Dezember 1922 von den Mönchen freundlich aufgenommen wird. Im Zusammenleben mit den Patres, durch die Teilnahme an der täglichen Messe und den gemeinsamen Gebeten findet er allmählich zur katholischen Kirche. Mit Inbrunst studiert er theologische Werke: Thomas von Aquin, Ignatius von Loyolas „Exercitia spiritualia“, Francois de Sales’ „Introduction à la vie dévote“, Pascals „Pensées“, Kardinal John Henry Newmans „Apologia pro Vita sua“, und immer wieder Thomas a Kempis’ „De Imitatione Christi“, ein Buch, das er ungemein schätzt und das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Die Unterweisung im Glauben der Kirche schließt mit der Taufe und Firmung am Dreikönigsfest, am 6. Januar 1923. Wenige Monate später erzählt er in einem Artikel „Fra Løgn til Sandhed“ (Von der Lüge zur Wahrheit) in der Zeitschrift „Katholsk Ungdom“, årg. 5,1923, nr. 8, Sonntag, den 15. April „om den skønneste, helligste og naaderigeste Dag i mit Liv“ (von diesem schönsten, heiligsten und gnadenreichsten Tag in meinem Leben). Die Taufe nimmt der Bischof von Luxemburg vor, der Täufling wählt sich den Namen des irischen Märtyrers Kilian, fortan wird er sich Halldór Kiljan Marie Pierre nennen. (Seit 1963, mit der Veröffentlichung der biographischen Aufzeichnungen „Skáldatími“, dt. Zeit zu schreiben, 1976, lässt er den Namen Kiljan weg; einige Jahre vor seinem Tod legt er wieder Wert darauf, Halldór Kiljan genannt zu werden). Die Taufe sub conditione fand statt für den Fall, dass die Taufe des lutherischen Dompastors in Reykjavík ungültig gewesen und Gott nicht gefallen habe - „sem ég mundi þó trúa síst af öllu“ (woran ich doch nicht im geringsten glaube), bemerkt er - und man sieht ihn dabei lächeln - 1987 in der Einleitung zu „Dagar hjá munkum“ (Tage bei den Mönchen, S. 38). Am 4. Oktober wird er oblatus saecularis, er sucht den Jesuitenpater Jón Sveinsson (1857-1944) auf, den in deutschen katholischen Kreisen viel gelesenen Verfasser der „Nonni“-Bücher, er erlebt Lourdes 100 <?page no="101"?> und besucht dann eine Schule der Jesuiten in Middlesex, wo er sich mit der lateinischen Sprache, der Kirchengeschichte und Büchern katholischer Autoren intensiv beschäftigt. Weihnachten verbringt er bei den Kartäusern, einem Orden strengster Observanz. Im März 1924 kehrt Laxness nach Island zurück, und hier macht er sich als ein engagierter Verteidiger seines neugewonnenen Glaubens einen Namen. Eine „Antwort auf Angriffe“ (Svar gegn árásum) des Schriftstellers þórbergur þórðarson (1889-1974) gibt er in der 1925 publizierten Schrift „Kaþólsk viðhorf“ (Katholischer Standpunkt). Laxness setzt sich insbesondere mit der angeblichen Kulturfeindlichkeit der katholischen Kirche auseinander, mit Nachdruck stellt er die bedeutsame Rolle der Kirche als Kulturbringerin all die Jahrhunderte hindurch heraus. Nicht nur mit dieser apologetischen Schrift erregt der junge Autor das überwiegend protestantische Lesepublikum, er tritt auch als Taufpate eines der angesehensten Lyriker Islands in jenen Jahren, Stefán frá Hvítadal (1887-1933), auf. Der Dreiundzwanzigjährige ist ein übereifriger und streitbarer Konvertit, er brennt darauf, endlich mit dem Theologiestudium zu beginnen und danach Priester zu werden, um für seine Kirche in den nordischen Ländern missionieren zu können. Das Tagebuch, in dem Laxness von seiner Zeit bei den Benediktinern berichtet, veröffentlicht Laxness 1987, 65 Jahre nach seinem Aufenthalt im Kloster St. Maurice de Clervaux. „Dagar hjá munkum“ (Tage bei den Mönchen) nennt er seine Notizen und Aufzeichnungen, die mit dem Aschermittwoch (14. Februar 1923) beginnen und mit dem 8. Sonntag nach Pfingsten (24. Juli 1923) schließen. Die Seiten vermitteln ein bewegendes Bild von den inneren Kämpfen des jungen Konvertiten, von seinem Denken und Fühlen, seinen Ängsten und Freuden. Die täglichen Erfahrungen vertraut er mit tiefem Ernst und heiligen Eifer den Tagebuchblättern an. Wir lesen von seinen Gebeten in der Gemeinschaft der Mönche, von der frühmorgendlichen Teilnahme an der Messe, 101 <?page no="102"?> dabei hinterlassen insbesondere die Liturgie der Karwoche und der gregorianische Gesang einen tiefen und nachhaltigen Eindruck. Wir erfahren aber auch von den Anfechtungen und Versuchungen (insbesondere durch weibliche Kirchenbesucher), vom Bekennen seiner Sünden in der Beichte, vom Empfang der Kommunion, weniger von seinen Studien und der Lektüre französischsprachiger Bücher. Nur ganz nebenbei weist er hin auf seine Arbeit an „Atli“ - erschienen unter dem Titel „Am Heiligen Berg“ -, so notiert er am 8. April: „Ich habe einen Teil geschrieben und Gott gebeten, mir bei der Arbeit beizustehen, die wahrscheinlich meine letzte Dichtung sein wird.“ Leicht hingegen fallen ihm von kindlicher Naivität und gläubigem Vertrauen erfüllte Verse, so zum Beispiel das wohl in diesen Jahren geschriebene ganz in der katholischen Volksfrömmigkeit stehende „Maríukvæði“ (Marienlied). Erst wenige Jahre vor seinem Tod wird das Manuskript wiedergefunden, im eingangs erwähnten Requiem in der Christ König-Kirche am 18. Februar 1998 singt die schola cantorum das Lied nebst dem traditionellen „Um dauðans óvissan tíma“ (Über des Todes ungewisse Stunde) des Barockpoeten Hallgrímur Pétursson. Marienlied Himmelsmutter steh’ mir bei, zu dir ich innig flehe: deinen schutz mir stets verleih mich deinem sohn empfehle. dann wird aufleuchten meine seele. gleich einem blühenden garten meinem blühenden garten. Voll zuversicht ich bitte, du auserwählte magd des herrn; 102 <?page no="103"?