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"Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften"

Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit

1006
2010
978-3-7720-5296-5
978-3-7720-8296-2
A. Francke Verlag 
Gudrun Loster-Schneider
Barbara Becker-Cantarino
Barbara Wild
<?page no="0"?> Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit herausgegeben von Gudrun Loster-Schneider und Barbara Becker-Cantarino unter Mitarbeit von Bettina Wild <?page no="1"?> Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Auf klärung und Empfindsamkeit <?page no="3"?> Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit Herausgegeben von Gudrun Loster-Schneider und Barbara Becker-Cantarino unter Mitarbeit von Bettina Wild <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Heinrich-Vetter-Stiftung, Ilvesheim. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-mail: info@francke.de Titelbild: N.N., Sophie von La Roche, III-1834, © Frankfurter Goethe-Haus - Freies Deutsches Hochstift, http: / / www.goethehaus-frankfurt.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8296-2 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Gudrun Loster-Schneider; Barbara Becker-Cantarino Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Gerhard Sauder Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches . . . . 11 Wilfried Barner Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur der späten Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Monika Nenon Über das Glück. Stoizismus und Popularphilosophie im Spätwerk Sophie von La Roches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jutta Osinski Zum rousseauistischen Tugendbegriff in Sophie von La Roches Sternheim-Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kevin Hilliard Der »Gang der Ordnung«: Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Barbara Becker-Cantarino Von der Sternheim und vom Werther zur Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck und zu Dichtung und Wahrheit: Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . . . . . . 82 Erdmut Jost ›Rationalistische Exegese‹. Sophie von La Roches Haller-Rezeption im Tagebuch einer Reise durch die Schweitz (1787) und ihre Auseinandersetzung mit der ästhetischen Kategorie des Erhabenen . 106 Helmut Schmiedt Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik: Sophie von La Roche und Gottlieb Konrad Pfeffel im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Michael Maurer »Ich bin eine Engländerin, zur Freiheit geboren.« Die Figuren des Engländers und der Engländerin in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 <?page no="6"?> 6 Inhalt Gaby Pailer Paris - London: Stadtraum und Gender in Erzählwerken und Reiseschilderungen Sophie von La Roches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Linda Kraus Worley »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden«. Performative Selbst- Einkleidungen in Sophie von La Roches Tagebuch einer Reise durch England und Holland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Ulrike Böhmel-Fichera »Aber man spricht und schreibt immer noch von dem ersten verlohrnen Paradieß«: Sophie von La Roche und Italien . . . . . . . . . . . 172 Gudrun Loster-Schneider »O nein, nein, lieber sterben als erworbene Kenntnisse verlieren«. Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? . . . . 190 Reiner Wild ›Die Vernunft der Mütter‹? Sophie von La Roche im Feld philanthropischer Literatur des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Nina Birkner; York-Gothart Mix Dialogizität als mediale Innovation? Sophie von La Roches Pomona für Teutschlands Töchter im Kontext der aufklärerischen Zeitschriftenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Helga Meise »[…] die geheime Macht des Kleinen«. Hybridisierung in Sophie von La Roches Mein Schreibetisch und Melusinens Sommer-Abende . . . . . . 239 Ulrike Leuschner Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Jürgen Vorderstemann »An Elise, die Einzige unter den deutschen Fürstinnen«. Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach . . . 267 Patricia Sensch »mich schmerzt dießer riß in der schönen Kette der 6 verdienstvollen Brüder«. Sophie von La Roche und die Familie Petersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 <?page no="7"?