Die Bibel als Text
Beiträge zu einer textbezogenen Bibel-Hermeneutik
0820
2008
978-3-7720-5295-8
978-3-7720-8295-5
A. Francke Verlag
Oda Wischmeyer
Stefan Scholz
<?page no="0"?> A . F R A N C K E V E R L A G T Ü B I N G E N U N D B A S E L Oda Wischmeyer / Stefan Scholz (Hrsg.) Die Bibel als Text Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik <?page no="1"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 14 · 2008 Herausgegeben von Friedrich W. Horn, François Vouga, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Oda Wischmeyer / Stefan Scholz (Hrsg.) Die Bibel als Text Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1862-2666 ISBN 978-3-7720-8295-5 <?page no="5"?> Inhalt Oda Wischmeyer Einführung .......................................................................................................... 7 A. Geschichtliche Verortung und Terminologie Wolfgang Wischmeyer Wie die große Welterzählung der historia sacra ein antiker Text wurde. Ein frühneuzeitlicher Paradigmenwechsel in der Bibelauslegung............ 19 Stephan Kammer Text als Medium - Text als Struktur. Zur Verständigung über ein literatur- und kulturwissenschaftliches Schlüsselkonzept ................................................................................... 35 Mechthild Habermann Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel.................................................... 53 Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung ......................................................................................................... 69 B. Altes Testament und Hermeneutik James Alfred Loader Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments.................. 99 Karla Pollmann Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben. Augustinus’ ‚De Genesi ad litteram’ und mögliche Folgen......................... 121 Mathias Mayer Das Verstehen des Unverständlichen. Zur Psalmendichtung des 20. Jahrhunderts ............................................... 135 C. Neues Testament und Hermeneutik Oda Wischmeyer Texte, Text und Rezeption. Das Paradigma der Text-Rezeptions-Hermeneutik des Neuen Testaments.......................................................................................... 155 Eve-Marie Becker Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik ................................................................................................... 193 Jean Zumstein Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur ........................................................................................................... 217 <?page no="6"?> Inhalt 6 Christine Lubkoll Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’. Zur Überlagerung biblischer und nichtbiblischer Prätexte ...................... 235 Epilog Emil Angehrn Konstellationen und Grenzen des Textes aus philosophisch-hermeneutischer Perspektive.............................................. 249 Abkürzungsverzeichnis (Lexika) ....................................................................... 261 Register .................................................................................................................. 263 Autoreninformation ............................................................................................. 269 <?page no="7"?> Oda Wischmeyer Einführung „Die Bibel als Text“ war das Thema eines interdisziplinären Kolloquiums, das vom 18. bis 20. Mai 2007 in Erlangen stattfand. Die Tagung wurde von dem Herausgebergremium des ‚Lexikons der Bibelhermeneutik’, das 2009 erscheint, 1 veranstaltet. Seit 2005 hat sich das Herausgebergremium des Lexikons bereits mehrfach getroffen, um die Konzeption und die Heuristik des Lexikons zu erarbeiten. Das Treffen von 2007 galt der theoretischen Vertiefung der Konzeption und ihrer exemplarischen Erprobung in einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes stammen von den Kolloquiumsteilnehmern und -teilnehmerinnen sowie von Kollegen anderer textwissenschaftlicher Disziplinen. Grundlage und zentrale Kategorie aller Beiträge ist der Textbegriff. Seine Anwendung auf die Bibel eröffnet methodische und hermeneutische Interpretationsmöglichkeiten, die die Bibel über die primären Fachdisziplinen der alt- und neutestamentlichen Exegese hinaus auch als Gegenstand anderer textwissenschaftlicher Disziplinen einführen. Damit wird auf der einen Seite die auf dem Kanonbegriff beruhende ausschließliche Bindung der wissenschaftlichen Wahrnehmung des biblischen Textcorpus an die beiden exegetischen Disziplinen und die damit gegebene einseitige und starre Verortung der Bibelwissenschaft in der Theologie gelöst. Auf der anderen Seite werden die biblischen Texte als möglicher Gegenstand wissenschaftlicher Wahrnehmung für die Text- und Literaturwissenschaft erschlossen. 1. Entwicklungen im Bereich der Text- und Literaturwissenschaften An dieser Stelle ist es zunächst notwendig, die Veränderungen ins Bewusstsein zu heben, die sich auf dem breiten Feld der text- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen vollzogen haben, und die Folgen dieser Veränderungen für die alt- und neutestamentliche Exegese zu beschreiben. Dies Feld hat sich durch die Methoden- und Theoriebildung der Linguistik und der Literaturwissenschaften gegenüber den alten Philologien geradezu dramatisch verändert und erweitert. Die historische Basis des wissenschaftlichen Umgangs mit 1 Lexikon der Bibelhermeneutik. Hg. von O. W ISCHMEYER in Zusammenarbeit mit E. A NGEHRN , E.-M. B ECKER , M. S CHÖLLER , M. H ABERMANN , U. H.J. K ÖRTNER , J. A. L OADER , C. L UBKOLL , K. P OLLMANN , G. S TEMBERGER , W. W ISCHMEYER , Berlin/ New York [erscheint 2009]. <?page no="8"?> Oda Wischmeyer 8 Texten und Literaturen bildet die Altphilologie, die sich aus der alexandrinischen Philologenschule herleitet. Der Umgang der altkirchlichen Bibelexegeten mit den Texten des Alten und Neuen Testaments schloss sich an die alexandrinische Philologie an. Es bildeten sich die alexandrinische und die antiochenische Exegetenschule heraus. Zu diesen aus der Antike stammenden klassischen Disziplinen der Altphilologie einerseits und der alt- und neutestamentlichen Exegese andererseits traten seit dem Humanismus die gelehrte Patristik und später die Judaistik und die orientalischen Philologien hinzu, seit dem 18. Jahrhundert dann die nationalsprachigen Philologien, die ihre Arbeit zunächst auf die mittelalterlichen Literaturen konzentrierten und zugleich Konzepte von Nationalliteraturen entwickelten und philologisch und historisch ausarbeiteten. Leitend wurde das Paradigma der Literaturgeschichte. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts veränderten und erweiterten die neuen Disziplinen der Textlinguistik und der Literaturwissenschaft und Literaturtheorie die Philologien, die alle auf der klassischen Konzeption von Textsicherung, Textrekonstruktion und Textinterpretation beruhten, in methodischer und theoretischer Hinsicht. An diese Veränderungen der Text- und Literaturwissenschaften hat die Textwelt der Bibel mit ihren beiden aus der späteren Antike stammenden kommentierenden Philologien, die in klassischer Tradition weiterhin als alttestamentliche und neutestamentliche Exegese bezeichnet werden, bisher noch nicht einen theoretisch begründeten und methodisch gesicherten Anschluss gefunden. Die hermeneutischen Konsequenzen der philosophischen und literatur- und kulturwissenschaftlichen Neujustierung zentraler Begriffe wie Klassik, Kanon, Text, Autor, Bedeutung, Sinn, Verstehen, Auslegung, Interpretation, die sich unter dem Stichwort Dekonstruktion zusammenfassen lassen, haben zwar die hermeneutische Theorie der Bibelwissenschaft erreicht, 2 nicht aber die überwiegende wissenschaftliche Praxis der Bibelexegese, die weiterhin vorwiegend mit den klassisch-philologischen Modellen der Text- und Literaturinterpretation arbeitet. Andererseits haben auch die Literaturwissenschaften noch nicht das Potential entdeckt, das in der kanonischen Textsammlung der Bibel für ihre Theoriebildung liegt. Das ‚Lexikon der Bibelhermeneutik’ stellt diesen wechselseitigen theoretischen und methodischen Anschluss an die Veränderungen der Text- und Literaturwissenschaften auf der breiten Basis text- und literaturwissenschaftlicher Disziplinen her, das Kolloquium diente der exemplarischen Erprobung in einzelnen Disziplinen: der alt- und neutestamentlichen Exegese, der Patristik und der Altphilologie einerseits, der Textlinguistik und der Neueren Literaturwissenschaft - auf dem Kolloquium durch die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft vertreten -, die neue Theorie- und Methodenkonzepte für den wissenschaftlichen Umgang mit Texten entwickelt haben, anderer- 2 Vgl. W ISCHMEYER , O., Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen 2004. <?page no="9"?> Einführung 9 seits. Die Erklärungskraft des textwissenschaftlichen Zugangs erwies sich als äußerst anregend und tragfähig. Einige Aspekte seien einleitend etwas ausführlicher beleuchtet. 2. Die Bibel als Gegenstand der Text- und Literaturwissenschaften Die Bibel 3 ist seit der Mitte des vierten Jahrhunderts n.Chr das formative und normative Textwerk der spätantiken griechisch-römischen Kultur in ihrer christlichen Verfasstheit. Die Rolle der Bibel als des religiösen, ethischen und kulturellen Leitwerkes setzte sich in den nationalsprachigen Folgekulturen im Raum der Christentümer Europas und des Vorderen und Mittleren Ostens fort, in der Neuzeit traten Nord- und Südamerika, Teile des pazifischen Raumes und vor allem das mittlere und südliche Afrika hinzu. Die Bibel stellt selbst eine religiös-literarische Textkultur dar, deren Entstehungsgeschichte von der vorexilischen oder exilischen Literatur Israels 4 bis zu den späteren frühchristlichen Schriften im ersten Drittel des zweiten Jahrhunderts n.Chr. 5 reicht und damit an wesentlichen Epochen und Räumen der antiken Welt partizipiert. Sie hat an den Sprachkulturen des Alten Israel (Hebräisch 6 ) und des Vorderen Orients (Aramäisch 7 ) sowie des imperium Romanum (Griechisch 8 ) Anteil. Das hellenistische griechischsprachige Diasporajudentum schuf sich in der Übersetzung der Schriften des sogenannten Tanak 9 , der heiligen Schrift Israels 10 , eine eigene griechischsprachige Schriftensammlung, die sogenannte Septuaginta 11 . Die Septuaginta umfasst entsprechend der zentripetalen Tendenz der Literatur Israels, sich an die Tora anzuschließen, die große Mehrheit der erhaltenen Literatur Israels in griechischer Übersetzung sowie einen erheblichen Teil der Literatur des griechischsprachigen Frühjudentums 12 und ist durchaus eine eigene Bibliothek unter- 3 Vgl. einführend den Artikel S CHNELLE , U. u.a., Art. Bibel, in: RGG 4 I (1998), 1407-1446. 4 Z ENGER , E., Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1/ 1), Stuttgart/ Berlin/ Köln 2001 4 . 5 Einführend S CHNELLE , U., Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 2007 6 . 6 M ÜLLER , H.-P., Art. Bibel/ II. Altes Testament/ 3. Sprachen des Alten Testaments, in: RGG 4 I (1998), 1412-1417. 7 Im Buch Daniel: vgl. M ÜLLER , H.-P., Art. Bibel, 1412-1417 (Anm. 6). 8 F ORSSMANN , B./ B INDER , V., Art. Griechisch, in: DNP 4 (1998), 1223-1230. 9 B ECKER , H.-J., Art. Bibel/ II. Altes Testament/ 2. Sammlung und Kanonisierung/ a) Jüdischer Kanon, in: RGG 4 I (1998), 1408-1410. 10 Hier als ethnisch-sprachlich-religiöser Sammelbegriff verstanden. 11 Vgl. einführend S IEGERT , F., Zwischen hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (Münsteraner Judaistische Studien 9), Münster 2001, sowie T ILLY , M., Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005. 12 Einführend M AIER , J., Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels (Die neue Echter Bibel/ Altes Testament/ Ergänzungsband 3), Würzburg 1990. <?page no="10"?> Oda Wischmeyer 10 schiedlicher gattungsgeschichtlicher Texte. Diese umfangreiche und historisch, religionsgeschichtlich, gattungsgeschichtlich und kulturgeschichtlich höchst heterogene Textsammlung wurde von den Christen als erstes, größeres Teilcorpus in ihre - nun vollständig griechischsprachige - Gesamtbibel aus den zwei Teilcorpora Altes Testament und Neues Testament eingegliedert und so zu einem Text. Die Spätantike sah die großen klassischen Bibelübersetzungen ins Lateinische 13 und in die östlichen Sprachen und regionalen Dialekte, die für das Mittelalter prägend wurden. Auf die umfangreiche spätere Übersetzungsarbeit und ihre Bedeutung für die Formierung nationaler und regionaler Kulturen und Sprachen bis in die Gegenwart hinein kann hier nur hingewiesen werden. Bleibend wichtig ist der Sachverhalt der Übersetzbarkeit der Bibel. Trotz ständiger Tendenzen zur Sakralisierung einzelner gelungener und breit akzeptierter Übersetzungen, die von der Septuaginta 14 und der Vulgata 15 bis zur Lutherübersetzung und zur King James-Version reichen, ist weder der Grundsatz der Übersetzbarkeit noch der Notwendigkeit je neuer Übersetzungen wirklich aufgegeben worden. Es gibt weder eine originäre oder sogar heilige Sprache der Bibel noch heilige Übersetzungen. 16 Auch die Hinwendung der Humanisten und Reformatoren zu den biblischen Ursprachen Hebräisch und Griechisch zielte nicht auf das Konzept der Sakralsprachen, sondern auf Philologie und damit gerade auf Verstehbarkeit. 17 Auf Philologie und damit stetige Arbeit an der Verstehbarkeit des Bibeltextes zielt auch die Arbeit der Bibelphilologie seit Origenes 18 . Bibelphilologie war eines der großen Aufgabenfelder der antiken Kirchenschriftsteller. Das gilt ebenso für die Reformatoren von Luther bis zu Calvin. Das reformatorische Theologumenon der sacra scriptura sui ipsius interpres verfolgt das Ziel der Bibelphilologie statt dogmatisch oder kirchenrechtlich geleiteter Bibelauslegung. Die Bibel setzte - wie andere kanonische Textwerke religiöser oder juristischer Art - ganze Textwelten aus sich heraus. Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts n.Chr. traten die Kommentarliteratur, die Weiterschreibung in 13 Von der sog. Itala bis zur Vulgata des Hieronymus, die den größten Einfluss auf die west- und mitteleuropäische Kultur gehabt hat, vgl. D OGNIEZ , C. u.a., Art. Bibelübersetzungen, in: RGG 4 I (1998), 1487-1515. 14 In der griechisch-orthodoxen Kirche. 15 Im lateinischsprachigen Westen. Vgl. einführend S CHULZ -F LÜGEL , E., Art. Bibelübersetzungen/ I. Übersetzungen in antike Sprachen/ 2. Übersetzungen ins Lateinische, in: RGG 4 I (1998), 1491-1494. 16 So verstanden Philo und Josephus auf der Basis der Septuaginta-Legende des Aristeasbriefes die Septuaginta. Zum Aristeasbrief vgl. M EISNER , N., Der Aristeasbrief (JSHRZ II/ 1), Gütersloh 1973, 34-87. 17 Einzelne Konzepte heiliger Sprachen in der lutherischen Orthodoxie und in der Sprachenphilosophie des Barock ändern nichts an dieser Grundtendenz. 18 Vgl. einführend M ARKSCHIES , C., Art. Origenes, in: RGG 4 VI (2003), 657-662, sowie V OGT , H.J., Art. Origenes, in: LACL 3 (2002), 460-468. <?page no="11"?> Einführung 11 den sogenannten neutestamentlichen Apokryphen 19 und die Bibeldichtung 20 neben die Bibel, längst bevor ihr kirchlicher Kanonisierungsprozess zu einem vorläufigen Abschluss kam. 21 Ebenfalls ins zweite Jahrhundert datieren die liturgische und homiletische Verwendung der Bibel. 22 Damit war das gesamte Feld dessen eröffnet, was wir auf der Basis des Textbegriffs als Textkultur der Bibel bezeichnen und als wesentlichen Bestandteil jener Kulturen betrachten, die durch die christliche Religion dominiert wurden und werden oder in denen sie einen wie auch immer gearteten religiös-kulturellen Einfluss hatte oder hat. Es geht um die Literatur, die sich auf die folgenden Bereiche bezieht: 1. die Textpflege der biblischen Texte in ihren Ursprachen und ersten maßgeblichen Übersetzungen 23 2. die Textübersetzungen im Zusammenhang des sprachlich-kulturellen Transfers des Christentums 3. die Textkommentierung im Sinne der Philologie und der auslegenden Hermeneutik 4. die Textfortschreibung der Texte im Sinne der apokryphen Bibeldichtung 24 5. die Textverehrung im gottesdienstlichen Rahmen 25 6. die Textanwendung in Predigt, Katechese und Dogmatik 7. die Textwirkungen sprachlicher und sachlicher Art in Zitaten, Allusionen, literarischen, künstlerischen und musikalischen Adaptionen, philosophischen und ethisch-politisch-sozialen Diskursen und Normierungen von Milieus. Diese Aufgaben wurden schon in der Alten Kirche verteilt. Die ersten drei Bereiche wurden zur Domäne bestimmter kirchlicher Lehrer und Schriftsteller, die zum Teil eigene Schulen bildeten. 26 Die Bereiche der Textverehrung und der Textanwendung waren insgesamt kirchliche Aufgaben, der letzte 19 Kommentierte Übersetzung bei: S CHNEEMELCHER , W. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, 2 Bände, Tübingen, I 1989 6 ; II 1989 5 . 20 Vgl. R ÄDLE , F. u.a., Art. Bibeldichtung, in: LexMA 2 (2000), 75-82. 21 Nach der Mitte des vierten Jahrhunderts n.Chr. Vgl. dazu meinen Beitrag im vorliegenden Band. 22 Für die Septuaginta ist an christlichen gottesdienstlichen Gebrauch schon im ersten Jahrhundert zu denken. 23 Maßstab ist die wissenschaftliche Textkritik, vgl. W ÜRTHWEIN , E., Der Text des Alten Testaments. Eine Einführung in die Biblia Hebraica, Stuttgart 1988 5 für das Alte Testament sowie A LAND , K./ A LAND , B., Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 1989 2 für das Neue Testament. 24 S CHNEEMELCHER , Neutestamentliche Apokryphen (Anm. 19). 25 Hier fasse ich liturgische und lehrhafte Aspekte zusammen. Ein wesentlicher Bereich ist auch die private Bibelfrömmigkeit. 26 Besonders bedeutend war die Wirksamkeit von Origenes und Hieronymus, vgl. M ARK- SCHIES , C./ T HÜMMEL , H.G., Art. Hieronymus, in: RGG 4 III (2000), 1728-1730, sowie F ÜRST , A., Art. Hieronymus, in: LACL 3 (2002), 286-290. <?page no="12"?> Oda Wischmeyer 12 Bereich lässt sich nicht im Modus von Aufgaben verstehen und entfaltete eine unübersehbare Breite der Wirkungen in allen Bereichen der Kultur bis in die Gegenwart. Es bleibt die Weiterdichtung biblischer Texte, die seit den sogenannten Apokryphen 27 und seit der Evangelienharmonie Tatians 28 einerseits in den Händen eher kirchlicher oder kirchennaher Schriftsteller lag, andererseits eine eigene Textkultur bildete, die je länger desto selbständiger wurde und sich alle Freiheiten der Literatur gegenüber den Kirchen als primären Textverwaltern und -auslegern erkämpfte. Ihre Nähe zu bestimmten Textbereichen der allgemeinen Wirkungsgeschichte der Bibeltexte ist evident. In diesem Bereich liegt das Feld für kirchengeschichtliche Forschung im weitesten Sinn, aber darüber hinaus auch für literaturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Untersuchungen. Textpflege, Textübersetzung und Textkommentierung sind Kernaufgaben der beiden exegetischen Disziplinen geblieben. Die Bibelexegese gehörte stets zum Aufgabenbereich der Kirchen und war den wechselnden Konfigurationen kirchlicher Lehrtätigkeit unterworfen bis hin zum gegenwärtigen universitären theologischen Forschungs- und Lehrbetrieb. Seit dem Mittelalter war das Bibelstudium den monastisch und/ oder universitär verorteten Theologen zugeordnet. Die lectura in biblica ist die Vorgängerin der heutigen Lehrstühle für Altes und Neues Testament. Seit dem 16. Jahrhundert gingen die Exegeten die Wege der europäischen Universitäten mit und bezogen sich in produktiver Arbeit, in Adaption und auch in Widerspruch auf die jeweiligen Wege der Textinterpretation der Klassischen Philologie und der Geschichtswissenschaft. Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts bezogen die Alt- und Neutestamentler erfolgreich ihre exegetischen Standards aus der Altphilologie und aus den Philologien des Alten Orients, an deren Herausbildung die Alttestamentler wesentlichen Anteil hatten. Das änderte sich nicht, als die Vorherrschaft der Philologie als methodischer Grunddisziplin im 19. Jahrhundert durch die Geschichte als zentrale Ordnungs- und Erkenntniskategorie abgelöst wurde. Die exegetischen Fächer konnten ihre philologischen Interessen und Kenntnisse in die historischen Fragestellungen zur Geschichte Israels und der Geschichte des Urchristentums einordnen. Der Austausch zwischen den Philologien und den exegetischen Disziplinen blieb eng und wechselseitig, die exegetischen Fächer wurden im Bereich der philosophischen Fakultäten deutlich wahrgenommen. 29 Die Diversifikation der philosophischen Fakultäten, die Verselbständigung der Neuphilologien und der Beginn von Theoriebildung in ihren Disziplinen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Klassische Philologie und die biblisch-exegetischen Disziplinen vor Probleme, die bis heute nicht 27 Zur Datierung vgl. S CHNEEMELCHER , Neutestamentliche Apokryphen. Band 1: Evangelien, 1-58. 28 B RUNS , P., Art. Tatian, in: LACL 3 (2002), 581. 29 Hinzu kommt die sehr enge Verbindung zwischen neutestamentlicher Exegese und Patristik, wie sie besonders prominent bei Adolf von Harnack vorliegt. <?page no="13"?> Einführung 13 genügend bearbeitet sind. 30 Die Klassische Philologie verlor ihre paradigmatische Funktion für die Text- und Literaturwissenschaften, und damit ging auch den exegetischen Disziplinen ihre methodische Leitwissenschaft verloren. Schon das Diltheysche Konzept der Geisteswissenschaften brachte für die Philologien wesentliche Veränderungen ihres Selbstverständnisses: der Wechsel von der historistisch konzipierten Literaturgeschichte zur Interpretation der Texte machte die Philologen auch zu Interpreten und stellte ihr Verhältnis zu den Texten als historischen Quellen und zu ihrer eigenen Arbeit als Quellenedition und -kommentierung in Frage. Die wissenschaftliche Haltung des Dienens wurde graduell in mehreren Theorieschüben durch die Haltung des produktiven Zugangs der wissenschaftlichen Textrezeption abgelöst. Diese Entwicklung wurde vor allem von den modernen Philologien wahrgenommen, die auf dem Weg zur Literaturwissenschaft zunächst Interpretationskonzepte literarischer Kunstwerke, dann die rezeptionsästhetische Theorie vom produktiven Leser bzw. Interpreten konzipierten. Die klassische Philologie und die exegetischen Disziplinen hielten demgegenüber eher an dem historisch-philologischen Konzept fest und arbeiteten wenig an der Theoriebildung. Auch die verschiedenen hermeneutischen Konzepte des letzten Jahrhunderts, die im Anschluss an Heideggers Existenzialphilosophie entstanden, wurden dementsprechend nicht von allen Vertretern der exegetischen Disziplinen als selbstverständliche und notwendige Innovationsschübe des wissenschaftlichen Umgangs mit Literaturen und Texten aufgegriffen. In der neutestamentlichen Exegese setzten sich Rudolf Bultmann 31 und seine Schule nachhaltig mit der philosophischen Hermeneutik auseinander. Bultmann selbst darf als der vorläufig letzte Neutestamentler gelten, der nicht nur als neutestamentlicher Exeget auf allen großen Feldern der Disziplin klassische Werke verfasste und gleichzeitig der klassischen Philologie sowie den neueren Philologien verbunden war, 32 sondern auch als eigenständiger hermeneutischer Denker von philosophischer Seite wahrgenommen wurde. 33 Die weitere Entwicklung der auf den nationalsprachigen Literaturen basierten Literaturgeschichten über die Literaturwissenschaft zur Literatur- und Kulturtheorie kann hier nicht nachgezeichnet werden. In unserm Zusammenhang sind zwei Faktoren wichtig: erstens die Etablierung der Text- Linguistik als einer neuen wissenschaftlichen Wahrnehmung von Texten, andererseits die beschleunigte Veränderung der sogenannten Neuphilolo- 30 Für die klassische Philologie vgl. S CHMITZ , T.A., Moderne Literarurtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002. 31 L INDEMANN , A., Art. Bultmann, Rudolf, in: RGG 4 I (1998), 1859-1860. Weiteres bei R AUPP , W., Art. Bultmann, Rudolf (Karl), in: BBKL XXI (2003), 174-233. 32 D REHER , M. (Hg.), Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, Tübingen 2002, sowie ders., Rudolf Bultmann als Kritiker in seinen Rezensionen und Forschungsberichten. Kommentierende Auswertung (Beiträge zum Verstehen der Bibel 11), Münster 2005. 33 Vgl. G ADAMER , H.-G., Art. Hermeneutik, in: HWPh 3 (1974), 1061-1073. <?page no="14"?> Oda Wischmeyer 14 gien hin zu kulturwissenschaftlichen Theoriebildungen, in denen die klassischen Literaturen nur noch als Teilaspekte kultureller Großmuster wie beispielsweise Geschlecht, Körper oder Identität fungieren. Die auf dem Konzept von Klassik und Kanonizität sowie der Rekonstruktion von Texten und ihren historischen Kontexten beruhenden „alten“ Disziplinen der Altphilologie und der alt- und neutestamentlichen Exegese haben sich diesen Entwicklungen gegenüber durchweg zurückhaltend, zum Teil auch kritisch verhalten, da Textlinguistik und Literatur- und Kulturtheorie weder die historische Dimension der Texte noch ihre religiös und kulturell prägende und dominierende Position als hermeneutische Basis ihres Umgangs mit den Texten akzeptieren. Abgekürzt lassen sich folgende Probleme und Desiderate benennen, die mit den theoriegeleiteten Entwicklungen der text- und literaturwissenschaftlichen Fächerwelt für die exegetischen Disziplinen, die auf der klassischen Philologie basieren, entstanden sind: 1. die textlinguistische Beschreibung von Texten (Synchronie) 2. die Verflüssigung und Vernetzung des Textbegriffs (Intertextualität, „Tod des Textes“) 3. die Ausweitung des Textbegriffs auf kulturelle Texturen (cultural turn) 4. die Problematisierung der Vorstellung vom Text als einem distinkten Sinnträger (Kritik an einer Hermeneutik von Texten) 5. die produktive Rolle der Interpreten im Prozess des Textverstehens (Rezeptionsästhetik) 6. die Dekonstruktion kanonischer und klassischer Textcorpora (Dekanonisierung) 7. die Dekonstruktion des Autors („Tod des Autors“) 8. die neue Konzeption von Kultur unabhängig von den Konzepten von Hochkultur oder klassischen Kulturen (popular culture) 9. die kulturwissenschaftliche Konzeptualisierung von Religion als einem begrifflich diffusen Teilaspekt von Kulturen (kulturwissenschaftliche Religionstheorie). 3 Das Kolloquium Diese grob skizzierten Zusammenhänge machen deutlich, in welche Richtung die Beiträge des Kolloquiums zielen. Der text- und literaturwissenschaftliche Textbegriff wird in unterschiedlichen Aspekten und anhand von Beispielen aus einzelnen Disziplinen als neue methodische und theoretische Plattform für die wissenschaftliche Wahrnehmung der Bibel geprüft. Dabei wird deutlich, welch starke Eigendynamik die sprachwissenschaftlichen, literatur- und medienwissenschaftlichen Teildiskurse entwickelt haben und wie schwierig eine transdisziplinäre Verständigung über den Textbegriff gegenwärtig ist. Das Kolloquium trägt dadurch zu einer Begegnung zwi- <?page no="15"?> Einführung 15 schen den Diskurssträngen bei, dass die verschiedenen Textbegriffe auf den Gegenstand des Kolloquiums, die Bibel, angewendet werden, der selbst noch weitgehend außerhalb der text- und literaturwissenschaftlichen Diskurses liegt. Gleichzeitig machen die Beiträge des Kolloquiums evident, dass sich die Kategorie „Text“ als höchst aussagekräftig im Hinblick auf eine Bibelhermeneneutik erweist, die „die Bibel“ als Textsammlung, als Text, als Supertext, als Hypertext, als geschichteten Text, als Metatext, als Intra- und Intertext, als Prätext und als Basis einer eminenten Textkultur interpretiert. Die Konzeption „Die Bibel als Text“ steuert in ihren theoretischen, methodischen, historischen und aktuellen Aspekten die Beiträge der einzelnen Disziplinen. Die Konzeption wird damit zugleich zum Plädoyer für eine Neujustierung der durch die Dekonstruktion gegangenen leitenden theoretischen und methodischen Begriffe biblischer Exegese und Hermeneutik. Die Beiträge sind in drei Gruppen zusammengefasst: auf allgemeine Beiträge zum Textbegriff aus kirchengeschichtlicher (Wolfgang Wischmeyer) und literaturwissenschaftlicher Sicht (Stephan Kammer) folgen zwei textlinguistische Beiträge zur Bibel als Supertext (Mechthild Habermann) und Hypertext (Stefan Scholz und Voker Eisenlauer). Die zweite Gruppe umfasst exegetische und literaturwissenschaftliche Beiträge zum Alten Testament und seiner literarischen Rezeption (James Alfred Loader, Karla Pollmann, Mathias Meyer), die dritte Gruppe enthält exegetisch-hermeneutische und literaturwissenschaftliche Beiträge zum Neuen Testament (Oda Wischmeyer, Eve-Marie Becker, Jean Zumstein, Christine Lubkoll). Emil Angehrns abschließender Beitrag evaluiert die Reichweite und Erklärungskraft des Textbegriffs für die Bibelhermeneutik aus philosophischer Sicht. Die Herausgeber des Bandes danken an dieser Stelle allen Beiträgerinnen und Beiträgern des Kolloquiums und des vorliegenden Bandes. Unser Dank gilt auch der Dr. German Schweiger-Stiftung und der Frau Dorothea und Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung sowie Frau cand. phil. et theol. Nina Irrgang für die sorgfältige Erstellung des Gesamtmanuskripts und Frau Susanne Fischer vom Franckeverlag für die umsichtige Betreuung der Drucklegung. Literatur A LAND , K./ A LAND , B., Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 1989 2 . B ECKER , H.-J., Art. Bibel/ II. Altes Testament/ 2. Sammlung und Kanonisierung/ a) Jüdischer Kanon, in: RGG 4 I (1998), 1408-1410. B RUNS , P., Art. Tatian, in: LACL 3 (2002), 581. D OGNIEZ , C. u.a., Art. Bibelübersetzungen, in: RGG 4 I (1998), 1487-1515. D REHER , M. (Hg.), Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, Tübingen 2002. <?page no="16"?> Oda Wischmeyer 16 D REHER , M., Rudolf Bultmann als Kritiker in seinen Rezensionen und Forschungsberichten. Kommentierende Auswertung (Beiträge zum Verstehen der Bibel 11), Münster 2005. F ORSSMANN , B./ B INDER , V., Art. Griechisch, in: DNP 4 (1998), 1223-1230. F ÜRST , A., Art. Hieronymus, in: LACL 3 (2002), 286-290. G ADAMER , H.-G., Art. Hermeneutik, in: HWPh 3 (1974), 1061-1073. Lexikon der Bibelhermeneutik. Hg. von O. W ISCHMEYER in Zusammenarbeit mit E. A NGEHRN , E.-M. B ECKER , M. S CHÖLLER , M. H ABERMANN , U. H.J. K ÖRTNER , J. A. L OADER , C. L UBKOLL , K. P OLLMANN , G. S TEMBERGER , W. W ISCHMEYER , Berlin/ New York [erscheint 2009]. L INDEMANN , A., Art. Bultmann, Rudolf, in: RGG 4 I (1998), 1859-1860. M AIER , J., Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels (Die neue Echter Bibel/ Altes Testament/ Ergänzungsband 3), Würzburg 1990. M ARKSCHIES , C., Art. Origenes, in: RGG 4 VI (2003), 657-662. M ARKSCHIES , C./ T HÜMMEL , H.G., Art. Hieronymus, in: RGG 4 III (2000), 1728-1730. 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Ein frühneuzeitlicher Paradigmenwechsel in der Bibelauslegung 1 Die Bibel als große Welterzählung Die Bibel wurde in der christlichen Antike als ein Text gelesen 1 und überliefert und nach den damaligen bewährten Methoden der Philologie behandelt, 2 wie es die Textlektüre im institutionalisierten Schulbetrieb verlangte, wo „man im Unterricht maßgebliche Literatur zunächst gemeinsam las“ - also gute Texte brauchte - „und der Lehrer anschließend den Abschnitt kommentierte ( )“ 3 . So ging es bei der „fachphilosophischen Ausbildung christlicher Prägung“ 4 in der „(Hoch-)Schule“ 5 des ersten großen christlichen Exegeten, des Origenes, in Caesarea Palaestina zu. Dort war, wie wir vom Verfasser der Dankrede an den Lehrer im Jahre 238, wohl dem späteren Bischof Gregor Thaumaturgos im pontischen Neocaesarea, erfahren, das Ziel der langjährigen Ausbildung „die allegorische Interpretation vor dem Hin- 1 K ILLY , W. (Hg.), Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz (Wolfenbütteler Forschungen 12), München 1981, 6, verweist auf „das einfachere und damit unendlich schwierigere Problem, wie man eigentlich gelesen habe.“ Zum Vergleich von frühjüdischem und frühchristlichem Bibelverständnis unter den wiederum zu hinterfragenden Stichworten „disembodiment of history“ gegen „desublimation“ des Textes der Tora als „letter with letter, body with body, not body with spirit“: B OYA- RIN , D., Philo, Origen, and the rabbis on divine speech and interpretation, in: G OEH- RING , J.E./ T IMBIE , J.A. (eds), The world of early Egyptian Christianity. Language, literature, and social context. Essays in honor of David W. Johnson (CUA Studies in early Christianity), Washington 2007, 113-129, 128; zum islamischen Bibelverständnis: L AZARUS -Y AFEH , H., Interwined Words. Medieval Islam and Bible Criticism, Princeton 1992. Zur Problematik von Geschichtsquellen allgemein: G INZBURG , C., Die Wahrheit der Geschichte (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 65), Berlin 2002 (ital.: Rapporti di forza. Storia, retorica, prova, Mailand 2000). 2 P FEIFFER , R., Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München 1978 2 . Zur altkirchlichen Exegese und zu den sich entwickelnden Schulen von Alexandria und Antiochia vgl. S CHÄUBLIN , C., Untersuchungen zur Methode und Herkunft der antiochenischen Exegese (Theophaneia 23), Köln 1974. Speziell zur Allegorie als Interpretationsmethode bei Origenes: E DWARDS , M.J., Origen Against Plato (Ashgate Studies in Philosophy & Theology), Hants 2002. 3 M ARKSCHIES , C., Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 87. 4 M ARKSCHIES , Kaiserzeitliche christliche Theologie, 104. 5 W ILLIAMS , R., Art. Origenes/ Origenismus, in: TRE 15 (1995), 400f. <?page no="20"?> Wolfgang Wischmeyer 20 tergrund der Theologie des Schulhauptes“ 6 . Daher ist es zutreffend, verallgemeinernd festzustellen: „Die Heilige Schrift des Christentums hat nie ohne Kommentierung und Auslegung existiert“ 7 . 6 M ARKSCHIES , Kaiserzeitliche christliche Theologie, 106. E DWARDS , Origen Against Plato, 126 zur Definition von Allegorie bei Origenes: : „it is the instrument that mediates between the corporal parsing of the text, which some would term the literal reading, and the spiritual divination of its mysteries, which is otherwise called typology. And just as souls and bodies do not dwell in parallel worlds, but one is immanent in the other as the source and pilot of its vital functions, so the allegorical sense is not at war with the literal, but on the contrary endows it with the coherence and vitality of truth. Such an account of allegory, in the hands of a modern formalist, would represent the triumph of metonymy over metaphor”. Allgemein zur Allegorese bei den Philosophen vgl. a.a.O., 129: „for the Platonists any narrative that takes the good of the body as its final cause can only be metaphorically related to one in which the centre of interest is the soul [...]”. Für Origenes gilt: „As the reader´s soul cannot be saved without his body, so he cannot be edified by the soul without the body of the scriptures [...] it may be that the Jewish theologians Paul and Philo were the only authors known to him who combined the same disdain for superficial exegesis with the same fidelity for the graven syllables of the text”. Edwards fasst in fünf Punkten seine Sicht des „Mystery of Christian Maturation” (138) zusammen, vgl. a.a.O., 143f: „where the object of the Pythagorean was to keep faith with a handfull of versified precepts, Origen had the larger purpose [...] of bringing about a harmony in scripture between philosophy and/ rhetoric, history and morality, critical analysis and the regulation of life. Just as spirit is saved before the body, so we must apprehend the spirit in scripture in order to redeem the literal sense. Mysticism, Platonism, Jewish Literalism”; a.a.O., 147: „the lexical content of the scriptures, mortal in origin and bound to a transient medium, is the vehicle of the everlasting Word”. Das Verhältnis von Wort und Sakrament stellt sich, da die Schrift „history and ethics” enthält, folgendermaßen dar: „the word itself becomes a sacrament“; a.a.O., 161: „He holds that scripture is threefold, consisting not of body and soul but of body, soul and spirit. The spirit of scripture, like that of a regenerate saint, absorbs both soul and body without destroying them, and a spiritual interpreter will consequently uphold the literal meaning of most passages that purport to describe historical occurences; on the other hand, historical truth is never a sufficient explanation for the presence of an episode in Holy Writ, and the deeper sense must always be pursued. The literal sense is purged but nor discarded when we detect the latent spirit, just as the body is purified but not lost on the final day when it becomes transparent to the inner man”. 7 R OTH , U., Die Glossa ordinaria. Ein mittelalterlicher Standardkommentar zur Heiligen Schrift, in: Q UISINSKY , M./ W EBER , P. (Hgg.), Kommentarkulturen. Die Auslegung zentraler Texte der Weltreligionen. Ein vergleichender Überblick (Saeculum BH: Menschen und Kulturen 3 ), Köln 2007, 31-48. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass auch die Reformatoren trotz ihrer Einsicht in die Bedeutung der Bibelübersetzungen in die Volkssprachen und aller Betonung der claritas scripturae zunehmend das durch die neuen Druckmedien leichtgemachte Bibellesen der Laien normiert sehen wollten - nachdem sie anfänglich der Evangeliums-Frömmigkeit voll beipflichteten, die in vielen Kreisen, so bei Humanisten und Bauern weit verbreitet war. Das hat Bob Scribner richtig gesehen: „It was a prime principle of Protestant belief that the Word of God had a plain and evident sense and accessible to the ordinary layperson, and this was certainly where the emphasis was placed in polemics against Catholic opponents, who were accused of obscuring the truth of Christ and repressing the biblical message of salvation. Yet it quickly became a dictum of the new evangelical church that ordinary lay people could not be relied upon to derive knowledge about the way of salvation directly from their own reading of scripture […] In the Lutheranism that emerged between the late 1520s into the 1540s, the ability to read and properly interpret the Bible became tied to profes- <?page no="21"?> Wie die große Welterzählung der historia sacra ein Text wurde 21 Eine solche kommentierende Auslegung des Textes der Bibel aber ist bis in die frühe Neuzeit in ihren Bezügen und Deutungsfeldern, seien sie nun primär am Wortsinn oder an allegorischer Interpretation interessiert, dem Modell eines polyvalenten autoritativen Heiligen Textes verpflichtet, das zwar Varianten und Variablen der Deutung, doch keine Systemkritik erlaubt. Der aus dem religionsgeschichtlichen Kontext der Antike entnommene Gedanke der Inspiration ist bis in die Frühneuzeit selbstverständliche Voraussetzung und Rahmen der Schriftauslegung und garantiert neben der unbegrenzten Autorität auch die Irrtumslosigkeit der - recht verstandenen - Bibel. 8 Der folgende kurze Beitrag möchte aspekthaft den Prozess nachzeichnen, der von diesem klassischen Verständnis der Bibel als historia sacra zu einem kritischen Umgang mit Bibeltexten führt, der die frühe Neuzeit kennzeichnet, seitdem dauernd an Bedeutung gewonnen hat und seit der Tübinger Schule zu jenem Modell „historisch-kritischer Exegese“ geführt hat, dem die biblisch-exegetischen Fächer noch gegenwärtig verpflichtet sind. Die Ausführungen beschränken und fokussieren sich auf einige Stationen dieses Prozesses im Wandel der „Bibel als Text“ zwischen Mittelalter, Reformation und früher Neuzeit. sional exegetes, trained in the three biblical languages and most commonly in possession of a degree in theology from a protestant university. Lay reading of the scriptures was certainly not discouraged, but it took place in close coordination with the proper guidelines set down by preachers of the Word, an ordained office” (S CRIBNER , B., Heterodoxy, Literacy and print in early German Reformation, in: B ILLER , P./ H UDSON , A. ( Hgg.), Heresy and Literay, 1000- 1530 (Cambridge Studies in Medieval Literature 23 ), Cambridge 1994, 254-278, hier: 275f.; vgl. auch S WANSON , R.N., Literacy, heresy, history and orthodoxy: perspectives and permutations for the later Middle Ages, in: B ILLER / H UDSON , Heresy and Literary, 279-293, hier: 291. Scribner beruft sich für die These „the most common Protestant experience was not of an immediate bible, but one increasingly filtered through marginal glosses, sermons, catechisms and devotional literature” auf Q UACK , J., Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Gütersloh 1975; G AWTHROP , R./ S TRAUSS , G., Protestanism and literacy in early modern Germany, in: Past and Present 104 (1984), 36- 43 und besonders S CHREINER , K., Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft, in: ZHF 11 (1984), 257-354. So ist für Scribner die Rolle der Bibel im frühneuzeitlichen Protestantismus, nicht nur unter Wittenberger, sondern auch unter oberdeutsch-schweizerischem Einfluss, ein grösstenteils unerforschtes Thema, zu dem er selbst u.a. einen ebenso originellen wie wichtigen Beitrag geleistet hat, indem er auf die große magische Potenz der Bibelbücher hingewiesen hat, die die Funktion von Reliquien übernimmt: S CRIBNER , B., The impact of the Reformation on daily life (SBÖAW phil.-hist.Kl. 568), 1990. 8 Vgl. B EUMER , J., Die Inspiration der Heiligen Schrift (Handbuch der Dogmengeschichte I, 3b), Freiburg 1968 und K ÖPF , U., Art. Inspiration/ Kirchengeschichte, in: Lexikon der Bibelhermeneutik. Hg. von O. W ISCHMEYER in Zusammenarbeit mit E. A NGEHRN , E.-M. B ECKER , M. S CHÖLLER , M. H ABERMANN , U. H.J. K ÖRTNER , J. A. L OADER , C. L UBKOLL , K. P OLLMANN , G. S TEMBERGER , W. W ISCHMEYER , Berlin/ New York [erscheint 2009]. <?page no="22"?> Wolfgang Wischmeyer 22 Zuvor füge ich eine knappe Anmerkung zum Mittelalter ein: Es war die Grammatik 9 , die im „linguistic turn of the 13th. century“ 10 in der spekulativen Grammatik der modisti eine reiche und komplexe Terminologie zur Beschreibung eines geordneten Universums entwickelte, wobei alle Sprachen, 11 auch die Volkssprachen, zu Instrumenten der Modellierung eines geordneten Universums einschließlich der physikalischen Welt wurden. 12 Diese philosophisch-spekulative Grammatik auf der Basis des Aristoteles und der arabischen Kommentare, wie sie zuerst bei Roger Bacon zu finden ist, 13 machte die Grammatik zur Magd der Philosophie, deren Aufgabe es war zu zeigen, wie die Idee der Realität in der Vernunft verstanden und in der Sprache ausgedrückt und wiedergegeben werden konnte. Die Aufgabe bestand also einerseits in der Formulierung von Konzepten der Realitäten und andererseits darin, die zu ihnen passenden sprachlichen Ausdrücke zur Beschreibung des lebensweltlichen Universums zu finden. Dabei fielen Wahrheit und Realität 9 I RVINE , M., The Making of Textual Culture: „Grammatica and Textual Theory 350-1100 (Cambridge Studies in Medieval Lterature 19), Cambridge 1994. 10 S PIEGEL , G., The past as text: The Theory and Practice of Medieval Historiography, Baltimore 1997. Dieser linguistic turn ist von zwei benachbarten Begriffen zu unterscheiden: 1. von der contextual agency, d.h. der social logic of the text, vgl. hierzu den geistreichen Beitrag von P ALMER W ENDEL , L., Ranke meets Gadamer: The Question of Agency in the Reformation, in: O CKER , C./ P RINT , M./ S TARENKO , P./ W ALLACE , W. (Hgg.), Politics and Reformations: Histories and Reformations. Essays in Honor of Rhomas A. Brady, Jr. (Studies in Medieval and Reformation Traditions 127), Leiden 2007, 63-87, und 2. von dem vom vorgängigen poststrukturalistischen linguistic turn. Wir haben es vielmehr mit dem linguistic turn der spekulativen Grammatik zu tun: N I- CHOLS , S.G., Rethinking Texts Throug Contexts: The Case of Le Roman de la Rose, in: M ÜLLER , J.-D./ M ÜLLER -L UCKNER , E. (Hgg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), München 2007, 245-270. P ALMER W ENDEL , 72f., stellt fest und das ist für die hermeneutische Dimension unseres Themas von Bedeutung: „Gadamers´s conceptualization of hermeneutic is essentially dynamic, incorporating both a fundamental attentiveness to time, more precisely to the fluidity of time, to change, and an acute sensitivity to the reader, not as an abstract, but as an individual, situated, in a particular place anda particular time, within a unique experience. His conceptualization of hermeneutic is radically humanistic, positing not one reader, but readers in the multitudes, who are themselves not fixed entities but dynamic, changing, altered through their encounters with persons, objects, and texts. Gadamer anchors hermeneutics to time as it is experienced by individual human beings whether eternal truths exist or not, for Gadamer, the interpretation of those truths is inseparable from the individual human beings who were doing the reading, the discerning, the interpreting, and those human beings exist in a particular moment of experiential specificity.” 11 L USIGNAN , S., Parler vulgairement: Les intellectuals et la langue française aux XIIIe et XIVe siècles, Paris 1987. 12 B URSILL -H ALL , G.L., Speculative Grammars of the Middle Ages: The Doctrine of Partes Orationis of the Modisti (Approaches to Semiotica 11), Den Haag 1971; R OSIER , I., La Grammaire speculative des modistes, Lille 1993. 13 A NTOLIC , P. (Hg.), Roger Bacon. Über Erfahrung, Wissenschaft und Handeln. Eine Auswahl aus dem Opus Maius, Freiburg 2007; vgl. auch U HL , F. (Hg.), Roger Bacon in der Diskussion, 2 Bände, Frankfurt 2001-2002. <?page no="23"?> Wie die große Welterzählung der historia sacra ein Text wurde 23 in der Meistererzählung der Bibel zusammen. Es ging nicht um kritische Auseinandersetzung und Annahme oder Ablehnung, sondern um ihre Deutung. 2 Aspekte der sog. Kopernikanischen Wende Nun hat Klaus Scholder 14 in seiner klassischen Studie zur Frage der - als kirchengeschichtliches Problem verstandenen - Entstehung der historischkritischen Theologie für die frühe Frühneuzeit ein Syndrom verschiedener Faktoren namhaft gemacht, die die Glaubwürdigkeit des biblischen Welt- und Geschichtsbildes erschüttert haben. Darunter sind genuin theologische Faktoren besonders beachtenswert, so bei Fausto Sozzini und den nach ihm genannten Antitrinitariern, die die Kritik am Dogma und dem davon abgeleiteten Geschichtsbild auf die Grundlage einer „moralischen Religiosität“ stellen und damit - von einem humanistischen neuen Lesen der biblischen Texte ausgehend - einen ebenso tiefgreifenden wie irreversiblen Prozess „der Mündigkeit der menschlichen Vernunft“ einleiten 15 . Dabei sind „die Sozinianer überzeugt, dass sie das protestantische Schriftprinzip als einzige konsequent vertreten“ 16 , so dass es 1609 in der ersten Auflage des Rakower Katechismus heissen kann: „Religio Christiana est via patefacta divinitus, vitam aeternam consequendi. At ubi ea patefacta est? In literis sacris praesertim Novi Testamenti. Exstant igitur aliae sacrae literae praeter literas N. Testamenti? Prorsus. Quaenam sunt? Scripta Testamenti Veteris 17 . Einen weiteren wichtigen Faktor in diesem Prozess stellt das schon von Adalbert Klempt 18 beschriebene Ende der theologisch-eschatologischen Deutung der Universalhistorie dar, die etwa grundsätzlich noch bei Melanchthon vorliegt, wenn er zwischen der historia ecclesiastica als Zeugnis für die Heilsordnung unter Gottes geistlichen Regiment und der historia ethnica als Zeug- 14 S CHOLDER , K., Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der historisch-kritischen Theologie (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 10, 33), München 1966. 15 S CHOLDER , Ursprünge und Probleme der Biblekritik, 38-41 mit Verweis auf D ILTHEY , W., Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, in: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von B. G ROETHUYSEN u.a. Band 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Leipzig 1960 6 , 129-137. 16 S CHOLDER , Ursprünge und Probleme der Bibelkritik, 43. Vgl. den hier auch angeführten Merkvers: Alta ruit Babylon; destruxit tecta Lutherus muros Calvinus, sed fundamentum Socianus. 17 Die „via patefacta divinitus“ der 1. Auflage ist in der 3. Auflage der Catechesis Ecclesiae Polonicarum, Stauropolis = Amsterdam 1680, ersetzt durch „via a deo per Jesum Christum monstrata“. 18 K LEMPT , A., Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 31), Göttingen 1960. <?page no="24"?> Wolfgang Wischmeyer 24 nis für die Erhaltungsordnung der Völkerwelt unter Gottes weltlichem Regiment unterscheidet. Die Gesamtdeutung des hiervon bestimmten universalhistorischen Zusammenhanges und damit auch das universale sprachliche Gefüge zerbrechen mit der Destruktion der eschatologischen Gliederung und der geographischen Begrenzung der alten Universalhistorie. 19 Das kopernikanische Weltbild, die neue Geographie, - eine Frucht der Entdeckungsreisen, vor allem aber die neuen von den Humanisten entdeckten und bearbeiteten Geschichtsquellen, besonders diejenigen, die die Welt des Alten Orients betreffen, destruieren die bibelzentrierte eschatologische Gliederung der Geschichte. Davon ist besonders das dem Rabbi Elias zugeschriebene 6000-Jahre-Weltschema betroffen, 20 das bei den Reformatoren das frühjüdische und durch Augustin 21 , später durch Cassiodor 22 , Isidor 23 und Beda 24 für das westeuropäische Mittelalter sanktionierte, an der Schöpfungsgeschichte orientierte Schema der sechs oder sieben Weltzeitalter kurzfristig ablöste. Dabei waren die Reformatoren selbst eben vom Verständnis der biblischen Schriften als historia sacra her an der Geschichte und der Geschichtsschreibung interessiert, wie etwa das auf Philipp Melanchthon zurückgehende ‚Chronicon Carionis’, zuerst deutsch 1532, als weit verbreitetes Lehrbuch der Weltgeschichte zeigt, das das Lob der Bibel als Geschichtsquelle, die allen anderen vorzuziehen sei, stark in den Vordergrund stellt: „Das ist ein einzigartiges Schmuckstück der Kirche, weil eine ältere Reihe von Herrschern und Zeiten im ganzen Menschengeschlecht nirgendwo anders gefunden werden kann und kein Volk für die Vergangenheit solch zuverlässig kommentierte Jahreszählungen besitzt“ 25 . Hier stimmt auch Flacius ganz mit Melanchthon überein 26 . 19 Zum eigentlichen Skeptizismus: P OPKIN , R.H., Histoire du scepticisme d´ Érasme a Spinoza, Paris 1995 [ engl.: The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, University of California 1979]. 20 Vgl. R OTTZOLL , D.U., Abraham ibn Esras Kommentar zur Urgeschichte ( Studia Judaica 15); Berlin 1996, 49 zu Gen 1, 5: „Es gibt aber einen tieferen Sinn bezüglich der Erklärung (des Midrasch ): Sechstausend Jahre wird die Welt bestehen und eintausend (Jahre) zerstört sein.“ Dazu R OTTZOLL , Abraham ibn Esras Kommentar zur Urgeschichte, Anm. 128: „Gemeint ist bSanh 97a (vgl. bRH 31a ): ‚R. Kattina sagte: Sechstausend Jahre wird die Welt bestehen und eintausend ( Jahre ) zerstört sein. Es lehrte R. Elijahu: Sechstausend Jahre der Nichtigkeit: zweitausend Jahre , zweitausend der Tora (und) zweitausend Jahre der Tage des Messias’.“ 21 Doch vgl. neben dem dichterischen Schluss des Gottesstaates auch seine skeptischen Äusserungen in sermo 93 (PL 38), 576: sex millia annorum exspectabantur, et ecce transierunt, unde scimus iam quando veniet? Media nocte veniet. Quid est media nocte veniet? Dum nescis veniet. 22 Cassiodor, Expositio Psalmorum (CCSL 97) zu Ps 6,20-26. 23 Isidor, Mysticorum expositiones in Genesim (PL 83, 207-424, 438-442) 7,17-19. 24 Beda, Explanatio Apocalypsis (CCSL 121A) 2,13. 25 CR 12,714. Ähnlich betont Luther in der 1541 erschienenen Schrift ‚Supputatio annorum mundi’, wenn die Geschichtsschreiber darüber klagen und auch anderen Grund zur <?page no="25"?> Wie die große Welterzählung der historia sacra ein Text wurde 25 Und aus solcher Überzeugung entwickelt sich für den dritten Zweitausendjahreabschnitt, also die Geschichte des Christentums, die kontroverstheologische Kirchengeschichtsschreibung. Zuerst geschieht dies auf protestantischer Seite durch Flacius Illyricus und seine Mitstreiter zur Befreiung von den mit der Bibel und der alten Kirche im Widerspruch stehenden Traditionen im ‚Catalogus testium veritatis’ 1556 und im Werk der Magdeburger Centurionen. Es folgt die Antwort auf altgläubiger Seite zum Aufweis der in der Kirche stets weiterlebenden Wahrheit und der auf das gute kirchliche Altertum zurückgehenden Traditionen von Lehre und Leben der Religion, sei es im römischen Oratorium des Filippo Neri mit Cesare Baronio oder Antonio Bosio, sei es im jesuitischen Umfeld bei den Bollandisten im Jahrhunderte-Unternehmen der ‚Acta Sanctorum’. All dies führt im historischantiquarischen Kontext vormoderner Historiographie humanistischer Interessen zu einer umfangreichen und sich ständig vermehrenden Kenntnis von Texten der Antike. Gleichzeitig werden die Kriterien und Methoden zur Beurteilung und Interpretation der Quellen nach den besseren Kenntnissen zur Chronologie und historischen Topographie entwickelt. Diplomatie und Paläographie, die im Werke von Jean Mabillon 27 eine bis heute reichende Gültigkeit für den Bereich einer philologisch bestimmten und interessierten Historiographie besitzen, treten hinzu. Zu diesem Zeitpunkt, der durch eine akribische Sammellust, ja Jagd auf neue Texte und ein spekulatives Bemühen, sie auf einer von verfälschender und verstellender Tradition befreiten Art und Weise zu verstehen, gekennzeichnet ist, aber auch durch eine neue, nicht traditionsgebundene, sondern ursprungsorientierte und moralisch zentrierte Religiosität, stehen ebenso plötzlich wie konsequent die Fragen nach der Glaubwürdigkeit des rezipierten biblischen Weltbildes und der biblischen Weltgeschichte im Raum, die bisher durch die kirchlich-theologische Tradition, die sie aufgebaut hat, unhinterfragt geblieben sind. Die sogenannte kopernikanische Wende betrifft auch das Problem der Weltgeschichte und damit die Theologie, und hier geht es gerade um ihr Verhältnis zu den biblischen Schriften in ihrem Verständnis als historia sacra. Die theologisch-eschatologische Gesamtdeutung des universalhistorischen Zusammenhanges löst sich auf oder wird zumindest fragwürdig. Dies gilt auch für die zuletzt in Wittenberg herausgearbeiteten Unterscheidungen Klage geben, „das es jnen mangele an gewisser rechnung der Jahre. Darumb habe ich dieselben in dieser arbeit faren lassen und habe diese rechnung aus der Heilgen schrifft furnemlich zu wege bringen wollen. Denn auff dieselbe können und sollen wir unss warhafftiglich und mit bestendigem Glauben verlassen“ (WA 53,22). 26 Flacius, Clavis scripturae sacrae, ed. J. Musaeus, Jena 1764, 1,90: „Nos tamen secuti sumus (quantum fieri potuit) Scripturae […] auctoritatem; cui adhaerere tutissimum esse novimus.“ 27 B UTTERWECK , C., Art. Mabillon, Jean, in: RGG 4 V (2002), 634, vgl. auch R UINART , T., Abrégé de la vie de dom Jean Mabillon (1709). Texte présenté et annoté par T. B ARBEAU , Solesmes 2007. <?page no="26"?> Wolfgang Wischmeyer 26 zwischen Gottes Heils- und Erhaltungsordnung, die die historia ecclesiastica als Zeugnis für die Heilsordnung unter Gottes geistlichem Regiment und die historia ethnica als Zeugnis für die Erhaltung der Völkerwelt unter Gottes weltlichem Regiment betrachtet und beide unterscheidet. Mit der Destruktion der eschatologischen Gliederung und Begrenzung der Universalhistorie kommt es aber im Zusammenhang der Anfänge einer welthaftgeschichtlichen Betrachtung der Universalhistorie und der Erschließung des weltlichen Aspekts stofflicher Universalität der Menschheitsgeschichte für Theologie und Philosophie zum Problem einer doppelten Wahrheit, an dem sich René Descartes, vor ihm aber schon Jean Bodin abarbeiten, dessen juristische und politikwissenschaftliche Werke oft seine wichtigen Beiträge zur Theologie, Geschichte und Natur in den Schatten gestellt haben. 28 3 Aspekte der „Crise de la Conscience Européenne“ Diese Fragestellungen führen zu der durch das Werk von Paul Hazard berühmt gewordenen „Crise de la Conscience Européenne“. 29 Der große belgische Historiker setzt aber diese geistesgeschichtliche Bewegung mit 1680 zu spät an, wie die Forschung seit der Erstpublikation von 1935 herausgearbeitet hat, und konzentriert die Bewegung zu einseitig in Frankreich. Darauf hat schon Klaus Scholder hingewiesen, jetzt beschäftigt sich besonders Jonathan I. Isra- 28 Vgl. allgemein: B LAIR , A., The Theater of Nature. Jean Bodin and Renaissance Science, Princeton 1997; C OUZINET , M.-D., Jean Bodin (Bibliographie des écrivains français 23), Paris 2001; B EAULAC , S., The Power in the Making of International Law. The Word Souvereignty in Bodin and the Myth of Westphalia (Developments of International Law 46), Leiden 2004; V OEGELIN , E., Jean Bodin. Hg. von P.J. O PITZ , München 2003; P ÉROUSE , G.-A. (Hg.), Jean Bodin (Colloques, congrès et conférences sur la Renaissance 41), Paris 2004; O PITZ , C., Das Universum des Jean Bodin. Staatsbildung, Macht und Geschlecht im 16. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 53), Frankfurt 2006; speziell zur Religion bei Bodin: B ODIN , J., Colloquium heptaplomeres (Fak. der Ausgabe 1857), Stuttgart 1966; F ALTENBACHER , K.F., Das Colloquium Heptaplomeres und das neue Weltbild Galileis. Zur Datierung, Autorschaft und Thematik des Siebenergesprächs (AdWMainz Abh. Geistes- und sozialwiss. Kl.), Stuttgart 1993, 2; ders. (Hg.), Magie, Religion und Wissenschaften im Colloquium heptaplomeres (Beiträge zur Romanistik 6), Darmstadt 2002; G AWLICK , G. (Hg.), Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres (Wolfenbütteler Forschungen 67), Wiesbaden 1996; H ÄFNER , R. (Hg.), Bodinus Polimeres (Wolfenbütteler Forschungen 87), Wiesbaden 1999; und zur Geschichte: B ODIN , J., Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Amsterdam 1650 (ND Aalen 1967); B ROWN , J.L., The Methodus ad facilem historiarum cognitionem of Jean Bodin, Washington 1939 ( = Studies in the Romance Languages and Literature 18, New York 1969); F RANKLIN , J.H., Jean Bodin and the Sixteenth-century Revolution in the Methodology of Law and History, New York 1966. 29 H AZARD , P., La Crise de la Conscience Européenne, Paris 1935 [dtsch.: Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1965 5 ]. <?page no="27"?> Wie die große Welterzählung der historia sacra ein Text wurde 27 el mit dem Thema. 30 Für J. Israel erschließt sich im Rahmen seines magistralen Überblicks zur frühneuzeitlichen europäischen Wirtschafts- und Politikgeschichte 31 mit den Schwerpunkten der Niederlande und des Judentums auch diese wichtige Facette, die den Blick auf die zeitgenössische Philosophie- und Theologiegeschichte eröffnet. Wir finden hier das Problem der doppelten Wahrheit in sehr unterschiedlichen Brechungen vor. 32 Schon Bodins Konzeption eines universalhistorischen Zusammenhangs der Kultur eröffnet ein Programm universalhistorischer Betrachtung der Bildungs- und Geistesgeschichte. Die Gliederung der Universalhistorie in die Epochen Antike, Mittelalter und Neuzeit und die Ersetzung der biblizistischen Weltära durch die historisch fixierte Zeitrechnung „ante Christum natum“ führt zur Erschließung des welthaften Aspekts zeitlicher Universalität der Menschheitsgeschichte. Peyrères spekulative Erweiterung der biblischen durch die außerbiblische Urgeschichte und der Blick auf die präadamitische Geschichte mit ihrer Chronologie einer präadamitischen Völkerwelt sowie die Erweiterung des universalhistorischen Blickfeldes durch die Erschließung der Geschichte Chinas und der „Neuen Welt“ sind hier ebenso von grundsätzlicher Bedeutung wie die Destruktion der biblizistischen Weltchronologie durch den Streit um die wahre Weltära und die historische Bibelkritik Richard Simons. 33 Die Erschließung des welthaften Aspekts räumlicher Universalität bringt die Betrachtung der Menschheitsgeschichte als eines globalen Panoramas in geographisch-ethnographischer Gliederung mit sich. In den Bereich des niederländischen Späthumanismus und seiner geistesgeschichtlichen Fortsetzung führt uns ein weiterer Teil unserer Überlegungen. Wir beginnen mit Hugo Grotius (1583-1645) 34 und seinem ‚Meletius’ 35 . In 30 I SRAEL , J.I., Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, Oxford 2001. 31 European Jewry in the age of mercantilism 1550-1750, Oxford 1985 (London 1998 3 ); ders., The Dutch Republic and the Hispanic World 1606-1661, Oxford 1986; ders., Dutch primacy in world trade 1585-1740, Oxford 1989; ders. (ed.), The Anglo-Dutch moment. Essays on the Glorious Revolution and its World Impact, Cambridge 1991; ders., Nederland als centrum van de wereldhandel 1585-1740, Franeker 1991; ders., The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477-1806, Oxford 1995; ders., De republiek, 2 Bände, Franeker 1997; ders., Conflicts of Empires. Spain, the Low Countries, and the Struggle for World Supremacy, 1585-1713, London 1997; ders., Diasporas within a diaspora. Jews, Crypto-Jews, and the World of Maritime Empires (1540-1740), Leiden 2002; ders., Monarchy, Orangism, and Republicanism in the later Dutch Golden Age (Golden Age Lecture 2), Amsterdam 2004. 32 Vgl. S ZAIF , J./ F LADERER , L./ B ÖHM , T. u.a., Art. Wahrheit, in: HWPh 12 (2004), 48-123. 33 R EISER , M., Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (WUNT 217), Tübingen 2007, 185ff. 34 M ÜHLEGGER , F., Hugo Grotius. Ein christlicher Humanist in politischer Verantwortung (Arbeiten zur Kirchengeschichte 103), Berlin 2007. <?page no="28"?> Wolfgang Wischmeyer 28 den Paragraphen 43 bis 51 betont Grotius als Mittel zur Wiederherstellung des Menschen zuerst die Bedeutung der Offenbarung. Dabei ist es die Besonderheit des Christentums, dass eine von Gott selbst empfangene Offenbarung weitergegeben wird: Habet hoc ergo privilegium christiana religio quod sola quicquid de Deo rebusque divinis tradit. Id se a Deo ipso accepisse profitetur, cuius vox per sanctissimos vates ac postremo per ipsum enuntiata, quo certior ad nos perveniret, scriptis quoque comprehensa est”. 36 Als zweites Hauptstück wird das Vorbild Christi in den Paragraphen 56ff. behandelt. Dazwischen steht der Exkurs der Paragraphen 52 bis 55 zur Wahrhaftigkeit der Schrift, d.h. während sonst die Schriftlehre zu den Prolegomena der Dogmatik gehört, fügt Grotius sie als Teil der Soteriologie zwischen Christologie und Pneumatologie ein, weil er den Erweis der Wahrheit des Christentums nicht mit der Offenbarung der Wahrheit, sondern mit der Vernunft zu erreichen versucht. Aber auch hier finden sich kaum Schriftstellen, sondern Vernunft und Philosophie müssen die Hauptlast der Argumentation tragen. Die Wahrheit der Schrift erweist sich dabei für Grotius in sechs Punkten: 1. Die Wahrheit erweist sich aus ihrem Inhalt: Hinsichtlich der Geschichte und Ethik ist in den biblischen Schriften nichts enthalten, was Gottes unwürdig wäre bzw. nicht zur besten Ethik führe, anders als bei der antiken Dichtung und Geschichtsschreibung (§52). 2. Die Wahrheit erweist sich aus der Kohärenz der Schrift, da die Schrift selbst viele Zeugen anführt. 3. Die Wahrheit erweist sich aus ihrem Alter (§53): Sie enthält Berichte aus der Zeit zwischen der Sintflut und dem Trojanischen Krieg (nach Varro tempus fabulosum, also „mythische Zeit“). Ihr ältester Autor: Mose — nach Diodor der älteste bekannte Gesetzgeber — ist auch der älteste bekannte Schriftsteller, ja sogar die Schrift der Griechen — hier folgt Grotius seinem Lehrer Scaliger — stammt über die phönizische von der hebräischen Schrift ab. 4. Die Einfachheit des Stils dient als Beweis der Wahrheit 37 (§54) nach Dionysius Longinus, der Mose mit Zitaten aus dem Schöpfungsbericht würdigt. 5. Einfachheit als Teil der Erhabenheit bewirkt aber ebenso, dass die Schrift auch Ungelehrten zugänglich ist und hier kein Unterschied zwischen den Menschen besteht (§ 55). Anderswo gibt es Umwege, wie etwa im Phytagoreismus über die Mathematik, d. h. anderswo erweisen sich diese Wege als unwahr, weil sie nicht allen offen stehen: Quod et ipsum insigne est argumentum non esse illas alias veras ad Deum cognoscendum vias, quia non in commune omnibus patent. Deus autem, qui communis omnium Deus est et omnibus inde, sine dubio talem instituit ad se venienti rationem, quae aeque aperta sit et docilis. 35 G ROTIUS , H., Meletius sive de iis quae inter Christianos conveniunt epistola. Translated by G.H.M. P OSTHUMUS M EYJES (Studies in the History of Christian Thought 40), Leiden 1988. 36 § 51, 3, Z. 380-384. 37 Für Grotius der Philosoph und Rhetoriker des 3.Jh.n. Heute wird die Schrift ‚Über den einfachen Stil’ ins 1.Jh. n.Chr. datiert; vgl. B LUME , H.-D., Art. Ps. Longinos, in: DKP 3 (1969), 733f. <?page no="29"?> Wie die große Welterzählung der historia sacra ein Text wurde 29 6. Eine bestimmte Richtschnur ist durch Gott erlassen, um zu vermeiden, dass die Menschen durch die verschiedenen Meinungen der Philosophen verwirrt werden und sich jeder Religion enthalten: Haec autem doctrina, extare certam religionis regulam a deo traditam, et Dei bonitati convenit et plurimum ad parandas regendas mentes pertinet, ne homines inter tot diversas philosophorum sententias et populorum instituta incerti fluctuent aut hoc obtentu ab omni religione abstineant (§55). Durch den Streit um Descartes 38 wird die Frage nach dem rechten Zugang zu biblischen Texten weitergeführt, insbesondere in der Auseinandersetzung der Cartesio-Cocceianer (neue Philosophie) gegen die Aristotelio-Voetianer (philosophia aristotelio-scholastica). Protagonisten sind hier auf der einen Seite Johannes Cocceius 39 und Christopher Wittichius 40 , Verfasser eines Anti- Spinoza 41 und des ‚Consensus veritatis in Scriptura divina et infallibile cum veritate philosophica’ 42 und auf der anderen Seite vor allem Gijsbertus Voetius 43 . Die Position der Cartesio-Cocceianer besteht darin zu behaupten, dass die Philosophie so sicher eine göttliche Wahrheit ist wie die Heilige Schrift, nämlich ein Brief Gottes 44 , untrüglich, ein Maßstab für die Schrift, so dass, was der Philosophie widerspricht, falsch ist. Demgegenüber steht die orthodoxe Gegenposition: Philosophie ist nicht frei und hat keinen unabhängigen status oder eine absolute Gültigkeit, sondern ist lediglich eine Dienstmagd der Theologie. Wittichius behauptet dabei zwar, was wir von innen, allein aus der reinen Vernunft kennen, müssen wir als uns von Gott offenbart betrachten 45 . Ursache und Grund des Gebrauchs der rechten Vernunft ist Gott selbst. Es ist unmöglich, dass Gottes Offenbarung mit dem natürlichen Licht der klaren und distinkten Ideen nach Descartes in Konflikt gerät. Das besitzt Auswirkungen für die Exegese, die noch durch die kopernikanischgalileische Revolution verstärkt werden. Die Cocceianer verstehen Schriftstellen allegorisch oder figurativ, weil sie nicht in der Absicht geschrieben seien, wörtlich verstanden zu werden. Das provoziert die Voetianische Position, die kritisiert, die Cocceianer unterwürfen die Bibel systematisch der philosophischen Vernunft, Philosophie und Philosophen würden die Interpreten der Bibel in Sachen Natur, für welche der Heilige Geist an vielen Punkten gemäß der irrtümlichen Meinung des gewöhnlichen Volkes jener Zeit spreche. Voetius verteidigt die orthodoxe Hierarchie der Disziplinen und „the substantial forms“ des Aristoteles, weil 38 I SRAEL , Radical Enlightement, 25ff. 39 1603-1669, *Bremen , Professor in Leiden; vgl. I SRAEL , The Dutch Republic, 667f, 889- 899. 40 1625-1687. 41 Amsterdam 1690. 42 Leiden 1682. 43 1589-1676; Professor in Utrecht , chiefspokesman der scholastischen Aristoteliker. 44 Man erinnert sich an den Brief der Natur und den der Offenbarung im Streit um die doppelte Wahrheit. 45 Vgl. W OLZOGEN , L., De scripturarum interprete, Utrecht 1688. <?page no="30"?> Wolfgang Wischmeyer 30 Genesis und Proverbien von „permanent natures“ und „distinct species“ 46 der Dinge so sprechen, wie es das scholastische Konzept stärkt, und damit den Primat der Theologie über alles Wissen einschließlich der Philosophie sichern. Die Konsequenz der Verwerfung der aristotelischen Kategorien und der damit verbundenen Revolution der Ideen und der Aufgabe der Hierarchie der intellektuellen Disziplinen war aus konservativer Sicht eine soziale, moralische, religiöse und politische Katastrophe. Diese Betrachtungsweise gilt für Katholiken und Protestanten gleichermaßen. Dagegen steht Wittichius mit seiner Überzeugung, eine philosophische Kenntnis der Naturdinge könne man nicht aus den heiligen Büchern haben. Das heißt aber nicht, dass man Theologie auf die Philosophie reduziert oder sich Übergriffe auf die Autorität der Schrift leistet. Petrus von Mastrich, seit 1678 der Nachfolger des Voetius in Leiden, stellt in der Schrift ‚Novitatum Cartesianarum Gangraena’ von 1677 dagegen polemisch die These vom „spinozistischen Cartesianismus“ auf. Cartesio-Cocceianer machen sich die kopernikanisch galileische Himmelsmechanik von der Erdbewegung um die Sonne zueigen, die damit erst um 1650 im intellektuellen Bewusstsein Europas als ein Schlüsselelement der neuen Philosophie wichtig wird. Auch hier geht es der orthodoxen Partei des Voetius und der Calvinisten vor allem mehr um die Schriftautorität und die Einheit der Wahrheit einschließlich der Kategorien des Aristoteles als um die Beurteilung des astronomischen Befundes. Seit Ende der 1650er Jahre wurde der Heliozentrismus in den Niederlanden auf allen Ebenen diskutiert, wobei es die carthesisch-cocceianische Position war, dass die theoretische und experimentelle Philosophie die Wahrheit der kopernikanischen Thesis bestätigt und, so Wittichius, die Heilige Schrift gemäß der äußeren Erscheinung der Dinge redet, wie sie unseren Sinnen erscheint. Nach den orthodoxen Calvinisten (Mastricht) lief das darauf hinaus zu sagen: Gott sagt uns Dinge, von denen er weiß, dass sie nicht wahr sind, in anderen Worten: Er belügt uns. Da in der Geschichte von Josua und anderswo (Pred 1,4-7; Ps 19,5-7) die Heilige Schrift deutlich bestätigt, dass die Sonne um die Erde kreist, muss das so sein. Die voetianische Kampagne gegen den kopernikanischen Heliozentrismus ging bis Ende des 17. Jahrhunderts und wurde von Mastrich und Melchior Leydekker (1642-1721) angeführt. Ihre These lautet: Der „Gott“ der Cartesianer ist nicht der wahre Gott, der das Universum regiert und bewahrt und in das Menschenleben eingreift, sondern ein abstraktes Prinzip: „Deus primaria est motus causa.“ Dagegen argumentiert Wittichius: die Meinung, dass die Schrift Naturdinge gemäß der Meinung des einfachen Volkes erklärt, impliziert nicht, dass Gott uns absichtlich anlügt oder dass er die Theologie der Vernunft unterwirft. 1656 erging das Edikt des Pensionärs Johan de Witt (1625 1672) mit Hilfe des Leidener Theologen Abraham Heidanus (1597-1678), der der cartesisch- 46 I SRAEL , Radical Enlightement, 26. <?page no="31"?> Wie die große Welterzählung der historia sacra ein Text wurde 31 cocceianischen Partei angehörte, um den Missbrauch der Philosophie zum Schaden der wahren Theologie und der Heiligen Schrift zu vermeiden: Theologie und Philosophie sollten so weit wie möglich getrennt werden als „different spheres of activity“. 47 Das war ein Sieg der Cartesianer, die nun weiter philosophieren durften, - aber ohne den Namen Descartes’ oder seine Werke zu nennen. Freilich mussten sie, - auch diese Bedingung enthält das Edikt - Achtung vor der Theologie haben und streitsüchtige Schriftauslegung ihren Prinzipien gemäß vermeiden. Nach dem Katastrophenjahr 1672 und de Wits Absetzung kam es zur voetianische Reaktion unter dem Leidener Theologen Friedrich Spanheim (1632- 1701), einem vergeblichen Versuch, den Cartesianismus aus der akademischen Kultur Hollands zu vertreiben, mit den 1676 von Willem III. anerkannten „Zwanzig Leidener Thesen“ mit verdammenswerten Sätzen von Descartes. Darunter befindet sich auch der den Cartesianern vorgeworfene, aber bei ihnen nicht zu belegende Satz: „Philosophie ist der Dolmetscher der Schrift“. Die Jahre 1680 bis 1720 sollten dann aber den Aufstieg des Cartesianismus und seinen Vorrang an allen Universitäten und Hohen Schulen der Niederlande und in allen weiteren Bereichen des intellektuellen Lebens sehen. 48 47 I SRAEL , Radical Enlightement, 28. 48 Zur weiteren Entwicklung besonders im deutschsprachigen Raum vgl. O TTO , R., Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert , Frankfurt am Main 1994, sowie F REI , H.W., The Eclipse of Biblical Narrative. A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics, New Haven 1974 und L AMBE , P.J., Critics and Skeptics in the Seventeenth-Century Republic of Letters (HTR 81), 1988, 271-296, hier: 295f.: „If Protestant theologizing is primarily dialectic of centering on the fragile opposition between belief and unbelief, the kairos point between justification and estrangement from the divine, then the kinds of ambiguity set up by the engagement between sceptical criticism and theology must interiorize into scholarship the kind of faith-struggle that the doctrine of justification poses for life [...] Protestants were particularly vulnerable to overtones of scepticism which accompanied eighteenth-century ideas of criticism, because they had in principle rejected ecclesial structures of authority such as the Roman church represented. Ideas of individualism, though not at this stage entirely developed, were more easily stimulated by the “think-for-yourself” popularism encouraged by the Enlightenment. This vulnerability became built into Protestant theology and produced a peculiarly Protestant characterization of the development of biblical criticism. It is by no means clear that things could have evolved any differently. The seventeenth-century environment transported negative aspects onto criticism, even without a thoroughgoing scepticism. The dialectic base that developed within Protestantism was part of a wider recasting of intellectual perceptions, subject to commercial forces of the press and to religious considerations. Controversy was endemic to the period, as was popularism. In the eighteenth century Protestantism gradually introduced this spirit, as its own defensive scholasticism crumbled. In this respect Protestantism coped much earlier than Roman Catholicism with the phenomenon of secularization and provided an extraordinarily fruitful theologization of the vulnerability of faith.” Daraus entstandene Theologie und Kritik waren höchst einflussreich für die westliche Christenheit. Aber die positiven Aspekte der Kritik wurden beiseite gelassen. Eine kairós- Theologie, die den Geist der Skepsis als eine Art dialektischen „sparring partner“ verinnerlichte, triumphierte über eine „theology of nurture“. <?page no="32"?> Wolfgang Wischmeyer 32 Literatur A NTOLIC , P. (Hg.), Roger Bacon. Über Erfahrung, Wissenschaft und Handeln. Eine Auswahl aus dem Opus Maius, Freiburg 2007. B EAULAC , S., The Power in the Making of International Law. The Word Souvereignty in Bodin and the Myth of Westphalia (Developments of International Law 46), Leiden 2004. B EUMER , J., Die Inspiration der Heiligen Schrift (Handbuch der Dogmengeschichte I, 3b), Freiburg 1968. 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W OLZOGEN , L., De scripturarum interprete, Utrecht 1688. <?page no="35"?> Stephan Kammer Text als Medium - Text als Struktur. Zur Verständigung über ein literatur- und kulturwissenschaftliches Schlüsselkonzept In die Debatten um Gegenstand und Methode der Literaturwissenschaften, die Ende der 1990er Jahre mit einiger Intensität geführt wurden, mischte sich die folgende kleine Erzählung: „Zur Erstellung der Stichwortliste für das neue Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft zogen die Herausgeber zusätzlich zu ihrem eigenen Fachwissen umfangreiche Forschungsliteratur und natürlich die Stichwortlisten früherer Lexika heran und kamen schließlich auf die stattliche Summe von beinahe eintausend Stichwörtern und einem Vielfachen von Unterstichwörtern. Erst als die Liste nahezu vollständig war, fiel einem der Herausgeber beiläufig auf, daß ein Stichwort noch fehlte: das Stichwort ‚Text’.“ 1 - Unter all den Pathosformeln von katastrophischem Ende oder notwendigem Neubeginn, von Gegenstandsverlust oder Paradigmenwechsel, die diese theoretische Auseinandersetzung geprägt haben, nimmt sich die Episode recht unspektakulär aus - als Marginalie angesichts der Kompetenzansprüche mit Maximalreichweite, zu denen sich die Verteidiger des traditionellen literaturwissenschaftlichen Terrains ebenso verpflichtet gefühlt haben wie dessen kulturwissenschaftliche Invasoren. Die Beiläufigkeit, die sie angesichts der Entdeckung der nomenklatorischen Lücke rapportiert, scheint die ganze Erzählung selbst auszuzeichnen. Erschreckt oder vergnügt mag man, je nach Standpunkt, die Pointe zur Kenntnis nehmen, dass in einem literaturwissenschaftlichen Prestigeunternehmen ersten Ranges das Lemma „Text“ beinahe vergessen und gleichsam nur per Zufall aufgenommen worden ist, um dann wieder zum Tagesgeschäft der Positionsbestimmung im diskursiven Feld überzugehen. Wie aber, wenn diese kleine Erzählung mehr und anderes wäre als eine bloße, obgleich möglicherweise symptomatische Randnotiz im theoretischen Streit? Wenn sie sich als Ergebnis eines raffinierten, strategisch geschickt plazierten Kalküls lesen ließe, in dem die Basisvoraussetzungen der verhandelten Problematik nicht nur gebündelt, gleichsam konzentriert zu Tage träten, sondern zugleich auch kommentiert würden? Will man diesem Verdacht folgen, empfiehlt es sich zunächst, diese Geschichte vom um ein Haar vergessenen Lemma auf ihren spezifischen Status hin zu prüfen. Sie gehört 1 B AßLER , M., Stichwort Text. Die Literaturwissenschaft unterwegs zu ihrem Gegenstand, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 42 (1998), 470. <?page no="36"?> Stephan Kammer 36 ihrerseits zu einer Textgattung - einer, der man seit gut 250 Jahren kaum Literatur-, geschweige denn Theoriefähigkeit zugestanden hat: der Anekdote. Sie erfüllt voll und ganz die beiden Bedingungen, die für die Gattungsbestimmung und -tradition gemeinhin in Anschlag gebracht werden - sowohl jenen zwischen Gerücht und Insiderwissen oszillierenden Status des so nicht für die Öffentlichkeit Bestimmten, der in der Etymologie des „anékdoton“ angelegt ist, als auch, damit verbunden, den tendenziell subversiven Gestus einer „unterdrückte[n] Gegengeschichte“, den man solchermaßen Unveröffentlichtem gerne zugesteht. 2 Als „anékdoton“ tritt die kleine Erzählung in den Raum des Diskurses, als ob niemand so recht die Verantwortung für ihre Herausgabe, die „ékdosis“ übernehmen wollte, die sie dort einspeist; als ob selbst im Moment ihrer Veröffentlichung nicht die ganze Geschichte präsentiert werden könnte - welchem der Herausgeber beispielsweise das Fehlen des Lemmas aufgefallen ist, erfahren wir nicht; als ob überhaupt die ganze Sache gleichsam nur aus Versehen ans Tageslicht träte. „Wenn die Anekdote Geschichten passieren läßt“, so hat es Marianne Schuller in der Auseinandersetzung mit einem der literarischen Strategen des Anekdotischen, Heinrich von Kleist, formuliert, „kommt mit ihr das Zufällige und Kontingente ins Spiel“ 3 - das zumindest ist das Kalkül der Form, und es scheint auch das Kalkül der Setzung zu sein, mit der diese spezielle Anekdote in die Grundsatzdebatte der Literaturwissenschaft eingespeist worden ist. So verdoppelt und reflektiert die Anekdote dadurch, dass sie von der zufälligen Rettung des Textbegriffs in die lemmatische Ordnung des Literaturlexikons erzählt, die beiden Seiten, vielleicht gar die Ambivalenz, die dessen Gebrauch in den Literaturwissenschaften innewohnt. Da ist auf der einen Seite die sorglose Allgegenwärtigkeit, mit der spätestens seit den 1970er Jahren die Terminologie des „Texts“ in die unterschiedlichsten Bereiche und Verwendungszusammenhänge diffundiert ist. Nicht selten drängt sich dabei der Verdacht auf, als sei die theoretische Erkenntnis, dass es kein „Text-Außen“, keinen „hors-texte“ gebe, für eine phänomenologische oder gar empirische Devise genommen worden. So kann beispielsweise ein Almanach im Jahre 1990 unter dem (Roland Barthes entliehenen) Titel „Die Lust am Text“ einen wahren Zettelkasten von Exzerpten über das Lesen ausschütten, ohne zu bemerken oder zumindest zu reflektieren, dass in der Heterogenität, ja Heteronomie der darin auftretenden Leseszenen eine Subversion gegenüber, zumindest aber eine gewichtige Differenz zu einem scheinbar übergeordneten strukturalen Einheitsprinzip zu Tage tritt - es sei denn, man nähme (dann allerdings dezidiert gegen Barthes) den Textbegriff ausschließlich für den 2 Zu dieser Doppelbestimmung vgl. die instruktive literaturgeschichtliche Überblicksdarstellung von H ILZINGER , S., Anekdote, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, 7-26, hier: 8. 3 S CHULLER , M., Zu klein für zwei. Eine Anekdote Kleists, in: S CHULLER , M./ S CHMIDT , G. (Hgg.), Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld 2003, 120. <?page no="37"?