> bleib’ in meines lebensmitte meinen liedern niemals fern, du gottesmutter, meeresstern. mutter der völker, mutter aller völker. Lass mich wandeln auf deinen wegen hin zum himmlischen mahl. gewähre mir deines sohnes segen. sei schutz mir im irdischen tal. deinem Sohne gleich will gehör ich dir geben. die worte zu hören, deine worte zu hören. (W.F. / D. Held) Das 1987 publizierte Tagebuch - beim Niederschreiben denkt der junge Laxness gewiss nicht an eine Veröffentlichung - hat der Fünfundachtzigjährige mit Erläuterungen und Anmerkungen versehen. Gern erinnert er sich der Zeit, die er bei den Mönchen verbrachte, für sein Leben habe „der Katholizismus und das Christentum an jenem Ort“ nicht wenig bedeutet. Dies gilt vor allem für seinen ersten wirklichen Roman „Vefarinn mikli frá Kasmír“ (Der große Weber von Kaschmir), über den es wenige Sätze weiter heißt: „Man darf sagen, dass der Weber der erste meiner Romane ist, der diese Bezeichnung verdient, unter dem Stern des Katholizismus geschrieben wurde. Der Weber ist ein großer Versuch, und die Erzählung spielt in einer sehr alltäglichen Atmosphäre, außer wenn der Erzähler vom philosophischen Eifer ergriffen wird. In dem Buch versuchte ich, mehrere der Probleme, die meiner Meinung nach die Gedanken der Menschen im Chaos der Nachkriegszeit beschäftigten, zu untersuchen. Die Hauptperson Stein Ellidi eignet sich einen Großteil der Lebensanschauungen und Lehren, die damals umgingen, neue Ismen 103 <?page no="104"?> und Strömungen an, prüft deren Gültigkeit und versucht, alle Bande zu seiner Vergangenheit abzuschneiden“. So Laxness, nun über 85 Jahre alt, über einen Roman, der sechs Jahrzehnte zuvor veröffentlicht wurde. Wie war die Situation in den zwanziger Jahren des letzten. Jahrhunderts? Im Mai 1925, also nach etwas mehr als einem Jahr auf der heimatlichen Insel, verläßt Laxness erneut Island. Dieses Mal führt ihn seine Reise nach dem Süden Europas, über Rom, wo er die Feiern des Heiligen Jahrs miterlebt, geht es nach Sizilien. In Taormina schreibt er in den heißesten Monaten des Jahres das Manuskript des Romans, der ihm schon seit einiger Zeit durch den Kopf gegangen ist. Im Oktober ist er wieder im Kloster St. Maurice de Clervaux, legt dort am 15. Januar 1926 die Professus oblatus ab und kehrt im Frühling 1926 mit dem „Vefarinn mikli frá Kasmír“ nach Reykjavík zurück. In den frühen Monaten des Jahres 1927 wird der Roman heftweise (acht Hefte in zwei Monaten) herauskommen; die erste Buch- Auflage zählt 502 Seiten. Verse in italienischer Sprache, Worte aus Dante Aligheris „Commedia Divina“, „Paradiso“, XVII. 127-132, stellt er dem Werk voran, sie stellen den Bekenntnischarakter und das autobiographische Moment des Romans deutlich heraus: Doch soll dich das nicht hindern, ungeschminkt vollständig dein Gesicht zu offenbaren, und wer dann sündig ist, den laß sich kratzen, wird deines Wortes anfänglicher Geschmack auch lästig sein, so wird es, verdaut, dem Hörer Lebensnahrung hinterlassen. (Übers. K. Witte) „Die Welt ist wie eine Bühne, auf der alles für eine große Oper hergerichtet ist“, lesen wir auf der ersten Seite des Romans. Worte, die das Theatrum mundi des Barock und Shakespeare’s „All the world’s a stage, and all the men and 104 <?page no="105"?> women merely players: They have their exits and their entrances; “ (As you like it, II,7) ins Gedächtnis rufen: Mit diesem traditionsreichen Motiv der Weltliteratur hebt die Erzählung an. Alle Personen, die in dieser „Großen Oper“ auftreten, sind Figuren in der Hand des Autors und Spielleiters, selbst wenn sie sich, wie die Hauptfigur Stein, hochmütigtrotzig und widerstrebend gebärden. Neben Stein verblassen die übrigen Figuren: Seine Mutter, Örnulf, Salvatore, Pater Alban und selbst Dilja, die Spielkameradin der Kindheit und die Geliebte, sie sind nur „Ausstrahlungen des Ich“ - wie einmal im Zusammenhang mit dem expressionistischen Drama gesagt worden ist -, sie liefern nur Stichworte für Stein, erläutern und illustrieren seine Auftritte und Monologe. Stein Ellidi erfährt und durchleidet das Chaos der geistigen und literarischen Ismen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg; seine Suche nach dem Sinn menschlicher Existenz treibt ihn an den Rand des Wahnsinns, bis er die Wahrheit im Schoß der katholischen Kirche findet. Diesen Weg ist auch der junge Autor gegangen, auch er findet die Wahrheit im Glauben der katholischen Kirche. Der Roman erscheint 1927, in jenem Jahr, da Laxness für längere Zeit nach Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika aufbricht. Zuvor hat er sich einige Monate im Osten Islands aufgehalten, kritisch berichtet er von den sozialen Bedingungen unter denen die Menschen in den Bauernhöfen und Torfkaten leben müssen in Zeitungsbeiträgen; in seiner Argumentation beruft er sich auf das Christentum, dessen vornehmste Aufgabe es sein müsse, diesen armen Menschen zu helfen. So entrüstet er sich in einer mehrteiligen Reportage: „Das schönste Christentum in unseren Tagen ist, den Sklaven mit seinem Los unzufrieden zu machen, ihn lehren, Forderungen zu stellen, Revolution zu machen und ein Mensch zu werden … Was ist schöner und größer als Christus und seine Kirche? Nichts, das ist wahr. Aber primum vivere, deinde philosophiae, um lateinisch, wie ein alter Priester, zu reden … 105 <?page no="106"?