> 1 »Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften, wo junge Leute […] den Unterschied der Nationalcharakter studieren könnten, wie diese in Frieden und Streit sich zeigen. […] O mein Freund! sagen Sie: Würde dieser Lehrstuhl unnütz sein für die Zukunft? « La Roche an Georg Wilhelm Petersen am 11.12.1806, zit. n. Maurer: Sophie von La Roche und die Französische Revolution, S. 137. Gudrun Loster-Schneider; Barbara Becker-Cantarino Einführung Die passionierte Schriftstellerin und professionelle Kulturvermittlerin Sophie von La Roche (1730-1807) war im literarischen Feld des späten 18. Jahrhunderts als erste Frau erfolgreich platziert und hat seit ihrem berühmten ›Originalroman‹ Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) dieses richtungsweisend mitgeprägt. Wie die zahlreichen Veranstaltungen in ihrem Jubiläumsjahr 2007 belegt haben, hat diese in der literaturgeschichtlichen Forschung und im kulturellen Gedächtnis lange marginalisierte Autorin inzwischen wieder viel ›symbolisches Kapital‹ zurückgewonnen. Dabei stellt sich die Neu-Erscheinung der erklärten Schwäbin und Kosmopolitin in der literarisch interessierten Welt heute als Beispiel für etwas dar, wofür La Roche selbst einst stand und was sie heute neu lesbar macht: La Roche steht für Literatur- und Wissensvermittlung, für den Aufbau einer weit vernetzten intellektuellen community und für interkulturelle Begegnungen. Hiervon zeugt nicht nur die ebenso selbstbewusste wie - einmal mehr! - ›phantastische Schwärmerey‹ einer kulturvergleichenden Stiftungsprofessur, 1 welche La Roche kurz vor ihrem Tod, anlässlich ihres letzten Geburtstags einem Freund anvertraut hat und die nun Titel-Zitat des vorliegenden Bandes wurde. Zeuge ist La Roches umfangreiches Œuvre selbst. Es umfasst zahlreiche Briefe, Romane, Erzählungen, Reisebücher, eine literarische Zeitschrift, Texte zur Frauenbildung und kulturpolitische Essays, dialogisiert mit einer enzyklopädischen Bibliothek europäischer Meistertexte und spiegelt so die kulturelle und mentale Entwicklung Deutschlands zur Sattelzeit. Der vorliegende Band bringt die Ergebnisse der Internationalen Tagung »Sophie von La Roche (1730-1807) im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit«, die im Oktober 2007, im 200sten Todesjahr der Schriftstellerin, unter der wissenschaftlichen Leitung der Herausgeberinnen (Gudrun Loster-Schneider, Universität Mannheim, und Barbara Becker-Cantarino (Ohio State University, Columbus/ Ohio) im <?page no="8"?> 8 Gudrun Loster-Schneider / Barbara Becker-Cantarino Deutschen Literaturarchiv Marbach stattgefunden hat. Unterstützt und gefördert wurde die Tagung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Deutsche Literaturarchiv, die Ohio State University (USA), die Philosophische Fakultät der Universität Mannheim und die Stadt Bönnigheim. An Vorbereitung und Organisation waren Marcel Lepper (DLA Marbach) und Charlotte Nerl-Steckelberg und Klaus Pott (Museum Sophie La Roche/ Bönnigheim) beteiligt. Die 24 Referentinnen und Referenten, die aus Deutschland, England, Frankreich, Italien, Kanada und den USA kamen, haben die Tagung maßgeblich gestaltet. Die hier versammelten überarbeiteten Tagungsbeiträge diskutieren La Roches unzureichend erforschtes Gesamtwerk im Kontext sozialer Beziehungen und literarischer Bezüge zwischen Rationalismus und Empfindsamkeit. Im Zentrum stehen so bislang eher marginalisierte Texte von La Roches Œuvre, die als Briefe, Reisebeschreibungen oder als dezidiert didaktische Werke mit oft hybrider Struktur kulturpolitische Netzwerkbildung, Kulturbegegnung und Wissensvermittlung intendiert haben. Ziel ist, die bisherige - verstärkt genderkritische - Konzentration auf den Sternheim-Roman und das Frühwerk zu erweitern, um La Roche in ihrer Bedeutung als (eigenge)wichtige Vertreterin der Empfindsamkeit und Kulturvermittlerin neu zu diskutieren und ihren Ort in den konflikt- und konkurrenzbetonten soziokulturellen Feldern der Spätaufklärung neu bestimmen zu können. Mit beabsichtigt polymethodischem Blick auf die ›Wissensvermittlerin‹ und ›Netzwerkerin‹ La Roche erörtern die einzelnen Beiträge unterschiedliche thematische, formale und mediale Aspekte von verschiedenen Einzelwerken, Textgruppen oder Intertexten. In autorspezifischem aber auch allgemeinerem Sinn versteht sich der vorliegende Band so als Beitrag zur Geschichte