> Text als Medium - Text als Struktur 37 manifesten Umgang mit den Materialien des Lesens und Schreibens in Anspruch, um die es den ausgezogenen Erzählpassagen und Essaybruchstücken vorrangig zu tun ist. 4 Auf der anderen Seite steht eine allgegenwärtige Sorglosigkeit im Umgang mit dem Textbegriff gerade in Zusammenhängen, denen eine Präzisierung des Begriffs und seiner Verwendungsmöglichkeiten doch gut anstünde. Wenn angehenden Literaturstudenten auf der ersten Seite eines Einführungsbandes die ernüchternde Erkenntnis mit auf den Weg gegeben wird, „was denn überhaupt ein Text ist“, sei so „elementar wie schwer zu beantworten“, der Band sich aber mit dem fadenscheinigen Vorwand um eine Antwort drückt, irgendwie ginge es ja immer um diese Frage, 5 dann braucht man sich über das konzeptuelle und terminologische Durcheinander nicht zu wundern, das auch auf den weiteren Etappen des literaturwissenschaftlichen Werdegangs anzutreffen ist und das einem im alltäglichen Reden und Schreiben nur zu gerne unterläuft. „Text“ soll sein: sprachliche Struktureinheit und Phase eines literarischen Schaffensprozesses, Ordnungsprinzip der Weltwahrnehmung und Effekt typographischer Darstellungsformen, Gegenstand der Deutung und Kommentierung und jenes gekaufte, geliehene, kopierte und nach Möglichkeit sorgfältig gelesene Stück bedruckten Papiers, das man seine Studenten in die Seminarsitzungen mitzubringen auffordert. Das Problembewusstsein dafür, inwiefern diese disparaten Gebrauchsmöglichkeiten miteinander harmonieren könnten oder eher nicht, verschwindet hinter einer im Normalfall durchaus funktionierenden, unter kritischen Bedingungen aber umso sicherer versagenden Scheinevidenz. Die Latenz des nomenklatorischen Bemühens, in deren Nähe der Textbegriff von der Anekdote gerückt wird, wäre so symptomatisch für den bei weitem nicht nur literaturwissenschaftlichen Alltagsgebrauch in Anschlag zu bringen. In der im letzten Moment vermiedenen Fehlleistung manifestiert sich - so müsste eine gewissermaßen „freudianische“ Lektüre der kleinen Erzählung lauten - das Begehren eines wissenschaftlichen Diskurses, in seinem Tagesgeschäft nicht von den möglicherweise krisenerzeugenden Belastungen der Begriffsreflexion behelligt zu werden: eine Vermeidung zwecks Aufwandersparnis. Und schon wenn man sich auf die 1997 bis 2000 im ‚Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft’ geführte Debatte darüber be- 4 Kopfbahnhof. Reclam-Almanach 1: Die Lust am Text, Leipzig 1990. - Barthes’ ‚Plaisir du texte’ (1973) selbst ist durchaus der Versuch einer Revision des strukturalen Textbegriffs mit Blick auf die genannte Differenz; nicht zufällig ist der Essay gleichzeitig zu dem dafür zentralen, zu Barthes’ Lebzeiten unpublizierten Enzyklopädieartikel ‚Variations sur l’écriture’ (B ARTHES , R., Œuvres complètes. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par É. M ARTY , Band 4, Paris 2002, 267-316) und zu anderen Beiträgen entstanden, in denen Barthes seinen Fokus vom „Text“ auf die „écriture“ - die Schrift/ das Schreiben - rückt. Vgl. dazu G IURIATO , D./ K AMMER , S., Die graphische Dimension der Literatur? Zur Einleitung, in: Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, hg. von D. G IURIATO und S. K AMMER , Basel/ Frankfurt am Main 2006, 13-15. 5 P ECHLIVANOS , M. u.a. (Hgg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart/ Weimar 1995, 3. <?page no="38"?> Stephan Kammer 38 schränkt, ob „der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden“ komme, fällt in der Tat auf, dass in den Beiträgen auffallend viel von Fachlegitimation und Zuständigkeitsansprüchen, auffallend wenig aber vom möglicherweise selbst problematischen Status des genuin literaturwissenschaftlichen „Gegenstands“, des (literarischen, poetischen) Texts die Rede ist. Neben Moritz Baßler selbst haben konsequent nur Wilhelm Voßkamp und Horst Wenzel auf die zentrale Rolle aufmerksam gemacht, die in solcher Methodenreflexion dem Begriff des Texts zukommen müsste; Voßkamp hat dabei der eben skizzierten Ambivalenz des Textbegriffs eine epistemologische Fassung gegeben, indem er auf die „Reprivilegierung des Textes (im Dekonstruktivismus) bei gleichzeitiger Deprivilegierung von literarischen Texten in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen (im New Historicism)“ hinweist. 6 So besehen hat die Anekdote eine Reichweite, die über das Beiläufige bloßer Illustration hinausgeht. Sie funktioniert im präzisen Sinne als „mise en abyme“ der Debatte, in die sie fällt, und nimmt zugleich Stellung, indem sie dadurch die ihr im kulturwissenschaftlichen Modellentwurf des New Historicism zugewiesene Funktion ausübt: „Die Anekdote“, hat Stephen Greenblatt behauptet, „stellt das wichtigste Medium zur Aufzeichnung des Unerwarteten […] dar“, sie ist „eher mit dem Rand verbunden […] als mit dem unbeweglichen und lähmenden Zentrum“. Gleichzeitig aber wird die Anekdote vom beinahe vergessenen Lemma „als repräsentative Anekdote erzählt“, als Moment „einer umfassenderen Entwicklung oder Struktur, die der eigentliche Gegenstand der Geschichtsschreibung [oder hier: des Methodenstreits, Anm. d. Verf.] wäre“. 7 Wofür sowohl Greenblatts kulturpoetische Gattungsdefinition wie Baßlers wissenspolitische Anekdotenpragmatik indes unaufmerksam zu bleiben scheinen, ist der Befund, dass es eben nicht in erster Linie um eine weiter oder enger gefasste Verwendung, sondern zuallererst um Differenzierung und Klärung des Textbegriffs selbst gehen müsste. Entsprechend hat Joel Fineman in einem luziden Essay Greenblatts auf die Anekdote fokussiertem Programm einer Erweiterung des engen, geschlossenen Textkanons hin zu einem offenen Konzept des „kulturellen Textes“ entgegengehalten, der blinde Fleck dieses Unterfangens bestehe doch wohl zuallererst darin, dass Anekdoten eben auch Texte sind und nicht deren wie immer geartetes Jenseits. 8 Greift man in der Geschichte des Text-Wissens ein gutes Jahrhundert hinter die Institutionalisierung und Disziplinierung der (neueren) Philologien 6 V OßKAMP , W., Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 42 (1998), 503- 507, hier: 505; W ENZEL , H., Systole - Diastole. Mediävistik zwischen Textphilologie und Kulturwissenschaft, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 43 (1999), 479-487. 7 G REENBLATT , S., Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1998, 11. 8 F INEMAN , J., The History of the Anecdote: Fiction and Fiction, in: A RAM V EESER , H. (ed.), The New Historicism, New York/ London 1989, 49-76. <?page no="39"?> Text als Medium - Text als Struktur 39 und Nationalliteraturen zurück, kann man diesen Einwand historisch verschärfen: Texte über Texte zu produzieren, bedeutet noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts, entweder Kommentare zwecks philologischer „Sinnpflege“ (Aleida und Jan Assmann) oder aber eben Anekdoten zu schreiben, in denen der Bereich der „litterae“ als Schauplatz zirkulierender kultureller Energien Profil erhält. Historia literaria heißt die Praxis gelehrten Wissens, die sich in diesem zweiten Sinn mit der Beobachtung von Geschriebenem jeder Art sowie mit dessen Urhebern beschäftigt. Nicht dass ich, wie dies etwa das so maßgebliche wie verdienstvolle Buch von Sigmund von Lempicki tut, behaupten möchte, es handle sich dabei um eine auf vielfache Weise defiziente, methodisch so wenig wie thematisch zu sich selbst gekommene Vorläuferin neuerer Literaturgeschichtsschreibung, die noch unter dem „Joch der Polyhistorie“ ächzt. 9 Die historia literaria kann und will sich an den Ordnungsverfahren eines enzyklopädisch-topisch gegliederten Wissens zwar nicht mehr orientieren, darf aber dennoch an den Systematisierungsleistungen und Erzählfiguren der nachmaligen Literaturgeschichte nicht gemessen werden. 10 Wirft man einen Blick auf eine der ersten Überblicksdarstellungen dieser Art, Johann Adam Bernhards 1718 unter dem handgreiflich kontrafaktischen Titel ‚Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten’ publizierte Bestandsaufnahme, zeigen sich denn auch beinahe auf jeder Seite die aus solcher Ortlosigkeit und aus exzessiver Programmatik des Anekdotischen entspringenden Nöte. 11 Man kann sich in der Tat der Einschätzung kaum entziehen, dass man es in den 900 eng bedruckten Seiten dieses Werks mit einer „riesige[n] Anekdotensammlung, eine[m] verwilderten Zettelkasten“ 12 zu tun hat, der Literatenleben und -handwerk unter allen nur erdenklichen Gesichtspunkten zu archivieren in Angriff nimmt. Es bleibt kaum ein Aspekt zwischen Zeugung und Nachruhm übrig, den Bernhard für die im Medium des Anekdotischen gehaltene tentative Ordnungsstiftung in der Kontingenz unzähliger Lebensdaten von Schriftstellern und Gelehrten nicht in Dienst zu nehmen 9 L EMPICKI , S. VON , Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1968², 121. 10 Vgl. G IERL , M., Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der „Historia literaria“ im 18. Jahrhundert, in: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag, hrsg. von T. B EHME u.a., Göttingen 1992, 53-80; eine positive Bestimmung versucht dem „Nicht-mehr“ und „Noch-nicht“ traditioneller wissenschaftsgeschichtlicher Ablaufordnungen H. Z EDELMAIER entgegenzusetzen: „Historia literaria“. Über dem epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Das achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), 11- 21. 11 B ERNHARD , J.A., Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten. Darinnen von der Geburth, Erziehung, Sitten, Fatis, Schriften etc. gelehrter Leute gehandelt […] wird […], Frankfurt am Main 1718. - Vgl. dazu H UMMEL , P., Mœurs érudites. Études sur la micrologie littéraire (Allemagne, XVIe-XVIIIe siècles), Genève 2002, 39-51. 12 F ORSTER , L., „Charlataneria eruditorum“ zwischen Barock und Aufklärung in Deutschland, in: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hg. von S. N EUMEISTER und C. W IEDEMANN , Band 1, Wiesbaden 1987, 207. <?page no="40"?> Stephan Kammer 40 trachtet. Geburtsumstände und Erfolg, Freizeitvergnügungen und Krankheiten, Eheprobleme und Charaktereigenschaften, Geisteszustand und Produktivität, Lebensführung und Todesarten: Bernhard lässt nichts aus. Zu dem in kompletter Verzettelung endenden Vollständigkeitswahn dieser - wie es ein so zufälliger wie treffender Lapsus termini nennt - „Polyhisteratur“ 13 tritt ein von der Vorrede bis zum Nachwort unablässig artikuliertes „Mißfallen“ des Texts an sich selbst, d.h. an Integrationsfähigkeit und Relevanz seines „curieus“-biographischen Ordnungsmodells. „Viele unnöthige und überflüssige Capita“ weise das Buch auf, die „meisten Capita im 1. und 2ten Haupt-Buch bedüncken mich so viel nicht in recessu zu haben“, und: „Was die Plaisir derer Gelehrten anlangt, so habe ich davon, wenige Capita ausgenommen, mit geringer Plaisir geschrieben.“ 14 Für das Bändigungsprogramm, mit dem in den folgenden Jahrzehnten solche Datenüberfülle auf die Bündigkeit von Lebensläufen, Werkgeschichten und ästhetischer Normierung gebracht werden wird, fehlen Bernhards Historie sowohl die Vorstellung wie die Mittel; das Unbehagen an der Anekdote und ihrer ordnenden Häufung bleibt so konturlos wie diese selbst. Und dennoch zeigt sich daran, dass die Verbindlichkeit der Sinnhorizonte von Autor, Werk und Geltung, auf die hin dann die akademisch institutionalisierten Literaturwissenschaften den von ihnen konstituierten Gegenstand, den literarischen Text, ausrichten werden, zuallernächst als eine Form der Kontingenzbewältigung verstanden werden muss, die nicht sachbegründet, sondern wissen(schaft)spolitisch motiviert ist. Der Vorwurf, ein kulturwissenschaftlich, mediengeschichtlich oder wie immer sonst orientierter Paradigmenwechsel würde jenen Gegenstand - den auf die genannten Sinnhorizonte hin konstituierten literarischen Text - preisgeben, ist deshalb so treffend wie haltlos. Treffend ist er, weil der so verstandene Text das bedingte Erzeugnis eines Bündels von historischen Optionen ist, auf die sich ein guter Teil der Literaturwissenschaftler seit einigen Jahrzehnten offensichtlich nicht mehr zu verpflichten gewillt ist; haltlos ist er aus demselben Grund: weil diese Konzeptionalisierung des literarischen Texts als Gegenstand der Literaturwissenschaft nicht auf einer ontologisch wohleingerichteten Wissensordnung beruht, deren Verletzung zwangsläufig ins epistemische Abseits und in kulturelle Delegitimation führte. Sie ist Teil einer möglichen, keinesfalls aber notwendigen Selbstbeschreibung eines Erkenntnisdispositivs, dessen Regeln, Verfahren, Akteure und Objekte sich neu konfigurieren können. Die dabei entstehenden Wissenschaftsstile mag man teilen oder nicht - wer sie am immanenten Normgefüge (oder an der immanenten Normativität von Komponenten) eines anderen zu messen anschickt, handelt aber jedenfalls illegitim. 13 B ERNHARD , Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten, 575. 14 A.a.O., 871 und „Praefation“, unpaginiert. <?page no="41"?> Text als Medium - Text als Struktur 41 Interessanter, zumindest im Rahmen der skizzierten Problemlage: der Diversität, ja Heteronomie der kursierenden Fassungen des Textbegriffs dringlicher als die wissenschaftspolitischen Debatten um den rechten Gebrauch der Texte scheinen mir deshalb zwei weitere Diskussionen, die in den letzten Jahren geführt worden sind. Einerseits ist - was umgehend weitere turns im kulturwissenschaftlichen Alltagsgeschäft nach sich gezogen hat - der Textbegriff selbst mitsamt seinen beinahe universalen Einsatzansprüchen unter Beschuss geraten (1). Andererseits gibt es einen bei weitem weniger auffälligen Streit im Kernbereich der „alten“, „eng“ gefassten Philologie zu beobachten, bei dem die für den Textbegriff virulenten Unbestimmtheitseffekte mit besonderer Deutlichkeit zu Tage treten (2). 1. „Lange, vielleicht allzu lange galt Kultur als Text! “ Mit dieser Frontstellung beginnen Sybille Krämer und Horst Bredekamp ihr Plädoyer „wider die Diskursivierung der Kultur“. 15 Die Dominanz dieser „Interpretationsfigur“ habe signifikante Mängeleffekte erzeugt, indem ihr sowohl das kulturtechnische Leistungspotential einer „epistemischen Kraft der Bildlichkeit“ als auch formalisierter Symbolismen beispielsweise der Mathematik zum Opfer gefallen sind; überdies trete in der Privilegierung des textualitätsgebundenen Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine selbstverschuldete Beschränkung mediengeschichtlicher und -theoretischer Fragestellungen zutage, die blind bleibe für den „lautneutralen Graphismus“ von nicht sprachgebundenen Notationsformen und „operativen Schriften“ 16 : „Der Zug, den die Wandlung in der Semantik unseres Kulturkonzeptes genommen hat, geht von der Technik zun Text, von den Dingen zu den Symbolen, vom Bearbeiten zum Interpretieren. Und da, wo ein Umgekehrtes am Werk ist, wo also Texte, wie in den Rechenvorschriften der Mathematik, sich als Techniken erweisen, wo das Symbolische sich in seiner manipulierbaren Materialität zeigt, wo Differenzen der Interpretation angesichts der Algorithmik operativer Fertigkeiten zurücktreten können: In all diesen Fällen ist es nur folgerichtig, ein Zurückweichen des diskursiv-verstehenden Kulturverständnisses angesichts der technischmathematischen Mechanik der Zivilisation zu vermuten.“ 17 Die „‚Vertextung’ von Kultur“, 18 die „Idee von der Kultur-als-Text“ 19 erreiche indes da ihre Grenzen, wo die Performativität kultureller Praktiken, die von den science studies beschriebenen materiellen und instrumentalen Handgriffe der Wissensproduktion, eine auf „Dehermeneutisierung“ 20 zielende philologische Grundlagenforschung oder die Rolle der „Visualität in der Geschichte 15 K RÄMER , S./ B REDEKAMP , H., Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur, in: K RÄMER , S./ B REDEKAMP , H. (Hgg.), Bild - Schrift - Zahl, München 2003, 11-22, hier: 11. 16 K RÄMER / B REDEKAMP , Kultur, Technik, Kulturtechnik, 11f. 17 A.a.O., 12. 18 A.a.O., 15. 19 A.a.O., 14. 20 Ebd. <?page no="42"?> Stephan Kammer 42 des Denkens“ 21 in die Aufmerksamkeit rücke. „Nicht länger“ bleibe dann „Kultur statuarisch geronnen in Werk, Dokument oder Monument, sondern verflüssig[e] sich in den lebensweltlichen Praktiken unseres Umgangs mit Dingen, Symbolen, Instrumenten und Maschinen“. 22 So schwierig es ist, die exakte Frontstellung dieses Programms gegen das Paradigma des Texts in den Griff zu bekommen, so deutlich scheint mir dennoch erkennbar, dass der Textbegriff hier in die Maskerade der „alten“ Geisteswissenschaften gesteckt wird, der er sich - siehe oben - auch in den Literaturwissenschaften mehr oder minder erfolgreich zu entziehen versucht hat. Mit den Implikationen von Text als Werk oder Monument jedenfalls hat ein Modell, das Kultur als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ und Symbole als das Ensemble von „Gegenstände[n], Handlungen, Ereignisse[n], Eigenschaften oder Beziehungen“ fasst, die zu diesem Bedeutungsgewebe beitragen, längst gebrochen. 23 Gegen den „dokumentarischen“ Status überdies kann eine auf die Analyse von Kulturtechniken setzende Kritik eines Textualitätsmodell nur schlecht Einwände erheben, da sie sowohl auf die Speicherfunktionen setzen muss, die allen - und also bei weitem nicht nur dem sprachlichen - Notationssystemen eignet, als auch auf die Archivierungsfunktionen angewiesen ist, die eine Kultur für die „stummen“ und „sprechenden“ Dinge ihres Gebrauchs entwickelt hat. So bleiben in der Polemik die beiden Fassungen letztlich unberührt, die das Wesentliche zu den Innovationsleistungen des Textbegriffs in den letzten Jahrzehnten beigetragen haben: „Text“ als differentielles Zeichengewebe, das nicht fixe Bedeutung, sondern die Dynamik von Sinnproduktionen semiotisch erschließbar macht - kurz: ein strukturaler Textbegriff -, sowie „Text“ als Medium, das nicht reibungslos Sinn transportiert, sondern in seiner Materialität selbst zur Form der Erzeugung, Fixierung und Manipulierbarkeit von Sinn beiträgt - kurz: ein medialer Textbegriff. Dass es Ereignisse und Dinge in einer Kultur gibt, die sich nicht gleichzeitig unter diese beiden Formen des „Texts“ sumsumieren lassen, braucht man nicht zu bezweifeln. Dann aber treten, beinahe zwangsläufig, jene manchmal glücklichen, manchmal unglücklichen Supplemente und Surrogate in ihr Recht, als deren eines wir die Anekdote kennengelernt haben. 2. Was die Verständigung über den Begriff des Textes trotz dieser doppelten Minimalfassung - Text als Struktur, Text als Medium - erschwert, ist der Umstand, dass die beiden Thematisierungsformen ihrerseits kategorial und epistemisch inkompatibel sind. Das will ich ausführlicher an einer Debatte zeigen, die genuin philologischer Provenienz ist: am Streit um das Konzept der „Textgenese“ und dessen Tragfähigkeit als „epistemic tool“ zur 21 K RÄMER / B REDEKAMP , Kultur, Technik, Kulturtechnik, 15. 22 Ebd. 23 Um hier nur einen Klassiker des Modells „Kultur als Text“ beizuziehen: G EERTZ , C., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, 49. <?page no="43"?> Text als Medium - Text als Struktur 43 Thematisierung schriftlicher Hinterlassenschaften. Herkömmlicherweise, d.h.: seit einem knappen Jahrhundert haben textgenetische Rekonstruktionen ihren Ort in den großen historisch-kritischen Werkausgaben. Dort kommt ihnen eine dokumentarische Aufgabe zu - sie sollen die Materialien, die in den seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts institutionalisierten „Archiven für Literatur“ liegen, zu Zeugnissen der vor allem dichterischen Arbeit am Text machen. 24 Natürlich sind die normative Ausrichtung auf den „vollendeten“ Text sowie die editorischen Präsentationsformen, die diese Materialien bloß als verworfene Bruchstücke eines unermüdlichen Perfektionsvorgangs lesbar machen, längst in die Kritik geraten. Gerade mit der generellen Interesseverlagerung auf einen strukturalen Textbegriff hin haben Philologen wie Gunter Martens oder Hans Zeller dem im Verbindlichkeitsgefüge von Autorschaft und vor allem Werkästhetik konzipierten Normhorizont des Texts eine „dynamisch“-strukturale Fassung entgegengesetzt. Diese setzt als „Text“ das Integral der sequentiellen Veränderungen, die ein Arbeitsprozess von den ersten Notizen bis zur Drucklegung aufweisen kann, als „Textfassung“ oder „-stufe“ die editorischen Sistierungen dieses Prozesses. 25 Bereits an dieser Stelle zeichnet sich das Konfliktpotential zwischen den beiden eben skizzierten strukturalen und medialen Begrifflichkeiten von „Text“ ab, das mit einer weiteren Differenzierung - wie zu zeigen sein wird - noch an Schärfe gewinnt: der radikalen Orientierung hin auf die Strukturen und Verfahren des (literarischen) Arbeitsprozesses, wie sie von der französischen „critique génétique“ vorgenommen worden ist. 26 Nicht mehr den „Text“ will diese als Forschungsgegenstand konstituieren und systematisierend beschreiben, sondern vielmehr die „avant-textes“: die vielgestaltigen Hinterlassenschaften schriftlicher Produktivität. Im Spannungsfeld dieser Traditionen steht der Streit um „Genese“ und „Text“, dem ich mich nun zuwenden will. Eröffnet worden ist er von Roland Reuß mit einem Aufsatz, dessen von Goethe geborgter Titel „Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift“ auf Differenz aus ist und dessen Untertitel „Notizen zur ‚Textgenese’“ mit einfachen Anführungszeichen um die letztere zunächst noch subtil typographisch Distanz markiert. 27 Expliziter wird Reuß allerdings schnell: Die Frontstellung seiner Attacke auf Begriff und Sache der Textgenese zielt auf zwei Aspekte dieses Konzepts zugleich: 24 Vgl. als Gründungsdokument: D ILTHEY , W., Archive für Literatur [1889], in: ders., Gesammelte Schriften, Band 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. von U. H ERMANN , Göttingen 1991³, 1-16. 25 Vgl. M ARTENS , G., Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie, in: Poetica 21 (1989), 1-25. 26 Dazu G RÉSILLON , A., Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“, Bern u.a. 1999; vgl. als konzisen Überblick (auch in Hinsicht auf Aspekte der Historisierung des Begriffsbündels „Text“) auch H AY , L., „Le texte n’existe pas“. Réflexions sur la critique génétique, in: Poétique 62 (1985), 146-158. 27 R EUß , R., Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur „Textgenese“, in: Text. Kritische Beiträge 5 (1999), 1-25. <?page no="44"?> Stephan Kammer 44 erstens auf die Verfahrensweise einer Rekonstruktion von Textgenesen überhaupt, zweitens auf den hermeneutischen Anspruch, eine Interpretation dieser Genese trage Erhellendes oder gar Entscheidendes zum Verständnis eines Textes bei. Sein Gegenvorschlag, der sowohl das editorische Geschäft wie den literaturwissenschaftlichen Umgang mit den Befunden von Überlieferung und Edition betrifft, lautet wie folgt: „Beschreiben, was je und je den Akten des Schreibens entspringt, ist darum den überlieferten Handschriften angemessener als zu erklären (versuchen), wie aus ihnen resultierende Texte entstehen (könnten). Das Problem bei der Vorstellung, dass Texte sich in ihrer ‚Genese’ entwickeln, liegt in dem Reflexivpronomen. Es setzt eine Identität voraus, die alles andere als fraglos ist.“ 28 Darüber nun wird man sich, zumindest wenn man nicht den Sachzwängen editorischer Institutionen verpflichtet ist, leicht verständigen können - gerade mit Blick auf die Fragestellungen, die in den letzten Jahren unter dem Dach einer „Genealogie des Schreibens“ formuliert worden sind, 29 aber genauso vor dem Hintergrund der genuin editionstheoretischen Kritik an Semantik und Voraussetzungen eines organizistischen Modells von Textproduktion, die, wie erwähnt, selbst durchaus schon auf eine gewisse Tradition zurückblicken kann. Dass Texte nicht wachsen, sondern gemacht werden - mit dieser Einsicht jedenfalls scheint kein Streit vom Zaun zu brechen. Und dennoch hat Louis Hay den Fehdehandschuh aufgehoben und im Jahre 2003 mit einer Fabel von handschriftenexplorierenden „Freischärler[n] der Literaturforschung“ gekontert, die mit reicher Beute nach Hause kehrten, aber nun von den „Zoll- und Kontrollposten“ der Antigenetiker aufgehalten würden. 30 Die „Grenze zwischen Text und Genese“ allerdings, so resümiert Hay die Arbeiten der „critique génétique“, sei längst aufgehoben, ohne dass dabei die „beide[n] Begriffe ihre Eigenständigkeit verloren hätten.“ Ganz im Gegenteil habe sich gerade die „critique génétique“ „um eine schärfere Bestimmung der strukturellen wie kulturellen Eigenart von Text und Genese bemüht.“ 31 Genau dies nun verdecke die Rede von der Textgenese, repliziert Reuß wieder zwei Jahre später: „wer sich vornehmlich deshalb für ‚Textgenese’ interessiert, weil nur in dieser die Dynamik lokalisiert sei, deren der Text ermangle, der hat die immanente Reflexivität und Bewegtheit poetischer Texte jenseits und diesseits ihrer Genese übersehen. Nicht wegen mangelnder Dynamik eines Textes sollte man Interesse an seiner Entstehung haben, sondern um die immanente Logik der Textproduktion gerade in ihrem Unterschied zur immanenten Logik des Textes zu verstehen.“ 32 Dieser Zwist beruht - wie selbst in seiner allzuknappen Darstellung hoffentlich sichtbar wird - in einem Maße auf konzeptuellem und begrifflichem 28 R EUß , Schicksal der Handschrift, 11. 29 Vgl. dazu http: / / www.schreibszenen.net/ index.html [25. März 2008]. 30 H AY , L., Text oder Genese: der Streit an der Grenze, in: editio 19 (2005), 67-76, hier: 67. 31 H AY , Text oder Genese, 72. 32 R EUß , R., Text, Entwurf, Werk, in: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), 1-12, hier: 7. <?page no="45"?> Text als Medium - Text als Struktur 45 Durcheinander, das eine ernsthafte Debatte eigentlich verunmöglicht. Das liegt nun vor allem daran, dass die von beiden Kontrahenten verwendeten Textbegriffe schlicht inkompatibel sind. Zwar stellt Reuß völlig zurecht heraus, dass jeder Ansatz zu einer Reflexion über Textgenese auch bei einer noch so ausführlichen Verständigung darüber, was denn „Genese“ heißen soll, unscharf bleiben muss, solange „der Begriff des Textes völlig unterbestimmt bleibt.“ 33 Nicht widersprechen werde ich ihm erwartungsgemäß auch in der Einschätzung, dass die philologischen und literaturwissenschaftlichen Begriffsbestimmungsversuche ob der Vielfalt und Heteronomie der kursierenden Definitionen gewisse resignative Züge tragen. Ob allerdings das reichlich eklektizistische Konstrukt „Text“, das Reuß bei seinen Ausführungen in Anspruch nimmt, eine Alternative zu dieser Unterbestimmung ist, möchte ich bezweifeln. Denn seine Modellierung des „Texts“ speist sich aus mindestens drei Quellen, die selbst schon nicht nur aufgrund ihrer jeweiligen theoretischen Traditionen schlechthin inkompatibel sind. Da ist zunächst erstens eine ästhetisch-poetische Bestimmung des Texts als organisiertes Kunstgebilde, in dem jedes Element an seinem Platz steht und das deshalb in dieser seiner Organisiertheit zum Gegenstand der Interpretation werden muss. Der so konzipierte Text ist es, dessen immanente (ästhetische) Logik und Reflexivität beschrieben und verstanden werden kann. Diese Vorstellung von Text rekurriert, vereinfacht gesagt, auf die aristotelische Begriffsbestimmung des ergon sowie deren poetischen Wiederaufnahmen und Reformulierungen bis ins zwanzigste Jahrhundert. Dann gibt es zweitens eine Komponente der Begriffsbricolage, die man - auch wenn Reuß sich dagegen verwahrt - als mediale bezeichnen muss, denn nur als solche wird sie überhaupt plausibel: Zu den „Minimalbedingungen“ des Textes gehöre, so Reuß, die „strikte Linearität der zugrundeliegenden Zeichen- und Buchstabenfolgen“. 34 Doch will er diese Linearität eben nicht, wie es ja sofort einleuchten würde, mit den beiden Aggregatszustände von Schriftlichkeit, mit Handschrift und Druckschrift also, korrelieren - oder zumindest nicht nur. Das hat zur Folge, dass er eine Herleitung versucht, die den „Text“ zu einem höchst problematischen ästhetisch-medialen Hybrid macht: „Letztlich verantwortlich für die genannten Charakteristika der poetischen Texte ist der Umstand, dass poetische Texte, Texte überhaupt, ursprünglich laut vorgetragen wurden - und man kann wohl soweit gehen, die Möglichkeit in einer Sequenz laut vorgelesen werden zu können, auch heute noch als ein immanent leitendes Moment jeder Produktion eines poetischen Textes anzusetzen. Insbesondere die strikte Linearität der Zeichenfolge ist ein direktes Resultat mündlicher Rede, und der Grundsatz, dass alles innerhalb eines poetischen Textes genau an seiner Stelle steht, geht direkt auf den Umstand zurück, dass während einer bestimmten Zeiteinheit auch nur jeweils eines (und nicht ein an- 33 R EUß , Schicksal der Handschrift, 12. 34 A.a.O., 14. <?page no="46"?> Stephan Kammer 46 deres) gesagt werden kann.“ 35 Damit nun ist alles durcheinander geworfen, was die theoretischen und historischen Mühen der letzten Jahrhunderte mit großem Aufwand differenziert haben: Stimme und Schrift, Medialität und Ästhetik, Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Wahrnehmung. Nach den Reußschen Kriterien wären strenggenommen alle jene poetischen Texte, Texte überhaupt, die sich mittels vielfältiger typographischer Techniken gerade gegen eine solche Linearität des Vorlesens sperren, keine Texte. Man braucht, um die auch poetologische Unhaltbarkeit dieser Engführung vor Augen zu haben, nur auf Hans-Jost Freys Ausführungen über den „freien Vers“ zu verweisen, die auf die vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten „ausschließlich graphisch[er] und nicht in gesprochene Rede übersetzbar[er]“ syntagmatischer Einheiten aufmerksam gemacht haben; gerade aus diesen letzteren entsteht, wie Freys Lektüren gezeigt haben, jene „immanente Logik“ des Texts, auf die doch Reuß’ Entwurf einer Poetik abzielt. 36 Drittens schließlich und vor allem zur Abgrenzung zu den eigenen Ansätzen bezieht sich Reuß auf den strukturalen Textbegriff - wiederum vereinfacht gesagt - Jakobsonscher Provenienz. In Reußschen „Texten“ allerdings soll es nur eine Achse des strukturalen Textrespektive Sprachmodells geben: das Syntagma; die andere Achse hingegen, das Paradigma, bleibt jenen Nicht-Texten vorbehalten, die Reuß „Entwürfe“ nennt. Das nur grotesk zu nennende Missverständnis einmal beiseite gelassen, es tauge als Einwand gegen den strukturalen Textbegriff, dass in Gedichten oder Prosa jedes Zeichen an seinem Platz stehe, 37 erklärt diese dritte Komponente nun sowohl die Schärfe als auch die Zielrichtung von Louis Hays Entgegnung. Denn die polemischen Reaktionen auf die französische „critique génétique“ waren seit jeher nicht zuletzt von den Herausforderungen motiviert, die dieser strukturale Textbegriff und seine semiotischen Erweiterungen an die ehrwürdigen Konzeptionen des „œuvre“ gerichtet haben. 38 Und gleichzeitig verdankt bekanntlich diese „critique génétique“ ihr theoretisches Fundament eben nicht zuletzt derselben strukturalen Konzeption des Textes als dynamisches Zeichensystem. Die Behauptung einer kategorialen Grenze zwischen „Text“ und „Entwurf“ gerät so aus der Perspektive der „généticiens“ geradezu zwangsläufig in den Verdacht eines ästhetischen Revisionismus, der die heiligen Texte der literarischen Tradition vor dem bedrohlichen Gemurmel der Archive retten will. Das allerdings hängt wiederum damit zusammen, dass auch die „critique 35 R EUß , Schicksal der Handschrift, 14. 36 F REY , H.-J., Vier Veränderungen über Rhythmus, Basel u.a. 2000, 57-75, hier: 71. 37 Wie anders wäre der folgende Satz sonst zu lesen? „Wenn man die Minimalbedingungen auflistet, die erfüllt sein müssen, um ein literarisches Gebilde als einen poetischen Text anzusprechen, so gehör[t] dazu […], daß alles, was in einem poetischen Text gesetzt ist, an seiner Stelle steht und nicht ersetzt werden kann (Ausschluß der paradigmatischen Kombinatorik).“ 38 Vgl. den Überblick bei S CHÜTTERLE , A., Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaues“, Freiburg im Breisgau 2002, 51-57. <?page no="47"?> Text als Medium - Text als Struktur 47 génétique“ nicht ganz frei ist von einem definitorischen Kategorienschwindel, wenn sie im „avant-texte“, in den Beständen ihrer „dossiers génétiques“ den materialisierten Beweis für die Richtigkeit dieses strukturalen Textbegriffs gefunden zu haben glaubt. Was tun also? Lässt sich eine wenigstens pragmatische Verständigung über die Divergenzen der Text-Begriffe erzielen? Ich will mir nicht anmaßen, eine definitive Antwort auf oder gar ein Patentrezept für diese Frage zu geben. Einige, wie mir scheint, grundsätzliche Bedingungen lassen sich indes wohl doch formulieren, die eine methodisch nicht im Ungefähren, konkret nicht in fröhlichem oder missmutigem Pragmatismus verbleibende Begriffsverwendung zu bedenken hätte. Vonnöten ist sicherlich eine präzisere aisthetische Gegenstandsbestimmung, eine auf einen medialen Begriff von „Text“, von „Textualität“ ausgerichtete Definitionsarbeit, die an eine Vielzahl von Vorarbeiten und eine deutlicher markierte Forschungstradition vor allem im angloamerikanischen Raum anschließen kann. 39 Diese Notwendigkeit wird am eben skizzierten Streit um das Verhältnis von Text und Genese sichtbar. Denn beide Parteien nehmen ein gemeinsames Unterscheidungskriterium zwischen Text und „avant-texte“ oder „Entwurf“ in Anspruch: Letztere seien Repräsentationen von Zeitlichkeit, Repräsentationen also, die es mittels einer „innerhandschriftlichen Chronologie“ 40 oder in der Dokumentation übergreifender Arbeitsprozesse zu beschreiben gäbe; Texte hingegen fänden ihr Organisationsprinzip gerade in der Gleichzeitigkeit aller ihrer Elemente. Diese Unterscheidung allerdings ist ausschließlich Effekt einer Zuschreibung. Handschriftliche Aufzeichnungen, Notizen, Entwurfsmanuskripte, ja noch das graphisch auf komplexeste Weise organisierte Blatt tragen per se genau so wenig einen temporalen Index in sich wie ein konstitutiv variantenfreier Text. Zu welchen Zwecken man immer versucht, die konstellative Gleichzeitigkeit eines Handschriftenblatts in das Nacheinander eines Arbeitsvorgangs zu übersetzen: diese Verzeitlichung ist im Manuskript weder präsent noch repräsentierbar. Chronologie oder genetische Aufschlüsselung eines Schreibvorgangs sind Konstruktionsleistungen, die von dem ihnen zugrundeliegenden Material, dem zweidimensionalen beschriebenen Blatt als solchem, nie gedeckt sein können - sie sind, mit anderen Worten, konjekturale Akte, die räumliche in zeitliche Information übersetzen. 41 Ob man das Ergebnis dieses Aktes dann „chronologisch differenzierte diplomatische Transkription“ 39 Vgl. M C G ANN , J., The Textual Condition, Princeton 1991; G REETHAM , D.C., Theories of the Text, Oxford/ New York 1999. 40 R EUß , Schicksal der Handschrift, 19. 41 Vgl. zu diesem Problemzusammenhang K AMMER , S., Textur. Zum Status literarischer Handschriften, in: Schrift - Text - Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag, hg. von C. H ENKES , W. H ETTCHE , G. R ADECKE und E. S ENNE , Tübingen 2003, 15-25. <?page no="48"?> Stephan Kammer 48 nennt, wie es Reuß vorschlägt, 42 oder es als „dossier génétique“ präsentiert, ist letztlich eine Frage wenn nicht des Geschmacks, so jedenfalls des Erkenntnisinteresses. An der Tatsache, dass es sich um die Konsequenz einer medial informierten konjekturalen Entscheidung handelt, ändert die Wahl eines Darstellungsmodus allein jedenfalls nichts. „Der Text existiert nicht“ - diese Provokation, die Louis Hay 1985 sozusagen im Herzen des strukturalen Diskurses, in der Zeitschrift ‚Poétique’, plazierte, 43 bezieht ihre Wahrheit deshalb nicht etwa nur aus der beabsichtigten Erschütterung des hermeneutisch-poetischen Textbollwerks durch die Relationalität des Signifikanten. Sie erweist sich darüber hinaus als autosubversives Statement über das, was einem strukturalen Textbegriff nicht in den Blick geraten kann: die Singularität und Materialität jener Dokumente, mit denen sich „généticiens“ und handschrifteninteressierte Philologen auseinandersetzen. Es ist also nicht in erster Linie die ästhetische Opposition gegen „den Text“, was den „avant-texte“ interessant macht, sondern die mediengeschichtlich fundierte Opposition gegen die geläufige Überzeugung, ihren ästhetischen Wert und ihre eigentliche Bestimmung habe die Literatur vor allem da, wo sie, am besten schweinsledern gebunden, in die Hand genommen werden kann. Der „avant-texte“ als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung schärft mit anderen Worten das Bewusstsein für den kulturhistorischen Ausnahmefall eines aufgrund des medialen Dispositivs „Typographeum“ (mehr oder minder) unverändert multiplizierbaren Texts, dessen Eigenlogik selbst nur mithilfe eines medialen Textbegriffs adäquat beschreibbar ist. 44 Gründe dafür, den Drucktext als impliziten und medienblinden Standard zu setzen, auf den Schreibprozesse zwangsläufig zulaufen und mit dem „Text“ per se korrelieren müsste(n), gibt es also wenige. Die Medien der Literatur benötigen deshalb, als Schrift-Objekte, deren Eigengesetzlichkeiten es zuallererst Rechnung zu tragen gilt, eine differenzierte konzeptuelle Fassung. Im Zuge einer medialen Diversifizierung des Textbegriffs gälten dann die einzelnen, unterschiedlich verfassten Schriftphänomene nicht mehr einfach als Summanden, die sich konzeptuell zum „Text“ aufaddieren lassen. Wenn man schon ein mathematisches Modell dafür in Anschlag bringen will, ist der Terminus der „Menge“ wohl eher am Platz. Die Bestimmung eines medialen Textbegriffs hält sich zunächst sinnvollerweise an die Aufschreibesysteme, aus denen das jeweilige materiale Objekt hervorgegangen ist. Sie kann also ansetzen bei Handschrift und Druck, bei Typoskript und Datei, bei der Instrumentalität der Schreibszene, die für die 42 R EUß , Schicksal der Handschrift, 20. 43 H AY , „Le texte n’existe pas“ (Anm. 26). 44 Ansätze dazu - wenn auch gleichsam aus einer auf die Eigenlogiken mittelalterlicher Handschriftenkultur gerichteten Perspektive ex negativo - im ersten Kapitel von C ER- QUIGLINI , B., Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989 [deutsche Übersetzung dieses Kapitels: C ERQUIGLINI , B., Textuäre Modernität, in: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von S. K AMMER und R. L ÜDEKE , Stuttgart 2005, 116-131.] <?page no="49"?> Text als Medium - Text als Struktur 49 entsprechenden Materialien verantwortlich ist. An dieser Stelle erst sind mediengestützte Regulative wie „Linearität“ wieder in Anschlag zu bringen - aber eben nicht in der Beschwörung eines irgendwie vorgängigen mündlichen Vortrags, dem die Schrift dann nachläuft, sondern unter den spezifischen Bedingungen beispielsweise der standardisierten Rasterung der Druckseite. Ein solchermaßen medial diversifizierter Textbegriff hat auch den Informationsverlusten und Informationsgewinnen Rechnung zu tragen, die mit jedem Medienwechsel im Feld der Textualität einhergehen: Nicht nur die Anfertigung textgenetischer Darstellungen ist ein konjekturaler Akt, selbst die Überführung der Flächenkonstellation einer Handschriftenseite in die einer diplomatische Umschrift bedeutet einen Medienwechsel, der leicht auf die Crux einer Unentscheidbarkeit stoßen kann. Doch möglicherweise reichte, bei allen offensichtlich damit verbundenen Schwierigkeiten, zunächst schon ein schärferes terminologisches Differenzbewusstsein für einen Textbegriff, mit dem philologisch sinnvoll - ob in „weiter“ oder „enger“ Verwendung, ob in Konzentration auf die Klassiker oder mit Einbezug der Anekdoten - zu arbeiten wäre. Dass dieses nötig ist, zeigt vor allem das ständige und offensichtlich kaum kontrollierbare terminologische Oszillieren zwischen „Text“ und „Werk“, das man noch in den methodenbewusstesten literaturwissenschaftlichen Ausführungen antrifft. Erforderlich wäre dabei noch nicht einmal eine Festlegung auf einen verbindlichen Begriff des Texts und damit die Verpflichtung auf die dazu gehörende theoretische Präferenz oder gar zu einer Supertheorie des Texts, die jeder konzeptuellen Möglichkeit Rechnung zu tragen suchte; unabdingbar aber ist jedenfalls die Einübung eines konsequenten und konsistenten Begriffsdesigns, das sich nicht einfach nach Belieben mal in einem strukturalistischen Theoriekontext, mal bei medialen Phänomenalitäten bedient und beides miteinander zusammenzwingt, als wären kategoriale Dichotomien gleichsam durch die Hintertür schlechter Evidenz zu umgehen. Literatur B ARTHES , R., Œuvres complètes. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par É. M ARTY , Paris 2002. B AßLER , M., Stichwort Text. Die Literaturwissenschaft unterwegs zu ihrem Gegenstand, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 42 (1998), 470-475. B ERNHARD , J.A., Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten. 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Zwar gilt die Bibel als „Buch der Bücher“, doch ist das Bonmot, die Bibel sei „der Text der Texte“ weniger geläufig. Die Anschauung, die Bibel sei ein „Text“, ist zweifellos jüngeren Datums, und textwissenschaftliche Fragestellungen gehören eindeutig nicht zu den althergebrachten klassischen Methoden der Bibelexegese. Der vorliegende Beitrag dient zum einen der Klärung des Terminus „Supertext“, und zum anderen stellt er einen ersten Versuch dar, die Bibel nach den im ersten Teil gewonnenen Kriterien als „Supertext“ zu charakterisieren. 1 Zum Begriff „Supertext“ In der sprachwissenschaftlichen Forschung begegnet der Terminus „Supertext“ etwa bei Ulla Fix, die ihn auf die Textsorte „Werbeanzeige“ überträgt. Eine „Werbeanzeige“ sei ein semiotischer „Supertext“, der aus einem sprachlichen, visuellen und gegebenenfalls akustischen Teiltext bestehe, so dass sich bei ihm der Inhalt aus der Interaktion und wechselseitigen Bezugnahme der einzelnen Teiltexte aufeinander ergebe. 1 Auf die „Bibel als Supertext“ trifft die semiotische Komponente des Nebeneinanders und gegenseitigen Bezugnehmens sprachlicher, visueller und akustischer Information nicht zu. Wenn die Bibel als „Supertext“ bezeichnet wird, müssen andere Kriterien greifen, die zunächst über die Analyse der Bedeutung des Wortes gefunden werden sollen. Das Lexem super existiert in der deutschen Gegenwartssprache als undeklinierbares Adjektiv in der Bedeutung „großartig, hervorragend“. In Heinz 1 F IX , U., Textstil und KonTextstile. Stil in der Kommunikation als umfassende Semiose von Sprachlichem, Parasprachlichem und Außersprachlichem, in: F IX , U./ L ERCHNER , G. (Hgg.), Stil und Stilwandel, Frankfurt am Main u.a. 1996, 116. <?page no="54"?> Mechthild Habermann 54 Küppers „Wörterbuch der deutschen Umgangssprache“ ist super paraphrasiert durch „1. hervorragend; unübertrefflich; hochmodern. Nach angloamerikanischen Vorbild nach 1945 in der Halbwüchsigensprache aufgekommen. Beliebt bei Werbetextern. 2. überlegen, sehr leistungsfähig und 3. total super (echt; unheimlich super) = unübertrefflich.“ 2 Häufig liest man noch die Bedeutungen „erstklassig, einmalig, prima, sagenhaft“. Nach Peter Wendelken erscheint das Präfix super- „in Markennamen und steigert, da es das Kriterium der Überlegenheit mit anklingen läßt, deren Werbewirksamkeit. [...] Bei Verwendungen im übrigen Werbewortschatz gibt superden einzelnen Begriffen und damit auch den Texten stärkeren Nachdruck, indem es das Kriterium der Überlegenheit einer Ware anderen gegenüber stark herausstellt. Aufgrund seiner hyperbolischen Kraft schmälert es jedoch den sachlichen Wert einer Werbeaussage nur zu oft.“ 3 Diese hyperbolische Bedeutung hat also eine negative, fast pejorative Konnotation. Deshalb sei nach dem ‚Deutschen Fremdwörterbuch’ super- „häufig auch spöttisch-ironisch und leicht abschätzig“ gebraucht, zudem „als Ausdruck des Unnatürlichen und Überspannten im Sinne von ‚zu sehr, übertrieben, extrem; über‘ [...] heute nahezu beliebig und meist sinnentleert [...], vereinzelt auch für ‚übergeordnet‘ und ‚überschüssig; übermäßig‘ [...].“ 4 Im Rahmen einer Abhandlung der „Bibel als Supertext“ wird super ausschließlich im Sinne des „Übergeordneten“, wie es etwa in Wortzusammensetzungen des Typs „Superministerium“ gebraucht ist, verwendet. Hiermit ist die Bedeutung von super als „zu sehr“, wie in „überempfindlich“, als „Überschuss“, wie in „Superphosphat“, und als „großartig“ ausgeschlossen, womit ohnehin der Bereich der denotativen Bedeutung zugunsten konnotativer Bedeutungselemene überschritten wäre. Welche Berechtigung kommt dem Terminus „Supertext“ in einem sprachwissenschaftlichen Kontext zu, wenn das Merkmal des „Übergeordnet-Seins“ das bestimmende darstellt? Zu welchen Implikationen führt das Kriterium des „Übergeordnet-Seins“ in den nachfolgenden Überlegungen? Die Existenz des Merkmals soll in einem zweifachen Schritt nachgewiesen werden, und zwar sowohl • textwissenschaftlich, aus ausschließlich synchronischer Perspektive, als auch • medien- und rezeptionsgeschichtlich, aus ausschließlich diachronischer Perspektive. 2 K ÜPPER , H., Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart 1987, 817. 3 W ENDELKEN , P., Der Einfluß des Englischen auf das heutige Werbedeutsch, in: Muttersprache 77 (1967), 290f. 4 DFWB 4 (1978), 610. <?page no="55"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 55 Es wird zu zeigen sein, dass die Synthese aus beiden Perspektiven die Anschauung, die Bibel sei ein „Supertext“, rechtfertigt. Unter der „Bibel“ wird dabei das Textzeugnis verstanden, wie es gesamthaft seit dem 4. Jahrhundert nach dem Prozess der Kanonisierung vorliegt. Hierbei ist ausschließlich die Rezipientenperspektive von Belang, der Prozess der Entstehung aus der Autorensicht muss außer Acht gelassen werden. 2 Die textwissenschaftliche Perspektive Um die Tragfähigkeit des Terminus zu erweisen, muss im Folgenden eine Abgrenzung von bereits etablierten Termini aus dem Bereich der Textlinguistik vorgenommen werden. Auf welcher Ebene textlinguistischer Analyse ist der Begriff anzusiedeln? 2.1 Aufgaben der Textstrukturanalyse Nach Klaus Brinker gehört zu einer traditionellen Textstrukturanalyse die systematische Beschreibung des spezifischen Zusammenhangs zwischen einzelnen Textkonstituenten auf den unterschiedlichen Ebenen: „Die Textstrukturanalyse besteht nun in einer systematischen Beschreibung des spezifischen Zusammenhangs (‚Kohärenz‘) zwischen Textkonstituenten auf den unterschiedlichen Ebenen: • zwischen Sätzen [...] auf grammatischer Ebene; • zwischen thematischen Einheiten (Propositionen, Themen) auf der thematischen Ebene; • zwischen sprachlichen Handlungen (‚illokutiven Einheiten‘) auf der pragmatischen Ebene. „Bei der Analyse sind die Beschreibungsebenen genau zu unterscheiden, nicht aber voneinander zu isolieren; zwischen ihnen bestehen vielmehr enge Zusammenhänge“. 5 Die grammatische Ebene ist mittels der Kohäsionsmittel auf der Textoberfläche zu beschreiben. Es geht um die Erfassung ausdrucksseitig sichtbarer Markierungen wie Wortwiederholungen, also um Formen der Rekurrenz, um Pronominalisierungen oder um deiktische Kataphora und Anaphora. Für die Beschreibung der thematischen Ebene nennt Brinker zum einen die Thema-Rhema-Strukturen, zum zweiten Strukturen der Themenentfaltung und Themenstruktur und zum dritten die für die weitere Argumentation entscheidenden Makro- und Superstrukturen. Die pragmatische Ebene ist im Sinne der Sprechakttheorie textfunktional ausgerichtet. Trotz der domi- 5 B RINKER , K., Textstrukturanalyse, in: ders. (Hg.),Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1. Halbband, Berlin/ New York 2000, 164f.; vgl. auch ders., Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 2001 5 , 157-161. <?page no="56"?> Mechthild Habermann 56 nanten Bedeutung der Textfunktion soll in der weiteren Diskussion die pragmatische Ebene weitgehend ausgeklammert bleiben. 2.2 Makrostruktur Was versteht man nun unter „Makrostruktur“? Die „Makrostruktur“ ist im Unterschied zur „Superstruktur“ sprachwissenschaftlich solide verankert. Makrostruktur und Mikrostruktur sind Begriffe, die Teun A. van Dijk 1980 in der damals noch jungen sprachwissenschaftlichen Disziplin der Textlinguistik eingeführt hat. 6 Die Makrostruktur könnte man in etwa mit dem Textthema gleichsetzen. Sie enthält das übergeordnete Thema eines (Teil-)Textes oder des Gesamttextes, die so genannte „Makroproposition“. Die Makrostruktur ist die Bezeichnung für eine übergeordnete semantische Texteinheit bzw. sogar für die globale Bedeutungsstruktur eines Textes. Nur Satzsequenzen mit einer Makrostruktur, einer globalen Textstruktur, die eine Satzfolge erst zum Text macht, gelten für van Dijk als Texte. Diese Bestimmung der Makrostruktur beruht auf Propositionen und bezieht sich nur auf die semantische Ebene. Es gibt auch eine pragmatische Makrostruktur: Analog zum Aufbau der semantischen Makrostruktur konstituieren die einzelnen Sprechhandlungen und Handlungssequenzen eine pragmatische Makrostruktur - oder den Makrosprechakt, der als dominierende Illokution eines Textabschnitts bzw. als Textfunktion des Gesamttextes aufzufassen ist. Zur Bestimmung der für die semantische Makrostruktur notwendigen Makropropositionen entwickelt van Dijk so genannte „Makroregeln“, die die folgenden Verfahren umfassen: 7 • Auslassen: Propositionen werden auf die für das Verstehen wesentlichen reduziert. • Selektieren: Betrifft das, was aus dem Sinnzusammenhang wieder erschlossen werden kann. • Generalisieren: Abstraktion von speziellen Textinhalten (z.B. höherer Allgemeinheitsgrad durch Hyperonyme). • Integrieren: Propositionen werden durch das Einbringen von Frame- und Skriptwissen zusammengefasst. Ergebnis der Regelanwendung ist eine Textzusammenfassung, die als direkte Verbalisierung der Makrostruktur aufgefasst wird. Das Textthema ist nichts anderes als eine „Makroproposition auf einem bestimmen Abstraktionsniveau“, es muss im Text nicht explizit genannt werden. Eine mögliche Textmakrostruktur könnte folgendermaßen graphisch abgebildet werden: 8 6 D IJK , T.A. VAN , Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung, Tübingen 1980. 7 A.a.O., 41ff. 8 http: / / www.ruediger-weingarten.de/ TextundBild/ Textverarbeitung.html [12.06.2008]. <?page no="57"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 57 Makrostrukturell werden Elemente eines Textes nicht nur paarweise miteinander verknüpft, sondern in Gruppen (von Gruppen) zusammengefasst. Auf der untersten Ebene sind zum Beispiel die Aussagen über elementare Einheiten, auf den höheren Ebenen funktionale Zusammenfassungen dieser Einheiten lokalisiert. Hieraus wird ersichtlich, dass ein Text in größere semantische Einheiten gegliedert werden kann und dass nicht alle Propositionen auf der gleichen hierarchischen Ebene liegen müssen. Sie übernehmen vielmehr im Rahmen der funktionalen Gliederung eines Textes unterschiedliche Aufgaben wie etwa den Abschluss einer Texteinheit oder die Hervorhebung einer Proposition. Zentral ist die semantische Bestimmtheit der Makrostruktur bei van Dijk. 2.3 Superstruktur Van Dijk prägte auch den Begriff „Superstruktur“, ein Terminus, der in der Sprachwissenschaft keine weite Verbreitung fand. Hier liegt nach van Dijk eine Verbindung zur Textsortenlinguistik vor, denn Textsorten unterscheiden sich seiner Meinung nach zumeist dadurch, dass sie unterschiedliche Superstrukturen aufweisen. Nach seiner Definition ist eine „Superstruktur“ eine „Art abstraktes Schema, das die globale Ordnung des Textes festlegt und das aus einer Reihe von Kategorien besteht, deren Kombinationsmöglichkeiten auf konventionellen Regeln beruhen“. 9 Um den Unterschied zwischen Makrostruktur und Superstruktur deutlich zu machen, muss noch einmal van Dijk zitiert werden, der den Terminus „Superstruktur“ für besonders globale Strukturen folgendermaßen verteidigt: „Da sich für solche Strukturen noch kein verbindlicher Allgemeinbegriff eingebürgert hat, könnte man auch den Begriff ‚Hyperstruktur‘ benutzen. Auch der bereits benutzte Begriff ‚Makrostruktur‘ könnte vielleicht passen, um aber gerade die auf der Hand liegende Verwirrung zu verhindern, behalten wir die semantischen 9 D IJK , Textwissenschaft, 131. <?page no="58"?> Mechthild Habermann 58 Makrostrukturen der Explikation der globalen Bedeutung - des Textgegenstandes - eines Textes vor, während wir die Superstrukturen hier neu einführen.“ 10 Und weiter: „[...] Textsorten unterscheiden sich alle nicht nur aufgrund ihrer unterschiedlichen kommunikativen [...] Funktion, sie besitzen auch verschiedene Arten des Aufbaus. Solche globalen Strukturen, die den Typ eines Textes kennzeichnen, nennen wir Superstrukturen. [...] Um es metaphorisch auszudrücken: eine Superstruktur ist eine Art Textform, deren Gegenstand, Thema, d.h. Makrostruktur, der Textinhalt ist.“ 11 Beispiele für unterschiedliche Superstrukturen sind nach van Dijk narrative Strukturen, argumentative Strukturen, wissenschaftliche Abhandlungen. 12 Bei der narrativen Superstruktur, um nur ein Beispiel zu nennen, besteht zum Beispiel der Kern der Erzählung aus dem „Ereignis“, in dem „Komplikation“ und „Auflösung“ zusammenlaufen. Das „Ereignis“ bildet zusammen mit dem „Rahmen“ (bestimmter Ort, bestimmte Zeit, Situation, Umstände) die „Episode“, die zusammen mit der „Evaluation“ (bestimmte Einstellung) die „Geschichte“ bildet, der schließlich die „Moral“ (Schlussfolgerung) die narrative Superstruktur verleiht. 13 2.4 Mikrostruktur Im Unterschied zur „Superstruktur“ ist „Mikrostruktur“ ein etablierter sprachwissenschaftlicher Terminus. Während über die Makrostruktur globale Textzusammenhänge aufgedeckt werden können, versteht man unter der mikrostrukturellen Verknüpfung von Propositionen den lokalen Textzusammenhang. Im Mittelpunkt der mikrostrukturellen Betrachtungsweise stehen die semantischen Beziehungen zwischen kleineren Einheiten eines Textes. Dazu gehört die Frage nach der Verknüpfung von Sätzen / Satzsequenzen durch • Konjunkte, das heißt Verbindungen zwischen Sätzen oder Satzteilen, • Disjunkte, das heißt Entscheidungen zwischen Sachverhalten, • Konditionale, das heißt kausale Beziehungen in einem weiten Sinn, 10 D IJK , Textwissenschaft, 128. Den Terminus „Hypertext“ versteht van Dijk in anderem Sinne als ihn Gérard Genette gebraucht - oder wie er heute im Zusammenhang mit den neuen Medien Verwendung findet. Bei Genette ist es die vierte Art der Transtextualität, worunter er die komplette Umformung eines Ausgangstextes versteht. Diese kann auf zwei verschiedenen Wegen vonstatten gehen: Entweder mittels der Technik der „Transformation“, in der das Thema dasselbe bleibt, jedoch in einem anderen Stil behandelt wird, oder der Technik der „Imitation“, in der der Stil beibehalten wird, sich aber das Thema verändert; vgl. G ENETTE , G., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Edition Suhrkamp. Aesthetica 1683), Frankfurt am Main 1993, 44. 11 D IJK , Textwissenschaft, 128. 12 A. a.O., 140ff., 144ff., 150ff. 13 Vgl. D IJK , Textwissenschaft, 140ff.; vgl. auch F IX , U./ P OETHE , H./ Y OS , G., Textlinguistik für Einsteiger, Frankfurt am Main u.a. 2003, 147. <?page no="59"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 59 • Kontrastive, also Gegensätze. 14 Die Mikrostruktur könnte graphisch folgendermaßen abgebildet werden. 15 Die Verknüpfung von Textelementen auf mikrostruktureller Ebene erfolgt eher paarweise. Kohäsive Mittel machen den Text auf lokaler Ebene kohärent, weil deutlich wird, wie die Einheiten eines Textes, meist Sätze, in einer semantischen Beziehung zueinander stehen. Die mikrostrukturelle Kohärenz führt zwar zu einem Zusammenhang der Elemente untereinander, aber noch nicht zu einer Gesamtbedeutung oder Gesamtaussage eines Textes. Das heißt, die lokale Kohärenz, die mit den Mikrostrukturen erfasst ist, reicht für die Produktion eines thematisch einheitlichen Textes nicht aus. 2.5 Terminologische Unschärfen Die relativ klare Trennung van Dijks im Gebrauch der Termini Makro- und Mikrostruktur ist in der weiteren Entwicklung der Textlinguistik von etlichen Sprachwissenschaftlern nicht übernommen worden. Mitunter wird die „Makrostruktur“ eines Textes in Übertragung ihres Gebrauchs in der Lexikographie ausschließlich an formalen Gesichtspunkten festgemacht: Man spricht zum Beispiel von der Makrostruktur des Dialogs, von der Makrostruktur der Gleichnisse und vieles mehr. Eine Abgrenzung von dem Begriff „Textsorte“ oder auch „Teiltext“, wie ihn Franz Simmler in seiner Subklassifikation von Textteilen und Teiltexten gebraucht, ist ebenfalls mitunter kaum möglich. 16 Zur allgemeinen Begriffsverwirrung führt der Umstand, dass größere Textsegmente, die in den einen Darstellungen als „Makrostruktur“ aufgefasst sind, in anderen Darstellungen als „Mikrotext“ bezeichnet werden. 2.6 Mikrotext „Mikrotexte“ sind Textsegmente oder Teiltexte, also thematisch-inhaltlich relativ abgeschlossene Segmente mit einer textsortentypischen Funktion im Gesamttext. Die Untergliederung in Teiltexte ist, und dies ist für die Betrach- 14 Vgl. D IJK , T.A. VAN , Text and Context, London/ New York 1977; dazu auch F LEISCHER , W. u.a., Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache, Frankfurt am Main u.a. 2001, 485f. 15 http: / / www.ruediger-weingarten.de/ TextundBild/ Textverarbeitung.html [12. 06. 2008]. 16 S IMMLER , F., Teil und Ganzes in Texten. Zum Verhältnis von Textexemplar, Textteilen, Teiltexten, Textauszügen und Makrostrukturen, in: Daphnis 25 (1996), 597-625. <?page no="60"?> Mechthild Habermann 60 tung der Bibel sehr wichtig, auch vom Umfang der Gesamttexte abhängig; denn Großtexte sind in der Regel hierarchisch gegliedert: • schriftliche Texte in Kapitel, Paragraphen, Abschnitte, Absätze, • Gespräche in Hauptphasen (Gesprächseröffnung, Gesprächsmitte oder Kernphase, Gesprächsbeendigung), Gesprächssequenzen, Gesprächsschritte. Nach Werner Kallmeyer und Reinhard Meyer-Hermann stellen Textsegmente „wesentliche Sinneinheiten“ dar und entsprechen einem „deutlichen Aktivitätswechsel“. 17 In Teiltexten werden Subthemen entfaltet, die zur Entwicklung des Gesamttextes (und des Hauptthemas) beitragen. Die Übergänge zwischen einzelnen Mikrotexten werden dem Aktivitätswechsel und der thematischen Veränderung entsprechend in besonderer Weise signalisiert, zum Beispiel durch textorganisierende Sprachhandlungen, Teilzusammenfassungen, Ankündigungen, in schriftlichen Texten außerdem durch graphische Kennzeichnung (Zwischenräume, Leerzeilen, Beginn einer neuen Zeile bzw. Seite u. a.) und oft auch durch Zwischenüberschriften. 2.7 Der Textbegriff im Wandel Den textlinguistischen Arbeiten, die sich in der Frühphase der linguistischen Beschäftigung mit Texten um eine Klassifikation vom Textganzen und seinen Teilen bemühten und die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von Teiltexten oder Textteilen von einem Textganzen zu klassifizieren versuchten, liegt ein Textbegriff zugrunde, der „Text“ als eine abgeschlossene Einheit definiert. 18 In seiner 1972 erschienenen Einführung in die Textlinguistik betrachtet Wolfgang Ulrich Dressler - als einer unter vielen - den Text als „eine abgeschlossene sprachliche Äußerung“. 19 20 Jahre später erklärt Dietrich Busse den Text jedoch bereits zu einem „Phänomen im sozialen Zwischenbereich zwischen den Menschen“. Er ist „deshalb eine intersubjektive, überindividuelle Größe; ein Text steht immer schon in funktionalen Gefügen, in Handlungsgefügen, in Sprachspielen, d.h. in einer gesellschaftlichen Praxis“. 20 Im Zuge der Entgrenzung des Textbegriffs und seiner Verortung im Textuniversum kommt es zu einer fruchtbaren Neudefinition der Termini „Mikrotext“ versus „Makrotext“. 17 K ALLMEYER , W./ M EYER -H ERMANN , R., Textlinguistik, in: A LTHAUS , H.P. u.a. (Hgg.), Lexikon der Germanistischen Linguistik, Tübingen 1980, 252. 18 Eine Zusammenstellung zentraler Textdefinitionen bietet K LEMM , M., Ausgangspunkte: Jedem seinen Textbegriff? Textdefinitionen im Vergleich, in: F IX , U. u.a. (Hgg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Frankfurt am Main u.a. 2002, 17-29. 19 D RESSLER , W.U., Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1972, 1. 20 B USSE , D., Textinterpretation, Opladen 1992, 182. <?page no="61"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 61 2.8 Mikrotext und Makrotext aus neuer Perspektive Nach Hardarik Blühdorn sind Mikrotexte „die abgegrenzten Sprachprodukte, die wir in der Alltagssprache mit dem Individuenbegriff Text bezeichnen.“ Ein prototypischer Mikrotext • „stammt von einem einzigen Autor, • ist zu einem bestimmten Zeitpunkt • mit einer bestimmten Handlungsabsicht verfasst worden, • behandelt ein bestimmtes Thema, • gehört zu einer bestimmten Textsorte • und besteht ausschließlich aus sprachlichen Komponenten (Wörtern und Sätzen).“ 21 „Makrotext ist demgegenüber ein Gegenstand, auf den wir uns mit dem Individuenbegriff, aber auch mit dem Massebegriff Text beziehen können.“ Makrotexte • „müssen nicht eindeutig abgegrenzt sein, • können aus zahlreichen, vielfältig aufeinander bezogenen Mikrotexten bestehen, • können von verschiedenen Textproduzenten • zu unterschiedlichen Zeitpunkten und • mit unterschiedlichen Handlungsintentionen erweitert werden.“ 22 Typische Makrotexte sind nach Blühdorn „polyphon, polythematisch und polygenerisch, d. h. sie vereinen in sich die Stimmen mehrerer Sprecher, handeln von mehreren, auch unzusammenhängenden Themen und können Charakteristika unterschiedlicher Textsorten aufweisen. Ferner können Makrotexte multimodal und multimedial sein, d. h. sie können gesprochene und geschriebene Passagen miteinander kombinieren, können neben sprachlichen auch nicht-sprachliche Komponenten wie Bilder, Geräusche, Musik u.a. einschließen [...].“ 23 Aus dieser Sicht ist ein Makrotext weitestgehend heterogen, ein Mikrotext weitestgehend homogen. Hier kann eine Skala aufgezeigt werden, die vom „Internet“ über die „TV-Zeitschrift“, „Diskussionsgruppe“, den „Roman“, dem „Kochrezept“ bis hin zum formstrengen „klassischen Gedicht“ reicht. 2.9 Die Bibel als Supertext Inwieweit hilft die terminologische Diskussion, die „Bibel als Supertext“ zu verstehen? Was ist ein „Supertext“, wenn in der sprachwissenschaftlichen Diskussion entscheidende Positionen durch Termini wie „Makrostruktur“ 21 B LÜHDORN , H., Textverstehen und Intertextualität, in: ders. u.a. (Hgg.): Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, Berlin/ New York 2006, 279. 22 B LÜHDORN , Textverstehen und Intertextualität, 280. 23 A.a.O., 283. <?page no="62"?> Mechthild Habermann 62 und „Mikrostruktur“ oder „Superstruktur“, „Makrotext“ und „Mikrotext“ besetzt sind? Im „Supertext“ mischen sich die homogenen und heterogenen Elemente. In van Dijks Sinn gibt es nach allgemeinem Verständnis eine oberste Proposition, eine Makroproposition, das heißt eine übergeordnete, globale Bedeutungsstruktur des Gesamttextes. Auf die Bibel übertragen, besteht wohl Einigkeit darin, dass es sich um die Heilsbotschaft eines transzendenten Gottes für die Menschen handelt. Die Makroproposition ist „kondensierbar“ aus den unterschiedlichen formalen Strukturen, die sich als Konglomerat mehrerer Textsortenexemplare oder „Superstrukturen“ erweisen, die van Dijk ausschließlich formal definiert: Hierzu zählen die Bibeltextsorten „Evangelium“, „Brief“ oder „Gleichnis“ 24 oder auch die „Vertextungsstrategien“ wie die Narration, Argumentation, Explikation oder Deskription. 25 Kurz zusammengefasst: Der Supertext „Bibel“ besteht - und dies ist hinlänglich bekannt - aus einem Bündel unterschiedlicher Textsorten, die mit sprachwissenschaftlichen Methoden noch nicht hinreichend beschrieben sind. Dass zwischen den einzelnen Textthemen ein Netz textkohäsiver Bezüge und textkohärenter Verweise besteht, ist unbestritten. Besteht nun die „Bibel als Supertext“ aus (einer Vielzahl von) Texten oder ist sie selbst ein Text mit (einer Vielzahl von) Textteilen? Erhardt Güttgemanns fasst die Bibel als einen Text, als einen Makrotext, auf. 26 Dagegen spricht sich Franz Simmler aus: Für ihn ist die Bibel „vielmehr eine Sammlung von Textexemplaren, von Basistexten [...], deren Zuordnung zu linguistisch definierten Textsorten in einer vollständigen Merkmalanalyse von den Makrostrukturen über die Syntax bis zur Lexik und unter Beachtung des Verhältnisses von Teil und Ganzes und von Merkmalhierarchien [...] bisher noch nicht versucht wurde.“ 27 24 Einen Überblick über die Bibeltextsorten gibt S IMMLER , F., Textsorten des religiösen und kirchlichen Bereichs, in: B RINKER , K. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1. Halbband, Berlin/ New York 2000, 677-681. 25 Vgl. hierzu die komplexen Strategiemuster bei H EINEMANN , W./ V IEHWEGER , D., Textlinguistik. Eine Einführung, Tübingen 1991, 235-251 oder die Vertextungsmuster bei H EINEMANN , M./ H EINEMANN , W., Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion - Text - Diskurs, Tübingen 2002, 187-189. 26 G ÜTTGEMANNS , E., Theologie als sprachbezogene Wissenschaft, in: K AEMPFERT , M. (Hg.): Probleme der religiösen Sprache, Darmstadt 1983, 211-256. 27 S IMMLER , F., Textsorten des religiösen und kirchlichen Bereichs, 677. Zu den Textsorten des Neuen Testaments schreibt Franz Simmler (a.a.O., 680), dass „die Makrostrukturen der Gleichnisse und des Gebets [...] - wie Gedichte, Lieder und Briefe in Romanen - innerhalb der übrigen Makrostrukturen eine Sonderstellung“ einnehmen. „Sie besitzen eine potentielle Texthaftigkeit, weil sie in einer anderen externen Variablenkonstellation aus Sprecher, Hörer, Ort und Zeit mit ähnlichen, jedoch nie völlig identischen textuellen Merkmalbündeln auch selbständig und mit eigenem Textsinn vorkommen können und dann Textexemplare konstituieren. Sie sollten von den Mak- <?page no="63"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 63 Die Frage nach Einheit oder Vielfalt lässt sich nur beantworten, wenn man den Grad der Eigenständigkeit der einzelnen Texte betrachtet. Da die Bibel seit der Kanonisierung homogen, das heißt als „eine Schrift“ bzw. „ein Buch“ wahrgenommen wird, kann ihr aus der Sicht des Rezipienten mit Gewissheit der Status eines Textes, eines „Supertextes“, zugesprochen werden, der aus einzelnen Textteilen besteht. Der Textproduktionsaspekt bleibt dabei unberücksichtigt. Die Bibel weist zahlreiche Merkmale der Makrotextbeschreibung im Sinne der bei Blühdorn aufgestellten Kriterien auf. Eine Übereinstimmung zwischen „Supertext“ und „Makrotext“ besteht in den folgenden Punkten: • „Supertext“ wie „Makrotext“ können aus zahlreichen, vielfältig aufeinander bezogenen Mikrotexten bestehen • sie können von verschiedenen Textproduzenten stammen • sie können zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sein. Allerdings unterscheidet sich das Konzept des „Supertextes“ in einem entscheidenden Punkt vom Makrotext-Konzept: Seit der im 4. Jahrhundert erfolgten Kanonisierung der Bibeltexte ist die Bibel - als Buch - abgeschlossen, eindeutig begrenzt und kann daher nicht mehr durch unterschiedliche Handlungsintentionen erweitert werden. Echtheitsfragen im Rahmen der Apokryphen oder textkritische Erwägungen, die die Diskussion einzelner Textstellen noch immer bestimmen, fallen hierbei nicht ins Gewicht und sind deshalb nicht einzubeziehen. Aber weder formale noch inhaltliche Aspekte des Textthemas, seiner globalen Bedeutungsstruktur, das heißt seiner Makrostruktur, bleiben auf die Bibel beschränkt. Ihre Superstrukturen, Makropropositionen und Mikrotexte sind in der abendländischen Welt entgrenzt und werden im Textuniversum mit unterschiedlichen Handlungsintentionen fortgeschrieben. Hierfür ist schon allein die vor der Kanonisierung der Bibel entstandene Evangelienharmonie des Syrers Tatian aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. ein beredtes Zeugnis; sie wurde in den 20er Jahren des 9. Jahrhunderts n. Chr. in die deutsche Volkssprache übersetzt. 28 Da in der Evangelienharmonie der Versuch unternommen wurde, die vier Evangelien in einen homogenen Text zusammenzuführen, könnte man sich die Frage stellen, ob dieses Unternehmen nicht aus einer gewissen Irritation entstand, nämlich der, vier Evangelien zu haben, die aus unterschiedlicher Perspektivierung das gleiche Thema, das Leben Jesu, abhandeln. - Fortschreibungen geschehen in der Neuzeit, seit der Aufklärung auch in dem Sinn, ein neues Bibelverständnis in neuer Kontextualisierung zu rostrukturen der Kapitel und Absätze, die diese Fähigkeit nicht besitzen, auch terminologisch als Textteile abgegrenzt werden [...]“. 28 Vgl. hierzu M ASSER , A. (Hg.), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56, Göttingen 1994. <?page no="64"?> Mechthild Habermann 64 erlangen. Die Verortung der „Bibel als Supertext“ liegt zwischen dem Mikro- und Makrotext-Konzept im Sinne Blühdorns. 3 Die medien- und rezeptionsgeschichtliche Perspektive Neben den strukturellen Aspekten der Textlinguistik kommt ein wesentlicher rezeptions- und mediengeschichtlicher hinzu: Die Bedeutsamkeit der Bibel im Abendland prägte ganz entscheidend den Textbegriff des Mittelalters und der Neuzeit. Ausschlaggebend dafür war die Tatsache, dass gerade die Bibel als abgeschlossener Text, medial präsentiert in Prachtcodices - die Gutenbergbibel ist zudem das erste gedruckte Buch -, wahrgenommen wurde. Schon allein aufgrund dieser herausragenden Stellung verdient die Bibel das Prädikat „Supertext“. 3.1 Der Textbegriff des Mittelalters- und der Frühen Neuzeit Der Textbegriff des Mittelalters wurde deshalb wesentlich durch die Bibel beeinflusst, weil sie häufig anders als die überlieferten Texte des Altertums als Ganzes wahrgenommen wurde. Eine Vielzahl antiker Zeugnisse sind nämlich nicht als Ganzschriften, sondern indirekt ins Mittelalter gekommen. Indirekte Überlieferungsträger sind Zitate bei anderen Autoren, Florilegien, Scholien oder Lexika. Hinzu kommt, dass die philologische Tätigkeit der Textrezeption, die Verfahren der Auslegung von Texten, namentlich an der Bibel geschult wurde. Neben der theologischen Auslegungspraxis hatte allenfalls die juristische Hermeneutik bis zum Beginn der Aufklärung einen hohen Stellenwert. Der Grund hierfür war die verbindliche normative Auslegung von Gesetzen und von heiligen Texten. 29 Im Mittellateinischen bedeutet textus bereits auch „Text des Evangeliums“. So verwundert es nicht, dass die ältesten Belege des deutschen Gebrauchs engstens mit der Bibel verbunden sind. Einer der ersten deutschen Belege des Wortes „Text“ hat die Bedeutung „Wortlaut der Bibel“: 30 • Nu will ich deme texte na/ Gen [sic! ] in diesem buche vort (vor 1350; poet. Paraphrase des Buches Hiob) • den text und nit die glos (um 1380) Bis in die Neuzeit galt die Auffassung: Der Text ist etwas Gegebenes, alle Interpretationen stammen von ihm selbst. Die Subjektivität des Interpretierenden wurde nicht als entscheidende Größe, die die Interpretation wesentlich beeinflusst, erkannt und auch nicht die wechselnden Zeitläufe. Zu ver- 29 Vgl. G ADAMER , H.-G., Art. Hermeneutik, in: HWPh 3 (1974), 1061-1073, hier: 1062. 30 Vgl. P AUL , H. Deutsches Wörterbuch, Tübingen 2002 10 , 1002. <?page no="65"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 65 mitteln war allein der Wille des Gesetzgebers oder der Wille des kanonischen Textes für die Gegenwart des Auslegenden. 31 Die Bedeutung der Bibel als Text tritt noch markanter durch die Tatsache hervor, dass sich bis in die Neuzeit hinein der Textinterpret lediglich als „Mittler und Sprachrohr“ des Geschriebenen, des Textes versteht, der eine Wahrheit in sich selbst trägt. Die Dominanz des Textes und die Notwendigkeit der Normierung seiner Auslegung führt im Mittelalter letztlich zu der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, wonach die Bibel per se eine wörtliche, eine moralische, eine allegorische und anagogische Bedeutung hat. Die wörtliche Bedeutung lehrt die historischen Tatsachen, die allegorische den Glaubenssatz, der sich daraus ergibt, die moralische die daraus abzuleitende Handlungsanweisung und die anagogische den theologisch-heilsgeschichtlichen Sinn. 32 Erst die Reformationstheologie stößt derlei Glaubenssätze um. Alleyn die schrifft, sola scriptura gilt seit Luther, wodurch der Glaubenswert der Schrift zunächst auf den Wortsinn reduziert wird. Noch 1757 betont Georg Friedrich Meier in seinem „Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst“, dass der „Text (textus) [...] die Rede“ sei, „insoferne sie, als der Gegenstand der Auslegung betrachtet wird“. 33 3.2 Die Materialität der Bibel Die Gegenständlichkeit des Begriffs „textus“ ist durch die materielle Realisierung der Bibel bedingt. Und Gegenstände haben Begrenzungen. Eine zweite Bedeutung von „Text“ ist nämlich die des dekorierten Artefakts, des geschmückten Evangeliencodex, also des Buches. „Text“ in diesem Sinn bezieht sich auch immer auf die Materialität seiner Schriftzeichen. Bis in die Aufklärung hinein ist der Textbegriff stark materialisiert. Nach Clemens Knobloch oszilliert seit dem Mittelalter „die lexikalische Bedeutung (bzw. der Bezeichnungswert) des Ausdrucks Text zwischen der Ebene des Werkes selbst und seiner materiellen Realisierung in einer Abschrift. Noch in der humanistischen und der neueren Philologie spricht man bei überlieferten Abschriften eines Werkes vielfach von dessen Texten.“ 34 Für den mittelalterlichen Textbegriff ist noch ein Weiteres zu bedenken: Schriften im Mittelalter wurden wie Steinbrüche abgetragen, die daraus gewonnenen Bausteine werden weiter verarbeitet. Diese Kompilationstechnik schafft Schriften nach Patchwork-Verfahren, so dass manches Ganze und Ganzheitliche, das den Text als abgeschlossene Einheit erkennen lässt, aus der mittelalterlichen Produktionsstätte heraus nicht gesehen werden konnte. Es gilt das Prinzip des unendlichen Fortschreibens mancher Texte. 31 Vgl. K NOBLOCH , C., Text/ Textualität, in: Ästhetische Grundbegriffe 6 (2005), 34 f. 32 Vgl. S CHERNER , M., „Text“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 39 (1996), 117. 33 M EIER , G.F., Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle an der Saale 1757 [ND 1965], § 105. 34 K NOBLOCH , Text/ Textualität, 35. <?page no="66"?> Mechthild Habermann 66 Hieraus kann der folgende Schluss gezogen werden: Texte wurden bis in die Frühe Neuzeit wohl kaum jemals als abgeschlossene Einheiten wahrgenommen, die Bibel aber schon, denn sie war immer, auch wenn Bibelzitate frei verwendbar waren, als materialisierter Gegenstand präsent. Und anders als die meisten anderen Texte wies die Bibel bereits früh Paratexte 35 und Gliederungssysteme, Buch-, Kapitel- und Versangaben, mit Kommentierungen auf. Diese Paratexte ermöglichten es, sie als hierarchisch gegliedertes Textkonglomerat wahrzunehmen, das wie kein anderes eine klare Strukturierung bis auf die Mikroebene erlaubte. Die Dominanz der Verbindung von Bibel und „Text“ zeigt sich sogar noch in der französischen ‚Encyclopédie’ Denis Diderots (1751-1780). 36 Neben den Teilbedeutungen „prächtiges Evangelienbuch“; „Drucktechnik“; „die Worte zu Musikstücken“ bedeutet für ihn „Text“: • „was man liest in den Büchern der Bibel; • Bezeichnung für das Korpus der heiligen Schriften (Antonym: Glosse, Kommentar); • der griechische bzw. hebräische Urtext; • Passage der Bibel, deren man sich bedient, ein Dogma zu beweisen oder einen Irrtum zurückzuweisen; • Bibelstelle, die als Grundlage der Predigt dient.“ 4 Fazit Ein „Supertext“ ist ein Text, der das Kriterium des „Übergeordnet-Seins“ erfüllt. Dieses Merkmal trifft auf die „Bibel“ in herausragendem Ausmaß zu. In textwissenschaftlichem Sinn ist eine Verortung zwischen Mikrotext und Makrotext möglich, so dass in einem durch Kanonisierung geschlossenem Ganzen ein Textkonglomerat zusammengehalten wird, das aus verschiedenen Teiltexten von verschiedenen Autoren zu unterschiedlichen Zeiten stammt und eine zentrale Funktion hat, nämlich die Verkündigung der Heilsbotschaft eines transzendenten Gottes für die Menschen. Neben dem textwissenschaftlichen Aspekt bietet die Medien- und Rezeptionsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit das zweite Argument, die Bibel als „Supertext“ zu bezeichnen. In der Wahrnehmung des christlichen 35 Nach Gérard Genette ist der Paratext „also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt“ (vgl. G ENETTE , G., Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 2001, 10). Darunter fallen der verlegerische Peritext (Formate, Reihen, Umschlag und Zubehör, Titelseite etc.), der Name des Autors (Ort, Onymität, Anonymität, Pseudonymität), Titel, Widmungen, Motti, Vorworte und Anmerkungen (etc.). Paratexte sind Nebentexte zu einem Haupttext oder Mikrotexte, die medial, sprachlich und thematisch an den Haupttext angrenzen. 36 Nach K NOBLOCH , Text/ Textualität, 23f. <?page no="67"?> Was ist ein „Supertext“? Eine textlinguistische Definition der Bibel 67 Abendlandes gilt sie als der wichtigste Text; sie ist der Text schlechthin, eine geschlossene Einheit, die der Auslegung bedarf. Die Frage danach, ob es weitere „Supertexte“ gibt, soll hier nicht erörtert werden. Potentielle Kandidaten werden sich an den aufgestellten Kriterien messen lassen müssen. Es soll aber nicht in Abrede gestellt werden, dass es auch andere äußerst wirkungsmächtige Texte gibt, die jedoch mit dem „Supertext Bibel“ den Vergleich wohl scheuen müssen. Literatur B LÜHDORN , H., Textverstehen und Intertextualität, in: ders. u.a. (Hgg.): Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, Berlin/ New York 2006. B RINKER , K., Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 2001 5 . B RINKER , K., Textstrukturanalyse, in: ders. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1. Halbband, Berlin/ New York 2000, 164f. B USSE , D., Textinterpretation, Opladen 1992. D IJK , T.A. VAN , Text and Context, London/ New York 1977. D IJK , T.A. VAN , Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung, Tübingen 1980. D RESSLER , W.U., Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1972. F IX , U., Textstil und KonTextstile. Stil in der Kommunikation als umfassende Semiose von Sprachlichem, Parasprachlichem und Außersprachlichem, in: F IX , U./ L ERCHNER , G. (Hgg.), Stil und Stilwandel, Frankfurt am Main u.a. 1996. F IX , U./ P OETHE , H./ Y OS , G., Textlinguistik für Einsteiger, Frankfurt am Main u.a. 2003. G ADAMER , H.-G., Art. Hermeneutik, in: HWPh 3 (1974), 1061-1073. G ENETTE , G., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Edition Suhrkamp. Aesthetica 1683), Frankfurt am Main 1993. G ENETTE , G., Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 2001. G ÜTTGEMANNS , E., Theologie als sprachbezogene Wissenschaft, in: K AEMPFERT , M. (Hg.), Probleme der religiösen Sprache, Darmstadt 1983, 211-256. H EINEMANN , M./ H EINEMANN , W., Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion - Text - Diskurs, Tübingen 2002. H EINEMANN , W./ V IEHWEGER , D., Textlinguistik. Eine Einführung, Tübingen 1991. K ALLMEYER , W./ M EYER -H ERMANN , R., Textlinguistik, in: A LTHAUS , H.P. u.a. (Hgg.), Lexikon der Germanistischen Linguistik, Tübingen 1980. K LEMM , M., Ausgangspunkte: Jedem seinen Textbegriff? Textdefinitionen im Vergleich, in: F IX , U. u.a. (Hgg.), Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Frankfurt am Main et al. 2002. K NOBLOCH , C., Text/ Textualität, in: Ästhetische Grundbegriffe 6 (2005). K ÜPPER , H., Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart 1987. M ASSER , A. (Hg.), Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56, Göttingen 1994. M EIER , G.F., Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757 (ND 1965). P AUL , H., Deutsches Wörterbuch, Tübingen 2002 10 . S IMMLER , F., Teil und Ganzes in Texten. Zum Verhältnis von Textexemplar, Textteilen, Teiltexten, Textauszügen und Makrostrukturen, in: Daphnis 25 (1996), 597-625. <?page no="68"?> Mechthild Habermann 68 S IMMLER , F., Textsorten des religiösen und kirchlichen Bereichs, in: B RINKER , K. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1. Halbband, Berlin/ New York 2000, 677-681. W ENDELKEN , P., Der Einfluß des Englischen auf das heutige Werbedeutsch, in: Muttersprache 77 (1967). <?page no="69"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung Unser Beitrag zur Thematik „Die Bibel als Text“ greift einen speziellen Textbegriff auf, der zugleich eine enorme Erweiterung oder Verformung des konventionellen Textverständnisses darstellt: den Hypertext. In einem ersten Schritt führen wir überblicksartig in die Welt des Hypertextes ein und definieren den Hypertextbegriff mit seinen charakteristischen Merkmalen. Dabei soll gezeigt werden, dass die Konzeption des Hyptertextes in Kontinuität und Differenz zum konventionellen eher strukturalistisch orientierten Textbegriff steht, welcher die gegenwärtige Bibelwissenschaft dominiert. Die elektronischen und multilinearen Organisationsformen, die im Zusammenhang einer hypertextuellen Wirklichkeit entstehen, bedeuten einen tiefen Einschnitt zu bisherigen Textkulturen, die zumeist auf fixierte, gedruckte und kanonisierte Schriftlichkeit gegründet sind. In einem zweiten Schritt bringen wir den eingeführten Hypertextbegriff „in Tuchfühlung“ mit der Bibel und ihrer Auslegung. Den Ausdruck „Tuchfühlung“ haben wir sehr bewusst gewählt, gibt er doch den Entstehungsprozess unserer Zusammenarbeit recht treffend wieder: Die linguistische Perspektivierung auf den Hypertext, die Volker Eisenlauer als Sprachwissenschaftler einbringt, verknüpft sich hier mit der Bibel und ihrer Auslegung, die Stefan Scholz als Evangelischer Theologe einbringt. 1 Wir behaupten nicht, die Bibel sei ein Hypertext. Sie ist es ebenso wenig wie sie ein strukturalistisches Textgewebe ist. Allerdings lassen sich die unterschiedlichen Umgangsformen mit dem biblischen Motiv- und Textmaterial zusammen betrachtet nur als multilinearer Zugang zur Bibel erklären 2 und Multilinearität ist das zentrale Merkmal der Hypertextualität. Text/ Textualität und Hypertext/ Hypertextualität sind für uns Paradigmen der Interpretation, die in einem konkreten Wissenschaftskontext ihre Plausibilität und Evidenz haben, während sie in anderen Diskursgemeinschaften als Verzerrungen, Verein- * Wir danken allen Teilnehmenden des Seminars „Die Bibel als Hypertext“, das im Juni 2007 in Sion/ Schweiz stattfand, für die engagierten Diskussionen und für weiterführende Anregungen. Siehe auch http: / / www.die-bibel-als-hypertext.de. 1 Am Anfang stand der Austausch über die Forschungsgebiete des jeweils anderen. Es entwickelte sich ein interdisziplinäres Experimentieren, in dem wir die beiden Forschungsbereiche miteinander verknüpften. 2 Vgl. die literaturwissenschaftlichen Beiträge von Christine Lubkoll und Mathias Mayer mit den exegetischen Beiträgen von James Alfred Loader, Jean Zumstein und Eve-Marie Becker in diesem Band. <?page no="70"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 70 nahmungen und Verfälschungen gewertet werden. Wir erinnern hier nur an das dogmatische und bisweilen ins fundamentalistische spielende Paradigma der Bibel als Wort Gottes 3 sowie das pietistische und aktuell-spirituelle Paradigma der Bibel als Lebensbuch 4 . Wir behaupten deshalb keine natürliche oder essentialistische Verbindung von Bibel und Hypertext, sondern wir legen den Hypertextbegriff als Interpretament, d.h. als heuristische Strategie, über die Bibel und ihre Auslegung, um diese in einer neuen Perspektive zu verstehen. In einem dritten Schritt formulieren wir abschließend Konsequenzen, die sich aus unserer Sicht für das Verständnis der Bibel und ihrer Auslegung als Hypertext ergeben. 