> Christus will, dass die Menschen es gut haben sollen … Er will, dass sie in geräumigen und bequemen Wohnungen leben, und dass ihre Kinder gut erzogen werden … Er will nicht, dass sie in Schneestürmen umkommen und in Motorbooten untergehen. Er will, dass sie in guten Verhältnissen leben sollen und die Mittel besitzen, eine Kultur zu schaffen“. So in „Raflýsing sveitanna“ (Elektrifizierung des Landes) im März 1927 in der sozialdemokratischen Tageszeitung „Alþýðublaðið“. Sind uns solche Worte nicht vertraut von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ein halbes Jahrhundert später, die sich empörte wider die Ungerechtigkeit der ewig Ausgebeuteten und Versklavten und aufrief zum Kampf um die Würde des Menschen? Nach seinem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten bringt er 1929 fünfzehn Aufsätze unter dem Titel „Alþýðubókin“ (Das Volksbuch) heraus. So verschiedenartig die Themen auch sind, zu denen sich Laxness äußert, so haben sie doch alle nur ein Ziel: sie wollen zur Aufklärung und Erziehung seines Volkes beitragen. Er schreibt über die Kunst und den Film, über Hygiene und Ehe, zur Frage der Nationalität - nicht länger mehr betont er sein Weltbürgertum, sondern bekennt sich als Isländer -, er macht Anmerkungen zur traditionellen isländischen Literatur im ersten Beitrag „Bücher“ und beschließt den Band mit Reflexionen in einem mit „Glauben“ überschriebenen Essay. Auf der letzten Seite des Buches lesen wir, und sicher hat Laxness diese Worte ganz bewusst auf die letzte Seite gesetzt: „Der Mensch ist das Evangelium der neuen Kultur, der Mensch als gesellschaftliches Wesen, der Mensch als das Symbol des Lebens und als Idee, der eine wahrhafte Mensch - Du! Deshalb sollst du nicht glauben, was in christlichen Büchern steht: Wird der Schwache niedergetreten, dann geschieht deinem Bruder Unrecht, nein, in Wirklichkeit ist es so: Das bist Du! Dort, wo die Kinder des Proletariats von den Wölfen des Kapitalismus ausgesaugt werden, da ist man dabei, dich selbst in den Schmutz zu tre- 106 <?page no="107"?> ten, dich, den einzig wahren Menschen, die höchste Offenbarung des Lebens, Dich.“ Die glühende Begeisterung, mit der Laxness das Evangelium vom Menschen verkündet, kommt dem Leser nicht unbekannt vor, hat er doch vor wenigen Jahren die frohe Botschaft der katholischen Kirche mit dem gleichen Temperament verkündet. Vier Jahre erst sind es her, dass er den „Katholischen Standpunkt“ eifrig vertrat, jetzt bezieht er leidenschaftlich eine sozialistische Position. 1925 wie 1929 wird er mehr von seinen Gefühlen als von der Vernunft gelenkt. In seinem Vorwort „Eftir sautján ár“ (Nach siebzehn Jahren) zur zweiten Auflage des „Volksbuchs“, 1947, bestätigt er diesen Eindruck: „Als ich 1927, nach der Veröffentlichung des „Großen Webers von Kaschmir“ nach Amerika fuhr, war ich bestimmt kein Sozialist, jedoch war ein Abschnitt meines Lebens zu Ende. Als ich um die Jahreswende 1930 wieder heimkam, war ich Sozialist. Ich begreife nicht, wie jemand mit durchschnittlicher Intelligenz etwas anderes als Sozialist werden kann, wenn er sich mit den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft durch eigene Anschauung bekannt gemacht hat … Es ist ganz klar, dass ich in Amerika nicht durch das Lesen sozialistischer Schriften zum Sozialisten wurde, sondern durch den Anblick der hungernden Arbeitslosen in den Parks.“ Das Mitleid mit den Menschen in den Torfkaten Islands und in den Großstädten Amerikas hat Laxness zum Sozialismus finden lassen. Wie so mancher bürgerlicher Intellektuelle in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt er den Sozialismus und glaubt an dessen Verwirklichung in der UdSSR, dem „Vaterland der Werktätigen“. Die Werke der folgenden Jahrzehnte sind, um ein Wort des Autors, das er im Zusammenhang mit der Entstehung des „Großen Weber von Kaschmir“ erwähnt hat, ein wenig abgeändert zu verwenden, mehr oder weniger „unter dem Leitstern des Kommunismus“ geschrieben: Dies gilt ins- 107 <?page no="108"?> besondere für „Salka Valka“, „Sein eigener Herr“ und „Atomstation“, in denen die kommunistische Utopie einen Weg aus der kapitalistischen Welt aufzeigt. Weit stärker gilt dies für die vielen Zeitungsartikel, Reden und Essays, die er in jenen Jahren publizierte, von denen er bei manchem Beitrag später bereut haben wird, dass er ihn jemals veröffentlicht hat. Aber selbst in den gesellschaftskritischen Romanen seit den dreißiger Jahren treibt ihn stets die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz um. Spuren seiner „katholischen“ Jahre sind unübersehbar. Das höchste christliche Gebot, das Gebot der Nächstenliebe, politisch gesprochen, die Solidarität mit dem armen und ausgebeuteten Menschen, erweist sich stärker denn irgendwelche kommunistischen Lehrsätze. Das nüchtern-sachliche Fischermädchen Salka Valka in dem gleichnamigen Roman (1931/ 32; dt 1951) beschämt den orthodox-dogmatischen Propagandisten der neuen marxistischen Heilslehre Arnaldur, der in der Wirklichkeit des Alltags kläglich versagt. In „Sjálfstætt fólk“ (1934/ 35; dt Sein eigener Herr, 1968) bändigt das Mitleid des Kleinbauern Bjartur zu seiner Tochter Asta Sollilja, der „Blume seines Lebens“, seinen Starrsinn und seinen Kampf um Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Mitleid ist „das Adelszeichen des Menschen“ lesen wir in „Heimsljós“ (1937-40; dt. Weltlicht, 1955; neue Übers. 