1 Text und Hypertext Die Bibel als einen Text bzw. eine Ansammlung von Texten aufzufassen, wurde insbesondere durch die Rezeption des linguistic turn 5 für die Bibelwissenschaften zu einem ergiebigen Interpretationsparadigma 6 . Heute steht die Kategorie der Textualität nahezu gleichberechtigt neben der klassischen Domäne bibelwissenschaftlicher Interpretation, der Kategorie der Geschichte. 7 Dieser Eindruck verstärkt sich umso mehr, je weiter man sich vom deutschsprachigen Kontext entfernt und Interessengebiete vor allem nordamerikanischer Bibelwissenschaft wahrnimmt. 8 Die Fokussierung auf Textualität er- 3 Vgl. S LENCZKA , R., Geist und Buchstabe, in: S CHNEIDER , T./ P ANNENBERG , W. (Hgg.), Verbindliches Zeugnis III. Schriftverständnis und Schriftgebrauch (Dialog der Kirchen 10), Freiburg i. Breisgau/ Göttingen 1998, 107-134. 4 Vgl. N ICOL , M., Kult um die Bibel und Kultur des Lesens, in: F REIBURG , R./ M AY , M./ S PILLER , R. (Hgg.), Kultbücher, Würzburg 2004, 1-13. 5 „Zusammenfassend kann man diese sprachanalytische Wendung der Philosophie als den Versuch beschreiben, die traditionellen philosophischen Probleme durch die Analyse der Bedeutung zentraler sprachlicher Ausdrücke zu klären“ (B UBLITZ , S., Der ‚linguistic turn’ der Philosophie als Paradigma der Sprachwissenschaft, Münster/ New York 1994, 1.) 6 Vgl. W ISCHMEYER , O./ B ECKER , E.-M. (Hgg.), Was ist ein Text? Tübingen/ Basel 2001; R EINMUTH , E., Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments, Göttingen 2002, 91-94; R EINMUTH , E./ B ULL , K.-M., Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen 2006, 11-25. 7 Vgl. Oda Wischmeyers Einteilung der neutestamentlichen Hermeneutik in ein historisches Verstehen, ein rezeptionsgeschichtliches Verstehen, ein sachliches Verstehen und ein textuelles Verstehen. Sprachwissenschaftliche Instrumentarien bestimmen vor allem die beiden letzten Rubriken; dazu W ISCHMEYER , O., Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen/ Basel 2004, V-VIII. 8 Vgl. S TEGEMANN , W., Amerika, du hast es besser! Exegetische Innovationen der neutestamentlichen Wissenschaft in den USA, in: A NSELM , R./ S CHLEISSING , S./ T ANNER , K. (Hgg.), Die Kunst des Auslegens. Zur Hermeneutik des Christentums in der Kultur der Gegenwart, Frankfurt am Main 1999, 99-114. Einen guten Einblick in die von deutschen Fragestellungen z.T. recht deutlich differierenden Forschungsrichtungen geben Aufsät- <?page no="71"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 71 möglichte den wissenschaftlichen Institutionen der Bibelinterpretation Auswege aus den Aporien, die Konstruktivismus und Postmoderne den historisch orientierten Disziplinen insgesamt beschert hatten 9 und verstärkte die Zusammenarbeit mit den Sprachwissenschaften 10 . „Auch Klio dichtet“ 11 - diese Einsicht zerstörte das im Historismus verankerte Vertrauen in eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die den Anspruch hegt, einstige Wirklichkeiten getreu nachzuzeichnen und seit Ferdinand Christian Baur weithin das theoretische und methodische Fundament der bibelwissenschaftlichen Disziplinen nach deren eigenem Selbstverständnis bildete. 12 Wir stellen nun knapp den in den Bibelwissenschaften rezipierten Textbegriff in seiner allgemeinen Form dar, um daraufhin das Hypertextverständnis als mehrdimensionale Weiterentwicklung und zugleich Dekonstruktion gängiger Textvorstellungen zu beschreiben. 1.1 Textdefinition: Was ist ein Text? Der Sprachwissenschaftler Michael Klemm stellt das allgemeine Textverständnis mit folgenden sechs Sätzen zusammen: 13 ze der innovativen Zeitschrift der Society of Biblical Literature (SBL) „Semeia. An experimental journal for biblical criticism“, 1974ff. 9 Vgl. zur Geschichtsschreibung in der Postmoderne C ONRAD , C./ K ESSEL , M. (Hgg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart, 1994; siehe auch B RECHENMACHER , T., Postmoderner Geschichtsdiskurs und Historiographiegeschichte. Kritische Bemerkungen mit Blick auf eine narrativistische Darstellung, in: Historisches Jahrbuch 119 (1999), 295-306. 10 Vgl. E GGER , W., Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg u.a. 1987 2 . In Eggers neutestamentlichem Methodenbuch wird für Studierende hiesiger Proseminare die Verlagerung von historischkritischer zu linguistischen Bibeltextbearbeitung besonders anschaulich: Egger führt auf den ersten 150 Seiten in sprachwissenschaftliche Methoden ein, interessanterweise folgen darauf „nur“ 40 Seiten, die der historischen Kritik - dem klassischen Arbeitsfeld der Bibelexegese - gewidmet sind. 20 Seiten zum hermeneutischen Umgang mit biblischen Texten schließen sein Studienbuch ab. Egger verwendet einen strukturalistisch orientierten Textbegriff, der als paradigmatisch für das Textverständnis der jüngeren Bibelwissenschaft gelten kann. 11 W HITE , H., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991. 12 Zur Aporetik historisch-historistischer Weltdeutung im Kontext postmoderner Wirklichkeitserfassung vgl. N EUMANN , K., Die Geburt der Interpretation. Die hermeneutische Revolution des Historismus als Beginn der Postmoderne, Stuttgart 2002. 13 Vgl. K LEMM , M., Wie hältst Du’s mit dem Textbegriff? Pragmatische Antworten auf eine Gretchenfrage der (Text-)Linguistik, in: F IX , U. u.a. (Hgg.), Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage, Frankfurt am Main 2002, 143-161. Wie Klemm anhand zahlreicher Beispiele illustriert, dient keines dieser Kriterien zur Unterscheidung von „Texten“ und „Nicht-Texten“. „Die Textlinguistik sollte sich […] davon verabschieden, Texte als losgelöste statische Zeichenmengen aufzufassen […]. Was ein Text bedeutet und was nicht, ob er überhaupt als Text verstanden wird, bestimmt nicht <?page no="72"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 72 • Texte bestehen aus einer Kombination sprachlicher Zeichen. • Texte haben Grenzen, sie sind abgeschlossene und autonome Ganzheiten. • Texte besitzen einen strukturellen und inhaltlichen Zusammenhang. • Texte haben (zumindest) ein erkennbares Thema. • Texte haben (zumindest) einen Verfasser und einen Rezepienten. • Texte haben eine kommunikative Funktion und einen sozialen Sinn. 14 Solche stabilen Parameter verflüssigen sich in Bezug auf den Hypertext und verlieren dadurch ihre allgemeine Gültigkeit. 15 1.2 Was ist „hyper“ am Hypertext? 16 Die Hypertextmerkmale In der Literatur zur Hypertextforschung wird kontrovers diskutiert, welche Kriterien zur Bestimmung eines Hypertextes unverzichtbar sind. Sind Hypertexte überhaupt Texte bzw. machen sie einen neuen Textbegriff notwendig? 17 Und schließlich: ist der Hypertextbegriff nur auf elektronische Texte anwendbar? 18 Folgende fünf Merkmale, die zum Teil nur schwach voneinander abgegrenzt werden können, umfassen die gängige Vorstellung des Hypertextbegriffs: Multilinearität und Fragmentarisierung (1.2.1), Der Hyperlink (1.2.2), Interaktivität (1.2.3), Die Unabgeschlossenheit (1.2.4) und Mutimodalität (1.2.5). der Produzent allein, sondern auch der Rezipient in der konkreten Aneignung“, a.a.O., 155. 14 Siehe auch die sieben Textualitätskriterien Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität von B EAUGRANDE , R.-A./ D RESSLER , W. U., Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1981, V und ihre hermeneutische Übertragung auf das Neue Testament bei W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 178-181. 15 Siehe hierzu den folgenden Abschnitt (1.2) sowie die vergleichende Zusammenschau von Text und Hypertext (1.3). 16 Vgl. S TORRER , A., Was ist ‚hyper’ am Hypertext? , in: K ALLMEYER , W. (Hg.), Sprache und neue Medien. Berlin/ New York 2000 (Quelle: http: / / www.hytex.uni-dortmund.de/ storrer/ papers/ hyper.pdf [20.09.2006]); H UBER , O., Hyper-Text-Linguistik. TAH: Ein textlinguistisches Analysemodell für Hypertexte. Theoretisch und praktisch exemplifiziert am Problemfeld der typisierten Links von Hypertexten im World Wide Web, Diss. (http: / / edoc.ub.uni-muenchen.de/ archive/ 00000921/ 01/ Huber_Oliver.pdf [20.09.06]). 17 Vgl. E CKKRAMMER , E. M., Brauchen wir einen neuen Textbegriff? , in: F IX , Brauchen wir einen neuen Textbegriff? , 31-57. 18 Vgl. B UCHER , H.-J., Vom Textdesign zum Hypertext. Gedruckte und elektronische Zeitungen als nicht-lineare Medien, in: H OLLY , W./ B IERE , B.-U. (Hgg.), Medien im Wandel, Opladen 1998, 63-102. <?page no="73"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 73 1.2.1 Multilinearität und Fragmentarisierung Fig.1: Multilineare Lesepfade im Hypertext19 Daten haben im Hypertext keine feste Anordnung und müssen keiner bestimmten Reihenfolge gehorchen. Ihre Kombination bleibt vom Navigationsverhalten des Anwenders abhängig. Bereits dadurch sind Hypertexte ständig „im Fluss“, veränderlich und werden zumeist nur selektiv wahrgenommen. Die Informationen eines Hypertextes sind sowohl vom Zeitpunkt des Lesens als auch dem beschrittenen Pfad des Anwenders durch den Hypertext abhängig. Dies individualisiert die Textwahrnehmung. Obwohl einzelne Webseiten meist hierarchisch angelegt sind, verflüssigen sich durch die subjektive Auswahl des Lesers und die Verknüpfung mittels externer Links 20 fest vorgegebene lineare Strukturen. Es gibt weder fixierte Zentren noch eine festgelegte Peripherie, es gibt kein Innen und Außen. Was zum aktuell aufgerufenen Text erhoben wird, entscheidet sich in einem individuellen Lese- und Linearisierungsgsprozess, bei welchem der Leser aus einer Datenbank an Textfragmenten auswählt und sich für einen bestimmten Lesepfad entscheidet. Kennzeichen von Hypertexten sind somit ihre Multilinearität, Multisequentialität und Rekombinatorik, d.h. die Vielfältigkeit in Bezug auf Lesewege, Zerteilungen und Zusammenführungen. 19 Entnommen aus H UBER , O., Hyper-Text-Linguistik. TAH: ein textlinguistisches Analysemodell für Hypertexte, München 2002, 89. 20 Externe Links sind computertechnische verknüpfte Texte, die außerhalb der Hypertextbasis liegen. <?page no="74"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 74 1.2.2 Der Hyperlink Fig.2: Selbst generierte Hyperlinks einer Google-Anfrage21 Erst durch den Hyperlink werden individuelle Verknüpfungen von Textfragmenten - in der Hypertextterminologie Knoten genannt - auch auf technischer Ebene ermöglicht. „Links sind alles, was es dem Rezipienten erlaubt, direkt von einem Textknoten zu einem anderen zu kommen“. 22 Als Hyperlinks müssen nicht nur bereits vorfindliche Textverweise gelten, die der Anwender aktivieren kann. In Suchmaschinen und fortgeschrittenen Hypertextsystemen wird der Anwender auch mit den nötigen Werkzeugen ausgestattet, um selbst Hyperlinks generieren bzw. anlegen zu können. Dadurch radikalisiert sich die Vorstellung eines unplanbaren Rezeptionsvorgangs und verliert sich der Anspruch einer einsehbaren Informationsvermittlung von A nach B - oder anders gesagt: Die Dynamik und Mobilität, welche Hypertexte durch aktivierte oder neu installierte Links erhalten, verunmöglicht die Vorstellung eindeutiger Textaussagen, welche in einer Textauslegung entsprechend herausgearbeitet und abgebildet werden könnten. 21 http: / / www.google.de [27.11.07]. 22 H ENDRICH , A., Spurenlesen - Hyperlinks als kohärenzbildendes Element in Hypertext. Inaugural-Dissertation, elektronisch veröffentlicht an der Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2005. http: / / edoc.ub.unimuenchen.de/ archive/ 00003054/ 01/ Hendrich_Andreas.pdf. [25.9.07]. <?page no="75"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 75 1.2.2 Interaktivität: Leser und Interpreten als Autoren Fig.3: Interaktive Lektüre der Website www.die-bibel-als-hypertext.de 23 Hypertexte verlangen einen aktiven Leser. Er muss navigieren und selektieren, er muss auswählen, welche Pfade er benutzt, welche Links er aktiviert und andere stattdessen deaktiviert lässt, und er muss entscheiden, wo er anfängt und aufhört. Die gängige Differenz zwischen Autor und Leser ist im Hypertext zugunsten eines Netzwerkgedankens aufgehoben. Im interaktiven Leseprozess stellt der Leser seine individuelle Lektüre selbst zusammen. Denn in der Hypertextlinguistik deutet die Leserbezeichnung „User“ (Anwender) auf eine Überwindung der Unterscheidung von Autoren und Lesern hin. Entsprechend hat George P. Landow für die Verschmelzung von Lesern (readern) und Schreibern (writern) den Terminus „wreader“ eingeführt 24 , der an Julia Kristevas Konzeption des „Schreiben-Lesens“ (écriture-lecture) erinnert, also der untrennbaren Verwobenheit von Rezeption und Produktion 25 . Während sich die Interaktivität bei Kristeva lediglich auf kognitiver Ebene vollzieht, schlagen wir vor, auch die mediale und partizipatorische Ebene miteinzubeziehen: Die mediale Ebene umfasst den Zugang zum Text und die 23 http: / / www.die-bibel-als-hypertext.de [28.11.07]. 24 L ANDOW , G. P., What’s a Critic to Do? Critical Theory in the Age of Hypertext, in: ders. (ed.), Hyper/ Text/ Theory, Baltimore 1994, 1-48, hier: 9 und 14. 25 K RISTEVA , J., Der geschlossene Text, in: Z IMA , P.V. (Hg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1977, 194-229. <?page no="76"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 76 partizipatorische Ebene beschreibt die Option des Users, sich selbst in den Text einzuschreiben. Diese Transformation des klassischen Lesers in einen Autorenleser wurde in neueren Hypertextsystemen der web 2.0-Generation noch weiter vorangetrieben. In so genannten kollaborativen Netzwerken 26 sind die Leser an der Fortschreibung der Informationseinheiten beteiligt, d.h. Hypertexte können ebenso gelesen wie auch bearbeitet werden. 27 Der Anwender schreibt seine realen oder fiktionalen Identitäten in die virtuellen Netzwerke ein und erweitert mit jedem Kommunikationsvorgang den Hypertext, sei es beim Talk im Chat, bei der Einspeisung von Kommentaren, Fotos und Videosequenzen in Blogs oder beim Bestellen von Produkten auf den Internet-Marktplätzen. Text und Alltagskultur können hier zu einer Einheit verschmelzen. Im Dialog mit seinem virtuellen Ich und den vom Hypertextsystem angebotenen Optionen taucht der Anwender als Cyberego 28 in die verschiedenen Hypertextformen ein. Dort pflegt er Beziehungen zu Menschen, die er z.T. nie gesehen hat und die vielleicht real nicht existieren, erledigt seine Geldgeschäfte über das Netz und sucht Entspannung in individuell abgestimmten Simulationsprogrammen. Web 2.0 ist derzeit die am weitesten entwickelte Form, in der die Grenzziehungen von Innen und Außen, von Textinnenwelt und außertextlicher Wirklichkeit aufgelöst sind. 26 http: / / www.netzliteratur.net/ idensen/ odyseen.html [07.05.07]. 27 Siehe R ANDOW , G. VON , Leben im Netz. Viele reden von Web 2.0. Aber noch haben nicht alle bemerkt, wie ein neues Medium die Welt verändert, in: ZEIT-online 18.01.2007 (http: / / www.zeit.de/ 2007/ 04/ 01-Leben-im-Netz [...]); siehe auch die Focus- Titelstory „Web 2.0. Das Mitmach-Netz“, Focus 41, 2006, 172-188. 28 Siehe B UBLITZ , W., The user as ‚cyberego’. Text, Hypertext and Coherence, in: M OESS- NER , L./ S CHMIDT , C.M. (eds), Anglistentag 2004 Aachen. Proceedings, Trier 2005, 311- 324. <?page no="77"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 77 1.2.3 Die Unabgeschlossenheit des Textes Fig.4: Das Ende des Internets 29 Bei gedruckten Medien wie Büchern, Aufsätzen und Lexikonartikeln können Anfang und Schluss in der Regel zweifelsfrei benannt werden. 30 Auch der einzelne Computer als Trägermedium ist in seiner Speicherkapazität begrenzt. Erst die Vernetzung vieler Computer ermöglicht den Hypertext als unabgeschlossenen und abstrakten Informationsraum. 31 Dabei nivelliert die Dynamik, Expansion und Multilinearität von Hypertexten eine statische Grenzziehung. Bereits mit der Verlinkung zu einer weiteren Wissenseinheit verschiebt sich die räumliche Ausdehnung, ebenso wenn ein Text kopiert oder in einen neuen Kontext eingefügt wird. Hypertexte werden daher häufig als flüchtiges Medium (fluid medium) bezeichnet. Sie können jederzeit verändert, erweitert, oder auch gelöscht werden. Die Textverflüssigung sowie die Mobilität von Daten und deren Rekombination weist Hypertexte als extrem instabile und veränderliche Textkörper aus. Die Unabgeschlossenheit des Hypertexts thematisiert obige Nonsens- Webseite, die vorgibt, das Ende des Internets zu sein. 29 http: / / www.k-faktor.com/ dasende.htm [21.12.07]. 30 Eine Ausnahme bilden fragmentarische Schriftstücke. 31 Ontologisch gesehen basiert der Hypertext auf einem binären System aus Nullen und Einsen. <?page no="78"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 78 1.2.4 Multimodalität Fig.5: Multimodale Integration von Texten, Bildern und Schriftsatz auf www.die-bibel-als-hypertext.de 32 Theo van Leeuwen definiert Multimodalität als „combination of different semiotic modes - for example language and music - in a communicative artefact or event“. 33 Hypertexte bestehen nicht nur aus schriftlichen Worten, sondern können verschiedenmediale Objekte umfassen, gescannte Bilder und Fotografien ebenso wie akustische Sequenzen oder ganze Videoeinheiten. Informationen werden deshalb im Hypertext - vergleichbar den Printmedien - durch das Zusammenspiel von Schrift und Bild übermittelt. Darüber hinaus werden sie - vergleichbar dem Fernsehen - auch an Ton und Bewegung angelagert. Die Zugangsvoraussetzungen zu wiederverwendbaren Bild-, Text- und Tonmaterialien sind genauso wie deren Veröffentlichung im Computermedium stark vereinfacht. Auf der Ebene der Textgestaltung ist für den Hypertext charakteristisch, dass verlinkte Schriftsymbole im Fließtext oder in den Navigationsleisten als Schaltflächen fungieren. Dieses übliche Design kann aber auch zu Gunsten eines simulierten Kontextes in größerem oder kleinerem Maße zurücktreten bzw. mit diesem verschmelzen. 32 http: / / www.die-bibel-als-hypertext.de [28.11.07]. 33 L EEUWEN , T. VAN , Introducing Social Semiotics, New York 2005, 281. <?page no="79"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 79 In der obigen Abbildung wird durch die grafische Textgestaltung eine Schreibmappe mit Einlegeblättern simuliert. Dabei verschmelzen dargestellter Gegenstand und hypertextuelle Navigationswege zu einer multimedialen Einheit. 1.3 Text und Hypertext in Kontinuität und Differenz Mit den eingeführten fünf Merkmalen lässt sich der Hypertext in Kontinuität und Differenz zum konventionellen Textverständnis skizzieren. Zusammenfassend stellen wir die Auswirkungen der fünf Hypertextmerkmale auf das von Michael Klemm formulierte allgemeine Textverständnis vor: Text Hypertext Texte bestehen aus einer Kombination sprachlicher Zeichen. Hypertexte zeichnen sich durch die Verschmelzung verschiedenmedialer Objekte aus. Texte besitzen einen strukturellen und inhaltlichen Zusammenhang. Durch die multilinear angelegte und verlinkte Textorganisation erreicht der strukturelle Textzusammenhang eine Mehrdimensionalität, welche nicht zwangsläufig zu kohärenten Texten führt. Texte haben Grenzen, sie sind abgeschlossene und autonome Ganzheiten. Im abstrakten Informationsraum des Hypertextes sind weder Anfang noch Ende auszumachen. Texte haben (zumindest) ein erkennbares Thema. Die konkrete Themenfindung entsteht im Hypertext erst durch die interaktive Textzusammenstellung. Texte haben eine kommunikative Funktion und einen sozialen Sinn. Die Textfunktion unterliegt der individuellen Rekombinatorik der hypertextuellen Textfragmente. Texte haben (zumindest) einen Verfasser und einen Rezepienten. Der klassische Leser transformiert zu einem Autorenleser (wreader). 34 Die Kontinuität und Differenz von Text und Hypertext lässt sich mit drei Begriffspaaren fortführen, wodurch die rein sprachwissenschaftliche Fokussierung anhand literatur- und kulturwissenschaftlicher Theoreme geweitet wird. Dadurch soll deutlich werden, dass der Hypertext keine autonome computertechnologische Entwicklung darstellt. Vielmehr sind hypertextuelle Wirklichkeitskonstruktionen auf vielfältige Weise in allgemeine soziokultu- 34 Hinter einem Verfasser kann auch ein Computeralgorithmus stehen (z.B. in elektronisch erstellten Mails). <?page no="80"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 80 relle Phänomene und die damit verbundenen Wertevorstellungen eingeflochten. 35 Text Strukturalismus Schriftlichkeit Kanon Hypertext Poststrukturalismus Mündlichkeit Dekanonisierung Das erste Begriffspaar umfasst die vornehmlich literaturtheoretischen Konzepte des Strukturalismus und Poststrukturalismus, das zweite Begriffspaar vergleicht Schriftlichkeit und Mündlichkeit, und das dritte Begriffspaar thematisiert Kanon und Dekanonisierung. 1.3.1 Strukturalismus und Poststrukturalismus Der konventionelle Textbegriff ist vor allem strukturalistisch geprägt (s.o.). Der Strukturalismus geht von der Annahme fester Relationen zwischen den verschiedenen Zeichen, die einen Text ergeben, aus. Dabei macht er nicht die Motivation der Subjekte zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung, sondern schafft mittels einer formalisierenden Beschreibung objektive Voraussetzungen. 36 Der Hypertextbegriff steht offenkundig poststrukturalistischen Theoremen der Postmoderne weitaus näher: In bestechender Analogie spiegelt das hypertextuelle Internet mit seinem labyrinthartigen Aufbau, seinen Entpersonalisierungen und Refigurationen von Identitäten sowie seinen Vergleichzeitigungen das postmoderne Wirklichkeitsempfinden. 37 Wir können hier nur knapp drei Konvergenzen zwischen Hypertext und Poststrukturalismus 38 ansprechen: (a) Der Poststrukturalismus löst den Gedanken einer festen Strukturalität der Struktur zugunsten eines unabschließbaren Systems von Differenzen auf. Den Hypertext haben wir als fluid medium beschrieben, in dem sich stabile textliche Strukturen verflüssigen, oder anders gesagt: feste semiotische Aggregatszustände flexibilisieren. 35 Zur Interdependenz von Kommunikationstechnologie und gesellschaftlicher Entwicklung vgl. L UHMANN , N., Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände, Frankfurt am Main 1997. 36 Vgl. S TADLINGER , J., Art. Strukturalismus, in: S ANDKÜHLER , H.J. (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band IV, Hamburg 1990, 466-474. 37 Vgl. L ANDOW , G.P., Hypertext and Critical Theory, in: ders., Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore/ London 1992, 1-34. Landow spricht vom „hypertextuellen Derrida“ und vom „poststrukturalistischen Nelson“. 38 Vgl. zur folgenden Darstellung des Poststrukturalismus M ÜNKER , S./ R OESLER , A., Poststrukturalismus, Stuttgart/ Weimar 2000. 39 G EISENHANSLÜCKE , A., Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, Darmstadt 2003, 70. 40 Vgl. F OWLER , R., The Fate of the Notion of Canon in the Electronic Age. 2. Hypertext (http: / / homepages.bw.edu/ ~rfowler/ pubs/ canon/ index.html [12.02.07]). <?page no="81"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 81 (b) Der Poststrukturalismus kritisiert die totalisierenden und hegemonialen Tendenzen stabiler Systeme. Ähnlich spricht der nordamerikanische Bibelwissenschaftler und Computerspezialist Robert Fowler von der Dezentralisierung, Multizentriertheit und Rezentrierung der Hypertexte. Anschauungen, die mit dem Anspruch von Eindeutigkeit und Dauerhaftigkeit auftreten, werden dadurch relativiert oder abgewiesen. (c) In poststrukturalistischer Perspektive sind Sprache und Text nicht nur unhintergehbare Strukturen, sondern vor allem auch theoretisch uneinholbar: Sie sind offene Systeme, welche durch das Spiel der Differenzen und den prinzipiell endlosen Prozess der Bedeutungszuschreibung markiert sind. Diese Epistemologiekritik spiegelt sich in der medialen, kognitiven und partizipatorischen Interaktivität des Hypertextes wider: Bedeutungen, Erzählungen und allgemein Wissen liegen demnach nicht einfach vor oder werden automatisch gespeichert, sondern entstehen erst in der Anwendung des Hypertexts durch den aktiven User. 1.3.2 Schriftlichkeit und Mündlichkeit Medien sind keine ideologiefreien Räume, sondern reflektieren und agieren in konkreten kulturellen Gemeinschaften. Das Medium Text vollzog in der frühantiken Phase den Übergang von den mündlichen zu den Schrift- oder Textkulturen, welche mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert weiter gestärkt wurden. 45 Mit der Erfindung des Computers findet derzeit eine Rückbesinnung auf die Kommunikationsprinzipien einstiger vorschriftlicher Kulturen statt. 46 Walter J. Ong spricht in diesem Zusammenhang von der zweiten Mündlichkeit (second orality). 47 Er beschreibt damit treffend zahl- 41 M ÜNKER / R OESLER , Poststrukturalismus, X-XIV. 42 F OWLER , R., The Fate of the Notion of Canon in the Electronic Age. 43 M ÜNKER / R OESLER , Poststrukturalismus, 30-32. 44 F OWLER , The Fate of the Notion of Canon in the Electronic Age. 45 Durch die Einführung der Typographie wurden neue Formen der Wissenskultur entwickelt: „Strenge Linearität, sequentieller Charakter der Satz-für-Satz-Darstellung, Einteilung in Abschnitte, Index, Paginisierung, Register, Vereinheitlichungen der Orthographie und Grammatik u.a.m. sind die neuen Mittel dieser Organisation“, F ICHTNER , B., Art. Schrift, in: S ANDKÜHLER , H.J., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, 194-200, besonders 197. 46 O NG , W.J., Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wolfgang Schömel, Opladen 1987. Fowler hat O NG s Forschung nach Konsequenzen für den Umgang mit der Bibel im elektronischen Zeitalter befragt, siehe F OWLER , R., How the Secondary Orality of the Electronic Age Can Awaken Us to the Primary Orality of Antiquity or What Hypertext Can Teach Us About the Bible with Reflections on the Ethical and Political Issues of the Electronic Frontier. 3. From Orality to Literacy to Hypertext: Back to Future? (http: / / homepages.bw.edu/ ~rfowler/ pubs/ secondoral/ index.html [23.03.07]). - Siehe auch D ÜRSCHEID , C., Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische und empirische Probleme, in: Zeitschrift für angewandte Linguistik 38 (2003), 37-56. 47 O NG , Oralität und Literalität, 135: „Die elektronische Transformation des verbalen Ausdrucks hat nicht nur die Überführung des Wortes in den Raum verstärkt, die mit <?page no="82"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 82 reiche elektronische Kommunikationsformen, die zwar medial verschriftlicht sind, doch von der sprachlichen Konzeption her näher am Mündlichen liegen. Ong charakterisiert die mündliche Kommunikationsform anhand folgender vier Merkmale: (a) Mündlichkeit ist unmittelbar auf den Augenblick gerichtet. Der Hypertext steht in seiner flüchtigen Form (fluid medium) der Mündlichkeit weitaus näher als der stabilen eingravierten oder gedruckten Schrift. (b) Mündlichkeit verwendet eher syntaktische Aneinanderreihungen als komplexe Über- und Unterordnungen. In der mündlichen Sprache sind Verknüpfungen durch die einfache Kopula „und“ häufiger als planmäßige Hierarchisierungen mittels Haupt- und Nebensätzen, wie sie die gehobene Schriftkommunikation bestimmen. Der Hypertext übernimmt in seiner frei-assoziativen, nichtlinearen und nicht-hierarchischen Organisationsform die aneinanderreihende Informationsvermittlung der Mündlichkeit. (c) Mündlichkeit setzt eine direkte Kommunikation in Gang. Der Hypertext unterstützt in seinen multimedialen Simulationsvorgängen eine der unmittelbardirekten Kommunikation ähnliche Interaktion unterschiedlicher User. Beispielhaft ist die e-mail und Chat-Kommunikation viel enger mit der mündlichen Sprache als mit funktional vergleichbaren schriftlichen Gattungen, z.B. der Briefkommunikation, verbunden. (d) Mündlichkeit ist partizipatorisch und empathisch - Schriftlichkeit ist objektivierend und distanzierend. Im Hypertext verschwindet die Trennung von Schreiber und Leser, denn der User, Anwender oder wreader ist nicht anders denn als kollektiv wachsendes Netzwerk vorstellbar. 1.3.3 Kanon und Dekanonisierung Robert Fowler ordnet die Einrichtung des Kanons mit seinen selektierenden und normierenden Implikationen streng den Schriftkulturen zu. Der Kanon als fixiertes, distanzierendes und auf Dauer angelegtes Korpus ist nur als Produkt der Schriftkulturen denkbar. 49 Zwar haben auch mündliche Kulturen ihre Gründungsmythen und Identifikationslegenden, diese sind jedoch aufgrund der nichtschriftlichen Weitergabe der Gefahr eines Erosions- und Transformationsprozesses viel stärker als Textkulturen ausgesetzt, wenngleich die Überlieferungen mündlicher Kulturen eine erstaunlich große Datenmenge umfassen können, die relativ gleich bleibend tradiert werden. Die Hypertextualität als Auflösung konkreter Außengrenzen sowie als Rückkehr zu Kommunikationsprinzipen der Mündlichkeit bewirkt konsequent und entschieden die Dekanonisierung gewordener Kanones der Schriftkulturen, indem sie fixierte Texte verflüssigt, fortschreibt, neu zusammensetzt und abbaut. dem Schreiben begann und vom Drucken fortgeführt wurde, sie hat auch das Augenmerk auf ein neues Zeitalter sekundärer Oralität gerichtet“. 48 O NG , Oralität und Literalität, 42-43. 49 F OWLER , The Fate of the Notion of Canon in the Electronic Age. <?page no="83"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 83 Wie refiguriert sich nun die Bibel, wenn diese von konventionellen Kategorisierungen wie strukturalistischer Textualität, Schriftlichkeit und konzeptioneller Kanonizität entbunden und als Hypertext verstanden wird? 2 Die Bibel und ihre Auslegung als Hypertext Das Paradigma des Hypertextes mit seinen Entgrenzungen textwissenschaftlicher Einteilungen wie: Textproduktion und Textrezeption, Autor und Leser sowie Textinnenwelt und außertextliche Wirklichkeit, macht eine Unterscheidung von Bibel auf der einen Seite und deren Auslegung auf der anderen Seite gegenstandslos. Denn jeder Textzugriff wird bereits als Anwendung bzw. als aktive Navigations- und Selektionsleistung eines „Users“ innerhalb eines kaum mehr auslotbaren Textgefüges aufgefasst. Daher blicken wir nun mit den eingeführten Merkmalen des Hypertextes insgesamt auf die Bibel und ihre Auslegung. Unser Gegenstandsbereich - in der Hypertextterminologie: unser Dokuversum - greift also weit aus und beinhaltet neben den biblischen Texten auch das Kommentarwesen sowie die literarische Bibelfrömmigkeit und berührt ebenso Motivverarbeitung in der Literatur 50 , in der bildenden Kunst und in der Musik. Anhand der fünf eingeführten Merkmale werden wir Beziehungen, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen dem Hypertext und der Bibel und ihrer Auslegung aufzeigen. Den Ertrag der Zusammenschau von Hypertextkriterien und Bibel formulieren wir anhand von fünf Leitsätzen. 2.1 Multilinearität und Fragmentarisierung in der Bibel und ihrer Auslegung Die auf den ersten Blick vielleicht selbstverständliche monolineare Lektüre der Bibel stellt nur einen Spezialfall innerhalb der Vielzahl von Umgangsformen mit der Bibel dar. Das bekannteste Beispiel einer monolinearen Leseform ist die lectio continua, die ihren Sitz im Leben in der Rezitation des Klosterwesens, aber auch in Bibelkreisen, hat und bei der ganze biblische Bücher oder größere Teilstücke fortlaufend ohne Unterbrechung gelesen werden. 51 Ein wissenschaftliches Pendant zur lectio continua ist der canonical approach, die kanonische Schriftauslegung. 52 Der canonical approach setzt bei der 50 Vgl. hierzu die Beiträge von Christine Lubkoll und Mathias Mayer in diesem Band. 51 B ÄUMLEIN , K., Das Abenteuer einer langen Reise. Predigten nach der lectio continua. Ein Bericht aus der Praxis, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 10 (2001), 49-58. 52 Vgl. C HILDS , B.S., Die Theologie der einen Bibel. 2 Bände, Darmstadt 1994/ 2003; N OBLE , P.R., The canonical approach. A critical reconstruction of the hermeneutics of Brevard S. Childs, Leiden 1995; S TUHLMACHER , P., Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, Göttingen 1986², 222-256. <?page no="84"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 84 Endgestalt des Kanons ein, die er für verbindlich zur Interpretation biblischer Texte erklärt, und richtet sich damit bereits gegen die zahlreichen multilinearen Lesestrategien wissenschaftlicher Herkunft (s.u.). Diese Fokussierung auf die Endgestalt des Kanons 53 hat eminent hermeneutische Konsequenzen für die Interpretation biblischer Texte, die hier nicht näher beschrieben werden können. Wir verweisen nur auf die hegemoniale christozentrische Orientierung alttestamentlicher Texte 54 . Der Normalfall der Multilinearität sowie die intensive Fragmentarisierung des biblischen Gesamtgefüges zeigen sich exemplarisch am Perikopen- und Losungswesen. Perikopen sind herausgeschnittene, also fragmentarisierte Textabschnitte, die die Grundlage für die sonntäglichen Gottesdienstpredigten bilden. 55 Diese Predigtreihen haben keine Übereinstimmungen mit den kanonischen Sequenzen und bilden somit eine eigene abweichende Linienführung ausgewählter biblischer Texte. Die Losungen ergeben eine weitere Linie durch den biblischen Textbestand. Am bekanntesten sind die Herrnhuter Tageslosungen 56 , die in einem speziellen Verfahren ermittelt werden. Vor allem die historisch-kritischen Interpretationen der alt- und neutestamentlichen Wissenschaften sind ausführliche Dokumentationen multilinearer Bibellektüre. Sie zerteilen, untergliedern und rekombinieren stetig neu biblische Einzeltextteile. So werden der kanonischen Leselinie unter diachronem Aspekt weitere Linien der Anordnung zur Seite gestellt, beispielsweise die Auflistungen der biblischen Bücher nach der Reihenfolge ihrer Entstehung 57 , was 53 Zur altkirchlichen Kanonisierung B RAKKE , D., Canon Formation and Social Conflict in Fourth-Century Egypt: Athanasius of Alexandria's Thirty-Ninth „Festal Letter“, in: The Harvard Theological Review 87 (1994/ 4), 395-419. 54 Siehe exemplarisch die Kritik von Ulrich Luz an einer monopolisierenden christozentrischen Lektüre des Alten Testaments: Luz sieht in einer konsequent christologischen Beanspruchung des Alten Testaments „die Gefahr, das erste Testament nochmals christlich zu beschlagnahmen und so Israel sein Recht auf seine Bibel abzusprechen“, vgl. L UZ , U., Ein Traum auf dem Weg zu einer Biblischen Theologie der ganzen Bibel, in: Å DNA , J. u.a. (Hgg.), Evangelium - Schriftauslegung - Kirche. Festschrift für Peter Stuhlmacher zum 65. Geburtstag, Göttingen 1997, 279-287, hier: 281. 55 F RIEDRICHS , L./ R EEG , G., Art. Perikope/ Perikopenordnung, in: RGG 4 VI (2003), 1111- 1115; vertiefend B IERITZ , K.-H., Die Ordnung der Lese- und Predigtperikopen in den deutschen evangelischen Landeskirchen, in: Liturgisches Jahrbuch 41 (1991), 119-140. 56 Evangelische Brüder-Unität, Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Geschichte - Entstehung - Verbreitung - Gebrauch, Herrnhut/ Basel 2003 2 . 57 Vgl. exemplarisch die Datierungsangaben bei S CHNELLE , U., Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 2007 6 mit denjenigen bei Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von K. B ERGER und C. N ORD , Frankfurt am Main/ Leipzig 1999. Die vielleicht älteste neutestamentliche Schrift, der 1. Thessalonicherbrief, befindet sich im letzten Drittel des Neuen Testaments, während die vorangestellten Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und Johannes erst später entstanden sind. Die - einfache - chronologische Linie vervielfacht sich freilich sogleich aufgrund verschiedener Datierungen der biblischen Schriften im exegetischen Wissenschaftsbetrieb. Wir verweisen nur auf die umstrittene Datierung der johanneischen Schriften. <?page no="85"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 85 aufgrund des komplexen Entstehungsprozesses nur zum Teil darstellbar ist. 58 Ein weiteres Beispiel für Multilinearität und Fragmentarisierung wäre die Zusammenschau zur Entstehung bestimmter Bibeltexte, z.B. der Korintherkorrespondenz. 59 Die differenzierte diachrone Bibelforschung bricht vielleicht am deutlichsten mit der synchronen Textfixierung des biblischen Kanons. Indem sie nach chronologischen Kriterien navigiert, macht sie deutlich, dass die kanonische Gestalt nur eine Möglichkeit darstellt, den biblischen Zeichensatz zu strukturieren. Das Perikopen- und Losungswesen zeigt weitere Anordnungen des biblischen Zeichensatzes an. Die Rekombinatorik ist praktisch unabschließbar. Damit ist allerdings noch keine Aussage darüber getroffen, ob es falsche Linienführungen geben kann, also Kombinationen ohne Anhalt an einer referientiellen Wirklichkeit. Die Hypertextualität der Bibel und ihrer Auslegung weist auf den Normalfall der Multilinearität und Vielzahl an Fragmentarisierungsmöglichkeiten hin, welche durch die Kanonkonzeption diszipliniert wird. 2.2 Der Hyperlink in der Bibel und ihrer Auslegung Dem Hyperlink entsprechen in der Bibel und ihrer Auslegung unterschiedliche Verweissysteme, die verschiedene Textteile miteinander verknüpfen können. Exemplarisch werfen wir hier einen Blick auf Links in wissenschaftlichen Textausgaben und rekurrieren auf das Feld der Intertextualitätsforschung. 2.2.1 Links in wissenschaftlichen Textausgaben Das Druckbild der griechisch-deutschen Ausgabe des Nestle-Aland 60 bietet eine ganze Reihe explizit formulierter und typographisch abgehobener Verweise auf: Dem griechischen Text entsprechen auf der jeweils gegenüberliegenden Seite die revidierte Lutherübersetzung von 1984 und die sog. Ein- 58 Die komplizierten Verwebungen verschiedener Textschichten etwa im Pentateuch können in solch einer einfachen Linie nicht dargestellt werden. 59 Die Korrespondenz des Apostel Paulus mit der Gemeinde von Korinth ist in zwei Briefen erhalten, in denen wahrscheinlich verschiedene Textfragmente zusammengegossen wurden, die nicht den ursprünglichen Ablauf der Briefkommunikation wiedergeben. Die Zusammenschau der unterschiedlichen Rekonstruktionsvorschläge zur ursprünglichen Anordnung der Textteile kann als ausgiebige multilineare Praxis der Bibellektüre interpretiert werden. Siehe die Zusammenstellung und Diskussion unterschiedlicher Hypothesen bei B ECKER , E.-M., Der 2. Korintherbrief, in: W ISCHMEYER , O. (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe, Tübingen/ Basel 2006, 164-191, 174-177 und 180-183. 60 Vgl. N ESTLE , E. (Begr.)/ A LAND , B. (Hg.), Novum testamentum Graece post E. N ESTLE et E. N ESTLE communiter ed. B. et K. A LAND [...] Apparatum criticum novis curis elaboraverunt B. et K. A LAND una cum Instituto Studiorum Textus Novi Testamenti Monasterii Westphaliae, Stuttgart 2001 27 . <?page no="86"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 86 heitsübersetzung von 1979. Synoptisch, also nebeneinander, sind die unterschiedlichen Textwiedergaben angeordnet. Weiterhin verweisen die Angaben am Rand der griechisch-sprachigen Textseite auf verwandte Textstellen - vornehmlich innerbiblische Bezüge, aber auch darüber hinaus. Dabei kann es sich um Zitate, Vorprägungen oder ähnliche Aussagen handeln. 61 Der textkritische Apparat verweist auf Handschriften, die den obigen Vers bezeugen, wie er abgedruckt ist bzw. eine andere Variante darstellen. Insgesamt verweist die Grafik des Nestle-Aland somit auf innerbiblische Zusammenhänge, selten auf antike Schriftsteller, ebenso auf handschriftliche Überlieferungen sowie auf verschiedene Übersetzungen des griechischen Textes. Die Vernetzungen reichen also weit - sowohl räumlich wie zeitlich - über die Grenzen des präsentierten Textes hinaus. 2.2.2 Intertextualitätsbezüge Von den markierten appellativen Textverweisen abzuheben sind bloße intertextuelle Bezüge. Sie werden im Gegensatz zu den Links im Hypertext ausschließlich kognitiv realisiert. Die Herstellung von Intertextualitätsbezügen obliegt dem Leser sowie dessen Text- und Weltwissen, während im Hypertext intertextuelle Bezüge nicht nur gedanklich hergestellt werden, sondern auch medial ausgeführt werden. Die alt- und neutestamentliche Intertextualitätsforschung untersucht vor allem das Verhältnis von Prä- und Posttexten sowie deren Abwandlung und Fortschreibung. 62 Für die neutestamentliche Wissenschaft besonders relevant sind die Bezüge der vier Evangelien untereinander, die Intertextualität der johanneischen Schriften, die Verbindung zwischen paulinischen und nachpaulinischen Texten sowie generell die Aufnahme alttestamentlicher Texte in den neutestamentlichen Schriften. 63 61 Vgl. exemplarisch Eph 4,7: „Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi“. Durch einen Randvermerk wird dieser Vers mit Röm 12,3 verbunden: „Denn ich sage euch durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, daß niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern daß er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat“. 62 Vgl. zur Intertextualitätsforschung der neutestamentlichen Wissenschaft M OYISE , S., Intertextualität und historische Zugänge zum Schriftgebrauch im Neuen Testament, in: A LKIER , S./ H AYS , R. B. (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen/ Basel 2005, 22-34; W ISCHMEYER , Neutestamentliche Hermeneutik, 185-193, hier: 189 weist auf den Begriff der Hypertextualität hin, wie er in der Intertextualitätsforschung bei Gérard Genette verwendet wird, vgl. G ENETTE , G., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Edition Suhrkamp. Aesthetica 1683), Frankfurt am Main 1993. Dieses literaturtheoretische Hypertextualitätsverständnis, das auch dem beitrag von Jean Zumstein im vorliegenden Band zu Grunde liegt, ist jedoch grundsätzlich verschieden von unserer sprachwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. Zur Differenz siehe auch S TOCKER , P., Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn u.a. 1998, 60. 63 Vgl. den Beitrag von Jean Zumstein im vorliegenden Band. <?page no="87"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 87 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Bibelhyperlinks“, also Verknüpfungsleistungen in und mit der Bibel, ganz entscheidend von den Interessen und dem Horizont des jeweiligen Anwenders abhängen: Nachpaulinische Verfasser wie die Schreiber des 2. Thessalonicherbriefes oder der Pastoralbriefe stellen per Imitation Verbindungen zu bereits vorliegenden Texten dar, um diese zu korrigieren oder zumindest in eine bestimmte Richtung zu vereindeutigen. Die Bibelausgabe von Nestle-Aland stellt u.a. Bezüge zu außerbiblischen frühchristlichen Handschriften her, um den Überlieferungszusammenhang neutestamentlicher Textstücke nachzuzeichnen. Ebenso stellen beliebige User heute selbsttätig Links zwischen alt- und neutestamentlichen Texten her, wir verweisen - verlinken! - hier noch einmal auf das Losungswesen der Herrnhuter. Die Hypertextualität der Bibel und ihrer Auslegung weist auf die Möglichkeiten einer entgrenzten Verlinkung hin. Die Benutzung oder Erstellung eines Links hängt stets von den jeweiligen Interessen des Autors/ Users ab. Die Plausibilität der Verlinkungen ist demnach an konkrete Kontexte sowie deren Relevanzkriterien gebunden. 2.3 Leser und Interpreten als Autoren (Interaktivität) und die Bibel und ihre Auslegung Die Rezeptionsästhetik (reader response criticism) ist zumal in den bibelwissenschaftlichen Fächern als Korrektiv einer objektiven Exegese, sei sie historistisch oder strukturalistisch orientiert, angekommen. 64 Die Bedeutungskonstruktion einer Textstelle bzw. deren Sinnproduktion wird heute hermeneutisch im Beziehungsgeflecht von Verfasser - Text - Rezipient reflektiert. Freilich bleibt umstritten, wie groß der Anteil der Person des Exegeten beim Lese- und Interpretationsprozess der biblischen Texte ist. 65 Die interkulturelle Exegese nimmt hierbei zum Teil eine Extremposition ein, indem sie die Annahme eines vom Leser unabhängigen Textsinns verneint. Anstelle von „The Meaning“ kennt sie nur „My Meaning“, jede Textauslegung ist Interpretation, und jede Interpretation ist kulturell bestimmt. 66 Auch die Systematische Theologie und die Praktische Theologie liefern Modelle eines interaktiven Bibelgebrauchs, indem sich der User in den Text einschreibt, ihn kontextuell verändert oder auch fortschreibt: Beispielsweise 64 Vgl. T HE B IBLE AND C ULTURE C OLLECTIVE , The Postmodern Bible, New Haven/ London 1995 sowie den Beitrag von Oda Wischmeyer im vorliegenden Band. 65 Vgl. B ECKER , E.-M.,Die Person des Exegeten. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: W ISCHMEYER , O. (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen/ Basel 2003, 207-243. 66 B LOUNT , B. K., Introducing Cultural Exegesis, in: A LKIER , S./ B RUCKER , R. (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, Tübingen/ Basel 1998, 77-97, hier: 78. - Modifiziert vgl. S CHOLZ , S., Ideologien des Verstehens. Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder, Tübingen/ Basel 2007. <?page no="88"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 88 entwickelte Klaas Huizing im ersten Band seiner dreiteiligen Ästhetischen Theologie 67 eine Leseästhetik zur Bibel, in welcher der Leser im Akt des Lesens eine Metamorphose/ Erneuerung seiner Identität durchmacht, die als intensives interaktives Geschehen zwischen Text und Leser beschrieben wird. Zugleich vermeidet es Huizing aus dogmatischen Gründen, die Interaktivität zwischen Text und Leser zu einer (Mit-)Autorenschaft des Lesers auszubauen. Die Mitwirkung des Lesers bei der heilschaffenden Verwandlung soll so weit wie möglich eingeschränkt werden. 68 Vor allem Ansätze wie Bibliodrama 69 oder Bibliolog 70 , die im Wissenschaftskontext der Praktischen Theologie und der Gemeindepraxis kirchlicher Bildungseinrichtungen entstanden sind, arbeiten bewusst mit der Eintragung jeweils eigener Lebenswirklichkeiten in die biblischen Geschichten sowie mit aktiven Verfremdungen, Umlenkungen und Fortschreibungen. Im Bibliodrama identifizieren sich die beteiligten Personen mit einem biblischen Geschehen, deren Personen oder Symbolen, etc. Dadurch kommt es zu einer graduellen Verschmelzung zwischen eigener Identität und den gewählten Rollen des Textes. Der biblische Textraum wird dabei durch die Teilnehmenden betreten und die eigenen Geschichten durch kreativ-spielerisches Handeln durchlebt. 71 Die unterschiedenen Ebenen der Interaktivität lassen sich beim Bibliodrama besonders deutlich ablesen: Auf der medialen Ebene werden die verschiedenen Zugriffsmöglichkeiten (Buch, Hörspiel, Film, Computeranimation. etc.) auf die Bibel beschrieben. Die kognitive Ebene umfasst die gedankliche Verschmelzung zwischen den biblischen Textkulturen und den Lebensbereichen der Teilnehmenden. Die partizipatorische Ebene schließlich realisiert die Kommunika- 67 H UIZING , K., Der erlesene Mensch. Ästhetische Theologie I, Stuttgart 2002. 68 Noch vorsichtiger greift U.H.J. Körtner die Rezeptionsästhetik auf, wenn er die aktive Bedeutungskonstruktion biblischer Texte nicht beim eigenständigen Leser belässt, sondern ihn als notwendigerweise inspirierten Leser qualifiziert, d.h. als von Gottes Geist erleuchteten Menschen beschreibt, K ÖRTNER , U.H.J., Der inspirierte Leser, Göttingen 1994. 69 Einen guten Einblick bietet die Homepage der deutschen Gesellschaft für Bibliodrama (http: / / www.bibliodrama-gesellschaft.de); siehe auch A LDEBERT , H., Bibliodrama in religionspädagogischer Perspektive, Hamburg 2001. 70 P OHL -P ATALONG , U., Bibliolog. Gemeinsam die Bibel entdecken im Gottesdienst - in der Gemeinde - in der Schule, Stuttgart 2005. 71 Im Gegensatz zum Bibliodrama werden im Bibliolog die biblischen Geschichten nicht durch Rollenspielelemente nacherlebt, sondern der Prozess der Aneignung einer biblischen Geschichte findet hier ganz in der Imagination der Teilnehmenden statt. Die Leitungsperson führt in die Geschichte ein und beteiligt die Anwesenden mit bestimmten Methoden, so dass ein Erleben der Geschichte als Eintauchen in den Text möglich wird. Die Grundidee besteht darin, dass die Teilnehmenden aus der Perspektive verschiedener Charaktere der Geschichte heraus sprechen. Die Leitung verstärkt und vertieft diese Äußerungen, führt in der Geschichte weiter und beendet schließlich den Prozess der Textvergegenwärtigung. Aufgrund verschiedenster Lebenskontexte sind bei Bibliodrama und Bibliolog die Bezüge zur Multilinearität als Vielfalt von Leseformen sowie die Verlinkung zu außertextlichen Wirklichkeiten am deutlichsten aufzeigbar. <?page no="89"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 89 tion zwischen Text und Teilnehmenden als materialisierte Einschreibung, Umformung und Verwandlung des Textes. Die Hypertextualität der Bibel und ihrer Auslegung weist auf die vielfältige Praxis einer aktiven Bedeutungskonstruktion im Umgang mit der Bibel hin. Die kanonische Fixierung wird durch die Interaktivität durchbrochen, indem Textbedeutungen nicht als gegebenes Inventar, sondern als produktive Leistung der User in Auseinandersetzung mit dem biblischen Textmaterial verstanden werden. 2.4 Die Unabgeschlossenheit des Textes und die Bibel und ihre Auslegung Der Kanon setzte eine Trennungslinie zwischen biblischen und außerbiblischen Texten. Zugleich wurden und werden die biblischen Texte anhand des Kommentarwesens weitergeschrieben, durch neue Lesarten und Linienführungen neu zusammengesetzt und insbesondere in interaktiven Prozessen zwischen Text und User fortgeschrieben und verändert. In der Perspektive der Hypertextualität erscheinen diese Prozesse nicht als Rezeption einer stabilen textuellen Formation, sondern als Veränderung, Erweiterung und Neuordnung eines überkommenen Textkörpers. Denn der Dekanonisierungseffekt der Hypertextualität destruiert die Trennungslinie zwischen ‚Bibel’ und ‚Auslegung der Bibel’ und stellt parataktisch und syntaktisch biblische und außerbiblische Texte nebeneinander bzw. vermischt diese zu einem neuen Textgefüge. Lektürepraxen, Übersetzungen von einer Sprache in eine andere, Auslegungen, Kommentare, Interpretationen, Ein- und Fortschreibungen verschmelzen so zur „Anwendung des Textes durch den User“. Die Hypertextualität der Bibel und ihrer Auslegung weist auf die Unabgeschlossenheit des gegebenen Textkorpus hin, indem sie die Bedeutungskonstruktion des biblischen Textes als dessen aktive Fortschreibung interpretiert. 2.5 Die Multimodalität und die Bibel und ihrer Auslegung Die Bibel und ihre Auslegung werden nicht nur durch schriftliche Worte repräsentiert. Bereits die frühchristliche Kunst illustrierte die biblischen Figuren und Erzählungen. Die (spät-)mittelalterlichen Armenbibeln stellen eine sehr ausgereifte Umsetzung des biblischen Stoffes in Bildlichkeit dar 72 , die 72 M AURUS , B., Die Armenbibel. Herkunft, Gestalt, Typologie. Dargestellt anhand von Miniaturen aus der Handschrift Cpg 148 der Universitätsbibliothek Heidelberg, Beuron 1989. Vgl. zur Verbindung von Armenbibeln und Computerspielen C HARILIER , M., Von der Armenbibel zu Myst. Gibt es eine Rückkehr zu Literatur ohne Worte? , (http: / / www.netzliteratur.net/ charlier/ armenbibel_myst.htm [30.03.07]). Siehe auch zur Verbindung von Armenbibeln und Hypertext A DAM , A.K.M., This Is Not a Bible. Dispelling the Mystique of Words for the Future of Biblical Interpretation, in: F OWLER , R. et al. (eds), New Paradigms for Bible Study. The Bible in the Third Millennium, New York 2004, 1-20, hier: 16: „Add a few QuickTime animations, a streamed-audio background, and hyperlinks to other pages, and the fifteenth-century Pauper’s Bible already fits the present-day media world more comfortably than does the twentieth-century Journal of Biblical Literature“. <?page no="90"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 90 heute in den Bibel-Comics eine intentional vergleichbare Entsprechung finden 73 . Eine besonders intensive Verschränkung von Schrift und Bild zeigt sich in den mittelalterlichen Klosterhandschriften. Die kunstvollen Initialen zu einzelnen Kapiteln weisen oft eine bildliche Umsetzung des folgenden Textteils auf. 74 Ähnlich der Aktivierung von Hyperlinks tritt durch solch eine verzierte Majuskel die mediale Übermittlung in den Vordergrund. Gleichzeitig strebt die bildliche Umsetzung eine möglichst unmittelbare Erfahrung der sprachlichen Inhalte an. 75 Die druckgraphischen Bibelausgaben der Nach- Gutenberg-Ära behielten die Wort-und-Bild-Konzeption ihrer handschriftlichen Vorläufer weitgehend bei. 76 Neben der visionellen Umsetzung ist vor allem im Protestantismus die Musik von zentraler Bedeutung für die Repräsentation biblischer Texte geworden. 77 Vielleicht zeigt sich innerhalb der Kategorie „Multimodalität“ am anschaulichsten, wie fließend die Übergänge zwischen Text und Nicht-Text sind. 78 Kann nur der schriftliche Zeichensatz von Lukas 2 als biblischer Text der Weihnachtsgeschichte bezeichnet werden oder auch dessen musikalische Umsetzung beispielsweise in Johann Sebastian Bachs Text-Ton-Kombination des Weihnachtsoratoriums? Noch schärfer stellt sich die Frage bei ausschließlich instrumentalen Umsetzungen, etwa der nonverbalen, nur auf musikalische Klangfärbungen setzenden Vertonung der Sturmstellung in Franz Liszts Christusoratorium. Multimodalität nimmt folglich eine zentrale Stellung im Umgang mit der Bibel ein. Mit van Leeuwens Unterscheidung in „artefact“ und „event“ (s.o.) lässt sich die Synästhetisierung der Bibel als kulturell besonders produktives Werk treffend beschreiben: Als „artefacts“ lassen sich kommunikative Objekte, wie z.B. die Illustrationen der biblischen Figuren und Erzählungen, mittelalterliche Armenbilder oder die Verschränkung von Schrift und Bild in 73 Vgl. A NDERSON , J./ M ADDOX , M., Die Bibel. Das Buch der Bücher als packende Comic- Story, Asslar 2004 3 ; H ATTON , H.A., Translating Scripture in the comic medium, in: The Bible translator 4 (1985), 430-437. 74 Exemplarisch dazu K IRMEIER , J. (Hg.), Schreibkunst. Mittelalterliche Buchmalerei aus dem Kloster Seeon, Augsburg 1994; F ALK , F., Bibelstudien, Bibelhandschriften und Bibeldrucke in Mainz vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart; Amsterdam 1969. 75 G RUSIN , R./ B OLTER , J.D., Remediation: Understanding New Media, Cambridge, Mass. 1999. E ISENLAUER , V./ H OFFMANN , C., The metapragmatics of remediated text design, in: Information Design Journal 16/ 1 (2008), 1-16. hier: 8: „As Bolter and Grusin (1999) state, humans are conditioned by two contradictory expectations in their approach to different media: immediacy and hypermediacy. Immediacy is achieved whenever media strive to present information authentically […]. The contrasting use of hypermediate elements in the media […] implies […] the highlighting of the mediation process […].“ 76 Vgl. L ANDGRAF , M./ W ENDLAND , H., Biblia deutsch. Bibel und Bibelillustration in der Frühzeit des Buchdrucks, Speyer 2005. 77 Siehe einführend S TALMANN , J., Kompendium zur Kirchenmusik. Überblick über die Hauptepochen der evangelischen Kirchenmusik und ihre Vorgeschichte, Hannover 2001. 78 Vgl. hierzu den Beitrag von Emil Angehrn in diesem Band. <?page no="91"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 91 Klosterhandschriften beschreiben. „Events“ hingegen sind kommunikative Ereignisse, wie z.B. musikalischen Umsetzungen der Weihnachtsgeschichte oder dem Gottesdienst als multimedialer Inszenierung des biblischen Stoffinventars unterscheiden. Die Hypertextualität der Bibel und ihrer Auslegung weist auf die Multimodalität, d.h. die vielgestaltige Repräsentation des biblischen Textes hin und destruiert die Grenzziehung zwischen originär fixierten Schrifttexten und sekundär rezeptiven Varianten. 3 Die Bibel und ihre Auslegung als Hypertext. Konsequenzen und Entwicklungspotentiale 3.1 Die Bibel als Hypertext in sprachwissenschaftlicher Perspektive Beide Textbegriffe, das konventionelle, eher strukturalistisch orientierte Textverständnis wie auch das hier skizzierte Hypertextmodell lassen sich auf die Bibel anwenden. Dies bestätigt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Klaus Brinkers Annahme, dass es zwar zahlreiche linguistisch motivierte Versuche gibt, eine Definition von Text zu erlangen, man aber keinen „allgemein gültigen Textbegriff“ bestimmen kann. 79 Daraus lassen sich folgende Ergebnisse ableiten: Der Textbegriff ist nicht nur von der vorherrschenden kommunikativen Funktion eines Textes beeinflusst, sondern auch von dem ihm unterliegenden Medium und dem jeweiligen wissenschaftlichen Interpretationsparadigma. Das Computermedium allein macht einen Text noch lange nicht zu einem Hypertext. Sog. E-Texte sind beispielsweise in ein Hypertextnetzwerk eingebundene Texte, welche nicht verlinkt und streng linear organisiert sind. Wie anhand der Bibel als Hypertext gesehen werden konnte, schließt das Medium Buch keineswegs hypertextcharakteristische Textorganisation aus. Der Dialog zwischen den beiden Modellen „Die Bibel als Text“ und „Die Bibel als Hypertext“ zeigt, dass der Hypertext den differenziert beschreibbaren Textbegriff nicht einfach auflöst. Jener bleibt vielmehr die genealogische Basis und der theoriebildende Ort für die Beschreibung und sprachwissenschaftliche Anbindung der Hypertextforschung. Die Differenzen zwischen Text und Hypertext lassen sich eher als Entwicklungsprozess interpretieren, indem der Hypertext als Entgrenzung und Mehrdimensionalisierung des konventionellen Textbegriffs aufgefasst wird 79 B RINKER , K., Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 2001 5 , 12. <?page no="92"?> Stefan Scholz/ Volker Eisenlauer 92 3.2 Die Bibel als Hypertext in theologischer Perspektive Das Interpretament der Hypertextualität stellt die komplexe „Anwendung“ der Bibel in sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Bereichen dar und vernetzt diese im Rahmen eines Textmodells miteinander. Für alle fünf Hauptmerkmale des Hypertextes konnten Entsprechungen im Bibelgebrauch aufgezeigt werden: Die Anwendung der Bibel ist (a) multilinear und durch eine Vielzahl unterschiedlicher Fragmentarisierungen und Sequenzbildungen gekennzeichnet; (b) die jeweils durch den User praktizierte Verlinkung mit spezifischen Fragestellungen, Instrumenten oder anderen Einheiten bewirkt einen neuen Text, dessen Relevanz zunächst nur innerhalb des eigenen Referenzsystems plausibel ist; (c) jede einzelne Sinn- oder Bedeutungskonstruktion der Bibel lässt sich als ein sehr intensives wechselseitiges Interaktionsgeschehen von Text und User beschreiben; (d) die Expansion des Bibeldiskurses zeigt dessen prinzipielle Unabgeschlossenheit auf; (e) die zahlreichen Bild- und Tontransformationen weisen auf die multimodale Dimension der Bibel und ihrer Auslegung hin. Dabei bricht das Interpretament „die Bibel und ihre Auslegung als Hypertext“ mit gängigen Einteilungen wie Auslegungstext, Textauslegung und Textrezeption. Denn Bibel, Kommentare, Exegesen, Predigten oder auch Tonfassungen werden nicht hierarchisch vorsortiert, vielmehr geht die Hypertextualität grundsätzlich von einer Vergleichzeitigung und Äquidistanz dieser Gebilde sowie ihrer einzelnen Bestandteile aus. Dadurch werden historische Rekonstruktionen, philologische Erklärungen, Rezitationen und Übersetzungen, aber auch dogmatische oder philosophische Rekombinationen sowie lebens- und glaubensbezogene Einschreibungen in die Texte als gleichwertige und jeweils konkretisierte Linienführungen, Zerstückelungen und Neuzusammensetzungen verstanden. Dies bewirkt einen enormen Dekanonisierungsschub, der nicht nur die Bibel in ihrer Kanonizität als heilige Schrift betrifft, sondern ebenso die methodischen Kanones abendländischer Textanwendung relativiert. An Plausibilität verlieren dadurch sowohl die Gestalt eines feststehenden „biblischen Normtextes“ als auch institutionelle Auslegungsmonopole, hier vor allem im Bereich der „Bibelwissenschaften“ sowie kulturelle Zentrismen wie insbesondere die europäische und nordamerikanische Vorrangstellung als hegemoniale Zentralperspektive der Textbearbeitung. Hypertextualität beschreibt somit in sprachwissenschaftlicher Terminologie die disziplinäre und außerdisziplinäre Gebundenheit jeder Bibel„lesart“ und trifft sich hierin mit ideologiekritischen und diskursanalytischen Horizonten sowie deren Implikationen und Frontstellungen. Mit Blick auf die theologischen Disziplinen sehen wir im Interpretament „Die Bibel und ihre Auslegung als Hypertext“ eine Möglichkeit, die unter- <?page no="93"?> Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung 93 schiedlichen Arten des Bibelgebrauchs - wieder! - miteinander ins Gespräch zu bringen. Voraussetzung hierfür ist eine grundsätzliche Sensibilität für Alterität, oder in der Terminologie des Hypertextes formuliert: die Anerkennung anderer Linienführungen, Fragmentarisierungen, Verlinkungen und Rekombinationen sowie die Bereitschaft, sich diese erklären zu lassen, um dann deren Evidenz aus differierenden Blickwinkeln heraus zu diskutieren. Hypertextualität unterstützt somit die innertheologische Interdisziplinarität. Über die Theologie hinaus sehen wir im Interpretament „Die Bibel und ihre Auslegung als Hypertext“ eine Möglichkeit, in sprachwissenschaftlicher Terminologie und Differenzierung einen Beitrag für die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel zu leisten. Die Kategorie der Hypertextualität verknüpft die Bibel und ihre Auslegung jenseits einer theologischen Binnenhierarchisierung mit poststrukturalistischen Theoremen, Aspekten der Oralitäts- und Skripturalitätsforschung, den Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie den Kanondiskursen und schafft somit neue Blicke auf die Bibel und ihre Auslegung. Schließlich fordert die hypertextuelle Wahrnehmung des Bibeldiskurses die Theologie generell sowie die Bibelwissenschaften speziell heraus, sich den ethischen und hermeneutischen Aufgaben zu stellen, die durch die Neuen Medien in Blick auf den Bibelgebrauch aufgeworfen werden. Literatur B ÄUMLEIN , K., Das Abenteuer einer langen Reise. Predigten nach der lectio continua. Ein Bericht aus der Praxis, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 10 (2001), 49-58. B EAUGRANDE , R.-A./ D RESSLER , W. U., Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1981. B ECKER , E.-M.,Die Person des Exegeten. 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Es heißt: „[Es] muss für Textinterpretation ganz allgemein die Forderung nach mehr „Intratextualität“ erhoben werden. Diese Intratextualiät (Beziehungen innerhalb der Texte eines Autors) verhält sich zur Intertextualität (Beziehungen innerhalb der Texte aller Autoren) so wie Intranet (Vernetzung innerhalb eines Computernetzwerks) zu Internet (Vernetzung aller Computernetzwerke). Nur „Intratextualität“ (als Mitte zwischen der isolierten Betrachtung eines einzelnen Textes eines einzigen Autors einerseits und der Betrachtung aller Texte aller Autoren andererseits) kann aber die Individualität eines Autors und seines Werks optimal nutzen, welche sich sonst entweder (in der Intertextualität) in der menschlichen Universalität aufzulösen droht oder (in der Einzeltextbetrachtung) noch gar nicht hervortreten kann.“ 1 Hier werden die intertextuellen Beziehungen eines Textes zwar nicht geleugnet, aber deren Erforschung wird unterstellt, die Individualität eines Autors bzw. eines Werks in der menschlichen Universalität aufzulösen. Obwohl die Option, sich beim Verstehen von Texten weder der Allgemeinheit des Waldes noch der Isolation des einzelnen Baumes zu ergeben, als Faustregel gesund ist, ist die Sache nicht so einfach, wenn die Texte, die verstanden werden sollen, das Alte Testament sind. Denn die sowohl von der aufblühenden Redaktionskritik als auch von der um sich greifenden Kanonkritik hervorgehobene Parallelität einer Vielzahl von Texten in dieser Bibel und einem einzigen „Endtext“ bzw. Kanon, den sie auch jeweils ausmachen, zwingt uns, weiter zu gehen als nur die banale Wahrheit zu wiederholen, dass die verschiedenen Zugänge zum Alten Testament einander nicht bekämpfen, son- 1 R IECK , G., Die Literaturwissenschaft als Schlossbürokratie. Zum „horror concreti“ in der Kafka-Interpretation, in: ders., Franz Kafka und die Literaturwissenschaft. Aufsätze zu einem kafkaesken Verhältnis, Würzburg 2002, 42. <?page no="100"?> James Alfred Loader 100 dern ergänzen sollen. Die These dieses Aufsatzes lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Da das Alte Testament ein geschichteter Text ist, muss die Lektüre des hier vorliegenden Textes dessen intertextuelle Dimension berücksichtigen, nicht weil eine Glaubensgemeinschaft ihn für ein kanonisches Wort Gottes hält 2 , sondern weil diachrone literarische Gründe das auch bei einem synchronen Ansatz notwendig machen, wodurch die reformatorische Devise scriptura sacra sui ipsius interpres einen texthermeneutischen Sinn erlangt. Das ist nun zu überprüfen, und zwar zunächst von der Frage her, was eigentlich der „vorliegende“ oder „endgültige“ oder „finale“ Text ist. Ich beginne mit Beobachtungen zum Text „wie er vorliegt“, die darauf hinweisen, dass das Sosein des Textes ihn als geschichteten Text kennzeichnet und damit intertextuelle Beziehungen zwischen den Schichten markiert. 1 „Der“ Text als Texte: Äußere Aspekte der Schichtung Verwenden wir den Begriff „Intertextualität“, so setzen wir mehrere Texte voraus, zwischen (inter) denen Beziehungen existieren, die wir zu untersuchen haben. Verwenden wir aber den Begriff „Intratextualität“, so setzen wir einen Text voraus, innerhalb (intra) dessen es Querbeziehungen gibt 3 . Da nun das Alte Testament bzw. die Bibel beides ist, muss die diachrone oder zeitliche Dimension notwendig einbezogen werden 4 . 2.1 Will man vom Alten Testament als einem Text oder Buch sprechen, so kann man das nur aus der Perspektive des Endproduktes „wie er uns jetzt vorliegt“ tun. Das heißt dann oft, man stelle sich auf den synchronen Standpunkt, was wiederum beinhalten sollte, man berücksichtige nicht die Möglichkeit, dass der Text geschichtet ist, denn die Entstehungsgeschichte des Textes komme nicht in Betracht. Auf den „finalen“ Text statt auf dessen frühere Stadien zu fokussieren, ist aber grundsätzlich noch immer eine historische Angelegenheit. Seiner letzten Form bzw. seinen letzten Formen haftet eine historische Dimension an. Wer sich dafür entscheidet, das Alte Testament in seiner letzten masoretischen Gestalt einer literarischen Untersuchung zu unterziehen, hat eine Wahl unter mehreren „Endgestalten“ getroffen, musste also zwischen Texten wählen. Es gibt viele Zweige der Tradition, von denen 2 Zur üblichen „kanonkritische“ Position vgl. C HILDS , B.S., Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979, 73-74. 3 Gegenüber der Verwendung des Terminus von Rieck, für den der Begriff auf die Beziehungen innerhalb aller Texte im œuvre eines einzelnen Autors verweisen soll, obwohl sein Bild der Computer-Netzwerke auch für die Bibel zutrifft. 4 Vgl. zu den folgenden Gedanken L OADER , J. A., Das Alte Testament - ein Geschichtsbuch? , in: B ARTON , J./ E XUM , J.C./ O EMING , M. (Hgg.), Das Alte Testament und die Kunst. Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901-1971), Heidelberg, 18.-21. Oktober 2001, Münster 2005, 32-50. <?page no="101"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 101 verschiedene jeweils eine eigene Endgestalt erreicht haben, sich aber nicht alle einer so breiten Beliebtheit wie „der“ masoretische 5 erfreuen konnten. Man entscheidet sich also für einen Text, der während einer bestimmten Periode unter bestimmten geschichtlichen Umständen entstanden ist und sich aus historischen Gründen durchsetzen konnte. 2.2 Wenn der zu lesende Text ein gewachsener ist, dann ist die historische Perspektive auch einer so genannten literarischen oder „textimmanenten“ Annäherung immanent. 6 Denken wir den Pentateuch als Einheit. Freilich kann man sich literarisch auf die Tatsache konzentrieren, dass darin eine Kombination von gesetzlichen und erzählenden Textsorten vorkommt. Aber auch dann setzt man eine diachrone Perspektive voraus: wer „Kombination“ sagt, sagt „Übergang“, rechnet also mit einer Entwicklung. Vorausgesetzt ist, dass die gesetzlichen und erzählenden Materialien aus verschiedenen Texten stammen und dass sie miteinander in Beziehung gebracht wurden. Diese intertextuelle Beziehung ist im nunmehr vorliegenden Text eine Uminterpretation dessen, was früher getrennt, selbständig und somit von anderer Bedeutung war. Dazu ein Beispiel aus dem Pentateuch: Eine „textimmanente“ Interpretation von etwa Genesis 1-3 kann freilich auf die intertextuellen Beziehungen zu den vielen altvorderorientalischen Schöpfungsmythen verzichten und sich einfach auf die literarischen Strukturen der beiden ersten Kapitel des vorliegenden Textes konzentrieren, muss aber feststellen, dass diese die Schöpfung zweimal beschreiben und verschiedene Blickwinkel und theologische Schwerpunkte enthalten. Gerade der Versuch, zu explizieren, was der Text jetzt aussagt, muss mit einbeziehen, was aus den beiden voneinander abweichenden Versionen der Schöpfungserzählung hervorgegangen ist. Auch wenn man versucht, den Jargon der historischen Kritik zu vermeiden und möglichst konsequent den der textimmanenten bzw. literaturwissenschaftlichen Kritik zu verwenden, bleibt man grundsätzlich auf den beweglichen, diachronen Aspekt des Textes angewiesen. Und das ist so, weil dieser Aspekt da ist. Der vorliegende Text ist ein gewordener, ein zusammengesetzter, dessen endgültige Form von diesen Merkmalen gezeichnet ist. 2.3 Formalisieren wir unsere Beobachtung noch mehr und betrachten wir das Phänomen der Punktierung in der hebräischen Bibel, so weist dieser völlig äußere Aspekt des „vorliegenden“ Textes in die gleiche Richtung. Die Frage, was der „vorliegende“ Text ist, ist nicht so einfach zu beantworten und bekommt heute wieder neue Aktualität. Der schriftliche hebräische Text ohne Vokale ist ein anderer als der schriftliche hebräische Text mit Vokalen. 5 Auch in der masoretischen Tradition selbst gibt es mehrere voneinander abweichende Texte, die sich so nennen lassen; vgl. C HILDS , Introduction to the Old Testament as Scripture, 100 und die dort angeführte Arbeit von O RLINSKY , H. The Masoretic Text: Fact or Fiction? , in: G INSBURG , C.D., Introduction to the Massoretico-Critical Edition of the Hebrew Bible, New York 1966 [Neuausgabe]. 6 Ähnlich S CHNELLE , U., Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB 1253), Göttingen 2005 6 , 52. <?page no="102"?> James Alfred Loader 102 Welcher ist nun der „Endtext“? Schließt er die angeblich ausschließlich zu verwendende Endgestalt der Vokalisation und der weiteren Punktierung ein? Der unvokalisierte Text ist eine Sammlung vieler verschiedener potenzieller Vokalisierungen, von denen mindestens eine bei jeder Lesung realisiert wird. Da der unvokalisierte Text offenbar einem vokalisierten vorausgeht, ist er ein Prätext für eine ganze Reihe von Posttexten, die aus vielen Schichten von Vokalisierungen besteht. Also ist die ganze hebräische Bibel in dieser Hinsicht ein geschichteter Text. Will man mit einem vokalisierten Text arbeiten, so liegt mindestens eine Version des konsonantischen Prätextes notwendig vor. Weil der eine den anderen also übergelagert und untrennbar mit ihm verbunden ist, existiert ein geschichteter Text schon abgesehen von allen literar- und redaktionskritischen Gesichtspunkten. Nehmen wir ein Beispiel aus Hhld 1,5: „Dunkel bin ich, aber schön, ihr Töchter Jerusalems, wie die Zelte von Kedar, die Tücher von Salomo! “ Der Vers spricht eindeutig von den Zelttüchern Salomos (Š e l m ) und nicht Schalmas ( alm h). Wegen des ebenso eindeutigen Parallelismus von Schalma und Kedar im konsonantischen Text 7 ist die Lesung mit zwei nomina loci aber auch deutlich. Der konsonantische Prätext vergleicht die erotisch wirkende Hautfarbe der jungen Frau mit den dunklen Zelttüchern von Nomaden um Schalma in der Wüste. Der vokalisierte Posttext gibt dem Text eine völlig andere Dimension, die wir eine „Salomonisierung“ nennen können und die für eine allegorische Interpretation offen ist. Wenn nur der „Endtext“ (sprich: Posttext) mit seiner in der Endphase der Überlieferung üblichen Assoziation mit der Verfasserschaft Salomos gültig ist, ist das ganze Buch nur als salomonisches Lied zu verstehen. So eine Entscheidung ist ohnehin eine historische, die sich mit verschiedenen Aspekten der Intertextualität beschäftigt. Wenn nicht, warum haben wir eine frühere Textform rekonstruiert? - Offenbar weil die immanente Arbeit nicht darauf verzichten kann. Die Tatsache, dass wir einen konsonantischen Text ohne Vokale herstellen, die Vokale aber nicht ohne die Konsonanten setzen können, bedeutet, dass die mannigfachen Beziehungen zwischen einem unvokalisierten Text von, sagen wir, 100 n.Chr. und den vielen vokalisierten Texten der folgenden Jahrhunderte immer im Text vorhanden sind, wenn wir mit etwa der Biblia Hebraica Stuttgartensia arbeiten. Daher sind viele Prä- und Posttexte im „vorliegenden“ Text vorhanden. Man kann also von interbzw. intratextuellen Beziehungen sprechen, die immer gegeben sind. Der Unterschied zwischen „inter-“ und „intratextuell“ ist also in geschichteten Texten ein relativer: relativ zu den Prätexten, die zusammen gebracht werden, haben wir es mit intertextuellen Beziehungen zu tun; relativ zum Endprodukt des Posttextes sind diese Beziehungen intratextuell. 7 [Vorschlag] [Text] ! . <?page no="103"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 103 2.4 Viertens sind auch die Vernetzungen der Perascha-, Sidra-, Setuma- und Petucha-Einteilungen 8 Teil der finalen Textorganisation. Zwei rivalisierende (jedenfalls voneinander abweichende) Textorganisationssysteme aus babylonischen und palästinischen Kreisen sind in der endgültigen Form eines beträchtlichen Teils des Tanach palimpsestartig aufeinander gelegt. Von der eben unter 2.3 erwähnten Bedingung abhängig, nämlich aus der Perspektive des vorliegenden Posttextes, sind diese Beziehungen intratextueller Art. Von der Perspektive der Prätexte her sind die Beziehungen aber intertextuell, und zwar vom Typ der Metatextualität. Denn wir haben es hier mit dem Werk von „berufsmäßigen Verfassern“ 9 zu tun, die den Text mit Einteilungs-, Verbindungs-, Trennungs- und weiteren Beziehungsnotizen strukturieren. Dieses System legt vielfältige Vernetzungen zwischen Gesetzen, Erzählungen und Liedern und damit zwischen Texte, die erst nach der Einführung des Kodex als „ein Buch“ konzipiert werden konnten. Die Tatsache, dass z.B. die Psalmenrolle mit dem gleichen Akzentuierungssystem wie der Pentateuch versehen ist, belegt eine Intertextualität zwischen den beiden Sammlungen, die für das theologische Verstehen der beiden höchst bedeutend ist: Diese Intertextualität auf der Ebene der spätesten Punktierung besagt, dass die Einteilung des Pentateuch in fünf Bücher und die Fünfteilung des Psalters Pendants sind: Gottes Wort in der Offenbarung des Gesetzes ruft eine menschliche Antwort in Form des Gebetsbuches hervor. Der Domino- Effekt dieser Feststellung führt zur Überlegung, wie denn die im Text vorhandenen Zeichen von der Struktur und Bedeutung, etwa sämtliche Anweisungen von Verbindungen und Trennungen, zu behandeln sind. Auf der Ebene des Textes ist dies eine metatextuelle Angelegenheit. Sie selbst zwingt aber die theologisch noch interessantere Frage auf: Was ist nun „Bibel“? Wer mit dem so genannten hebräischen Posttext arbeiten will, kann sich der Aufforderung nicht entziehen, mit dem mittelalterlichen jüdischen Text als Bibel umzugehen. Wie jung dieses „Alte“ Testament ist, wird dann erst recht vertuscht, wenn man es ein „Erstes“ Testament nennt. Diese Wirren in der Nomenklatur illustrieren nur die Unmöglichkeit, den synchronen Aspekt des Textes vom diachronen zu trennen. Welchen immanenten Standort man auch mit welcher Motivation bevorzugt, man ist gezwungen, sich entweder explizit oder implizit mit der Woher- oder Vorher-Nachher-Problematik zu beschäftigen. Und das ist ein notwendig intertextuelles Unterfangen. 2.5 Aber es gibt innerhalb des konsonantischen Prätextes, der trotz des „prä“-Status, also trotz des „vorher“-Status, noch immer auch als End- oder Posttext vorliegt, auch weitere literarische Ansätze, die auf zwischentextuelle 8 Vgl. dazu K ORPEL , M.C.J./ O ESCH , J.M. (Hgg.), Delimitation Criticism. A New Tool in Biblical Scholarship, Assen 2000, die mit ihren Mitarbeitern ein neues Interesse an diesem Prinzip zur Diskussion bringen. 9 S TOCKER , P., Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn 1998, 55. <?page no="104"?> James Alfred Loader 104 (um einen eigenen Terminus zu erfinden) Beziehungen hinweisen. Im Text liegen Spannungen vor, die von der klassischen historischen Kritik unter der Bezeichnung „Literarkritik“ schlechthin aufgearbeitet wurden, um zu zeigen, dass der vorliegende Text geschichtet ist. Vor allem ihre redaktionskritische Nachfolgerin hat diese Dimension aktuell gemacht, da hier nicht nur auf gesonderte Quellen und deren verschiedene Ursprünge hingewiesen wurde, sondern gerade auch die Bewegung in Richtung des „Endtextes“ oder der „finalen Gestalt“ gezeigt wird. Wo z.B. die Beziehungen zwischen dem sogenannten Protojesaja und Deuterojesaja aufgezeigt und die Beziehungen Tritojesajas zu den beiden als redaktionelles Bindeglied nachgewiesen werden, dort ist von Redaktion die Rede. Und diese Redaktion arbeitete mit zwei Textkomplexen, die mit Hilfe eines dritten Textes so integriert worden waren, dass ihre intertextuellen Beziehungen zu intratextuellen Beziehungen einer neuen Einheit wurden. 2.6 Es gibt verschiedene Ebenen der Inter- und Intratextualität: Im Alten Testament findet man wegen des inneren Charakters der Stoffe, der Entstehungsgeschichte und sogar der Orthographie eine ganze Palette von zwischentextuellen Beziehungen, die verschiedene Gestalten der Intertextualität aufweisen, manchmal sogar zur gleichen Zeit. Texte sind als Einzeltexte zu lesen (etwa die Sodomerzählung, die einzelnen Patriarchenerzählungen, die Thronnachfolgeerzählung usw.). Werden solche Texte aber auf der Ebene der Bücher gelesen (etwa die Patriarchenerzählungen auf der Ebene des Buches Genesis), dann nehmen die intertextuellen Beziehungen zwischen ihnen eine eigene Dimension an. Wieder anders verhält es sich, wo die Beziehungen aus der Perspektive von Büchergruppen betrachtet werden (etwa die Patriarchenerzählungen auf der Ebene des Pentateuch oder das Richterbuch als Teil eines Deuteronomistischen Geschichtswerkes oder das Hohelied als Teil der Megillot). Die Ebene des Kanons bringt nochmals eine neue Perspektive (etwa die so genannten Historischen Bücher im Kontext des Septuagintakanons gegenüber den gleichen Büchern im hebräischen Kanon). Diese Ebene ist besonders relevant für die Bedeutung von Intertextualität für alttestamentliche Texte in einem Kanon, der das Neue Testament enthält und erhebt die Frage nach dem Kanon selbst. Etwa, ob es überhaupt eine intertextuelle Beziehung zwischen dem hebräischen Alten Testament und dem Neuen Testament gibt oder nur zwischen der Septuaginta und dem Neuen Testament oder vielleicht zwischen einem reformatorisch übersetzten Alten Testament und einem so übersetzten Neuen Testament oder ob solche intertextuellen Bezüge vielleicht doch von denjenigen LeserInnen, die es wollen, hergestellt werden können, und schließlich, ob das nicht eher die Intratextualität manifestiert, an der das Alte Testament kraft reformatorischer Kanonherstellung teilnimmt. Jedenfalls ist ein Merkmal des Phänomens von verschiedenen intertextuellen Ebenen, dass sie alle zur gleichen Zeit, also syn-chron oder statisch (à la Saussure) vorliegen. Sie müssen nicht von der historischen Kritik „hypothetisch rekonstruiert“ werden, wie es gerne von begeisterten Be- <?page no="105"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 105 fürworterInnen „der“ literaturwissenschaftlichen Methode in der alttestamentlichen Exegese formuliert wird. Wer literaturwissenschaftlich verstehen will, findet die Sigla der Diachronie auf der synchronen Ebene des vorliegenden Textes. Diese Überlegungen suggerieren, dass wir das in der biblischexegetischen Auseinandersetzung zum Klischee gewordene Diktum, „Wie immer er entstanden ist, wir müssen mit der Endgestalt des Textes arbeiten“, umformulieren sollten zu: „Welcher Endtext auch vorliegt, wir müssen seine Vorstadien ins Kalkül ziehen“. Das wird deutlich, wenn man beobachtet, wie verschiedene Arten der Intertextualität verschiedene Bedeutungsdimensionen aufweisen. Das möchte ich nun an Beispielen zeigen, die über solche Dimensionen der Intertextualität relativ zu den entsprechenden Schichten oder Textebenen, auf denen sie sich befinden, verfügen. 2 „Der“ Text als Texte: Innere Aspekte an Beispielen erläutert Nehmen wir einen narrativen Text, der unser Thema auch von der inneren Seite her beleuchtet. Ich wähle die Geschichte von der Thronnachfolge Davids und deren eingebettete intertextuelle Beziehungen als Ausgangspunkt für die Beobachtung eines veritablen Netzwerks intertextueller Verflechtungen, das zum einen hermeneutisch, d.h. für das Verstehen eines jeweiligen Textes, grundlegend ist, zum anderen auf die Unvermeidbarkeit eines respektvollen Umgangs mit dem Ineinander von Diachronie und Synchronie hinweist. 2.1 Schichten der Thronfolgegeschichte in Spannung zueinander Die Geschichte von der Thronnachfolge Davids in 2Sam 6.9-20 sowie 1Kön 1- 2 ist ein Text, in dem die historische Kritik verschiedene Schichten entdeckt und beschrieben hat. Schon die Tatsache, dass der Anfang in Kap. 6 bzw. 9 durch zwei andere Kapitel unterbrochen wird und dass das Ende (1Kön 1-2) durch eine Reihe von Nachträgen (2Sam 21-24), einschließlich eines Gedichtes (2Sam 22) vom Korpus getrennt wird, zeigt, dass der vorliegende Text eine Geschichte hat. Das bekannteste Indiz der Mehrschichtigkeit des Textes ist jedoch die Spannung zwischen königsfreundlichen und königskritischen Abschnitten, die etwas vereinfachend folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Nach Ernst Würthwein 10 , dessen bekannte These 1974 publiziert wurde, wurde der kritische Zug der Erzählung durch den Einbau einer späteren, positiven Schicht in das genaue Gegenteil verwandelt. Andere haben eine ähnliche Sicht vertreten und die sogenannten pro- und antidavidischen Tendenzen späteren redaktionellen Überarbeitungen zuge- 10 W ÜRTHWEIN , E., Die Erzählung von der Thronfolge Davids - theologische oder politische Geschichtsschreibung? , Zürich 1974, passim. <?page no="106"?> James Alfred Loader 106 schrieben. 11 Demnach sollen hier drei Schichten vorliegen: zunächst eine Erzählung über die Festigung des dynastischen Prinzips in Israel, dann eine politische Erzählung ad majorem gloriam regis und drittens eine königskritische Erzählung mit diametral gegenteiliger Tendenz. Die Schichten sind also jeweils eine quantitativ weit reichende Wiederholung eines Prätextes mit gravierenden Interpretamenten, die den Prätext völlig umdeuten. Gehen wir davon aus, dass die letzterwähnte Rekonstruktion richtig ist, dann müssen wir sagen, dass der Status des Prä- und Posttextes relativ ist. Der königskritische Posttext resultiert aus einem königsfreundlichen Prätext, der aber seinerseits der Posttext eines noch früheren Prätextes ist, der sich einfach mit dem Thema „Festigung des dynastischen Prinzips in Israel“ beschäftigt. Aus texttheoretischer Perspektive betrachtet, handelt es sich hier um eine Form von „palintextueller Intertextualität“ 12 , es geht also um die Beziehung von zwei (Ernst Würthwein) oder mehr (Timo Veijola) Texten, „die auf Wiederholung beruht“: die Erzählung wird wiederholt, aber mit der Einfügung einer neuen Schicht sowie einer neuen Sicht. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Wiederholungs- und Neudeutungsart dieser Texte und etwa den bekanntesten palintextuellen Fällen, wie der Wiederholung des Dekalog (Ex 20) in Dtn 5 mit bewusst sozialer statt schöpfungstheologischer Tendenz (z.B. im Sabbatsgebot), oder den Gesetzen des Bundesbuches (Ex 20,22-22,33), die einerseits altorientalische Prätexte aus den Kodifizierungen des Hammurapi oder von Eschnunna mit jahwisierenden Ergänzungen wiederholen und ihrerseits noch einmal als Prätexte für eine erneute Wiederholung im Deuteronomium dienen. 13 Der Tatsache, dass diese Palintexte an verschiedenen Orten liegen, darf nicht zur Annahme verleiten, dass sie wesentlich anderen Charakters sind wie die Palintexte in einem geschichteten Text, der - wenn mir das Wortspiel erlaubt wird - sich damit wiederum als Palimpsest präsentiert. So haben wir drei Schichten, die jeweils synchron, nach Querschnitten „statisch“ 14 auf ihre Qualität in den spezifischen Stadien hin befragt werden können. Wer aber die Intertextualität beobachtet, erkennt auch ein dynamisches Element, und das bedeutet Entwicklung, Diachronie. Hier könnte man von Intratextualität sprechen, weil es um Verhältnisse innerhalb des einen Textes „Geschichte von der Thronnachfolge Davids“ geht. So würde allerdings unterbeleuchtet bleiben, dass eine Textschicht, die vorgefunden und als Prätext für einen 11 Vgl. V EIJOLA , T., Die ewige Dynastie. David und die Entstehung seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung, Helsinki 1975. 12 Nach der Terminologie von S TOCKER , Theorie der intertextuellen Lektüre, 50-51. 13 Z.B. die Gesetze über „stoßwütige“ Rinder (Ex 21,28-32), die ebenfalls Prätexte im viel älteren Kodex Hammurapi (§ 250-252) und in den Gesetzen von Eschnunna (§ 5, 54, 56- 58) haben, und das Sklavengesetz des Bundesbuches (z.B. Ex 21,2), das in Dtn 15,12 einen palintextuellen Posttext findet. 14 „Statisch“ in der Definition der Synchronie von S AUSSURE , F. D ., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Zweite Auflage mit neuem Register und einem Nachwort von P. VON P OLENZ , Berlin 1967, 96. <?page no="107"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 107 Posttext verwendet wird, ein vollwertiger Text mit eigenem Recht ist. Und das ist es wiederum, was die klassische historische Kritik mit „Textschichten“ meinte. 2.2 Der Eli-Abjatar-Intertext Widmen wir uns nun einer weiteren Dimension von Intertextualität in der Geschichte von der Thronnachfolge. Wenn wir die königskritischen Züge der Erzählung registrieren und diese mit den königsfreundlichen Zügen vergleichen, scheint die Erklärung plausibel, dass ein Prätext zunächst positiv überarbeitet wurde und als solcher wieder Prätext für einen kritischen Posttext wurde. Aber sieht man eine weitere intertextuelle Dimension ein, wird diese Möglichkeit eher unwahrscheinlich. Der Posttext erscheint dann weder als pronoch als anti-davidisch, noch als Summe von beiden. Auf der einen Seite ist die kritische Tendenz der Erzählung unverkennbar. David ist ein unfähiger König. Er kann seine Kinder nicht zügeln und versagt als Erzieher 15 . Immer wieder erlaubt er seinen Söhnen Abenteuer, die in Katastrophen enden, entweder mit Genehmigung 16 oder in Unkenntnis 17 . Er gibt als Ehebrecher und Mörder eine traurige Gestalt ab, 18 misst man ihn an den Normen der Weisheit. Salomo schneidet nicht besser ab, wenn er sein Wort an seine Mutter bricht, fadenscheinige Entschuldigungen erfindet, um seine Widersacher zu töten, und sogar die Heiligkeit des Altars schändet. 19 Er verliert beinahe das Rennen um den Thron aufgrund der Teilnahmslosigkeit seines Vaters. Zuerst muss David gedrängt werden, etwas zu tun, dann befiehlt er impulsiv, Salomo eiligst zu krönen. Kann man von ihm, der unter Anklage weisheitlicher Ideen, wie der Notwendigkeit sorgfältiger Beratung oder der Torheit von Impulsivität steht, 20 überhaupt ein positives Ergebnis erwarten? Offensichtlich manipulieren ihn die Königin und der Hofprophet. Sogar unter dynastischen Prämissen ist seine Entscheidung falsch, weil in diesem Fall Adonija hätte König werden müssen 21 . Das bedauerliche Bild macht es unmöglich, Leonhard Rost 22 in der Einschätzung zu folgen, die Erzählung sei in majorem Salomonis gloriam geschrieben. Auf der anderen Seite gibt es eine ebenso unverkennbar positive Seite, so dass die Gelehrten, die die Erzählung für pro-davidisch/ salomonisch hielten, nicht völlig falsch liegen. Am Ende überlebte David immerhin alle Wechselfälle, die in der Geschichte erzählt werden; Salomo blieb Herr über die Tur- 15 2Sam 13,21; 1Kön 1,6; vgl. Spr 13,24; 17,25; 19,13.18; 22,15; 23,13. 16 2Sam 14,21.33; 15,9. 17 2Sam 13,13.21; 1Kön 1,18. 18 2Sam 11,2-5.14-16. 19 1Kön 2. 20 Spr 15,22; 22,24. 21 1Kön 2,15. 22 R OST , L., Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids, Stuttgart 1926, 128. <?page no="108"?> James Alfred Loader 108 bulenzen rund um seine Nachfolge, und schließlich gewann er das Rennen. Es ist schwierig, die Tatsache dieser an den Tag getretenen Erfolge einfach zu ignorieren. Am Schluss wird uns die Antwort auf die früher gestellte Frage gegeben: Salomo saß fest auf dem Thron, und die davidische Dynastie hatte begonnen. So finden wir neben dem kritischen Aspekt der Geschichte auch einen positiven 23 . In 1Kön 2,27 erscheint nun ein weiterer Hinweis auf die göttliche Aktivität in der Geschichte in Form einer intertextuellen Beziehung. Wenn Salomo Abjatars Priesterpflichten wegen dessen Untreue aufhebt, wird dies als Erfüllung einer Prophezeiung aus der sogenannten „Kindheitsgeschichte“ Samuels gesehen. Es geht um eine Weissagung gegen Eli, dessen Nachkomme Abjatar ist (1Sam 2,27-36). Dies ist wieder nicht Teil des Dialogs, sondern die Herstellung einer intertextuellen Beziehung durch den Erzähler. Salomo dachte nie an die Prophezeiung vom Ende der Priesterschaft des Hauses Elis und handelte gegen diesen Nachkommen Elis aus rein politischen Gründen. Trotzdem sieht der Autor dahinter Gott am Werk, der die menschlich motivierte Handlung nutzt, um seinen eigenen Plan durchzuführen. In diesem Bezug liegt eine tief beunruhigende Bemerkung. Eli ist das klassische Beispiel eines alten Mannes, dessen Söhne gewalttätige Männer mit sexuellen Leidenschaften sind (1Sam 2,16.22), die er nicht lenken kann (1Sam 2,22-25.29). Das passt allzu gut zum Bild von David und seinen Söhnen. Außerdem wurde dem Haus Elis und dem Haus seines Vaters eine immerwährende, bevorzugte Position bei Jahwe versprochen (1Sam 2,30). Aber aufgrund der Tatsache, dass Eli seine Söhne mehr achtete als Jahwe, wurde dieses Versprechen aufgehoben. Gerade in jenem Kapitel, in dem wir diesen Hinweis finden, gibt es wiederholte Bezüge auf die Dauerhaftigkeit des Hauses Salomos und des Hauses seines Vaters David, ein Widerhall von Nathans Weissagung (2Sam 7,13). Der Effekt ist nicht zu übersehen: Jeder, der mit der Erzählung von Samuel und Eli vertraut ist, wird sich daran erinnern, was einem Mann und seinen Nachkommen passieren kann, wenn dieser seine Söhne nicht im Griff hat. Diese dunklen Schatten der Ablehnung bilden ein Gegengewicht zu den abschließenden Worten der Erzählung, die uns versichern, das Königtum sei in den Händen Salomos sicher. Wenn Jahwes Garantie für das Haus Elis aufgehoben werden kann, dann auch seine Garantie für das Haus Davids. Nach alledem begegnet der explizite Hinweis gerade in jenem Kapitel, wo sich Salomo genauso gewaltsam wie die Söhne Elis zeigt. Nicht nur die erfolglosen Prätendenten auf den Thron, Absalom, Amnon und Adonija ähneln ihrem Vater, sondern auch der erfolgreiche Salomo. Alles das durchzieht die 23 Zudem finden sich auch mehrere Passagen, „in denen der Verfasser in Gestalt eines positiven theologischen Urteils sich über Gott und seine Beziehung zu den geschilderten Ereignissen ausspricht“ (R AD , G. VON , Der Anfang der Geschichtsschreibung im Alten Israel, in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament. Band 1 (TB 8), München 1966, 148-188, hier: 180-182). <?page no="109"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 109 ganze Erzählung, und der intertextuelle Konnex bezieht sich demgemäß auf die ganze Geschichte. Die Tendenz ist also weder pronoch anti-monarchisch und auch kein Sammelsurium der beiden, sondern eine intertextuelle Dimension, die konditionell und damit als Warnung funktioniert - die Monarchie wird akzeptiert, jedoch unter einer Bedingung: wenn der König Jahwe missfällt, kann die Nathansverheißung aufgehoben und der König vom Thron gestürzt werden, wie Gott seine Verheißung einer immerwährenden Priesterschaft wegen der Sünde der Inhaber zurückgenommen hat. Das ist genau die Tendenz des sogenannten Deuteronomistischen Geschichtswerks, des umfassenden Posttextes, in den die Thronfolgegeschichte aufgenommen wurde. 2.3 Intertextualität in der Frage nach dem Subjekt der menschlichen Geschichte Die Thronfolgegeschichte stellt ein großartiges Beispiel eines Zwillingsthemas dar. Einerseits kontrolliert Gott unauffällig die Ereignisse in der menschlichen Welt; deshalb konnte Salomo schließlich König werden. Andererseits wird die menschliche Geschichte von menschlichen Akteuren mit ihren eigenen Entscheidungen, Plänen und Fehlern dargestellt. Deshalb kann sie geprüft und bewertet werden; deshalb steht sogar der König nicht über der Kritik; deshalb ist unsere Erzählung voll von kritischen Suggestionen und Implikationen. Das ist es, mit dem sich die Thronfolgeerzählung auseinandersetzt. Aber diese Erklärung arbeitet mit zwei Stufen: einer politischen und einer theologischen. Was üblicherweise als „anti-davidische“ Seite der Erzählung angesehen wird, sollte tatsächlich als kritische Seite beachtet werden, und was man üblicherweise als „pro-davidische“ bzw. „propagandistische“ Tendenz versteht, sollte tatsächlich als positiver Aspekt gesehen werden. Diese beiden Seiten funktionieren ebenso gut auf der politischen wie auf der theologischen Stufe. 2.3.1 Die politische Stufe der Frage und die Weisheit Die Erzählung ist eine Illustration bzw. eine praktische Dramatisierung einer zwiespältigen Haltung gegenüber dem König und seiner Macht, wie sie sich häufig in der Weisheitsliteratur findet. Einerseits stoßen wir oft auf Sprüche, in denen die Tatsache königlicher Macht akzeptiert wird, andererseits gibt es Sprüche, in denen auf die Gefahr der königlichen Macht hingewiesen wird. Man kann sagen: „Im Leuchten des Angesichts des Königs ist Leben, und sein Gefallen wie eine Wolke des Spätregens.“ (Spr 16,15) Aber man kann ebenso gut sagen: „Der Grimm des Königs ist wie ein Todesbote, aber ein weiser Mann wird ihn beruhigen.“ (Spr 16,14) <?page no="110"?> James Alfred Loader 110 „Auch in deinen Gedanken fluche dem König nicht und in deiner Schlafkammer fluche dem Reichen nicht, denn die Vögel des Himmels können den Klang aufheben und was Flügel hat, deine Worte berichten.“ (Pred 10,20) Alle den König erwähnenden Sprichwörter akzeptieren die Tatsache königlicher Macht (Spr 25,5; 29,14), aber viele von ihnen enthalten gleichzeitig eine klare Warnung vor der Gefahr, sich in einer solchen Ehrfurcht gebietenden Machtsphäre aufzuhalten (vgl. Spr 19,12; 20,2; Pred 8,3f.; 10,4). In anderen Fällen werden Höflinge ausdrücklich auf gefährliches Verhalten in Anwesenheit des Herrschers hingewiesen: „Wenn Du dich hinsetzt, um mit einem Herrscher zu speisen, achte auf das, was du vor dir hast und setze ein Messer an deine Kehle, wenn du heißhungrig bist.“ (Spr 23,1f.) „Erhebe dich nicht vor dem König und stelle dich nicht an den Platz bedeutender Männer.“ (Spr 25,6) „Wenn des Herrschers Zorn sich gegen dich erhebt, verlasse nicht deinen Platz; denn Gelassenheit kann große Fehler vermeiden.“ (Pred 10,4) Viele Sprüche machen deutlich, dass der König nicht über der Kritik steht. Dies impliziert, dass auch der König einer höheren Macht untergeordnet ist. Von ihm wird erwartet, dass er seine Pflichten zum Wohlergehen des Landes erfüllt: „Orakelspruch ist auf den Lippen eines Königs, und im Rechtsspruch ist sein Mund nicht ungerecht.“ (Spr 16,10) „Ein Gräuel ist für Könige Gottloses zu tun, denn ein Thron steht fest durch Gerechtigkeit.“ (Spr 16,12) „Ein König, der auf dem Richterstuhl sitzt, sondert das Böse mit seinen Augen aus.“ (Spr 20,8) „Ein König, der die Geringen in Wahrhaftigkeit richtet, dessen Thron wird für immer feststehen.“ (Spr 29,14) Es kann sogar gesagt werden, dass Gott die Gedanken des Königs lenkt, wie es ihm gefällt: „Das Herz des Königs ist in der Hand Jahwes wie Wasserströme; er neigt es, wohin immer er will.“ (Spr 21,1) Alles das zeigt, dass der König Ehrfurcht gebietend mächtig ist und man gegenüber dem König vorsichtig sein muss; dass er eine Bedrohung sein kann, aber auch ein Segen, wenn er der Aufgabe treu bleibt, mit der ihn Gott betraut hat. <?page no="111"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 111 In der Weisheitsliteratur finden wir daher eine kritische Akzeptanz des Königs. Und das ist genau, was die Thronfolgeerzählung beabsichtigt. Unsere Erzählung ist sozusagen eine Anwendung der Sprüche, eine narrative Wiedergabe der Konturen des israelitischen Spruchschatzes. Sie zeigt, dass die davidische Dynastie sich etabliert, dass Salomos Thron gesichert steht und dies alles nach dem Willen Gottes geschah. Die Thronfolgeerzählung hat also eine „politische“ Absicht, wie Roger N. Whybray es ausdrückt, aber diese Absicht läuft nicht auf eine simple Propaganda für die Dynastie oder Salomo hinaus. Auch intendiert die Erzählung nicht, sich auf die Seite antidavidischer Gefühle zu schlagen. Sie will sagen, dass man das politische Machtgefüge unter der Bedingung, dass der König in Gehorsam gegenüber der überlegenen Herrschaft Jahwes gebietet, akzeptieren muss. Das ist nur eine andere Art, um zu sagen, der König sollte kritisch akzeptiert werden. Aus diesem Grund hören wir nicht nur, dass die Thronbesteigung Salomos stattfand, weil es Gott so geplant hatte, sondern auch, dass die Könige Israels Sünder, Versager, rücksichtslose Mörder und sogar Narren waren. 2.3.2 Die theologische Stufe der Frage und die Weisheit Das letzte der oben genannten Zitate aus dem Sprüchebuch bildet eine ausgezeichnete Brücke zur nächsten Ebene, auf der sich die Bedeutung der Thronfolgeerzählung auswirkt. Sie enthält beide Elemente: das politische und das theologische. Es wird uns nicht nur gesagt, dass der Monarch einer anderen Macht untergeordnet ist, sondern auch, dass das göttliche Eingreifen in menschliche Angelegenheiten entscheidend ist. Trotz der Macht des Königs und seiner Verantwortung, weise zu sein und zu beraten, wird das Ergebnis seiner (menschlichen) Entscheidungen von Gott bestimmt, der unsichtbar hinter den Kulissen wirkt. Diese Vorstellung findet sich auch überall im Sprüchebuch. Einerseits ist das Buch voll von praktischen Ratschlägen für den Weg, den man einschlagen sollte, um sein Leben mit Aussicht auf Erfolg zu führen. Andererseits werden Aussagen wie die eben zitierten im ganzen Buch sichtbar: „Die Überlegungen des Herzens gehören dem Menschen, aber die Antwort der Zunge stammt von Jahwe.“ (Spr 16,1) „Das Menschenherz plant seinen Weg, aber Jahwe bestimmt seine Schritte.“ (Spr 16,9) „Viele Pläne sind im Herzen eines Mannes, aber der Ratschluss Jahwes, er kommt zustande.“ (Spr 19,21) „Die Schritte eines Mannes werden von Jahwe gesteuert; wie kann der Mensch seinen Weg verstehen? “ (Spr 20,24) „Es gibt keine Weisheit, keine Einsicht und keinen Rat gegenüber Jahwe.“ (Spr 21,30) <?page no="112"?> James Alfred Loader 112 „Das Pferd wird für den Tag der Schlacht gerüstet, aber der Sieg gehört Jahwe.“ (Spr 21,31) Die gleiche Gesinnung wird im Buch Kohelet ausgedrückt: Die Vorstellung, Absichten und Handlungen Gottes könne man nicht verstehen (vgl. Pred 3,11; 7,24; 8,17), erscheint hier in einem extrem pessimistischen Kontext. Auch in der Weisheit Amenemopes kommt das vor. 24 Es gibt also eine „menschliche“ Ebene und eine „göttliche“. Die Weisen beharrten unerbittlich darauf, dass es beim Menschen lag, sich seinen eigenen Erfolg zu erarbeiten. Für sie existierte offensichtlich eine Kausalität, die menschliche Weisheit mit Erfolg und menschliche Torheit mit Misserfolg verknüpft. Das macht die Vorstellung der Vergeltung aus. Trotzdem waren sie sich auch bewusst, dass diese optimistische Sicht der menschlichen Möglichkeiten ihre Grenzen hatte. Gegenüber der „wörtlichen“ Seite menschlicher Bemühungen steht die unergründliche Seite der überlegenen Macht Gottes, die die Geschehnisse - gerade königliche Belange - leitet, wie es ihm gefällt. Das lässt nicht nur die Thronfolgeerzählung erkennen, sondern auch die Erzählungen von Joseph und Ester. 2.3.3 Die Schicksalsfrage und Intertextuelle Bezüge zur Josepherzählung Das kleine von Gott ohne Grund geliebte Kind, wurde König, nicht durch eigene Weisheit und nicht durch eigene Taten. Er wurde von Gott in einem souveränen Akt der Erwählung vorgezogen. In den Herzen Absaloms, Adonijas, Joabs und anderer menschlicher Akteure gab es viele Pläne. Sie rebellierten, stifteten an und schmiedeten Pläne, aber schließlich setzte sich die Absicht Jahwes durch. Absalom bereitete sein Pferd für den Tag der Schlacht vor, aber der Sieg gehörte Jahwe, weil er das Herz des Gegenkönigs lenkte, auf einen falschen Rat zu achten. Auf menschlicher Ebene entwickeln sich die Ereignisse einfach in einer Kette von Ursache und Wirkung, wie es die Technik des Autors mit der sehr seltenen Verwendung theologischer Aussagen vorsichtig suggeriert. Diese beiden Ebenen finden sich auch in der Josepherzählung (Gen 37,39- 50). Auf der einen Seite sind Josephs Brüder für seinen Verkauf in die Sklaverei und seinen Aufenthalt in Ägypten verantwortlich. Wiederum ist es Joseph selbst, der die Situation mit Ruhe und seinem rationalen Programm landwirtschaftlicher Ökonomie rettet. Auf der anderen Seite wird zweimal behauptet, dass diese Ereignisse in Wirklichkeit deshalb geschahen, weil Gott hinter den Kulissen stehend die Geschehnisse lenkte. 25 Joseph sagt zu seinen Brüdern: „Seid nicht bekümmert, dass ihr mich hierher verkauft habt.“ Dann fügt er zweimal hinzu: „Gott hat mich vor euch voraus gesandt.“ Und dann beendet er seine Ansprache, indem er das Gegenteil seiner früheren Aussage behauptet: 24 Vgl. R AD , G. VON , Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/ 4), Göttingen 1966, 298. 25 Vgl. R AD , Genesis, 298. <?page no="113"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 113 „Nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott war es.“ (Gen 45,5-8) Es waren seine Brüder, aber irgendwie waren sie es auch nicht. Gott hatte eine Absicht und lenkte das Böse der Menschen, um dem Zweck zu dienen, viele Leute vor Verhungern und Tod zu retten. Die gleiche Aussage findet sich am Ende der Erzählung: „Ihr beabsichtigtet Böses gegen mich, aber Gott plante es zum Guten, um seine gegenwärtige Absicht zu erreichen: das Leben von vielen zu retten.“ (Gen 50,20) Wieder gab es also Pläne in den Herzen der Menschen, aber am Ende setzte sich die Absicht Jahwes durch. Wieder entwickeln sich die Ereignisse ganz natürlich, und wieder gibt uns der Verfasser nur ein paar theologische Hinweise, um ihre Bedeutung zu verstehen. Die Josephgeschichte kann ebenfalls eine Weisheitserzählung genannt werden, wie Gerhard von Rad 26 gezeigt hat. Zunächst ist das göttliche Walten in der Welt, wo Menschen selbst für ihre Schicksale verantwortlich sind, hier eben so grundlegend wie in der Thronfolgegeschichte und in der Weisheit. Weiters wird bei Joseph auch der typische, aus der Weisheitsliteratur bekannte „Chiasmus der Beziehungen“ (Hybris - Demütigung/ Demut - Ehre; vgl. Spr 15,33; 16,18; 18,12) als grundlegendes Muster verwendet. Ein anmaßender junger Mann übertritt die Gebote der Weisheit, wird gedemütigt, beginnt damit, Weisheit zu praktizieren und ist erfolgreich. Dasselbe Muster liegt dem Buch Ester zugrunde (s.u.). Es sollte daher nicht überraschen, wenn es in den Einzelheiten beider Erzählungen viele Ähnlichkeiten gibt, die bereits von Rosenthal 27 beobachtet wurden. Sie sind keineswegs unbedeutend, sondern fest in das Muster der Umkehrung integriert, das sie mit der Weisheitsliteratur teilen. Damit findet der weisheitliche Aspekt beider Erzählungen eine Erklärung. Die Josephgeschichte ist in sich selbst bereits geschichtet: Eine Dublette über einen Bruder, der verhüten will, dass die Brüder Joseph verkaufen (Gen 37,18-24/ 25 über Ruben und Gen 37,26-30 über Juda) berichtet über den Verkauf von Joseph. Manchmal wird das als aus verschiedene Originalquellen stammend, und manchmal als sekundäre Erweiterung erklärt. Eine weitere Dublette im Abschnitt erzählt von zwei Gruppen, den Ismaeliten und den 26 Vgl. R AD , G. VON , Josephsgeschichte und ältere Chokma, in: VT.S I (1953), 120-127. 27 R OSENTHAL , L. A., Die Josephsgeschichte mit den Büchern Ester und Daniel verglichen, in: ZAW 15 (1895), 278-284. Z.B. 1,21/ Gen 41,37; 3,4/ Gen 39,10; 4,16/ Gen 43,14; 5,10/ Gen 41,42 (das Ring-Motiv); 5,10/ Gen 43,31 und 45,1 (qpa); 8,6/ Gen 44,34. Vgl. auch B ERG , S.B., The Book of Esther. Motifs, Themes and Structure, Missoula 1979, 151; M EIN- HOLD , A., Das Buch Esther (ZBK), Zürich 1983, 16. Ebenfalls zu vergleichen wäre die königliche Gewandung und das Ross bei Mordechai und Joseph sowie das Ausrufen bei beiden (6,9/ Gen 41,42-43). Mordechai und Joseph - der eine ein Exulant, der andere ein Gefangener - handeln zusammen mit zwei Höflingen, steigen aus dem Elend zum Ruhm auf, werden Wesir in einem fremden Land und handeln im Interesse eines ausländischen Königs. <?page no="114"?> James Alfred Loader 114 Midianitern, in der Rolle der Sklavenhändler 28 . In den Versen 25-27 treten Ismaeliten in einer Karawane auf, während die Brüder essen, und letztere beschließen, Joseph an erstere zu verkaufen. In Vers 28 sind dann plötzlich Midianiter da, die, so scheint es, Joseph aus einer Grube ziehen und an die Ismaeliten verkaufen. 29 Das würde erklären, warum in Vers 36 gesagt werden kann, dass die Midianiter Joseph (a) nach, nicht (b) in Ägypten verkauft haben. Verschiedene Erklärungen wurden angeboten: Der Wechsel der ethnischen Ausdrücke könnte sich auf verschiedene Quellen beziehen, die Ismaeliten nämlich auf die jahwistische und die Midianiter auf die elohistische Quelle (so die meisten der älteren kritischen Kommentare). Der Befund könnte aber auch auf zwei Erzählungen, nicht auf zwei Quellen hindeuten bzw. sich auf die Ruben-Version (nur Midianiter) und auf die sekundäre Juda-Version (Midianiter und Ismaeliten) beziehen. 2.3.4 Die Schicksalsfrage und die Estererzählung Die dritte Erzählung, die diese beiden Pole erläutert, ist die Geschichte von Ester. Einerseits retten die menschlichen Anstrengungen Esters und Mordechais das jüdische Volk. Sie planen Hamans Fall und führen selbst den Befehl des Königs zu ihrem Vorteil aus (Est 8,8). Nirgends wird Gott auch nur erwähnt. Aber auf der anderen Seite ist die ganze Erzählung nach einem chiastischen Muster konstruiert, das im Alten Testament gängig ist und Gott im Schnittpunkt der Ereignisse stehen lässt: Immer ist es Gott, der das Schicksal umkehrt. Im Esterbuch haben wir dasselbe deus-ex-machina-Muster, nur ohne deus. Dennoch wimmelt es im Buch von Anspielungen auf Gott und Andeutungen, dass er es sei, der die Geschehnisse lenkt. Hilfe kommt von „irgendwo“ her, wenn Ester nicht helfen kann (Est 4,14); Mordechai glaubt fest, dass die Juden nicht umkommen können und Ester „in einer Zeit wie dieser“ wahrscheinlich Königin wird; Ester verlangt von den Juden zu ihren Gunsten zu fasten, während sie weiß, dass sie es schon tun (Est 4,3.4.16); die häufige Verwendung des Passivs zeigt, dass irgendwo eine ungenannte Macht am Werk ist (z.B. Est 2,8; 9,1.22). Die Erzählung kann also auch als Geschichte des göttlichen Eingreifens in menschliche Angelegenheiten gelesen werden. Menschliche Anstrengung schließt die göttliche Lenkung des Geschehens zu einem Ziel hin nicht aus. In der hebräischen Bibel befindet sich die Estererzählung im dritten Teil, also in den Schriften, und ist jener Text der Festrollensammlung, der am Purimfest verlesen wird. Die Thronfolgegeschichte steht in dieser Bibel in zwei Büchern unter den Vorderen Propheten. Die Thronfolgegeschichte kann als der frühere Text „Prätext“ genannt werden und die Estererzählung „Post- 28 Vgl. P LAUT , W.G., Who sold to whom? Notes on how not to draw hasty conclusions from a biblical text, in: CCAR.J 15/ 2 (1968), 63-67. 29 Das Subjekt von " und " in V. 28 wird nicht erwähnt, aber es darf naturgemäß als wie beim vorausgehenden Verb angenommen werden. <?page no="115"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 115 text“. Aber im dreiteiligen Kanon, der noch jünger ist als die Estererzählung, kommen nun beide vor und haben auch kraft dieses Beisammenseins einen Bezug aufeinander. In diesem Sinne können die Erzählungen auch „Prätexte“ eines großen biblischen Textes genannt werden. Dadurch haben sie in dieser Gestalt der Intertextualität auch gegenseitig „nachweisbare Bezüge“ 30 zueinander. Relativ zum größeren Posttext läuft die intertextuelle Beziehung nicht mehr nur in eine Richtung, sondern ist gegenseitig. Aber die Estererzählung zeigt auch nachweisbare Bezüge zu einem anderen Prätext, wodurch sie eine Dimension bekommt, die gerade die Frage nach dem Subjekt der menschlichen Schicksale im Sinne der Thronfolge- und Josephgeschichte sowie der Weisheit in diesem Buch aufschlüsselt. Gillis Gerlemans 31 These, nach der das Buch Ester nach dem Muster der Exoduserzählung gestaltet sei, wird überzeugend dargestellt. 32 Auf der einen Seite zeigt der Exodus-Prätext, dass Gott das Schicksal lenkt. Auf der anderen Seite ist Gott „beseitigt“. Die verbleibende Lücke ist Gott-gestaltig, aber sie ist eine Lücke. Der Prätext aus Exodus ist enttheologisiert worden, und so ist angedeutet, dass Gott sein Volk in Persien ebenso gerettet hat wie damals in Äg- 30 B ROICH , U., Intertextualität, in: RDLW II (2000), 175-179, hier: 176. 31 G ERLEMAN , G., Esther (BK), Neukirchen-Vluyn 1974, passim. 32 Sogar C LINES , D.J.A., The Esther Scroll. The Story of the Story (JSOT 30), Sheffield 1984, 155-156 erkennt die intertextuellen Beziehungen zur Exoduserzählung an. Ester und Mose sind beide Israeliten/ Juden, die eine Schlüsselstellung an einem fremden Königshof einnehmen. Beider Identität bleibt anfangs verborgen. In beiden Erzählungen handeln zwei Hauptpersonen zugunsten des bedrohten Volkes (Mordechai und Ester auf der einen, Mose und Aaron auf der anderen Seite). Während Aaron für Mose das Wort ergreift, der nicht gut reden kann (Ex 4,10-16), wird Mordechai als die stille Macht hinter Ester gezeichnet (wir hören ihn nur einmal reden: Est 4,13-14). Wie Mose (Ex 4) schreckt Ester anfangs vor ihrer Aufgabe zurück, während beide später zu Helden ihres Volkes werden. Wie Mose ist sie ein adoptiertes Kind. Wichtige lexikalische Parallelen erscheinen an vergleichbar bedeutsamen Stellen der Erzählung „Stätte“ in 4,14 und Ex 3,5; vgl. # „Fronarbeit“ in 10,1 und Ex 1,11). „Der Mann“ Mordechai war „groß“ im Perserreich (9,4), und „der Mann“ Moses war „groß“ in Ägypten (Ex 11,3). In beiden Erzählungen werden Audienzen beim König als gefährlich geschildert (Est 4,11 und Ex 10,28), und in beiden wird wiederholt der entscheidende Wendepunkt durch verschiedene Besuche beim König hinausgezögert. Mose steht in der gleichen Beziehung zum Unterdrücker Israels (dem Pharao) wie Mordechai zum Unterdrücker der Juden (Haman). In beiden Erzählungen kommt Schrecken und Tod über die Unterdrücker (Est 8,17; 9,2-3; Ex 12,29-33), und in beiden hören wir von Nicht-Juden, die sich ihnen anschließen (8,17; vgl. Est 9,27; Ex 12,38). Die Beamten des Perserkönigs helfen den Juden und die Diener des Pharao den scheidenden Israeliten (Est 9,3 und Ex 12,35-36). Die Estererzählung erreicht ihren Höhepunkt im Purimfest, die Exoduserzählung im Passafest. Die genaue Datierung in Kap. 3-6 zeigt, welcher Gebrauch von der erzählten Zeit gemacht wird, und sie ist so exakt ausgearbeitet, dass die Ereignisse mit dem Passadatum zusammenfallen, d.h. drei Tage vor dem 13. Nisan (Ex 12,6.18) liegen. Ester und die Juden fasten genau zu der Zeit, in der das Passalamm gegessen werden soll. <?page no="116"?> James Alfred Loader 116 ypten, aber dass die Menschen selbst die Initiative ergreifen und damit ihr Schicksal steuern müssen. 33 Kein Wunder also, dass das Buch Ester auch reich an Motiven der Weisheit ist: Der törichte launische Despot, dessen Gegenwart Gefahr bedeutet (vgl. Spr 16,14-15; 19,12; 20,2; Pred 8,4; 10,16-17); Esters Fähigkeit, im richtigen Moment zu reden und zu schweigen (vgl. Spr 10,20.31; 15,2; 16.13 usw.); Hamans törichte Rede, seine Hybris, sein Zorn und Hass (vgl. Spr 12,23; 16,18; 21,24; 29,22); der weise Mordechai, 34 der den Besitz des törichten Haman bekommt (vgl. Spr 13,22; Pred 2,26); Haman fällt in die Grube, die er für Mordechai gegraben hat (vgl. Spr 26,27; 28,10; Pred 10,8). Wir können auch, Shmaryahu Talmon 35 folgend, den verhüllenden Gott mit dem unbestimmten fernen Gott Kohelets vergleichen. Es ist ganz gewiss möglich, Ester mit Talmon als eine „historisierte Weisheitserzählung“ zu verstehen. Eben so wenig verwundert es, dass das Esterbuch neben diesem Motiv auch viele andere intertextuelle Bezüge mit der Josephgeschichte aufweist. 36 Sie sind keineswegs unbedeutend, sondern fest in das Muster der Umkehrung integriert, das sie mit der Weisheitsliteratur teilen. Damit finden die weisheitlichen Elemente beider Erzählungen sowie ihre Parallelen eine Erklärung. 33 Am bekanntesten sind Mordechais Worte, dass Hilfe für die Juden von einer anderen Stelle kommen wird, wenn Ester nicht hilft (Est 4,14). Er ist der Überzeugung, dass die Juden grundsätzlich nicht umkommen können. Er droht ihr Vergeltung an. Seine rhetorische Frage, ob Ester nicht gerade „in dieser Zeit“ Königin geworden ist, lässt gleichfalls an das Wirken einer verborgenen Macht denken. Ester, wohl wissend, dass die Juden bereits aus Trauer fasten (Est 4,3.4), gebietet ihnen jetzt, für sie zu fasten (Est 4,16), was gegenüber dem erstgenannten, wo es sich um ein religiöses Fasten handeln muss, auf ein Fasten anderer Art weist. Die Folge unglaublicher „Zufälle“ zeigt in eine entsprechende Richtung. Das richtige Mädchen wird Königin zum richtigen Zeitpunkt; in genau der richtigen Nacht leidet der König unter Schlaflosigkeit; genau die richtigen Chroniken werden in genau dem richtigen Augenblick verlesen; Haman ist dann anwesend, als seine Anwesenheit gefordert wird, und das geschieht zu einem unmöglichen Zeitpunkt; er greift genau die Gedanken auf, die zu seinem Sturz führen. Der reichliche Gebrauch passiver Formen weist gleichfalls auf das Wirken einer verborgenen Macht (z.B. Est 2,8; 9,1.22). Ester wird zuerst von einem Höfling begünstigt und dann vom König - wie Joseph, Daniel und Judit, bei denen Gott für die Gewährung solcher Gunst sorgt. Das jüdische Gesetz und die damit verbundene Absonderung (Est 3,8) kann nur auf ihre religiöse Andersartigkeit zurückgehen. Der leichte Sieg über ihre Feinde, die Enthaltung von der Beute und das Motiv der Ruhe (Est 8-9) erinnern an die alten Kriegstraditionen, in denen Gott den Sieg schenkt und die Machtverhältnisse umkehrt. Schließlich weisen die Genealogien von Mordechai und Haman auf die klassische Polarisierung zwischen den Israeliten und den Amalekitern (1Sam 15), die religiöser Natur ist. Auch dieser intertextuelle Bezug bestätigt Gottes Walten (vgl. 1Sam 15,2-3; Dtn 25,17-19; Ex 17,14). Sogar das religiöse Motiv der Proselytengewinnung findet sich (Est 8,17; 9,27). 34 Vgl. D OMMERSHAUSEN , W., Die Estherrolle, Stil und Ziel einer alttestamentlichen Schrift (SBM 6), Stuttgart 1968, 81-83. 35 T ALMON , S., Wisdom in the Book of Esther, in: VT 13 (1963), 419-455. 36 Vgl. R AD , Josephsgeschichte und ältere Chokma, 120-127. <?page no="117"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 117 Gerade die intertextuellen Bezüge zwischen beiden Erzählungen erfassen ihren eigentlichen Bedeutungskern. In der Josephgeschichte finden wir - wenn auch anders ausgedrückt - dieselben einander ergänzenden Pole wie in der Estererzählung. Das wird in der bekannten Aussage Josefs zusammengefasst, dass sein Verkauf durch seine Brüder tatsächlich Gottes Werk war. Mehr noch, es geschah, „um Leben zu erretten“, um „ein großes Heil zu bewirken“ und „ein großes Volk am Leben zu erhalten“. Das könnte eben so gut von der Estererzählung gesagt worden sein. Es war Joseph in seiner Weisheit, der die Dinge zum guten Ende führte, aber nichtsdestoweniger war es Gott, der die Ereignisse lenkte. Diese beiden Sichtweisen finden sich auch in der Weisheitsliteratur, wenn auch nicht miteinander verbunden (vgl. Spr 21,30-31 einerseits und die zuversichtlichen Lehren der Weisen zur Lebensbewältigung andererseits). Während in der Josephgeschichte beide Sichtweisen auf einer Aussageebene zusammengefasst werden, nehmen sie in der Estererzählung ihre jeweils eigene Ebene ein. 3 Schlussüberlegung In Stanley E. Porters neuem Lexikon zur biblischen Kritik und Interpretation kommt kein Lemma zur Intertextualität vor. Wohl aber ein Artikel zur Intratextualität, 37 in dem das Phänomen nur aus neutestamentlicher Perspektive behandelt wird, und zwar von einer Position aus, die eine einzige Bibel bestehend aus „Altem“ und „Neuem Testament“ voraussetzt. Das ist natürlich von der Vulgata und einem protestantischen Kanon aus durchaus möglich: in einem solchem katholisch oder protestantisch hergestellten Kanon gibt es jeweils ein Netzwerk von intratextuellen Beziehungen. Aber vom so genannten Endtext der hebräischen Bibel her gibt es ebenso intratextuelle Bezüge, deren Wirkungskraft nicht nur von einem Prätext zu einem Posttext fließt, sondern vom einen zum anderen fluktuiert, und zwar so, dass theologisch höchst bedeutsame Konsequenzen daraus hervorgehen. In dieser Hinsicht ist es durchaus möglich, zu behaupten, dass wir „nur“ synchron arbeiten - also die Thronfolgegeschichte, die Josepherzählung, Exodus, Ester und die Weisheitssprüche auf einer Ebene in ihrer gegenseitigen Bezogenheit lesen. Aber in diesem Prozess entkommen wir nicht der Wahrnehmung, dass Prätexte (etwa die Jugendgeschichte Samuels) in der Thronfolgegeschichte liegen und dass der sie umfassende Posttext des sogenannten Deuteronomistischen Geschichtswerks in seinem Grundgerüst vom Prätext-Status der Thronfolgegeschichte bestimmt wird. Die Josephgeschichte erzählt Stammessagen über den Weg der Israeliten nach Ägypten, so dass das Exodusbuch vom Auszug berichten kann, in weisheitlich-theologischer Gestalt erzählt sie aber auch, wie Gott die menschlichen Schicksale - ungeachtet der menschlichen Initiati- 37 W ALL , R.W., Art. Intra-Biblical Interpretation, in: P ORTER , S.E. (ed.), Dictionary of Biblical Criticism and Interpretation, London 2007, 167-169. <?page no="118"?> James Alfred Loader 118 ve - steuert. Durch Partizipation nach unten und nach oben (oder vielleicht besser: nach innen und nach außen) sind also diese Erzählungen geschichtete Texte, die relativ zum jeweiligen Blickwinkel inter- oder intratextuell funktionieren. Dadurch werden auch Texte ins Netz gezogen, die an sich nicht als „geschichtete“ Texte betrachtet werden, wie etwa die Estererzählung. 38 Durch Aufnahme in den dritten Teil des hebräischen Kanons besteht das Buch Ester nicht mehr lediglich als Posttext mit inneren intertextuellen Beziehungen, sondern auch als Prätext mit kultischer Bedeutung für den Posttext der Fünf Megillot. Ob wir die literarischen Beziehungen von geschichteten Texten berücksichtigen oder nur die Zeichen, mit denen sie in unseren vorliegenden Texten niedergeschrieben sind, wir sind immer gezwungen, die Komplementarität der synchronen und diachronen Dimensionen ernst zu nehmen. Es gibt also ebensowenig eine Unabhängigkeit des Endtextes, wie es einen „finalen Text“ gibt. 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Aufsätze zu einem kafkaesken Verhältnis, Würzburg 2002. 38 Trotz der Meinung von Clines, The Esther Scroll, nach dem der Text sehr wohl historisch-kritisch als geschichtet gesehen werden soll. <?page no="119"?> Intertextualität in geschichteten Texten des Alten Testaments 119 R OSENTHAL , L.A., Die Josephsgeschichte mit den Büchern Ester und Daniel verglichen, in: ZAW 15 (1895), 278-284. R OST , L., Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids, Stuttgart 1926. S AUSSURE , F. D e, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Zweite Auflage mit neuem Register und einem Nachwort von P. VON P OLENZ , Berlin 1967. S CHNELLE , U., Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB 1253), Göttingen 2005 6 . S TOCKER , P., Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn 1998. T ALMON , S., Wisdom in the Book of Esther, in: VT 13 (1963), 419-455. V EIJOLA , T., Die ewige Dynastie. 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Augustinus’ ‚De Genesi ad litteram’ und mögliche Folgen 1 Vorüberlegungen „Was haben ein Eisberg und die Papierkörbe in Hamburg gemeinsam? - Beide sind nur zu einem Siebtel zu sehen.“ So steht es in einem Blog vom 12. Mai 2007 im Zusammenhang mit dem in Hamburg laufenden Test mit neuen unterirdischen Papierkörben. 1 Analog könnte man fragen: Was haben die Bibel und Augustinus gemeinsam? Die Antwort könnte lauten: Bei beiden ist die Auslegung (sprich: Exegese) entscheidend, und ihre Rezeption (also das Aufgreifen ihrer Werke durch spätere Autoren 2 ) macht (mindestens) sechs Siebtel ihrer Existenz aus. D.h. beide haben besonders in der abendländischen Tradition einen quasiuniversalen Status erhalten; ihre ubiquitäre Qualität wird gerne, zu Recht oder zu Unrecht, aus verschiedenen Gründen apostrophiert: Die Bibel wird neben der römischen Tradition und den germanischen Wurzeln die dritte Säule Europas genannt, die Theologie des Westens wird manchmal weitgehend als eine Sammlung von Fußnoten zu den Werken des Augustinus bezeichnet. Wenn man sich wie ich intensiv in einem größeren Projekt mit der Augustinus-Rezeption durch die Jahrhunderte beschäftigt 3 und sich dabei besonders auf seine (Bibel-)Hermeneutik (Theorie der Schriftauslegung) und seine 1 http: / / www.alleswasbewegt.de [16.05.2007]: „Die neuen unterirdischen Papierkörbe bestehen aus einem oberirdischen, rot lackierten Einwurfschacht aus Stahl und einer unterirdischen, 400 Liter Müll fassenden Sammelröhre. Der Vorteil dieser ‚unterirdischen Papierkörbe’ ist, dass die Stadtreinigung nur noch einmal in der Woche diese Sammelröhren leeren muss. Der Nachteil ist der Preis, denn die neuen Müllsystem kosten pro Stück und Einbau 6500€ und somit 12mal mehr als die herkömmlichen Papierkörbe. Aber wie in jeder anderen Stadt auch hat man in Hamburg auch das Problem, dass man diese neuen Papierkörbe eben auch benutzen muß.“ 2 Verschiedene Definitionen von Rezeption bei W ISCHMEYER , O., Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen/ Basel 2004, 73-75; H ARDWICK , L., Reception Studies, Oxford 2003, 1-11 sowie M ARTINDALE , C., Introduction: Thinking Through Reception, in: M ARTINDALE , C./ T HOMAS , R.F. (eds), Classics and the Uses of Reception, Oxford 2006, 1-13. 3 Für weitere Information http: / / www.st-and.ac.uk/ classics/ after-augustine [9.07.2008]. <?page no="122"?> Karla Pollmann 122 Bibelexegese (Praxis der Schriftauslegung) konzentriert, dann kommen die beiden zu normativen Ikonen gewordenen Entitäten Bibel und Augustinus zusammen: Die Bibel als Metatext, der alles andere auslegt, allem anderen zugrundeliegt und auf den alles andere hinauslaufen muss, bedarf selber der Auslegung. Hierzu sind oft normative oder als besonders autoritativ empfundene Vorbild-Ausleger vonnöten, um die eigene Interpretationsanstrengung zu unterstützen. Es kommt also zu einer interessanten Vielschichtigkeit oder mehrfachen Brechung von Auslegung: Auslegung der Bibel durch die Auslegung eines anderen Auslegers, der natürlich ebenfalls erst wieder ausgelegt werden muss. Dies mündet dann in einer eigenen ‚synkretistischen’ oder ‚intertextuellen’, in jedem Falle mehrschichtigen Auslegung der Bibel. Auslegung ist ein Phänomen der Rezeption, auch diese ist damit also vielschichtiger Natur, da sich in ihr mehrere Traditionen, Texte und Interessen überlagern, einschließlich der des chronologisch vorläufig ‚letzten’ Rezipienten. 4 Rezeptionsforschung 5 erstrebt keine historische Rekonstruktion des ‚Wie es eigentlich gewesen ist’, 6 sondern betont die Fluidität von Textverständnissen 7 sowie die Kluft zwischen einem jeden Text und seinen Lesern, 8 die dann unter Umständen selber wieder zu Textproduzenten werden - was die Rezeption und die Kluft vervielfacht. Diesem Phänomen wollen wir im Folgenden exemplarisch nachgehen. In seiner hermeneutischen Schrift ‚De doctrina christiana’ (‚Über die christliche Bildung’ 9 ) 2,42,63,151 schreibt Augustinus: 4 G OLDHILL , S., The Touch of Sappho, in: M ARTINDALE , C./ T HOMAS , R.F. (eds), Classics and the Uses of Reception, Oxford 2006, 251 beschreibt dieses Problem deutlich („multiform reception“, „layered receptions“), aber seine spezifischen Ausführungen erhellen das Problem nicht wirklich. 5 B ATSTONE , W.W., Provocation: The Point of Reception Theory, in: M ARTINDALE , C./ T HOMAS , R.F. (eds), Classics and the Uses of Reception, Oxford 2006, 19-20. 6 K ENNEDY , D.F., Afterword: The Uses of „Reception“, in: M ARTINDALE , C./ T HOMAS , R.F. (eds), Classics and the Uses of Reception, Oxford 2006, 291 beschreibt gut den potentiellen Teufelskreis dieses Axioms der Rezeptionstheorie, der genauso unauflöslich in seinem Selbstwiderspruch sein kann wie das entgegengesetzte Axiom des Historismus. Der Herausforderung, dass die epistemologische Sicherheit in Frage gestellt wird, wird mit einem Rezeptionspragmatismus begegnet, der sich auf die Zukunft konzentriert und sich zwischen Antiquarianismus und Präsentismus bewegt. Dabei werden potentiell unendliche Horizonte eröffnet, was auch eine andauernde Aufgabe für die Klassische Philologie bedeutet: Deren häufig als veraltet und nicht relevant kritisierten Texten wird damit ein unendliches Aussagepotential zugestanden, das in der Theorie ebenso relevant ist wie dasjenige jüngerer Texte. 7 M ARTINDALE , Introduction, 2. 8 K ENNEDY , Afterword, 290f. 9 P OLLMANN , K. (Hg.), Augustinus. Die christliche Bildung, Stuttgart 2002; P ERL , C.J., Aurelius Augustinus. Über den Wortlaut der Genesis, 2 Bände, Paderborn 1961/ 1964, XVIII übersetzt „Christliche Wissenschaft“, der aber verfehlt diese Schrift als „Lehrbuch für Prediger“ definiert; vgl. P OLLMANN , K., Doctrina Christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus ‚De Doctrina Christiana’, Fribourg 1996, 69-75. <?page no="123"?> Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben 123 „[Es] wird das gesamte Wissen, welches freilich nutzbringend den Büchern der Heiden entnommen wird, in seiner Bedeutung relativiert, wenn es mit der Kenntnis der Hl. Schrift verglichen wird. Denn was auch immer der Mensch außerhalb der Bibel gelernt hat, wird, wenn es schädlich ist, in der Bibel verurteilt, wenn es aber nützlich ist, in der Bibel gefunden. Und während dort jeder alles findet, was er anderswo nutzbringend gelernt hat, wird er dort um vieles reicher das finden, was überhaupt nirgendwo anders außer in der wunderbaren Tiefe und wunderbaren Niedrigkeit der Hl. Schrift gelernt wird.“ 10 Augustinus teilt hier (wie auch in einigen seiner anderen Schriften) der Bibel zwei Funktionen zu: 1. Sie ist der Metatext, an dem alles weltliche Wissen auf seine Zudienlichkeit für den Menschen gemessen wird. 2. Sie ist der Metatext, der Dinge enthält, die sich in anderen Schriften nicht finden. Die augustinische Metatextualität der Bibel ist also universal, da hier der Text Bibel alle anderen Texte kommentiert, auslegt und sogar fokalisiert, wobei der Textbegriff für jene anderen Texte so weit gefasst ist, dass er strenggenommen alle Erscheinungen in Natur und Kultur enthält, also sowohl das von Gott als auch das vom Menschen Geschaffene. 11 Darüber hinaus spricht Augustinus der Bibel das Vermögen zu, über Dinge Auskunft zu geben, die nirgends anders zu finden sind. Über eine derivativ-instrumentell verstehbare Funktion hinaus hat die Bibel also einen Eigenwert, der dem Leser nicht lediglich Erklärungshilfen für die Welt, wie sie ist, bietet, sondern auch einen davon unabhängigen Welten- und Sinnentwurf bietet. So gesehen, ist die Bibel das Drehbuch der Welt, das den gesamten Lauf der Welt von ihrem Anfang (Genesis) bis zu ihrem Ende (Apokalypse) umfasst. Diese hermeneutischen Grundsätze bilden auch den Rahmen für seine Auslegung des Schöpfungsberichts (Gen 1-3), die er in seinem Leben mindestens fünfmal unternommen hat. Der monumentale „Wörtlicher Kommentar zur Genesis” (‚De Genesi ad Litteram’) 12 stellt wohl das am wenigsten bekannte 10 Übersetzung aus P OLLMANN , Die christliche Bildung, 100f. Diese Aussagen werden weniger differenziert, aber umso emphatischer in ‚De civitate Dei’ 11.1 bekräftigt, wenn der Heiligen Schrift eine größere Autorität zugestanden wird als allen anderen Schriften: „diejenige Schrift ist hierfür Zeugin, die nicht aufgrund zufälliger Bewegungen menschlicher Gemüter, sondern völlig aufgrund der Anordnung der göttlichen Vorsehung über alle Schriften aller Völker hinausragt und sich alle Arten von menschlichen Geisteserfindungen mit göttlicher Autorität unterworfen hat.“ („ea scriptura testis est, quae non fortuitis motibus animorum, sed plane summae dispositione providentiae super omnes omnium gentium litteras omnia sibi genera ingeniorum humanorum divina excellens auctoritate subiecit“); vgl. ‚De civitate Dei’ 11.3. 11 Vgl. die enger textuell gefaßten Definitionen von Metatext/ Metatextualität als einen Text, der andere Texte beschreibt oder erklärt, bei W ISCHMEYER , Hermeneutik, 189; S CHMITZ , T., Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 95 sowie W OLF , W., Art. Metatext/ Metatextualität, in: MLLKT 2 (2001), 435f. 12 C.J. P ERL , Über den Wortlaut, übersetzt „Über den Wortlaut der Genesis“. Seine Feststellung XVIII („Es ist aber sehr bezeichnend, daß hier [sc. in ‚De Doctrina Christiana’] <?page no="124"?> Karla Pollmann 124 unter seinen großen Werken dar, sowohl was die wissenschaftliche Erforschung anbelangt als auch die generelle Wahrnehmung der darin geäußerten Gedanken, besonders, was die implizit und explizit darin vorkommende Hermeneutik anbelangt. Damit steht ‚De Genesi ad Litteram’ im Gegensatz zu ‚De Doctrina Christiana’, einem Werk, das gerade in jüngerer Zeit verstärkt Aufmerksamkeit erregt hat. 13 Zweierlei sei in diesem Zusammenhang noch hervorgehoben bzw. bereits vorweggenommen: Wenngleich Augustinus heute gerne als Autorität proklamiert wird (freundlich oder feindlich), war dies nicht immer so. Er selbst lebte in einer Zeit des Umbruchs mit heftigen theologischen und politischen Kontroversen sowie außenpolitischer Bedrohung des Römischen Reiches und in der Ahnung dramatischer Umbrüche. Er begriff sich immer noch in einer von einem potentiell wieder erstarkenden Heidentum bedrohten Welt, sah in der Verteidigung des Christentums eine wichtige, nicht immer erfolgreiche Aufgabe seiner Arbeit, einen dynamischen Prozess: Man konnte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Neil McLynn betont die relativ geringen politischen Möglichkeiten des Bischofs von Hippo, eine Meinung, der sich Peter Brown in Widerruf seiner früheren Position in der Neuauflage seiner Augustinus-Biographie von 2000 anschließt. 14 1500 Jahre später sehen viele seiner Aussagen ganz anders aus, als sie damals gemeint waren. Ihre unmittelbare Wirkung in ihrem zeitgenössischen Umfeld war oft viel geringer, als es sich im Laufe der Jahrhunderte dann entwickelte. Zweitens war Augustinus in verschiedenen Phasen seiner Rezeption nicht immer die unhinterfragte Autorität. Er wurde generell zwar als herausragend kreativ und produktiv begriffen und sicherlich als eine denkerische Größe akzeptiert, mit der sich eine Auseinandersetzung lohnte, die man vielleicht auch nicht einfach ignorieren konnte oder wollte, oder die man sogar im Idealfall zur Unterstützung und Legitimierung der eigenen Haltung als Bundesgenossin auf seiner Seite haben wollte. Dies musste aber der eigenen Meinung nicht unbedingt Abbruch tun. Er selbst war sich dieser Fluidität von Autorität und Wissenserkenntnis auch in bezug auf seine eigene Meinung sehr wohl bewusst, z.B. schreibt er in ‚De Genesi ad litteram’ 5,5,15 „Dies ist meine Erklärung, es sei denn, jemand anders findet eine klarere Interpretation, die den Text besser erhellt.“ Diese augustinische Selbstdistanz wird in der Rezeption manchmal übersehen, ebenso auch, dass Augustinus sich in einer Methodik das Wort gesprochen wird, die, zumindest scheinbar, dem Konzept unseres Werkes [sc. ‚De Genesi ad Litteram’] entgegen steht.“) verstehe ich nicht. 13 P OLLMANN , Doctrina Christiana, passim sowie D ROBNER , H.R., StudyingAugustine: An Overview of Recent Research, in: D ODARO , R./ L AWLESS , G. (eds), Augustine and His Critics, London/ New York 2000, 25f. 14 M C L YNN , N., Augustine’s Roman Empire, in: V ESSEY , M./ P OLLMANN , K./ F ITZGERALD , A. (eds), History, Apocalypse, and the Secular Imagination. New Essays on Augustine’s City of God, Bowling Green 1999, 29-44; B ROWN , P., Augustine of Hippo. A Biography. New Edition with an Epilogue, London 2000, 469f. über die relative Machtlosigkeit der nordafrikanischen Bischöfe gegenüber der weltlichen Obrigkeit. <?page no="125"?> Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben 125 einem polemischen oder rhetorischen Kontext zur Betonung seiner Autorität als Mittel der Überzeugung gezwungen sehen kann. Vereinfacht ausgedrückt: Augustinus glaubt an Fortschritt in der Exegese, nicht aber in der Dogmatik. 15 2 Augustinus’ hermeneutische Prinzipien beim Lesen des biblischen Schöpfungsberichts (Gen 1-3) Bereits um 400 hatte Augustinus in seinen ‚Bekenntnissen’ (13,24,36) erklärt, dass die Auslegungsmöglichkeiten der Bibel prinzipiell unendlich seien. Er hängt diese Aussage an der Erklärung des Genesisverses 1,28 auf, des göttlichen Paradiesesbefehls „Seid fruchtbar und mehret euch“, den er allegorisch als Aufforderung auffasst, mannigfaltige wahre Bedeutungen oder Sinne aus der Heiligen Schrift zu erschließen. Diesem Prinzip ist Augustinus in der Theorie und in der Praxis sein Leben lang treu geblieben. Tendentiell schien er zuerst eine allegorische Auslegung der Heiligen Schrift überzeugender zu finden, später forderte er, dass grundsätzlich der gesamte Bibeltext (auch) einen Literalsinn haben müsse, der aber manchmal sehr schwierig zu finden sei. Diesem Problem bzw. dieser Herausforderung will er sich aber stellen, besonders in einer konsequent literalen Auslegung des Schöpfungsberichts (Gen 1,1-3,24). Dieser Ehrgeiz ist wohl der entsprechenden Kritik und intellektuellen Herausforderung aus verschiedenen oppositionellen Lagern zu verdanken, insbesondere durch die Neuplatoniker, die Manichäer und die heidnischen Kosmologien. Insbesondere die Manichäer und Porphyrius lehnten eine allegorische Auslegung der Heiligen Schrift als unseriös ab, was sie aber nicht daran hinderte, ihre eigenen Texte (manichäische Mythen bzw. Texte von Plato) entsprechend zu interpretieren und damit zu aktualisieren. Augustinus begegnet besonders in ‚De Genesi ad litteram’ dem Problem des „Wortsinns“ mit einer sehr komplexen Definition dieses hermeneutischen Begriffs: Der Literalsinn eines Textes erklärt zuverlässig, was sich wirklich ereignet hat (Augustinus, De Genesi ad litteram, 1,1,1). Der Literalsinn ist einfach der wahre Sinn der Bibel (Augustinus, De Genesi ad litteram, 4,28,25). Aber dank der spezifischen Qualität der ersten Kapitel von Genesis, die ein Ereignis berichten, das historisch einzigartig ist und sich nicht wiederholen wird, nämlich die Erschaffung der Welt, ist manchmal der beste Literalsinn ein spiritualer (Augustinus, De Genesi ad litteram, 8,1,2). 16 Z.B. ist 15 B URNABY , J., The „Retractationes“ of Saint Augustine: Self-criticism or Apologia? , in: Augustinus Magister. Congrès International Augustinien, Paris 21-24 septembre 1954, Paris 1973, 88-91 zeigt, daß Augustin in seinen ‚Retractationes’ seine dogmatischen Aussagen verteidigt, während er bei exegetischen Aussagen eher bereit ist, etwas zurückzunehmen oder zu korrigieren. 16 Augustinus erlaubt mehrere Literalsinne, vgl. ‚De Genesi ad litteram’ 1,20,40f.; aber trotz dieser Pluralität kann Augustinus nicht als postmodern bezeichnet werden, dazu F UH- <?page no="126"?> Karla Pollmann 126 das Licht, das in Gen 1,3-4 erwähnt wird, weder materielles noch metaphorisches Licht, sondern spirituelles Licht. 17 Daher ist die spirituelle Auffassung dieses Lichts die angemessene „literale“ Auslegung dieser Verse. Ferner hat das in Gen 1,1-3,24 erwähnte Paradies eine literale und eine spirituale Realität (Augustinus, De Genesi ad litteram, 8,1,1). D.h., zum einen existierte es tatsächlich historisch als der Anfang der menschlichen Geschichte. Augustinus kritisiert ausdrücklich diejenigen, die den Beginn der menschlichen Geschichte erst nach der Vertreibung aus dem Paradies ansetzen (Augustinus, De Genesi ad litteram, 8,1,2). 18 Zum anderen hat das Paradies aber auch eine innere, psychologische oder moralische Realität. Die Pluralität der Schriftsinne erlaubt eine Pluralität von Interpretationen. Manchmal setzt Augustinus „Literalsinn“ einfach mit dem ineins, was für jeden dank der sinnlichen Wahrnehmung offensichtlich ist. Dies kann für ihn auch bedeuten, dass bei einem scheinbaren Widerspruch zwischen Bibel und Naturphänomenen die Bibelinterpretation geändert werden muss. 19 Der Literalsinn hat für Augustinus also mit historischer oder sinnlicher Realität zu tun, wobei die transhistorischen und übersinnlichen Aspekte des Bibeltextes zu einem differenzierteren Verständnis von Realität und damit auch Literalsinn zwingen. Gelegentlich wird das augustinische Konzept des Literalsinns deswegen auch als hybrid bezeichnet, da es zwingend allegorische und spirituelle As- RER , T., Augustinus, Darmstadt 2004, 152-154, da er an einen ontologisch übergeordneten, nicht hinterfragbaren Urgrund glaubt. Einen vielfachen Schriftsinn postuliert Augustinus auch in dem etwas früher entstandenen Buch 12 der Confessiones; vgl. H ATTRUP , D., „Die Fülle der sehr wahren Meinungen“ - Zur Hermeneutik von Confessiones 12, in: F ISCHER , N./ H ATTRUP D. (Hgg.), Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus, Confessiones 11-13, Paderborn 2006, 81-105. Zu späteren Beispielen dieses Umgangs mit der Bibel H EFFERMAN , T.J./ B URMAN , T.E. (Hgg.), Scripture and Pluralism. Reading the Bible in the Religiously Plural Worlds of the Middle Ages and the Renaissance, Leiden 2005. 17 ‚De Genesi ad litteram’ 4,28,45; A GAËSSE , P./ S OLIGNAC , A., La Genèse au sens littéral I-VII (Bibliothèque Augustinienne 48), Paris 1972 [ND 2000], 41-43. 18 Augustinus denkt hier insbesondere an Origenes, der die Paradieserzählung rein symbolisch auffassen wollte. Später wird z.B. auch Eriugena (s.u.) dem Paradies eine Realität in der Vergangenheit absprechen; dazu D UCLOW , D.F., Denial or Promise of the Tree of Life? Eriugena, Augustine and Genesis 3,22b, in: R IEL , G. VAN u.a. (Hgg.), Johannes Scottus Eriugena. The Bible and Hermeneutics, Leuven 1996, 221-238, hier: 234. D.F. Duclow irrt sich aber, wenn er ebd. Augustinus unterstellt, in seinem früheren (überwiegend allegorischen) Kommentar zu Genesis gegen die Manichäer (‚De Genesi contra Manichaeos’) ebenfalls die historische Existenz des Paradieses geleugnet zu haben. Es ist wahr, daß Augustinus in einigen wesentlichen Punkten im Laufe seines Lebens seine Meinung radikal geändert hat, nicht jedoch in diesem Punkt: In ‚De Genesi contra Manichaeos’ 2,2,3 betont er, wie später auch, ausdrücklich die historische neben der prophetischen Bedeutung der Genesisgeschichte. 19 Diese Aussage wurde von Galileo Galilei 1615 in einem Brief an die Großherzogin Christine von Lorraine zitiert, vgl. R EEVES , E., Augustine and Galileo on Reading the Heavens, in: Journal of the History of Ideas 52 (1991), 563-579. <?page no="127"?> Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben 127 pekte miteinbezieht. 20 Es ist auffallend, dass diese beiden Prinzipien, nämlich das Bekenntnis zu Pluralität und die komplexe Annäherung an einen Text, worin Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten sind, exakt zwei Anliegen entsprechen, die von der modernen Rezeptionstheorie als fundamental begriffen werden. 21 Insgesamt hebt Augustinus die komplexe Qualität des Bibeltextes hervor, der nicht einfach entweder Mythos oder Geschichtsbericht ist, sondern beides, Historiographie und Prophetie, also Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges verbindet. Die in der Bibel erzählten Fakten haben per definitionem eine fundamentale Relevanz für jeden Leser, sowohl für seine Gegenwart als auch für seine Zukunft. Die Bibel als Text umfasst alle Wirklichkeit von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Die Naturerscheinungen 22 haben allein die Funktion, auf Gottes Heilswirken in der Welt hinzuweisen. Ihre naturwissenschaftlichen Eigenschaften sind in diesem Zusammenhang nicht von Belang, und einzig und allein um diesen Heilszusammenhang geht es in der Bibel, die kein naturwissenschaftliches Handbuch darstellt. Daher gebraucht Augustinus, im Gegensatz zu Basilius und Ambrosius, auch sehr selten Naturphänomene (oder historische Exempla 23 ) zur moralischen Erbauung (wie z.B. der Fleiß der Ameise oder die Tapferkeit des Löwen). Bemerkenswerterweise betont er deshalb, dass Dornen und andere für den Menschen unerfreuliche oder sogar gefährliche Naturphänomene nicht erst nach dem Fall entstanden, 24 sondern dass sie so wie alles andere im Sechstagewerk geschaffen und für den Menschen erst nach dessen Fall gefährlich wurden. 25 Augustinus geht, im Gegensatz zu Philo, Basilius, Ambrosius und anderen, nicht von einem literalen Sechstagewerk aus (was man ja angesichts seiner literalen Auslegung leicht erwarten könnte), sondern von einer Simultanschöpfung: Die Zahl Sechs sei symbolisch als Zeichen der Vollkommenheit zu verstehen. 26 Schließlich vollbringt er die besondere Meisterleistung zu erklären, wie es zu vereinbaren sei, dass alles am Anfang geschaffen worden sei, es aber doch täglich in der Natur beobachtbare Veränderungen gebe. Er gebraucht, um diese Entwicklungen mit Gottes Allmacht 20 S UNGENIS , R., St Augustine’s „Rationes Seminales“ („Seminal Principles“): Does It Offer Catholics a Precedent for Theistic Evolution, 2. Der Artikel ist verfügbar unter http: / / www.catholicintl.com/ scienceissues/ rationis-seminalis-print.htm [18.11.2006]. 21 M ARTINDALE , Introduction, 11f. 22 Ebenso wie alle historischen Ereignisse, was Augustinus in ‚De civitate Dei’ ausführt und demonstriert. 23 Was natürlich in der paganen Geschichtsschreibung sehr beliebt war. 24 So Basilius, Hexameron 5,6 und Ambrosius, Hexameron 3,11,4; analoge Vorstellungen existierten bereits in der paganen Tradition. 25 Augustinus, De Genesi ad litteram, 3,18,27f. und P OLLMANN , K., Augustine, Genesis and Controversy, in: Augustinian Studies 38 (2007), 210. 26 Hier folgt Augustinus wohl neuplatonischem Gedankengut, vgl. W YTZES , J., Bemerkungen zu dem neuplatonischen Einfluß in Augustins „De Genesi ad Litteram“, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 13 (1940), 146. <?page no="128"?> Karla Pollmann 128 und Vorsehung zu vereinbaren, die stoisch-neuplatonische Theorie der rationes seminales oder der primordiales causae, der ersten Keimgründe oder Keimkräfte. Diese sind ewig, aber geschaffen, und bringen geschaffene Dinge zu einer späteren Vollendung, z.B. das Wachsen von Gras, die Veränderung der Farbe bei Pflanzen und Tieren, etc. Generell kann man Augustinus als inklusiven Exegeten (in der Theorie wie in der Praxis) bezeichnen, der alle Methoden, die bereits in der heidnischen Antike und dann auch von den Christen für die Textauslegung verwendet wurden, für legitim hielt, solange das Auslegungsergebnis nicht zu anstößigen oder dogmatisch fragwürdigen Aussagen führte; d.h. diese Aussagen dürfen nicht in Widerspruch zu eindeutigen Passagen der Heiligen Schrift stehen, wie z.B. dem doppelten Liebesgebot von Mt 22,37-40. Er will in seinem Wörtlichen Genesiskommentar gegen eine fundamentalistische Auslegung der Bibel argumentieren, welche Horizonte verstellt oder verschließt anstatt sie zu öffnen. Er ist sich dieser offenen Qualität seines eigenen Kommentars sehr wohl bewusst, was er in ‚Retractationes’ 2,24 explizit formuliert: 27 „In diesem Werk (sc. ‚De Genesi ad litteram’) findet man mehr Fragen als Antworten und unter den Antworten nur wenige, die bewiesen sind. Und auch die anderen Antworten sind so vorgetragen, dass sie von sich aus nach Überprüfung verlangen.” Gleichzeitig hat er aber auch den Ehrgeiz, eine geschlossene, systematische Exegese des Schöpfungsberichts vorzuführen, welche Widersprüche rational klären, schwierige Stellen überzeugend auslegen und scheinbare Konflikte mit etabliertem paganen Wissen, wie z.B. Kosmologien, oder mit evidenten Naturphänomenen auflösen soll. 3 Spätere Rezeption und mögliche Konsequenzen für die gegenwärtige Diskussion Angesichts des gewaltigen und überwiegend erhaltenen œuvre des Augustinus und angesichts der Tatsache, dass er im Laufe seiner vierundvierzigjährigen Aktivität als christlicher Autor manchmal seine Meinung änderte bzw. stark kontextabhängig oder situationsbezogen argumentierte, ist es leicht verständlich, dass er als Beleg oder Autorität für gegensätzliche Positionen verwendet werden konnte. Je nach Mentalität des Rezipienten konnte mit dieser Tatsache verschieden umgegangen werden. Zwei kurze Beispiele seien im Folgenden zur Illustration vorgeführt. Beda Venerabilis (672/ 3-735) ist sich in seinem Kommentar zur Genesis (‚Libri Quattuor in Principium Genesis’ 28 ) der gewaltigen Fülle von bereits vor ihm verfassten gewichtigen und wortreichen Genesiskommentaren bewusst. Daher fühlt er sich im Prolog zu diesem Kommentar 29 verpflichtet, für seine 27 Übersetzung zitiert nach P ERL , Über den Wortlaut, XXIII. 28 CCL 118A. 29 Beda Venerabilis, Libri quatuor in principium Genesis 1,1. <?page no="129"?> Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben 129 intendierten Leser von diesen Schätzen zu pflücken (decerpere) und aus ihnen zu sammeln (colligere), als Hilfe für den Anfänger (rudis lector), damit er dadurch unterwiesen zu einer fortgeschrittenen Lektüre der Heiligen Schrift emporschreiten (ascendere) kann. Beda sagt, dass er im folgenden z.T. in den Worten der anderen Quellen, z.T. in seinen eigenen, z.T. unter Angabe der Quelle, z.T. nicht, die Genesisverse erklären wird. Auffallend ist hier das fragmentierte Verständnis von Tradition, wobei die pädagogische Zielsetzung eine Mischung von allem inklusive eigenem erlaubt und es auf eine saubere Trennung der Quellen nicht ankommt. Dieser pick-and-choose-Ansatz 30 macht es natürlich leicht, einen Autor sozusagen auch gegen seine Intention zu gebrauchen. Z.B. vertritt Augustinus in ‚De Genesi ad litteram’ wie bereits erwähnt, die These von der Simultanschöpfung; dieser stimmt Beda nicht zu, der auf einem tatsächlichen Ablauf der sechs Tage insistiert. Dies hindert ihn aber nicht daran, Augustinus sehr häufig zu zitieren, am häufigsten ‚De Genesi ad litteram’. Dabei akzeptiert Beda das Anliegen von Augustinus’ ‚De Genesi ad litteram’, dass die Bibel historische Bedeutung hat, aber er ist mehr noch an Allegorie interessiert, dabei Stellen bei Augustinus ausnutzend, wo dieser ebenfalls allegorisiert. Obgleich Beda Augustinus’ Autorität anerkennt, fühlt er sich nicht verpflichtet, ihm in allem zu folgen, schon gar nicht in zentralen Theorien wie der Simultanschöpfung. Ähnlich verhält es sich mit Eriugena (810-877), dem großen karolingischen Denker, in seinem Meisterwerk ‚Periphyseon’. Jedoch ist er methodisch wesentlich strigenter als Beda und um eine Auseinandersetzung mit fundamentalen theologischen Anliegen seiner Vorgänger bemüht. So übernimmt er die Theorie von der Simultanschöpfung und auch die primordiales causae („Keimkräfte“ oder „Entstehungsgründe”) von Augustinus. Augustinus hatte die stoisch-neuplatonische Theorie der primordiales causae dazu gebraucht, um zu erklären, warum sich die gesamte Schöpfung simultan ereignen konnte und sich doch erst im Laufe der Zeit entfaltet und offenbart, z.B. ‚De Genesi ad litteram’ 6,10,17. Dort gebraucht er auch den ebenfalls bei Eriugena verwendeten Terminus primordiales causae, 31 während er an anderen Stellen andere Ausdrücke verwendet. Augustinus’ Überlegungen zu diesem Konzept sind systematisch nicht ganz in sich geschlossen; z.B. sind die primordiales causae nicht geschaffen, sondern ewig, existieren aber dennoch in der geschaffenen Materie. Eriugena geht über Augustinus hinaus, und es gelingt ihm unter Zuhilfenahme der griechischen philosophischen Tradition, das erste Mal ausdrücklich eine systematisch geschlossene Erklärung, wie die Entstehungsgründe zu ihren Wirkungen fortschreiten, zu entfalten: Die pri- 30 Vgl. auch Bedas Katenen ‚De sex dierum creatione liber sententiarum ex patribus collectarum’ (PL 93,207-222) und ‚Quaestiones in Genesim’ (PL 93,233-363). 31 Dies ist S CHRIMPF , G., Das Werk des Johannes Scottus Eriugena im Rahmen des Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit. Eine Hinführung zu Periphyseon, Münster 1982, 260ff. entgangen, wodurch manche seiner folgenden Überlegungen obsolet werden. <?page no="130"?> Karla Pollmann 130 mordiales causae sind sowohl ewig als auch geschaffen, sie sind göttliche Ideen als Prinzipien der Schöpfung und zugleich deren Manifestationen. 32 Im Gegensatz zu Augustinus ist Eriugena die historische Auffassung des Paradieses aber ein Greul. Er fasst das Paradies ganz intellektualistisch auf; hierfür nutzt er unterschiedliche Aussagen in verschiedenen Werken des Augustinus aus, um damit Augustinus sozusagen gegen sich selbst auszuspielen und in sein eigenes (Eriugenas) intellektualistisch-immaterialistisches Weltbild einfügen zu können. 33 Augustinus folgend und noch weiter ausdifferenzierend besteht Eriugena auf einer strengen Scheidung von sapientia und scientia als verschiedenen Wegen zur Wahrheit. Generell setzt sich Eriugena methodisch systematischer und organischer als Beda mit Augustinus Werk auseinander. Aber im Resultat, d.h. der Anverwandlung Augustinus für seine Zwecke, ist er nicht so weit von Beda entfernt. 4 Schlussfolgerungen Für die eingangs erwähnte Mehrschichtigkeit von Exgese und Rezeption ergibt sich damit, dass zumindest bei intelligenten Rezipienten der eigene Zusammenhang und die eigene Intention immer im Vordergrund steht. Diese leiten das Rezeptionsverhalten, wenngleich hier verschiedene Varianten erkennbar sind. Das Resultat ist immer eine Aussage für die Gegenwart, der sowohl der normative Text Bibel als auch andere rezipierte Exegesestützen unterworfen werden. Durch die Brechung wird eine größere Ausdifferenziertheit der Aussagen, eine größere Autorität bzw. Glaubwürdigkeit und eine verbesserte Kommunikation erreicht. Schließlich können rezipierte Texte als Sprungbrett für eigene Gedanken oder die Fortentwicklung der bestehenden verwendet werden: Brechung kann potentiell als propädeutische Voraussetzung zur Innovation führen. Bezüglich der Grenzen der Rezeptionsforschung ist eher der historisch nachweisbare Zusammenhang zwischen Rezipienten und rezipierten Texten wichtig, d.h. ob plausibel gezeigt werden kann, dass ein Rezipient den Text oder die Texte auch wirklich kannte, oder ob ähnliche Aussagen einfach auf der Teilhabe an derselben Kultur beruhen oder unabhängig voneinander entstanden sind. Augustinus’ strenge Scheidung der Funktion der Bibel von derjenigen der Naturwissenschaften zur Lösung des Konflikts zwischen Bibel und Natur- 32 S CHRIMPF , Das Werk des Johannes Scottus Eriugena, 263.268; M ORGAN , D., The Philosophy of J.S. Eriugena, Cambridge 1989, 262-268; C ROUSE , R.D., Primordiales Causae in Eriugena’s Interpretation of Genesis: Sources and Significance, in: R IEL , Johannes Scottus Eriugena, 209-220, hier: 214-216, der aber etwas zu wenig auf die Unterschiede eingeht. 33 M ORGAN , The Philosophy of J.S. Eriugena, 115. Eriugena hat auch das Anliegen, Augustinus und griechische Denker zu harmonisieren; dazu S TOCK , B., Observations on the Use of Augustine by J.S. Eriugena, in: The Harvard Theological Review 60 (1967), 219. <?page no="131"?> Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben 131 wissenschaften (die übrigens im Wesentlichen vom gegenwärtigen Papst Benedikt XVI übernommen wird 34 ), wird gerne als principle of limitation bezeichnet. Dies ist insofern irreführend, als es suggeriert, dass die Bibel irgendwie nicht zulänglich sei. Dies ist aber gerade nicht, was Augustinus intendiert. Im Gegenteil, die Bibel ist wichtiger oder höherwertiger, auch wenn man nicht alles in ihr finden kann (was Augustinus selber z.B. bezüglich der Frage von der Natur der Seele zugibt). Dennoch muss alles, was sonst irgendwie oder irgendwo gedacht wird, sich am Referenzrahmen der biblischen Heilsbotschaft messen lassen. Wenn es dazu nicht passt oder nichts beiträgt, ist es nicht wirklich wichtig. Diese Haltung findet sich ganz ähnlich und sehr eloquent ausgedrückt bei einer Person, die wohl keine direkte Kenntnis von Augustinus’ Werk hatte, nämlich Winston Churchill. Hier kommt die strenge Rezeptionsforschung an ihre Grenzen: Es geht dann um die Erforschung der Entwicklung und des Wiederauftauchens verwandter Ideen im Verlauf der Geschichte überhaupt, ohne dass eine eindeutige historische Verbindung nachweisbar ist. Dies ist eine Perspektive, die mein eigenes Großprojekt 35 weder weiterverfolgen kann noch will. Dennoch sei zitiert, was W. Churchill in ‚My Early Life: 1874-1904’ (rückblickend verfasst 1930) schreibt: 36 „Ich habe mich immer darüber gewundert, daß manche unserer Bischöfe und ein Teil des Klerus sich über die Frage erregen, wie der Inhalt der Bibel mit den zeitgenössischen Ergebnissen der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung vereinbart werden können. Denn warum müssen diese beiden überhaupt übereinstimmen? Als Empfänger einer Botschaft, die das Herz erfreut und die Seele stärkt […], braucht man sich doch kaum Gedanken darüber zu machen, welche Form und welche Farbe der Umschlag dieses uns endlich erreichenden Briefes trägt, oder ob die Frankierung und das Datum auf dem Poststempel richtig oder falsch sind. Von Bedeutung ist doch wohl allein die Botschaft und ihr positiver Inhalt. Sorgfältige Überlegungen mögen einen zu der eindeutigen Schlußfolgerung führen, daß Wunder unmöglich seien und daß man sehr viel eher mit fehlerhafter menschlicher Beobachtung als mit einer Durchbrechung der Naturgesetze rechnen müsse. Doch gleichzeitig kann man mit Freude vernehmen, wie Christus Wasser in Wein verwandeln, über Wellen zu schreiten oder von den Toten aufzuerstehen fähig war. Der menschliche Verstand ist nicht imstande, den Begriff der Unendlichkeit wirklich zu erfassen, und doch ist er mit Hilfe der Mathematik in der Lage, sich mühelos seiner zu bedienen. Die Behauptung, es sei nur das wahr, was wir verstehen können, erscheint mir unsinnig, und noch unsinniger kommt es mir vor, daß zwei Gedanken sich automatisch wechselseitig aufheben müssen, nur weil unser Verstand sie nicht miteinander vereinbaren kann […]. Ich habe mir daher schon sehr früh in meinem Leben ein System zurechtgelegt, nach dem ich alles glaube, woran zu glauben mir etwas bedeutet, während ich andrerseits dem Verstand die Freiheit gebe, alle ihm zugänglichen Wege zu beschreiten.“ 34 R ATZINGER , J., „In the Beginning …“. A Catholic Understanding of the Story of Creation and the Fall, Edinburgh 1990 [deutsches Original 1986]. 35 Vgl. Anm. 3. 36 Übersetzung zitiert nach P ERL , Über den Wortlaut, XXIVf. <?page no="132"?> Karla Pollmann 132 Eingangs haben wir die Gemeinsamkeiten zwischen der Bibel und Augustinus angedeutet, was beider Rezeption angeht. Nun kann man natürlich auch nach Unterschieden fragen. Die Bibel ist entstehungsgeschichtlich ein wesentlich komplexerer Text als das œuvre des Augustinus, da sie von rund vierzig Autoren über mehrere Jahrhunderte hinweg verfasst, redigiert und zusammengestellt wurde, in einem komplexen Prozess der Kanonbildung. Dagegen ist sie mit einem insgesamten Wortumfang von etwa 700.000 Wörtern wesentlich kürzer als das erhaltene Werk des Augustinus, das etwa fünf Millionen Wörter umfasst. 37 Die Bibel enthält z.T. andere literarische Gattungen als Augustinus’ Werk und beschäftigt sich mit noch disparateren Themen. Strenggenommen bedeutet die Bibel für den gläubigen Leser ein Buch mit einem besonderen Autoritäts- und Bedeutungsanspruch, wenngleich dies immer wieder neu verhandelt und neu entdeckt werden muss: Der biblische Text als ein Zeuge der christlichen Botschaft hat sich im Prozess seiner Kanonisierung zum Text als die Botschaft entwickelt. Augustinus ist in diesem Zusammenhang eher derivativ als ein solcher Entdecker, Erklärer oder Ausschreiber der Bibel bzw. der biblischen Botschaft zu verstehen. In der Praxis kann dies aber sowohl bedeuten, dass Augustinus selbst eigenständige, originelle und einflussreiche Gedanken entwickelt hat, als auch, dass manche seiner Leser seinem Werk eine Autorität zuschreiben, die derjenigen der Bibel verwandt ist. 38 Ferner kann man sich fragen, was der Unterschied zwischen der Rezeption von Augustinus und etwa derjenigen von Sokrates oder Dschingis Khan ist. Sowohl Sokrates als auch Dschingis Khan habe keine selbst verfassten Schriften hinterlassen. Im Falle von Sokrates ist Platon der Hauptvermittler und Hauptgestalter der Person des Sokrates sowie des sokratischen Erbes, das durch einige andere antike Zeugnisse ergänzt werden kann. Abgesehen von der zusätzlich entstandenen Legendenbildung um die Gestalt des Sokrates ist hier präziser von einer Rezeption zu sprechen, in der Platon und seine Philosophie die zentrale Rolle spielt, die er mit der Gestalt und dem Wirken des Sokrates verbindet. 39 Dschingis Khan, wenngleich selbst nicht des Schreibens mächtig, erkannte rasch die Wichtigkeit von schriftlicher Fixierung. Um sein Reich zu verwalten, ließ er eine eigene Schrift entwickeln und etablierte schriftliche und für alle verbindliche Gesetze. Auch hier ist die Legendenbildung um seine Person immens, z.T. sicher gefördert durch die von einem seiner nahen Verwandten verfassten „Geheimen Geschichte der Mongolen”, 37 Vgl. die vom Schwabe-Verlag Basel herausgegebene CD ‚Corpus Augustinum Gissense’ (CAG), welche alle Werke des Augustinus in den besten momentan erhältlichen Textausgaben elektronisch verfügbar und durchsuchbar macht, in der zweiten verbesserten Ausgabe 2005 als CAG 2 sowohl in der Einplatzals auch Mehrplatzversion erhältlich. 38 So bereits er selbst in einem Brief von 412 an Marcellinus (‚Epistulae’ 143,2). 39 F IGAL , G., Sokrates, München 2006. <?page no="133"?> Der Metatext Bibel zwischen Wissenschaft und Glauben 133 die ebenfalls wiederum durch weitere historische und auch archäologische Zeugnisse ergänzt werden kann. 40 In allen zuvor angesprochenen Fällen ist letztlich aber immer die Person des Rezipienten oder die eine bestimmte Rezeption fördernde Institution ausschlaggebend für Bewertung und Status vergangener Gestalten und Texte, auch bezüglich der Frage von Wissenschaft und Glauben im Verhältnis zur Bibel. 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Jahrhunderts zu einem Formmuster religiöser oder auch nicht-religiöser Dichtung geworden sind, ist hinlänglich bekannt. 1 Bedeutende Lyriker zwischen dem Expressionismus und der Gegenwartsliteratur haben aus sehr unterschiedlichen Voraussetzungen sich des biblischen Vorbildes bedient. Eine Rezeptionsgeschichte des Psalms muss daher kaum noch einmal versucht werden. Was dagegen zu verhandeln wäre ist eher die Frage nach der möglichen Denkfigur des Psalms, nach der dieser Tradition inhärenten Potenz, die sie gerade unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts als brennend aktuell erscheinen lässt. Vielleicht ist es dabei möglich, über die Relektüren einer alttestamentarischen Form in den Gedichten des 20. Jahrhunderts einen Zusammenhang zu benennen, der auf eine Substanz deutet, die die alten Psalmen in ein anderes Licht stellt. Es sind somit im Grunde drei Aspekte, die im Folgenden angedeutet werden sollen: 1. Die Frage nach der Funktion des Psalms zwischen religiöser und literarischer Sprache, wobei die hermeneutische Orientierung des Sprechens im Mittelpunkt steht. Verbunden ist damit die Frage nach der widersprüchlichen Sub- 1 B ACH , I./ G ALLE , H., Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung, Berlin/ New York 1989; B RAUN- GART , W. (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Band 2: Um 1900, Paderborn 1998; ders., Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Band 3: Um 2000, Paderborn 2000; F ISCHER , M./ M ICHAEL -R OTHAUG , D. (Hgg.), Das Motiv des guten Hirten in Theologie, Literatur und Musik, Tübingen 2002; G OEDEGEBUURE , J., Das Modell der Psalmen. Moderne Poesie in biblischer Perspektive, in: Interpretationen 2000. Hg. von H. DE B ERG und M. P RANGEL , Heidelberg 1999, 265- 278; H ELL , C./ W IESMÜLLER , W. (Hgg.), Die Psalmen - Rezeption biblischer Lyrik in Gedichten, in: Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Band 1: Formen und Motive, hg. von H. S CHMIDINGER in Verbindung mit G. B ACHL u.a., Mainz 1999, 158-204; H OFFMANN , D., Die Wiederkunft des Heiligen. Literatur und Religion zwischen den Weltkriegen, Paderborn 1998; J ENS , W./ K ÜNG , H., Dichtung und Religion, München 1985; J ENS , W./ K ÜNG , H./ K USCHEL , H.J., Theologie und Literaturwissenschaft. Zum Stand des Dialogs, München 1986; J EREMIAS , C., Psalmen in der geistlichen Dichtung. Auslegung und Verständnis von Psalm 128 und 47 in Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 38 (1999), 40-64; K URZ- KE , H., Säkularisation oder Realisation? Zur Wirkungsgeschichte von Psalm 130 (De profundis) in der deutschen Literatur von Luther bis zur Gegenwart, in: B ECKER , H./ K RACZYNSKI , R. (Hgg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, St. Ottilien 1983, 67-89. <?page no="136"?> Mathias Mayer 136 stanz des Psalms, die seiner quasi-dialektischen Ambivalenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit Gottes Rechnung trägt. 2. Die Erprobung des Psalms als Text einer hermeneutischen Ambivalenz, die besonders in existentiellen Sinnkrisen von Bedeutung ist. 3. Die Frage nach der modernen Variante des Psalms, die ihn als in sich paradoxe Form von Sinnsuche und Sinnverwerfung begreift. 1 Die Psalmen als Entwürfe zwischen Gebet und Lied, Antwort und Frage Die Psalmen werden als Texte rezipiert, die von vornherein nicht eindimensional gelesen werden können, sondern an denen neben dem sicherlich dominierenden Gebetscharakter auch die Sinnschichten des Gedichtes sowie des Liedes Anteil haben. 