2000), jener Tetralogie, in der Laxness die Hauptfigur, den armen Dichter aus dem Volk, Olafur Karason Ljosvikingur, mit Zügen von Christus versieht: Olafur wird als „Kreuzträger“ (krossberari) bezeichnet, und wie in der neutestamentlichen Passionserzählung werden ihm die Worte „Was ist Wahrheit? (Hvað er sannleikur? ) und „Warum schlägst du mich? (Af hverju slær þu mig? ) in den Mund gelegt; vgl. „Höll sumarlandsins“ (Schloss im Sommerland, Kap. 12). Als die von Olafur heiß ersehnte Schönheit in dieser Welt, die voller Leid und Elend ist, sich nicht einstellen will, steigt er am Ostermorgen den in die Wolken emporragenden Glet- 108 <?page no="109"?> scher hinauf: „Die Sonne des Auferstehungstages über den hellen Wegen“. Christlicher Auferstehungsglaube und isländische Naturmystik verschmelzen in dem Schlussbild des Romans. Christlichen Vorstellungen und Bildern begegnen wir auch in den Romanen von „Íslandsklukkan“ (1943-46; dt. Islandglocke, 1951; Die Islandglocke, 1993) bis „Gerpla“ (1952; dt. Gerpla, 1977, ab 1991 u.d.T. Die glücklichen Krieger). Dieses beckmesserische Suchen und Aufzeigen christlicher Spuren bringt letztlich nichts; bestimmt doch die sozialistische Position des Autors, insbesondere in „Atómstöðin“ (1948; dt. Atomstation, 1955 u.ö.), die Werke von den dreißiger bis in die frühen fünfziger Jahre. Politische Ereignisse gegen Mitte der fünfziger Jahre sollten dann zu einer Zäsur in seinem Schaffen führen. Chruschtschows Enthüllungen über das stalinistische Regime treffen Laxness, der sich in all diesen Jahren für die Sache des Sozialismus in Reden und Zeitungsartikeln leidenschaftlich eingesetzt hat, zutiefst. Für den „gläubigen“ Sozialisten bricht eine Welt zusammen, endgültig verliert er seinen Glauben an die kommunistische Utopie, als die Sowjetunion im November 1956 in Ungarn einmarschiert, um es vor „reaktionären“ Elementen zu schützen. Bitter musste die Erkenntnis für ihn sein, dass er viele Jahre unbeirrbar an Stalin und die in der Sowjetunion realisierte kommunistische Gesellschaft geglaubt hat, weithin war er unkritisch der marxistischen Ideologie - einer säkularisierten Form der Religion - gefolgt. Nun muss er sich eingestehen, dass die hehre Idee vom menschheitsbeglückenden Kommunismus eine Illusion gewesen war. Dieser schmerzhafte Erkenntnisprozess sollte für seine schriftstellerische Tätigkeit Folgen haben. Seit und mit „Brekkukotsannáll“ (1957; dt. Das Fischkonzert, 1961) treten gesellschaftliche Fragen zurück, die Ideen von der kommunistischen Utopie wird man vergeblich suchen, es sei denn in ironischen Seitenhieben und Bemerkungen. Zum zentralen Thema wird die 109 <?page no="110"?> Suche nach dem Sinn des Lebens, nach dem eigentlichen Sinn menschlicher Existenz - der Autor kehrt zu den Themen der zwanziger Jahre zurück. Religiöse Motive und Themen rücken mehr und mehr in den Mittelpunkt seiner Romane. Weniger gilt dies für „Das Fischkonzert“, wenngleich es auch in diesem Roman nicht nur um die Frage nach der echten Kunst geht: Nicht nur die künstlerische Existenz steht auf dem Prüfstand, sondern die menschliche Existenz überhaupt, befindet sich doch jeder Mensch im Leben einmal an einem Kreuzweg, an einem Punkt, an dem er sich für einen Weg entscheiden muss. „Paradisarheimt“ (1960; dt. Das wiedergefundene Paradies, 1971), der nächste Roman, läßt den in der Weltliteratur sich auskennenden Leser an John Miltons Epos „Paradise Regained“, 1671, denken, das in der deutschen Übersetzung als „Das wiedergewonnene Paradies“ bekannt ist, auf jeden Fall wandern unsere Gedanken zu jener im Alten Testament als schöner Garten dargestellten Stätte des Friedens und des Glücks, die den ersten Menschen als Lebensbereich von Gott gegeben wurde. Von der Suche des Menschen nach dem irdischen Glück und nach der Wahrheit handelt dieser Roman. Bei Laxness findet der Protagonist, der Kleinbauer Steinar auf seinem lebenslangen Pilgerweg nach dem „Verheißenen Land“ dies keinesfalls bei den Mormonen in Salt Lake City, er steht am Schluss vor seinem verfallenen Hof in Island, von dem er einst aufbrach, und macht sich daran, diesen in mühsamer Arbeit wieder aufzubauen. Und das Paradies? Es ist nicht auf der Erde zu finden: das ist die ernüchternde Wahrheit. Theologische Fragestellungen, Theologen und das praktizierte Christsein spielen in „Kristnihald undir Jökli“ (1968, dt. Seelsorge am Gletscher, 1974; Am Gletscher, 1989) eine zentrale Rolle. Kristnihald, ein eben nicht häufig gebrauchtes Wort im Isländischen, wird im Deutschen wohl mit „Einhaltung, Pflege des Christentums“ am besten wiedergegeben. „Kristnihald undir Jökli“ übersetzt Bruno Kress entspre- 110 <?page no="111"?> chend: „Christenleben am Gletscher“ im 11. und 13. Kapitel, „christliches Leben am Gletscher“ im Kap. 22, „Pflege des Christentums“ in Kap. 28 und 34, schließlich „Einhaltung des Christentums“ in Kap. 13. Warum er dann nicht „Christenleben am Gletscher“ auf das Titelblatt setzt, bleibt sein Geheimnis. „Seelsorge am Gletscher“ steht dann aber immer noch mehr dem Original näher als „Am Gletscher“. Am Schluss des Romans setzt Laxness, wie bei ihm üblich, Daten, die über Beginn und Ende der Niederschrift des Manuskripts informieren: März 1967 - Juli 1968. In dieser Zeit, im Juli 1967, schreibt er auch ein Nachwort zur zweiten Auflage seines Prosawerks „Undir Helgahnúk“ (1924, Am Heiligen Berg). Undir Helgahnúk und undir Jökli: in beiden Fällen wird die Präposition undir mit einem Dativ des Orts verbunden. Liegt der Gedanke nicht nahe, dass der frühere Buchtitel - bewusst oder unbewusst - zur Wahl des neuen Titels beigetragen hat? Ist doch in beiden Büchern von einem hohen und mächtigen Berg die Rede, von einem weißen und ruhigen Gletscher. Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den beiden Büchern, und Laxness schreibt mit vollem Recht in seinem Nachwort „Seitdem ist mehr als einen Generation dahingegangen“, und dennoch wird ein aufmerksamer Leser neben der frappierenden Ähnlichkeit der Buchtitel andere Gemeinsamkeiten zwischen den Arbeiten des etwas über zwanzig Jahre alten Jünglings und des 65-jährigen Halldór Laxness herauslesen: „Am heiligen Berg“ und „Christenleben am Gletscher“ greifen die gleichen Themen auf. Beide Prosawerke kreisen um die uralte und doch ewig junge Frage: Was ist der Sinn der menschlichen Existenz? Legt der Autor in „Am Heiligen Berg“ die Antwort beziehungsweise den Versuch einer Antwort in den Mund eines jungen und unreifen Menschen, der sich anschickt, die Welt zu erobern, so lässt er in „Christenleben am Gletscher“ einen Mann und eine Frau, die beide diese Welt zutiefst erfahren und durchlebt haben, Antworten formulieren. 111 <?page no="112"?> Jon Primus und Gudrun Sämundstochter, genannt Ua, ein Zweiundsechzigjähriger und seine um zehn Jahre jüngere Frau, ein Gemeindepastor, seit 35 Jahre am Fuß eines Gletschers im westlichen Island, und eine in vielen Teilen der Welt umhergekommene Frau sind die beiden Hauptfiguren des Romans, der als ein Stück Dokumentarprosa daherkommt: als ein von der kirchlichen Behörde geforderter Bericht über die Einhaltung des Christentums am Gletscher. Neben den beiden zentralen Gestalten gewinnen ein eigenes Profil nur noch der Professor Dr. Godman Syngman, alias Gudmundur Sigmundsson, und der Berichterstatter, der Vertreter des Bischofs, genannt Vebi. Syngman ist der Gründer einer neuen Religion, Vebi frisch examinierter lutherischer Theologe, kein „großer Glaubensstreiter“ (1. Kapitel), ohne jegliche Ahnung von der Seelsorge (8. Kapitel). Viele Jahre der Gemeindepraxis hat Jon Primus hinter sich, lutherischer Theologe wie Vebi, doch erst nach einem sechsjährigen Geschichtsstudium in Deutschland. Ua gibt als Konfession „römisch-katholisch“ an, „rechtgläubig“ bedeutet sie Vebi, als der sie darauf aufmerksam macht, dass „wir hier Lutheraner sind“ (Kap. 39). Solch eine Anhäufung von Hinweisen auf die Religionszugehörigkeit der Figuren finden wir in Romanen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum noch. Darf nicht mit einigem Recht vermutet werden, dass die Religion eine nicht unbedeutende Rolle in diesem Roman spielt? Was immer auch Laxness mit seinem Romantitel „Christenleben am Gletscher“ - ernsthaft oder ironisch - gemeint hat, die Worte auf dem Titelblatt nennen das zentrale Thema des Buches. Schon recht eigenartig mutet der Gemeindepastor am Fuß des Gletschers an: Jon Primus kümmert sich nicht um sein Gehalt, er läßt die Pfarrstelle verwahrlosen, läßt die Kirche verkommen, läßt sie sogar zunageln. Dem die Gemeindepraxis untersuchenden Abgesandten des Bischofs gibt er eine ungewöhnliche Lektion in der Theologie, von der er ebensowenig hält wie von der Philosophie. Das Christenleben von Jon 112 <?page no="113"?> Primus erfüllt sich im Mitleid mit Mensch und Tier, mit allen Geschöpfen der Welt, denn „niemand kann zwei Herren dienen“ wie es im Matthäus-Evangelium, 6,24-28, heißt. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“, und auf den Mammon, ein Wort, das im Neuen Testament im abwertenden Sinn für die dämonische Macht des Besitzes gebraucht wird, legt Jon Primus nicht den geringsten Wert. Und verweisen die immer wieder auftauchenden Vögel auf vielen Seiten des Romans nicht auf die Sätze des Evangeliums hin, mit denen Jon Ernst macht: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr denn nicht viel mehr wert als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.