2 Sie gelten dabei als Ausdruck nicht einer individuellen, sondern einer kollektiven Befindlichkeit, d.h. ihr kultischer Ursprung wird - so wenig im Einzelnen genau datierbar - aus dem so genannten „Sitz im Leben“ 3 erläutert. Daraus ergeben sich die etablierten unterschiedlichen Funktionen, vom Hymnus als Preislied Gottes, in der dritten Person gehalten, über das als Du-Anrede strukturierte Danklied des Einzelnen (z.B. Ps 30) bis zum Klagelied des Einzelnen (z.B. Ps 13), in dem die Themen wie Feindschaft, Krankheit oder Asyl Gott vorgetragen werden. Selbst wenn man sich auf diese wenigen Hauptgliederungspunkte beschränkt und von weiteren Differenzierungen (wie dem Dank- oder Klagelied des Volkes, dem Vertrauenslied oder den Weisheitspsalmen) absieht, zeichnet sich als Spektrum der Psalmen die weit gespannte Amplitude ab, die von der Gewissheit einer Anwesenheit und Hilfestellung Gottes bis hin zur bangen Frage, zur Klage und flehentlichen Bitte reicht, dass Gott den Betenden nur ja nicht alleine lassen möge, sondern seine Macht und Hilfe deutlich werden lasse. Dabei kann dieses Spektrum - in unterschiedlichen Intensitätsgraden - auch in den jeweiligen Psalmenformen gefunden werden, sicher am spannungsreichsten im so genannten Klagelied, das eben in einer Situation der Verlassenheit doch durch die Hinwendung zu Gott und seine Anrufung davon Zeugnis ablegt, dass es gehört zu werden glaubt. Hier, beispielhaft im Psalm 13, wendet sich der Sprecher in einer Geste der Selbstüberredung zu jener Instanz, deren Verborgenheit er mehrfach beklagt hat: „Blicke doch her, erhöre mich, Herr, du mein Gott! Erhelle meine Augen, damit ich nicht zum Tode entschlafe! “ (Ps 13,4). Der hier nicht ganz ausgeschlossene, aber doch schließlich vertrauensvoll für unmöglich erklärte Tod des Sprechers mag dabei lebensweltlich als Niederlage gegenüber seinen Feinden oder auch theologisch als sein Abfall vom Gottvertrauen gelesen werden. 2 B ACH / G ALLE , Deutsche Psalmendichtung, 19. 3 G UNKEL , H., Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von J. B EGRICH , Göttingen 1985 4 . <?page no="137"?> Das Verstehen des Unverständlichen 137 Während aber die freudige, siegreiche Bestätigung oder Preisung der Stärke Gottes - bis hin zum 150. Psalm - für den Charakter des Psalters entscheidend ist, führt die Gegenstimme, der Zweifel an der Anwesenheit Gottes, so sehr er immer schon durch den Gebrauch und den Anrufungscharakter des Psalms unterlaufen und somit „aufgehoben“ ist, doch eine ebenfalls ernstzunehmende Rolle in diesen Gebeten. Dabei ist es - zumindest für die Wahrnehmung der Psalmen als paradoxaler Texte - von ganz entscheidendem Gewicht, dass der Zweifel an Gott, so sehr der Klagepsalm ihm das Wort zu reden scheint, letztlich als Angelegenheit der Torheit oder des Unverstandes ausgelegt wird: „Wie groß sind doch deine Werke, Herr! Gar tief sind deine Gedanken“, heißt es im 92. Psalm, der dann fortfährt: „Ein unvernünftiger Mensch sieht das nicht ein, ein Tor versteht es nicht“. Vor den Anfechtungen zumindest zeitweiliger Torheit ist dann auch der Psalmsprecher nicht gefeit, wenngleich natürlich eine dauerhafte Bestreitung der Existenz des ja angerufenen Gottes schon strukturell gar nicht möglich ist. Diese Spannung wird beispielhaft ausgefochten in den textnahen Psalmen 14 und 53, in denen Gott als Sieger über die Verworfenen angerufen wird: „Der Tor denkt in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott. Sie sind verkommen, treiben Verruchtes, keiner ist der Gutes tut. Der Herr blickt vom Himmel herab auf die Menschen, zu sehen, ob es einen Verständigen gibt, der nach Gott fragt“ (Ps 14,1, und 2). Was aber hier als letztlich immer aufgehobene Spannung zwischen Glaube und Verzweiflung, Anwesenheit und Ferne Gottes aufgefangen ist, gewinnt an prominentester Stelle erhöhte dramatische Relevanz: „[…] damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten“, heißt es im Matthäus- Evangelium: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und über mein Gewand das Los geworfen“ (Mt 27,35). In diesem Zitat aus dem so genannten Leidenspsalm 22 (Ps 22,19), das auch bei Lukas (Lk 23,34) und Johannes (Joh 19,24) begegnet, greift Jesus am Kreuz auf die Formel äußerster Verlassenheit zurück, auf jenen Vers aus Ps 22,2: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, der innerhalb dieses Psalms seine letztlich heilsgewisse Entgegnung findet - „Du aber, Herr, bleibe mir nicht fern“ (Ps 22,20) -, der indessen als Jesu Wort am Kreuz eine nicht nur heilsgeschichtliche Folge gezeitigt hat. Man könnte es als die Konstellation bezeichnen, die den Psalm als Karfreitagstext mit dem Tod Gottes am Kreuz verknüpft, die entscheidend für das Fortleben der Psalmen geblieben sein mag - dass es sich hier um Texte solch extremer Spannung handelt, die bis in die letzte Bewährungsprobe des Glaubens hinein bedeutend und authentisch bleiben. Insofern mag es akzeptabel scheinen, die Psalmen als Krisentexte zu beschreiben, als kritische, auf eine Entscheidung zugespitzte Herausforderungen, in denen es letztlich um nicht weniger als um Anwesenheit oder Verlust Gottes geht. Als solche Krisentexte sollen im Folgenden die Psalmen ein Stück weit verfolgt werden, - noch nicht in der Gestalt moderner Psalmendichtung, sondern als Zeichen existentieller Sinnkrisen, in denen es darum geht, wieweit sich das auf die <?page no="138"?> Mathias Mayer 138 Transzendenz hin orientierende Subjekt als verständig oder als Tor erweist im Sinn von Psalm 14 bzw. 53. Die Psalmen also, als Texte der Grenzziehung, der Sinnkrise, werden zu prominenten Vorlagen einer Lebensentscheidung, in der es darum geht, sich zu einem Verstehen dessen vorzuarbeiten, was zunächst fremd und unbegreiflich, kaum zu verstehen ist. Nur das Unverständliche kann den Prozess des Verstehens - als Dialog mit dem anderen - in Gang bringen. Friedrich Schlegel erklärt es geradezu zur Bedingung der Möglichkeit unsrer Existenz: „Ja, das köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwie zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muss, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.“ 4 2 Psalmen als existentiell bedeutsame Krisentexte Dazu eignet sich wie kaum ein anderes Werk die Autobiographie des Augustinus, seine ‚Confessiones’, die er kurz vor 400 n. Chr., also rund ein Jahrzehnt nach dem Bekehrungserlebnis im Mailänder Garten, niedergeschrieben hat. Augustinus hat mit diesem Werk ja wohl das Gründungsdokument der modernen Autobiographie vorgelegt, einer der prominentesten Formen der Selbst- und Sinnsuche, die sich in höchst unterschiedlichen Variationen bis auf den heutigen Tag als lebendig erweist. 5 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Anlage dieser ‚Confessiones’ auf einen Selbstwiderspruch hinausläuft, der schließlich auch für die Funktion der Psalmen in diesem Buch nicht unerheblich ist. Denn die Autobiographie des Kirchenvaters fällt deutlich in zwei Teile auseinander, einmal den Bericht seiner Lebensgeschichte von den Anfängen bis zur Bekehrung und dem Tod der Mutter, Buch 1 bis 9, sodann in die philosophischen und theologischen Erörterungen der Zeit, des Gedächtnisses und der Genesis in Buch 10 bis 13. Diese immer wieder gedeutete Aufteilung enthält u.a. die Botschaft, dass als quasi-lebensgeschichtliche Beichte ohnehin nur das letztlich sündige Leben vor der Erweckung erzählt werden kann, dass aber mit dem Durchbruch, mit der Geburt des wahren, inneren Menschen der Bericht solcher Äußerlichkeiten aufhören muss und die eigentliche, wesenhafte Betrachtung einsetzen kann. Mithin vollzieht sich in dieser Autobiographie so etwas wie die Selbstaufhebung derselben, indem sie sich begründet, um sich gleichzeitig wiederum auszulöschen, eine Paradoxie der Gattung, von deren später Resonanz noch die ‚Auslöschung’ von 4 S CHLEGEL , F., Über die Unverständlichkeit, in: ders., Kritische Schriften. Hg. von W. R ASCH , München 1970, 530-542, hier: 539. 5 N EUMANN , B., Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt am Main 1970; N IGGL , G. (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989; L EJEUNE , P., Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994; W AGNER -E GELHAAF , M., Autobiographie, Stuttgart/ Weimar 2000. <?page no="139"?> Das Verstehen des Unverständlichen 139 Thomas Bernhard Zeugnis ablegt. Zu allem Weltlichen und Sinnlichen, das in den ‚Confessiones’ schließlich als Teil des äußerlichen, uneigentlichen Lebens desavouiert wird, gehört - zusammen mit den philosophischen oder auch sexuellen Abschweifungen des jungen Mannes - der Bereich der Literatur, etwa des Theaters. Denn die einem nur gespielten Leid gewidmeten Tränen gelten als unecht und verschwendet: „Da wird der Zuschauer nicht zum Helfen aufgerufen, nur zum Schmerzempfinden eingeladen“. 6 Zeichen der in und mit diesem Lebensbuch bewältigten Sinnkrise ist aber nicht nur die Relativierung und Aufhebung des Literarischen - die ‚Confessiones’ wollen ja Beichte, nicht Roman sein - sondern der Rückzug hinter den permanent geführten Dialog mit Gott, der hier in Gestalt zahlreicher Bibel- und Psalmenzitate durchgeführt wird. Schon der Beginn ist eine Kompilation von Passagen aus Psalm 144 und Psalm 146: „‚Groß bist du, Herr, und hoch zu preisen’, ‚und groß ist Deine Macht und Deine Weisheit unermeßlich’“. 7 Also nicht ein Reden im eigenen Namen ist wichtig, nicht eine Autobiographie als Zeugnis der Selbstdarstellung oder Selbstbekundung, sondern ein Dokument des Schwankens, des Ringens um das richtige Verstehen, um das Begreifen der göttlichen Wahrheit. In Berufung und mit Unterstützung der Psalmen - hier Ps 30,6 - gelingt es dem (späteren) Autor, noch nicht aber dem (früheren) Protagonisten der ‚Confessiones’, das Entscheidende zu begreifen. So heißt es etwa im 5. Buch: „Ob Dir, ‚Herr, Gott der Wahrheit’, einer, der diese Dinge versteht (quisquis novit ista), darum auch schon gefällt? Unselig doch der Mensch, der all das weiß, aber Dich nicht kennt; glückselig aber (beatus autem), wer Dich kennt (qui te scit), wenn er auch von all dem nichts weiß (etiamsi illa nesciat)“. 8 Dabei spielen die Psalmen in den ‚Confessiones’ wohl die Rolle von Kompositionsprinzipien, indem sie Anfang und Ende der einzelnen Bücher strukturieren, 9 sie sind sodann als allegorische Zeichen im Sinne der Eschatologie eingesetzt, 10 und sie sind auch, drittens, zu einzelnen Leitworten verbunden, etwa dem zentralen Bereich der misericordia. 11 Auch wenn die Lesart der ‚Confessiones’ als einer Autobiographie eine moderne Lesart ist und dem protreptikos-Charakter des Textes nicht gemäß ist - an der zentralen Bedeutung der Psalmen als Dialogmoment zwischen dem sich läuternden Ich und Gott ändert sich dadurch nichts. Diese dialogische und psychagogischtherapeutische Bedeutung der Psalmen schlägt sich noch außerhalb der ‚Confessiones’ in den augustinischen Psalmenauslegungen nieder, den ‚Enarrationes in Psalmos’. Sie werden als Spiegel der menschlichen Existenz gelesen, wobei schon das sterbliche Leben als Abgrund und Todesschatten gilt, der 6 Augustinus, Confessiones 3,2,2. 7 A.a.O.,1,1. 8 A.a.O.,5,4,7. 9 Vgl. K NAUER , G.N., Psalmenzitate in Augustins Konfessionen, Göttingen 1955, 150. 10 K NAUER , Psalmenzitate, 24. 11 A.a.O., 81-83. <?page no="140"?> Mathias Mayer 140 eigentliche, furchtbare Tod aber nicht als Trennung von Leib und Seele, sondern als Abfall von Gott gedeutet wird. 12 Der Psalter als Buch der inneren Erleuchtung, nicht nur als Gebetbuch der gewissen Bestätigung, sondern als Krisendokument, ließe sich an vielen Lebenszeugnissen erweisen. Ein Beispiel dafür, wie die Psalmen als Weggeleiter in der Krise aufgerufen werden können, wäre Johann Wolfgang Goethe. Mit dem ersten Jahrestag seiner schicksalhaften Ankunft in Weimar, mit dem 7. November 1776, hält er im Tagebuch fest: „Was ist der Mensch dass du sein gedenckst und das Menschenkind dass du dich sein annimst“, 13 im Jahr darauf wiederholt er die Eintragung in einem melancholischen Brief an Frau Stein, 14 und im Dezember dieses Jahres 1777 stellt er sozusagen eine Art Gottesurteil an, indem er im Winter auf den unzugänglichen Brocken wandert. Am 10. Dezember 1777 ist er „1 viertel nach eins droben. heitrer herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolcken und Nebel und oben alles heiter. Was ist der Mensch dass du sein gedenckst“. 15 Im Unterschied zu Augustinus ist hier der Psalm zu einem persönlichen Denkmal, zu einer autobiographischen Formel geworden, die für die Schwierigkeit steht, den eigenen Lebensweg zu begreifen. Das Psalmenzitat - Ps 8,5 und ähnlich Ps 144,3, dort in einer noch wohl kritischeren Umgebung (Psalm 144,4 entspricht Hi 14,2: „Ist doch der Mensch gleich wie nichts“) - wird von J.W. Goethe in Verbindung mit gleich drei Momenten seiner Lebenskrise gebracht: 1. mit dem Jahrestag der Ankunft in Weimar, von dem lange Zeit nicht klar war, ob er ihm zum Heil gereichte, oder ob er nicht durch diesen Schritt ins Amt die dichterische Ader gelähmt hatte, 2. mit der intensiven Beziehung zu Frau von Stein, die zur Vertrauten wird, der er sich wie im Tagebuch unmittelbar mitteilt; 3. mit dem Naturorakel einer winterlichen Brockenbesteigung. Dass dieses Psalmenwort dabei zur Signatur einer Sinnkrise wird, zum Ort hermeneutisch-teleologischer Selbstbefragung, das gewinnt überdies beim guten Bibelkenner Goethe noch durch eine neutestamentliche Parallele. Im Hebräerbrief greift Paulus auf Ps 8,5-7 zurück, um die besondere Stellung Jesu herauszuheben (Hebr 2,6). Damit signalisiert aber Goethes Umgang mit dem biblischen Wort eine Konstellation, die fortan prägend sein wird: Gerade aufgrund seiner extremen Breite existentieller Möglichkeiten eignet sich der Psalm auch außerhalb theologischer Kontexte als Prüfstein, wo es darum geht, das Unverständliche zu verstehen. Dass die Psalmen dabei als Schlüsseltexte biblischer Orientierung lebendig geblieben 12 Im Einzelnen vgl. F RIEDROWICZ , M., Psalmus vox totius Christi. Studien zu Augustins ‚Enarrationes in Psalmos’, Freiburg/ Basel/ Wien 1997, bes. 145ff. 13 WA III, Band 1, 26f. 14 WA IV, Band 3, 184. 15 WA III, Band 1, 56f. Vgl. dazu S CHÖNE , A., Götterzeichen: ‚Harzreise im Winter’, in: ders., Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, München 1982, 13-52; L INDER , L.-M., Goethes Bibelrezeption. Hermeneutische Reflexion, fiktionale Darstellung, historisch-kritische Bearbeitung, Frankfurt am Main 1998. <?page no="141"?> Das Verstehen des Unverständlichen 141 sind, übersetzt, paraphrasiert und fortgeschrieben werden, ist weniger erstaunlich, solange die christlichen Rahmenbedingungen mehr oder weniger unangefochten geblieben sind. Die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts hat insofern ein unproblematisches Verhältnis zu den Psalmen, als diese so gut wie unbestritten Modell geistlicher Dichtung sein konnten. Es ist erst die Ausgestaltung des modernen Nihilismus und Atheismus am Ende der Aufklärung, die die Tauglichkeit des Psalms auf völlig neue Bahnen bringt. Dokumente wie Jean Pauls ‚Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei’ - aus dem Roman ‚Siebenkäs’ 16 - oder Georg Wilhelm Friedrich Hegels Rede vom „spekulativen Karfreitag“ als Notwendigkeit, sich philosophisch mit dem Tod Gottes auseinanderzusetzen, 17 sind Stationen eines Atheismus, der für lange Zeit die Möglichkeit des Psalms als einer kreativen Gattung jenseits christlicher Erbauung verschüttet. 3 Der Psalm als Paradoxie der Angst Erst mit dem 20. Jahrhundert, genauer: mit Friedrich Nietzsches Attacken gegen die christlich geprägte Moral und Metaphysik gewinnt ausgerechnet der Psalm im literarischen Bereich eine Bedeutung, die sich als erstaunlicher Weg durch die Höhenkammliteratur des 20. Jahrhunderts zieht. Man kann diesen Weg - und das ist schon geschehen 18 - als historische Linie verfolgen. Ich möchte dagegen eher zwei untereinander konkurrierende Möglichkeiten des Psalms im 20. Jahrhundert zu kennzeichnen versuchen. Die erste Variante müsste wohl den modernen Psalm als Anti-Psalm beschreiben. Die Psalmen werden mehr oder weniger zu parodistischen Zwecken in ihren sprachlichen, stilistischen Verfahren erkennbar adaptiert, aber ganz ihres biblischen Gehaltes entkleidet. Dafür stehen als prominente Namen Friedrich Nietzsche und Bertolt Brecht. In dem geschmacklich wie philosophisch nicht ganz unangefochtenen 4. Teil von ‚Also sprach Zarathustra’ (bei dem es sich streng genommen um ein Nachlasswerk handelt), lässt Nietzsche den Wanderer, „welcher sich den Schatten Zarathustra’s nannte“, 19 „mit einer Art von Gebrüll“ 20 einen „Nachtisch-Psalm“ singen, „Unter Töchtern der Wüste“, der 16 J EAN P AUL , Sämtliche Werke. Hg. von N. M ILLER , Band I/ 2, Frankfurt am Main 1996, 270-275. 17 H EGEL , G.W.F., Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert, hg. von E. M OLDENHAUER und K. M. M ICHEL (stw 601-620), Band 2: Jenaer Schriften (1801-1807), Frankfurt am Main 1969-1971. 18 B ACH / G ALLE , 305-408. S TADLER , A., Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts. Zu den Psalmen im Werk von Bertolt Brecht und Paul Celan, Köln/ Wien 1989. 19 N IETZSCHE , F., Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von G. C OLLI und M. M ON- TINARI , Band 4, Berlin/ New York 1988, 379. 20 N IETZSCHE , Band 4, 380; G RODDECK , W.F., F. Nietzsche. Dionysos-Dithyramben, Berlin/ New York 1991; K AISER , G., Wie die Dichter lügen, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), <?page no="142"?> Mathias Mayer 142 mit seinem orientalischen Palmenkolorit und der Psalmenformel „Sela“ zwar das literarische Vorbild erkennbar herbeiruft, ihm aber eine nihilistische Gegenerkenntnis unterlegt: „Die Wüste wächst; weh dem, der Wüsten birgt! “. 21 Gerade in dem offenkundig und provozierend ausgestellten Anspielungsreichtum des Textes: „Heil, Heil jenem Wallfische,/ Wenn er also es seinem Gaste/ Wohl sein liess! - ihr versteht/ Meine gelehrte Anspielung? “ 22 ist er nicht auf einen Konflikt von Verstehen und Unverstehbarem hin angelegt, sondern auf seine offenkundige Dechiffrierbarkeit: Zwar verrätselt Nietzsche in diesem Gedicht seine Lesart der Wüste des Nihilismus, aber es ist nicht Austragungsort eines Ringens um die Nähe oder Ferne, Verstehbarkeit oder Abwesenheit Gottes. Es ist Parodie des Bibeltones und der christlichen Tradition, besonders krass am Schluss: „Ha! Herauf, Würde! Tugend-Würde! Europäer-Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! Noch Ein Mal brüllen, Moralisch brüllen, Als moralischer Löwe Vor den Töchtern der Wüste brüllen! - Denn Tugend-Geheul, Ihr allerliebsten Mädchen, Ist mehr als Alles Europäer-Inbrunst, Europäer-Heisshunger! Und da stehe ich schon, Als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen! “ 23 Auch in den 1920 geschriebenen Psalmen von Bertolt Brecht, einem bibelkundigen Antichristen, finden sich raffiniert und geschickt montierte Spuren des Psalters, aber die Zielrichtung geht gegen die traditionelle Botschaft. Es ist nunmehr ein hemmungsloser Hedonismus, verbunden mit Situationen der Erschöpfung, der Krankheit und Bedrängnis, der in diesen Texten formuliert wird. Mitunter im Rückgriff auf die Zweigliedrigkeit (parallelismus membrorum) oder die Parataxe der Psalmen übernimmt Brecht von diesen allenfalls die Thematik tödlicher Bedrohung, so wenn es etwa unter der Überschrift ‚Vision in Weiß. 1. Psalm’ heißt: 207-224; M EUTHEN , E., Vom Zerreißen der Larve und des Herzens. Nietzsches Lieder der ‚Höheren Menschen’ und die ‚Dionysos-Dithyramben’, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), 152-185. 21 N IETZSCHE , Band 4, 381. 22 Ebd. 23 A.a.O., 384f. <?page no="143"?> Das Verstehen des Unverständlichen 143 „Nachts erwache ich schweißgebadet am Husten, der mir den Hals einschnürt. Meine Kammer ist zu eng. Sie ist voll von Erzengeln. Ich weiß es: ich habe zuviel geliebt. Ich habe zuviel Leiber gefüllt, zuviel orangene Himmel verbraucht. Ich soll ausgerottet werden. Die weißen Leiber, die weichsten davon, haben meine Wärme gestohlen, sie gingen dick von mir. Jetzt friere ich. Man deckt mich mit vielen Betten zu, ich ersticke. Ich argwöhne: Man wird mich mit Weihrauch ausräuchern wollen. Meine Kammer ist überschwemmt mit Weihwasser. Sie sagen: ich habe die Weihwassersucht. Das ist dann tödlich. Meine Geliebten bringen ein bißchen Kalk mit, in den Händen, die ich geküßt habe. Es wird die Rechnung präsentiert über die orangenen Himmel, die Leiber und das Andere. Ich kann nicht bezahlen. Lieber sterbe ich. - Ich lehne mich zurück. Ich schließe die Augen. Die Erzengel klatschen.“ 24 Der ‚Psalm’, den Georg Trakl im August und September 1912 geschrieben hat, der am 1. Oktober 1912 im ‚Brenner’ gedruckt wurde und mit dem man innerhalb der nur wenige Jahre umspannenden Lebenszeit Trakls eine neue Werkphase ansetzt, dieser ‚Psalm’ verweigert zunächst alle äußeren Bezugnahmen auf ein mögliches biblisches Vorbild. Die klärenden Unterscheidungsmöglichkeiten von Parodie oder Emphase, von Zitat oder Stilimitation versagen hier, vielmehr bleibt nicht viel mehr als die Überschrift, die die Verbindung zum Psalter herstellt. In vier Strophen mit je 9 Versen, die aus ungereimten Langzeilen bestehen, baut das Gedicht eine bilderreiche, mitunter klangmagisch und rhythmisch verfugte Welt auf, die eine lineare, kausale, irgendwie narrative Konsequenz verweigert. In der Schwierigkeit, dieses Gedicht in seiner inneren Struktur zu erfassen, ist u. a. der Vorschlag einer Sonatenform 25 vorgebracht worden, wie um die jenseits hermeneutisch dechiffrierbarer Semantik liegende Eigengesetzlichkeit dieses Textes zu plausibilisieren. Hatte Trakl schon in seinen früheren Gedichten eine „bildhafte Manier“ verfolgt, „die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet“, 26 so radikalisierte Trakl im ‚Psalm’ diese Technik der Verselbständigung der einzelnen Bilder. Gerade der berühmte Auftakt dieses Gedichtes mit dem anaphorischen „Es ist“ liest sich als Kennzeichen einer parataktischen Gleichberechtigung unzusammenhängender Bilder, die in ihrer Reihung keine logische oder kausale Vernetzung erkennen lassen und daher die Verweigerung einer Eindeutigkeit transportieren: 24 B RECHT , B., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von W. H ECHT , J. K NOPF , W. M ITTENZWEI und K.-D. M ÜLLER , Band 11, Berlin/ Weimar/ Frankfurt am Main 1988, 17. 25 D OPPLER , A., ‚Psalm’ von Georg Trakl. Versuch einer Interpretation, in: Österreich in Geschichte und Literatur 11 (1967), 20-31. 26 Brief an Erhard Buschbeck, 2. Hälfte Juli 1910, in: T RAKL , G., Dichtungen und Briefe. Hg. von W. K ILLY und H. S ZKLENAR , Salzburg 1974 3 , 267. <?page no="144"?> Mathias Mayer 144 „Psalm, 2. Fassung Karl Kraus zugeeignet Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen. Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee, Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln. Die Männer führen kriegerische Tänze auf. Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen, Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies. Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen. Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an. Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters, Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft. Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut! Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten. Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen. An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende. Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf. Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen. Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen. Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach. Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab. Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen. Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher. Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels. Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee, Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden. Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt. In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen. Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer. Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln. Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern. Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit. Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder. In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen. Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.“ 27 27 T RAKL , Dichtungen und Briefe, 31f. <?page no="145"?> Das Verstehen des Unverständlichen 145 Zwar ist es aus der Biographie Trakls bekannt und aus seinen Gedichten belegbar, dass er sich immer wieder mit den Inhalten des Christentums auseinandergesetzt hat - dafür sprechen Bezugnahmen auf ‚Allerseelen’, 28 die ‚Rosenkranzlieder’ 29 oder auch die Rolle der Heiligen, darunter Afra und Sebastian, aber eine dauerhafte oder eindeutige Aussage ist nicht überliefert, als Leser Nietzsches und auch Dostoiewskijs steht zumindest der Autor Trakl der christlichen Botschaft als skeptischer Hörer gegenüber. Der ‚Psalm’ gerade, der hier interessiert, - sehr viel mehr als die Person des Autors -, der ‚Psalm’ ist aber in seiner Struktur und seiner musikalisch-traumhaften Organisation ein Zeugnis für die, so könnte man sagen, „Schädelstätte“ der modernen Sinnsuche. Ich gehe dabei von der den vier Strophen nachgestellten Schlusszeile aus, die in der Ersten Fassung unmittelbar biblisch lautet „Wie eitel ist alles! “. 30 In der publizierten Fassung wird der Schluss zu einem Bild, das aporetisch und quälend zwischen Präsenz und Entzug, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit offen bleibt. Zwar ist von den goldenen Augen Gottes die Rede, die sich auch öffnen, aber sie werden als schweigsam charakterisiert, zumal sie sich „über der Schädelstätte“ öffnen. Damit sind in einem grandiosen Bild Momente des Todes und der Hoffnung, von Teilnahme und Verweigerung verbunden, aber in dieser parataktischen Verfugung des einander Inkompatiblen bleibt die Botschaft paradoxal und dunkel. Was deutlich wird, wenn man den Verlauf des Gedichtes im Einzelnen verfolgt, ist die fortwährende Auseinandersetzung mit der Transzendenz, die gleichsam als eine der Hauptstimmen in dieser Partitur sichtbar gemacht werden kann. Ist in der ersten Strophe von jenem Ritual eines Sonnengottes die Rede, auf einer Insel der Südsee - für die vielleicht die Bilder Gauguins Pate gestanden haben mögen -, so steht diese Evokation einer fernen und offenbar fremden Religion im Zeichen des verlorenen Paradieses, am Ende der ersten Strophe wie als Perspektive benannt und beklagt. Aus der zweiten Strophe lassen sich mit den „Nymphen“ (V. 10) und dem „Sohn des Pan“ (V. 12) Gestalten der antiken Mythologie in freilich verfremdeten Kontexten benennen, die indes ebenfalls die rein menschliche Welt überragen. Christliche Inhalte werden in der dritten Strophe eingespielt, in der „Gestalt des jungen Novizen“, im „Kreuzgang“ und den „heiligen Legenden“; aber in einer unaufgehellten, beklemmenden Weise stellt die vierte Strophe noch weitere Bildmomente hinzu, etwa „Engel mit kotgefleckten Flügeln“ oder „Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam“. Auch hier müsste von einer Parataxis der Transzendenz gesprochen werden, - ein wie immer klares Bekenntnis zu einer Art von Religion oder auch nur Weltfrömmigkeit kann dem Text nicht entnommen werden. 28 A.a.O., 19f. 29 A.a.O., 32f. 30 A.a.O., 202. <?page no="146"?> Mathias Mayer 146 von Religion oder auch nur Weltfrömmigkeit kann dem Text nicht entnommen werden. Nimmt man andere Sinnschichten oder Stimmen hinzu, so wird das Vertrauen in die Euphorie einer religiösen Welt in Frage gestellt. Die Linienführungen etwa der Farben ergeben keine semantische Eindeutigkeit, - die Bilder von Wahnsinn, Krankheit und Tod, schließlich von Verlust, Leere, Untergang, - das vom Wind ausgelöschte Licht, das verlorene Paradies (V. 9), das Verlassen der „goldenen Wälder“ (V. 10), die „erblindeten Spiegel“ (V. 16), das „leere Boot“( V. 28), die „Ruinen“ (V. 29), die „toten Waisen“ (V. 30) oder die „Schatten der Verdammten“ (V. 35) - sie alle tragen zu dem höchst desolaten, trostlosen Charakter des Gedichtes bei. Gerade deshalb erscheint die Betitelung Psalm als so symptomatisch und beunruhigend. Sie dient nicht der schieren Provokation, dem Bürgerschreck, wie in den Anti-Psalmen, sondern dieses Gedicht ist genau darin ein Psalm, dass es die den biblischen Vorbildern inhärente Spannung für die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts nachvollziehbar macht. Bei Trakl wird der Psalm zum Grenzfall einer Theodizee, die den Tod Gottes wahrgenommen hat, aber sich nicht mit einer atheistischen Verzichtserklärung zufrieden geben kann. Die Berufung auf die Psalmen, wie sie durch den Titel gegeben ist, und die Auseinandersetzung mit der Transzendenz, bis hin zur Ambivalenz der Schlusszeile, sind Zeichen einer Krise, einer zugespitzten Kritik des Verstehens, die die Abwesenheit einer höchsten Legitimation als das Nicht- Verstehbare wahrnimmt. Was die Psalmen des Alten Testaments immer noch durch ihre Adresse, ihre Wendung zu Gott aufgefangen hatten, wird hier unmittelbar ins Gedicht projiziert: die Frage, die Klage um die Abwesenheit Gottes, wird nicht mehr beantwortet oder geheilt, aber als Frage und Klage bleibt sie quälend offen. Denn dieser Verlust der göttlichen Transzendenz schlägt sich nieder als Verlust des Verstehens, das Gedicht wird zur Schädelstätte von Verstehensmöglichkeiten. Der Psalm gewinnt daher als Form oder auch als Leerstelle eine erhebliche Bedeutung, denn er wird zum Platzhalter für eine Verlusterfahrung, mit der Trakl nicht klar kommt. Das Verstehen des Unverstehbaren manifestiert sich letztlich als Zerschreibung von Sinnhaftigkeit, als Parataxis des Inkompatiblen. In einer neuen Weise, so könnte man sagen, wird mit Trakls ‚Psalm’ die Moderne ins Zeichen einer postlapsalen Not gestellt, das Unverständliche zu verstehen versuchen: „O unser verlorenes Paradies“ - dieser Vers aus Trakls Gedicht bezeichnet dann so etwas wie eine hermeneutische Spur, signalisiert er doch, in diesem Text! , die Vertreibung aus dem Paradies der Sinnhaftigkeit, der Verständlichkeit. Es ist sozusagen ein zweiter Sündenfall, der mit dem spekulativen Karfreitag stattgefunden hat, der Verlust einer Sinngewissheit, für die der Psalm nun die adäquate Form ist, als religiöse wie als klagende Form. Nicht eine Imitation des parallelismus membrorum ist daher die moderne Adaption der biblischen Vorlage, sondern seine Übersetzung in die Aporien und Paradoxien scheiternden Verstehens. Denn Trakl macht nicht das <?page no="147"?> Das Verstehen des Unverständlichen 147 Unverständliche in einem harmlosen Sinne verständlicher, sondern der ‚Psalm’ wird zur Lektion des Scheiterns, zur Erfahrung, dass das Unverständliche als Unverständliches wahrgenommen werden muss: Es lässt sich nicht trickreich in eine Art von Verständnis herunterbrechen, sondern seine unhintergehbare Unverständlichkeit macht uns als Leser des Unverständlichen zu hermeneutischen Exilanten, vertrieben aus dem Paradies der Verstehbarkeit. Trakl stellt daher in seinem ‚Psalm’ auch ein Menschenbild bereit, das diese Situation abbildet: jenseits der Hilflosigkeit der Kinder (V. 13, 25, 26, 30), der Ausnahme der religiösen Gestalten wie des Novizen, sind es ein Betrunkener, ein Wahnsinniger, ein Fremder, Doppelgänger, Tote, Kranke und Verdammte, in denen wir uns spiegeln können. Man könnte auch sagen, dass Trakl hier Nietzsches berühmte Parabel vom ‚Tollen Menschen’ 31 übersetzt hat, der nach dem Tod Gottes sich gerade nicht mehr im Verstehen einzurichten vermag, sondern ebenfalls ins Exil des Wahnsinns getrieben wird: Als er sich der ungeheuren Tat bewusst wird, die der Mensch begangen, aber noch nicht begriffen hat, wirft er „seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch“. Von dieser Zerstörung des Lichtes legt der moderne Psalm Zeugnis ab. Nicht umsonst hat sich Trakl mit der Gestalt Kaspar Hausers identifiziert - „Wozu die Plage. Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben“, heißt es in einem Brief: 32 Kaspar Hauser als Gestalt der Sprachlosigkeit, die aufgrund ihrer fehlenden Identifikation weder Identität noch Sprache noch Verstehen aufbauen kann. Trakl steht somit, in seinem Werk, für das „steinerne Dunkel“ der Moderne, für das „namenlose Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht“. 33 Eine hermeneutische Lesart des Psalms, als einer Tradition des Fragens und Betens, die noch unter den Voraussetzungen des Nihilismus ihre Bedeutung behält, eine solche Lesart könnte wohl gerade den Psalm als eine Erfahrung der Angst zu lesen versuchen. Sie läßt sich nicht nur als ein Phänomen moderner Entwurzelung und Unbestimmtheit fassen, sondern die Angst kann hier in einem spezifischeren Sinn aufgerufen werden. Innerhalb der existenzialontologischen Analysen des Ersten Abschnitts von ‚Sein und Zeit’ kommt Martin Heidegger auf das Existenzial des Verstehens zu sprechen (im § 31: Das Da-sein als Verstehen), 34 das als „der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber“ entfaltet wird. 35 Heidegger erschließt dabei den Entwurfscharakter des Verstehens, der nichts mit Planbarkeit oder persönlichem Vorhaben zu tun hat, sondern das Dasein hat „sich je schon ent- 31 N IETZSCHE , F., Die fröhliche Wissenschaft. Mit einem Nachwort von R.-R. W UTHENOW , Frankfurt am Main 2000, Nr. 125. 32 T RAKL , Dichtungen und Briefe, 275. 33 A.a.O., 311. 34 H EIDEGGER , M., Sein und Zeit, Tübingen 1977 14 , 142-148. 35 So die Charakterisierung in G ADAMER , H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975 4 , 246. <?page no="148"?> Mathias Mayer 148 worfen und ist, solange es ist, entwerfend“. 36 In diesem Entwurfscharakter geht es ihm um die existenziale Möglichkeit des eigenen Seinkönnens, denn „Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten“. 37 Von der im Zusammenhang der Sorge-Struktur erarbeiteten „durchschnittlichen Alltäglichkeit des Daseins“ 38 ist aber auch der Entwurfscharakter des Verstehens betroffen, was sich zunächst in der Analyse des Verfallens, daran anschließend dann in §40 als „Grundbefindlichkeit der Angst“ herausstellt. Dabei hat die Bedrohung, die als Angst vorgestellt wird, „nicht den Charakter einer bestimmten Abträglichkeit, die das Bedrohte in der bestimmten Hinsicht auf ein besonderes faktisches Seinkönnen trifft. Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. […] Daß das Bedrohte nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst“. 39 Aber die Modalitäten der Angst werden nicht nur durch Negationen oder Privationen bestimmt, sondern die Angst wird als ein Weg zur Gewinnung, zum eigentlichen Verstehen des eigenen Sein-Könnens charakterisiert. Dass Heidegger dann dieses Phänomen mit der Erfahrung des Unheimlichen verbindet - „Unheimlichkeit meint aber dabei zugleich das Nicht-zuhause-sein“ 40 -, führt schließlich zu der für die Befindlichkeit des (modernen) Menschen erheblichen Einsicht, dass sogar das „Un-zuhause“ nicht als sekundär, sondern als primäres Ereignis angenommen werden muss, dass es, in der Sprache Heideggers, „existenzialontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden muß“. 41 Insofern hängt wohl der Verfalls-Charakter der Angst mit der Befreiung zu einer ureigenen Möglichkeit zusammen, die mit der Erfahrung des Psalms in Verbindung gebracht werden kann. Heidegger schreibt - und nun ein längeres Zitat aus dem §40 von ‚Sein und Zeit’: „Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ‚Welt’ und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstigt, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-derWelt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des Sich-ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann. Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens.“ 42 36 H EIDEGGER , Sein und Zeit, 145. 37 Ebd. 38 A.a.O., 181. 39 A.a.O., 186. 40 A.a.O.,188. 41 A.a.O., 189. 42 A.a.O. 187f. <?page no="149"?> Das Verstehen des Unverständlichen 149 Von der „Angstflut“ spricht Clemens Brentano in seinem berühmten Psalm, dem Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe, 43 und diese Formel begleitet die Psalmendichtung dann in die Moderne, über Trakl und Brecht hinaus, bis hin zu Paul Celan, Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann. Kaum einmal wird die Form des Psalms dabei im Sinne der Gewissheit, des sicheren Besitzes zitiert, sondern der Psalm ist dabei das schon biblisch autorisierte Zeugnis oder Gefäß einer durchaus angstvollen Ungewissheit, einer Entwurzelung, mit der stets nur wieder die Fragen nach den eigenen Möglichkeiten gestellt werden können. Die Angst, wie sie schon im Psalm des Alten Testamentes begegnet, kann gerade das Verstehen als Arbeit am Unverständlichen freisetzen. Im Falle Paul Celans - im berühmten ‚Psalm’ aus der ‚Niemandsrose’ - ist es gar das Risiko der völligen Negativität, der Himmelswüste, das in der Form des Psalms ausgelotet wird, Zuspruch und Widerspruch paradox verbindend: „Gelobt seist du, Niemand./ Dir zulieb wollen/ wir blühn./ Dir/ entgegen“. 44 Hier wird der Psalm in der Provokation des Verstehens zu einer Schädelstätte des Verstehens: Das Gedicht setzt die Unmöglichkeit des Verstehens als Ausdruck dafür ein, dass es selbst sich dem Verstehen des Unverständlichen verdankt. Literatur B ACH , I./ G ALLE , H., Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung, Berlin/ New York 1989. B RAUNGART , W. (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Band 2: Um 1900, Paderborn 1998. B RAUNGART , W. 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F RÜHWALD , B. G AJEK und F. K EMP , München 1997, 330. 44 C ELAN , C., Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. von B. W IEDEMANN , Frankfurt am Main 2003, 132f. <?page no="150"?> Mathias Mayer 150 G OEDEGEBUURE , J., Das Modell der Psalmen. Moderne Poesie in biblischer Perspektive, in: Interpretationen 2000. Hg. von H. DE B ERG und M. P RANGEL , Heidelberg 1999, 265-278. G RODDECK , W.F., F. Nietzsche. Dionysos-Dithyramben, Berlin/ New York 1991. G UNKEL , H., Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von J. B EGRICH , Göttingen 1985 4 . H EGEL , G.W.F., Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ediert, hg. von E. M OLDENHAUER und K. M. M ICHEL (stw 601-620), Band 2: Jenaer Schriften (1801-1807), Frankfurt am Main 1969-1971. H EIDEGGER , M., Sein und Zeit, Tübingen 1977 14 . 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Das Paradigma der Text-Rezeptions-Hermeneutik des Neuen Testaments Der vorliegende Beitrag 1 hat konzeptionellen Charakter und steht im Zusammenhang mit meiner ‚Hermeneutik des Neuen Testaments’ 2 sowie mit dem ‚Lexikon der Bibel-Hermeneutik’ 3 , die beide auf dem Konzept der Texthermeneutik basieren. Ich erweitere die Position der Texthermeneutik um die Kategorie der Rezeption, die ich der Textkategorie nebenordne 4 . Ich gehe dabei von der Frage aus, welche hermeneutischen Implikationen die Geschichte der Texte frühchristlicher Autoren, die wir als Teiltexte der kanonischen Textsammlung „Neues Testament“ kennen, hat. Dabei stelle ich die historischen Prozesse, die wir im Rahmen der Kirchengeschichte als Kanonbildung und Auslegungsgeschichte kennen, noch einmal deutlicher aus hermeneutischer Sicht als Rezeptions- 1 Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag im Forschungskolloquium des Biblical Department an der Universität Århus im März 2007 zurück. Er wurde in erweiterter Form auf dem Erlanger Kolloquium „Die Bibel als Text“ vorgetragen und für die Drucklegung nochmals überarbeitet. Ich danke Prof. Eve-Marie Becker für die Einladung und für wichtige Beiträge. Ebenso danke ich den Teilnehmern des Kolloquiums in Erlangen „Die Bibel als Text“ für ihre hilfreichen Diskussionsbeiträge und meinem Mann für wichtige Hinweise. 2 W ISCHMEYER , O., Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen 2004. Vgl. auch W ISCHMEYER , O./ B ECKER , E.-M. (Hgg.), Was ist ein Text? (NET 1), Tübingen 2001, und W ISCHMEYER , O. (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen 2003. 3 Lexikon der Bibelhermeneutik. Hg. von O. W ISCHMEYER in Zusammenarbeit mit E. A NGEHRN , E.-M. B ECKER , M. S CHÖLLER , M. H ABERMANN , U. H.J. K ÖRTNER , J. A. L OADER , C. L UBKOLL , K. P OLLMANN , G. S TEMBERGER , W. W ISCHMEYER , Berlin/ New York [erscheint 2009]. 4 Der Begriff Rezeption spielt auch schon in der „Hermeneutik des Neuen Testaments“ eine wichtige Rolle: Teil B ist dem rezeptionsgeschichtlichen Verstehen gewidmet (s. unten Anm. 9). Den Textbegriff bestimme ich im Rahmen der Bedingungen der neutestamentlichen Schriften: synchron als abgeschlossene sprachliche Gebilde, diachron von ihrer (vorliterarischen und literarischen oder: mündlichen und schriftlichen Genese her. Ich schließe mich damit sowohl an den linguistischen Textbegriff an (vgl. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments, 178-182) wie auch an die literaturwissenschaftlichen Diskurse zum Textbegriff an (vgl. den Beitrag von S. Kammer im vorliegenden Band; Kammer konstruiert den literaturwissenschaftlichen Textbegriff von den beiden Aspekten der Struktur und des Mediums her, also eher synchron, bezieht aber auch die komplexen Diskussionen über die Genese des Textes ein, die für antike Schriften und besonders für das Alte und Neue Testament konstitutiv sind.) <?page no="156"?> Oda Wischmeyer 156 prozesse dar und zeige den inneren Zusammenhang von Text und Textrezeption auf. Wir beobachten aus dieser Perspektive ein Wechselspiel zwischen den Texten und ihren Rezeptionsprozessen. Der Wechsel entfaltet sich als Dialektik von (Einzel- )Texten und (Gesamt-)Text. Am Anfang stehen Einzeltexte, mehr oder weniger bedeutend und anspruchsvoll, kürzer oder länger. Sie gehören verschiedenen Gattungen an, setzen bestimmte Situationen voraus, haben bestimmte Verfasser - von denen wir nur Paulus wirklich kennen - und wollen bestimmte Wirkungen erzielen. Diese Texte werden durch den Prozess der Kanonisierung zu dem Textcorpus „Neues Testament“, zu einer Textsammlung, die bis zu einem gewissen Grad als Gesamttext verstanden wird und in einen komplexen Zusammenhang mit ihrem Prätext, der Septuaginta, tritt. Der neue Gesamttext wird im Zusammenspiel mit dem normierenden Begleittext der regula fidei konstituiert 5 . Er setzt eine unüberschaubare Menge unterschiedlicher Posttexte aus sich heraus, die sich in Weiterschreibungen 6 , Predigtliteratur und Kommentarliteratur gliedern. Die gesamte, nach vorn offene Textmenge stellt eine eigene Textkultur dar 7 , der sich auch als umfangreicher Intertext beschreiben lässt 8 . Diese Prozesse lassen sich als Rezeptionsprozesse verstehen. Auf den Kanonisierungsprozess und die sich daraus entwickelnde Textkultur folgt seit dem 18. Jahrhundert ein anhaltender Dekanonisierungsprozess, der sich in verschiedenen Schüben entfaltet und unterschiedliche hermeneutische Folgen hat. Auf jeden Fall aber hat diese Dekanonisierung den hermeneutischen Zugang zu den ursprünglichen Texten und zu dem Prozess der Kanonbildung freigemacht. In gewisser Weise wird die Entwicklung von den Texten zum Text rückgängig gemacht. Die Exegese geht hinter den Kanon zurück, wendet sich den Einzeltexten zu, dann auch den schriftlichen und mündlichen Vorstufen dieser Texte. Die Dekanonisierung muss daher als eigener, wesentlicher Faktor der Rezeptionsgeschichte und damit der Hermeneutik des Neuen Testaments verstanden werden. Die Geschichte der einzelnen Texte, des einen kanonischen Textcorpus und der auf beide bezogenen Auslegungsliteratur im weitesten Sinne lässt sich als ständige Dialektik zwischen Einzeltext, Gesamttext, Textfortschreibungen, Textauslegungen, Verstehens- und Auslegungstheorien (Hermeneutiken und Methoden) und Rückgang auf die Ausgangstexte beschreiben. Der hermeneutisch fokussierte Blick auf den Prozess der Entstehung und Kano- 5 Zum Begriff und Problem der regula fidei vgl. einführend D RECOLL , V.H., Art. Regula fidei, in: RGG 4 VII (2004), 199f. Die regula fidei bezeichnet Grundinhalte des Glaubens, ohne mit spezifischen synodalen Glaubensbekenntnissen identisch zu sein. 6 Sog. neutestamentliche Apokryphen (vgl. S CHNEEMELCHER , W. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, 2 Bände, Tübingen, I 1989 6 ; II 1989 5 .) 7 Zu dieser Textkultur gehört natürlich auch der gesamte Bereich des „Alten Testaments“ und seiner Begleittexte. 8 Zu den Begriffen vgl. W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 185-193. <?page no="157"?> Texte, Text und Rezeption 157 nisierung des Neuen Testaments als initiale Phase des Gesamtprozesses und den reziproken Prozess der exegetischen Dekanonisierung ermöglicht die Beschreibung des hermeneutischen Paradigmas, das ich Text-Rezeptions- Hermeneutik nenne. Ich stelle im ersten und zweiten Teil meiner Ausführungen hermeneutisch relevante Aspekte des Kanonisierungs- und Dekanonisierungsprozesses der neutestamentlichen Texte dar, auf deren Basis ich das Paradigma der Text-Rezeptions-Hermeneutik für die neutestamentlichen Texte entwerfe. In einem dritten Teil skizziere ich das hermeneutische Paradigma der Text-Rezeptions-Hermeneutik, indem ich es im Rahmen anderer Hermeneutiken des Neuen Testaments situiere. Der Beitrag knüpft, wie schon eingangs erwähnt, an meine „Hermeneutik des Neuen Testaments“ an und weist auf das 2009 erscheinende „Lexikon der Bibelhermeneutik“ hin. Beide beteiligen bereits auf der Basis des Textbegriffs eine breite Anzahl akademischer Disziplinen an den Verstehensmodellen und -prozessen, die dem Neuen Testament als frühchristlicher Textsammlung und darüber hinaus der gesamten Bibel gelten. Ich weite diese Konzeption im vorliegenden Beitrag in drei Punkten aus: 1. Den Textbegriff verwende ich in doppelter Funktion, indem ich das „Neue Testament“ sowohl als Sammlung von Texten und Textsorten als auch als einen eigenen ‚neuen Text’ verstehe. 2. Diesem Ansatz füge ich gleichberechtigt den Begriff der Rezeption hinzu und verwende ihn für die Beschreibung der Kanonisierungs- und Interpretationsprozesse der neutestamentlichen Texte. Ich verstehe das korrespondierende Begriffspaar von Text und Rezeption als Basis einer Hermeneutik des Neuen Testaments, die sich nicht innertheologisch oder innerexegetisch auf der Basis der theologischen Begriffe von „Kanon“, „Schrift“, „Wort Gottes“ und „Neues Testament“ entwirft, sondern einerseits eine allgemeine historische Basis für das Verstehen einer Textsammlung schafft, deren Einzeltexte und deren Gesamtcorpus sich einer höchst prominenten Geschichte verdanken (Rezeptionsbegriff 9 ), andererseits aber eine textwissenschaftliche Basis des Verstehens für das „Neue Testament“ als Gesamttext und als Zusammenstellung von Einzeltexten unter rezeptionsgeschichtlicher Perspektive anbietet (Textbegriff). 9 Vor allem die Geschichte der Kanonisierung wird nicht als hermeneutischer Prozess des Nicht- oder Missverstehens, sondern als produktiver Prozess zusätzlicher Sinngebung und damit als rezeptionsgeschichtlicher Vorgang beschrieben. Zum Begriff allgemein vgl. P FEIFFER , H., Art. Rezeption und Rezeptionsästhetik, in: RDLW III (2003), 283-285 und 285-288 sowie G ROEBEN , N., Rezeptionsforschung, in: RDLW III (2003), 288-290. Zum Rezeptionsbegriff und seinen hermeneutischen Implikationen im Zusammenhang mit der Bibelhermeneutik vgl. einführend W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 73-75. Ich fasse den Rezeptionsbegriff so weit, dass auch die Entstehungsgeschichte der Einzeltexte darunter fällt. So muss bereits die Entstehung des kanonischen 2. Korintherbriefes möglicherweise als Rezeptionsvorgang verstanden werden. Vgl. dazu einführend B ECKER , E.-M., 2. Korintherbrief, in: W ISCHMEYER , O. (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk - Briefe (UTB 2767), Tübingen/ Basel 2006, 164-191. <?page no="158"?> Oda Wischmeyer 158 3. Durch die programmatische Hinzunahme des Rezeptionsbegriffs zum Textbegriff wird die historische Dimension der Texte und der kanonischen Textsammlung des Neuen Testaments hermeneutisch ebenso darstellbar wie die synchrone Struktur, d.h. die Textualität der Einzeltexte und des Gesamttextes. Auch die hermeneutisch relevante kirchlich-institutionelle Dimension der kanonischen Textsammlung lässt sich mit Hilfe des Rezeptionsbegriffs darstellen, ohne dass hermeneutische Sonderbedingungen wie das Einverständnis mit den Texten oder eine Spielart der dogmatischen Inspirationslehre 10 formuliert werden müssen. Als hermeneutische Rahmengröße fungiert der Begriff der Textkultur 11 , der die nach vorn offene Gesamtheit der Einzeltexte, des Textcorpus, der Auslegungsliteratur und der applikativen Literatur bis in die Gegenwart umfasst und als Kette konstruktiver und dekonstruierender Rezeptionsprozesse beschreibbar und hermeneutisch darstellbar macht. 1 Der Prozess der Kanonisierung des Neuen Testaments als Thema der Text-Rezeptions-Hermeneutik Die Kategorien Text und Rezeption erweisen sich als besonders geeignet, die begrifflichen Bedingungen für eine hermeneutisch fokussierte Interpretation der Kanonisierung der Einzeltexte der frühchristlichen Schriftsteller zu schaffen. Die Interpretation auf der Basis dieser Kategorien ermöglicht das Verstehen der Texte des Neuen Testaments sowie des Textcorpus „Neues Testament“ in einem möglichst breit ausgelegten wissenschaftlichen Kontext, so dass ein wissenschaftlich kontextualisiertes Verstehen der neutestamentlichen Texte nicht ausschließlich auf die exegetisch- und systematischtheologischen Fächer beschränkt bleibt, sondern auch im Zusammenhang der Geistes- und Kulturwissenschaften möglich wird. Ich wende die Begriffe Text und Rezeption konkret im historischen Rahmen der Alten Kirche an und beziehe sie auf die Ursprungs- und Entstehungsgeschichte der Texte des 10 Die Inspirationslehre ist allerdings keine genuin christlich-dogmatische Lehre, sondern ebenso in der griechischen Literatur seit Homer und Hesiod bekannt wie in der frühjüdischen Schriftlehre (B URCKHARDT , H., Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, Gießen 1988); vgl. allg. T HRAEDE , K., Art. Inspiration, in: RAC 18 (1998), 329-365. Zur religiösen Interpretation Homers vgl. B ARTELINK , G.J.M., Art. Homer, in: RAC XVI (1994), 116-147, hier: 119 (Homers Epen als „Träger religiöser Offenbarung“ bei den Orphikern). 11 Zum Begriff: „Textkulturen“ steht hier für eng aufeinander bezogene Texte wie kanonische Schriftensammlungen religiöser oder juristischer Qualität einerseits oder klassische Literaturkanones andererseits, die wiederum Posttexte wie Kommentare und Institutionen der Textpflege nach sich gezogen haben. Vgl. den Elite-Masterstudiengang „Ethik der Textkulturen“ an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Augsburg. Zur initialen Bedeutung der homerischen Epen und der kanonischen Schriftensammlungen Israels und des frühen Christentums vgl. B ARTELINK , RAC XVI, 118: „Die Stellung H(omer)s in der profanen griech. Literatur ist im Grund mit jener der Bibel im hellenist.-jüd. u. christl. Schrifttum zu vergleichen“. <?page no="159"?> Texte, Text und Rezeption 159 Neuen Testaments, die für jede Hermeneutik des Neuen Testaments von grundlegender Bedeutung ist. Denn die raison d’être des „Neuen Testaments“ als eines Textcorpus liegt historisch und sachlich in der altkirchlichen Kanonisierung der neutestamentlichen Texte und ihrer Zusammenstellung zum zweiten Teil der christlichen Bibel. Dieser spezifische historische Prozess, dem bereits eine latente Hermeneutik zugrunde liegt und an dessen Ende das Paradigma der „kirchlich-kanonischen Hermeneutik“ steht, lässt sich als Rezeptionsvorgang von Einzeltexten darstellen, die zu einem Textcorpus werden. Diese hermeneutische Perspektive führt zu meinem Paradigma der „Text- Rezeptions-Hermeneutik“. Der historische Prozess der Kanonisierung der frühchristlichen Texte lässt sich vorweg in Kürze folgendermaßen skizzieren: Die ursprünglich zunächst selbständigen frühchristlichen Einzel-Texte fielen durch die Kanonisierung aus der Menge der frühkaiserzeitlichen paganen und jüdischen sowie auch der entstehenden christlichen Literatur heraus, rückten zu einem Textcorpus zusammen, erhielten einen eigenen Status und forderten eine eigene Verstehensanstrengung, die der ihnen beigelegten normativen und überzeitlichen Funktion gerecht wurde 12 . Diese Kanonisierungsgeschichte 13 der Einzeltexte führte zu dem allgemeinen Typ von Hermeneutik, der in vielen historischen, konfessionellen und individuellen theologischen Varianten bis in die Gegenwart für das Verständnis des Neuen Testaments leitend ist und den ich „kirchlich-kanonisches Paradigma“ nenne. Ich beleuchte im Folgenden diesen Kanonisierungsprozess im Hinblick auf wichtige hermeneutische Aspekte. 1.1 Kanonischer Prätext: Septuaginta Ein erster Aspekt bezieht sich auf die frühchristliche Zuordnung der neutestamentlichen Schriften zur Septuaginta 14 als dem entscheidenden Prätext der neutestamentlichen Texte. Die Gemeinden verwendeten die Septuaginta oder andere griechischsprachige Übersetzungen der Bibel Israels als religiöse, ethische und kulturelle Grundschrift 15 . 12 Analog zu anderen Spezialhermeneutiken wie den Werken Homers oder der juristischen Hermeneutik. 13 Dazu vgl. P EZZOLI -O LGIATI , D. u.a., Art. Kanon, in: RGG 4 IV (2001), 767-774 und O HME , H., Art. Kanon I (Begriff), in: RAC 20 (2004), 1-28. 14 Zur Septuaginta vgl. einführend S IEGERT , F., Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament (Institutum Judaicum Delitzschianum. Münsteraner Judaistische Studien 9), Münster 2001. 15 Wir kennen die Lektüre der frühchristlichen Schriftsteller nicht. Grundlegend für die Rekonstruktion ihrer geistigen und literarischen Welt bleibt der Umstand, dass neben den überaus zahlreichen Septuagintazitaten nur wenige Zitate aus sog. jüdischen Pseudepigraphen, d.h. nicht-kanonischen frühjüdischen Schriften, begegnen, und nur zwei ausgewiesene Zitate aus der griechischen Literatur (Apg 17,28 weist auf Aratus, Phaenomena 5 hin, Titus 1,12 auf Epimenides, De oraculis. Die übrigen Belege bei N ESTLE , E. (Begr.)/ A LAND , B. (Hg.), Novum testamentum Graece post E. N ESTLE et E. N ESTLE communiter ed. B. et K. A LAND [...] Apparatum criticum novis curis elaboraverunt B. et K. <?page no="160"?> Oda Wischmeyer 160 Sehr bald 16 traten in den Gemeinden eigene frühchristliche Schriften neben die Septuaginta. Der Prozess der Verbindung von Septuaginta und frühchristlichen Schriften ist den einzelnen neutestamentlichen Schriften bereits inhärent, indem sie in ihrer großen Mehrzahl die Septuaginta als ihren Prätext zitieren und argumentativ verwenden und die Septuaginta als leitende Textkultur ihrer Gemeinschaft verstehen, sie unter Unständen aber nicht nur neu interpretieren, sondern auch überbieten. Dieser Vorgang hatte verschiedene hermeneutisch bedeutsame Folgen, die zuerst einmal die einzelnen neutestamentlichen Schriften betreffen. Erhebliche Teile der neutestamentlichen Schriften stellen (auch) Auslegungen der Septuaginta dar 17 . Sie lassen sich selbst als Beiträge zur frühjüdischen Bibelexegese interpretieren und werden in dieser hermeneutischen Perspektive am besten im Vergleich mit entsprechenden frühjüdischen Schriften und mit der beginnenden rabbinischen Schriftauslegung gelesen. Zugleich gerieten die neutestamentlichen Schriften durch die Zuordnung zur Septuaginta seit dem 2. Jahrhundert n.Chr. in den Zusammenhang der Interpretationskultur frühjüdischer Schrifthermeneutik. Denn die heilige Schrift des griechischsprachigen Judentums war zugleich die erste heilige Schrift des Urchristentums. In dem Umstand, dass diese bereits eine eigene Auslegungsgeschichte auf sich gezogen hatte und das frühe Christentum sehr schnell mit den neutestamentlichen Schriften analog zur „graphé“ verfuhr, liegt eine - oder sogar die - historische Wurzel neutestamentlicher Hermeneutik. So wie die graphé normative Bedeutung hatte und dementsprechend ausgelegt und kommentiert wurde, musste nun auch die gleich- oder vorgeordnete Sammlung der Schriften der „kainé diathéke“ ausgelegt und kommentiert werden. Die Alte Kirche entwarf also ein hermeneutisches Analogieverfahren, das die Schriften des entstehenden Neuen Testaments analog zum ‚Alten Testament’ verstand und auslegte. 18 Dieser Vorgang hatte nicht nur für das im Rahmen der Alten Kirche entstehende „Neue Testament“, sondern auch für das in demselben Rahmen entstehende „Alte Testament“ grundsätzliche hermeneutische Folgen. Die Textsammlung der Septuaginta war im Interpretationszusammenhang der A LAND una cum Instituto Studiorum Textus Novi Testamenti Monasterii Westphaliae, Stuttgart 2001 27 , 808, sind keine Zitate). Die literarische Welt der frühchristlichen Schriftsteller ist aufs Äußerste Septuaginta-zentriert und als solche im Kontext der antiken jüdischen Religions- und Bildungswelt griechischer Sprache beheimatet. 16 Die Paulusbriefe wurden in den Gemeinden verlesen und an Nachbargemeinden geschickt. D.h. der Konsolidierungsprozess frühchristlicher Schriften beginnt bereits mit der Entstehung der ersten christlichen Texte (ca. 50 n.Chr.). 17 Vgl. dazu H ÜBNER , H., Art. New Testament, OT Quotations in the, in: Anchor Bible Dictionary 4 (1992), 1096-1104. Zu den Einzelaspekten vgl. die Lit. bei H ÜBNER , Art. New Testament, OT Quotations. Vgl. auch W ILK , F., Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998. 18 Zu dem hermeneutischen Neuansatz christologischer Interpretation des Alten Testaments s.u. <?page no="161"?> Texte, Text und Rezeption 161 Alten Kirche nicht mehr einfach die „graphé“, sondern nun der erste Teil der neuen christlichen Bibel, wodurch sich ihr Stellenwert und ihre Interpretationsparameter grundlegend änderten. Das betrifft sowohl ihre religiöse Zuordnung - sie war im christlichen Kontext nicht mehr nur der „väterliche nómos der Juden“, d.h. die kulturelle, juridische und religiöse Grundschrift des éthnos Ioudaíôn, sondern auch Heilige Schrift der Christen - als auch ihre Auslegung. Denn sie wurde jetzt im Lichte der Offenbarung Jesu Christi gelesen und interpretiert. So trat die interpretatio christiana neben die jüdische Auslegung, die seit dem Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr. in der Mischna gesammelt wurde 19 . 1.2 Kanonischer Intertext: Bedeutungsausweitung und Bedeutungssteigerung der Einzeltexte im Textcorpus Ein zweiter Aspekt betrifft den Entwicklungsprozess des inhaltlichen Anspruchs der neutestamentlichen Texte. Schon die Botschaft der meisten Einzeltexte des Neuen Testaments 20 ist die Botschaft einer universal 21 gerichteten Religion, die auf der literarischen, religiösen und ethischen Basis des Alten Testaments entworfen wird. Die Universalität der Botschaft ist Motiven und Themen der alttestamentlichen Schriften entnommen, wie: der Eine Gott, die Schöpfung und Weltregierung Gottes und die eschatologische Perspektive für die ganze Welt. Nach der Auffassung der Mehrheit 22 der Texte des Neuen Testaments beansprucht diese Botschaft direkte Bedeutung nicht nur für Israel, sondern für alle Menschen über die Völker, die Zeiten und die Kulturen hinweg. Die Texte des Neuen Testaments verstehen sich als Verschriftlichung eines oder mehrerer Aspekte dieser universalisierten religiösen Botschaft unter der neuen Überschrift des „Evangeliums von Jesus Christus“ 23 . Hier muss aber differenziert werden. Das „euaggélion“ wurde im frühen Christentum in zweifacher Gestalt formuliert und propagiert: zuerst in mündlicher Predigt und mündlichem Vortrag sowie seit den Briefen des Paulus und - etwas später - seit dem 19 Einführend: Z ELLENTIN , H.M., Art. Mishna, in: RGG 4 V (2002), 1263-1266; S TEMBERGER , G., Einleitung in Talmud und Midrasch, München 1992; N EUSNER , J., The Mishnah: Religious Perspectives, Leiden/ Boston/ Köln 1999. 20 Das gilt besonders für die Evangelien und die Paulusbriefe (außer dem Philemonbrief) sowie für Eph, Kol. 1 Joh und Hebr. 21 Zum Begriff Universalismus im Urchristentum vgl. B AUR , F.C., Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre, 2 Bände, Stuttgart 1845 [1866/ 67 2 , Neudruck 1968], und die Auseinandersetzung mit Baur bei bei B OYARIN , D., A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity. Berkeley/ Los Angeles/ London 1994. Weiter B ADIOU , A., Paulus - die Begründung des Universalismus, München 2002 (vgl. Anm. 126). 22 Das gilt nicht ohne weiteres für die johanneischen Schriften und die Offenbarung des Johannes. Auch bei anderen, sehr eng auf Gemeinden bezogenen Texten ist diese Perspektive nicht deutlich erkennbar. 23 Das gilt kaum für den Jakobusbrief und die Offenbarung des Johannes. <?page no="162"?> Oda Wischmeyer 162 Markusevangelium, mit dem die literarische Gattung „Evangelium“ ihren Anfang nahm 24 , auch in verschriftlichter Gestalt. Historisch gesehen waren also die neutestamentlichen Texte Sekundärphänomene des mündlichen euaggélion 25 . Bis ins 2. Jahrhundert liefen diese beiden Formen der Verkündigung des euaggélion nebeneinander her, ohne dass sich ein Bedeutungsvorsprung der frühchristlichen Texte vor der Predigt abzeichnet. Die Botschaft des euaggélion selbst war weder mit den mündlichen noch mit den verschriftlichten Versionen identisch. Vielmehr verstanden sich beide Versionen als Zeugnisse der Botschaft. Die frühchristlichen Schriften wurden also zunächst als Zeugnisse dieses euaggélion verfasst, verstanden, verbreitet und aufbewahrt. Im Zuge der Kanonisierung wurde das nun entstehende Neue Testament analog zur „Schrift“, d.h. der Septuaginta, behandelt, und das heißt: mit Gottes Wort in der Gestalt des euaggélion identifiziert 26 . Dadurch erhielten die neutestamentlichen Texte einerseits eine erweiterte Dignität und Bedeutung. Eine stets neue und aktualisierende Auslegung dieser Texte, die zunächst selbst nur Zeugnisse und ethische Auslegung göttlichen Handelns sein wollten, wurde notwendig. Andererseits wurde durch die Zusammenstellung thematisch und literarisch sehr unterschiedlicher Texte deren Interpretationsbreite gesteigert. Es entstand nun ein Textcorpus, in dem vielfältige Bezüge hergestellt, aufgedeckt und mit Sinn gefüllt werden konnten. Die altkirchliche Exegese arbeitete in diesem Raum der Intertextualität und füllte ihn mit kanonisch definierten, hermeneutischen Regeln der Textinterpretation. 1.3 Kanonische Textautorisierung: Autorisierungsprozesse statt Autoren Der dritte Aspekt gilt der Autorisierung der neutestamentlichen Texte. Die urchristlichen Texte sind zu einem kleinen Teil orthonym (echte Paulusbriefe und Offenbarung des Johannes 27 ), zum größeren Teil pseudonym oder anonym (die Evangelien 28 ) verfasst. Jesus selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen, und die historisch-kritische Exegese geht davon aus, dass auch von den 24 Vgl. B ECKER , E.-M., Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006. 25 Im Sinne der Linguistik lässt sich allerdings auch von mündlichen Texten sprechen, was die enge Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Neuen Testament gut abbilden kann. Zum Thema: B YRSKOG , S., Story as history - history as story. The Gospel tradition in the context of ancient oral history (WUNT 123), Tübingen 2000. 26 Vgl. W ISCHMEYER , O., Wort Gottes im Neuen Testament. Eine theologische Problemanzeige, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. von E.-M. B ECKER (WUNT 173), Tübingen 2004, 505-517. 27 Zum Verfasser der Offenbarung des Johannes vgl. einführend S CHNELLE , U., Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 2007 6 , 547-550 (Lit.). 28 Die Evangelienüberschriften sind spätere Zusätze: H ENGEL , M., Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH 1984/ 3), Heidelberg 1984, datiert sie zwischen 70 und 100 n.Chr. (vielleicht zu früh angesetzt). <?page no="163"?> Texte, Text und Rezeption 163 sogenannten Aposteln, vor allem von Petrus, Johannes dem Zebedaiden und dem Herrenbruder Jakobus, keine eigenen Schriften überliefert sind 29 . Die im Neuen Testament als Petrusbriefe, Jakobusbrief, Judasbrief und johanneische Schriften 30 überlieferten Texte sind mit großer Wahrscheinlichkeit pseudonyme Texte. Sie wurden von uns unbekannten Autoren verfasst, die sich apostolische Verfassernamen und -zuordnungen liehen 31 . Damit erhielten ihre Schriften eine besondere Autorität, denn sie galten als von „Aposteln“ verfasst und rückten in personale Nähe zu Jesus. Ihr sachliches Zeugnis trat als persönliches, eben „apostolisches“ Zeugnis auf 32 . Die anonym verfassten Evangelien 33 erhielten nachträglich Autorennamen, die sie in die Nähe apostolischer Überlieferung stellten 34 . Diese Tendenz, frühchristliche Schriften zu apostolischen Schriften zu machen, wird schon in den neutestamentlichen Schriften selbst deutlich, z.B. in den unterschiedlichen Fassungen des Abschlusses des Johannesevangeliums im 20. und 21. Kapitel 35 , dann auch in den später hinzugefügten Evangelienüberschriften. Die hermeneutische Bedeutung der Pseudepigraphie und der redaktionellen Bearbeitung von Texten liegt in dem Umstand, dass nicht mehr jeder Christ, der eine Schrift zum Thema des euaggélion von Jesus Christus verfasst, zum Zeugnis legitimiert ist, sondern nur noch der von Jesus autorisierte „Apostel“. Das sachliche Zeugnis vom euaggélion wird zum personalen Zeugnis: Garantie für die Wahrheit der apostolischen Botschaft bietet nur der Personenkreis, der im direkten Umkreis Jesu angesiedelt wird 36 . 29 Vgl. zu den sogenannten katholischen (allgemeinen) Briefen S CHNELLE , Einleitung, 421- 469 und 476-503. 30 Zu den johanneischen Schriften vgl. H ENGEL , M., Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993. 31 Vgl. einführend S CHNELLE , Einleitung, 321-325 (Lit.) und aus hermeneutischer Perspektive W ISCHMEYER , Hermeneutik, 34-38. 32 Historisch interessant ist bei diesem Vorgang erstens, dass damit das Selbstverständnis des Paulus als eines apostolischen Zeugen neben den anderen Aposteln (1Kor 9 und 15) zum Leitbild auch für die nichtpaulinischen neutestamentlichen Schriften wurde, zweitens dass der historiographisch ambitionierte Verfasser der Apostelgeschichte seinem Helden Paulus den Aposteltitel nicht beilegt. 33 Auch das Lukasevangelium nennt nicht den Verfasser, sondern nur den Gönner Epaphroditos. 34 H ENGEL , Die Evangelienüberschriften. Hengel hält den Verfassernamen Markus für das Markusevangelium allerdings für authentisch. Vgl. H ENGEL , M., Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: C ANCIK , H. (Hg.), Markus-Philologie (WUNT 33), Tübingen 1984, 1-45. Auch für Lukas und Johannes sind solche Überlegungen angestellt worden, vgl. S CHNELLE , Einleitung pass. 35 In Kapitel 21 wird deutlich die Stellung des Petrus mit der des Lieblingsjüngers, der im Johannesevangelium die zentrale Rolle spielt, abgeglichen. 36 Eine grundlegende Schwierigkeit ergab sich aus diesem Apostelbegriff für den ersten christlichen Autor: Paulus, der kein persönlicher Jünger Jesu war und sein Selbstverständnis als Apostel, das er aus seiner Berufungsvision nahm, stets verteidigen musste. Vgl. dazu F REY , J., Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen „Kollegen“, in: Biographie <?page no="164"?> Oda Wischmeyer 164 Die derart als apostolisch interpretierten Schriften wurden kanonisiert. Das zweite Kriterium neben der Apostolizität war die allgemeine Verwendung in den Kirchen, konkret die Verlesung in den Gottesdiensten, und die Übereinstimmung mit der regula fidei. Mit der Kanonisierung veränderte sich die Beziehung der Texte zur Botschaft des Evangeliums noch einmal. Sie waren nun nicht mehr nur sachliche oder persönliche Zeugnisse des euaggélion, sondern die Texte wurden mit der Botschaft identisch: Die Texte sind nicht nur Zeugnis für den Glauben an Jesus Christus (z.B. Joh 20,31), sondern werden selbst Gegenstand des Glaubens (z.B. Apk 22,18f.). Damit wurde eine direkt an den Texten orientierte Auslegung der neutestamentlichen Schriften sachlich notwendig, da diese nun mit der Ansage des „Heils“ identisch waren. Die Auslegung wurde zu einem vielgestaltigen und immer neuen Unterfangen, da die Texte in ihrem Wortlaut und damit in ihrem historischen und kulturellen setting konstant, d.h. ihrer Zeit und Sprache verbunden blieben, während sich die Rezipienten zeitlich, kulturell und religiös kontinuierlich von diesem setting entfernten. Die Texte mussten daher stets neu und zeitbezogen in die sich verändernden zeitlichen und kulturellen Welten ihrer Hörer- und Leserschaft und ihrer Ausleger übersetzt werden. Die aktualisierende Auslegung betraf nicht nur die sprachliche und historische Dimension der Schriften, sondern auch ihre religiöse und ethische Aussagenwelt: Textauslegung ereignete sich nun immer neu gleichermaßen als Rekonstruktion, Interpretation, Aktualisierung und Applikation. 1.4 Kanonische Textauslegung: Interpretationsgemeinschaften Der vierte Aspekt betrifft die Herausbildung und Differenzierung der Träger der Überlieferung und der Rezeption. Hüter und Tradenten 37 der neutestamentlichen Schriften, die den Heilsanspruch dieser Texte aufrecht erhielten, aktualisierten und propagierten, waren und blieben in erster Linie die christlichen Gemeinschaften und Kirchen mit ihren obersten Leitungsgremien, nämlich Synoden und Bischöfen sowie ihren gemeindeleitenden Personen: und Persönlichkeit des Paulus. Hg. von E.-M. B ECKER und P. P ILHOFER (WUNT 187), Tübingen 2005, 192-227. Noch schwerer wiegt ein zweites Problem: durch die Bindung der eigentlich pseudepigraphen Schriften des Neuen Testaments, die gerade nicht die Gestalt des historischen Autors betonen wollen und nicht historisch-biographisch bezüglich der Autorenschaft interessiert sind (im Gegensatz zu Paulus selbst), an historische Personen entsteht das historische Problem der „falschen“, prätendierten Apostolizität. Diese Apostolizität wird in der Alten Kirche seit Papias aufgebaut (zu Papias, 1. Hälfte 2. Jahrhundert vgl. S CHULZ -F LÜGEL , E., Art. Papias von Hierapolis, in: LACL 3 (2002), 545f.) und seit dem Humanismus in immer neuen Anläufen dekonstruiert. In diesem Zusammenhang erscheint die besonders im angelsächsischen Bereich zunehmende Tendenz, die apostolischen Autorenschaften als historische zu verstehen, merkwürdig. 37 Das bezieht sich natürlich zuerst auf die Kopisten der Texte, dann auf die kirchlichen Bibliothekare, erst danach auf die liturgisch-gottesdienstliche Verwendung der Texte und auf ihre Auslegung. <?page no="165"?> Texte, Text und Rezeption 165 Priestern und Pfarrern. Der Trägerkreis umfasst weit darüber hinaus idealiter alle Christen, er reicht auf jeden Fall faktisch tief in die christlichen Gemeinden hinein (schon Kol 4,16) - ein Umstand, an den die reformatorischen Kirchen anknüpften und den sie unter den Bedingungen ihrer Zeit befördert haben. So verstanden und verstehen sich alle Christen in unterschiedlicher Weise als Ausleger des Neuen Testaments. Das gilt in verstärkter Weise für die reformatorisch geprägten Christen bis hin zu gegenwärtigen evangelikal geprägten Hermeneutiken 38 . Neutestamentliche Hermeneutik stand daher von Anfang an in kirchlicher Verantwortung oder mindestens in frommer christlicher Trägerschaft, wenn auch ausgearbeitete Textauslegungen sowie Hermeneutiken der Bibel oder des Neuen Testaments vornehmlich Sache der Theologen wurden 39 . Daraus ergibt sich der Umstand, dass jede im Rahmen von Theologie entworfene neutestamentliche Hermeneutik sich immer vor Kirchenleitungen und sogenannten Laien verantworten musste, da ihr Gegenstand niemals als ein rein innertheologischer oder innerwissenschaftlicher verstanden wurde, sondern stets allen kirchlichen Gruppen gehörte und von diesen auch eingefordert wurde 40 . Dasselbe gilt für die Vielfalt christlicher Kirchen, Konfessionen und Denominationen. Alle christlich verfassten und nicht verfassten Gruppierungen berufen sich auf die Bibel Alten und Neuen Testaments und haben eigene Hermeneutiken im Sinne von Leseanweisungen zur Bibel entwickelt, die in einem bestimmten Verhältnis zu ihrer Identität stehen und diese mitbegründen oder ausdrücken. In dieser Perspektive agieren Theologen als eine der auslegenden kirchlichen Gruppierungen. Die Vertreter der Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, die sog. Exegeten, fungieren als Teilgruppe der Theologen, die gerade wegen ihrer Spezialisierung und Professionalität das Misstrauen der „Laien“ und Kirchenleitungen, aber auch der anderen theologischen Fächer auf sich zieht. Die Exegeten befinden sich zudem ihrerseits in bestimmten christlichen Gruppierungen und stehen in bestimmten konfessionellen Traditionen, weiterhin können sie bestimmten theologischen Schulen oder Typen angehören. Ihre Hermeneutik ist also mehrfach kirchlich, theologisch und konfessionell kontextualisiert. Zugleich werden die Exegeten im Lauf der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der christlichen Theologie seit dem 18. Jahrhundert immer deutlicher zu wichtigen Vertretern im theologisch-hermeneutischen Wettkampf. Die Hermeneutik des Neuen Testaments 38 Vgl. z.B. O SBORNE , G.R., The Hermeneutical Spiral. A Comprehensive Introduction to Biblical Interpretation, Downers Grove 2006 2 . 39 Einen eigenen Platz nimmt Spinoza ein, der eine der grundlegenden Bibelhermeneutiken entworfen hat, ohne Theologe zu sein (vgl. einführend R EVENTLOW , H., Epochen der Bibelauslegung. Band IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, 92-113 („Vernunft und Offenbarung trennen: Baruch de Spinoza“). 40 Besonders deutlich bei der feministischen Hermeneutik, die diesen Umstand nutzte, um sich kirchennah und damit einflussreich zu positionieren. <?page no="166"?> Oda Wischmeyer 166 wird eine Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft und als solche professionalisiert und von der allgemeinen theologischen Hermeneutik, die Gegenstand der Systematischen Theologie ist, getrennt 41 . Der Zusammenhang von Kanonisierung und Institutionenbindung stellt sich zusammengefasst folgendermaßen dar: Die ursprünglich als Einzeltexte verfassten kürzeren und längeren Schriften des Urchristentums wurden zunächst von Gemeinden und theologischen „Schulen“ 42 gesammelt, unter Umständen bearbeitet und weiterverbreitet und dann im Verlauf des zweiten bis 4. Jahrhunderts n.Chr. von den kirchenleitenden Institutionen zum Neuen Testament zusammengestellt und kanonisiert. Parallel zu diesem Kanonisierungsprozeß verliefen bereits seit dem 2. Jahrhundert, also noch während der Phase der Formierung des Kanons, die regional und traditionell vielfältigen Prozesse der Bibelauslegung und -anwendung. Diese konkretisierten sich in der liturgischen Verwendung der Bibeltexte, in ihrer Applikation in der Predigt 43 und Katechese sowie in der Kommentierung der neutestamentlichen Schriften. Diese - im weitesten Sinne christlichen 44 - Überlieferungs-, Lese-, Gebrauchs- und Verbreitungsgemeinschaften lassen sich aus hermeneutischer Perspektive als Interpretationsgemeinschaften 45 bezeichnen. In der Alten Kirche fielen kirchenleitende, gemeindeleitende und theologische Funktion häufig zusammen. Der Ortsbischof war eine gleichermaßen integrative wie autoritative Gestalt und für die Bibelauslegung sehr wichtig. Bischöfe oder Äbte, also kirchenleitende Personen, fungierten als Liturgen und Prediger, oft auch Exegeten und Kommentatoren der biblischen Schriften. In der gottesdienstlichen und literarischen Gattung der Homilie konnten sich beide Motive verbinden. In den Exegetenschulen in Alexandria und Antiochia entstand daneben so etwas wie eine selbständige exegetische Theolo- 41 Das wird sehr deutlich in der neuen Einführung in die Hermeneutik des Wiener systematischen Theologen U. H. J. Körtner, der die neutestamentlichen Hermeneutiken nur ganz kurz bespricht und gleichsam „technisch“ verortet: K ÖRTNER , U.H.J., Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, 75-79. 42 Vgl. die Diskussion um die „Schule“ des Paulus und die johanneische Schule bei S CHNELLE , Einleitung, 46-51 und 471-475. 43 Predigten über neutestamentliche Texte: S ACHOT , M., Art. Homilie, in: RAC XVI (1994), 148-175 (Lit.). Wichtig ist, dass die Homilien Kommentarcharakter hatten, d.h. vornehmlich der Texterklärung dienten, s. S ACHOT , RAC XVI, 158-160. Weiter: F IEDRO- WICZ , M., Art. Homilie, in: LACL 3 (2002), 340. 44 Hierzu zählt auch die Gnosis, die die ersten Kommentare hervorgebracht zu haben scheint (seit ca. 160/ 180 n.Chr.: der Kommentar des Gnostikers Herakleon zum Johannesevangelium). Vgl. F LADERER , L./ B ÖRNER -K LEIN , D., Art. Kommentar, in: RAC 21 (2006), 274-329, dort 312f. zum Verhältnis von Homilie und Kommentar. Vgl. auch Q UI- SINSKY , M./ W ALTHER , P. (Hgg.), Kommentarkulturen. Die Auslegung zentraler Texte der Weltreligionen. Ein vergleichender Überblick, Köln/ Weimar/ Wien 2007. 45 Der Begriff stammt von K.O. Apel (vgl. P OSER , H., Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung (RUB 18125), Stuttgart 2001, 227). Dazu auch M OST , G.W., Commentaries. Kommentare (Aporemata 4), Göttingen 1999. <?page no="167"?> Texte, Text und Rezeption 167 gie 46 . Insgesamt gilt, dass die altkirchliche Theologie eine der großen Zeiten der Exegese war, dass die Kirchenschriftsteller große Exegeten waren und dass die „Bibel“ den Hauptgegenstand theologischer Arbeit bildete 47 . 1.5 Normierender Paralleltext: Die Konstitution des einen kanonischen Textcorpus Ein fünfter Aspekt betrifft die Verbindung von Neuem Testament und regula fidei. Durch diese Verbindung, die ein wesentliches Kriterium für die Aufnahme der einzelnen urchristlichen Texte in den Kanon des Neuen Testaments darstellte, rückten alle neutestamentlichen Texte in die Nähe der regula fidei als eines normierenden Kurztextes. Hermeneutisch bedeutete dies, dass die Ansätze zu theologischer Normativität und Lehre, die schon in den Einzelschriften 48 vorhanden waren, die Elemente von Vielfalt 49 , Narrativität und visionären Szenerien sowie von ethischen und theologischen Mahnungen, Erwägungen, Ratschlägen und metaphorischer Rede zurückdrängten, so dass die neutestamentlichen Texte zur einen „Schrift“ oder dem Gesamttext wurden. Alle Texte haben in dieser Perspektive eine und dieselbe Botschaft, die sich auch in Form eines kurzen Bekenntnisses 50 darstellen lässt. Unterschiede und vor allem Gegensätze werden zum hermeneutischen Problem. Die Dialektik von tatsächlicher Vielfalt und geforderter Einheit basiert auf der Spannung heterogener Texte, die zu einem Textcorpus mit einer Aussage, die sich als Bekenntnis formulieren lässt, zusammengestellt werden. Hier liegt die Wurzel des hermeneutischen Problems von der einen Schrift und den vielen Aussagen. Die Suche nach der einen, der richtigen Auslegung der ursprünglich heterogenen Schriften datiert sachlich ebenso hierher wie die tiefe, von den Glaubensbekenntnissen geleitete Überzeugung, dass unterschiedliche Auslegungen gefährlich und der notwendigen Einheit der Schrift und der Kirche abträglich seien. 46 Vgl. P ÉPIN , J./ H OHEISEL , K., Art. Hermeneutik, in: RAC XIV (1988), 722-771 sowie F IEDROWICZ , M., Art. Exegese, in: LACL 3 (2002), 258-260. Vertiefend: K ANNENGIESSER , C. (Hg.), Handbook of Patristic Exegesis, Leiden 2000. Die weitere Geschichte der Bibelauslegung und der damit befassten Interpretationsgemeinschaften kann ich hier nicht darstellen (R EVENTLOW , H., Epochen der Bibelaulegung, 4 Bände, München 1990-2001). 47 Die weitergehende Formulierung von Andreas Merkt und Tobias Niklas: „Die Auslegung der Heiligen Schrift stellt nicht irgendeine Beschäftigung der antiken Theologen neben anderen dar. Vielmehr bildete Exegese die grundlegende Form theologischen Denkens im antiken Christentum“ (M EISER , M., Galater, Novum Testamentum Patristicum 9, Göttingen 2007, 6: Hinführung zur Reihe Novum Testamentum Patristicum) möchte ich mir nicht zueigen machen. Hier scheinen mir Hauptgegenstand und Denkform verwechselt zu sein, was zu einer einseitigen Interpretation der Theologie der Alten Kirche führen kann. 48 Besonders in den Spätschriften: katholische Briefe. 49 Vier Evangelien! 50 Zur regula fidei s. oben Anm. 5. <?page no="168"?> Oda Wischmeyer 168 In dieser Situation konnte die hermeneutische Figur vom mehrfachen Schriftsinn entlastend wirken 51 . Gleichzeitig erhalten gerade die kleinen und zum Teil eher situativen Texte im neutestamentlichen Kanon zusätzliches Gewicht, wenn ihre Übereinstimmung mit den zentralen Inhalten des Glaubensbekenntnisses behauptet wird. Für Texte wie beispielsweise den Jakobusbrief, dem jede Christologie fehlt, ergeben sich daraus unendliche hermeneutische Probleme. Wenig Beachtung hat ein anderer Umstand gefunden, dass nämlich die Überzeugung, die kanonischen Texte stimmten mit der regula fidei überein, die Bedeutung der Vielfalt und Eigenart der literarischen Gattungen und der narrativen, argumentativen, mahnenden oder apokalyptisch-visionären Darstellungsmodi sachlich entwertet. An die Stelle faktischer Vielfalt unterschiedlicher Texte tritt die hermeneutische Perspektive von der einheitlichen Lehre: die neutestamentlichen Texte enthalten Lehre über Gott, über Christus, über den Menschen und sein Heil und seine Bestimmung. Diese Perspektive wandelte den ursprünglichen Anspruch der Texte, euaggélion, Botschaft und Zeugnis, zu sein, nachhaltig um in die Perspektive, es handele sich um ein einheitliches Corpus von Lehrtexten 52 . Allerdings hat die Vereinheitlichungstendenz neue Vielfalt aus sich herausgesetzt. Die Vorstellung, es müsse ein Gravitationszentrum der neutestamentlichen Texte geben, hat zu sehr vielfältigen und unterschiedlichen Lösungen geführt: hermeneutische Grundregeln wie „die Mitte der Schrift“, „was Christum treibet“ oder „Liebe“ stehen nebeneinander. Konfessionelle, frömmigkeitsgeprägte und theologische hermeneutische Grundregeln haben Identitäten geprägt und Differenzen ausgearbeitet. In diesem Zusammenhang lässt sich das Verhältnis von der einen regula fidei und der Vielfalt der Texte des Neuen Testaments auch als Abbildung des Verhältnisses von euaggélion und neutestamentlichen Texten darstellen, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. Lassen sich die neutestamentlichen Schriften in ihrer Vielfalt als Entfaltung des einen euaggélion verstehen, so muss diese Vielfalt angesichts der knappen Lehrformel der regula fidei wieder vereinheitlicht werden. Dies wird eine der wesentlichen Aufgaben neutestamentlicher Hermeneutik. 