“ Diese Worte nimmt Jon nahezu wörtlich gegen Ende des 13. Kapitels auf: „Ich habe den Gletscher und natürlich die Lilien auf dem Felde: sie sind bei mir, ich bei ihnen, aber vor allem der Gletscher“. Erinnert dieser Pastor nicht ein wenig an den Heiligen Franziskus von Assisi? Auf das Einhalten kirchlicher Rituale legt Jon Primus keinerlei Wert; an Dogmen hält er sich ebensowenig wie an philosophische Lehrsätze. Seine Art, das Christsein am Fuß des Gletschers zu praktizieren, ist ein Ärgernis für den Bischof, für die Institution Kirche und eine Provokation einer etablierten christlichen Gesellschaft. Dieser Pastor ist ein schwarzes Schaf, er betrachtet aus einer distanzierten Perspektive des gesellschaftlichen Außenseiters die Welt kritisch, vor allem die religiöse Haltung der Menschen. Geht er als lutherischer Pastor nicht zu weit, wenn er meint, „alle von den Menschen verehrten Götter seien gleich gut“? (Kap. 20). Und wenn er diesen Gedanken im Gespräch mit Vebi über „die Schöpfung, den Namen Gottes bei den Germanen und anderes am Gletscher“ (Kap. 18) noch ein wenig weiterspinnt: „Wer einen Berg ver- 113 <?page no="114"?> ehrt, wie es unzählige Völker getan haben, dessen Gott ist der Berg; der Stein, wenn du einen Stein anbetest; der Stock, wenn du an einen Stock glaubst; und so weiter; ein Strom, Wasser in einer Quelle, Wasser in einer Schale; Fisch, Brot, Wein; ein Kalb wie ein Elfenwidder; und die Jungfrau Maria aus einem bemalten Stück Holz ist nicht geringer als die weitschößige Witwe Libido oder das knochendürre Trollweib Revolution, das Menschenopfer will.“ Versteckt sich Jon Primus nicht hinter der Maske eines Sonderlings, um anderen ihre Maske vom Gesicht zu reißen, ihre Masken der religiösen Sicherheit und der Unmenschlichkeit? Steht er nicht in der Tradition des christlichen Narren? „Stultorum infinitus est numerus“ (Die Zahl der Narren ist unbegrenzt.): Dies Wort Salomos kommt einem in den Sinn, jenes Wort, das Erasmus von Rotterdam, dieser christliche Humanist oder humanistische Christ, in seiner berühmten Schrift „Laus stultitiae“ (Lob der Torheit) zitiert. Der Narr zweifelt an allem, was selbstverständlich ist, die Philosophie des Narren ist jene, die als zweifelhaft entlarvt, was am selbstverständlichsten gilt, was als offenkundig und unbestreitbar erscheint, im scheinbar Absurden entdeckt er das Vernünftige (so Leszek Kolakowski in „Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein. München 1976, Hier: Der Priester und der Narr. Das theologische Erbe in der heutigen Philosophie. S. 282f.). Jon Primus’ Widerpart ist sein alter Jugendfreund Mundi, Gudmundur Sigmundsson, der sich Professor Doktor Godman Syngman nennt. Den „deutschen Titel“, so in Kapitel 15 zu lesen, kann man sich für Geld erwerben, der anglisierte isländische Name spricht für sich: Godman wähnt sich als „Gottmensch“. Durch kapitalistische Machenschaften hat er gewaltige Reichtümer angehäuft, biblisch gesprochen „Mammon“. Eine sein Tun rechtfertigende Ideologie, so Jon Primus, legt er sich in einer „Offenbarung in sechs Bänden“ zu. Jon bedeutet seinem Freund, dass er wie alle Rationalisten an Dinge glaube, 114 <?page no="115"?> „die doppelt so unglaublich sind wie die Theologie“ (Kap. 13).Woran es dem Multimillionär und Begründer einer neuen Religion letztlich mangelt, dies erfährt Vebi in einem seiner Gespräche mit Ua: „Ihm fehlt der Kontakt, von dem es heißt: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Körper und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Kap. 39). Menschliche Existenz, bedeutet sie ihm, ist nicht möglich ohne Gottes- und Nächstenliebe. Aber nicht nur im Alten und Neuen Testament zeigt sich Ua beschlagen, wie diese Worte nach Deuteronomium 6.5 und Matthäus 22,37-39 belegen. Sie (vielmehr Halldór Kiljan Laxness! ) kennt sich auch sehr gut unter den Heiligen der katholischen Kirche aus. Vebis Zusammentreffen mit Ua, das den letzten Teil des Romans beherrscht (Kap. 38-45), erinnert Ua an die entscheidende und schicksalhafte Begegnung zweier spanischer Heiligen des 16. Jahrhunderts - San Juan de la Cruz und Santa Teresa, Dichter und Dichterin, die bedeutendsten Vertreter der spanischen Mystik - im Jahr 1567: Der 25-jährige Johannes vom Kreuz, der eben seine theologischen Studien in Salamanca beendet hat, schließt sich nach seiner Begegnung mit der 52-jährigen Teresa von Avila deren Reformbewegung an und gründet den Ordenszweig der Unbeschuhten Karmeliter. Bei beiden Begegnungen erweckt eine ältere Frau einen jungen Mann, in beiden Fällen aber erweckt auch der junge Mann die ältere Frau. Die Wege, die die beiden spanischen Heiligen gegangen sind, kennen wir und kennt auch Laxness. Welche Wege Vebi und Ua gehen, läßt der Roman offen. Nicht nur hier läßt uns der Erzähler (und Laxness) im Stich, er macht es dem Leser und der Leserin auch ansonsten nicht leicht, zwischen tiefgründigen Fragestellungen und puren Phantastereien zu unterscheiden. Ist alles nur ein Possenspiel? Die Wörter der Dichtung? Die Sprachspiele und Sprachschöpfungen der Philosophie und Theologie? „Es ist stets ein Possenspiel. Aus einem Possenspiel in das andere! Woher denn sonst sollen Heilige und Dichter ihren Gegenstand nehmen, wenn nicht aus dem Pos- 115 <?page no="116"?> senspiel? Immer wieder ein neues Possenspiel, und niemals wird man klüger.“ So belehrt Ua den jungen Theologen Vebi im Kapitel „Gedichte des heiligen Johannes vom Kreuz u.a.m.