51 Vgl. P ÉPIN / H OHEISEL , RAC XIV, 761-769 ausführlich zu den Unterschieden und Eigenarten der alexandrinischen und antiochenischen Schule. 52 Die Phrase vom „biblischen Zeugnis“, die gern in kirchlichen Verlautbarungen verwendet wird, verknüpft die Zeugnis- und die Lehrperspektive und bezieht beides auf die gesamte Bibel. <?page no="169"?> Texte, Text und Rezeption 169 2 Der Prozess der Dekanonisierung als Thema der Text- Rezeptions-Hermeneutik Das Neue Testament wurde in der Alten Kirche analog zum Alten Testament und in Übereinstimmung mit der regula fidei Teil des neuen Gesamttextes der „Bibel“ und damit zugleich Gegenstand frommer, verkündigender und gelehrter Auslegung und Anwendung in kirchlicher Verantwortung. Die Vielfalt der einzelnen Texte geriet nicht in Vergessenheit, dafür sorgten die Textbezogenheit der Predigt einerseits und die exegetische und homiletische Arbeit an den Einzeltexten andererseits. Aber die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Einzeltexte wurde durch den Gesamttext des Kanons gezähmt, durch den Prätext der Septuaginta hermeneutisch vorbestimmt, durch den Intertext der weiteren Texte des neutestamentlichen Kanons geschwächt und durch den normierenden Nachbartext der regula fidei vereinheitlicht, mindestens potentiell spannungsfrei gemacht. Damit wurde das hermeneutische Rahmenparadigma geschaffen, das bis in die Gegenwart die kirchliche und die theologische, besonders die systematische Bibelhermeneutik leitet und das allgemeine Bewusstsein von dem hermeneutisch sinnvollen Umgang mit den Texten des Neuen Testaments bestimmt 53 . Andererseits trat seit dem 18. Jahrhundert die historisch-kritische Bibelexegese neben das kirchliche Paradigma. Die historisch-kritische Bibelexegese, selbst aus der Theologie hervorgehend und größtenteils innerhalb der theologischen Fakultäten betrieben 54 , etablierte sich als alternativer Weg des theologischen Umgangs mit der Bibel unter wachsender Absehung von den kanonischen Vorgaben, die selbst historisch kontextualisiert und damit ent-dogmatisiert wurden 55 . Das hier kurz kirchlich-kanonisches Paradigma genannte Modell des hermeneutischen Umgangs mit den Texten des Neuen Testaments erhielt bleibende Konkurrenz in dem historischen Paradigma, ohne dass diese Entwicklung bisher theoretisch hinreichend durchdacht und in eine Bibel-Hermeneutik einbezogen worden wäre 56 . 53 Das gilt für die katholische und die protestantische Hermeneutik. 54 Vgl. dazu W ISCHMEYER , O., Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, in: Zeitschrift für Neues Testament 5 (2002), 13-36, und W ISCHMEYER , O. (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen 2003, hier besonders: L INDEMANN , A., Grundzüge und Erträge der kritischen neutestamentlichen Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Von der Tübinger Schule bis Rudolf Bultmann, in: a.a.O., 1-34, sowie W ISCHMEYER , O., Die neutestamentliche Wissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts. Überlegungen zu ihrem Selbstverständnis, ihren Beziehungsfeldern und ihren Aufgaben, in: a.a.O., 245-271. 55 Das gilt in gewisser Weise schon für die Reformation. Luther stellt das „Evangelium“ oder „was Christum treibet“ über den Kanon. 56 Die Hermeneutik Gerhard Ebelings bildet eine Ausnahme: E BELING , G., Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 189), Tübingen 1947. <?page no="170"?> Oda Wischmeyer 170 2.1 Kanonisierung: Das kirchlich-kanonische Paradigma Für eine historische und sachliche Auseinandersetzung mit diesem Paradigma ist zunächst die Wahrnehmung wichtig, dass das Paradigma wesentliche Desiderate erfüllt: • den Bedarf an Erklärung philologisch und sachlich schwieriger Texte (philologische Exegese) 57 • den Bedarf an Sinnerhebung des „Wortes Gottes“ aus den einzelnen Texten und Schriften (euaggélion oder Kerygma) 58 • den Bedarf an Formulierung ethischer Normen 59 • den Bedarf an Eindeutigkeit des Bekenntnisses 60 • den Bedarf an Sicherheit über die Glaubensgrundlagen • den Bedarf an Konformität der Propositionalgehalte sowohl in Bezug auf das Alte Testament als auch innerhalb der neutestamentlichen Schriften 61 • den Bedarf an Applikation der einzelnen Texte, Aussagen und Anweisungen. Diesen Desideraten sind vier theologische Überzeugungen gemeinsam, die hermeneutische Folgen haben: 1. Die Schriften des Neuen Testaments sind ebenso Gottes Wort wie die Schriften des Alten Testaments. Dahinter steht als theologisches Regulativ der Satz: Gott spricht seit jeher zu den Menschen. 2. Die sog. apostolischen Schriften sind authentische Zeugnisse aus der Umgebung und Nachfolge Jesu und als solche Gottes abschließendes Wort. Dahinter steht als theologisches Regulativ der Satz: Jesus Christus ist das endgültige Wort Gottes 62 . 3. Die Schriften des Neuen Testaments haben eine einheitliche religiöse und ethische Botschaft, und diese steht in einer sinnvollen Beziehung zu der analog verstandenen „Botschaft“ der Schriften des Alten Testaments. Dahinter steht als theologisches Regulativ der Satz: Gott kann sich nicht widersprechen 63 . 4. Allen Desideraten ist die hermeneutische Überzeugung gemeinsam, alle neutestamentlichen Texte hätten eine mehr oder weniger deutliche und direkte Beziehung zu jedem Rezipienten. Dahinter steht als theologisches Regulativ der Satz: Die Schriften des Neuen Testaments sind Offenbarung des Heils Gottes für alle Menschen. 57 Dies gilt schon für die Paulusbriefe aus der Sicht des 2. Petrusbriefes. Es ist hermeneutisch bedeutsam, dass die altkirchliche hermeneutische Wahrnehmung der Bibeltexte die Philologie auf einem hohen Niveau einschließt. 58 Dazu siehe oben. Dies gilt schon für Paulus in Bezug auf das Alte Testament: 1. Korinther 9. 59 Dies gilt schon für das Matthäusevangelium: Bergpredigt (Mt 5-7). 60 Dies gilt schon für die späten ntl. Schriften: 1. Johannesbrief. 61 Dies gilt schon innerhalb der synoptischen Evangelien. 62 Vgl. Hebr 1,1-2. 63 So schon bei Paulus in Römer 11. Ebenso die konzeptionellen Anfänge der Evangelien. <?page no="171"?> Texte, Text und Rezeption 171 Diese vier Regulative wurden von den Kirchenschriftstellern ausgearbeitet 64 . Sie haben seither die gesamte christliche Schriftlehre und Bibelhermeneutik bis in die Gegenwart hinein geprägt und haben weiterhin eine hohe Plausibilität im Rahmen der christlichen Religion und ihrer theoretischen Reflexionsinstanz, der sogenannten Systematischen Theologie. Die Bibel ist also ein Produkt der Alten Kirche und (dogmatisch gesprochen) an die Kirche bzw. (historisch gesprochen) an die Kirchen gebunden. Die Kirchen haben jede hermeneutische Beschäftigung mit den biblischen Schriften beeinflusst. Es gibt bis in die Gegenwart hinein keine bedeutende nicht-theologische und nicht christlich gebundene Bibelhermeneutik 65 . Unterschiedliche Interpretationsgemeinschaften gibt es nur innerhalb, nicht außerhalb der Kirchen und der christlichen Theologien: einzelne christliche Gruppen 66 , Gemeindehermeneutiken, Hermeneutiken geistlicher Institutionen (Orden u.a.), kirchliche Hermeneutiken, die seit der Reformation besonders der Bekenntnisbildung verpflichtet sind, und wissenschaftliche Hermeneutiken, die im Rahmen der Theologie als einer Universitätswissenschaft entstanden sind. In diesem letzten Bereich setzte die Kanonkritik ein, die seit dem 18. Jahrhundert zunehmend die wissenschaftliche Theologie prägt und hier unter dem hermeneutischen Gesichtspunkt der Kritik am kirchlich-kanonischen Paradigma bedacht werden soll. 2.2 Dekanonisierung: Kritik am kirchlich-kanonischen Paradigma Das kirchliche Paradigma erklärte die Einzeltexte frühchristlicher Autoren innerhalb des Textcorpus „Neues Testament“. Seitdem war die Hermeneutik des Neuen Testaments stets eine Hermeneutik nicht nur der Einzeltexte, sondern auch des Gesamttextes mit seinen universalen und normativen Ansprüchen und Geltungsbereichen. Gegen diese kirchliche Kanon- Hermeneutik hat sich ein stetiger Prozess der Kritik und Dekonstruktion formiert, der seit der Aufklärung immer mehr an Dynamik und Einfluss gewonnen hat. 67 Der bekannte Prozess der Befreiung der Theologie aus der selbstverschuldeten dogmatischen Unfreiheit, um Kant zu variieren, der in 64 Vgl. C AMPENHAUSEN , H. VON , Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968. 65 Die jüdische Hermeneutik des Tanak (z.B. Spinoza) betrifft nicht die christliche Bibel. Als alternative Teilhermeneutik ist sie aber von hoher Bedeutung. Die latente Hermeneutik eines rein historischen Umgangs mit den neutestamentlichen Texten stelle ich weiter unten dar. 66 Diese können durchaus häretisch im Sinne der jeweils führenden Kirche sein, sie bleiben nach ihrem Selbstverständnis stets christlich. 67 Vgl. dazu D OBSCHÜTZ , E. VON , Die evangelische Theologie. Ihr jetziger Stand und ihre Aufgaben. 2. Teil: Das Neue Testament, Halle 1927, 10: „Nicht genügend beachtet aber scheint mir, daß dieser stufenweisen Ausgestaltung des Kanons eine ebensolche Auflösung in der Neuzeit entspricht.“ Dobschütz hielt Luthers Theologie für den theologischen Zielpunkt der Dekanonisierung (A.a.O., 11 Anm. 1). Hier muss weitergedacht werden. <?page no="172"?> Oda Wischmeyer 172 der protestantischen Theologie begann, im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts von der katholischen Theologie rezipiert wurde, zur Entstehung der historisch ausgerichteten Bibelwissenschaften führte und hat nicht nur schwerwiegende Folgen für das Verständnis und die Einteilung der wissenschaftlichen Theologie, sondern auch für die Hermeneutik der „Bibel“. Diese wurde seit Johann Philipp Gabler (1753-1826) und Georg Lorenz Bauer (1755-1806) 68 immer stärker als kirchliche Sammlung zweier unterschiedlicher und selbständiger kanonischer Textcorpora verstanden, die unter je eigenen historischen und hermeneutischen Bedingungen zu lesen seien. Gablers programmatische Antrittsvorlesung in Altdorf 69 führte zunächst zur Ablösung einer „Biblischen Theologie“ von der Dogmatik, Georg Lorenz Bauer schrieb die erste biblische Theologie in zwei Teilen: Altes Testament (1796) und Neues Testament (1800-1802). Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich dann in der wissenschaftlichen, d.h. universitären Theologie der Differenzierungsprozess von alt- und neutestamentlicher Wissenschaft 70 , der im 20. Jahrhundert zur Trennung der Lehrstühle führte und auch die Fragen nach spezifischen Hermeneutiken der beiden Textcorpora und ihrer historischen oder theologischen Basis intensivierte 71 . Dieser Prozess vollzog sich in den beiden großen abendländischen Konfessionen sehr unterschiedlich, weist aber auch innerhalb des Protestantismus bedeutende und gegenwärtig zunehmende Differenzierungen auf. Ich konzentriere mich zunächst auf die deutsche protestantische Theologie, deren große kritische Vertreter von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) über 68 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung Gablers und Bauers vgl. M ERK , O., Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972. 69 Übersetzung der Rede aus dem Lateinischen bei M ERK , Biblische Theologie, 273-284. Vgl. auch N IEBUHR , K.-W./ B ÖTTRICH , C. (Hg.), Johann Philipp Gabler (1753-1826) zum 250. Geburtstag, Leipzig 2003, 15-41. 70 Er manifestierte sich im letzten Jahrhundert vollständig in der Trennung der betreffenden Lehrstühle und Institute. Es ist interessant, dass sich gegenwärtig in Deutschland unter religionspädagogischen Gesichtspunkten wieder Lehrstühle oder Professuren für „Biblische Theologie“ oder „Bibelwissenschaft“ entwickeln. 71 Die einflussreichen Hermeneutiken des Neuen Testaments: S TUHLMACHER , P., Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (GNT 6), Göttingen 1986 2 ; B ERGER , K., Hermeneutik des Neuen Testaments (UTB 2035), Tübingen 1999; W EDER , H., Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1989 2 ; S CHÜSSLER F IORENZA , E., Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, 1991 2 , beziehen sich sehr ausschließlich auf das Neue Testament. Der Prätext des Alten Testaments bleibt hermeneutisch unbedacht. Die Hermeneutiken des Alten Testaments haben sich ebenfalls selbständig entwickelt, ohne ihre Posttexte Neues Testament einerseits und Talmud andererseits gleichberechtigt und jeweils selbständig in den Blick zu nehmen. Die „Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments“ von C. D OHMEN und G. S TEMBERGER (Stuttgart 1996) behandelt breit und kenntnisreich die jüdische Schriftauslegung seit der rabbinischen Zeit, hat für die „Die Bibel Israels bei Jesus und im Neuen Testament“ aber nur drei Seiten (136-139). <?page no="173"?> Texte, Text und Rezeption 173 Johann Salomo Semler (1725-1791) 72 bis zu Ferdinand Christian Baur (1792- 1860) 73 reichen. Ihre Destruktion des Kanonbegriffs wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Kontext des sog. Historismus überführt 74 . Aus dieser Konstellation entwickelte sich nun in der deutschen Theologie ein eigenes Fach „Neutestamentliche Wissenschaft“, das auf historischer Basis die Entstehungsbedingungen und die Geschichte der frühchristlichen Kirchen, ihrer Religion, Theologie und Literatur untersuchte, sich trotz des streng historisch-kritischen Umgangs mit den sog. „Einleitungsfragen“ aber nicht untheologisch verstand, sondern in den Teildisziplinen der „Neutestamentlichen Theologie“ und der „Hermeneutik des Neuen Testaments“ 75 weiterhin den theologischen Zugang zu den neutestamentlichen Texten pflegte. Die historisch begründete Dekanonisierung, die sich klassisch in dem Diktum Ernst von Dobschütz’ (1870-1934) spiegelt: „Der Begriff Kanon gehört zu dem System von Garantien, mit denen die Katholische Kirche das Christentum gegen die Häresie schützte. Er hat innerhalb der evangelischen Theologie so wenig Daseinsberechtigung wie der der Sukzession“ 76 , wurde trotz so wichtiger und einflussreicher deutschsprachiger Lehrbücher wie der Einleitungen von Philipp Vielhauer 77 und Helmut Köster 78 nie wirklich realisiert. Das gilt auch für Ernst von Dobschütz selbst, der trotz seiner kritischen Bilanz zum Kanon nach wie vor die „biblische Theologie“ für den „krönenden Abschluß aller Bemühungen um das Neue Testament“ hielt und dabei natürlich die kanonische Schriftensammlung meinte. 79 So entstand trotz aller Kanon- Dekonstruktion auf der Basis eben des neutestamentlichen Kanons eine neue kanonisch geleitete Sonderhermeneutik, die innerhalb der Theologie mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft arbeitete, ihre Texte einerseits als Quellen verstand und das Verstehen der Texte mit der möglichst exakten Rekonstruktion der den Texten zugrunde liegenden historischen Welten gleichsetzte 80 und sich andererseits trotzdem im theologischen Kontext verortete, weil sie ihren Gegenstand, das Neue Testament, weiterhin als theologischen wahrnahm und an diesem Punkt dem Paradigma der kirchlich-kanonischen Hermeneutik verpflichtet blieb. Diese Beschreibung gilt für die der existentialen Interpretation und ihrer Hermeneutik verpflichtete Bultmannschule ebenso 72 Vgl. R AUPP , W., Art. Semler, Johann Salomo, in: BBKL XIV (1998), 1444-1473. Weiteres bei H ORNIG , G., Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 2), Tübingen 1996. 73 Vgl. B AUTZ , F.W., Art. Baur, Ferdinand Christian, in: BBKL I (1990), 427f. 74 F IGAL , G./ G RAF , F.W., Art. Historismus, in: RGG 4 III (2000), 1794-1796. 75 Wichtige Werke: vgl. Anm 1. 76 D OBSCHÜTZ , Das Neue Testament, 11. 77 V IELHAUER , P., Geschichte der christlichen Literatur, Berlin/ New York 1975. 78 K ÖSTER , H., Einführung in das Neue Testament, Berlin/ New York 1980 [engl. Ausgabe 1995²]. 79 D OBSCHÜTZ , Das Neue Testament, 48. 80 Vgl. dazu B ULTMANN , R., Theologie des Neuen Testaments. Epilegomena, Tübingen 1984 9 . <?page no="174"?> Oda Wischmeyer 174 wie für eher konservative Exegeten vom Schlage beispielsweise Theodor Zahns (1838-1933) 81 . Die erstaunliche Fruchtbarkeit der Exegese gerade der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bezieht einen Teil ihrer Dynamik weiterhin aus der letztlich dem Historismus verpflichteten Vision, die Ursprünge des Christentums mit den Mitteln der historischen Methode „richtig“ 82 zu rekonstruieren, die historischen Ergebnisse dieser Arbeit aber für theologische zu halten und von einer sachlichen Identität beider Bereiche auszugehen 83 . Die bedeutende Schule Martin Hengels verbindet in paradigmatischer Weise mit der historistisch gefärbten Anstrengung die Erwartung, gleichzeitig einer theologisch korrekten Hermeneutik des Neuen Testaments zu dienen, da sie „die Texte“ als die „fremden Quellen“ 84 versteht, die das Evangelium bezeugen 85 . Die Frage, wie das Verhältnis von historischer Quellenarbeit und gleichzeitiger Wahrnehmung dieser Texte als Träger von Heilsbotschaften zu denken sei, muss in diesem Paradigma nicht eigens beantwortet werden, da der Gegenstand als theologisch verstanden wird. Die historische Exegese hat daher in Deutschland trotz ihrer dogmenkritischen Anfänge nicht zu einer nichttheologischen Hermeneutik des Neuen Testaments geführt, sondern bleibt im Umfeld des „kirchlich-kanonischen Paradigmas“ angesiedelt, auch wenn sie ihre eigenen Hermeneutiken entworfen hat, die sich als Teilhermeneutiken der „Bibel“ als des kanonischen Rahmencorpus verstehen und weitgehend mit textnahen Auslegungs- und Methodenfragen einerseits und Textapplikation andererseits beschäftigt sind 86 . Daher gilt für die deutsche protestantische (und analog für die katholische) Exegese des Neuen Testaments weiterhin: Die Bibelhermeneutik auch in ihrer theologisch-universitären Spielart war und ist sowohl nach ihrem eigenen Verständnis als auch aus der Außenperspektive an die christliche, kirchliche und theologische Bibelinterpretation gebunden, weil und indem sie sich auf ein kirchlich-kanonisches Schriftencorpus bezieht. Diese Verbindung ist, wie wir sahen, berechtigt, denn ohne Kirche gäbe es keine Bibel, sondern lediglich unterschiedliche Einzeltexte und Textsammlungen israelitisch- 81 Vgl. W ESSELING , K.-G., Art. Zahn, Theodor, in: BBKL XIV (1998), 321-333. 82 Die Begriffe „richtig“ und „falsch“ werden auch gern in der amerikanischen Literatur zu den Forschungen zu den origins of Christianity und dem Ancient Judaism verwendet: vgl. z.B. bei B OYARIN , D., Paul, a Radical Jew, Berkeley 2007. 83 Vgl. dazu G. Ebeling (Anm. 56). 84 Vgl. dazu H ENGEL , M., Eine junge theologische Disziplin in der Krise, in: B ECKER , E.-M. (Hg.), Neutetsamentliche Wissenschaft (UTB 2475), Tübingen 2003, 18-29. 85 Diese hermeneutische Denkfigur liegt auch der im Übrigen sehr anders fundierten Hermeneutik Hans Weders zugrunde: W EDER , H., Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1989 2 . Vgl. dazu W ISCHMEYER , Hermeneutik, 10-14, und ausführlich S CHOLZ , S., Ideologien des Verstehens. Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder (NET 13), Tübingen 2008, 217-264. 86 Zu den Einzelheiten S CHOLZ , Ideologien des Verstehens, passim. <?page no="175"?> Texte, Text und Rezeption 175 jüdischer und frühchristlicher religiöser Literatur. Die kirchlich-kanonische Hermeneutik in ihrer theologischen Gestalt spiegelt die historische wie die zeitgenössische Bindung des Textcorpus an die Benutzer- und Interpretationsgemeinschaften der Kirchen. Andererseits gilt aber auch: Es ist eben diese enge, ja ausschließliche Bindung der Bibelhermeneutik an die Theologie, die gegenwärtig problematisch wird und die Bibelhermeneutik wie auch die Exegese in die wissenschaftliche Sackgasse der geduldeten Bedeutungslosigkeit führt - eine Situation, die gleichermaßen für die Kirchen als auch für die Universitäten und für den gesellschaftlichen Diskurs gilt. Eine sinnvolle Fortsetzung der Dekanonisierungsprozesse seit Gabler und Bauer in aktuellen wissenschaftlichen Kontexten wird demgegenüber das ausschließlich dogmatische Grundverständnis des Neuen Testaments als kanonischer Textsammlung, die wissenschaftlich ausschließlich von den neutestamentlichen Exegeten „veranstaltet“ wird, zugunsten unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugänge öffnen. Die Texte des Neuen Testaments können auch als sprachliche, historische, literarische, religiöse und kulturelle Texte außerhalb des kirchlich-kanonischen Paradigmas interpretiert werden. Das Neue Testament ist zugleich eine Sammlung von Texten und kanonischer „Text“, und d.h.: historischer, literatur- und religionswissenschaftlicher wie theologischer Gegenstand. Das hier entworfene Bild und seine inhärente Problematik sind in erheblichem Maße von der Sicht der deutschsprachigen Universitätstheologie geprägt. Auf die deutlich andere Situation in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern kann ich hier nur hinweisen 87 . Die Skepsis bekannter englischsprachiger Exegeten gegenüber der Notwendigkeit von Hermeneutik hat unterschiedliche Gründe: zunächst die stärkere Trennung universitärer Theologie von Kirchen und Denominationen, dann ein Verständnis von Theologie, das sich von der systematischen Theologie her entwirft und die exegetischen und historischen Fächer nicht als Bestandteil des theologischen Fächerkanons versteht. Die neutestamentliche Wissenschaft steht in diesem Wissenschaftsparadigma in dem deutlich historisch geprägten größeren Zusammenhang von „Origins of Christianity“ oder der Rekonstruktion der Late Antiquity und ist nicht auf die neutestamentlichen Schriften (und ihr jüdisches Umfeld) fokussiert, sondern bezieht sich auf die Gesamtheit der frühchristlichen und altkirchlichen Literatur in ihrem kaiserzeitlichen historischen, sozialen, literarischen, philosophischen und religiösen setting. Der Verzicht auf eine neutestamentliche Hermeneutik, wie er in dieser exegeti- 87 Vgl. allgemein The Oxford Handbook of Biblical Studies, ed. J.W. R OGERSON / J.M. L IEU , Oxford 2006 (vgl. Rez. von E.-M. Becker in ThLZ 2008, im Druck). R. Morgan (27-49) weist auf den Unterschied zwischen deutscher Hermeneutik und angelsächsischer Exegese hin („hermeneutical sophistication“, 32). Vgl. schon 1927 Dobschütz (Anm. 67), 3. T URNER , C.H., The Study of the New Testament, Oxford 1920 zählt in seiner Antrittsvorlesung in Oxford die Theologie des Neuen Testaments nicht zu den Aufgaben des Faches „Neues Testament“. <?page no="176"?> Oda Wischmeyer 176 schen Tradition weitgehend geübt wird 88 , wird einerseits durch historische Methodenbücher 89 , andererseits durch eine große Nähe zu kontextuellen Hermeneutiken - vor allem in Nordamerika - kompensiert. Auch die gegenwärtige Tendenz besonders der nordamerikanischen Exegese, weder die theologischen Propositionalgehalte und die theologischen Argumentationen neutestamentlicher Texte noch die Implikationen ihrer metaphorischen Sprache zu bedenken, sondern stets ausschließlich die Situativität und die literarischen Strategien auch von Texten wie dem Römerbrief zum alleinigen Gegenstand des Verstehens und der Interpretation zu machen 90 , versteht sich selbst anti-hermeneutisch, übersieht aber, dass ihr eine latente Hermeneutik innewohnt, die auf dem Vorurteil basiert, Texte seien nicht primär von ihren Sinnaussagen her zu interpretieren 91 . Die hermeneutische Bedeutung der Kanonisierung unter dem Gesichtspunkt der Rezeptionskategorie tritt hier so weit zurück, dass das - weiterhin bestehende - Interesse der angelsächsischen Exegese an den neutestamentlichen Texten sich kaum noch sachlich begründen lässt, sondern eher als traditionelle wissenschaftliche Haltung gelten muss. Denn es gibt in diesem post-theologischen Paradigma streng genommen keinen sachlichen Grund mehr für ein so spezialisiertes Text-Interesse 92 und für ein hauptsächlich mit diesen kanonischen Texten beschäftiges Fach. 2.3 Dekanonisierung in der Sicht der Text-Rezeptions-Hermeneutik Unter dem Stichwort der Rezeption stellt sich nun der Prozess der Dekanonisierung des neutestamentlichen Kanons in einer spezifischen Weise dar, und dabei erweist sich die hermeneutische Qualität des Rezeptionsbegriffs. Die Kategorie der Rezeption bewahrt davor, das Phänomen der Kanonisierung gleichsam ungeschehen machen zu wollen und damit jener Negation der historischen Prozesse zu folgen, die zuerst die Reformation mit ihrem Ruf nach dem (normierenden) Ursprung bewusst in Kauf nahm, indem sie den Umstand vernachlässigte, dass „die Bibel“ ein Geschöpf der Kirche ist, und die dann seit der Aufklärung bewusst dekonstruiert wurden. Unter dem Stichwort der Rezeption stellt sich nun der Prozess der Dekanonisierung des neutestamentlichen Kanons in einer spezifischen Weise dar, und dabei erweist sich die hermeneutische Qualität des Rezeptionsbegriffs. Die Kategorie der Rezeption bewahrt davor, das Phänomen der Kanonisie- 88 Anders evangelikale Hermeneutiken (Anm. 38). 89 Exemplarisch: Handbook to Exegesis of the New Testament. Ed. by S.E. P ORTER , Leiden/ New York/ Köln 1997. 90 J EWETT , R., Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 1-91. 91 Vgl. dagegen S CHNELLE , U., Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen 2007 6 , 15-46, der freilich die Kategorie der Sinngebung sehr strapaziert. Das geschichtsbildende Konzept der Sinnbildung stammt von R ÜSEN , J., Historische Methode und religiöser Sinn, in: ders., Geschichte im Kulturprozess, Köln 2002, 9-41. 92 Weshalb braucht man einen Römerbriefkommentar von 1000 Seiten? <?page no="177"?> Texte, Text und Rezeption 177 rung gleichsam ungeschehen machen zu wollen und damit jener Negation der historischen Prozesse zu folgen, die zuerst die Reformation mit ihrem Ruf nach dem (normierenden) Ursprung bewusst in Kauf nahm, indem sie den Umstand vernachlässigte, dass „die Bibel“ ein Geschöpf der Kirche ist, und die dann in den dargestellten Dekonstruktionsprozessen seit der Aufklärung ganz in den Hintergrund treten. Wir beobachten zwei hauptsächliche Erscheinungsformen dieser bewussten Vernachlässigung der Rezeptionsgeschichte der neutestamentlichen Schriften. Die erste, die frühneuzeitliche, Spielart galt lediglich der Befreiung von den „Fesseln“ der Auslegungstradition der Kirche, um zu den Texten selbst zu kommen, wobei diese Texte noch mehr oder weniger mit den kanonischen Schriften identisch waren 93 . Dies hermeneutische Paradigma des Humanismus 94 , das von der Reformation übernommen und christologisch und wort-theologisch überformt wurde 95 , hat sich historisch und theologisch als äußerst fruchtbar erwiesen. Hier wird bewusst der historische Umstand vernachlässigt, dass die Kanonbildung, wie wir bereits sahen, ein Werk der Kirche war. Die Reflexion auf die Kanonbildung wird durch die metahistorischen theologischen Kategorien von „Jesus Christus“, dem „Wort Gottes“ und dem einen „Evangelium“ 96 ersetzt 97 . Diese Konzeption annuliert den historischen Prozess der Entstehung des Kanons zugunsten des zentralen metahistorischen Theologumenons „Wort Gottes“ und führt zu einer entsprechenden Hermeneutik, die die neutestamentlichen Texte nach ihrer Nähe zum „Evangelium“ versteht und an diesem Punkt zugleich durchaus historisch zutreffend die Sache der Texte und ihrer Zeugnisstruktur, der Deklaration des euaggélion, vor dem Text(corpus) führt. Die zweite Phase der bewussten Vernachlässigung der Rezeptionsgeschichte der neutestamentlichen Schriften beginnt mit den großen Werken der Kanonkritik seit Johann Salomo Semler 98 und ist bis zur Gegenwart nicht abgeschlossen 99 . Jetzt geht es um bewusste Dekonstruktion eines kirchlichen normativen Schriftencorpus, das die Versprechungen auf Authentizität nicht hält, sondern sich der historischen Ungenauigkeit schuldig gemacht hat. Der historischen Destruktion und sachlichen Geringschätzung des Kanons entspricht die Konstruktion eines neuen, ganz virtuellen „historischen“ Kanons 93 Ausnahmen sind z.B. der Jakobusbrief und die Johannesoffenbarung bei Luther. 94 Dieser Vorstellung liegt die humanistische Devise „ad fontes“ zugrunde. 95 Statt „ad fontes“ gilt „Gottes Wort“ ohne die kirchliche Auslegungstradition. 96 Vgl. einführend S CHINDLER , A., Art. Kanon II. Kirchengeschichtlich, in: RGG 4 IV (2001), 767-770. 97 So noch in der heutigen Kanon-Dogmatik: „Der Kanon imponiert sich selbst“ (Eberhard Jüngel). 98 „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“, 4 Bände, Halle 1771-1775 (Weiteres Anm. 2). 99 Ausnahme: die Restauration der bibeltheologischen Perspektive. <?page no="178"?> Oda Wischmeyer 178 der „Schriften des Urchristentums“ 100 , der à la longue aber mit der Gesamtheit nicht nur der frühchristlichen, sondern auch der frühjüdischen und frühgnostischen Schriften zusammenfallen muss, da die historischen Grenzen zwischen diesen Schriften zunehmend unklarer werden. Die angelsächsische Exegese hat diesen Raum auf die Gesamtheit der spätantiken Texte, soweit sie Belange der Religion betreffen, ausgedehnt. Weder die historische noch die hermeneutische Bedeutung dieser Entgrenzung kann hoch genug geschätzt werden. Erst die Dekonstruktion des Kanons gibt den Blick auf die Kräfte der formativen Epoche der christlichen Literatur frei, die zwischen Judentum und paganer Theologie und Ethik ihren eigenen Weg suchen musste. Die Summe der neutestamentlichen Schriften, die den Kanon des Neuen Testaments bildeten, entsprang nicht wie Athene in voller Rüstung dem Haupt des Zeus, sondern die Identität des Frühen Christentums, die im 4. Jahrhundert auch am Kanon festgemacht wurde, bildete sich erst im Prozess der Kanonisierung bzw. Nicht-Kanonisierung frühchristlicher Schriften heraus. Erst die Dekonstruktion des Kanons ermöglicht das Verständnis für die Prozesse in der formativen Epoche des Christentums, an deren Ende, nicht etwa an deren Anfang die christliche Kirche und der christliche Kanon standen 101 . Andererseits ermöglicht es das Verständnis der Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften als eines eminenten Rezeptionsvorganges, sich der ja ebenfalls historischen Frage zu widmen, weshalb (nur) bestimmte frühchristliche Schriften kanonische Geltung erhielten, inwieweit die Rezeption an Potentiale in den Texten anknüpfen konnte, wer die Rezeptionsprozesse steuerte und wie diese Rezeption ihr exegetisches und hermeneutisches Schicksal bestimmte. Damit wird vermieden, den Kanonisierungsprozess, der den neutestamentlichen Einzeltexten eine erhöhte Wirkung gesichert und zusätzliche Sinnpotentiale vermittelt hat, lediglich als historischen „Unfall“ zu verstehen, den man wissenschaftlich ungeschehen machen müsse. Die hermeneutische Verwendung der Rezeptionskategorie ermöglicht eine differenzierte Sicht auf den Kanonisierungsprozess und auf die Textsammlung „Neues Testament“. Einerseits wird die historische und kirchliche Entstehung des kanonischen Neuen Testaments nicht durch eine teleologische und 100 Hier gibt es viele Spielarten von V IELHAUER , Geschichte der urchristlichen Literatur, und K ÖSTER , H., Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit, Berlin/ New York 1980, über Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von K. B ERGER und C. N ORD , Frankfurt am Main/ Leipzig 1999, bis zu T HEIßEN , G., Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SHAW.PHK 40), Heidelberg 2007. Die anglo-amerikanische Forschung zu den Origins of Christianity ist besonders großzügig, was die Einbeziehung der gnostischen Schriften in diesen Zusammenhang anbetrifft. 101 Vgl. die analogen Überlegungen zum Koran bei N EUWIRTH , A., Der Koran - europäisch gelesen. Warum es nötig und sinnvoll ist, den heiligen Text des Islams historischkritisch zu edieren und zu kommentieren, in: NZZ Nr. 73 (29./ 30. 3. 2008), 30. <?page no="179"?> Texte, Text und Rezeption 179 normative Kanon-Theologie verunklärt oder verfälscht, andererseits wird die Kanonisierung als eine eigene hermeneutische Anstrengung gewürdigt. Damit erweist sich die rezeptionsgeschichtliche Perspektive als ein eigenes hermeneutisches Paradigma, das ich verkürzt als Text-Rezeptions-Hermeneutik bezeichne. Es versteht die Kanonisierung nicht als anti-hermeneutischen, sondern als großen hermeneutischen, d.h. auslegenden und sinngebenden historischen Vorgang, der nicht gegen die Texte gerichtet ist und sie verfälscht, sondern ihnen zusätzliche Bedeutung gibt. Die Text-Rezeptions- Hermeneutik versteht die Entwicklung der Texte hin zu der einen kanonischen Textsammlung, die neue Posttexte aus sich heraussetzt, als eine Kette hermeneutischer Vorgänge. Weder normiert der Kanon die Einzeltexte, noch erhalten die ursprünglichen Einzeltexte gleichsam historisch-normativen Charakter. Auch die Posttexte der auslegenden und anwendenden Literatur sind produktiv in den hermeneutischen Prozess einbezogen. Die Kirchenväterexegese ist nicht als normativ oder mindestens eminent zu verstehen, wie eine neue katholische Tendenz es will 102 . Dasselbe gilt für die reformatorische Exegese auf protestantischer Seite. Andererseits wird im Text-Rezeptions- Paradigma beispielsweise Luthers Paulusexegese und die dahinterstehende reformatorische Hermeneutik nicht einfach pauschal als „falsch“ verstanden, wie es in der angelsächsisch dominierten new perspective on Paul geschieht. Vielmehr lassen sich in der historisch grundierten Perspektive der Text- Rezeptions-Hermeneutik die großen hermeneutischen Paradigmen der Auslegungsgeschichte als hermeneutische Möglichkeiten verstehen, die die Weite des Sinnpotentials der Texte und die hermeneutischen Modelle der Interpreten aufdecken. 2.4 Das Verhältnis von neutestamentlicher Wissenschaft und Hermeneutik des Neuen Testaments Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass bei einem Entwurf einer Hermeneutik des Neuen Testaments die Etablierung der neutestamentlichen Wissenschaft als einer selbständigen theologischen Disziplin berücksichtigt werden muss, da sie einen wichtigen Bestandteil des historischen Paradigmas darstellt 103 . Das heißt zugleich, dass es bei dem Entwurf einer neutestamentlichen Hermeneutik stets auch um eine Aufgabenbestimmung der neutestamentlichen Wissenschaft geht. Unabhängig von dem Grad der wissenschaftlichen Reflexion bestimmt faktisch jede Hermeneutik des Neuen Testaments implizit oder explizit das Verhältnis zwischen neutestamentlicher Wissenschaft, neutestamentlicher Exegese mit ihren Methoden und neutestamentlicher Hermeneutik. Und ebenso gilt, dass jede Konzeption der neutestamentlichen Wissenschaft der Hermeneutik des Neuen Testaments 102 Vgl. Anm. 47. 103 Neben der alttestamentlichen Wissenschaft und der Kirchengeschichte, besonders der Theologiegeschichte. <?page no="180"?> Oda Wischmeyer 180 einen bestimmten Platz zuweist. Je nach Selbstverständnis der Disziplin gehört die Hermeneutik der Schriften des Neuen Testaments zu den klassischen Aufgabenstellungen des Faches 104 , oder sie erscheint als überflüssig 105 , weil entweder die exegetischen Methoden als ausreichendes interpretatorisches Instrumentarium verstanden werden 106 oder die Hermeneutik der Texte der Theologie, d.h. der systematischen Theologie überlassen wird. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik trägt hier zu klarer Differenzierung bei. Die Exegese geht den Weg von der kanonischen Textsammlung zurück zu den vorkanonischen Einzeltexten und deren literarischer und vorliterarischer Vorgeschichte. Die selbständigen Texte der kanonischen Sammlung „Neues Testament“ werden mit den gegenwärtigen synchronen und diachronen Methoden der Textinterpretation erschlossen. Das Verstehen und die Interpretation der Texte ist die Aufgabe der Exegese, die zusätzlich zu den klassischen historisch-philologischen Methoden das Methodeninstrumentarium der Textlinguistik und der Literaturwissenschaften heranzieht 107 . Eine eigene materiale Hermeneutik, die den kanonischen Status der Texte ins Spiel bringt, ist hier nicht notwendig 108 . Sinnvoll und hermeneutisch aufschlussreich ist aber eine Analyse und Reflexion der zugrunde liegenden hermeneutischen Prinzipien, d.h. der Grundlagen des Selbstverständnisses der exegetischen Arbeit. Hier befindet sich der sachliche Schnittpunkt zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und neutestamentlicher Hermeneutik. Die latente Hermeneutik der klassischen Exegese lässt sich am ehesten als Quellenhermeneutik beschreiben, wie Ernst Troeltsch (1865-1923) sie ausgeführt hat. 109 Ihre Fragestellungen bewegen sich in historischer und textbezogener Perspektive. Die synchronen Fragestellungen führen dagegen zu einer latenten oder ausformulierten Texthermeneutik, die mit den Kategorien der Sprach- 104 So z.B. in der Ergänzungsreihe zum NTD (Zur Hermeneutik P. Stuhlmachers Anm. 1). 105 So in Teilen der angelsächsischen Bibelwissenschaft. 106 So in der angelsächsischen Bibelwissenschaft. Vgl. dazu W ISCHMEYER , Herkunft und Zukunft der Neutestamentlichen Wissenschaft (Anm. 2), 245f. zu dem Artikel „Biblical Criticism“ des Anchor Bible Dictionary: „Die unterschiedlichen Methoden [...] machen das Fach aus“ (246). Sehr unklar bei S CHNELLE , U., Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB 1253), Göttingen 2005 6 ,171-208, und ähnlichen ntl. Methodenbüchern, wo stets „Hermeneutik“ als eine zusätzliche Methode erscheint (vgl. dagegen W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, passim: hier werden die Methoden und die Hermeneutik systematisch zugeordnet). Jede Methode hat textklärende Potentiale, die eine Hermeneutik theoretisch darstellt. 107 Hier sind Religionsgeschichte und Sozialgeschichte eingeschlossen. 108 Daher ist auch eine Revitalisierung der Kirchenväterexegese dann anachronistisch, wenn sie als Alternative zur gegenwärtigen synchronen und diachronen Exegese eingesetzt wird (vgl. Anm. 47). 109 T ROELTSCH , E., Gesammelte Schriften. Band 2.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 729-753. Troeltsch formuliert die Kriterien: Kritik, Analogie und Korrelation. Würdigung für die neutestamentliche Hermeneutik bei W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 49-53. <?page no="181"?> Texte, Text und Rezeption 181 und Literaturwissenschaften arbeitet 110 . Die Stellung der Texte im kanonischen Textcorpus hat die Texte mit einem erhöhten Sinn- und Autoritätspotential ausgestattet, das im Rahmen einer „Theologie des Neuen Testaments“ dargestellt werden kann. In diesem Zusammenhang kann die Hermeneutik unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen: sie kann als eine auf den neutestamentlichen Aussagen zum Wort Gottes basierende Wort-Hermeneutik 111 oder Glaubenshermeneutik 112 im Sinne eines eigenen theologischen Beitrags konzipiert werden oder applikative Aufgaben erfüllen 113 . Die Text-Rezeptions- Hermeneutik macht aber deutlich, dass diese Aufgaben nicht im Bereich der Textinterpretation, sondern der Textrezeption verortet sind. Stets ist also die Hermeneutik des Neuen Testaments, sei sie als Theorie des Verstehens oder als Instrumentarium der Interpretation konzipiert, von der Rolle abhängig, die ihr die neutestamentliche Wissenschaft zuweist oder die sie sich selbst im Rahmen der neutestamentlichen Wissenschaft erstreitet: manifest als eigene theoretische Disziplin der neutestamentlichen Wissenschaft, implizit als Perspektive der Wissenschaftler auf ihre Texte und Gegenstände oder aber annulliert und als überflüssig oder gar schädlich beurteilt. 3 Das Paradigma der Text-Rezeptions-Hermeneutik im Kontext anderer neutestamentlicher Hermeneutiken Die Text-Rezeptions-Hermeneutik des Neuen Testaments basiert auf den linguistischen und literaturwissenschaftlichen Begriffen von Text und Rezeption. Diese Termini erschließen die Einzeltexte und das kanonische Textcorpus in ihrer hermeneutischen Bedeutung, indem sie die historische Dimension der Kanonisierungs- und Dekanonisierungsprozesse als hermeneutische Dimension darstellen. Sie stellen damit gleichermaßen die Verbindung zu den theologischen Disziplinen der Exegese, der Kirchengeschichte und der systematischen Theologie wie zu den Text- und Literaturwissenschaften mit der Definition des Textbegriffs und der Text-, Rezeptions- und Kanonforschung her 114 . Das Paradigma befindet sich damit im Fadenkreuz anderer Hermeneutiken, die ihrerseits theologisch oder geisteswissenschaftlich modelliert sind 115 . Die Text-Rezeptions-Hermeneutik geht von der Situation unterschiedlicher wissenschaftlich-theologischer (dogmatischer, exegetischer, praktischtheologischer) und geisteswissenschaftlicher (literaturwissenschaftlicher, 110 So O. Wischmeyer (Anm. 8). 111 So H. Weder (Anm. 71). 112 . So P. Stuhlmacher (Anm. 71). 113 So K. Berger und E. Schüssler Fiorenza (Anm. 71). 114 Kanon in den Literaturwissenschaften: vgl. einführend R OSENBERG , R., Art. Kanon, in: RDLW II (2000), 224-227. 115 Vgl. dazu S CHOLZ , Ideologien des Verstehens (Anm. 85). <?page no="182"?> Oda Wischmeyer 182 religionswissenschaftlicher) Interpretationsgemeinschaften und Hermeneutiken aus. Sie distanziert sich von theologisch-systematischen Hermeneutik- Modellen, sofern sich diese als maßgebend und leitend verstehen und einen eigenen Verstehensbegriff und eine Spezial-Hermeneutik für das Neue Testament voraussetzen, ebenso wie von einer generellen Kulturhermeneutik, die den Textbegriff metaphorisch dehnt und die Besonderheiten schriftbezogener kultureller Systeme und Textkulturen wie derjenigen des Neuen Testaments nur unzureichend präzise beschreibt. Ihren eigenen Platz sieht die Text-Rezeptions-Hermeneutik neben diesen Paradigmen. Im Folgenden grenze ich die Text-Rezeptions-Hermeneutik als eigenes hermeneutisches Paradigma von anderen hermeneutischen Paradigmen ab und mache ihre Eigenart und ihre Leistungen deutlich. Der Ausblick auf eine Auseinandersetzung mit der kulturwissenschaftlichen Hermeneutik ist zugleich konzeptionell und experimentell. 3.1 Hermeneutica sacra Dies Konzept fasst die kirchlich-kanonische und die theologisch-dogmatisch und konfessionell oder frömmigkeitsbezogen basierten Hermeneutiken des Neuen Testaments unter dem Stichwort hermeneutica sacra 116 zusammen. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik setzt sich von jeder hermeneutica sacra ab, die für das Neue Testament eine eigene Hermeneutik - basierend auf dem Bekenntnis, dem Glauben oder mindestens einem positiven Vorverständnis, dem Einverständnis 117 , der Frömmigkeit 118 oder der Tat - fordert. Die Text- Rezeptions-Hermeneutik erkennt die hermeneutica sacra nicht als leitenden Verstehensschlüssel an, sondern kontextualisiert sie historisch, soziologisch 119 und wissenschaftssystematisch im Paradigma der Rezeptionsgeschichte bzw. Rezeptionsästhetik. Die verschiedenen Spielarten der hermeneutica sacra, die in ihrer langen Geschichte und ihren theologisch, konfessionell und frömmigkeitsgeschichtlich unterschiedlichen Erscheinungen bisher hauptsächlich die Bibelhermeneutik bestimmt haben, werden in der vorliegenden Hermeneutik daher als Rezeptionsphänomene behandelt. Sie werden nicht vernachlässigt, abgelöst oder als hermeneutisch unsachgemäß verstanden, sondern in einen neuen hermeneutischen Horizont gestellt, in dem sie nicht die leitende 116 Sie umfasst nicht nur die kirchlich-kanonische Hermeneutik, sondern auch fromme Individual- oder Gruppenhermeneutiken. Die theoretische Leistung dieses Hermeneutiktypus ist hoch, zugleich reicht sie tief in die applikativen Räume hinein. Ein gutes Beispiel der hermeneutica sacra von der lutherischen Seite her stellt eine Veröffentlichung des Lutherischen Weltbundes dar: B OETTCHER , R. (ed.), Witnessing to God’s Faithfulnuss. Issues of Biblical Authority (Lutheran World Federation Studies 2006), Geneva 2006. 117 Vgl. dazu S TUHLMACHER , Vom Verstehen des Neuen Testaments, 7f., 222-256, hier: 242. 118 Gegenwärtig meist Spiritualität genannt. 119 Bezogen auf die verschiedenen Interpretationsgemeinschaften der christlichen Kirchen, Traditionen, Gruppierungen und theologischen Richtungen. <?page no="183"?> Texte, Text und Rezeption 183 Funktion haben, sondern als ein wesentlicher Aspekt des Verstehens behandelt und in ihren historischen und theologischen Kontexten plausibel gemacht werden. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik des Neuen Testaments entwirft sich also weder von kirchlichen oder frommen Hermeneutiken noch von der Systematischen Theologie her und arbeitet, da sie nicht innerhalb der Systematischen Theologie angesiedelt ist, auch nicht primär mit dem spezifisch systematischtheologischen Begriffsapparat. Sie wurde vielmehr im Rahmen der neutestamentlichen Wissenschaft entwickelt und macht in der Tradition Schleiermachers die Hermeneutik des Neuen Testaments wieder zu einer allgemeinen Verstehensaufgabe, die von jenen Wissenschaften geleistet wird, die primär dem Verstehen und der Interpretation komplexer Texte gewidmet sind. Daher verwendet sie über die Methoden und die Hermeneutik der klassischen und modernen Philologie hinaus leitende Kategorien der Textwissenschaften und der Literaturwissenschaften, zentriert um die textwissenschaftlich und literaturwissenschaftlich bestimmten Begriffe des Textes und der Rezeption. Aus der Perspektvie des Text-Rezeptions-Paradigmas stellt sich die hermeneutica sacra als eine binnenkirchliche, unter Umständen binnentheologische Hermeneutik dar, da sie bestimmte Varianten einer vorausgehenden Zustimmung zu den kanonischen Texten fordert. Im geistes- und kulturwissenschaftlichen Rahmen können derartige normative und kanonische Ansprüche durchaus wahrgenommen und in ihrer hermeneutischen Bedeutung gewürdigt, nicht aber als individuelle Haltung eingefordert werden, die Verstehen erst möglich macht 120 . Sie werden vielmehr als Modi hermeneutischer Theorien zum Neuen Testament oder aus ideologiekritischer Sicht als Ideologien des Verstehens interpretiert, die ihren Vertretern die Deutungshoheit über die Texte sichern wollen 121 . 3.2 Quellenhermeneutik Die Text-Rezeptions-Hermeneutik des Neuen Testaments setzt sich zweitens von dem Paradigma der Quellenhermeneutik ab, die seit dem 18. Jahrhundert mit der hermeneutica sacra um die Leitung in der Bibelhermeneutik streitet und gegenwärtig in Gestalt der kritisch-historischen Exegese die Bibelauslegung weitester Bereiche mindestens der protestantisch und katholisch verantworteten Universitätstheologie in Europa und Nordamerika 122 dominiert. Die Ausarbeitung ihrer Methodik - in der „historisch-kritischen Methode“ 120 Vgl. Anm. 112. 121 Zu diesem zentralen Aspekt vgl. die Analysen bei S CHOLZ , Ideologien des Verstehens, 15-30. Im theologischen Kontext geht es um die Deutungshoheit der Systematischen Theologie, im kirchlichen Kontext um kirchliche und konfessionelle Hermeneutiken. 122 Zur Binnendifferenzierung zwischen vor allem deutschsprachiger und angelsächsischer historischer Exegese vgl. Anm. 87. <?page no="184"?> Oda Wischmeyer 184 zusammengefasst und theoretisch von Ernst Troeltsch 123 formuliert - war eines der entscheidenden Ereignisse nicht nur in der Geschichte der Exegese, sondern auch in der Geschichte der Bibelhermeneutik. Die Quellenhermeneutik versteht die biblischen Texte und Schriften im Zusammenhang des klassischen historischen Paradigmas von Rekonstruktion und Interpretation von Geschichte aufgrund von Quellen. Im Vordergrund stehen die Einzeltexte vor ihrer Kanonisierung als Träger geschichtlicher Implikationen. Die Texte werden historisch verstanden, d.h. selbst auf ihre Vor- und Entstehungsgeschichte und ihre historische Situierung hin befragt und zugleich als Indikatoren der Geschichte ihrer Träger- und Rezipientenkreise verstanden. Die Dekanonisierung als historische Kategorie ist in diesem Paradigma eine sachliche Notwendigkeit. Die Kanonisierung dagegen, d.h. die Nachgeschichte des Textes, wird ausschließlich als hermeneutisches Hindernis auf dem Weg zu einem sachgemäßen Verstehen der Einzeltexte verstanden. Der hermeneutische Weg führt von dem kanonischen Textcorpus zurück zu den Einzeltexten. Der Prozess der Kanonbildung ist dann Thema der Kirchengeschichte. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik übernimmt diese Hermeneutik der historisch-kritischen Forschung und entwickelt sie weiter. Sie hält den Umstand, dass es sich bei den neutestamentlichen Schriften um antike Texte handelt, für hermeneutisch essentiell. Sie versteht aber auch die historische Perspektive nicht als einzige oder allein leitende Perspektive der neutestamentlichen Hermeneutik, sondern verwendet sie als eine entscheidende Methode des Verstehens der biblischen Texte. Sie deckt außerdem die latente historische Quellenhermeneutik verschiedener exegetischer Strömungen auf, die sich antihermeneutisch verstehen. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik reflektiert besonders die historischkritische Methode in ihrer latenten Hermeneutik. Das Text-Rezeptions- Paradigma macht deutlich, dass sich die Quellenhermeneutik ausschließlich den ursprünglichen vorkanonischen und vorapostolischen Texten und deren innerer Entstehungsgeschichte widmet. Dieser letzte Aspekt ist hermeneutisch noch einmal von eigener Bedeutung, weil die Quellenhermeneutik die Texte auf die Archäologie ihrer Entstehung hin liest und interpretiert und in das Stadium der Entstehung der Texte einführt. Damit erhalten die ursprünglichen Texte selbst eine historische Binnendimension. Die hermeneutischen Dimensionen der Kanonisierung werden dagegen im Rahmen der Quellenhermeneutik ausgeblendet. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik sieht hier eine logische Inkongruenz: weshalb wird der historische Prozess abgeschnitten? Der Grund für die strikte Beschränkung der Quellenhermeneutik auf die Ursprungstexte liegt in der petitio principii, in den Ursprungstexten liege „die Wahrheit“, sei diese nun historisch oder theologisch verstanden. Hier herrscht weiterhin jener Ursprungsoptimismus, den wir im Humanismus, in der Reformation und in der Aufklärung in unterschiedlichen Ausformungen 123 Vgl. Anm. 109. <?page no="185"?> Texte, Text und Rezeption 185 angetroffen haben. Die historische Perspektive wird hier selektiv gehandhabt und instrumentalisiert. Demgegenüber weitet die Text-Rezeptions-Hermeneutik die historische Perspektive hermeneutisch aus bis hin zur Historisierung der eigenen Position des Exegeten oder hermeneutischen Theologen, die ebenfalls als eine Position des Rezeptionsprozesses der neutestamentlichen Texte dargestellt wird. 3.3 Philosophische Hermeneutik Rudolf Bultmanns hermeneutischer Entwurf der existentialen Interpretation, der die Existentialanthropologie Martin Heideggers auf die Interpretation des Neuen Testaments anwendet, stellt mindestens im deutschsprachigen theologischen Raum die wichtigste Spielart einer philosophischen Bibelhermeneutik im 20. Jahrhundert dar 124 . Die Begriffe von Existenz und Existenzverständnis erhielten bei Bultmann eine leitende Erschließungsfunktion vor allem für die Interpretation der Texte des Paulus und für die Konstruktion der paulinischen Theologie. Die grundsätzliche und bleibende Bedeutung dieses hermeneutischen Ansatzes liegt gegenwärtig weniger in der Referenz auf die Existenzphilosophie, die ebenso fruchtbar wie zeitbedingt war, sondern eher in dem Ansatz, die Texte des Neuen Testaments, besonders die Texte des Paulus, von ihren propositionalen Gehalten her zu lesen. Die gegenwärtig vor allem in der amerikanischen Exegese herrschende Betonung der Textpragmatik 125 zuungunsten der propositionalen Gehalte muss und kann von hierher korrigiert werden, ohne dass wir dem Irrtum erliegen, es handele sich bei den Texten des Neuen Testaments um philosophische Texte. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf gegenwärtige philosophische Auslegungen des Neuen Testaments hermeneutisch interessant, weil bei Badiou 126 und Agamben 127 Paulustexte durchaus im Hinblick auf ihre Propositionalgehalte und Argumentationen interpretiert werden 128 . Die Text-Rezeptions-Hermeneutik verwendet die synchrone Methode neben der historisch-kritischen, diachronen Methode und gewinnt dadurch den Texten nicht nur historische Informationen und Kontextualisierungen, sondern auch inhaltliche und argumentative Sinnbereiche ab. Im Unterschied 124 Zu den Hermeneutiken der Bultmannschule, der sog. Neuen Hermeneutik vgl. einführend K ÖRTNER , Einführung in die theologische Hermeneutik, 50-74 (Anm. 41). 125 Vgl. z.B. den textpragmatischen Ansatz bei J EWETT , Romans (Anm. 90), der den ganzen Brief von dem Konzept des Botschafterbriefes her erklären will (so schon J EWETT , R., Romans as an Ambassadorial Letter, in: Interpretation 36 (1982), 5-20. 126 Vgl. G IGNAC , A., Neue Wege der Auslegung - Die Paulusinterpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben, in: Zeitschrift für Neues Testament 18 (2006), 15-25. Weiteres bei F INKELDE , D., Streit um Paulus, in: Philosophische Rundschau 54 (2006), 303- 332, sowie ders., Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou - Agamben - Žižek - Santner, Wien 2007. 127 Vgl. dazu auch den Beitrag von E.-M. Becker im vorliegenden Band. 128 Vgl. auch B OYARIN , Paul. <?page no="186"?> Oda Wischmeyer 186 zur philosophischen Lektüre versteht die Text-Rezeptions-Hermeneutik aber die literarischen Gattungen, die Stilebenen, die sprachliche Gestaltung und die literarischen Strategien der neutestamentlichen Texte als eigene hermeneutische Signale neben den Propositionalgehalten und Argumentationen. Sie liest die neutestamentlichen Texte auch unter literaturwissenschaftlicher Perspektive und stellt die Texte in den Zusammenhang religiöser Literatur 129 . In der Perspektive der Text-Rezeptions-Hermeneutik stellt sich daher die wissenschaftliche Aufgabe, eine „Theologie des Neuen Testaments“ zu schreiben - eine der klassischen Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft seit der Aufklärung - als eine Unternehmung dar, die hermeneutischer Vorüberlegungen bedarf und selbst Teil der Text-Rezeptions-Hermeneutik des Neuen Testaments ist. Denn hier werden Texte aus dem Bereich religiöser Literatur auf „Lehrgehalte“ hin systematisiert, die von der späteren christlichen Dogmatik formuliert wurden. Eine „Theologie des Neuen Testaments“ hat dann Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, wenn sie diesen Umstand explizit reflektiert und ihrer Darstellung zugrunde legt 130 . 3.4 Kontextuelle Hermeneutik Die Texthermeneutik setzt sich schießlich viertens von allen Modellen sog. kontextueller und engagierter Hermeneutiken ab, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrem leitenden Interesse der sozialen Applikation biblischer Texte dominiert haben. Die erschließenden Kategorien dieser Hermeneutiken: Freiheit, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Macht, Autorschaft, Frau und Status sowie race, class und gender, ethnicity und body, stammen aus den sozialen, politischen, philosophischen und gesellschaftlichen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die biblischen Texte sollten und sollen mit Hilfe der genannten Begriffe für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden, sei es, dass diese Kategorien - verdeckt oder offen - in den biblischen Texten gefunden und als positives Instrumentarium für Befreiungsgeschichte und soziale Identitätskonstruktion verwendet werden oder dass diese Kategorien negativ oder kritisch zur Befreiung von den biblischen Texten eingesetzt werden, die ihrerseits als Unterdrückungspotentiale verstanden und erlebt werden, die entmachtet werden müssen. Beide Möglichkeiten haben ihre Vertreter bzw. Vertreterinnen, und auch hier bildet sich die Dialektik von Kanonisierung und Dekanonisierung ab. Die Text-Rezeptions-Hermeneutik sieht die Anwendung von Texten nicht als Voraussetzung für angemessenes Verstehen oder als integralen Bestandteil des Verstehensprozesses an. An diesem Punkt unterscheidet sie sich deutlich 129 Vgl. weiter unten unter Punkt 5. 130 Vgl. die Epilegomena Bultmanns und seine Darstellung der existentialen Interpretation (Anm. 80). Hier handelt es sich um eine materiale Kategorie von hoher theologischer Aussagekraft. Schnelle verwendet die demgegenüber ganz formale Kategorie der Sinnbildung (Anm. 91). Vgl. zum Problem W ISCHMEYER , Paulus, 275-287. <?page no="187"?> Texte, Text und Rezeption 187 von den kontextuellen Hermeneutiken, wie von allen „frommen“ Hermeneutiken, seien sie monastisch, spirituell oder pietistisch modelliert. Allerdings weisen die kontextuellen Hermeneutiken auf das umfangreiche ethische und sozialpolitische Potential der neutestamentlichen Texte hin. In dieser Hinsicht sind sie immer wieder Indikatoren für die politische, soziale und ethische Dimension der Texte. Die stets neu erfolgenden Aktualisierungen und Applikationen neutestamentlicher Texte durch die kontextuellen Hermeneutiken erweisen darüber hinaus selbst die hermeneutische Bedeutung der Kanonizität der neutestamentlichen Texte. Der normative Status der Texte führt zu einer besonders intensiven Auseinandersetzung gerade mit ihren öffentlichen, sozialen, politischen und ethischen Inhalten und Mahnungen. Zudem hat die hermeneutische These, nur das Tun sei Indikator des richtigen Verstehens, eine prominente neutestamentliche Basis im Abschluss der Bergpredigt (Mt 7,15-27). Sie beruht auf der alttestamentlich-frühjüdischen Kritik an Gesetzeslehrern, deren eigens Ethos ihrer Lehre nicht entsprach (vgl. nur Röm 2,17-29 und Mt 23). 3.5 Kulturwissenschaften Die geisteswissenschaftlichen Fächer werden gegenwärtig unter der Perspektive der Kulturwissenschaften neu vermessen und sind Gegenstände „transdisziplinärer, theoretischer und metatheoretischer Reflexion“ 131 . Geschichtswissenschaften, Sprach- und Literaturwissenschaften, Bildwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaften, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie und Psychologie entwickeln gemeinsame Fragestellungen über die Fächer - und das heißt Gegenstandsbereiche - und Fächergrenzen hinweg. Im Mittelpunkt steht die Leitfrage nach der Kultur und den Kulturen, die nach einer mehrheitsfähigen Definition von Ansgar und Vera Nünning „als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefaßt“ wird, „der sich in Symbolen manifestiert“ 132 . In diesem Untersuchungszusammenhang, der mindestens teilweise durch die Theorien der Kultursemiotik geprägt ist 133 , lässt sich die Literatur theoretisch als Teiltext im kulturellen Gesamttext verorten. Das gilt auch für die Bibel und ihre Einzeltexte. Unter den Fragestellungen von Texten, kanonischem Textcorpus, religiöser Literatur, Textkultur, Kanonisierung und Dekanonisierung, Normativität und ethical 131 L IST , E./ F IALA , E. (Hgg.), Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien, Tübingen/ Basel, 2004, 4. 132 N ÜNNING , A./ N ÜNNING , V. (Hgg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen-Ansätze-Perspektiven, Stuttgart/ Weimar 2003, 6. 133 Einführend: P OSNER , R., Kultursemiotik, in: N ÜNNING / N ÜNNING , Konzepte, 39-72, hier: 50-53 zum Textbegriff der Kultursemiotik. <?page no="188"?> Oda Wischmeyer 188 turn 134 und Religion als symbolischer Zeichenwelt 135 lässt sich die Textkultur der Bibel kulturwissenschaftlich beschreiben. Wieweit und in welcher Weise die Theologie mit den Kulturwissenschaften kommunizieren kann und wieweit sie von den Kulturwissenschaften von ihren Gegenständen und ihren Denkformen her wahrgenommen wird, ist noch unklar 136 . Einige Vertreter der neutestamentlichen Wissenschaft befinden sich in der Nähe zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen 137 . Näher liegt hier die Religionswissenschaft, deren Verhältnis zur Theologie ebenfalls seit langem ungeklärt und strittig ist. Das ist umso mehr zu bedauern, als im Bereich der kontextuellen Hermeneutiken viele Überschneidungen sowohl in der Themenstellung als auch in den Methoden- und Konzeptionalisierungsfragen bestehen 138 . Die Text-Rezeptions-Hermeneutik stellt eine Brücke zwischen den Gegenständen und leitenden Fragestellungen der Kulturwissenschaften einerseits und der Theologie andererseits her. Der Gegenstand, die Bibel, ihre Textkultur und ihre Hermeneutik, ist ein klassischer Gegenstand der theologischen Disziplinen der alttestamentlichen und neutestamentlichen Wissenschaft, der Kirchengeschichte, der Systematischen und der Praktischen Theologie und in diesem Rahmen wissenschaftlich verankert 139 . Als Textkanon von maßgeblicher Wirkung und hoher kultureller Prägekraft ist die Bibel zugleich stets in vielfältiger Weise Gegenstand der Geisteswissenschaften gewesen. Die transdisziplinären Fragestellungen der Kulturwissenschaften können die Bedeutung der Bibel im Rahmen gegenwärtiger Kulturtheorien neu formulieren. Auch hier haben die Begriffe Text und Rezeption erschließende Funktion. Besonders zukunftsweisend ist die Frage nach dem Verhältnis von kanonischem Textcorpus und Kultur. Die semiotische Kulturtheorie, die mit der Metapher der „Kultur als Text“ arbeitet 140 , könnte eine Kulturhermeneutik der Texte des Alten und Neuen Testaments ermöglichen, die für die Frage nach Autoren und Lesergemeinschaften über das hinausführen würde, was 134 Vgl. dazu einführend B ACHMANN -M EDICK , D., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006. Weiteres in L UBKOLL , C./ W ISCHMEYER , O., Der ethical turn in den Geisteswissenschaften, München 2009. 135 T HEIßEN , G., Die Religion der ersten Christen, Darmstadt 2003 3 . 136 Vgl. beispielsweise die Ansätze bei G. Larcher und Ch. Wessely, Religion und „conditio humana“ in: L IST / F IALA , Grundlagen der Kulturwissenschaften, 503-512. 137 In Deutschland z.B.: G. Theißen und W. Stegemann. In Nordamerika sammeln sich kulturwissenschaftlich arbeitende neutestamentliche Wissenschaftler seit einer Generation in der „context-group“, vgl. M ALINA , B.M., The New Testament World: Insights from Cultural Anthropology, Atlanta 1981; E LLIOTT , J.H., What is Social-Scientific Criticism of the Bible? , Minneapolis 1993. 138 In der amerikanischen Exegese bestehen bereits gemeinsame Arbeitsfelder: vgl. z.B. die Arbeitsfelder von J.J. Pilch, Georgetown University, Washington DC. 139 Das gilt für die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft. Zu anderen Konzepten in angelsächsischen Ländern s.o. 140 Vgl. B ACHMANN -M EDICK , D. (Hg.), Kultur als Text, Tübingen/ Basel 2004 2 , hier: Einleitung, 7-66. <?page no="189"?> Texte, Text und Rezeption 189 wir heute in der neutestamentlichen Exegese als „Gemeinde“ bezeichnen 141 . Andererseits bleibt der Textbegriff, wenn er auf ein Textcorpus bezogen wird, das zunächst aus Einzeltexten besteht, für ein literarisches Verständnis der Bibeltexte leitend. Trotz des umfassenden Begriffs der „Textkultur“, der Prätext, Paralleltext, Intertext und Posttexte umfasst, bleibt der spezifische literarische Charakter der neutestamentlichen Texte im linguistischen und literaturwissenschaftlichen Textbegriff darstellbar. 4 Schluss Ich fasse zusammen. Die Hermeneutik des Neuen Testaments gilt eo ipso einem kanonischen Textcorpus. Dabei handelt es sich um die Sammlung einzelner Texte und Textgruppen aus bestimmten historischen, sozialen, religiösen und kulturellen Kontexten. Diese Textsammlung nimmt innerhalb der westlichen Textwelt einen hervorragenden Rang ein und besitzt eine entsprechend umfassende Tradierungs- und Auslegungsgeschichte, die eine eigene Textkultur darstellt. Träger dieser Textkultur sind die Tradierungs- und Interpretationsgemeinschaften, die von Anfang an am Verstehen der neutestamentlichen Schriften gearbeitet haben. Diese Tradierungs- und Interpretationsgemeinschaften haben stets den christlichen Kirchen und der christlichen Theologie im weitesten Sinne angehört und haben bis heute stets die Auffassung vertreten, die neutestamentlichen wie auch die alttestamentlichen Schriften brauchten über die allgemeinen philologischen Methoden hinaus eine eigene, spezifische Auslegung, deren hermeneutische Grundregeln sie festlegten. Wie diese Auslegung im Einzelnen stattfinden sollte, in welchen Kontexten, durch welche Autorengruppen, mit welchen Voraussetzungen, mit welchen leitenden Ideen, mit welchen Zielen und mit welchen Methoden - dies war und bleibt Gegenstand der kontroversen Geschichte der Bibelhermeneutik bis in den gegenwärtigen Hermeneutikdiskurs hinein. Besonders wichtig wurden neben dem kirchlich-kanonischen Paradigma und seiner erweiterten Spielart der hermeneutica sacra im Raum der wissenschaftlichen Theologie die Quellenhermeneutik und die kontextuellen Hermeneutiken. Die in diesem Beitrag vorgestellte eigene Konzeption einer Text-Rezeptions- Hermeneutik versteht keine dieser Hermeneutiken als autoritatives oder normatives Paradigma. Sie nimmt aber wichtige hermeneutische Beobachtungen aus dem hermeneutica sacra-Paradigma, aus dem Quellen-Paradigma und aus den kontextuellen Hermeneutiken auf. Zugleich stellt sie eine Verbindung zu den Kulturwissenschaften her, indem sie Kanonizität von Texten als Teil ihrer Rezeptionsgeschichte versteht und dadurch sowohl die Einzeltexte als auch das Textcorpus und die daran anschließende Textkultur für ein nicht- 141 Die „Gemeinde“ steht für Lesegemeinschaften und Rezeptionsprozesse. Kritisch dazu B AUCKHAM , R., The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences, Grand Rapids 1997. <?page no="190"?> Oda Wischmeyer 190 normatives Verstehen öffnet. Damit werden das Neue Testament und seine Texte für die Text- und Literaturwissenschaften erschlossen und lassen sich auch in kulturwissenschaftliche Kategorien einzeichnen. Der Rezeptionsbegriff sichert die historische Dimension der Hermeneutik und stellt zugleich die bleibende Verbindung zu den theologiegeleiteten Hermeneutiken der hermeneutica sacra her. Literatur B ACHMANN -M EDICK , D. (Hg.), Kultur als Text, Tübingen/ Basel 2004 2 . B ACHMANN -M EDICK , D., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006. B ADIOU , A., Paulus - die Begründung des Universalismus, München 2002. B ARTELINK , G.J.M., Art. Homer, in: RAC XVI (1994), 116-147. B AUCKHAM , R., The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences, Grand Rapids 1997. 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Sie stehen in einem reziproken Verhältnis zu einander, und zwar so, daß die Kategorie „Text“ Gegenstand der Hermeneutik ist und die Auseinandersetzung mit der „Hermeneutik“ ein wesentlicher Gegenstand des Textverstehens ist. Diese beiden reziproken Verhältnisbestimmungen von Text und Hermeneutik möchte ich eingangs erläutern. 1. Hermeneutische Fragen sind ein wesentlicher Bestandteil des Umgangs mit Texten. Diese Beschreibung gilt für den Ansatz des textbezogenen hermeneutischen Lexikon-Projekts ‚Lexikon der Bibelhermeneutik’, das den Hintergrund dieser Tagung darstellt. 1 Diese Beschreibung gilt aber auch ganz allgemein für das methodische Vorgehen, das eine Vielzahl geistes- oder kulturwissenschaftlicher Disziplinen charakterisiert - und dieser Umstand darf letztlich auch als wissenschaftliche Rahmenbegründung für das genannte Lexikon- Projekt betrachtet werden. Dabei gilt der Satz: „Hermeneutische Fragen sind ein wesentlicher Bestandteil des Umgangs mit Texten“ gleichermaßen für historische und für philologische Fächer: Die Geschichtswissenschaften werten Texte als Quellen. Sie sind mit hermeneutischen Fragestellungen insoweit befaßt, als sie z.B. die Verstehensbedingungen, unter denen ein Historiker seine Quellen auswertet, kritisch reflektieren 2 . Historik und Hermeneutik sind hier eng 1 Vgl. Lexikon der Bibelhermeneutik. Hg. von O. W ISCHMEYER in Zusammenarbeit mit E. A NGEHRN , E.-M. B ECKER , M. S CHÖLLER , M. H ABERMANN , U. H.J. K ÖRTNER , J. A. L OADER , C. L UBKOLL , K. P OLLMANN , G. S TEMBERGER , W. W ISCHMEYER , Berlin/ New York [erscheint 2009]. Vgl. auch den Beitrag von Oda Wischmeyer im vorliegenden Band. 2 Vgl. dazu allgemein etwa: B ABEROWSKI , J., Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, 99ff.; H ERBST , L., Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, 58ff. Vgl. aber auch disziplinen-hermeneutische Fragen wie etwa: B ROX , N., Kirchengeschichte als ‚Historische Theologie’, in: ders., Das Frühchristentum. Schriften zur Historischen Theologie, hg. von F. D ÜNZL u.a., Freiburg etc. 2000, 9-27. <?page no="194"?> Eve-Marie Becker 194 verwandt 3 . Text- und Literaturwissenschaften sowie Philologie und auch neutestamentliche Exegese interpretieren Texte vorwiegend im Blick auf die Frage nach deren Propositionalgehalt, nach „Sinn“ und „Bedeutung“, aber auch im Blick auf die Frage nach der literarischen Gestalt und der pragmatischen Funktion von Texten. Hermeneutische Aspekte kommen dabei wiederum in Hinsicht auf das Subjekt des Textverstehens 4 , auf die Bedingungen, unter denen sich z.B. „Sinn“ konstituiert oder konstituieren läßt, oder auch z.B. auf die Reflexion von Diskursstrategien 5 in den Blick. 6 2. Der „Text“ und seine Auslegung sind ein wesentlicher Gegenstand der Auseinandersetzung mit „Hermeneutik“, d.h. hermeneutischen Überlegungen. Dies gilt für die Hermeneutik seit ihren Anfängen. 7 Im Folgenden werde ich mich auf die Diskussion seit Schleiermacher beziehen. Der in ‚Wahrheit und Methode’ 3 Historik (ars historica) „bezeichnet die systematische Selbstreflexion der Fachhistorie auf ihre Wissenschaftlichkeit“, so B LANKE , H.W., Art. Historik, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von S. J ORDAN , Stuttgart 2002, 148-150, 148. Oder - mit Reinhart Koselleck: „Die Historik ist [...] die Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten. Sie fragt nach den theoretisch zu erbringenden Vorgaben, die es begreiflich machen sollen, warum sich Geschichten ereignen, wie sie sich vollziehen können und ebenso, warum und wie sie untersucht, dargestellt oder erzählt werden müssen“ (K OSELLECK , R., Historik und Hermeneutik (SBAWPh 1), Heidelberg 1987, 11; vgl. dazu auch: G ADAMER , H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke 1), Tübingen 1990 6 , 216ff.: „Verhältnis von Historik und Hermeneutik bei J. G. Droysen“. Zur Anwendung der hermeneutischen Fragestellungen auf den Bereich der (Kirchen-)Geschichtsschreibung etwa: P ALMER W ANDEL , L., Ranke Meets Gadamer. The Question of Agency in the Reformation, in: O CKER , C. (ed.), Politics and Reformations. Histories and Reformations. Essays in Honor of Thomas A. Brady Jr., Leiden/ Boston 2007, 63-78, besonders: 72f.: „Gadamer’s conceptualization of hermeneutic is essentially dynamic, incorporating both a fundamental attentiveness to time, more precisely to the fluidity of time, to change, and an acute sensitivity to the reader, not as an abstract, but as an individual, situated, in a particular place and a particular time, within a unique experience. His conceptualization of hermeneutic is radically humanistic, positing not one reader, but readers in the multitudes, who are themselves not fixed entities but dynamic, changing, altered through their encounters with persons, objects, and texts“. 4 Dazu B ECKER , E.-M., Die Person des Exegeten. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: W ISCHMEYER , O. (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen/ Basel 2003, 207-243. 5 Vgl. M ILLS , S., Der Diskurs. Begriff, Theorie, Praxis (UTB 2333), Tübingen/ Basel 2007, besonders: 142ff. - Für den Bereich der Geschichtswissenschaften: S ARASIN , P., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse (stw 1639), Frankfurt am Main 2003. Grundlegend für den Bereich der Soziologie und Semiotik: Z IMA , P.V., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen 1989. Für den Bereich neutestamentlicher Hermeneutik zuletzt S CHOLZ , S., Ideologien des Verstehens. Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder (NET 13), Tübingen/ Basel 2008, 55ff. 6 Vgl. W ISCHMEYER , O., Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen/ Basel 2004, 130ff. 7 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Karla Pollmann im vorliegenden Band. <?page no="195"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 195 (1960) 8 konzipierte hermeneutische Entwurf Hans-Georg Gadamers macht deutlich, daß sich die geisteswissenschaftliche Hermeneutik in der Folge von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Wilhelm Dilthey und Martin Heidegger 9 über eine ars interpretandi hinausgehend als ein universales Prinzip geisteswissenschaftlicher Methodik und Erkenntnis etabliert hat. 10 In Gadamers Programm spiegelt sich geradezu der Anspruch einer hermeneutischen Philosophie wider. Das bedeutet zugespitzt formuliert: Die Hermeneutik dient hier nicht bloß z.B. der Textauslegung und dem Textverstehen, sondern der Prozess der Textauslegung und des Textverstehens ist - umgekehrt - Teil einer umfassenden hermeneutischen Weltsicht geworden. 11 Bei Dilthey etwa klingt an, wie die Hermeneutik als Kunst der Auslegung im umfassenden Sinne auf „Lebensäußerungen“ bezogen wird: „Hermeneutik. Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des Verstehens zu eigen machen soll“ 12 . Zugleich macht Dilthey aber auch den Zusammenhang von Verstehen, Schrift und Hermeneutik deutlich: „Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir Auslegung. Da nun das geistige Leben nur in der Sprache seinen vollständigen, erschöpfenden und darum eine objektive Auffassung ermöglichenden Ausdruck findet, so vollendet sich die Auslegung in der Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philologie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik“ 13 . 8 G ADAMER , Wahrheit und Methode (wie Anm. 3). 9 A.a.O., 177ff. 10 G ADAMER , H.-G., Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966), in: Gadamer Lesebuch. Hg. von J. G RONDIN (UTB 1972), Tübingen 1997, 58-70; ders., Wahrheit und Methode, besonders: 478ff. Vgl. auch G RONDIN , J., Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, 110ff. Dazu P OSER , H., Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung (RUB 18125), Stuttgart 2001, 209ff. Vgl. zuletzt auch: K ÜHNE - B ERTRAM , G./ R ODI , F. (Hgg.), Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie. Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes, Göttingen 2008. 11 Eine solche Tendenz ist auch beim Ansatz einer literarischen Hermeneutik bei S ZONDI , P., Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. von J. B OLLACK und H. S TIERLIN (Studienausgabe der Vorlesungen; Band 5, stw 124), Frankfurt am Main 1975, 7-26 zu erkennen. Vgl. auch J ACOB , J., Exkurs Literarische Hermeneutik, in: P ECHLIVANOS , M., Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart/ Weimar 1995, 337-339; G REIF , S., Art. Szondi, Peter, in: MLLKT 3 (2004), 648f. Dies gilt auch für die Hermeneutik von B ETTI , E., Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967; ders., Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften (Philosophie und Geschichte 78/ 79), Tübingen 1962/ 1972 2 . 12 D ILTHEY , W., Zusätze. Hermeneutik, in: ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (stw 354), Frankfurt am Main 1981, 278. 13 D ILTHEY , W., Die Auslegung oder Interpretation, in: ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 267-272, 267. <?page no="196"?> Eve-Marie Becker 196 Nun haben der universale Anspruch deutschsprachiger Hermeneutik im 19. und 20. Jh. sowie das Programm einer „philosophischen Hermeneutik“ 14 in der postmodernen Philosophie, Literaturtheorie, Sprachwissenschaft und Theologie kritische Anfragen 15 oder gar programmatische antihermeneutische Tendenzen provoziert 16 . Die postmoderne Geschichtstheorie hingegen scheint zumindest im Ansatz von hermeneutischen Fragen gekennzeichnet zu sein 17 , auch wenn der Begriff der „Hermeneutik“ hier teilweise gerne vermieden wird 18 . Gleichwohl weist Reinhart Koselleck im Anschluss an Heidegger und Gadamer der „Hermeneutik als Lehre vom Verstehen... einen geschichtsontologischen Rang“ zu: „Ohne diese Art von vorgegebener Welterfahrungsmöglichkeit ist menschliches Dasein, allen Wissenschaften 14 Vgl. z.B. G ADAMER , H.-G., Klassische und philosophische Hermeneutik (1968), in: Gadamer Lesebuch, 32-57. 15 Vgl. dazu in jüngster Zeit einerseits G UMBRECHT , H.U., Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004, besonders: 17ff., der dem Ansatz der Hermeneutik das Konzept der Schaffung von „Präsenz“ entgegenstellt; vgl. andererseits K RÄMER , H., Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München 2007, der die Hermeneutik und Interpretationsphilosophie mit der Kategorie des Realismus konfrontiert, sich seinerseits aber von Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, 10 abgrenzt. 16 Vgl. dazu die Konzeptionen der Textlinguistik, wo hermeneutische Überlegungen keine Erwähnung finden, z.B. B RINKER , K., Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 2005 6 ; L EWANDOWSKI , T., Linguistisches Wörterbuch 1 (UTB 1518), Heidelberg/ Wiesbaden 1994 6 . In der Linguistik allgemein begegnet „Hermeneutik“ explizit im Rahmen der „Gesprächsanalyse“: L INKE , A. u.a., Studienbuch Linguistik, ergänzt um ein Kapitel ‚Phonetik und Phonologie’ von U. W ILLI (RGL 121), Tübingen 1996 3 , 275: Hier wird der verstehende „Zugang [...] zu fremdem Gesprächsverhalten“ als hermeneutischer Ansatz der Gesprächsanalyse bezeichnet. B EAU- GRANDE , R.-A./ D RESSLER , W.U., Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1981, 88ff. z.B. weisen jedoch dem Begriff der „Kohärenz“ eine Bedeutungsdimension zu, die implizit hermeneutisch relevant ist; vgl. dazu B ECKER , E.-M., Was ist Kohärenz? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, in: ZNW 94 (2003), 97-121. Für den Bereich der Literaturwissenschaft: E AGLETON , T., Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart/ Weimar 1996 4 , 31ff. Vgl. dazu auch: R USTERHOLZ , P., Zum Verhältnis von Hermeneutik und neueren anti-hermeneutischen Strömungen, in: A RNOLD , H.L./ D ETERING , H. (Hgg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft (dtv 4704), München 1996, 157-177. 17 Vgl. dazu explizit: B ABEROWSKI , Der Sinn der Geschichte, 99ff. Vgl. dazu aber auch die Themen und Fragen, die z.B. in: E VANS , R.J., Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt am Main/ New York 1999; J ENKINS , K. 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Zugleich hat Paul Ricœurs Entwurf von ‚Temps et Récit’ 20 zu einer Vermittlung philosophisch-hermeneutischer und geschichtstheoretischer Fragen maßgeblich beigetragen. 21 Mir scheint, daß die textbezogenen Wissenschaften gegenwärtig wieder verstärkt am Begriff und der Aufgabe von Hermeneutik und an der Verhältnisbestimmung von „Text“ und „Hermeneutik“ arbeiten müssen, und zwar zum einen in Hinsicht auf die Geistes- und Kulturgeschichte sowie die Geschichte der Geisteswissenschaften: Ganz gleich, welcher Disziplin und welchem Paradigma wir im Blick auf die Fragen des Textverstehens folgen, weist uns die Forschungsgeschichte immer wieder auf die Wahrnehmung des engen Zusammenhangs von „Text“ und „Hermeneutik“ hin. Zum anderen ist festzuhalten, daß hermeneutische Fragen fortdauernd und unabhängig davon, ob sie als „hermeneutische Fragen“ bezeichnet und in den Gesamtentwurf einer „philosophischen Hermeneutik“ in Gadamers Sinne eingebettet werden, bestehen. Für uns sind diese Fragen besonders wichtig im Bereich von geisteswissenschaftlicher Methodenlehre und Methodologie, Epistemologie, Propädeutik oder Enzyklopädie. 22 Schließlich legt es sich infolge der postmodernen Ausweitung des Textbegriffs 23 und der gleichzeitigen Rückstufung des Hermeneutik-Begriffs nahe, den „Text“ als erschließende Größe für bestehende hermeneutische Fragen zu wählen. 24 Allerdings 19 K OSELLECK , R., Historik und Hermeneutik (SBAWPh 1), Heidelberg 1987, 9-28, 22. Zur Würdigung der Bedeutung der Hermeneutik für die Geschichtstheorie vgl. auch H ERBST , Komplexität, 58ff. Die Bedeutung einer Verknüpfung von Hermeneutik und Geschichte wird - gleichwohl sub contrario - auch bei Hans Albert, dem in jüngerer Zeit heftigsten Kritiker des universalhermeneutischen Ansatzes bei Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer, in seiner „Kritik der reinen Hermeneutik“ (1994) deutlich, vgl. A LBERT , H., Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 85), Tübingen 1994, besonders: VIIf. und 1ff. 20 Vgl. R ICŒUR , P., Temps et Récit 1-3, Paris 1983-1985 [engl.: R ICŒUR , P., Time and Narrative Vol. 1-3, Chicago/ London 1984-1988]. 21 Vgl. dazu besonders: R ICŒUR , P., Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit (Konferenzen des Centre Marc Bloch [Berlin]; Band 2), Münster etc. 2002. Vgl. dazu auch etwa die Einschätzung bei W HITE , H., The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore/ London 1987, 170: „The results of Ricoeur’s labors are now available in his magisterial Temps et récit (Time and Narrative), which must be accounted the most important synthesis of literary and historical theory produced in our century“. 22 Vgl. dazu B ECKER , E.-M./ H ILLER , D., Theologische Enzyklopädie - Eine Einführung, in: dies. (Hgg.), Handbuch Evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang (UTB 8326), Tübingen/ Basel 2006, 1-26, besonders: 22ff. 23 Vgl. den Ansatz von: „Kultur als Text“ etwa bei B ACHMANN -M EDICK , D. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Kulturwissenschaft (UTB 2565), Tübingen/ Basel 2004 2 . 24 Vgl. dazu auch: Texte zur Theorie des Textes. Hg. von S. K AMMER und R. L ÜDEKE (RUB 17652), Stuttgart 2005. <?page no="198"?> Eve-Marie Becker 198 erweist sich dabei die terminologische Klärung des Hermeneutik-Begriffs als notwendig. 