“ Und Jon bedeutet ihm in dem Kapitel „Philosophie am Gletscher“: „Der Unterschied zwischen einem Dichter und einem Historiker besteht darin, daß der Dichter wissentlich zu seinem Vergnügen lügt; der Historiker lügt in seiner Einfalt und bildet sich ein, daß er die Wahrheit sagt.“ Der über allem „ganz weiß und still“ (Kap. 34) thronende Gletscher - neunmal erscheint er allein in Kapitelüberschriften - verschwindet häufig in den Wolken oder im Nebel. Die Menschen am Fuß des „heiligen Berges“, nicht nur isländische Wirklichkeit, sondern auch, wie in allen Religionen, sprachliche Metapher der Begegnung oder Gemeinschaft mit dem Numinösen, mögen ihn oder es erahnen. Dieses Gefühl mag wohl auch den Leser oder die Leserin überkommen: „Wo bin ich? “ möchte man mit Vebi rufen oder in das Gelächter einstimmen, das aus dem Haus im Nebel ertönt, in dem Ua auf der letzten Seite des Romans verschwindet. Stenografische Notizen und Tonbandaufnahmen erzählen vom christlichen Leben am Fuß eines Gletschers, redlich bemüht sich der junge Beobachter, seinem kirchlichen Vorgesetzten in Reykjavík einen „objektiven“ Bericht zu liefern, doch muss er gegen Ende einsehen, dass dies letztlich nicht möglich ist. In Laxness’ nächstem Roman, „Innansveitarkronika“ (1970; dt. Kirchspielchronik, 1976), tritt der Ich-Erzähler als Chronist (unschwer ist Laxness selbst zu erkennen) auf, der von Ereignissen und Menschen in einer ländlichen Gemeinde, wenige Kilometer östlich von Reykjavík gelegen, berichtet. Im Mittelpunkt des Romans steht die unscheinbare Kirche von Mosfellssveit: Mögen die Menschen, die sie all die Jahrhunderte aufgesucht haben, auch keine „großen Glaubenshelden“ gewesen sein, so hat sich doch ihr Leben in ihrem Umkreis abgespielt, die Kirche hat sie von der Geburt bis zum Tod begleitet. Die mirakulöse Geschichte vom Abbruch und vom 116 <?page no="117"?> Wiederaufbau der Mosfellskirche, von jenem Tag, da sie dem Erdboden gleichgemacht wird, bis zu jenem Tag, da sie wieder auf die Erde herabsteigt - „Die Mosfellskirche kommt wieder auf die Erde herab“ überschreibt der Erzähler das vorletzte Kapitel -, umspannt einen Zeitraum von knapp acht Jahrzehnten, und zählen wir die etwas mehr als hundert Jahre hinzu, die zwischen dem königlichen Erlass zum Abbruch der Kirche und dem Niederreißen durch drei Zimmerleute „an einem einzigen Arbeitstag von sechs Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags“ (Kap. 14) liegen, so sind es nicht mehr als zwei Jahrhunderte. Der Erzähler aber stellt sie in einen größeren Rahmen: Er taucht tief hinab in die Sagazeit, erwähnt die Zeit des Glaubenswechsels, als man die Heiligen vergaß, und beschließt sie mit einem exakten Datum, dem 4. April 1965 - dem Tag der Einweihung der neuen Mosfellskirche. Am Abend vor der Einweihung der neuen Kirche bringt ein Hofbesitzer der Gemeinde die Glocke der alten Mosfellskirche, die beim Niederreißen verschwand und von der angeblich niemand wusste, wohin sie verschwunden war, zurück, „um für immer zu bleiben“. Diese Glocke, die „einen Klang aus alter Zeit wieder erweckt“ (23. Kapitel), vermittelt den Bewohnern des Mosfellsbezirks ihr Wissen um die Kontinuität der Geschichte, sie verleiht ihnen nicht nur ihre regionale Identität. Seit Jahrhunderten ist die von einer Anhöhe herabblickende Kirche der religiöse und kulturelle Mittelpunkt für die Menschen des Kirchspiels. Mögen sie auch keine eifrigen Kirchgänger und Gläubige sein, so ist ihnen die Kirche ein Zeichen für das Mysterium und die Nähe Gottes. Hören sie die Glocke läuten oder blicken sie hinauf zu ihrer Kirche, so ahnen oder glauben sie vielleicht zu wissen, warum und wofür sie leben. Zu dieser Mosfellskirche hat Halldór Kiljan Laxness aus dem Fenster seines Arbeitszimmers Tag für Tag hinaufgesehen. Unweit von ihr sollte er seine letzte Ruhestätte finden. 117 <?page no="118"?> Thingvellir 1996, Unter Freunden, rechts außen Matthias Johanessen, neben ihm Auður Laxness <?page no="119"?> Literaturhinweise Friese, Wilhelm: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. Basel und Franfurt a.M. 1995. ders.: Halldór Laxness, in: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1999. (Mit Bibliographie). ders.: Knut Hamsun und Halldór Kiljan Laxness. Anmerkungen zu Werken und Wirkung. Tübingen und Basel 2002. Guðmundsson, Halldór: Halldór Laxness. Leben und Werk. Göttingen 2002. ders.: Halldór Laxness. Eine Biographie. München 2007. Hallberg, Peter: Den store vävaren. En studie i Laxness’ ungdomsdiktning. Stockholm 1954. ders.: Skaldens hus. Laxness’ diktning från Salka Valka till Gerpla. Stockholm 1956. Sønderholm, Erik: Halldór Laxness. En monografi. København 1981. Morgunblaðið. Reykjavík, 14./ 15. Febrúar 1998. Newman, John Henry: Meditations on Christian Doctrine. 1885. 119 <?page no="121"?