25 Zu fragen ist nun: Wie können sich vor diesem Hintergrund der Ansatz und die Aufgabe einer textinternen Hermeneutik darstellen? Lassen Sie mich dazu eine Beobachtung zu einem Phänomen von Inter 26 bzw. Palin- Textualität 27 einschalten, das in der modernen philosophischen Literatur begegnet. Es führt uns deswegen an die Aufgabe einer textinternen Hermeneutik heran, weil hier die hermeneutischen Fragen, die bei der Textauslegung entstehen, im Verfahren von Inter-textualität, d.h. rein textuell bearbeitet werden. Ich gehe dabei von dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben aus und folge seinem Blick auf den deutschen Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin sowie den frühchristlichen Briefeschreiber Paulus. 1.2 Zum Phänomen der Inter-textualität: Giorgio Agamben - Walter Benjamin - Paulus Am Ende seiner Auslegung des Römer-Briefes, die im Jahre 2000 auf Italienisch unter dem Titel ‚Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani’ und 2006 in deutscher Übersetzung erschien 28 , tritt Agamben nicht nur mit seinen Lesern in einen Dialog über den Römer-Brief, sondern eröffnet darüber hinaus ein Gespräch mit Benjamin und Paulus, in welchem er zudem gleichsam beide Autoren miteinander sprechen läßt. 29 Wir könnten hier von einem Verfahren „intentionaler Dialogizität“ sprechen. 30 Agamben spürt auf, daß und wie es in Walter Benjamins Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte’ 25 Vgl. dazu auch: A HRENS , R., Art. Hermeneutik, in: MLLKT 3 (2004), 252-255. Im Blick auf die neutestamentliche Hermeneutik: W ISCHMEYER , Hermeneutik des Neuen Testaments, 3f. 26 Vgl. zur Terminologie: A CZEL , R., Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien, in: N ÜNNING , A. (Hg.), Grundbegriffe der Literaturtheorie, Stuttgart/ Weimar 2004, 110- 113. Im Blick auf die neutestamentliche Exegese vgl. R OOSE , H., Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalonicherbriefen, in: NTS 51 (2005), 250-269. 27 Vgl. zur Terminologie: B ECKER , E.-M., Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief (NET 4), Tübingen/ Basel 2002, 137f. 28 Vgl. A GAMBEN , G., Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von D. G IURIATO , Frankfurt am Main 2006. 29 Vgl. dazu die Dialogizität, die sich in den Gemälden: „sankthansblus på Skagen strand“ (1906) von P. S. Krøyer und „P. S. Krøyer maler sankthansblus“ (1906) von L. Tuxen darstellt: Krøyer zeichnet Tuxen in sein Gemälde ein, und Tuxen porträtiert Krøyer beim Malen des Mittsommernachtsabends - vgl. Malerikatalog Skagens Museum 2007, 162 und 190 (Abbildung 64/ 65). - Zur Benjamin-Deutung Agambens vgl. F INKELDE , D., Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou - Agamben - Žižek - Santner, Wien 2007. 30 Vgl. zum Begriff der Dialogizität: V OLKMANN , L., Art. Dialogizität, in: N ÜNNING , Grundbegriffe der Literaturtheorie, 29-31. - Zum Zusammenhang von ‚Dialogizität’, ‚Intertextualität’ und ‚Gedächtnis’ vgl. M ARTINEZ , M., Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis: , in: A RNOLD / D ETERING , Grundzüge der Literaturwissenschaft, 430-445. <?page no="199"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 199 (1940) 31 zu einer Rezeption der Paulus-Briefe kommt. 32 Es geht Agamben bei dieser Untersuchung um ein Dreifaches: Erstens will er den theoretischen und theologischen Referenzrahmen, der Benjamins Thesen offenbar implizit zugrunde liegt, aufdecken und benennen. Agamben fragt: „Wer ist dieser bucklige Theologe, den der Autor so gut in seinem Text versteckt hat, daß er bislang unerkannt geblieben ist? “ 33 Zweitens zeigt Agamben, wie das Konzept des Benjaminschen Messianismus 34 , das für dessen Geschichtstheorie von großer Bedeutung ist 35 , im Blick auf Vokabular und Sprache auf Paulus zurückgeführt werden kann: „[...] Aus dieser Perspektive scheint das Vokabular der Thesen genuin paulinischer Prägung zu sein. [...] In jedem Fall scheint die Ausrichtung auf die Vergangenheit, die Benjamins Messianismus kennzeichnet, ihren Maßstab in Paulus zu haben“ 36 . Und drittens geht es Agamben um hermeneutische Fragen, die mit seiner eigenen Römer-Brief-Auslegung in Zusammenhang stehen: So kann die Beobachtung von Benjamins Paulus-Rezeption einerseits ein genereller auslegungsgeschichtlich relevanter hermeneutischer Schlüssel zum Verstehen der Paulus-Briefe sein: „[...] Ich glaube, daß die Thesen [Benjamins, Anm. d. Verf.] und die Briefe [des Paulus, Anm. d. Verf.], diese beiden höchsten messianischen Texte unserer Tradition, die zweitausend Jahre voneinander trennen und die beide in einer radikal krisenhaften Situation niedergeschrieben wurden, eine Konstellation bilden, die aus einigen Gründen [...] gerade heute das Jetzt ihrer Lesbarkeit erfährt“ 37 . Andererseits bietet Agamben mit der auf Benjamin zurückgeführten Kategorie des „Jetzt der Lesbarkeit“ 38 ein spezifisches „hermeneutisches Prin- 31 Vgl. B ENJAMIN , W., Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Werke. Hg. von R. T IEDEMANN , Band 1/ 2, Frankfurt am Main 1974, 691-704. Wiederabgedruckt in: B ENJAMIN , W., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Ausgewählt von R. T IE- DEMANN (RUB 8775), Stuttgart 1992, 141-154. 32 Vgl. A GAMBEN , G., Schwelle oder tornada, in: ders., Die Zeit, die bleibt, 153-162. 33 A.a.O., 153. 34 Vgl. aus dem weiten Feld der Erforschung des Messianismus für Benjamins Geschichtstheorie z.B.: G IBBS , R., Messianic Epistemology. Thesis XV, in: B ENJAMIN , A. (ed.), Walter Benjamin and History, London/ New York 2005, 197-214. Vgl. dazu auch die Rezension von M. Bauer, in: H-Soz-u-Kult, 11.6.2007. 35 F IGAL , G., Art. Benjamin, Walter, in: RGG 4 I (1998), 1301-1302, 1301 betont, dass im „Zentrum des B(enjamin)schen Denkens... der Versuch einer Rehabilitierung rel(igiöser), magischer und spekulativer Erfahrung im Medium der Sprache“ steht. 36 A GAMBEN , Schwelle oder tornada, 160f. - Zum Messianismus in Agambens Paulus- Deutung vgl. auch V OUGA , F., Die politische Relevanz des Evangeliums. Rezeption des Paulus in der philosophischen Diskussion, in: Kontexte der Schrift. FS W. Stegemann, Band 2, hg. von C. S TRECKER , Stuttgart 2005, 192-208, besonders: 198ff. 37 A GAMBEN , Schwelle oder tornada, 162. 38 Vgl. B ENJAMIN , W., Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts, in: ders., Gesammelte Werke. Hg. von R. T IEDEMANN , Band 5/ 1, Frankfurt am Main 1982, 570ff., 578: „[...] jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen [...]. Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangne (sic! ) wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Kons- <?page no="200"?> Eve-Marie Becker 200 zip, das das genaue Gegenteil des gängigen Prinzips ist, wonach jedes Werk zu jedem Augenblick einer unendlichen Interpretation unterzogen werden kann. [...] Benjamins Prinzip hingegen setzt voraus, daß jedes Werk und jeder Text einen historischen Index in sich tragen, der nicht nur ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche anzeigt, sondern auch besagt, daß sie an einem bestimmten historischen Augenblick in diesem Sinn ihre Lesbarkeit erlangen“ 39 . Das „Jetzt der Lesbarkeit“ fungiert also als hermeneutisches Paradigma, das die Texte einerseits der Begrenzung auf ihre bloße historische Kontextualisierung entreißt, andererseits aber deren über-geschichtliche, zeitlose oder a-historische Auslegung und Deutung verweigert. Es handelt sich hierbei nahezu um ein existenzielleschatologisches hermeneutisches Paradigma. 40 Ich möchte nun aber nicht die (möglichen) hermeneutischen Überlegungen Agambens oder Benjamins vertiefen, sondern das Phänomen der Intertextualität, das sich in Agambens Dialog mit Benjamin und Paulus darstellt, analysieren. Denn Agambens Form der Auslegung paulinischer Briefe erlaubt Einsichten, die sich zugleich für auslegungsgeschichtliche und hermeneutische Fragen als relevant erweisen: In auslegungsgeschichtlicher Hinsicht bilden Paulus, Benjamin und Agamben eine historisch-prozessuale Linie der Texthermeneutik, die vom 1. über das 20. bis zum 21. Jh. führt. Diese Linie ist nicht umkehrbar. So ist in auslegungsgeschichtlicher Hinsicht das Verhältnis von Prä-Text und Post-Text definiert: Der Römer-Brief bildet den Prä-Text für Benjamin, der Römer-Brief und Benjamins Thesen bilden die Prä-Texte zu Agamben. Daß Prä-Text und Post-Text in dieser Weise unumkehrbar auf einander bezogen sind, ergibt sich aus der historischen Verortung der Textproduzenten bzw. der Autoren. tellation zusammentritt [...]. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt“. Vgl. auch bei A GAMBEN , Schwelle oder tornada, 162. 39 A GAMBEN , Schwelle oder tornada, 162. 40 Ein ähnliches Motiv findet sich in W. Benjamins literarischer Autobiographie von 1938: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen, Frankfurt am Main 1987/ 2006, 90. Benjamin schreibt hier im Kapitel „Schränke“: „Alles Verschlossene blieb länger neu. Doch nicht das Neue zu halten, sondern das Alte zu erneuern lag in meinem Sinn. Das Alte zu erneuern dadurch, daß ich selbst, der Neuling, mir’s zum Meinen machte […]“. Benjamins auf Zukunft hin offene Hermeneutik steht sicher auch mit seiner jüdischen Prägung in Zusammenhang: Bei Heinrich Graetz (1871-1891), dem bedeutendsten jüdischen Historiker des 19. Jhs. etwa ist zu lesen: „Das Judentum ist keine Religion der Gegenwart, sondern eine der Zukunft [...] Erinnerung und Hoffnung bilden die Wolken- und Feuersäule, welche Israel seiner Zukunft entgegenführen“(G RAETZ , H., Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Hg. von N. R ÖMER (Jüdische Geistesgeschichte 2), Düsseldorf 2000, 19.) <?page no="201"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 201 Prä(/ Post)-Text Post(/ Prä-)Text Post(/ Prä-)Text Paulus Walter Benjamin Giorgio Agamben Modell 1: Inter-textualität und Auslegungsgeschichte In hermeneutischer Hinsicht jedoch stellen sich die Abhängigkeitsverhältnisse der verschiedenen Texte und ihrer Autoren zueinander weitaus komplexer dar. Dazu einige Beispiele: Agamben macht Paulus zum Schlüssel seiner Benjamin-Interpretation, so wie er u.a. Benjamin als Schlüssel der Paulus- Deutung wählt. Benjamin greift auf Paulus zurück und transformiert ihn gleichzeitig. Und Paulus markiert gleichermaßen den textuellen Ausgangspunkt und den aktuellen Gegenstand des hermeneutischen Prozesses sowie den Zielpunkt der Textrezeption 41 . Die Inter-textualität ereignet sich hier also als komplizierter hermeneutischer Prozess, der bis zu uns hin als heutigen vorerst „Letzt-Lesern“ der Texte andauert. Und dabei hängt es von unseren individuellen Lese-Interessen ab, ob wir Agamben als Schlüssel der Paulus- Lektüre oder etwa Benjamin als Schlüssel zur Paulus-Lektüre usw. verstehen wollen. Während die Auslegungsgeschichte prozessual-linear verläuft, sind im hermeneutischen Prozess des fortdauernden Textverstehens daher die folgenden Größen: Modell 2: Inter-textualität und Texthermeneutik in einem Dreieck wechselseitig aufeinander bezogen. Der Ausgangspunkt dieses Dreiecks ist beliebig wählbar. Diese Beobachtung macht die unaufgebbare Interdependenz von „Text“ als Gegenstand der Auslegung und „Hermeneutik“ als unabgeschlossenem Prozess der Reflexion von Textrezeption, Textauslegung und Textverstehen deutlich. 42 41 Dies ist durch Benjamins Idee vom „Jetzt der Lesbarkeit“ und Agambens Wiederaufnahme dieses hermeneutischen Prinzips vorgegeben. 42 Vgl. im Bereich der neutestamentlichen Exegese etwa die methodengeleitete Bearbeitung der sog. new perspective, die besonders als Kritik der protestantischen Auslegungsgeschichte paulinischer Texte zu verstehen ist. Vgl. dazu etwa W ESTERHOLM , S., Perspectives Old and New on Paul. The ‚Lutheran’ Paul and His Critics, Grand Rapids 2004; D UNN , J.D.G., The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005. Text Methoden/ Geschichte/ Interpreten seiner Auslegung Jeweils gegenwärtige Methoden/ Interpreten der Textauslegung und -applikation <?page no="202"?> Eve-Marie Becker 202 2 ...am Beispiel... Die folgenden Überlegungen zu einer „textinternen Hermeneutik“ sind in doppelter Hinsicht als exemplarische Überlegungen zu verstehen. 1. Wie gesehen, sind die Kategorien von „Text“ und „Hermeneutik“ eng auf einander bezogen. Aus diesem engen Verhältnis leiten sich zum einen texttheoretische und methodische Fragen ab, die mit der Textauslegung verbunden sind. Zum anderen gehen aus dem engen Verhältnis von „Text“ und „Hermeneutik“ z.B. philosophische oder forschungsgeschichtliche Fragen hervor, die mit der Hermeneutik und ihrer Geschichte verbunden sind. Die hier gewählte Thematik einer textinternen Hermeneutik stellt einen Versuch dar, die in bestimmten Texten selbst liegenden Berührungspunkte von „Text“ und „Hermeneutik“ zu benennen und damit an den Ausgangspunkt der Beziehung zwischen beiden Größen zurückzugehen. Sie versteht sich zugleich nur als ein möglicher Ansatz in der Diskussion über das Verhältnis von Texttheorie und Hermeneutik. 2. Der hier vorgestellte Ansatz einer textinternen Hermeneutik ist auch insofern exemplarisch, als er aus der Perspektive neutestamentlicher Exegese und damit aus der Perspektive der Auslegung einer sehr bestimmten Gruppe von Texten gewählt ist. Neutestamentliche Exegese ist dabei wie folgt charakterisiert: • Sie stellt sich vor allem als philologische und historische Disziplin dar, indem sie auf die Methoden ihrer benachbarten Fächer - Altertumswissenschaften (historisch und philologisch) und Literaturwissenschaften - zurückgreift. • Sie stellt sich als textbezogene Disziplin dar, indem sie vorwiegend mit der Auslegung eines spezifischen kanonischen Textcorpus befasst ist. • Sie stellt sich als theologische Disziplin dar, indem sie eine doppelte hermeneutische Aufgabe wahrzunehmen hat: Sie ist einerseits mit den hermeneutischen Fragen des Textverstehens und der Textapplikation, wie sie im Diskurs mit den nicht-theologischen Nachbardisziplinen entstehen, befasst und steht andererseits den traditionellen theologischhermeneutischen Fragen, wie sie vor allem in der Systematischen Theologie diskutiert werden 43 , gegenüber. 3 Textinterne Hermeneutik Im Folgenden beleuchte ich drei verschiedene Aspekte, die Ansatz und Aufgabe einer textinternen Hermeneutik illustrieren und zugleich die Konzeption dieser textinternen Hermeneutik vorstellen: 43 Vgl. dazu die Diskussion um das sog. Schriftprinzip, z.B. die Beiträge in: Sola Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, hg. von H.H. S CHMID und J. M EHLHAUSEN , Gütersloh 1991. Vgl. auch die Überlegungen bei K ÖRTNER , U.H.J., Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, besonders: 94ff. <?page no="203"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 203 (a) den Aspekt des Autors, der als Hermeneut von Text und Literatur agiert, (b) den Aspekt des in den Texten liegenden, d.h. textinternen, hermeneutischen Potentials, (c) den Aspekt des Exegeten oder Interpreten, der nach dem Verfahren „textinterner Analyse“ vorgeht. Die genannten drei Aspekte einer textinternen Hermeneutik beziehen sich auf die Konstituenten textlicher Kommunikation: Autor - Text - Rezipient/ Interpret. Zur Exemplifizierung der textinternen hermeneutischen Valenz dieser Aspekte greife ich auf Beispiele aus dem Bereich neutestamentlicher Literatur zurück. Dabei beziehe ich mich auf die Ergebnisse meiner Dissertation zur Briefhermeneutik im 2. Korintherbrief 44 und weite diese Überlegungen aus. (a) Der Autor als Hermeneut von Texten In seinem 2005 veröffentlichen Essay ‚Dix raisons (possibles) à la tristesse depensée’ 45 (dt. Übersetzung 2006: ‚Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe’) 46 reflektiert der frankophon-anglophone Literaturhistoriker George Steiner u.a. die keineswegs neue Frage nach der „Originalität im Denken“ 47 , die etwa auch Umberto Eco im Blick auf die modernen Rezeptionsbedingungen gestellt hatte 48 , und kommt dabei zu folgender Beobachtung: „In den Geisteswissenschaften, wobei dieses Wort im umfassendsten Sinne verstanden wird, in der Philosophie, den Künsten, der Literatur, in politischen und sozialen Theorien ist die von uns so benannte ‚Originalität’ fast immer eine Variation oder Erneuerung der Form, der benutzen Verfahrensweisen, der vorhandenen Ausdrucksmittel [...] Ein neuer Denkakt, eine Vorstellung ohne erkennbare Vorgänger - das ist es, ob zugegeben oder nicht, worauf sich der Ehrgeiz von Schriftstellern, Malern, Komponisten, Denkern richtet...“ 49 . Doch Steiner gibt das Dilemma einer Spannung von Kreation und Repetition zu bedenken: „Wenn Sprach- und Sprechformen neu sind, wer kann sie da verstehen? “ 50 Selbst in dem Falle, dass wir es mit Sprach- und Argumentationsformen sui generis zu tun haben, bleibt Steiner skeptisch: „Denker und Schöpfer von Argumentationsketten wie Platon, Aristoteles, Paulus von Tarsus oder der heilige Augustinus mögen das sprachliche und begriffliche Instrumentarium entwickelt haben, mit dem sich Gedanken, Bilder, Metaphern von radikaler Originalität formulieren und verbreiten ließen. Doch ist dies keineswegs gesichert [...]“ 51 . 44 Vgl. B ECKER , Schreiben und Verstehen, 137f. 45 S TEINER , G., Dix raisons (possibles) à la tristesse de pensée. Édition bilingue, Paris 2005. 46 S TEINER , G., Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Mit einem Nachwort von D. G RÜNBEIN , Frankfurt am Main 2006. 47 S TEINER , Warum Denken traurig macht, 27. 48 Vgl. Eco, U., Die Innovation im Seriellen, in: ders., Über Spiegel und andere Phänomene (dtv 12924), München 2001 6 , 155-180. 49 S TEINER , Warum Denken traurig macht, 28f. 50 A.a.O., 29. 51 A.a.O., 30. <?page no="204"?> Eve-Marie Becker 204 Die Einsicht in die repetitive Struktur von Sprache, Text und Literatur ist auch für die neutestamentliche Exegese von erheblicher Bedeutung. Sie schlägt sich im Bereich von Form-, Gattungs- und Literaturgeschichte, aber auch im Bereich der Religionsgeschichte nieder. Im Bereich von neutestamentlicher Form-, Gattungs- und Literaturgeschichte entsteht die Frage nach der „Originalität“ frühchristlicher Texte, wenn: • im Blick auf die Septuaginta-Auslegung und -Zitation etwa bei Paulus 52 oder im Matthäus-Evangelium 53 die Spannung von traditioneller und innovativer Verwendung der Septuaginta als eines „heiligen Schriftencorpus“ 54 des hellenistischen Judentums im Kontext des frühesten Christentums diskutiert wird. Die entsprechende Frage lautet: Wieweit unterscheiden sich die paulinische oder matthäische Auslegung der Septuaginta von der Septuaginta-Kommentierung, wie sie etwa bei Philo von Alexandrien 55 anzutreffen ist? Diese und ähnliche Fragen werden nicht nur philologisch bearbeitet, sondern auch literaturwissenschaftlich, nämlich im Zusammenhang der Inter-Textualitäts-Theorien diskutiert 56 . • Im Blick auf die Bestimmungen neutestamentlicher Formen und Mikro- Gattungen oder auch Makro-Gattungen wie etwa „Brief“ 57 und „Evangelium“ 58 stellen sich analoge Fragen: Sind diese Gattungen literarisch in- 52 Vgl. dazu z.B. W ILK , F., Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998, besonders: 17ff.; H AYS , R., Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven/ London 1989, besonders: 5ff. Für den nebenpaulinischen Bereich vgl. auch G HEORGHITA , R., The Role of Septuagint in Hebrews. An Investigation of its Influence with Special Consideration to the Use of Hab 2: 3-4 in Heb 10: 37-38 (WUNT 2.160), Tübingen 2003. Vgl. allgemein zur Wirkung und Benutzung der Septuaginta im frühen Christentum: T ILLY , M., Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, 100ff. 53 Vgl. dazu z.B. L UZ , U., Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband Mt 1-7 (EKK I/ 1), Neukirchen-Vluyn 2002 5 , besonders: 189ff. (Exkurs zu Erfüllungszitaten). Vgl. insgesamt auch einzelne Beiträge in T UCKETT , C.M. (ed.), The Scriptures in the Gospels (BEThL 131), Leuven 1997. 54 Vgl. dazu W ISCHMEYER , O., Das heilige Buch im Judentum des Zweiten Tempels, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Ges. Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. von E.-M. B ECKER (WUNT 173), Tübingen 2004, 15-38. 55 Vgl. dazu etwa die Beiträge von: R UNIA , D.T., Exegesis and Philosophy. Studies on Philo of Alexandria, Hampshire/ Brookfield 1990. Vgl. auch Einzeluntersuchungen wie N IEHOFF , M., The Figure of Joseph in Post-Biblical Jewish Literature (AGAJ 16), Leiden u.a. 1992, 54ff. 56 Vgl. dazu etwa einzelne Beiträge in S ÄNGER , D. (Hg.), Gottessohn und Menschensohn. Exegetische Studien zu zwei Paradigmen biblischer Intertextualität (BthSt 67), Neukirchen-Vluyn 2004; M ERZ , A., Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Göttingen/ Fribourg 2004, besonders: 5ff. 57 Vgl. dazu insgesamt etwa K LAUCK , H.-J., Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 2022), Paderborn u.a. 1998. 58 Vgl. dazu B ECKER , E.-M., Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006, besonders: 54ff. <?page no="205"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 205 novativ und originär? Wie lassen sie sich im Kontext frühjüdischer und/ oder hellenistisch-römischer Literaturen 59 verorten? Im Bereich von neutestamentlicher Religionsgeschichte wird die Frage nach der „Originalität“ frühchristlicher Texte vor allem in dem größeren historischen Zusammenhang des „Parting(s) of the Ways“-Diskurses bearbeitet 60 . Es geht um eine möglichst genaue Beschreibung der Frage, wann, unter welchen Umständen und in welcher Weise es zu einer religionsgeschichtlich deutlichen „Trennung“ von Judentum und frühem Christentum gekommen ist 61 . Zusammenfassend läßt sich sagen: Solange der Autor eher „Repetitor“ als „Kreator“ von Sprache, Text, Literatur und Gattung ist, fungiert er explizit oder implizit überwiegend als Hermeneut, d.h. als Sprachrohr, als Übersetzer, Vermittler, Kommunikator, Ausleger und Deuter seiner Prä-Texte und Prä-Formen (Traditionen und Überlieferungen). (b) Der Text und sein hermeneutisches Potential Während ich bisher das hermeneutische Vorgehen neutestamentlicher Autoren 62 bei ihrer expliziten oder impliziten Transformation und Deutung von Themen und literarischen Formen in den Blick genommen habe, wende ich mich nun dem hermeneutischen Potential der neutestamentlichen Texte zu. Dieser Aspekt einer textinternen Hermeneutik erweist sich für die neutestamentlichen Texte besonders deshalb als bedeutsam, weil wir es im Neuen Testament zumeist mit anonymen 63 oder pseudonymen 64 , viel seltener dage- 59 Vgl. dazu etwa die Ansätze bei V IELHAUER , P., Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/ New York 1975; B ERGER , K., Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW 2.25.2 (1984), 1031-1432. Vgl. insgesamt auch die jüngste Darstellung bei T HEIßEN , G., Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SHAW.PHK 40), Heidelberg 2007, die sich auch um eine Einordnung der urchristlichen Literatur in ihren literaturgeschichtlichen Kontext bemüht. 60 Vgl. dazu z.B. D UNN , J.D.G., The Partings of the Ways. Between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 2006 2 ; ders. (ed.), Jews and Christians. The parting of the ways A.D. 70 to 135. The Second Durham- Tübingen Research Symposium on Earliest Christianity and Judaism (Durham, September, 1989; WUNT 66), Tübingen 1992; W ANDER , B., Art. Judenchristen. I: Neues Testament, in: RGG 4 IV (2001), 601-603. 61 Vgl. dazu auch etwa den Ansatz bei T HEISSEN , G., Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000/ 2008 4 , besonders: 37ff; hier reflektiert Theissen die theoretischen und methodischen Probleme bei einer Beschreibung und Konstruktion der urchristlichen Religion(sgeschichte). 62 Im Bereich der ntl. Einleitungswissenschaft ist von „Verfassern“ eher als von „Autoren“ die Rede, vgl. etwa S CHNELLE , U., Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 2007 6 , z.B. 62, 74, 240ff. u.ö. 63 Anonym: Mt, Mk, Lk und Apg, Joh, Hebr, 1Joh. <?page no="206"?> Eve-Marie Becker 206 gen mit orthonymen Schriften zu tun haben. Eine Ausnahme bilden die sieben als authentisch geltenden Briefe des Paulus 65 und evtl. das Schreiben des Apokalyptikers Johannes (Apk 1) 66 . Die Mehrzahl der neutestamentlichen Schriften läßt also ein konkretes oder historisches Autor-Adressaten- Verhältnis vermissen. Dennoch finden sich nicht nur bei den orthonymen Schriftstellern Paulus und Johannes, sondern auch in den anonymen und pseudonymen Schriften Hinweise und Aussagen, die ihrerseits, d.h. textintern, zum Auslegen und Verstehen der Texte beitragen. Wir können hier also zunächst grundsätzlich zwei Typen textinterner Hermeneutik unterscheiden: • erstens den Typus einer textinternen Hermeneutik, bei dem der Text als Produkt eines historischen Autors Hinweise zum Verstehen bei seinen historischen Adressaten enthält; textintern-hermeneutische Aussagen haben hier eine kommunikative Funktion im Verhältnis von Autor zu Adressat 67 ; • zweitens den Typus einer textinternen Hermeneutik, bei dem der Text als Produkt eines namentlich nicht bekannten (anonymen) oder fingierten (pseudonymen) literarischen Autors Hinweise zum Verstehen bei den nicht näher bezeichneten literarischen Hörern und Lesern enthält; textintern-hermeneutische Aussagen haben hier die Funktion, auf die Rezeption der Texte einzuwirken, indem sich der historische Verfasser als literarischer Autor zu erkennen gibt und sachliche Autorität zu erkennen gibt. 68 Im Folgenden werde ich allerdings nicht diese Differenzierung weiter vertiefen, sondern die verschiedenen Aspekte textinternen hermeneutischen Potentials in den neutestamentlichen Texten zusammenstellen. Ich frage daher: Welche textinternen hermeneutischen Themen und Aussagen begegnen in den neutestamentlichen Texten? Ich greife einige zentrale Beispiele heraus: • Methodik des Schriftstellers: z.B. Lk 1,3; 1Kor 7,25: „Über die Jungfrauen habe ich kein Gebot des Herrn; ich sage aber meine Meinung als einer, der durch die Barmherzigkeit des Herrn Vertrauen verdient“ (epitagé kyríu). • Ziel/ Funktion des Schreibens: o Ziel/ Funktion der Gesamtschrift: z.B. Lk 1,4; Joh 20,30f.: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht ge- 64 Pseudonym, dabei Paulus zugeschrieben: 2Thess, Kol, Eph, 1/ 2Tim, Tit; dabei Petrus zugeschrieben: 1/ 2 Petr; dabei Jakobus zugeschrieben: Jak; dabei Judas zugeschrieben: Jud; dabei dem presbýteros zugeschrieben: 2 und 3 Joh. 65 1Thess, 1/ 2Kor, Röm, Gal, Phil und Phlm. Vgl. dazu zuletzt W ISCHMEYER , O. (Hg.), Paulus. Leben - Umwelt - Werk- Briefe (UTB 2767), Tübingen/ Basel 2006. 66 Zur Diskussion über den „orthonymen“ Status der Johannes-Apokalypse vgl. zuletzt auch die Darstellung in: B ECKER , E.-M., Patmos - ein utopischer Ort? Apk 1,9-11 in auslegungs- und kulturgeschichtlicher Hinsicht, in: Saeculum 59 (2008) [im Druck]. 67 Dazu die Überlegungen zur kommunikativen Funktion der Briefhermeneutik im 2Kor bei B ECKER , Schreiben und Verstehen. 68 Dazu die Textbeispiele unten: „Erzählerkommentare“. <?page no="207"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 207 schrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist […]“. o Ziel/ Funktion der Argumentation und Kommunikation: z.B. 1Kor 7,35; 15,1f.; 2Kor 1,12-14; 2,3ff. o Normierungen: Normierung von Überlieferung: z.B. 1Kor 15,3bff.; 1Tim 6,3 Normierung der Gesamtschrift: Apk 22,18-19; 2 Thess 3,14f. Normierung der Prä-Texte: z.B. 2Tim 3,16: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit [...]“. • Form/ Gattung des Schreibens: Mt 1,1; Mk 1,1; Lk 1,1; Apg 1,1; Hebr 13,22: „Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, nehmt dies Wort der Ermahnung an […]“. • Identifikation des Verfassers: o Editorische Funktion: Joh 21,24-25: „Dies ist der Jünger, der dies alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist [...]“. o Zeugenschaft und „Glaube“: z.B. Joh 19,35; 20,30f.; Apk 22,18. • ad lectorem-Wendungen: z.B. Mk 13,14; Apk 17,9; Apk 2,7: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt [...]“. • Erzählerkommentare: o Sachliche Deutung: z.B. Joh 4,9b; 5,2-3; Mk 9,3b; Mk 7,3-4: „Denn die Pharisäer und die Juden essen nicht, wenn sie nicht die Hände mit einer Handvoll Wasser gewaschen haben, und halten so die Satzungen der Ältesten“. o Sprachliche Deutung: z.B. Joh 19,17 o Sachliche conclusio: z.B. Mk 7,19b; Joh 5,16 o Narrativer Kommentar: z.B. Joh 2,11; 4,54 o Auktoriales Erzählverhalten: z.B. Joh 6,61 o „Wirkungsgeschichtlicher Kommentar“: z.B. Joh 2,22: „Als er nun auferstanden war von den Toten, dachten seine Jünger daran, daß er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte“. • Traditionssicherung und -kritik: o Expliziter Verweis auf die z.B. prophetische Tradition: z.B. Mk 1,2; Mt 2,5; 1 Kor 9,9 etc. o Implizite Wiederaufnahme von (frühchristlichen) Traditionen: z.B. 1 Kor 9,9 in 1 Tim 5,18? o Kritische Würdigung frühchristlicher Traditionen: z.B. Jak 2,14ff.; 2 Petr 3,15f. <?page no="208"?> Eve-Marie Becker 208 (c) Der Exeget und die textinterne Exegese In meiner Dissertation zur ‚paulinischen Briefhermeneutik im 2. Korintherbrief’ 69 habe ich den speziellen Ansatz einer textinternen Brief-Hermeneutik auf der Basis textlinguistischer Überlegungen, wie sie bei Elisabeth Gülich und Wolfgang Raible 70 formuliert sind, und literaturwissenschaftlicher Überlegungen von Peter Rusterholz 71 wie folgt zu umschreiben versucht: „‚Textintern’ beschreibt die sprachliche, insbesondere die syntaktische und semantische Dimension eines Textes, während ‚textextern’ auf die Referenzialität eines Textes in der Wirklichkeit verweist. So verstanden, konstituieren textinterne Relationen die Kohäsion eines Textes. Textinterne Hermeneutik kann nun allgemein nach den in den Texten inhärenten Aussagen zu (Textproduktion und -rezeption, Verf.in) fragen. In dieser Konzentration auf den Text berührt sich textinterne Hermeneutik mit dem, was in der Literaturwissenschaft die ‚textimmanente Analyse’ leisten kann“ 72 . Gleichwohl sind „textinterne Hermeneutik“ und „textimmanente Analyse“ zu unterscheiden 73 . Beide Begriffe sollen hier nicht äquivok verwendet werden. 74 Während die textimmanente oder werkimmanente Methode der Interpretation den Text als „Kunstwerk“ deuten wollte 75 , zielt die textinterne Hermeneutik darauf, den Einzeltext im Blick auf seinen hermeneutischen Form- und Aussagegehalt 76 zu analysieren. (d) Textinterne Hermeneutik: Nötige Abgrenzungen und mögliche Grenzen Der hier vorgelegte Ansatz einer textinternen Hermeneutik kann nur einen Aspekt von Texthermeneutik sowie von neutestamentlicher Exegese darstel- 69 Vgl. B ECKER , Schreiben und Verstehen. Siehe auch die englische Übersetzung B ECKER , E.-M., Letter Hermeneutics in 2 Corinthians. Studies in Literarkritik and Communication Theory (JSNT.S 279), Sheffield 2004. 70 Vgl. G ÜLICH , E./ R AIBLE , W., Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten (UTB 130), München 1977. 71 Vgl. R USTERHOLZ , P., Verfahren der Textanalyse. 1. Formen ‚textimmanenter Analyse’, in: A RNOLD / D ETERING , Grundzüge der Literaturwissenschaft, 365-385. 72 B ECKER , Schreiben und Verstehen, 141. 73 Ziel der textimmanenten oder werkimmanenten (vgl. W ILPERT , G. VON , Art. Werkimmanent, in: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989 7 , 1030) Interpretation ist die Konzentration auf den Einzeltext, der „aus ihm selbst heraus nach seinen eigenen Gesetzen“ (W ILPERT , Art. Werkimmanent, 1030) ausgelegt und verstanden werden soll. 74 Darauf hat Christine Lubkoll in der Diskussion auf der Tagung „Die Bibel als Text“ hingewiesen. 75 Vgl. dazu die stilkritisch orientierten Ansätze der sog. Werkinterpretation bei K AYSER , W., Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Tübingen 1992 20 sowie S TAIGER , E., Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1963 5 . Dazu T ORRA , E., Exkurs Stilistik, in: P ECHLIVANOS , Einführung in die Literaturwissenschaft, 112-115, besonders: 114. Vgl. auch N EUMANN , F.- W., Art. Kayser, Wolfgang, in: MLLKT 3 (2004), 316; G REIF , S., Art. Staiger, Emil, in: MLLKT 3 (2004), 621-622. 76 Siehe dazu a.) und b.) <?page no="209"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 209 len. Er stößt an methodische Grenzen und erfordert seinerseits methodische Abgrenzungen, die hier benannt werden sollen. Textinterne Hermeneutik basiert auf der Annahme, die Texte selbst hätten einen Form- und Aussagegehalt, der zu ihrer angemessenen Auslegung beiträgt. Die hier vorgestellten drei Perspektiven einer textinternen Hermeneutik beziehen die Dimensionen • des Autors in der Spannung von „Kreator“ und „Repetitor“, • des Textes und seines vielfältigen hermeneutischen Aussagenpotentials, • des Interpreten und Exegeten, der den Text textintern analysiert und deutet ein. Bei diesem Vorgehen treten u.U. mindestens drei theoretische und methodische Aspekte der Textauslegung in den Hintergrund: Der erste Aspekt betrifft die rhetorische Struktur der Texte: Der rhetorical criticism 77 zieht die rhetorische Valenz der Texte im Sinne einer Momentaufnahme der Wirkung des Textes auf die Adressatenschaft in Betracht und bezweifelt damit die propositionale „Eigentlichkeit“ des Aussagegehaltes der Texte 78 . Ich möchte daher als offene kritische Frage formulieren, ob die textinterne Hermeneutik im Unterschied zur rhetorischen Analyse eher dazu tendiert, Autor und Text unabhängig von der historischen Kommunikationssituation sowie der rhetorischen Strategie des Textes zu „glauben“ und damit stärker im „Einverständnis“ mit dem Text zu sein. Der zweite Aspekt betrifft die historische Referenzialität der Texte: Während die textinterne Textauslegung sich auf den „Text“ als Entität bezieht und beschränkt, weisen textexterne Fragen auf die Referenzialität des Textes und damit auch auf seine historische Kontextualisierung hin. Die Korrelation von „Text und Wirklichkeit“ oder „Text und Geschichtlichkeit“ trägt zu einer gegenseitigen Relativierung des Textes und seines Referenzrahmens bei. Die textinterne Hermeneutik jedoch könnte in der Gefahr stehen, einen „absoluten“ Textbegriff vorauszusetzen. Der dritte Aspekt betrifft die (rezeptions-)ästhetische Adaption der Texte, die den Leser und die Geschichte des Lesens zum Gegenstand kritischer Selbstreflexion macht. Eco formuliert diesen Umstand wie folgt: „Jeder Text verlangt und schafft sich stets zwei Arten von Modell-Leser. Der erste nimmt das Werk als rein semantisches Gebilde und wird zum Opfer der Strategien des Autors, 77 Vgl. zur Übersicht über den rhetorical criticism: A UNE , D.E., Art. Rhetorical criticism, in: ders., The Westminister Dictionary of New Testament and Early Christian Literature and Rhetoric, Louisville/ London 2003, 416-418; . P ORTER , S.E (ed.), Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period 330 B.C.-A.D. 400, Leiden 1997. 78 Vgl. dazu etwa M ITCHELL , M.M., Rhetorical and new literary criticism, in: R OGERSON , J.W./ L IEU , J.M., The Oxford Handbook of Biblical Studies, Oxford 2006, 615-633, 625: „Historical-rhetorical criticism seeks to understand one moment of the dynamic life of an ancient text as a persuasive act made by an author toward recipients within his or her literary culture”. Vgl. auch M ITCHELL , M.M, Art. Rhetorik, in: Lexikon der Bibelhermeneutik. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem rhetorical criticism vgl. B E- CKER , Schreiben und Verstehen, 22ff. <?page no="210"?> Eve-Marie Becker 210 der ihn Schritt für Schritt durch eine Reihe von Voraussagen und Erwartungen führt; der zweite bewertet das Werk als ästhetisches Produkt und beurteilt die Strategien, die der Text anwendet, um ihn zum Modell-Leser der ersten Art zu machen...“ 79 . Auch hier frage ich: Steht der an der textinternen Analyse orientierte Interpret oder Exeget des Textes eher in der Gefahr, zum Opfer der Autoren-Strategien zu werden? (e) Textinterne Hermeneutik: Leistung und Ausblick Worin also liegt die Leistung einer textinternen Hermeneutik - so möchte ich abschließend fragen. Ansatz und Aufgabe einer textinternen Hermeneutik machen den engen Zusammenhang der Kategorien „Text“ und „Hermeneutik“, der durch die eingangs resümierte Forschungsgeschichte evident ist, in ganz spezifischer Weise deutlich. Im Blick auf die Kategorie des „Textes“ können wir festhalten: Die Aufgabe der „Hermeneutik“ beginnt in den Texten selbst. Das heißt: Texte selbst haben ein hermeneutisches Potential. Diese Beobachtung ist für die Diskussion um die Notwendigkeit, Stellung und Bedeutung von Hermeneutik wichtig. Besonders die textinterne Analyse und Exegese tragen zur Auslegung und zum Verstehen der Texte bei, wenn sie deren hermeneutisches Potential wahrnehmen und ernstnehmen. Im Blick auf die Kategorie der „Hermeneutik“ ist festzuhalten: Die hermeneutische Aufgabe und der hermeneutische Vorgang beginnen nicht beim jeweiligen „Letzt-Leser“ des Textes, der um dessen Auslegung und Verstehen bemüht ist, sondern bereits beim Prozess der Textproduktion. Dies zeigt sich z.B. daran, wie der Autor Prä-Texte verarbeitet und deutet, wie er im Zuge der Kommunikation mit den Adressaten um eine eigene Kommentierung seines Schreibens bemüht ist oder wie er - namentlich selbst unbekannt - als literarischer Autor agiert und in dieser Gestalt auf die Rezeption seines Textes einwirken will. Textinterne Hermeneutik erweitert also den Text-Begriff um dessen hermeneutische Valenz. Sie erweitert die Begriffe und Ansätze der Hermeneutik um ihre textbezogene Fundierung. Damit wird deutlich, daß die „hermeneutische Spirale“ 80 , die für die unabgeschlossene Dynamik der hermeneutischen Aufgabe steht, schon beim Prozess der Textproduktion einsetzt. 79 E CO , Die Innovation im Seriellen, 167f. 80 Vgl. dazu im Blick auf die exegetischen Disziplinen: O SBORNE , G.R., The Hermeneutical Spiral. A Comprehensive Introduction to Biblical Interpretation, Downers Grove 2006 2 . Die Verwendung des Begriffs der ‚Spirale’ bei Osborn („.biblical interpretation entails a ‚spiral’ from text to context, from ist original meaning to ist contextualization or significance for the church today“, a.a.O., 22) bleibt jedoch unscharf und unklar, auch wenn er um eine Abgrezung vom Begriff des „hermeneutischen Zirkels“ bemüht ist: „A spiral is a better metaphor because it is not a claused circle but rather an open-ended movement from the horizon of the text to the horizon of the reader”, a.a.O., 22. Vgl. zum Begriff der hermeneutischen Spirale auch: B OLTEN , J., Die Hermeneutische Spirale. Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie, in: Poetica 17 (1985), H. 3/ 4. <?page no="211"?> Text und Hermeneutik am Beispiel einer textinternen Hermeneutik 211 Literatur A CZEL , R., Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien, in: N ÜNNING , A. (Hg.), Grundbegriffe der Literaturtheorie, Stuttgart/ Weimar 2004, 110-113. A GAMBEN , G., Die Zeit, die bleibt. 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Es zielt jedoch auf eine grundlegende Erfahrungskompetenz der Leserin und des Lesers ab. Jeder Text löst im Gedächtnis der Lesenden die Erinnerung an andere Texte aus. Denn wie Julia Kristeva 1 bereits Ende der sechziger Jahre herausgearbeitet hat, kann kein Text unabhängig von dem abgefasst werden, was schon einmal geschrieben worden ist. Die Tradition des „Schon-Gesagten“ bildet das Reservoir, aus welchem jeder Autor schöpft. Roland Barthes 2 fügt hinzu: „Jeder Text ist ein Intertext; andere Texte sind in ihm spürbar, auf verschiedenen Ebenen, unter Formen, die mehr oder weniger erkennbar sind: die Texte der früheren Kultur und diejenigen der zeitgenössischen Umwelt; jeder Text ist ein neues Gefüge vergangener Zitate“. Das Johannesevangelium bildet da keine Ausnahme. Denn es ist ein vernetzter Text bzw. ein Intertext. Obwohl es meistens als selbständiges literarisches Werk gelesen und interpretiert wird, setzt es die Existenz anderer Schriften voraus, die zum Teil kanonischen Wert besaßen (paradigmatisches Beispiel: die jüdische Bibel). Außerdem wurde das Johannesevangelium zur Zeit seiner Abfassung zu anderen Schriften in Beziehung gesetzt (vielleicht zu den synoptischen Evangelien) und später im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte in verschiedene Sammlungen eingeführt. Von da an existierte es als Bestandteil verschiedener literarischer Corpora. Man denke diesbezüglich an das johanneische Corpus, an die Evangelienliteratur, an das Neue Testament und schließlich an die christliche Bibel. Dieses Phänomen, nämlich dass sich die Lektüre immer auf dem Hintergrund bestimmter Prätexte oder in Korrelation mit anderen Texten ereignet, wird unter dem Begriff „Intertextualität“ verhandelt. Genauer formuliert: Das Phänomen der „Intertextualität“ 3 besteht in dem Zusammenspiel zwischen einem Hypotext oder Bezugstext einerseits und einem Hypertext oder Rezeptionstext andererseits. Diese recht allgemeine Definition kann auf folgende Weise präzisiert werden. Wenn das Zusam- 1 K RISTEVA , J., . Recherche pour une sémanalyse (Collection „Tel Quel“), Paris 1978. 2 B ARTHES , R., Art. Texte (théorie du), in: Encyclopaedia Universalis 17 (1996), 996-1000, hier: 998. 3 Zur Intertextualität vgl. P IEGAY -G ROS , N., Introduction à l’intertextualité, Paris 1996. <?page no="218"?> Jean Zumstein 218 menspiel innerhalb eines literarischen Werkes selbst zu beobachten ist, wird in einem engeren Sinn von „Intratextualität“ gesprochen; wenn sich dieses Phänomen hingegen zwischen unterschiedlichen literarischen Werken entfaltet, wird stricto sensu von „Intertextualität“ geredet. Die hermeneutische Tragweite der intertextuellen Fragestellung ist von erheblicher Bedeutung. Die Interpretation eines literarischen Werkes, insbesondere des Johannesevangeliums, entsteht nicht nur in der genauen Exegese des narrativen oder argumentativen Duktus, sondern zugleich in der Wahrnehmung seiner internen oder externen Vernetzung. Wir werden unsere Überlegungen in zwei Schritten entfalten. Zuerst werden wir unsere Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Intratextualität lenken, indem wir den Paratext des Evangeliums, den Prozess der relecture und das Phänomen der vielfältigen Interpretation kurz darstellen. In einem zweiten Teil werden wir das Phänomen der Intertextualität im engeren Sinn skizzieren, indem wir vier Aspekte unter die Lupe nehmen, nämlich die Überschrift des Evangeliums, die Intertextualität mit den anderen Evangelien, die Intertextualität innerhalb des johanneischen Corpus und schließlich die Intertextualität mit der jüdischen Bibel. 1 Das Phänomen der Intratextualität und die Architektur des Sinnes Das Johannesevangelium ist eine sich selbst auslegende Erzählung. Dieser innere Interpretationsprozess verwirklicht sich, indem intratextuelle Sinnverhältnisse gewoben werden. Der implizite Autor setzt verschiedene literarische Verfahren ein, um den Sinn der erzählten Geschichte festzusetzen. Dieser hermeneutische Prozess kommt auf verschiedene Weise zum Ausdruck. 1.1 Der Paratext: Prolog, Schluss und Epilog Das vierte Evangelium weist einen vollständig aufgebauten Paratext auf. Der Begriff „Paratext“ lässt sich folgendermaßen definieren 4 : „Der Paratext umfasst eine Summe von verschiedenen Zeichen, die einen bestehenden Text vorstellen, einrahmen, einführen, unterbrechen oder abschließen […] Der Paratext übt im allgemeinen eine Funktion der Begleitung oder der Einrahmung eines anderen Textes aus.“ Der das Evangelium eröffnende Prolog, der es abschließende Schluss und der Epilog gehören zu dieser Textsorte. Dies wirft die Frage auf, in welchem inneren Verhältnis Prolog, Schluss und Epilog zur johanneischen Erzählung stehen. 4 H ALLYN , F./ J ACQUES , G., Aspects du paratexte, in: D ELCROIX , M./ H ALLYN , F. (éd.), Introduction aux études littéraires. Méthode du texte, Paris/ Louvain-la-Neuve 2004 4 , 202. <?page no="219"?> Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur 219 Zunächst zum Prolog (Joh 1,1-18). Unter einem literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkt ist der Prolog eine Textsorte, die „sowohl einen Rückblick der Lektüre auf die Schrift als auch eine Antizipation der Schrift auf die Lektüre beinhaltet. Eine Vorrede (mit anderen Worten ein Prolog) kann darauf zielen dem Werk einen Sinn zuzuweisen […]. Die Vorrede ist ein Instrument der Entschlüsselung. Sie steuert die Lektüre, schützt den Text vor Unverständnis und falschen Interpretationen“ 5 . Diese Definition des Begriffs ist nicht neu, sondern schon bei Aristoteles belegt 6 . Ihm zufolge muss der Prolog die Leserschaft über die Absichten eines Werkes aufklären und ihr die Mittel zur Verfügung stellen, um den Gegenstand und den Verlauf dieses Werkes zu verstehen. Gemäß dieser Reflexion ist der Johannesprolog als Einstieg in die Lektüre zu verstehen, der die richtige Entschlüsselung der nachfolgenden Erzählung ermöglicht 7 . Dieser Lektüreeinstieg situiert sich nicht auf derselben Ebene wie die Erzählung selbst, sondern setzt bereits eine Reflexion über diese voraus. Dieser metareflexive Charakter des Prologs kennzeichnet sein intratextuelles Verhältnis mit der Erzählung, die in Joh 1,19 beginnt. Mit anderen Worten, der Prolog stellt weder die erste Episode des Evangeliums 8 , noch die Zusammenfassung seiner dramatischen Handlung 9 , noch sein theologisches Resümee dar. Er hat vielmehr die Funktion, den hermeneutischen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen die Erzählung gelesen werden soll. Mittels des für einen Mythos charakteristischen Sinnüberschusses verdeutlicht er das Hauptanliegen und die Bedeutung der folgenden Erzählung, noch bevor diese sich zu entfalten beginnt 10 . Theologisch-inhaltlich formuliert: Indem der Prolog den Logos zum absoluten und begründenden Anfang in Beziehung setzt und dann die Bewegung von der Präexistenz zur Inkarnation nachzeichnet, unterstreicht er, dass der Mensch Jesus, der im Zentrum der folgenden Erzählung stehen wird, Gott selbst inmitten der Welt ist. 5 H ALLYN / J ACQUES , Aspects du paratexte, 210-211. 6 Aristoteles, Rhetorik 3.14.12-19; 22-25. 7 Zum johanneischen Prolog vgl. T HEOBALD , M., Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh (NTA.NF 20), Münster 1988; Z UMSTEIN , J., Der Prolog. Schwelle zum vierten Evangelium, in: ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), Zürich 2 2004, 105-126. 8 In Joh 1,1-18 wird nicht der Anfang des Lebens Jesu (Geburt, Kindheit) erzählt, sondern die theologische Bedeutung der Inkarnation als solche thematisiert. 9 Die Passionsgeschichte, insbesondere der Tod am Kreuz, wird mit keinem Wort erwähnt. 10 Über diesen Aspekt vgl. W EDER , H., Der Mythos vom Logos (Johannes 1). Überlegungen zur Sachproblematik der Entmythologisierung, in: ders., Einblicke ins Evangelium, Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980-1991, Göttingen 1992, 401-434. <?page no="220"?> Jean Zumstein 220 Der Schluss des Evangeliums (Joh 20,30-31) 11 bildet ein weiteres Beispiel für den Paratext des vierten Evangeliums. Ist die letzte narrative Episode der johanneischen Vita Christi mit der Erscheinung des Auferstandenen vor Thomas gegeben, thematisiert der Schluss des Evangeliums die intentio operis auf einer Metaebene. Sowohl die Verwendung des Begriffs „Buch“ (biblíon) als auch der Verweis auf die „Zeichen“ (semeía) hebt das intratextuelle Verhältnis hervor. Es geht darum, von einem retrospektiven Gesichtspunkt aus die pragmatische Absicht, welche die narratio leitete, explizit zu formulieren, nämlich die Glaubenden zum Glauben aufzurufen 12 . Der Inhalt dieses Glaubens wird aber durch zwei zusammenhängende Thesen - eine christologische und eine soteriologische - inhaltlich näher bestimmt. Wer in der Person des irdischen Jesus den Gottesgesandten anerkennt, erhält die Gabe des wahren Lebens in Fülle. Somit, dank dieses Schlusses, sind die Leserin und der Leser in der Lage zu verifizieren, ob ihre Lektüre sachgemäß war. Der Epilog (Joh 21) 13 bildet ein letztes wichtiges Beispiel für den johanneischen Paratext. Gemäß der Theorie des Paratextes „kommt dem Epilog bzw. Nachspiel oder Nachwort üblicherweise die Funktion zu, eine (stabile) Situation kurz zu schildern, die zeitlich nach dem eigentlichen Schluss liegt und aus ihm folgt“ 14 . Diese Definition lässt sich in Bezug auf Joh 21 verifizieren. Nach fast einhelliger Auffassung der Forschung ist Joh 21 eine spätere Hinzufügung zum Corpus des Evangeliums. Das Kapitel beansprucht diesen Status insofern explizit, als es den Schluss des vorausgehenden Textes respektiert, nämlich Joh 20,30-31. Es ist also außerhalb der eigentlichen Erzählung angesiedelt, steht aber dennoch in einer engen intratextuellen Beziehung 15 . Worin besteht der Sinn dieses Epilogs, der sich in Beziehung zur vorausgehenden Erzählung setzt, um sich zugleich explizit von ihr zu unterscheiden? Die Schilderungen in Joh 21 sind als Fortsetzungen der abgeschlossenen Erzählung konzipiert und beziehen zu dieser Stellung, denn sie setzen sie in einen neuen geschichtlichen Bezugsrahmen. Während im Corpus des Evangeliums die Christologie das zentrale Thema darstellt, ist Joh 21 ekklesiolo- 11 Ausführliche Begründung bei S CHNELLE , U., Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule (FRLANT 144), Göttingen 1987, 151-156; ebenso Z UMSTEIN , J., L’évangile selon saint Jean (CNT IVb), Genève 2007, 294-297. 12 Zu diesem Aspekt vgl. Z UMSTEIN , J., Das Johannesevangelium. Eine Strategie des Glaubens, in: ders., Kreative Erinnerung, 31-45. 13 Ausführliche Begründung bei Z UMSTEIN , J., Die Endredaktion des Johannesevangeliums (am Beispiel von Kap. 21), in: ders., Kreative Erinnerung, 291-315. 14 G ENETTE , G., Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993, 280. 15 Die Beziehung zwischen Joh 1-20 und Joh 21 wird weder nur durch Diskontinuität noch einfach durch Kontinuität, sondern durch ein dialektisches Verhältnis gekennzeichnet, wobei sich klare Verbindungslinien und Verlagerungen kombinieren. <?page no="221"?> Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur 221 gisch ausgerichtet. Christus offenbart nicht mehr sich selbst 16 , sondern klärt die Bedeutung von zwei Schlüsselfiguren, Petrus und dem Lieblingsjünger, für die nachösterliche Zeit. Petrus wird in seine Rolle als universaler Hirte und ruhmvoller Märtyrer eingeführt, während der Lieblingsjünger zum Autor eines Zeugnisses, des vierten Evangeliums, wird, das der Erbauung aller Glaubenden dienen soll. In diesem Sinn führt die in Joh 21 vollzogene relecture der beiden johanneischen Hauptjünger eine Repragmatisierung des Evangeliums durch. Es wird gezeigt, wie der Geschichte des inkarnierten Logos eine Zukunft in der nachösterlichen Zeit eröffnet wird. Während das Evangelium (Joh 1-20) Christus in eine Erzählung einführt, führt der Epilog diese Erzählung in die Kirche ein. 1.2 Das Phänomen der relecture Das relecture-Modell 17 trägt einem typischen Phänomen der johanneischen Literatur Rechnung, der Tatsache nämlich, dass bestimmte Teile des Evangeliums durch Texte von variablem Umfang und unterschiedlicher Ausrichtung ergänzt wurden 18 . Von vornherein ist jedoch festzuhalten, dass diese Zusätze nicht darauf zielen, Lücken im narrativen Plot zu füllen, sondern die theologische Reflexion des vorhandenen Textes weiterzuführen. Zwischen dem ursprünglichen Text, dem sog. Bezugstext, und seiner Ergänzung, dem sog. Rezeptionstext, besteht deshalb ein Sinnverhältnis. Dieses Sinnverhältnis versucht das relecture-Modell näher zu bestimmen. Der Bezugstext und der Rezeptionstext sind nicht einfach aneinandergereiht, sondern beziehen sich eng aufeinander, denn der Bezugstext führte ja zur Entstehung des Rezeptionstextes. 16 Zwar könnten die Rahmenverse Joh 21,1.14 vermuten lassen, dass der Leser es mit einer klassischen Ostererscheinung zu tun hat. Jedoch ist zu betonen, dass sowohl der reiche Fischfang (hilfreiche Präsenz des Auferstandenen für die nachösterliche Gemeinde) als auch das gemeinsame Mahl (Anspielung auf die Eucharistie) zeigen, wie der nachösterliche Christus bei den Seinen anwesend bleibt. 17 Zur „Relecture“ vgl. D ETTWILER , A., Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) unter Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169), Göttingen 1995, 44-52; ders., Le phénomène de la relecture dans la tradition johannique: une proposition de typologie, in: M ARGUE- RAT , D./ C URTIS , A. (éd.), Intertextualités. La Bible en écho (Le Monde de la Bible 40), Genève 2000, 185-200; S CHOLTISSEK , K., In Ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften (HBS 21), Freiburg i. Breisgau u.a. 1999, 131- 139; Z UMSTEIN , J., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, in: ders., Kreative Erinnerung, 15-30; ders., Ein gewachsenes Evangelium. Der Relecture-Prozess bei Johannes, in: S ÖDING , T. (Hg.), Johannesevangelium - Mitte oder Rand des Kanons ? (QD 203), Freiburg im Breisgau 2003, 9-37. 18 Verschiedene Formen der relecture sind zu unterscheiden: der Paratext (Überschrift, Prolog, Epilog), die interne relecture (die Randbemerkungen, die relecture einer Erzählung durch eine Rede, die relecture einer Rede durch eine andere Rede), die relecture eines Werkes durch ein anderes literarisches Werk. <?page no="222"?> Jean Zumstein 222 Zwei Präzisierungen sind hier von Bedeutung. Zum ersten: Zielt der Rezeptionstext darauf, den Bezugstext zu vertiefen bzw. durch diesen aufgeworfene Fragen erneut zu reflektieren, so bedeutet dies, dass der Rezeptionstext die Gültigkeit und die Verbindlichkeit des Bezugstextes keineswegs in Frage stellt, sondern vielmehr anerkennt 19 . Zum zweiten: Obwohl die Interpretationsbewegung von Kontinuität geprägt ist, unterbreitet der Rezeptionstext nicht einfach eine Variante des Bezugstextes, d.h. eine neue Formulierung, die den ursprünglichen Inhalt schlicht wiedergibt. Die relecture erschöpft sich auch nicht in einem Kommentar, der per definitionem den zu kommentierenden Text treu erklärt. Mit der relecture - das ist der entscheidende Punkt - kommt ein Sinnüberschuss zum Ausdruck. Der Bezugstext erfährt eine kreative Rezeption, die eine neue Sinndimension des Textes erschließt. In Bezug auf die Abschiedsreden hat Andreas Dettwiler 20 zwei Interpretationsbewegungen identifiziert: zum einen die „explizierende Rezeption“, die bestimmte Aspekte des Bezugstextes ausführlich erläutert und damit seine theologische Ausrichtung verstärkt; zum anderen die „thematische Akzentverlagerung“, die die theologische Problematik des Bezugstextes in einen neuen Kontext setzt und unter einem neuen Gesichtspunkt behandelt. Kommen wir zu einem Beispiel. Ein klassisches Problem der Johannesexegese bilden die drei aufeinanderfolgenden Reden, die Jesus im Rahmen des letzten Mahles an seine Jünger richtet: die erste Abschiedsrede (Joh 13,31- 14,31), die zweite Abschiedsrede (Joh 15-16) und das Abschiedsgebet (Joh 17). Wie ist diese Abfolge unterschiedlicher Reden zu interpretieren? Das Problem wurde oft mit einer literarkritischen Hypothese zu lösen versucht: Joh 15-17 bilden einen Nachtrag, den die Endredaktion dem Werk des Evangelisten hinzufügte 21 . 19 An diesem Punkt wird die Grenze der klassischen „Literarkritik“ offensichtlich, die nur mit dem Modell des Widerspruchs (die Theologie der Kap. 15-17 würde im Gegensatz zur ersten Abschiedsrede stehen, so B ECKER , J., Das Evangelium nach Johannes, Band 1: Kapitel 1-10 (ÖTBK 4/ 1), Gütersloh/ Würzburg 1991 3 , 39-41) oder der Dublette arbeitet (zusätzliches Material würde hier hinzugefügt werden, so B ROWN , R., The Gospel according to John, Volume 2: Chapters xiii-xxi (AncB 29A), Garden City 1970, 581-597). 20 D ETTWILER , A., Die Gegenwart des Erhöhten, 48-49. 21 Vgl. B ECKER , J., Das Evangelium nach Johannes, Band 2: Kapitel 11-21 (ÖTBK 4/ 2), Gütersloh/ Würzburg 1991 3 , 531. 571-572; D ETTWILER , Die Gegenwart des Erhöhten, 41- 44; D IETZFELBINGER , C., Der Abschied des Kommenden. 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Der irritierende Versteil Joh 14,31c („steht auf, lasst uns von hier fortgehen“ 23 ), der als Abschluss der ersten Rede stehen blieb, ist der beste Beweis dafür, dass sich die zweite Rede (Joh 15-16) gegenüber der ersten als dezidiert neue Interpretationsbewegung anbietet. 1.2 Das Phänomen der vielfältigen Interpretation Mit dem Paratext wird die Erzählung auf einer reflexiven Metaebene eingerahmt und kommentiert. Mit der relecture wird der Bezugstext in einem Rezeptionstext Gegenstand einer weiterführenden Interpretation. Der explizite Kommentar - „ein ständiges Merkmal der johanneischen narratio“ 24 - ist ein drittes Beispiel einer intratextuellen Beziehung, die mit den verschiedenen Ebenen des Textes spielt. Er unterbricht den Verlauf der Erzählung, um auf einer Metaebene zur erzählten Geschichte Stellung zu beziehen. Ein klassisches Beispiel ist die Hochzeit zu Kana: kommt die eigentliche Erzählung in 2,1-10 zum Ausdruck, wird in V. 11 die erzählte Geschichte auf einer Metaebene mit theologischen Kategorien gedeutet, die in der Wundergeschichte selbst nicht vorkommen: „Das tat Jesus als Anfang der Zeichen in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn.“ Die- 22 Vgl. Z UMSTEIN , L’évangile selon saint Jean, 90-93. 23 Vgl. D ETTWILER , Die Gegenwart des Erhöhten, 34.37-41. 24 Zum Problem der Randbemerkungen im Joh vgl. die wichtigen Beiträge von B JERKE- LUND , C.J., Tauta Egeneto. Die Präzisierungssätze im Johannesevangelium (WUNT 40), Tübingen 1987; B ELLE , G. VAN , Les parenthèses dans l’évangile de Jean (Studiorum Novi Testamenti Auxilia XI), Leuven 1985; O LSSON , B., Structure and Meaning in the Fourth Gospel. A text-linguistic analysis of John 2,1-11 and 4,1-42 (Coniectanea Biblica N.T. Series 6), Uppsala 1974; R OURKE , J.J., Asides in the Gospel of John, in: NT 21 (1979), 210- 219; T ENNEY , M.C., The Footnotes of John’s Gospel, in: Bibliotheca Sacra 117 (1960), 350- 364. In seinem berühmten Buch ‚Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design’ (Philadelphia 1983) hat R.A. Cullpepper das Konzept des Kommentars weitererforscht und den Begriff des „impliziten Kommentars“ als Kennzeichen der johanneischen Schriftweise hervorgehoben (vgl. C ULPEPPER , Anatomy of the Fourth Gospel, 150- 202). <?page no="224"?> Jean Zumstein 224 ses Phänomen der Intratextualität ist bekannt und bedarf keiner näheren Erläuterung 25 . Viel interessanter sind m.E. die Fälle, wo der Text nicht nur eine Deutung für eine erzählte Geschichte anbietet, sondern mehrere. Das berühmteste Beispiel dazu ist die Fußwaschung 26 , wo die erzählte Geschichte (Joh 13,2-4) - wenn man den Text in seiner Endgestalt betrachtet - zuerst die Handlung Jesu symbolisch-christologisch (Joh 13,5-11) und dann ekklesiologisch-ethisch (Joh 13,12-17) deutet, wobei die erste Interpretation durch die zweite nicht berücksichtigt wird. D.h. doch, dass derselbe Text verschiedene Deutungen generiert, die unterschiedliche Rollen einnehmen, je nachdem ob sie in ihrer diachronen Reihenfolge oder in ihrer synchronen Co-Präsenz betrachtet und bewertet werden 27 . Die Tempelreinigung (Joh 2,1-11) ist auch mit einer doppelten Deutung versehen. Wird in V. 16b-17 die traditionelle Bedeutung vertreten, dekodieren die V. 18-22 die erzählte Geschichte von einem nachösterlichen Gesichtspunkt her bzw. aufgrund des Kreuzes und der Auferstehung. 2 Die Intertextualität oder literarische Werke in Wechselwirkung Ein literarisches Werk führt keine einsame Existenz, sondern wird immer mit anderen literarischen Werken vernetzt. Seine Lektüre geschieht immer auf dem Hintergrund anderer Schriften und im Gespräch mit ihnen. Das vierte Evangelium macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Es ist mit drei literarischen Corpora verbunden. Zum ersten gehört es zur Sammlung der vier kanonischen Evangelien. Zum zweiten bildet es selbst ein Corpus mit den drei Johannesbriefen und - gemäß einiger Zeugnisse der Altkirche - der Offenbarung des Johannes. Zum dritten ist die verstehende Lektüre des Johannesevangeliums unabhängig von der jüdischen Bibel schlicht und einfach undenkbar. Dieses Zusammenspiel zwischen verschiedenen literarischen Corpora ist die klassische Form der Intertextualität. Als Ansatzpunkt unserer Überlegungen über die Intertextualität in der johanneischen Literatur ist es ratsam, mit dem Phänomen der Überschrift zu beginnen. 25 Ausführliche Analyse bei Z UMSTEIN , J., Die Bibel als literarisches Kunstwerk - gezeigt am Beispiel der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11), in: Geist im Buchstaben? Neue Ansätze in der Exegese, hg. von T. S ÖDING (QD 225), Freiburg im Breisgau u.a. 2007, 68-82. 26 Vgl. B ULTMANN , R., Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen 1941 10 , 351-352. Ausführliche Analyse bei Z UMSTEIN , J., Die johanneische Auffassung der Macht gezeigt am Beispiel der Fusswaschung (Joh 13,1-17), in: ders., Kreative Erinnerung, 161-176. 27 Betrachtet man den Text unter einem diachronen Gesichtspunkt, hat man es mit zwei sukzessiven christologischen Deutungen der Fußwaschung zu tun (die traditionelle Deutung: Joh 13,12-17, und danach die Deutung des Evangelisten: Joh 13,5-11). Wird der Text hingegen synchron gelesen, bilden die V. 5-11 die christologische Deutung, während die V. 12-17 die ekklesiologisch-ethische Deutung zum Ausdruck bringen. <?page no="225"?> Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur 225 2.1 Die Überschrift des Evangeliums Die Überschrift des vierten Evangeliums „Evangelium nach Johannes“ ist ein sekundärer Nachtrag, der zum Paratext des Evangeliums gehört. Diese Überschrift hat zuerst eine benennende Funktion: als Unterscheidungszeichen ermöglicht sie die Identifizierung des Werkes. Dank der Überschrift konnte das vierte Evangelium von anderen Werken unterschieden, im Gottesdienst öffentlich vorgelesen oder in Gemeindearchiven identifiziert werden 28 . Insbesondere war die Betitelung die Voraussetzung für die Annahme in ein schriftliches Corpus - sei dies das johanneische oder das neutestamentliche Corpus. Die Überschrift wurde also notwendig, als das Evangelium in den urchristlichen Gemeinden zirkulierte und der Kanonisierungsprozess in Gang gesetzt wurde. Die Wahl der Überschrift „Evangelium nach Johannes“ (euangélion katà Ioánnen) ist von hermeneutischer Tragweite und führt zu einer neuen Lektüre des Werkes 29 . Obwohl der Begriff „Evangelium“ (euangélion) in der johanneischen Literatur selbst kein einziges Mal vorkommt, wurde er zur Bezeichnung dieser Schrift gewählt. Er diente auch zur Betitelung der synoptischen Evangelien und etablierte sich zu Beginn des 2. Jahrhunderts als Terminus technicus für die Erzählungen des Lebens Jesu 30 . Die Überschrift „Evangelium“ ordnete also das vierte Evangelium dieser Literaturgattung zu und setzte es zu den bereits bestehenden Erzählungen in Beziehung. Von nun an ist die johanneische Vita Jesu als Evangelium zu lesen. Der präpositionale Ausdruck „nach Johannes“ (katà Ioánnen) fällt eine weitere Entscheidung von theologischer Tragweite. Die johanneische Schrift wird nicht als Evangelium des Johannes, sondern als Evangelium nach Johannes bezeichnet. Diese Formulierung gibt zu verstehen, dass im johanneischen Werk nicht irgendein Evangelium, sondern das Evangelium überhaupt zur Sprache kommt. Neben den synoptischen Evangelien wird das Johannesevangelium als legitimer Ausdruck des einen Evangeliums vorgestellt. Die durch die Überschrift vollzogene relecture hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Rezeptionsgeschichte des Evangeliums. Sie setzte sowohl seine literarische Gattung als auch seine apostolische Autorität fest. Das Johannesevangelium blieb nicht mehr länger nur die Schrift des johanneischen 28 H ENGEL , M., Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH 1984/ 3), Heidelberg 1984, 33-40; ders., Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. F REY (WUNT 67), Tübingen 1993, 204-209. 29 Die Überschrift „Evangelium nach Johannes“ ist nicht nur - so die klassische Forschung - im Rahmen der Debatte über die Apostolizität des Evangeliums zu betrachten, sondern hat eine klare hermeneutische Tragweite. Ausführliche Begründung bei Z UMSTEIN , Der Prozess der Relecture, 16-17. 30 B AUER , W., Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von K. A LAND und B. A LAND , Berlin/ New York 1988, c. 644; F RIEDRICH , G., Art. , in: ThWNT II, 733-734. <?page no="226"?> Jean Zumstein 226 Christentums, sondern avancierte zu einer Schrift der Alten Kirche überhaupt. 2.2 Die Intertextualität mit den Evangelien Die Kanongeschichte bezeugt, dass am Ende des 2. Jahrhunderts die Sammlung der vier kanonischen Evangelien schon fest angelegt war 31 . Das entstehende Corpus stellt die Frage der Intertextualität. D.h.: sehr früh wurden die Leserin und der Leser mit dem Phänomen des einzigen Evangeliums unter vier Formen konfrontiert. Es ist aber möglich, diese Fragestellung - wenn auch unter einem anderem Blickwinkel - früher anzusetzen. In diesem Fall muss man sich mit dem berühmten Problem des Verhältnisses zwischen dem Johannesevangelium zur Stunde seiner Abfassung und den Synoptikern auseinandersetzen. Bis heute wird die Frage kontrovers diskutiert. Hat Johannes einen der Synoptiker oder mehrere gekannt oder ist es völlig unabhängig von den Synoptikern konzipiert worden 32 ? Und falls er zum Beispiel das Markusevangelium kannte, kannte er es als mündliche Tradition oder als schriftlichen Text 33 ? Wie dem auch sei, zwei Beobachtungen sind hier von Gewicht. Es scheint immer weniger wahrscheinlich, dass Johannes ein zweites Mal und völlig unabhängig von den Synoptikern die Gattung des Evangeliums frei und selbständig erfunden hat (so z.B. Jürgen Becker 34 ). Gleichwohl ist es auch sehr problematisch zu vermuten (so z.B. die Leuvener Schule, Hartwig Thyen und Udo Schnelle 35 ), dass Johannes seinen synoptischen Prätext nach dem synoptischen Modell der Zweiquellen-Theorie bearbeitet hat. Der hier in Gang gesetzte intertextuelle Prozess ist nicht literarkritischer Art, denn es geht nicht um die sorgfältige und wörtliche Bearbeitung einer schriftlichen Quelle. Stattdessen kann man mit Gérard Genette 36 argumentieren und dies- 31 K AESTLI , J.D., Histoire du canon du Nouveau Testament, in: Introduction au Nouveau Testament, 453-459. 32 Überblick der neueren Forschung bei B ROWN , R.E., An Introduction to the Gospel of John, ed. by F.J. M OLONEY (ABRL), New York 2003, 90-114. 33 Vgl. Byrskog, S., Story as History - History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000. 34 B ECKER , Das Evangelium nach Johannes I, 47. 35 So die Leuvener Schule, vgl. D ENAUX , A. (ed.), John and the Synoptics (BETHL 101), Leuven 1992; T HYEN , H., Johannes und die Synoptiker. Auf der Suche nach einem neuen Paradigma zur Beschreibung ihrer Beziehungen anhand von Beobachtungen an Passions- und Ostererzählungen, in: D ENAUX , John and the Synoptics, 81-107; ders., Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005; S CHNELLE , U., Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 2007 6 , 506-509. Dieses Modell arbeitet mit der Unterscheidung Tradition - Redaktion, d.h. eine synoptische Quelle wird vorausgesetzt (in erster Linie Mk) und es wird beobachtet, wie Johannes bestimmte Elemente wieder aufnimmt, weglässt, verändert oder hinzufügt. 36 G ENETTE , G., Palimpseste. La littérature au second degré (Collection Poétique), Paris 1982, 14-17. <?page no="227"?> Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur 227 bezüglich vom Phänomen der Hypertextualität sprechen. Unter Hypertextualität verstehen wir eine distanzierte und freie johanneische Rezeption der synoptischen Evangelien. Was gibt es nun zu entdecken, wenn der Lesende dieses intertextuelle Zusammenspiel in Gang setzt, d.h. wenn er nicht mehr die rein lineare Entwicklung der Erzählung im Blick hat, sondern ihre indirekte Beziehung zu den synoptischen Evangelien, insbesondere zum Markusevangelium? Nehmen wir ein Beispiel, das eine paradigmatische Bedeutung hat, nämlich die Eingliederung des Passionsstoffes in die gesamte johanneische Vita Jesu. Die Leserin und der Leser bemerken sehr schnell, dass der Erzähler einen erheblichen Teil der Passionstradition versetzt und sie im ersten Teil des Evangeliums verstreut hat 37 . Als Beispiel sei die Tempelreinigung (Joh 2,13-22) angeführt 38 . Während die Synoptiker diese Episode im Rahmen des letzten Aufenthaltes Jesu in Jerusalem berichten (vgl. Mk 15,11-19par.) und unter einem historisch-kritischen Gesichtspunkt eindeutig Recht haben sollten (dieser Zwischenfall ist nämlich wahrscheinlich einer der Gründe der Verhaftung und des Prozesses des historischen Jesus 39 ), erzählt Johannes dieses Ereignis im Kap. 2, d.h. ganz am Anfang des Lebens des johanneischen Christus. Gepaart mit dem Zeichen von Kana bildet es den programmatischen Anfang des Wirkens des johanneischen Christus. Wie ist diese johanneische Darstellung der Vita Christi zu verstehen? Hat die Tempelreinigung zweimal stattgefunden, einmal am Anfang und einmal am Ende des Wirkens des Galiläers - so der historisierende Fundamentalismus - oder hat sich Johannes geirrt, Opfer einer schlecht informierten Tradition oder seiner Ignoranz der faktischen Verhältnisse des Lebens Jesu - so die historische Kritik? All diese Versuche sind als Notlösungen zum Scheitern verurteilt. Denn sowohl die johanneische Schule als auch die ersten Leser des Evangeliums wussten ganz genau, dass die Tempelreinigung zum Kontext der Passionsgeschichte gehörte. Gerade weil diese Episode mit der Passionsgeschichte assoziiert war, wurde sie durch die auktoriale Instanz an den Anfang des Evangeliums versetzt. Durch diese intertextuelle Beziehung entsteht ein Sinneffekt: Der Schatten des Kreuzes schwebt von Anfang an über der Erzählung. Das Zeichen von Kana (Joh 2,1-11) bestätigt diese Interpreta- 37 Die Tempelreinigung (Mk 11,15-19) wird in Joh 2,13-17 versetzt, die Vollmachtsfrage (Mk 11,27-33) in Joh 2,18-22, der Tötungsplan (Mk 14,1-2) in Joh 11,45-53, die Salbung Jesu (Mk 14,3-9) in Joh 12,1-8, der Einzug in Jerusalem (Mk 11,1-11) in Joh 12,12-19. Außerdem wird die Getsemani-Szene (Mk 14,32-42) weggelassen, nur einzelne Bruchstücke werden in Joh 12,23.27-29 wieder aufgenommen und neu kontextualisiert. Der johanneische Prozess Jesu vor den jüdischen Behörden ist von seinem traditionellen Inhalt entleert: Das Tempelwort (Mk 14,58) wird in 2,19 eingefügt, die messianische Frage und die Lästerungsanklage (Mk 14,61-64) werden in Joh 10,22-30.31-39 versetzt. 38 Ausführliche Begründung bei Z UMSTEIN , J., Kreative Erinnerung. Zur johanneischen Auffassung der Zeit, in: Hermeneutische Blätter 172 (2006), 27-39. 39 Vgl. z.B. L UZ , U./ M ICHAELS , A., Jesus oder Buddha (bsr 1462), München 2002, 125-126; R OLOFF , J., Jesus, München 2002 2 , 107-110. <?page no="228"?> Jean Zumstein 228 tion. Als positives Pendant zur johanneischen Tempelreinigung setzt es mit der berühmten Aussage „meine Stunde 40 ist noch nicht gekommen“ (2,4) denselben Akzent. Zwar ist die Zeit des Heils angebrochen, wie es das Weinwunder andeutet, aber diese Zeit kann und darf nicht von der noch nicht gekommenen „Stunde“ getrennt werden, nämlich der Stunde des Kreuzes, die als Vollendung der Offenbarung zu begreifen ist. Das Fazit ist unausweichlich: Gemessen an dem intertextuellen Spiel mit der synoptischen Tradition bezeugt das Vorziehen der Episoden keine Inkompetenz des Erzählers, sondern seinen theologischen Gestaltungswillen. 2.3 Die Intertextualität innerhalb des johanneischen Corpus Ein weiteres interessantes Phänomen ist mit der Entstehung des johanneischen Corpus gegeben, das aus den Evangelien, den drei Briefen und vielleicht der Offenbarung des Johannes besteht. Das Evangelium ist Bestandteil einer Sammlung und soll auch im Rahmen dieser Sammlung gelesen werden. Welcher hermeneutische Prozess wird dadurch ausgelöst? Das Verhältnis zwischen dem Evangelium und dem 1.Johannesbrief liefert das interessanteste Beispiel dieses intertextuellen Zusammenspieles 41 . Bevor das intertextuelle Verhältnis zwischen diesen beiden literarischen Werken thematisiert wird, sind zwei Fragen abzuklären. Die erste betrifft die chronologische Reihenfolge der beiden Schriften: Diese lässt sich zwar nicht mit letzter Gewissheit bestimmen, doch bleibt die Priorität des Evangeliums vor dem Brief die wahrscheinlichste Hypothese 42 . Die zweite Frage betrifft den Autor: Während das Evangelium seine Autorschaft im Kap. 21 explizit thematisiert - der Lieblingsjünger wird als Autor bezeichnet, wie immer diese Aussage historisch zu bewerten ist -, bleibt der erste Johannesbrief anonym. Wir haben es also mit zwei verschiedenen auktorialen Instanzen zu tun. Wenn diese beiden Voraussetzungen einige Wahrscheinlichkeit haben, dann ist das Evangelium als Hypotext und der 1. Johannesbrief als Hypertext einzustufen. Wie ist diese Hypothese zu begründen 43 ? Die argumentative Ausrichtung des Briefes ist charakteristisch: Sie konfrontiert zwei Wissenskategorien miteinander: Das traditionelle kirchliche Wissen, für das der implizite Autor des Briefes Partei ergreift, und das Wissen der Opponenten, die er 40 Die klassische Formulierung der Prolepse der Stunde besteht in der Aussage: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ (2,4; 7,6.30; 8,20). Die Verwendung des Begriffs „Stunde“ („hé hóra“) in Joh 12,23.27; 13,1 weist deutlich daraufhin, dass es um die Kreuzesstunde geht. 41 Vgl. B ROWN , R.E., The Epistles of John (AncB 30), Garden City, NY 1982, 86-103; K LAUCK , H.-J., Die Johannesbriefe (EdF 276), Darmstadt 1991, 88-109. 42 Vgl. K LAUCK , Die Johannesbriefe, 125-126. 43 Ausführliche Begründung bei B ROWN , The Epistles of John, 90-92; Z UMSTEIN , Der Prozess der Relecture, 18-21. <?page no="229"?> Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur 229 bekämpft. Der Autor beruft sich auf das traditionelle Wissen seiner Gemeinde bzw. auf seine eigene Glaubenstradition, die er sodann neu formuliert, um die Position der Opponenten zu widerlegen. In diesem Kommunikationskontext soll der alte Glaube nicht modifiziert, jedoch expliziert und in einem neuen Kontext aktualisiert werden. Die vom 1. Johannesbrief vollzogene hermeneutische Bewegung, die wir als relecture bezeichnen könnten, konkretisiert sich in einer Lektüreanweisung, die das richtige Verstehen der überlieferten Tradition ermöglichen soll. Diese argumentative Strategie des Briefes kann kaum bestritten werden, kontrovers bleibt die Frage, ob zwischen der häufig zitierten Glaubenstradition und dem Evangelium eine Verbindung besteht. Für eine solche Verbindung sprechen zwei deutliche Sachverhalte: Einerseits imitiert der 1. Johannesbrief die Struktur des Evangeliums (Prolog - Schluss - Epilog). Indem der Brief die Disposition des Evangeliums nachahmt, erweckt er den Eindruck, zu diesem in einem besonderen Verhältnis zu stehen, so dass zu seiner Lektüre das Evangelium heranzuziehen ist 44 . Andererseits bestehen zwischen dem Evangelium und dem 1. Johannesbrief nicht nur große Ähnlichkeiten, sondern auch entscheidende Unterschiede, so etwa im Stil, in der verwendeten Begrifflichkeit und bezüglich der behandelten Themen 45 . Dieses spannungsvolle Verhältnis sollte weder marginalisiert noch hochgespielt werden, sondern in seinem dialektischen Charakter gewürdigt werden, bringt es doch paradigmatisch die Bewegung des intertextuellen Zusammenspieles (oder der relecture) zum Ausdruck. Der Brief nimmt bestimmte Aussagen des Evangeliums wieder auf - daher die Übereinstimmungen -, um sie aufgrund von Aporien, in die sie geführt haben, und aufgrund einer neuen Situation zu reformulieren - daher die Differenzen. Die doppelte Bewegung der explizierenden Rezeption und der thematischen Verlagerung ist hier wiederzuerkennen. 2.4 Die Intertextualität mit der jüdischen Bibel Diese letzte Thematik stellt die Frage der Schriftrezeption im vierten Evangelium, insbesondere des Propheten Jesaja und der Psalmen, die als Lieblingsbücher des impliziten Autors eingeschätzt werden können 46 . Im Unterschied zu den synoptischen Evangelien und zum 1. Johannesbrief haben wir es mit einem ganz neuen Sachverhalt zu tun, insofern der Hypotext oder Bezugstext 44 Vgl. B ROWN , The Epistles of John, 91-92; K LAUCK , H.-J., Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Paderborn 1998, 258. 45 Vgl. C ONZELMANN , H., „Was von Anfang war“, in: ders., Theologie als Schriftauslegung (BevTh 65), München, 1974, 207-214. 46 Jes 6,10 in Joh 12,40; Jes 40,3 in Joh 1,23; Jes 53,1 in Joh 12,38; Jes 54,13 in Joh 6,45; Jes 66,14 in Joh 16,22; Ps 6,4f. in Joh 12,27; Ps 22,19 in Joh 19,24; Ps 34,21 in Joh 19,36; Ps 35,19 in Joh 15,25; Ps 69,10 in Joh 2,17; Ps 78,24 in Joh 6,31; Ps 82,6 in Joh 10,34; Ps 118,25f. in Joh 12,13. <?page no="230"?> Jean Zumstein 230 im Hypertext oder Rezeptionstext materiell präsent ist. Mit anderen Worten: Fragmente des Hypotextes wurden im Hypertext angeführt. Das ist das klassische Phänomen des Zitates. Bis vor kurzem fokussierte sich die exegetische Arbeit auf zwei Sachverhalte. Zum einen war die Forschung vor allem damit beschäftigt, die Zitate zu identifizieren, die in der narratio vorkommen. Das Interesse wurde auf die möglichen Quellen gerichtet und auf die Art und Weise, wie der implizite Autor die ausgeliehenen Passagen der jüdischen Bibel rezipiert und modifiziert hatte 47 . Eine erhebliche Schwäche, die sogar in der 27. Ausgabe des Nestle-Aland zum Vorschein kommt, war die ungenügende Differenzierung zwischen einem Zitat, einem Verweis und einer Anspielung 48 . Zum zweiten wurde die hermeneutische Frage in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Autorität der jüdischen Schrift angegangen. D.h., das Zitat wurde in erster Linie als Legitimierungsprozess bewertet. Ein Wort oder eine Handlung des johanneischen Christus erhielten eine unbestreitbare Glaubwürdigkeit, würden sie durch eine Passage der jüdischen Schrift bewahrheitet. Die neuere Forschung über die Intertextualität hat aber gezeigt, dass eine solche Betrachtungsweise zu kurz greift. Wer das Brotkapitel (Joh 6) aufmerksam liest 49 , bemerkt, dass wir es zwar mit zwei Zitaten (Joh 6,31 zitiert Ps 77,24 LXX, 6,45 Jes 54,13), mit einem Verweis (Joh 6,31a verweist auf Ex 16) und schließlich mit mehreren Anspielungen (das Murren der Juden in Joh 6,41; vgl. Joh 6,43.63 als Verweis auf Ex 16,2.7.8.9.12; der wahre Prophet 6,14 als Verweis auf Dtn 18,15.18 [? ]) zu tun haben. Diese Bezüge zur jüdischen Schrift sind aber nicht separat zu lesen, sondern bilden einen kohärenten Zusammenhang, der als der hermeneutische Hintergrund der ganzen Rede wahrzunehmen ist. Der Hypotext wird nicht nur als Legitimierung geltend gemacht, sondern er weist eine Produktivität auf, die den ganzen Hypertext prägt. Von daher entsteht der Sinn der Brotrede nicht nur durch die lineare Entwicklung der Argumentation, sondern auch durch die ständige schräge Beziehung zum Hypotext. Wer die Mannageschichte im Gedächtnis hat, verfügt über das metaphorische Reservoire, das zu einer vollen Wahrnehmung des Brotkapitels führt. Es gilt aber zu bemerken, dass das Verhältnis 47 Paradigmatisch. M ENKEN , M.J.J, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form (CBET 15), Kampen 1996. 48 Das Zitat besteht in der wörtlichen Wiedergabe eines Textes A in einem Text B. Der Verweis ist auch eine explizite Form der Intertextualität; im Unterschied zum Zitat verweist Text B auf einen Text A, ohne ihn in extenso anzuführen - es handelt sich um ein Verhältnis in absentia. Im Unterschied zum Zitat ist eine Anspielung weder explizit noch eine wörtliche Wiedergabe eines Textes A in einem Text B. Mit nur einem Wort oder einer Redewendung ist die Anspielung in der Lage, einen bekannten Text in Erinnerung zu rufen. 49 Vgl. T HEOBALD , M., Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, in: The Scriptures in the Gospels. Ed. by C.M. T UCKETT (BEThL 131), Leuven 1997, 327-366; ausführliche Analyse bei Z UMSTEIN , J., Die Schriftrezeption in der Brotrede, in: ders., Kreative Erinnerung, 127-145. <?page no="231"?> Intratextualität und Intertextualität in der johanneischen Literatur 231 zwischen der Mannageschichte und dem Brotkapitel nicht einseitig ist, sondern von dialektischer Art. Zwar führt der bewusste Verweis auf die Mannageschichte zu einem sachgemäßen Verständnis des Brotkapitels, aber gleichzeitig und umgekehrt löst die verständnisvolle Lektüre des Brotkapitels eine neue Wahrnehmung der jüdischen Mannageschichte aus. Die Lektüre löst somit die Anerkennung des Hypotextes bei gleichzeitiger Überbietung aus 50 . Ein letzter wichtiger Punkt verdient hier Aufmerksamkeit. Die erfolgreiche Wahrnehmung des intertextuellen Zusammenspieles zwischen der Mannageschichte und dem Brotkapitel hängt von der Kompetenz der Leserin und des Lesers ab. Nicht eine einzige Lektüre bietet sich an, sondern mehrere, denn je nach Scharfsinn der Rezipienten kann die beabsichtigte Vernetzung ein unterschiedliches Maß erreichen. 3 Schluss Wie sind unsere Überlegungen in der hermeneutischen Debatte über die urchristliche Literatur einzuordnen? Vier Punkte sind hier hervorzuheben. 1. Ist die Hermeneutik als Theorie der Interpretation oder Metarede über die Interpretation zu begreifen, haben wir uns mit einem bestimmten Interpretationsprozess eines Textes befasst, nämlich mit der Frage der Intertextualität. Der zu interpretierende Text ist zwar eine selbständige Sinneinheit, er kann und darf aber nicht als beziehungsloser Text angegangen werden. Während die klassische Hermeneutik den zu interpretierenden Text in erster Linie in seinem historischen Kontext auslegte, haben wir eine Perspektive vertreten, in der der intratextuelle und der intertextuelle Kontext im Vordergrund stehen. Nicht mehr die Geschichte, sondern der Text steht im Mittelpunkt dieses hermeneutischen Konzeptes. 2. In der Entfaltung unserer Analyse sind wir mehrmals auf methodische Probleme gestoßen. Sowohl die Intratextualität als auch die Intertextualität setzen differenzierte Modelle voraus, um den konkreten Texten gerecht zu werden. Der vor kurzem erschienene Kommentar von Hartwig Thyen zum Johannesevangelium 51 schildert auf exemplarische Weise die Dringlichkeit einer solchen Arbeit. Es genügt nicht - wie Thyen es tut - vom Spiel mit einem Prätext zu sprechen, denn dieses so genannte Zusammenspiel kann sehr verschiedene Figuren annehmen, die sorgfältig voneinander zu unterscheiden sind. 3. Wenn der Text als Intertext zu lesen ist, dann ist die Kompetenz der Leserin und des Lesers entscheidend. Der Sinn des Textes ist kein vorgegebenes, immanentes Element, das durch die Exegese zu entdecken und herauszuarbeiten wäre, sondern er entsteht im dialektischen Zusammenspiel zwischen 50 Die Theorie der Intertextualität zeigt, dass nicht nur Text B bei dem Verweis auf einen Text A einen neuen hermeneutischen Horizont gewinnt, sondern dass auch Text B ein neues Licht auf Text A wirft. Der intertextuelle Bezug löst eine Wechselwirkung aus. 51 Vgl. T HYEN , Das Johannesevangelium. <?page no="232"?> Jean Zumstein 232 der intentio operis (um mit Umberto Eco zu sprechen 52 ) und der Arbeit der Lektüre. Wurde in der klassischen Hermeneutik der Akzent auf den Autor gesetzt, ist in den letzten Jahren eine Verschiebung zugunsten zuerst des Textes und dann des Lesers zustande gekommen. 4. Das hermeneutische Modell, das wir skizziert haben, ist keine theologische Hermeneutik, insofern es mit keinen bestimmten theologischen Voraussetzungen verbunden ist, die die Interpretationsarbeit führen oder normieren sollten. Es handelt sich um ein Modell, das die Lektüre jedes literarischen Textes fördern möchte, wozu auch die Texte der urchristlichen Literatur gehören. Wir sind nämlich überzeugt davon, dass nur eine reflektierte Hermeneutik des Textes den neutestamentlichen Texten, die zwar durchaus theologisch orientiert sind, Rechnung tragen kann. Literatur A UWERS , J.M./ D E J ONGE , H.J. (eds), The biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003. B ARTHES , R., Art. Texte (théorie du), in: Encyclopaedia Universalis 17 (1996), 996-1000. B ECKER , J., Das Evangelium nach Johannes, Band 1: Kapitel 1-10 (ÖTBK 4/ 1), Gütersloh/ Würzburg 1991 3 . B ECKER , J., Das Evangelium nach Johannes, Band 2: Kapitel 11-21 (ÖTBK 4/ 2), Gütersloh/ Würzburg 1991 3 . B ELLE , G. 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Z UMSTEIN , J., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), Zürich 2004 2 . Z UMSTEIN , J., Kreative Erinnerung. Zur johanneischen Auffassung der Zeit, in: Hermeneutische Blätter 172 (2006), 27-39. Z UMSTEIN , J., L’évangile selon saint Jean (CNT IVb), Genève 2007. <?page no="235"?> Christine Lubkoll Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’. Zur Überlagerung biblischer und nichtbiblischer Prätexte Die Frage: „Was heißt es, einen literarischen Text zu verstehen? “, wird in der methodologischen Diskussion der Literaturwissenschaft spätestens seit Wilhelm Diltheys geistesgeschichtlicher Grundlegung der Hermeneutik immer wieder neu verhandelt 1 . Es geht bekanntlich um das Grundproblem der Differenz: nämlich um die Kluft zwischen der Aussage eines Textes (seiner „Intention“, seiner Bedeutung) einerseits und dem Verstehenshorizont des Rezipienten andererseits, die es durch einen Akt der Aneignung, der Annäherung, der wechselseitigen Durchdringung im hermeneutischen Zirkel zu überwinden gilt 2 . So weit - so schwierig 3 . Die Frage: Was heißt es, die Bibel (d.h. biblische Anspielungen) im literarischen Text zu verstehen, stellt sich noch weit komplizierter dar. Denn hier geht es nicht nur darum, gleich zwei Texte in ihrem Zusammenwirken zu verstehen - also um ein Problem der „Intertextualität“. Erschwerend kommt vielmehr hinzu, dass es sich beim zitierten Text - hier also der Bibel - um einen „Supertext“ der abendländischen Kulturgeschichte handelt 4 , um einen Supertext, der zum einen eine geradezu unendliche Rezeptionsgeschichte durchlaufen hat - in theologischen, philosophischen, künstlerischen und literarischen Bearbeitungen, bis hin zur Alltagskultur - , und der zum anderen (was noch schwieriger zu erfassen ist) mehr oder weniger diffus an Glaubensinhalte oder an Erfahrungen der religiösen Sozialisation gebunden ist. Interpretationen biblischer Anspielungen in literarischen Texten kranken dementsprechend oftmals genau daran, dass Interpreten diesen komplexen Zusammenhang - die Prozesshaftigkeit des Supertextes Bibel und die mentalitätsgeschichtliche Dimension des Verstehens - nicht hinreichend reflektieren. Die Frage, welche bedeutungskonstitutive Funktion zitierte Texte („Prätexte“) im literarischen Text (dem „Folgetext“) haben, ist Gegenstand der 1 D ILTHEY , W., Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 5, hg. von G. M ISCH , Stuttgart 1957, 317-338. 2 Dazu R USTERHOLZ , P., Hermeneutische Modelle, in: A RNOLD , L./ D ETERING , H. (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, 101-136. 3 Die zahlreichen kontroversen Positionen, die in den letzten 100 Jahren hierzu entwickelt wurden, können hier nicht rekapituliert werden. 4 Vgl. den Beitrag von Mechthild Habermann in diesem Band. <?page no="236"?> Christine Lubkoll 236 Intertextualitätstheorie, wobei auch hier die Hauptschwierigkeit darin besteht, dass man ja einen Prätext nicht einfach als eine statische Größe mit dingfester (festgeschriebener) Bedeutung behandeln kann, der dann als solcher in einen fremden/ neuen Text „implantiert“ wird. Vielmehr ist der Prätext (zumindest die Art, wie er in einen Folgetext eingebaut ist) immer schon auch das Ergebnis eines Rezeptionsprozesses, teilweise eines ziemlich komplizierten - über verschiedene Stationen der Lektüre 5 . Julia Kristeva, die einen recht weiten, für die konkrete Analyse wenig brauchbaren Intertextualitätsbegriff vertritt, hat in ihren Ausführungen zum Thema genau auf die Dynamik des Lektüreprozesses hingewiesen 6 . Sie betrachtet die Dialogizität des Textes in einer doppelten Perspektive: zum einen auf der Achse der ‚Lektüre’: als einen permanenten Austausch zwischen Schreiben und Lesen (écriture - lecture), zwischen Autor und Rezipient; zum anderen auf der Achse der ‚Ambivalenz’: als eine Summe von Überlagerungen fremder Texte (und deren Lektüre), die sich in den manifesten Text einschreiben: Schema: Aktivität der Bedeutungskonstitution im intertextuellen Feld (Versuch einer graphischen Darstellung der Intertextualitätstheorie Kristevas) Aus dem Wechselverhältnis beider Achsen entsteht eine permanente Dynamik der Bedeutung. Wenn z. B. Thomas Mann in seinem Roman ‚Doktor Faustus’ aus der Stofftradition zitiert (aus der ‚Historia von D. Johann Fausten’ und Goethes ‚Faust’), dann sind es seine Lektüren dieser Texte, natürlich zugleich auch vermittelt über eine kulturell etablierte Deutungstradition, die 5 Vgl. M ARTINEZ , M., Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis, in: A RNOLD / D ETERING , Grundzüge der Literaturwissenschaft, 430-445. 6 K RISTEVA , J., Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: I HWE , J. (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Band 3, Frankfurt am Main 1972, 345-375. Innere Dialogizität Dialogizität Subjekt (Sa und Se) (Implizite) Leseanweisungen Adressat Text Herstellung von Simulakren Herstellung von Simulakren Intertext Prätext(e) Prätext <?page no="237"?> Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’ 237 für die Art und Weise der Verwendung in seinem Roman ausschlaggebend sind. Für den Leser ist es aber nicht nur unmöglich, diesen Wissenshorizont des Autors ganz und gar zu rekonstruieren, sondern er ist ja zudem selbst geprägt durch seine eigenen (oder ihm wiederum kulturell vermittelten) Fokussierungen und Deutungen. Das Verhältnis zwischen Prätext und Folgetext als einem bedeutungsgenerierenden Moment lässt sich also niemals sozusagen 1: 1 bestimmen (das ist das Problem der Intertextualitätsforschung im engeren Sinn, die ja immerhin mit ihrem Blick auf explizit oder implizit markierte Zitate eine Art Stabilität der Lektüre zu erzeugen versucht). 7 Renate Lachmann, die Konstanzer Slavistin und Intertextualitätstheoretikerin, schlägt, in Anlehnung an die Bachtin-Schule, der auch Julia Kristeva nahesteht, eine strukturelle Betrachtung von intertextuellen Überlagerungen in literarischen Texten vor 8 . In Opposition zu der Auffassung, man könne die Funktion eines Zitats durch den Rückgriff auf seine „ursprüngliche Bedeutung“ (im vorangegangenen Kontext) klären, vertritt sie die These von der „semantischen Explosion“, die sich ereignet, wenn Prä- und Folgetext zusammentreffen. Die Dynamik der Bedeutung ist somit auch das Dynamit des Textes: durch die Konfrontation beider Ebenen kommt etwas zum Einstürzen, etwas Neues entsteht. Worauf es also im Lachmannschen Ansatz ankommt, ist weniger die Frage nach der (vermeintlichen) „Ursprungsbedeutung“ eines Zitats im Text oder nach einer nachweislichen Motivation oder Intention des Autors im Rückbezug auf das Zitierte. Vielmehr steht die Konstellation, die Konfiguration, die Prä- und Folgetext oder auch eine Vielzahl einander überlagernder Texte bilden, im Zentrum der Analyse. Für die Frage einer literarischen (oder literarisch betriebenen) Bibelhermeneutik mag dieser strukturelle, dynamisierende Ansatz durchaus eine Provokation darstellen. Steht er doch im Widerspruch zu einer Auffassung von der Bibel als einer „Heiligen Schrift“, der ein Anspruch auf eine unanfechtbare Deutungshoheit immer noch eingeschrieben ist - oder zugeschrieben wird. Allerdings scheint mir der Ansatz gerade für literarische Texte der Moderne, die im Zeichen der Krise stehen - der Erkenntnis- und Sprachkrise ebenso wie nicht zuletzt auch der Krise der Wertordnungen und Glaubensinhalte - besonders fruchtbar zu sein. Denn das Bibelzitat - und es finden sich solche zahlreich in der Literatur des 20. Jahrhunderts - dient hier mitnichten nur der blasphemischen Negation und Provokation (im Gegensatz zur eher affirmativen, bekräftigenden Verwendung in der frühen Neuzeit, aber auch noch in der aufklärerischen und klassisch-romantischen Literatur). Vielmehr ist es ein Medium der Konfrontation und der Reflexion: Es dient 7 Dazu B ROICH , U./ P FISTER , M. (Hgg.), Intertextualität. Formen, Funktionen. Anglistische Fallstudien, Tübingen 1985. 8 L ACHMANN , R., Intertextualität, in: R ICKLEFS , U. (Hg.), Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt am Main 1996, 794-809; dies., Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main 1990. <?page no="238"?> Christine Lubkoll 238 der Bewusstmachung der Tradition, ja auch der Einforderung ethischer Verantwortung, und es stellt zugleich die überlieferten Maximen und Imperative selbst auf den Prüfstand. Im Folgenden soll dies an einem Gedicht von Ingeborg Bachmann gezeigt werden, das nicht nur über mehrere einschlägige Bibelanspielungen organisiert ist, sondern diese zugleich mit anderen „Supertexten“ der kulturellen Tradition engführt (Homer und Heinrich Heine) und obendrein noch weitere Kontextuierungen enthält, so dass aus dem dichten Gefüge wechselseitiger Bezüge tatsächlich so etwas wie eine semantische Explosion entsteht - eine Explosion aber, die aus meiner Sicht gerade durch die produktive Zusammenschau des Vorgegebenen eine engagierte Neulektüre in Gang setzt. Das Gedicht heißt ‚Anrufung des Großen Bären’, stammt aus dem Jahre 1954 und wurde erstmals 1955 veröffentlicht, bevor es 1956 zum Titelgedicht des gleichnamigen Gedichtbandes Ingeborg Bachmanns avancierte: „Anrufung des Großen Bären 9 Großer Bär, komm herab, zottige Nacht, Wolkenpelztier mit den alten Augen, Sternenaugen, durch das Dickicht brechen schimmernd deine Pfoten mit den Krallen, Sternenkrallen, wachsam halten wir die Herden, doch gebannt von dir, und mißtrauen deinen müden Flanken und den scharfen halbentblößten Zähnen, alter Bär. Ein Zapfen: eure Welt. Ihr: die Schuppen dran. Ich treib sie, roll sie von den Tannen im Anfang zu den Tannen am Ende, schnaub sie an, prüf sie im Maul und pack zu mit den Tatzen. Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht! Zahlt in den Klingelbeutel und gebt dem blinden Mann ein gutes Wort, daß er den Bären an der Leine hält. Und würzt die Lämmer gut. ´s könnt sein, daß dieser Bär sich losreißt, nicht mehr droht 9 B ACHMANN , I., Anrufung des Großen Bären, in: dies., Werke. Hg. von C. K OSCHEL , I. VON W EIDENBAUM und C. M ÜNSTER , Band 1, München/ Zürich 1978, 95. <?page no="239"?> Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’ 239 und alle Zapfen jagt, die von den Tannen gefallen sind, den großen, geflügelten, die aus dem Paradiese stürzten.“ Mich interessiert im Folgenden zweierlei: zum einen geht es generell um die Verstehensmöglichkeiten dieses so anspielungsreichen, aber doch auch schwer zugänglichen, wenn nicht hermetisch erscheinenden Textes. Zum zweiten frage ich dann - dem zu verhandelnden Thema entsprechend - nach dem Stellenwert der Bibelbezüge und ihrer Impulsfunktion für den Text. Ich nähere mich dem Gedicht zunächst über eine Offenlegung des dichten intertextuellen Bezugsnetzes, über das der Text sein Thema entfaltet und gestaltet. Die Bachmann-Forschung hat die vielfältigen Anspielungshorizonte bereits - jeweils vereinzelt - benannt 10 . Zunächst wurde in der ersten Versgruppe eine Anspielung auf Heinrich Heines ‚Atta Troll’ gesehen, jenen „deutschen Tanz- und Tendenzbär“, von dem es heißt: „Aufstehen wird er im Liede […], auf vierfüßigen Trochäen“ 11 . So kommt auch Bachmanns „großer Bär“ daher, „auf vierfüßigen Trochäen“ in der 4. und 5. Verszeile: „[…] durch das Dickicht brechen schimmernd deine Pfoten mit den Krallen […]“ Bekanntlich wandte sich Heine mit seinem ‚Atta Troll’ gegen jegliche bloß tagespolitische Tendenzdichtung; und sollte Ingeborg Bachmann an diesen ‚Atta Troll’ gedacht haben - bewiesen werden kann es nicht, aber die Stelle fällt schon, in einem ansonsten metrisch unregelmäßigen Gedicht, auf - dann erscheint der zitierte Bär ja auch hier in einem Szenario der Bedrohung, ist negativ konnotiert. Eine versteckte poetologische Selbstaussage also? Gegen ein bloßes zeitpolitisches Engagement der Dichtung, jedenfalls einer Dichtung, die sich darin erschöpfen würde? Die komplexe Schichtung des Gedichtes, wie sie sich im Folgenden darstellt, legt eine solche Lesart durchaus nahe. Sie zeigt aber zugleich auch, wie zu sehen sein wird, dass das Tagespolitische nicht ausgeschlossen, sondern durch die Verwebung mit anderen 10 Dazu u.a. B ARTSCH , K., Anrufung des Großen Bären und Gedichte 1957 bis 1961, in: ders., Ingeborg Bachmann, Stuttgart/ Weimar 1997, 60-73; H EIßENBÜTTEL , H., Gegenbild der heillosen Zeit. Zu „Anrufung des Großen Bären“, in: K OSCHEL , C./ W EIDENBAUM , I. VON (Hgg.), Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann, München/ Zürich 1989, 20-23; H ÖLLER , H., Die gestundete Zeit und Anrufung des Großen Bären. Vorschläge zu einem neuen Verständnis, in: K O- SCHEL / W EIDENBAUM , Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges, 337-381; S CHMAUS , M., Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld, in: A LBRECHT , M./ G ÖTTSCHE , D. (Hgg.), Bachmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2002, 67-78; U NSELD , S., Anrufung des Großen Bären, in: K O- SCHEL / W EIDENBAUM (Hgg.), Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges, 16-19. 11 H EINE , H., Atta Troll, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Band 4: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen, hg. von M. W INDFUHR , bearb. von W. W OESLER , Hamburg 1985, 79. <?page no="240"?> Christine Lubkoll 240 Kontexten gerade auch angesprochen wird, allerdings in verallgemeinernder Perspektive. Der nächste Prätext, der gleich in der ersten Versgruppe aufgerufen wird, ist der 18. Gesang der Homerischen ‚Ilias’, jene Stelle nämlich, an der der berühmte Schild des Achill beschrieben wird 12 . Es herrscht der Trojanische Krieg; nach dem Tod des Patroklos schmiedet nun Hephaistos, Schutzgott der Schmiede, des Handwerks und der Künste, den Schild des Achill, auf dem zu sehen ist: • oben, am Himmel Mond, Sonne und „alle Gestirne, die rings den Himmel umleuchten, […], Auch die Bärin, die sonst der Himmelwagen genannt wird …“ 13 • unten, auf der Erde zwei Städte, in denen die Menschen einerseits fröhlich leben [hier: Hochzeit feiern], in denen aber andererseits Zwist herrscht [Zank und Hader] und schließlich: Kriegsgefahr. 14 Ein kriegerisches Heer wird nun beschrieben, das im Begriff ist, eine archaische Idylle zu zerstören. Das ist die in Bachmanns Text angespielte „Hirtenszene“: „Als sie den Ort nun erreicht, den zum Hinterhalt sie gewählet, nahe dem Bach, wo zur Tränke das Vieh von der Weide geführt ward; dort nun setzten sich jene, geschirmt mit blendendem Erze. Abwärts saßen indes zwei spähende Wächter des Volkes, harrend, wann sie erblickten die Schaf' und gehörnten Rinder. Bald erschienen die Herden, von zwei Feldhirten begleitet, welche, den Trug nicht ahndend, mit Flötenklang sich ergötzten. Schnell auf die Kommenden stürzt' aus dem Hinterhalte die Heerschar, raubt’ und trieb die Herden hinweg, der gehörnten Rinder und weißwolligen Schaf’, und erschlug die begleitenden Hirten. Jene, sobald sie vernahmen das laute Getös' um die Rinder, welche die heiligen Tore belagerten; schnell auf die Wagen sprangen sie, stürmten in fliegendem Lauf, und erreichten sie plötzlich. Alle gestellt nun schlugen sie Schlacht um die Ufer des Baches, und hin flogen und her die ehernen Kriegslanzen.“ Während über diesen Prätext das Sternbild des „Großen Bären“ also deutlich mit dem Szenario des Krieges verbunden ist, wird die eigenartige Aufforderung an den Bären, „herabzukommen“, wiederum über einen weiteren Prätext fassbarer. Im Buch Hiob im Alten Testament heißt es in der Rede des Herrn aus dem Wettersturm: „Kannst Du die Bande des Siebengestirns [des „Großen Wagens“, des „Großen Bären“, Anm. d. Verf.] zusammenbinden oder den Gürtel des Orion auflösen? 12 VON DER M ÜHLL , P. (Hg.): Homers Werke. Band 1: Ilias. Aus dem Griechischen von J. H. V OSS , Zürich 1986. 13 A.a.O., 18, 484-487, 319. 14 A.a.O., 18, 490-509, 319-320. <?page no="241"?> Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’ 241 Kannst Du die Sterne des Tierkreises aufgehen lassen zur rechten Zeit oder die Bärin samt ihren Jungen heraufführen? “ 15 Und in der zweiten Rede des Herrn aus dem Wettersturm werden zwei „Riesentiere“ beschrieben, der Behemoth und der Leviathan. Auch hier provoziert der Herr die menschliche Kraftmesserei: „Kann man ihn fangen Auge in Auge und ihm einen Strick durch die Nase ziehen? Kannst Du den Leviathan fangen mit der Angel und seine Zunge mit einer Fangschnur fassen? “ 16 Offensichtlich wird also in Bachmanns Gedicht das Bild des „großen Bären“, in einer Verkoppelung des homerischen mit dem alttestamentarischen Prätext, gleich in zweifacher Hinsicht semantisch gefüllt: Es steht mit der Fatalität kriegerischer Zerstörung in Verbindung; und es wird in den Zusammenhang menschlicher Hybris gestellt. Allerdings wird diese Konstellation im Laufe des Gedichtes, sozusagen nachträglich, noch ein drittes Mal semantisch aufgeladen, nämlich mit dem modifizierten Zitat aus der Weihnachtsgeschichte in Vers 19: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ 17 Über das angedeutete Hirtenszenario ist die dritte mit der ersten Versgruppe verbunden; beide Hirtenszenen enthalten im Übrigen auch das markante Superzeichen des Sterns, der über ihnen steht. Durch das bedrohliche Anfangsbild, aber auch durch die erschreckend lapidare Modifikation des Zitats („Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht“) wird allerdings die christliche Heilsbotschaft (auf die die dritte Versgruppe rekurriert) radikal in Frage gestellt. Dies umso mehr, als auch die weiteren religiösen Anspielungen im Gedicht skeptisch-ironisch eingesetzt werden: Zum einen die Anklänge an die Osterbotschaft: Das Symbol des Osterlamms bzw. die Vorstellung des stellvertretenden Opfers erscheint auf schale Weise säkularisiert, banalisiert, kommerzialisiert. Zum anderen endet der Text mit einem Verweis auf den Sündenfall und den Sturz Luzifers; die Vertreibung aus dem Paradies ist das letzte Wort des Gedichts. Übrigens findet sich hier eine weitere Anspielung. Sie betrifft das merkwürdige Bild der Tannen, die ihrerseits als kulturgeschichtliche Symbole des Weihnachtsfestes in das Gedicht Eingang gefunden haben. Wenn am Schluss des Gedichtes diese „geflügelten Tannen“ aus dem Paradiese stürzen, so assoziierten Menschen, die den Krieg miterlebt hatten, dieses Bild unweigerlich mit den Bombennächten. Wurden doch im Volksmund die von den Alliierten gesandten, den Bomben unmittelbar vorausgehenden Leuchtkörper 15 Hi 38, 32. 16 Hi 40, 15-41, 26; hier: 40, 24-25. 17 Lk 2, 11. <?page no="242"?> Christine Lubkoll 242 „Christbäume“ oder „Lichterbäume“ genannt. Tatsächlich findet man in Ingeborg Bachmanns autobiographischer Erzählung ‚Jugend in einer österreichischen Stadt’ einen entsprechenden Hinweis. Dort heißt es: „Die Kinder kommen noch einmal ins Staunen: die nächsten Christbäume fallen wirklich vom Himmel. Feurig. Und das Geschenk, das sie dazu nicht erwartet haben, ist für die Kinder mehr freie Zeit. Sie dürfen bei Alarm die Hefte liegen lassen und in den Bunker gehen […]“ 18 Damit schließt sich der Kreis, von der impliziten (archaischen) Kriegsanspielung in der ersten Versgruppe bis zur (für Zeitgenossen offenbar deutlich mitklingenden) Erinnerung an den zweiten Weltkrieg, verbunden mit der katastrophalen Vision einer möglichen Wiederholung. Man könnte sagen: Der Bogen des Gedichts reicht damit von der Urzeit bis in die Gegenwart, vom Mythos bis zur Geschichte, es behandelt also das Thema als ein ebenso universelles wie vielschichtiges Problem (auch dies mag die Anrede implizieren: „alter Bär“). Eingebunden ist die Thematik in die durch die Kombination der Prätexte aufgemachte Spannung von Hybris und Erlösung, wobei der christlichen Botschaft (zumindest in der hier pervertiert erscheinenden Form) eine Absage erteilt wird. In diesem Zusammenhang ist noch an einen letzten intertextuellen bzw. intratextuellen Bezug zu denken. Zur Zeit der Entstehung des Gedichts setzte sich Ingeborg Bachmann intensiv mit Simone Weils Buch ‚Das Unglück und die Gottesliebe’ auseinander, das 1953 in der Übersetzung von Friedhelm Kemp erschienen war 19 . Im ersten Halbjahr 1955 wurde im BR München ein Radio-Essay Ingeborg Bachmanns gesendet, der mit dem Denken der französischen Intellektuellen vertraut machen wollte. Dort kommentiert die Autorin Weils Kritik an jeder Art von Totalitarismus folgendermaßen: „Aber sie denkt so, weil sie vor allem eines vermeiden will: nämlich einen imaginären Gott zu schaffen, ein neues ‚Großes Tier’ - der Ausdruck ist Platons ‚Politeia’ entnommen -, das sich zu den anderen ‚Großen Tieren’ gesellen würde. Zu den ‚Großen Tieren’ (die Formulierung ist ein Zitat aus dem Buch von Simone Weil, Anm. d. Verf.] zählt sie alles, was Macht ausübt und Macht ausgeübt hat.“ 20 Im Folgenden wird dieser Gedanke - in Ingeborg Bachmanns Essay - konkretisiert, an Beispielen veranschaulicht: Es sind die verschiedensten totalitären Weltanschauungen - Atheismus, Materialismus, dogmatische Religionen, Marxismus -, in denen Simone Weil das „Große Tier“ erblickt, gegen das es anzukämpfen gilt: die durch und durch bedrohliche Macht der Ideologien. Nimmt man diesen Prätext noch hinzu, dann lassen sich insgesamt drei Dimensionen der Bedrohung ausmachen, die im Bild des „Großen Bären“ 18 B ACHMANN , I., Jugend in einer österreichischen Stadt, in: dies., Werke, Band 2, 84-93, hier: 90. 19 W EIL , S., Das Unglück und die Gottesliebe, München 1953. 20 B ACHMANN , I., Das Unglück und die Gottesliebe - Der Weg Simone Weils, in: dies., Werke, Band 4, 128-155, hier: 149. <?page no="243"?> Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’ 243 zusammengeführt bzw. übereinandergeschichtet werden: Die - vom Mythos bis in die unmittelbare Gegenwart reichende - Gefahr des Krieges; das Problem menschlicher Hybris; schließlich die fatale Wirkung von Totalitarismus und ideologischem Dogmatismus. Erschlossen werden kann diese Konstellation, können diese „Kontexte der Macht“ zum einen über intertextuelle Verweise (Homer, Altes und Neues Testament, Heinrich Heine, Simone Weil), zum anderen auch durch Anklänge an „Alltagswissen“ (dies betrifft vor allem die Assoziation mit dem kriegerischen „Lichterbaum“). Überhaupt haben Zeitgenossen die historische und politische Aktualität des Gedichtes offenbar viel konkreter wahrgenommen und „mitgelesen“, als wir dies heute tun. In unmittelbaren Reaktionen wurde es - geradezu tagespolitisch - als Kampfansage gegen die Wiederaufrüstung gedeutet. Dass sich Ingeborg Bachmanns Text darin nicht erschöpft bzw. keinesfalls darauf reduziert sein möchte, zeigt das weite Netz kulturhistorischer Anspielungen, die der Verallgemeinerung des Problemgehalts dienen. Dennoch schwingt der unmittelbare Gegenwartsbezug mit. Zum einen die Erinnerung an die Gewaltherrschaft des Naziregimes, an die Katastrophe des Weltkrieges und des Genozids - ein Thema, das ja in der Literatur der Nachkriegszeit höchst präsent war und um dessen Aufarbeitung sich zahlreiche Schriftsteller bemühten. Zum anderen aber auch die unmittelbare gesellschaftspolitische Gegenwart der frühen 1950er Jahre, und zwar hier nicht nur die zunehmende Verdrängungsmentalität der Nachkriegsgesellschaft im Zeichen von Wiederaufbau und wirtschaftlichem Aufschwung, sondern auch die konkrete politische Situation. Zu denken ist an die äußerst kontrovers diskutierte Remilitarisierungspolitik seit 1950, die schließlich im Oktober 1954 zu den Pariser Verträgen und damit zum Beitritt der Bundesrepublik zur Westeuropäischen Union und zur Nato führte; die Angst vor einem erneuten verheerenden Krieg bestand spätestens seit dem Koreakrieg 1950, und man reagierte darauf eben entweder mit der Forderung nach Wiederaufrüstung oder mit einem radikal pazifistischen Engagement. Letzteres artikuliert sich auch im vorliegenden Gedicht. Bliebe die Frage nach dem Stellenwert der Bibelanspielungen im Gedicht. In einem Interview bezeichnete Ingeborg Bachmann die ‚Anrufung des Großen Bären’ als „lyrische Variante von Nietzsches ‚Gott ist tot’.“ 21 Der Blick auf die intertextuelle Verweisstruktur des Textes bekräftigt diese Lesart. Wird doch über die Engführung von biblischer Weihnachtsgeschichte und Homerischer Ilias das im Zeichen des Sterns stehende Bild der Hirten auf dem Felde radikal umgedeutet: Es steht nicht mehr für die Friedensbotschaft („Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“, Lk 2,14), sondern für eine massiv drohende Gefahr von Krieg und Gewalt. Diese geradezu blasphemische Negation des göttlichen Erlö- 21 B ACHMANN , I.: Wir müssen wahre Sätz finden. Gespräche und Interviews, hg. von C. K OSCHEL und I. VON W EIDENBAUM , München/ Zürich 1994, 33. <?page no="244"?> Christine Lubkoll 244 sungsangebots (für das die Weihnachtsgeschichte steht) wird noch verstärkt durch die Umwertung des Ostergeschehens, das nun nicht mehr im Zeichen des „Lamm Gottes“, sondern einer billigen Opferpraxis und Selbstberuhigung gelesen wird. Zugleich tritt - mit dem Verweis auf Hiob und den alttestamentlichen Sündenfall - die menschliche Hybris ins Zentrum, der auch ein Gott nicht mehr entgegenzutreten vermag. - „Gott ist tot“: Diese durchaus verzweifelte Diagnose war bekanntlich nach 1945, angesichts der unermesslichen Leiderfahrung durch Krieg und Massenvernichtung, weit verbreitet. Im Bachmannschen Gedicht wird dieses Diktum jedoch nicht einfach lapidar zur Kenntnis genommen, sondern es findet, so lautet meine These, im Medium der biblischen Anspielungen ein Aufbegehren dagegen statt. „Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht“: diese paradoxe Aufforderung ist nicht als Zeugnis lakonischer Indifferenz zu lesen, nach dem Motto: „Was soll's…“ Vielmehr findet hier eine bewusste Umkehrung statt: Wer sich nicht fürchtet (wozu die biblischen Hirten aufgerufen wurden), der befördert, durch Nichtwahrnehmung der Gefahr und eine wohl situierte Verdrängungsmentalität, gerade das Wiederaufbrechen, die Fortsetzung der Gewalt. Wer sich aber fürchtet, trägt durch seine gesellschaftliche Wachsamkeit - so jedenfalls die implizite Hoffnung im Gedicht - zu einer Bewahrung oder überhaupt erst Herstellung des Friedens bei. Das dichte intertextuelle Netz weist diese „Botschaft“ nicht allein als tagespolitischen Appell, sondern als allgemeingültige Aufgabe der Menschheit aus. Dieser ethische Imperativ erfolgt im Text, so möchte ich behaupten, gerade über das Medium des biblischen Zitats, das zwar vordergründig verdreht wird, das aber mit dieser Verschiebung die zugrunde liegende Botschaft („Friede auf Erden“) nicht negiert, sondern neu formuliert und einfordert. In Ingeborg Bachmanns ‚Frankfurter Vorlesungen’ findet sich folgende spannungsvolle Überlegung zum Verhältnis von Geschichte, Tradition und Utopie: „Daß Dichten außerhalb der geschichtlichen Situation stattfindet, wird heute wohl niemand mehr glauben - dass es auch nur einen Dichter gibt, dessen Ausgangsposition nicht von den Zeitgegebenheiten bestimmt wäre. Gelingen kann ihm, im glücklichsten Fall, zweierlei: zu repräsentieren, seine Zeit zu repräsentieren, und etwas zu präsentieren, für das die Zeit noch nicht gekommen ist.“ 22 „Zeitlos freilich sind nur die Bilder. Das Denken, der Zeit verhaftet, verfällt auch wieder der Zeit. Aber weil es verfällt, eben deshalb muss unser Denken neu sein, wenn es echt sein und etwas bewirken soll.“ 23 22 B ACHMANN , I., Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung, in: dies., Werke, Band 4, 96. 23 A.a.O., 195. <?page no="245"?> Ingeborg Bachmanns ‚Anrufung des Großen Bären’ 245 Literatur B ACHMANN , I., Anrufung des Großen Bären, in: dies., Werke. Hg. von C. K OSCHEL , I. VON W EIDENBAUM und C. M ÜNSTER , Band 1, München/ Zürich 1978, 95. B ACHMANN , I., Jugend in einer österreichischen Stadt, in: dies., Werke. Hg. von C. K OSCHEL , I. VON W EIDENBAUM und C. M ÜNSTER , Band 2, München/ Zürich 1978, 84-93. 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W EIL , S., Das Unglück und die Gottesliebe, München 1953. <?page no="247"?> Epilog <?page no="249"?> Emil Angehrn Konstellationen und Grenzen des Textes aus philosophisch-hermeneutischer Perspektive Die Beiträge der Tagung, die dem vorliegenden Band zugrunde liegt, galten der „Bibel als Text“ (so der Titel der Tagung) bzw. der „Bibel im Horizont einer textbezogenen Hermeneutik“ (Untertitel). Die Konstellation der drei in dieser Themenstellung verknüpften Begriffe - Bibel, Text, Hermeneutik - ist von hoher Prägnanz. Der Text ist nicht irgendein Gegenstand, sondern ein genuines Paradigma der Hermeneutik; die Bibel ist in unserer Kultur gewissermaßen der Text par excellence, der den Menschen zu lesen gegeben ist. Zu fragen ist im Ausgang vom Text nach beiden Bezügen. Inwiefern hat Hermeneutik mit Text und Textualität zu tun; was ist der Kern und die Reichweite einer textbezogenen Hermeneutik? Und was für ein Text ist die Bibel; was bedeutet der Textstatus (nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuerer Diskussionen zur Textualität) für die Bibelhermeneutik? Zu diesen beiden Fragen werden im Folgenden einige Überlegungen formuliert, die in vielem direkten Bezug auf Motive und Anregungen aus den vorausgehenden Referaten nehmen. 1. Entgegen dem, was die Rede von einer „textbezogenen Hermeneutik“ zu unterstellen scheint, steht fest: Der Text ist für die Hermeneutik nicht einfach ein Gegenstand neben anderen. Dies zeigt schon ein Blick auf ihre Geschichte. Hermeneutik entsteht als Kunst der Textauslegung. Ihr Gegenstand sind zunächst - so das gängige Bild ihrer Geschichte - herausgehobene, autoritative Texte: Heilige Schriften, Zeugnisse des klassischen Altertums, Rechts- und Gesetzestexte. Ihnen entsprechen die drei „speziellen“ Hermeneutiken, die in je unterschiedlicher Weise die Methoden der Auslegung, der Konkretisierung und der praktischen Anwendung von schriftlichen Dokumenten reflektieren - die theologische, die philologische und die juristische Hermeneutik. Über sie hinaus konzipiert Schleiermacher die allgemeine Hermeneutik als eine Verstehenslehre, die ihrerseits ihren Kern in der Textlektüre hat. Hermeneutik ist nach diesem Paradigma die systematische Lehre vom Verstehen und Auslegen von Texten. Als Paradigma ist sie zum Modell des Hermeneutischen jenseits des Textes geworden. Unter dem Titel ‚Le modèle du texte’ 1 hat Paul Ricœur den Text als Modell für das Verstehen des 1 R ICŒUR , P., Du texte à l’action, in: ders., Essais d’herméneutique II, Paris 1986, 183-212 [dt.: R ICŒUR , P., Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: G ADAMER , H.- G./ B OEHM , G. (Hgg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt am Main 1978, 83-117]. Als Scharnier der Parallelisierung von Text und Handlung dient Ri- <?page no="250"?> Emil Angehrn 250 menschlichen Handelns erörtert und darin die Analogie der beiden Grundmodalitäten subjektiver Sinnkonstitution in Sprache und Handlung zum Tragen gebracht. Indessen ist trotz des zentralen Stellenwerts des Textes unbestreitbar, dass dieser nicht das einzige und nicht das umfassende Modell der Hermeneutik bildet. Es gibt eine Hermeneutik der Bilder, eine Kunst des physiognomischen Ausdrucks, ein Verstehen von Gesten. Wieweit der Text als Referenzpunkt des Hermeneutischen fungiert und fungieren kann, ist eine kontroverse, explikationsbedürftige Frage. Um sie zu erhellen, ist zunächst den Linien der Verallgemeinerung des Textmodells nachzugehen, um nachher ihre Nichtselbstverständlichkeit, ja Fragwürdigkeit zur Sprache zu bringen. 2. Beinahe omnipräsent scheint die Chiffre des verstehenden Umgangs mit Texten - die Figur des Lesens - in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften. 2 Alles Mögliche wird zum Gegenstand von Lektüren: Stadtbilder, Quartiere, Landschaften, Sternbilder, Physiognomien, Körperhaltungen, Gesten, Träume, Bilder, Architekturen, Partituren, Kulturen, Geschichten. Zum Teil handelt es sich um Gegenstände, die seit je in naheliegender Analogie zu Sprache und Text aufgefasst worden sind, als intentional hervorgebrachte Gebilde, die etwas zu verstehen geben und einen Sinn verkörpern, auf den hin sie deutbar sind; klassisches Beispiel dafür ist das Bild. Zum anderen haben wir mit Produkten menschlichen Handelns zu tun, die nicht intentional als Sinnobjekte hervorgebracht worden sind, aber dennoch in dem, was sie zum Ausdruck bringen und was sie für die Menschen bedeuten, auslegbar sind - wie die historische Anlage einer Stadt. All dies wird, soweit es Objekt eines Lesens ist, zum Analogon des Textes und mit Kategorien der Textualität beschreibbar: Die Rede von Buchstaben, Schrift und Code, von Entziffern, Übersetzen und Zitieren gehört zum Beschreibungsvokabular der menschlichen Welt. Doch ist die Ausdehnung der Textmetapher nicht auf geschichtliche und kulturelle Sachverhalte beschränkt. Die Welt überhaupt wird als Gegenstand einer Lektüre aufgefasst: Hans Blumenberg hat die Figuren der „Lesbarkeit der Welt“ nachgezeichnet, die unsere Ideengeschichte durchziehen, vom Buch der Natur über die medizinische Signaturenlehre bis hin zur psychoanalytischen Traumdeutung und zur Lektüre des genetischen Codes. 3 Die Entzifferung des menschlichen Genoms hat am Anfang unseres Jahrtausends eine eindrucksvolle Demonstration von der rhetorischen Kraft der Textmetaphorik geliefert: In hymnischer Emphase ist die Registrierung der menschlichen Erbsubstanz - nicht nur in der medialen Öffentlichkeit, sondern auch cœur die Relation zwischen der Innerlichkeit des Meinens und Intendierens und der Äußerlichkeit des Ausdrucks und der Tat, die ihm erlaubt, analoge Beschreibungs- und Erklärungsmethoden in beiden Themenbereichen anzuwenden. 2 Vgl. S TOELLGER , P. (Hg.), Genese und Grenzen der Lesbarkeit (Interpretation Interdisziplinär Band 4), Würzburg 2007. 3 B LUMENBERG , H., Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1986. <?page no="251"?> Konstellationen und Grenzen des Textes 251 von Fachvertretern - als Entdeckung eines unermesslichen Textes gefeiert worden, der die Menschheit zum ersten Mal in die Lage versetze, im Buch des eigenen Lebens zu lesen (auch wenn wir zunächst nur über das Alphabet, noch nicht über den Code und das Verständnis des Textes verfügen). Die Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay hat die Entstehung und Verfestigung dieser Sprache nachgezeichnet, in welcher sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Denkschemata der Biowissenschaften, der Informationstheorie und der Schrifttheorie verflechten und überformen. 4 Schließlich könnte man noch einen Schritt weiter gehen und auf die Sprachförmigkeit des Sinns bzw. die Sprachgebundenheit des Verstehens überhaupt abheben, wie sie exemplarisch in Hans-Georg Gadamers berühmtem Satz zum Ausdruck kommen: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ 5 Texthermeneutik wäre dann nur ein Kristallisationspunkt eines allgemeineren Logozentrismus der Hermeneutik. Wir erkennen die Wirklichkeit, weil die Dinge zu uns sprechen und Wirklichkeit sich uns wie ein lesbares Buch darbietet. 3. Indessen bleiben weder die Universalität der Sprache noch die Konjunktur des Textes ohne Widerspruch. Der Vorbehalt gegenüber der Paradigmenfunktion des Textes kann in verschiedener Radikalität formuliert werden, unterschiedliche Tiefenschichten der Textualität betreffen. Problematisiert werden Fokussierungen innerhalb der sprachlichen Dimension (a), die Zentrierung auf Sprache überhaupt (b), Übertragungen von Sprache und Text auf außersprachliche (c) oder nichtsinnhafte (d) Gegenstände. (a) Für die Hermeneutik bildet der Text einen historischen Ausgangspunkt, doch nicht den einzigen konzeptuellen Kern der Reflexion auf Sinn und Verstehen. Ebenso profiliert sind zwei andere sprachbezogene Paradigmen: Ausdruck und Gespräch. Wir können uns über die Konstitution und Rezeption von Sinn sowohl in der Reflexion auf die Äußerung und Objektivierung des Lebens wie im Horizont des zwischenmenschlichen Austauschs und Dialogs orientieren. Wir haben gleichsam drei verschiedene Gravitationszentren des Hermeneutischen vor uns, die drei Stadien der Sprache entsprechen und je nach Konzept und Autor in den Vordergrund rücken: zum einen die Konstellation „Ausdruck, Expressivität, Objektivation“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wilhelm Dilthey, Helmuth Plessner, Maurice Merleau-Ponty, Charles Taylor), zum zweiten das „Gespräch, das wir sind“ (Platon, Friedrich Hölderlin, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer), drittens den Niederschlag der Sprachäußerung in Schrift und Text (Paul Ricœur, Jacques Derrida u.a.). Gleichzeitig sind innerhalb der Sprachäußerung verschiedene logische und semantische Ebenen zu unterscheiden, die als Ort des Sinns figurieren: das Wort, der Satz, der Text, die Sprache als solche. Der 4 K AY , L.E., Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? , Frankfurt am Main 2005. 5 G ADAMER , H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1986, 478. <?page no="252"?> Emil Angehrn 252 Verweis auf Grenzen der Sprache betrifft vielfach nicht die Sprache überhaupt, sondern eine bestimmte Stufe derselben, exemplarisch den Begriff oder den prädikativen Satz, deren Defizit durch andere Sprachformen, etwa den spekulativen Satz (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) oder die Konstellation (Theodor W. Adorno) überwunden wird. (b) In anderer Weise wird die Paradigmenfunktion des Textes innerhalb der Hermeneutik durch Rekurs auf außersprachliche Medien und Formen von Sinnbildung und Sinnrezeption hinterfragt. Sprachlichkeit umreißt nicht das Ganze unseres sinnhaften Weltbezugs. Wir verstehen Gesten, Gefühlsausdrücke, Stimmungen, Bilder, Skulpturen, Musikstücke. Verstehen findet einerseits mit Bezug auf andere Äußerungsformen und Zeichensprachen statt, die nicht verbal strukturiert sind, sondern auf außersprachlichen Regeln und Ressourcen beruhen; und es vollzieht sich anderseits in leiblichen Ausdrucks- und Kommunikationsformen ohne Codierung und Zeichen. Wenn solche Verstehens- und Äußerungsformen als „fundamentaler“ als die Sprache, ihr genetisch vorausliegend, erscheinen, so kommt am Gegenpol ein Verstehen jenseits sprachlicher Artikulation in den Blick, wie es etwa in mystischer Schau stattfindet. Wieweit das Diesseits und das Jenseits des Worts voneinander unterscheidbar und einander entgegengesetzt sind, bleibt allerdings selbst eine offene, verschieden beantwortete Frage. Noch in eine andere Richtung weisen jene Überschreitungen der Sprache, die nicht auf eine leibliche Fundierung zurückweisen, sondern gerade in Ablösung vom Körper die künstliche, mediale Welt zum Ort des Sinngeschehens machen. Die Fixierung auf Sprache wird nach verschiedener Hinsicht als Einengung oder logozentrische Hypostasierung kritisiert. (c) Damit verwandt ist der Einspruch gegen die Dominanz des Sprach- und Textmodells in der Beschreibung von Kulturalität. Gegen die „Diskursivierung der Kultur“ haben Bild- und Medientheoretiker den Status materieller Kulturtechniken akzentuiert, deren Kern eher der praktische Umgang mit Artefakten als die Lektüre und Produktion signifikativer Zeichen bildet. 6 Das Verhältnis des Menschen zur Kultur ist danach weniger nach dem Vorbild der semantischen Äußerung und hermeneutischen Deutung als der technischen Praxis, des Umgangs mit Maschinen oder mit Geld zu begreifen. Entsprechend wird die Diffusion der Text- und Lektüremetaphorik in den verschiedensten Bereichen der Lebenswelt als eine nicht in der Sache begründete, sondern theorie-induzierte ‚epidemische’ Verbreitung angeprangert, deren strategische Funktion Kritiker nicht zuletzt darin sehen, ein 6 Vgl. K RÄMER , S./ B REDEKAMP , H., Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur, in: diess. (Hgg.), Bild, Schrift, Zahl (Reihe Kulturtechnik), München 2003, 11-22. Einen programmatischen Anspruch in die Gegenrichtung markiert der Titel von N EUMANN , G./ W EIGEL , S. (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. <?page no="253"?> Konstellationen und Grenzen des Textes 253 in Misskredit gefallenes traditionelles Verstehensvokabular abzulösen. 7 Die idealistische Auffassung des objektiven Geistes nach dem Modell eines sich offenbarenden Logos verdeckt nach dieser Auffassung die wahre Natur und Funktionsweise der kulturellen Welt. (d) Noch grundlegender ist der Einwand gegen die Übertragung des Textvokabulars auf die Natur und das Weltverhältnis als solches. Die Rede von der ‚Entzifferung’ des Humangenoms - als Basis einer das Innerste des Lebens offenbarenden Lektüre - erscheint dem unvoreingenommenen Blick als ein Kategorienfehler, kaum geringer als die mythische oder religiöse Einkleidung natürlicher Ereignisse in die Sprache eines göttlichen Handelns. In Wahrheit versieht uns die noch so genaue Identifikation der Elementarbausteine und Rekonstruktion der Regelkreise der Natur nicht mit einem Text, der etwas bedeutet, uns etwas sagt. Die Figuren der Lesbarkeit der Welt bis hin zu ihrer gentechnologischen Adaptation verstricken sich in die Aporien „einer stummen Sprache und eines Buchs ohne Autor“. 8 Gewissermaßen noch prinzipieller ist der Einwand dort, wo er sich nicht nur im Reich der Natur, sondern auch der Kultur gegen die Leitideen von Sprache und Sinn wendet, um nicht-hermeneutische Kategorien an deren Stelle zu setzen. 9 (e) Indessen lautet die Frage nicht nur, wieweit die Rede von Text und Lektüre zur Charakterisierung unseres Weltverhältnisses legitim und sachgerecht ist. Ebenso wichtig ist die Gegenfrage, wieso Menschen trotz der unübersehbaren Verschiedenartigkeit zwischen Natur und Schrift dazu kommen, von einem Buch des Lebens, einer „Lektüre der Welt“ zu sprechen. Was ist das Ideal der Sprachlichkeit, was ist das Faszinosum der Lektüre, das dazu führt, am (Wunsch-)Bild einer lesbaren Welt festzuhalten? Die Antwort, die Hans Blumenberg auf diese Frage gibt, zielt auf das menschliche „Sinnverlangen“: Das Ideal einer lesbaren Welt ist nach ihm Ausdruck des Wunsches, mit der Welt vertraut zu werden, wie wir mit Menschen und Lebenszusammenhängen vertraut sind, nicht nur Erkenntnisse, sondern Erfahrungen von der Welt zu haben, „den wahren Namen der Dinge zu kennen statt nur die exakten Formeln für ihre Herstellung“. 10 Allgemeiner hat man darin eine Utopie des Erkennens ausgemacht, einen spekulativen Impuls, der das Buch des Lebens in seiner Affinität zum Buch der Bücher auffasst und nach letzter Wahrheit strebt: nach einer Erkenntnis, die uns wie in einem offenen Buch, gleich einer Offenbarung entgegenkommt. 11 Damit sind 7 W EIMAR , K., Das Wort Lesen, seine Bedeutungen und sein Gebrauch als Metapher, in: S TOELLGER , Genese und Grenzen der Lesbarkeit, 21-34. 8 K AY , Das Buch des Lebens, 24. 9 G UMBRECHT , H.U., Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004. 10 B LUMENBERG , Die Lesbarkeit der Welt, 1. Vgl. zu dieser Metapher den Beitrag von Wolfgang Wischmeyer im vorliegenden Band. 11 Vgl. K AY , Das Buch des Lebens, 24. Kay lässt in der Geschichte der Genetik zwei weitere Motive anklingen: das Interesse am Geheimnis (Codes, Geheimschriften, Chiffrierungen - Erkenntnisformen, die aus der modernen Biowissenschaft vertrieben worden <?page no="254"?> Emil Angehrn 254 wir vom zweiten zum ersten Titelbegriff unserer Themenstellung zurückverwiesen. 4. Die Bibel ist der hermeneutische Text par excellence. Sie ist es kraft der eminenten Autorität, des unvergleichlichen Reichtums und der für unseren Kulturkreis überragenden Prägungskraft. Kein anderes literarisches Dokument hat das abendländische Denken und die europäische Geschichte in gleicher Weise geprägt. Sie ist für die literarische, kulturelle und religiöse Tradition Europas der Text schlechthin, der nicht nur für die spekulative Erkenntnis und die moralische Orientierung, sondern auch die literarische Bezugnahme einen singulären Referenzpunkt darstellt. Im Folgenden soll nicht der herausgehobene kulturelle und geschichtliche Rang der Bibel, sondern ihr paradigmatischer Status als Text Thema sein. 12 Zu verdeutlichen ist, in welcher Weise die Bibel als Text, als Text schlechthin zu gelten hat. Welches ist das Textmodell, demgemäß sie diesen eminenten Rang besitzt? Ein idealtypisches Modell, von dem auszugehen ist, ist der Text als festes Gebilde, das den Referenzpunkt für Lektüre, Kommentierung und Auslegung, für die Anwendung, Tradierung und das literarische Anschließen bildet. Es ist das Modell des bestimmten, abgegrenzten, mit sich identischen Textes. Er ist idealiter kontext- und rezeptionsunabhängig, in definitiver Fassung vorliegend, zeitungebunden in seiner Aussage und Gültigkeit. Ihm enstpricht ein Idealtypus der Textlektüre, für welche, so die Formulierung von Paul Ricœur, das Gesagte, nicht das Sagen (des Autors) die Richtschnur der Deutung abgibt. Mit Bezug auf die Bibel lässt sich hier an den Prozess der Kanonisierung erinnern, durch welchen bestimmte Dokumente nicht mehr einfach als Zeugnis einer zu hörenden Botschaft dienen, sondern an ihnen selbst Autorität gewinnen und zu demjenigen werden, was zu verstehen und auszulegen ist. 13 Es geht um den Prozess, in dem Schriftdokumente gleichsam zu dem Text verselbständigt werden, der mit seinem Inhalt identisch ist und an ihm selbst zur Quelle einer Tradition und Bezugspunkt der Lektüre und Orientierung wird. Prägnant ist das Verständnis des heiligen Texts als eines strukturell in sich vollendeten Textes - eines abgeschlossenen, in einer Idealsprache verfassten, materialiter unveränderlichen Textes ohne fehlende oder überflüssige Ausführungen -, der in seinem Wortlaut (oder gar in seinen Buchstaben und seiner textuellen Gestalt) für unendliche Auslegungen offen ist und zur Basis einer hochelaborierten Interpretationssind, aber in der Kommunikationstechnologie von Spionage und Kaltem Krieg aufleben) sowie das Interesse an der Autorfunktion des Lesers (d.h. der Fähigkeit, den genetischen Text neu arrangieren, ihn mit- und weiterzuschreiben - bis hin zum Herrschaftswissen der Biomacht). 12 Vgl. dazu die Ausführungen zum Konzept des „Supertexts“ im Beitrag von Mechthild Habermann im vorliegenden Band. 13 Vgl. den Beitrag von Oda Wischmeyer im vorliegenden Band. <?page no="255"?> Konstellationen und Grenzen des Textes 255 kunst wird. 14 Im weiteren Zusammenhang ist hier auf „eminente Texte“ 15 der Dichtung und stilprägende Werke der Kunst oder auf (politische, religiöse, literarische) Gründungsdokumente von Kulturen und Gemeinschaften zu verweisen, die für diese als Fundament und fester Bezugspunkt fungieren. Der Idealtypus des in fester Bestimmtheit gegebenen, abgegrenzten Textes ist in der kulturellen Tradierung eher eine Grenzfigur als der Normalfall. Bei autoritativen, heiligen, eminenten Texten kann ein Teil ihrer Geltung an dieser Idealisierung hängen. Sofern Texte aber Teil einer kulturellen Welt sind, sind in ihnen Interferenzen und Grenzüberschreitungen, Öffnungen nach außen und innen, auf Vergangenheit und Zukunft hin wirksam. Gegenüber dem Text als starrem Gebilde können wir schematisch drei verschiedene Grenzüberschreitungen auseinanderhalten, die gleichwohl in je anderer Weise mit zum Text gehören und seine Textualität mit ausmachen: zum einen die Miteinbeziehung dessen, was in den Text eingeht, die Seite des Autors, der Textgenese, des Kontextes (5); zum anderen der Ausgriff auf dasjenige, in was der Text eingeht, die Seite des Lesers, der Rezeption, der Tradierung und Weiterschreibung (6); schließlich die Überschreitung der Sprachlichkeit des Textes, die Kommunikation der Medien zwischen Schrift, Bild, Gestalt, Musik u.a. (7). Die Reflexion auf diese Interferenzen bildeten einen Schwerpunkt in den Vorträgen der hier dokumentierten Tagung. 5. Die für die Hermeneutik nächstliegende Kontextualisierung bringt die Herkunft des Textes in den Blick. Texte werden spontan als Ausdruck der intentio auctoris gelesen; über diese hinaus hat die Hermeneutik seit je kontextuelle Einflüsse und Bedingungen sowie im Autor selbst wirksame, doch ihm nicht verfügbare Intentionen und Haltungen als sinnkonstituierende Faktoren in Rechnung gestellt (so dass die Maxime lauten konnte, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst versteht). Im Ganzen kommt hier die Seite der historischen Kritik und genealogischen Erklärung zum Tragen, die für das Verständnis von Texten wie anderer kultureller Gebilde basal ist. Aus diesem weiteren Zusammenhang, der für die Bibellektüre unhintergehbar ist, rückt in der Reflexion auf Textualität ein spezifischer Aspekt in den Vordergrund, der auf eine interne Schichtung der Texte abhebt, die daraus resultiert, dass in einen Text andere Texte eingehen bzw. dass ein Text andere Texte liest. Wenn in neueren Diskussionen die Formulierung vertraut ist, dass Schreiben ein Lesen ist - wie ein Schriftsteller sein Leben oder ein Philosoph die Denkgeschichte liest -, so geht es hier um den konkreten Bezug des Textes auf andere Texte, der sich in internen Spiegelungen und Schichtungen niederschlägt. Deren evidente hermeneutische Konsequenz liegt in der Forderung, diese im Text sich niederschlagende interne Lektüre in ihren vielfältigen Bezügen, die unter den Stichworten der textinternen Hermeneutik, der 14 Vgl. die Mischna: Einführend S TEMBERGER , G., Einleitung in Midrasch und Talmud, München 1992. 15 Vgl. G ADAMER , H.-G., Der eminente Text und seine Wahrheit (1986), in: ders., Gesammelte Werke, Band 8, Tübingen 1993, 286-295. <?page no="256"?> Emil Angehrn 256 Intertextualität und der Intratextualität reflektiert werden 16 , ihrerseits mitzulesen. Abstrakt können wir in den Verweisungen zwei Formen, ein prozessuales und ein strukturelles Schema unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir die genealogische, asymmetrische, im Prinzip teleologische Bezugnahme, in welcher wir das Spätere vom Früheren her verstehen, auf das es Bezug nimmt (je nach Terminologie als Prätext-Posttext, Bezugstext-Rezeptionstext, Hypotext-Hypertext unterschieden). Auf der anderen Seite bewegen wir uns in einem Netzwerk semantisch-textueller Dependenzen, in welchem wir hin- und hergehen, ohne die eine oder die andere Seite notwendig zur früheren oder späteren (oder gar zum Ursprung oder zur Endfassung, zum Original oder zum finalen Text) zu machen. Solche inter- und intratextuellen Bezüge bestimmen Schriftdokumente verschiedenster Art und können in bestimmten Textformen in spezifischer Gestalt oder in besonderer Dichte vorkommen. 17 Ihre Sichtbarmachung kann dazu führen, dass der abgeschlossene, lineare Text seinen normativen Status verliert und an seine Stelle - auch in neueren editorischen Konzepten und Umsetzungen - die Lesbarkeit der polyvalenten Bezüge tritt, in denen sich der Text als festes, einheitliches Gebilde gewissermaßen auflöst. 18 Radikaler und anders als in einer klassischen kritischen Edition, die den (bzw. einen) am Ende resultierenden Text auf die Schichten und Varianten seiner Genese und Überlieferung hin durchleuchtet, geht es hier darum, ein textuelles Substrat als solches greifbar werden zu lassen. Dabei hängt es vom Text selbst ab, ob wir die beiden Formen der prozessualentstehungsgeschichtlichen und der strukturell-synchronen Verweisung auseinanderhalten (bzw. nur eine der beiden in Anschlag bringen) oder ineinander übergehen lassen sollen. 6. Nach der Gegenrichtung wird die Immanenz des Textes auf dessen Rezeption und Wirkungsgeschichte 19 hin aufgesprengt. Nicht das anfängliche Dokument, nicht das ursprüngliche Wort, sondern das aufgenommene, interpretierte Werk im Spektrum seiner Aufführungen und Aktualisierungen bildet den Gegenstand des Verstehens und des historischen Anschließens. Der Text geht ein in die Lektüre und wird zum Teil erst darin zu dem, was er für uns ist und für uns bedeutet. Spätere Kommentare kommentieren neben dem Original frühere - teils ihrerseits vorbildliche, maßgebliche - Lesarten. 20 16 Vgl. die Beiträge von Eve-Marie Becker, James Alfred Loader und Jean Zumstein im vorliegenden Band. 17 Vgl. mit Bezug auf moderne Dichtung die Beiträge von Christine Lubkoll und Mathias Mayer im vorliegenden Band. 18 Als Beispiel sei auf die editorischen Konzepte der Ausgabe des handschriftlichen Nachlasses von Nietzsche (N IETZSCHE , F., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 9: Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, Berlin 2001 ff.) und der neuen Kritischen Robert Walser-Ausgabe (durch W. G RODDECK und B. VON R EIBNIZ ) verwiesen. Vgl. auch den Beitrag von Stephan Kammer im vorliegenden Band. 19 Vgl. den Beitrag von Oda Wischmeyer im vorliegenden Band. 20 Vgl. den Beitrag von Karla Pollmann im vorliegenden Band. <?page no="257"?> Konstellationen und Grenzen des Textes 257 Mit dem jeweiligen Werkcharakter variiert das Ausmaß, in welchem ein Werk auf seine Aufnahme und konkretisierende Lektüre hin geöffnet, auf sie angelegt ist, bis hin zu Kunstformen (wie Musik, Tanz, Theater), die erst im Medium ihrer Aufführung als Werk aktual da sind (wobei die Performanz je nach Epochen und Stilen in ganz unterschiedlichem Maße durch die Partitur, das Textbuch bestimmt sein kann). Aber auch Texten im engen Sinn kann dieses Verwiesensein auf die Nachgeschichte innewohnen, wie es emphatisch Walter Benjamin unterstreicht, dem zufolge der Text geradezu der Übersetzung und übersetzenden Neuschreibung bedarf, um zu dem zu kommen und auf das hin ergänzt (in Derridas Paraphrase: erlöst) zu werden, was er seiner Bestimmung nach ist. 21 Wie Hermeneutik retrospektiv die wirkungsgeschichtliche Identität des Werks reflektiert, betont Dekonstruktion die prospektive Bewegung des Anschließens, Auflösens und Neukonstellierens des Textes. Idealtypisch können wir auch in diesem in sich vielgestaltigen Prozess zwei Stoßrichtungen auseinanderhalten. Nach der einen wohnt der Bewegung eine lineare Folge, teils Teleologie inne, die durch die Suche nach Wahrheit, nach adäquater Entfaltung des semantischen Potentials bestimmt ist und umgekehrt die Beglaubigung des Abgeleiteten durch die Autorität des Ursprungs und die Rückkehr zum Original verbürgt. Nach dem anderen Modus geht es um einen Prozess der Anreicherung, der Brechung und Diversifizierung, die den tradierten Text als Steinbruch für die Hervorbringung von neuem verwendet. Je nach Modus variieren die Verbindlichkeit und der gegenseitige Status von Text und Rezeption. Im Ganzen konfrontiert uns das Ernstnehmen der Nachgeschichte mit der Frage, inwiefern das Werk durch die Wirkungsgeschichte als kulturelle Referenz abgelöst wird, inwiefern m.a.W. nicht nur an die Stelle der intentio auctoris die intentio operis, sondern die intentio lectoris als hermeneutische Richtschnur tritt. 22 Tatsache ist, dass nicht nur Werktypen in unterschiedlicher Weise auf ihre Aufnahme und Weiterführung hin angelegt sind, sondern dass diese Öffnung selbst dem historischen Wandel unterliegt. In besonders eindrucksvoller Gestalt tritt uns die Ablösung des Werks durch seine „Nachreife“ (Walter Benjamin) dort entgegen, wo die Rollen des Autors und des Lesers amalgamieren. Die Offenheit des Werks mündet in einen Prozess, in welchem der Leser gleichzeitig als Autor desselben Werks tätig wird. Dieser Prozess, der schon in der von Benjamin umschriebenen Übersetzung oder im dekonstruierenden Anschließen greifbar ist, wird potenziert durch die technischen Möglichkeiten digitaler Textualität und die 21 B ENJAMIN , W., Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von R. T IEDEMANN und H. S CHWEPPENHÄUSER , Band 4/ 1, Frankfurt am Main 1972ff., 9-21; D ERRIDA , J., Des tours de Babel, in: ders.., Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, 203- 235. 22 Vgl. E CO , U., Die Grenzen der Interpretation, München/ Wien 1992, 35ff. <?page no="258"?> Emil Angehrn 258 mediale Form des Internet. 23 Im Hypertext, in den „blogs“, im Internet lösen sich konstitutive Merkmale und Distinktionen der klassischen Textstruktur auf: Der „Text“ des World Wide Web, innerhalb dessen Lektüre- und Schreibinterventionen mannigfacher Art stattfinden, ist ein Gewebe ohne Zentrum, ohne Linearität und ohne hierarchische Struktur, ohne Anfang und Ende, ohne festgeschriebene Differenz von Innen und Außen, von Original und Kopie, von Verfasser und Leser. An Stelle des festen Gebildes haben wir die „Textur“, das offene Gewebe, in welchem wir wie in einer Landschaft wandern, deren Wege und Richtungen nicht vorgegeben sind. Gewiss wird man aus verschiedenen - anthropologischen, semantischen, logischen - Gründen davon ausgehen, dass solche Figurationen nicht das Gebilde „Text“ einfach ablösen und substituieren werden. Doch stehen sie für eine Entwicklung, die nicht nur eine technische, sondern ebenso eine kulturelle ist und die Form unserer Verständigung, auch unseres Umgangs mit Schrift und Text tangiert. Als Fluchtpunkt weist sie in der Tat auf eine Gegenfigur zum festen Textgebilde, das diesen Überlegungen als Ausgangspunkt diente, und auf eine Grenze der Adaptation auf den Text par excellence, dessen Textstatus hier zur Diskussion steht. 7. Ergänzend, gleichsam quer zu den Ausweitungen im Medium des Textuellen ist schließlich jene Ausweitung zu nennen, die das Textmedium auf andere Medien der Gestaltung, Repräsentation und Vermittlung hin überschreitet. Es handelt sich um eine Überschreitung und einen Transfer, die im Umgang mit Text, gerade auch in der religiösen Kultur, von Anfang an präsent sind. Bild, Musik, Theater, Ritual sind ebenso ursprüngliche und universale Weisen der Artikulation, Vergegenwärtigung und Weitergabe wie das Wort. Sie weisen zurück auf die oben (3.) erörterten Fragen nach dem Status der Sprachlichkeit und ihrem Verhältnis zu vor- und außersprachlichen Medien des Sinns und Verstehens. Für die Hermeneutik als solche ist damit eine ebenso zentrale wie fundamentale Problemstellung benannt. Sie betrifft die Stellung der Sprache im verstehenden Weltverhältnis. Unstrittig finden Sinnprozesse auch in außersprachlichen Formen statt. Zu den Forschungsrichtungen, denen im Horizont gegenwärtiger Hermeneutik ein herausragendes Interesse zukommt, gehört die Untersuchung der genuinen Formen von Sinnkonstitution und Sinnverstehen im Bild 24 und in der Musik 25 . Unabhängig davon aber bleibt die Frage offen, ob und in welcher Weise der Sprache, gleichsam als Medium der Me- 23 Vgl. den Beitrag von Stefan Scholz und Volker Eisenlauer in diesem Band. 24 Vgl. die zahlreichen Publikationen zur Bildtheorie und zum Iconic Turn in den Kulturwissenschaften; B OEHM , G. (Hg.), Was ist ein Bild? , München 2001; ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. 25 Vgl. B ECKER , A./ V OGEL , M. (Hgg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2007; A DORNO , T.W., Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion., in: ders., Nachgelassene Schriften. Hg. von H. L ONITZ . Abteilung 1, Band 2, Frankfurt am Main 2001. <?page no="259"?> Konstellationen und Grenzen des Textes 259 dien, ein privilegierter Status zukommt - als demjenigen, was den Menschen in seinem Eigensten auszeichnet und ihm die Welt in umfassendster Weise zugänglich macht, aber auch als dem Metamedium, in welchem die Reflexivität, Kritik und Kommentierung nichtverbaler Sinngestalten zustande kommen. Wenn solche Reflexivität analog der intertextuellen Bezugnahme zwar beispielsweise auch im Bild artikulierbar ist, so findet sie in anderer Potentialität im Wort (in Kunstkritik, Bildkommentar) statt. Die Sprache ist nicht ein Medium neben anderen. Für die Bibelhermeneutik verbinden sich solche Reflexionen mit der spezifischen Frage, in welcher Weise die nicht-textbezogenen kulturwissenschaftlichen Verortungen und die intermedialen Vermittlungen das Buch der Bücher in seinem eigensten Potential zu entfalten und zu explizieren vermögen und wo sie darin gerade an ihre Grenzen stoßen. 8. Dies weist zurück auf die allgemeine Frage nach der Inbezugsetzung der texttheoretischen Debatten zum Text der Bibel. Es ist die Frage nach dem Status der Bibel, ihrem besonderen Stellenwert innerhalb einer religiösen Tradition und der abendländischen Kultur. Es ist die Frage, wieweit die Öffnungen und Interferenzen des Textes, wie sie die Texttheorie in temporaler wie struktureller Hinsicht unter verschiedenen Aspekten herausarbeitet, auf den eminenten Text der Bibel anwendbar sind. Klarerweise geht es hier nicht um eine rein konzeptuelle Frage, sondern um einen historischen Sachverhalt, der sowohl durch das religiöse und theologische Verständnis wie den kulturellen Wandel mit bestimmt wird. Dazu gehört beispielsweise die Frage nach dem Subjekt der Interpretation. Was verändert sich, wenn die Interpretationsgemeinschaft, in welcher der Text seine historische Präsenz gewinnt, nicht mehr durch Theologen oder Angehörige einer religiösen Gemeinschaft gebildet wird, sondern die Bibel zum Gegenstand der Religionswissenschaften, der Literaturgeschichte, der Kulturanthropologie wird? 26 Wie bestimmt sich - aus der Innenwie aus der Außenperspektive - das Verhältnis zwischen der Bibelhermeneutik und der kulturellen Adaptation anderer traditionsstiftender Textcorpora wie etwa des griechischen Mythos, der klassischen Tragödie? Wie verändert sich der Status eines Gründungsdokuments, welche Transformation durchläuft dieses selbst, wenn es in eine Kultur diffundiert, statt dieser als fixer Referenzpunkt zu dienen? Welches sind die Folgen der mit der Diffundierung und medialen Zerstreuung einhergehenden Entkanonisierung des Textes 27 , und wie verhalten sich die religiöse Tradition und die professionelle Exegese zu dieser? Es sind dies, wie gesagt, Fragen, deren Beantwortung auf den historischen Ort und die kulturelle Transformation des Textes, teils auf Optionen der Bibelhermeneutik selbst verweist. 26 Vgl. den Beitrag von Oda Wischmeyer in diesem Band. 27 Vgl. den Beitrag von Stefan Scholz und Volker Eisenlauer in diesem Band. <?page no="260"?> Emil Angehrn 260 Literatur A DORNO , T.W., Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, in: ders., Nachgelassene Schriften. Hg. von H. L ONITZ , Abteilung 1, Band 2,Frankfurt am Main 2001. B ECKER , A./ V OGEL , M. (Hgg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2007. B ENJAMIN , W., Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von R. T IEDEMANN und H. S CHWEPPENHÄUSER , Band 4/ 1, Frankfurt am Main 1972ff., 9-21. B LUMENBERG , H., Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1986. B OEHM , G. (Hg.), Was ist ein Bild? , München 2001. B OEHM , G. (Hg.), Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. D ERRIDA , J., Des tours de Babel, in: ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, 203- 235. E CO , U., Die Grenzen der Interpretation, München/ Wien 1992. G ADAMER , H.-G., Der eminente Text und seine Wahrheit (1986), in: ders., Gesammelte Werke, Band 8, Tübingen 1993, 286-295. G ADAMER , H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1986. G UMBRECHT , H.U., Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004. K AY , L.E., Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? , Frankfurt am Main 2005. K RÄMER , S./ B REDEKAMP , H., Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur, in: diess. (Hgg.), Bild, Schrift, Zahl (Reihe Kulturtechnik), München 2003. N EUMANN , G./ W EIGEL , S. (Hgg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. R ICŒUR , P., Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: G ADAMER , H.- G./ B OEHM , G. (Hgg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt am Main 1978. R ICŒUR , P., Du texte à l’action, in: ders., Essais d’herméneutique II, Paris 1986. S TOELLGER , P. (Hg.), Genese und Grenzen der Lesbarkeit (Interpretation Interdisziplinär Band 4), Würzburg 2007. W EIMAR , K., Das Wort Lesen, seine Bedeutungen und sein Gebrauch als Metapher, in: S TOELLGER , P. (Hg.), Genese und Grenzen der Lesbarkeit (Interpretation Interdisziplinär Band 4), Würzburg 2007. <?page no="261"?> 261 Abkürzungsverzeichnis (Lexika) BBKL Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Band I-II hg. von F.-W. B AUTZ (†), ab Band III hg. von F.-W. B AUTZ (†), fortgeführt von T. B AUTZ , Hamm/ Herzberg/ Nordhausen 1990-2007. DKP Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet und hg. von K. Z IEGLER und W. S ONTHEIMER , 5 Bände, Stuttgart 1964-1975. DNP Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von H. C ANCIK und H. S CHNEIDER , Stuttgart/ Weimar 1996-2003. HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitwirkung von mehr als 700 Fachgelehrten […] hg. von J. R ITTER (†), K. G RÜNDER und G. G ABRIEL , 13 Bände, Darmstadt 1971-2007. LACL 3 Lexikon der antiken christlichen Literatur. Hg. von S. D ÖPP und W. G EER- LINGS , Freiburg/ Basel/ Wien 2002 3 . LexMA Lexikon des Mittelalters. Hg. von N. A NGERMANN , R. A UTY und R.-H. B AUTIER , 9 Bände, München 1980-1998. MLLKT Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. von A. N ÜNNING , Stuttgart/ Weimar 2001 2 / 2004 3 . RAC Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. In Verbindung mit F.J. D ÖLGER (†) und H. L IETZMANN (†) und unter besonderer Mitwirkung von J.H. W ASZINK und L. W ENGER hg. von T. K LAUSER , Stuttgart 1950-2006. RDLW Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit H. F RICKE , K. G RUBMÜLLER und J.-D. M ÜLLER hg. von K. W EIMAR , 3 Bände, Berlin/ New York 1997-2003. RGG 4 Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von H.D. B ETZ , D.S. B ROWNING , B. J ANOWSKI , E. J ÜNGEL , 8 Bände, Tübingen 1998-2005. TRE Theologische Realenzyklopädie. In Gemeinschaft mit H.R. B ALZ , R.P.C. H ANSON , S.S. H ARTMAN , R. H ENTSCHKE , W. M ÜLLER -L AUTER , C.H. R AT- SCHOW , K. S CHÄFERDIEK , M. S CHMIDT , H. S CHRÖER , C. T HOMA , G. W INGREN hg. von G. K RAUSE und G. M ÜLLER , 36 Bände, Berlin/ New York 1977-2004. <?page no="263"?> Register 1. Begriffe Adaption 11f.,146 Adaption, rezeptionsästhetische 209 Allegorie 20,129 Analyse, textinterne/ textimmanente 203,208,210 Anekdote 36,38ff.,42,49 anonym 66,162f.,205f.,228 Armenbibel 89 Artefakt 65,78,90,252 Ausdruck 55,82,136,149,195,203,251 Auslegung, allegorische 20f.,125 Auslegung, literale 125ff. Auslegung, mehrschichtige 122 Auslegungsgeschichte 155,160,179,189,201 Autobiographie 138f. Autor/ Autorschaft 8,14,40,43,61,66,75,83,87f.,99,108,112, 121,128f.,132,139,145,155,162f.,171,186,18 8f.,199ff.,203,206,209f.,217f.,221,228f.,230, 232,236f.,255,257 Autorenleser s. wreader Autorität/ autoritativ 21,30,122,124f.,128,130,132,163,166,181, 189,206,249,254,255,257 Bedeutung 8,42,53f.,56f.,59,62f.,65,81,103,125,132, 161f.,194,235ff. Bedeutungskonstruktion 81,87,89,92,235,237 Bezugstext 256 Bibel-Comic 90 Bibeldichtung 10f. Bibelhyperlink 87 Bibelübersetzungen 9,20 Bild 41,61,89f.,92,143,145,241,244,258f. Buch der Natur 250 Buch des Lebens 253 canonical approach 53 cultural turn 14,188 Cyberego 76 Dekanonisierung 14,80,82,89,92,156f.,171,173,175,176,181, 184,186f. Dekonstruktion 8,14,71171,173,177f.,257 Dekonstruktivismus 38 Diachron/ Diachronie 54,84f.,100f.,103,105f.,118,180,185,224 Dialogizität des Textes 236 Diskursgemeinschaften 69 Dokuversum (docuverse) 83 Dynamik der Bedeutung 43,74,171,236f. Endtext 118 Enzyklopädie 197 Epistemologie 81,197 Epistemologiekritik 81 Evangelium 62,64,161,164,174,177,225 Exegese 8,12ff.,21,29,54,87,92,105,121f.,125,128, 130,156,160,163,167,169,170,174ff.,178ff., 181,183f.,189,194,202,204,208,210,231,259 Exegese, interkulturelle 87 Expressionismus 135 fluid medium 77 Folgetext 235,236,237 Fragmentarisierung 72f.,83ff.,92f. Geschichtstheorie, postmoderne 196 Gespräch 60,251 Hermeneutik 11,13,64,121,124,155-215 Hermeneutik, textinterne 193-215 historia literaria 39 historia sacra 19,21,24f. Historismus 71,173,174 Hyperlink 72,74,85,87,90 Hyperstruktur (sprachwissenschaftlich) 57 Hypertext/ Hypertextualität (literaturwissenschaftlich) 217,227f.,230 Hypertext/ Hypertextualität (sprachwissenschaftlich) 58,69-96 Hypertextmerkmale (sprachwissenschaftlich) 72-79 Hypotext 217,228-231,256 <?page no="264"?> Register 264 Identität 13,44,76,80,88,147,165,174,178,187,257 Interaktivität 72,75,81,87ff. Interpretament 69,92,93 Interpretation 25,41,44f.,64f.,69ff.,84,87,89,99,101f.,122 125f.,156f.,155-192,195,200f.,208,218f., 224,228,231 Intertext/ Intertextualität 14,85f.,99-119,122,156,161f.,169,189,217- 234,235-245 Intratext/ Intratextualität 99,100,104,106,117,218,224,231 „Jetzt der Lesbarkeit“ 199f. Kanon/ Kanonisierung 7,10f.,13,38,55,63,65f.,69,80,82- 85,89,92f.,99f.,104,115,117f.,132,155-192, 202,217,224ff.,254,259 Kommentar(-wesen) 10,22,39,66,76,83,89,92,156,207,223 Konstruktivismus 71 Kontext 13,77,87,145,222,227,255 Kreation/ Kreator 203,205,209 Kultur 11,27,123,130,187,217,259 „Kultur als Text“ 11,41,42 Kunstwerk 13,208 lectio continua 83 Lektüre 19,46,75,83f.,89,100,129,217,219f.,224, 229,232,236f.,249f.,252-258 „Lektüre der Welt“ 253 Lektürepraxis 89 Leseästhetik 88 Lesen 23,36f.,46,73,75,88f.,125,209 Leser, aktiver 217,227,236,255 linguistic turn 22,70 Literalsinn 20,125ff. Literaturgeschichte 12f.,39,204,259 Makrostruktur 55-59 Makrotext 61-64 Materialität 41f.,48,65 Messianismus 199 Metatext 103,121ff. Methodologie 197 Mikrostruktur 56,58f. Mikrotext 59ff.,63 Mündlichkeit 41,80ff. Multilinearität 69,72f.,77,83ff.,92 Multimodalität 78,89-92 Musik 11,61,66,83,90f.,252,255,257f. Originalität 203ff. Orthonym 162,206 Palintextualität 106,198 Paradigmenwechsel 19,35,40 Paratext 66,218,220 „parting(s) of the ways“ 205 Philologie 7,8,11-14,39,41,65,183,194f. Pluralität (der Schriftsinne) 126f. Postmoderne 80,196f. Posttext/ Posttextualität 86,103,106,109,115,117f.,156,179,189,256 Poststrukturalismus 22,80f. Prätext/ Prätextualität 102f.,106,115,118 „primordiales causae“ 128ff. „principle of limitation“ 131 Propädeutik 197 Psalmendichtung 135,137,149 Pseudonym 162f.,205f. Referenzialität, historische 208f. regula fidei 156,164,167ff. relecture 135,218,221ff.,225,229 Repetition/ Repetitor 203ff.,209 (Text-)Rezeption 13f.,64ff.,74f.,83,97,89,92,121f.,124f.,127f., 130-133,135,155-192,199,201,203,206,208, 217,221f.223,225,227,229f.,235f.,251f.,254- 257 Rezeptionsästhetik 13f.,87,182,209 Rezeptionsgeschichte 66,135,156,177,182,189,217,225,235 Rezeptionstext 217,221ff.,230 Rezeptionsvorgang, unplanbarer 74 Rezipient 55,63,74,87,128 130,133,164,170,184,203,231,236 rhetorical criticism 209 Septuaginta 9f.,159,160,162,169,204 Schrift 43,45,47,60,65,70,78,80ff.,90f.,157,162,167, 207,219,249ff.,253-256,258 Schriftkommunikation 82 Schriftkultur 82f. Schriftsinn, vierfacher 65,126,168 Schriftlichkeit 41,45,69,80,82 Signaturenlehre 250 Simultanschöpfung 127 Sinn(-produktion) 8,39,42,65,87,92,170,176,178,181,194, 250f.,253,255,257ff. Spirale, hermeneutische 210 Sprache 10,22,81f.,89,135,147,176,195,199,204f. Strukturalismus 80 Subjekt 109,115,138,194,235,259 Superstruktur 55-58,62f. <?page no="265"?> Register 265 Supertext 53ff.,61-64,66f.,235,238,250ff.,254,258f. Synästhetisierung 90 Synchronie/ synchron 14,54,85,100,103,105f.,117,118 Text/ Textbegriff 7,11,14,36ff.,41ff.,46,48f.,60,64f.,69- 72,91,123,157f.,181f.,189,197,209 Textanwendung 11,92 Textauslegung 8,10,19ff.,31,64f.,67-70,83,85,91ff.,121ff., 123,125-128,139,156,160ff.,164,166-169, 174,177,179,183,185,189,204,209f.,249,254 Textbegriff, strukturaler 42f.,46ff. Textbegriff, medialer 42f. Textfortschreibung 11,156 Textgenese 43-45,255 Textgestaltung 78f. Textinnenwelt 76,83 Textkommentierung 11f.,20,37,66,166,204,210,254,259 Textkultur 9,11,69,81,82,88,158,160,182,187ff. Textlinguistik 8,13,55f.,59f.,64,75,180 Textmodell 91f.,250,252,254 Textorganisation 79,91,103 Textpflege 11f.,158 Textproduktion 44f.,63,83,208,210 Textsorte 53,57f.,61f.,101,218f. Textstrukturanalyse 55 Textualität 42,47,49,69f.,83,198,249ff.,255,257 Textualitätskriterien 72,83 Textübersetzungen 9-12,86,89,92,146,257 Textur 14,258 Textverehrung 11 Textverflüssigung 77 Textwahrnehmung 73 Textzusammenhang 58,79 „Tod des Autors“ 14 Überschrift 60,218,224f. Unabgeschlossenheit 72,77,89,92 Universalität der Sprache 251 Unverständlichkeit/ Unverstehbares 135,138,140,146,149 user 75f.,81ff.,87,89,92 Vernetzung 77,86 (Text-)Verstehen 8,14,56,99,103,105,135,138,142,146- 149149,193,194,195,197,201,202,206,210, 235,239,249f.,252,256,258 Vertonung 78,90,92 Wirklichkeit 69,71,76,80,85,112,127,208f.,251 Wirklichkeitskonstruktion 79 Wirkungsgeschichte 12,256f. wreader 75f.,79,82 Zitat 11,28,64,66,86,99,111,137,139f.,143,204 2. Autoren Adorno, Theodor W. 252 Agamben, Giorgio 198-201 Bachmann, Ingeborg 235-245 Barthes, Roland 36,217 Benjamin, Walter 198-201 Berg, Sandra B. 113 Bernhard, Thomas 139,149 Beaugrande, Robert-Alain 72,196 Blount, Brian K. 87 Blühdorn, Hardarik 61,63f. Blumenberg, Hans 253 Brecht, Bertolt 141f.,149 Brentano, Clemens 149 Brinker, Klaus 55,91,196 Broich, Ulrich 115,237 Bublitz, Wolfgang 76 Bucher, Hans-Jürgen 72 Busse, Dietrich 60 Celan, Paul 149 Childs, Brevard S. 83,100 Clines, David J.A. 115,118 Derrida, Jacques 80,251,257 Dijk, T.A. van 56-62 Dilthey, Wilhelm 12,23,43,195,235,251 Dommershausen, Werner 116 Dressler, Wolfgang U. 60,72,196 Eco, Umberto 203,209f.,232,257 Eckkrammer, Eva Martha 72 Jean Paul 141 Fix, Ulla 53,71f. Fowler, Robert 81f. Gadamer, Hans-Georg 13,22,64,147,195ff.,251 Genette, Gérard 58,86,220,226 Gerleman, Gillis 115 Güttgemanns, Erhardt 62 <?page no="266"?> Register 266 Hegel, Georg W.F. 141,251f. Heidegger, Martin 147f.,195,251 Heine, Heinrich 238f.,243 Hendrich, Andreas 74 Hölderlin, Friedrich 251 Huber, Oliver 72f. Huizing, Klaas 88 Kay, Lily E. 251,253 Klemm, Michael 60,71,79 Knobloch, Clemens 65 Körtner, Ulrich H.J. 89,166,185,196,202 Koselleck, Reinhart 196 Kristeva, Julia 217,236f. Küppers, Heinz 54 Lachmann, Renate 237 Landow, George P. 75 Leeuwen, Theo van 78,90 Meinhold, Arndt 113 Merleau-Ponty, Maurice 251 Nietzsche, Friedrich 141f.,145,147,256 Ong, Walter J. 81f. Plessner, Helmuth 251 Rad, Gerhard v. 113 Ratzinger, Joseph 131 Ricœur, Paul 197,251,254 Schleiermacher, Friedrich D.E. 194f. Schuller, Marianne 36 Simmler, Franz 59,62 Steiner, George 203 Storrer, Angelika 72 Talmon, Shmaryahu 116 Taylor, Charles 251 Trakl, Georg 143,145ff.,149 Troeltsch, Ernst 180,184 3. Bibelstellen, antike und moderne Literatur Die Abkürzungen der biblischen Bücher folgen dem Verzeichnis der RGG 4 . Gen 1,1-3,24 125f. Gen 1,3-4 126 Gen 1,28 125 Gen 37,18-25 113 Gen 37,26-30 113 Gen 37,39-50 112 Gen 45,5-8 113 Gen 50,20 113 Ex 20 106 Ex 20,22-22,33 106 Dtn 5 106 1Sam 2,16 108 1Sam 2,22 108 1Sam 2,22-25 108 1Sam 2,29 108 1Sam 2,30 108 1Sam 2,27-36 108 2Sam 6 105 2Sam 7,13 108 2Sam 9-20 105 2Sam 21-24 105 2Sam 22 105 1Kön 1-2 105 1Kön 2,27 108 Ps 8,5 140 Ps 8,5-7 140 Ps 13 136 Ps 13,4 136 Ps 14 137f. Ps 14,1f. 137 Ps 22,2 137 Ps 22,19 137 Ps 22,20 137 Ps 30 136 Ps 30,6 139 Ps 53 137f. Ps 92 137 Ps 92,6 137 Ps 144 139 Ps 144,3f. 140 Ps 146 139 Spr 10,20 116 Spr 10,31 116 Spr 12,23 116 Spr 13,22 116 Spr 15,2 116 Spr 15,33 113 Spr 16,1 111 Spr 16,9 111 Spr 16,10 110 Spr 16,12 110 Spr 16,13 116 Spr 16,14 110,116 Spr 16,15 109,116 Spr 16,18 113,116 Spr 18,12 113 Spr 19,12 110,116 Spr 19,21 111 <?page no="267"?> Register 267 Spr 20,2 110,116 Spr 20,8 110 Spr 20,24 111 Spr 21,1 110 Spr 21,30 112 Spr 21,31 112 Spr 21,24 116 Spr 23,1f. 110 Spr 25,5 110 Spr 25,6 110 Spr 26,27 116 Spr 28,10 116 Spr 29,14 110 Spr 29,22 116 Hi 38, 32 241 Hi 40, 15-41 241 Hi 14,2 140 Hhld 1,5 102 Pred 2,26 116 Pred 3,11 112 Pred 7,24 112 Pred 8,3f. 110 Pred 8,4 116 Pred 8,17 112 Pred 10,4 110 Pred 10,8 116 Pred 10,16f. 116 Pred 10,20 110 Est 2,8 114 Est 4,3 114 Est 4,4 114 Est 4,14 114 Est 4,16 114 Est 8,8 114 Est 9,1 114 Est 9,22 114 Mt 1,1 207 Mt 2,5 207 Mt 7,15-27 187 Mt 22,37-40 128 Mt 23 178 Mt 27,35 137 Mk 1,1 207 Mk 1,2 207 Mk 7,3f. 207 Mk 7,19b 207 Mk 9,3b 207 Mk 15,11-19 227 Lk 1,1 207 Lk 1,3 206 Lk 2,11 241 Lk 23,34 137 Joh 1,1-18 219 Joh 1,19 219 Joh 2,1-10 223f.,227 Joh 2,11 207 Joh 2,13-22 227 Joh 2,22 207 Joh 4,9b 207 Joh 4,54 207 Joh 5,2f. 207 Joh 5,16 207 Joh 6 230 Joh 6,61 207 Joh 13,2-17 224 Joh 13,31-14,31 222 Joh 15f. 222 Joh 17 222 Joh 19,17 207 Joh 19,24 137 Joh 19,35 207 Joh 20,30f. 206,207,220 Joh 21 220 Joh 21,24f. 207 Hebr 2,6 136 Apg 1,1 207 Röm 2,17-29 179 1Kor 7,35 207 1Kor 9,9 207 1Kor 15,1f. 207 1Kor 15,3bff. 207 2Kor 1,12ff. 207 2Kor 2,3ff. 207 2Thess 3,14f. 207 1Tim 6,3 207 1Tim 5,18 207 2Tim 3,16 207 2Petr 3,15f. 207 Hebr 2,6 140 Hebr 13,22 207 Jak 2,14ff. 207 Apk 2,7 207 Apk 22,18f. 207 *** Ambrosius ‚Hexameron’ 3,11,4 127 Augustinus ‚Confessiones’ 1,1 139 3,2,2 139 5,4,7 139 13,24,36 125 <?page no="268"?> Register 268 ‚De doctrina Christiana’ 2,42,63,151 122 ‚De Genesi ad litteram’ 1,1,1 125 1,20,40 126 3,18,27 127 4,28,25 125 5,5,15 124 6,10,17 129 8,1,1 126 8,1,2 126 ‚De Genesi contra Manichaeos’ 2,2,3 126 ‚Epistulae’ 143,2 132 ‚Retractationes’ 2,24 128 Basilius ‚Hexameron’ 5,6 127 Beda ‚Libri quatuor in principium Genesis’ 1,1 128f. ‚Explanatio Apocalypsis’ 2,13 24 Cassiodor ‚Expositio Psalmorum’ zu Ps 6,20-26 24 Isidor ‚Mysticorum expositiones in Genesim’ 7,17-19 24 *** Bachmann, Ingeborg ‚Anrufung des Großen Bären’ 235-245 Brecht, Bertolt ‚Vision in Weiß. 1. Psalm’ 143 Grotius, Hugo ‚Meletius’ §§43-51 28 §52 28 §53 28 §54 28 §55 28f. §§56ff. 28 Heine, Heinrich ‚Atta Troll’ 239 Nietzsche, Friedrich ‚Also sprach Zarathustra’ 141f. Trakl, Georg ‚Psalm’ 143ff. <?page no="269"?> Autoreninformation Prof. Dr. Emil Angehrn Universität Basel Lehrstuhl Geschichte der Philosophie Prof. Dr. Eve-Marie Becker Århus Universitet Afdeling for Gammel og Ny Testamente Volker Eisenlauer, M.A. Universität Augsburg/ Universität Erlangen Englische und Germanistische Sprachwissenschaft/ Ethik der Textkulturen Prof. Dr. Mechthild Habermann Universität Erlangen Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft Dr. Stephan Kammer Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin Prof. Dr. DDr. James Alfred Loader Universität Wien Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät Prof. Dr. Christine Lubkoll Universität Erlangen Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturgeschichte Prof. Dr. Mathias Mayer Universität Augsburg Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Prof. Dr. Karla Pollmann University of St Andrews School of Classics Dr. Stefan Scholz Universität Augsburg/ Universität Erlangen Evangelische Theologie/ Ethik der Textkulturen <?page no="270"?> 270 Prof. Dr. Oda Wischmeyer Universität Erlangen Lehrstuhl für Neues Testament II (Literatur und Geschichte des Urchristentums) Prof. Dr. Wolfgang Wischmeyer Universität Wien Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst Prof. Dr. Jean Zumstein Universität Zürich Lehrstuhl für Neutestamentliche Theologie, Exegese und Hermeneutik <?page no="271"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder beherrschten gemeinsam und gegeneinander die neutestamentliche Diskussion zur Bibelinterpretation der vergangenen 40 Jahre. Die Studie untersucht diese vier Ansätze, befragt sie nach den diskursiven Triebfedern (Ideologien) ihrer Themenauswahl und Argumentationsweisen und stellt die Ergebnisse vergleichend nebeneinander. Dadurch entsteht ein kultur wissenschaf tlich orientiertes Gesamtbild des jüngeren Diskurses zur Bibelhermeneutik. Es zeigt sich dabei, dass auch neutestamentlichwissenschaftliche Interpretationen, welche primär als textgetreue Auslegungen biblischer Texte gelten, als ideologiebesetzte Strategien zur Durchsetzung bestimmter Machtinteressen aufgefasst werden können. Die mit dieser Studie begründete Einsicht in die Perspektivität, Pluralität und Determination biblischer Interpretationen verstärkt die Integration der neutestamentlichen Wissenschaft in das Paradigma der Postmoderne. Stefan Scholz Ideologien des Verstehens Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, Band 13 2007, 396 Seiten, €[D] 58,00/ Sfr 91,50 ISBN 978-3-7720-8246-7 089007 Auslieferung November 20013 13 15.11.2007 8: 11: 57 Uhr