> Freundesgruß aus Tübingen Wilhelm Friese, der für Jahrzehnte isländische Literatur an der Universität Tübingen lehrte, lernte Halldór Laxness in den frühen fünfziger Jahren kennen, als er an seiner Doktorarbeit über die isländische Gegenwartsliteratur arbeitete. Seit jener Zeit verbindet Friese eine enge Freundschaft mit dem Dichter und der isländischen Literatur, die nie abbrach. Hier sein Abschiedswort. Wir mussten mit Halldórs Tod, bei seinem hohen Alter, rechnen. Dies sagte mir seine Frau Auður, als ich sie das letzte Mal besuchte. Und doch berührt mich die Nachricht von seinem Tod zutiefst. Auður und der Familie gilt meine innige Anteilnahme. Ein großer Autor unserer Zeit ist tot: Halldórs Werke sind ein bedeutsamer Beitrag zur Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. In aller Welt werden seine Romane gelesen und doch sind sie durch und durch isländisch - die Geschichte, die Landschaft und Natur, die Tierwelt und nicht zuletzt die Menschen. Island ist für den Schriftsteller Halldór Laxness die Welt, die Bühne der Welt, auf der er seine Romanfiguren auftreten und agieren läßt. Sie leben in einem vormodernen Land, das noch bis in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts mittelalterliche Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen aufweist, sie sind aber auch in dem modernen Island daheim, das sich mit Macht nach dem zweiten Weltkrieg herausbildet. Diese beiden so unterschiedlichen Welten bilden den realen 121 <?page no="122"?> Mosfell <?page no="123"?> Hintergrund der Romane, sie sind der Stoff, aus dem die schöpferische Phantasie und die sprachliche Gestaltungskraft des Autors seine Romanwelt schafft, denn der Wert einer Dichtung, so Halldór Laxness, hängt nicht zuletzt davon ab, „in wieweit sie eine vollkommene, unabhängige und eigenständige Welt darstellt.“ Ich neige mich in Ehrfurcht und Dankbarkeit vor Halldór Laxness, dem großen isländischen Dichter. Sein Werk wird leben so lange Bücher in der Welt gelesen werden. Wilhelm Friese Übersetzung von „Vinarkveðja frá Tübingen“, erschienen in: Morgunblaðið, Sondernummer „Halldór Kiljan Laxness“, 14.Febrúar 1998 123 <?page no="125"?> Arbeiten des Verfassers zu Halldór Kiljan Laxness Halldór Kiljan Laxness, in: Der isländische Roman der Gegenwart. Diss. Masch.-schriftlich. Greifswald 1955. S. 37-117. Halldór Kiljan Laxness und Knut Hamsun. Der Einfluß Knut Hamsuns auf das frühe Schaffen Halldór Laxness’ und seine Überwindung. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald. Jg. VII, 1957/ 58. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe Nr. 1/ 2. S. 33-37. „Undir Helgahnúk“ und „Kristnihald undir Jökli“: Der Ring schließt sich. In: Sveinn Skorri Höskuldsson (Hg.): Special issue devoted to the work of Halldór Laxness. Scandinavica. An International Journal of Scandinavian Studies. Supplement. (Academic Press London & New York.) Mai 1972. S. 21-31. „Wir wollen ein reines Schrifttum …“. Wege und Umwege von Halldór Laxness’ erstem Buch in Deutschland. In: Wolfgang Butt / Bernhard Glienke (Hg.): Der nahe Norden. Otto Oberholzer zum 65. Geburtstag. Eine Festschrift. Frankfurt/ Main usw. (Lang) 1985. S. 175-182 125 <?page no="126"?> „Ich bin der Ketzer von sieben Religionen.‘ Halldór Laxness und das Religiöse.“ In: Hans-Peter Naumann, Magnus von Platen & Stefan Sonderegger (Hg.): Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986 Basel/ Frankfurt a.M. (Beiträge zur nordischen Philologie. 15) 1986 S. 293-299. Halldór Laxness’ „Kristnihald undir Jökli“ - en religiöses Ärgernis? In: Maria Krysztofiak (Hg.): Nordische Tangenten. Überlegungen zur neueren Prosa skandinavischer Autoren. Uniwersytet Im. Adama Mickiewicza w Poznaniu. Seria Filologia Skandynawska. 6. Poznan’ 1986. S. 121-135. Auch in: Zeszyty Naukowe. Wydzialu Humanistycznego. Studia Scandinavica. Gdansk. IX, 1985. S. 41-48. The Quintessence of the Novels of Halldór Laxness. In: Skandinavistik. Glückstadt. (J.J. Augustin) 16. 1986. S. 81-89. Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. Basel, Frankfurt/ M. (Helbing & Lichtenhahn) 1995. (Beiträge zur nordischen Philologie 24). 164 S. Christsein am Gletscher. In: Island-Berichte der Gesellschaft der Freunde Islands. Hamburg. 33. Jg. Heft 5. November 1992. S. 244-250. Halldór Laxness und seine Romane. In: Island. Zeitschrift der Deutsch-Isländischen Gesellschaft und der Freunde Islands. 3. 1997. H. 1. S. 3-11. Historie und Gegenwart. Die Romantrilogie „Islandglocke“ von Halldór Laxness. In: Island. Deutsch-Isländisches Jahrbuch. 11. 1997. S. 79-92. 126 <?page no="127"?> Halldór Laxness. In: 49. Nlg./ Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. München, 6/ 1999. 1-20. Knut Hamsun und Halldór Kiljan Laxness. Anmerkungen zu Werken und Wirkung. Tübingen und Basel (Francke) 2002. Abenteuer mit den Deutschen. In: Abenteuer mit den Deutschen. Deutsch-skandinavische Begegnungen. Tübingen (Francke) 2004. S. 13-27. Halldór Kiljan Laxness und Italien. In: Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth (Hg.): Verschränkungen der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann. Tübingen und Basel (Beiträge zur nordischen Philologie. 37) 2004. S. 527-534. Laxness, Halldór Kiljan. In: Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 2006. Bd. III, S. 323. 127 <?page no="128"?> Bildnachweis Alfreðsson, Guðmundur S.: Umschlag Fosslund, Jörgen: 10 Held, Dorothee: 61, 62, 92, 118, 122 Hjörleifsson, Magnus: 58 Julíusson, Ásgeir / Helgafell: 24 Privat: 19 128 <?page no="129"?> Wilhelm Fr ie s e BEGEGNUNGEN MIT HALLDÓR KILJAN LAXNESS A. Francke Verlag Tübingen und Ba s el