des Wissens, vornehmlich zu diskurs-, genre- und genderspezifischen Präsentations- und Vermittlungsformen von Wissen und seiner Popularisierung, deren transformative und generative Funktion im Wissenssystem der Sattelzeit zunehmend in den Blick gerät. Die Beiträge regen zur Diskussion über La Roche und ihre »eigenartige Empfindsamkeit« (Gerhard Sauder) an, die besonders im Spätwerk ein spezifisches und ambivalentes Profil aufweist. Bei aller Ritualisierung kann La Roches »wohltätige Empfindsamkeit« durchaus ›moderne‹ Züge annehmen, wenn sie etwa soziale Phänomene wie Arbeit oder Armut thematisiert, eine Seltenheit unter den renommierten Schriftstellern ihrer Epoche. Im Anschluss an Rousseaus Tugendbegriff stellt der Sternheim-Roman in der Devianzphase die Überwindung von Eigenliebe im Leiden dar; die Tugendbegriffe gelten für beide Geschlechter und sind der natürlichen Religion verpflichtet (Jutta Osinski). La Roches Beziehungen zur Moral- und Popularphilosophie korrespondieren aber nicht nur mit eigentlich ›empfindsamen‹ Prä- und Kontexten, sondern sie orientieren sich zunehmend an der stoischen Tradi- <?page no="9"?> 9 Einführung tion, etwa Epiktet, Cicero, Marc Aurel (Monika Nenon). Die Erziehung der Leserin zu einem moralisch guten Menschen, also die Bildung ihres ›moralischen Charakters‹ geschieht dabei sowohl diskursiv wie im metaphorischen Durchgang durch Tugendorte, deren Topographie von Bibliothek, Landschaftsgarten und Landgut bestimmt ist (Kevin Hilliard). Wie der Vergleich mit einzelnen Autoren zeigt, beschränkt sich die spezifische Partizipation der praeceptra Germaniae filiarum an zeitgenössischen Schlüsseldiskursen nicht auf Popularphilosophie und Moraldidaxe. So zeigt La Roches Haller-Rezeption im Tagebuch einer Reise durch die Schweitz eine insistente aufklärerische Abbildästhetik (Erdmut Jost). Im Geselligkeits- und Freundschaftsdiskurs und in Fragen der Literaturpolitik dialogisieren Sophie von La Roches Konzepte mit denen Gottlieb Konrad Pfeffels (Helmut Schmiedt). Gerade langläufige Beziehungen zeigen dabei La Roches Bemühungen um Eigenprofilierung und Selbstbehauptung in einem sich dynamisch verändernden soziokulturellen Umfeld. So verdeckt ihre betont gespielte Herzlichkeit das eher distanzierte Verhältnis zum jungen Goethe; später von ihm (und Wieland) als alte Frau und ›überlebte‹ Schriftsteller- Konkurrentin abgedrängt und ausgegrenzt, bezieht und verteidigt sie in ihrer Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahr 1799 ihre Position im Feld (Barbara Becker-Cantarino). Interkulturelle Aspekte erörtern die Beiträge zu den Figuren des Engländers und der Engländerin in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (Michael Maurer), zu La Roches Metropolerfahrungen in Paris und London (Gaby Pailer) und in La Roches ambivalenter Beziehung zu Italien (Ulrike Böhmel-Fichera), wo sich ihre kulturanalytischen Interessen besonders deutlich mit autobiographischen überlagern. Im vergleichenden Blick auf die Mechanismen kultureller Wahrnehmung und autobiographischer (Selbst-)Konstruktion gewinnen so vor allem die Reisetagebücher ein neues, an aktuelle Theoriebildung anschließbares Profil (Linda Kraus Worley). Die Verbindung von Kultur- und Wissensvermittlung dokumentiert sich besonders im späten Roman Erscheinungen am See Oneida, mit dem die Autorin zum weiblichen Feld-Pionier des ›Amerika-Romans‹ wird; der Roman ist auch deshalb von Bedeutung, weil er La Roches Interessen an Kultur- und Wissenstransfers nun auf die außereuropäische Welt erweitert und vor der zeitgenössischen Krisenerfahrung der 90er Jahre politisch belegt. Im Zentrum stehen die umfangreiche Textbibliothek und ihre identitäts-, sinn- und ordnungsstiftenden Funktionen (Gudrun Loster-Schneider). Mit diesem Roman, der Oneida zur Utopie, zur kosmopolitischen Vision werden lässt, schließt La Roche zum (männlich besetzten) Feld kosmopolitischer Literatur der späten Aufklärung auf (Wilfried Barner). Im Feld der philanthropischen Literatur des 18. Jahrhunderts stehen die an Kinder und Jugendliche adressierten Texte La Roches, insbesondere die <?page no="10"?> 10 Gudrun Loster-Schneider / Barbara Becker-Cantarino Briefe an Lina. Sie adaptieren und variieren das genrespezifische Modell des ›väterlichen‹ Gesprächs in gleichermaßen konventioneller wie innovativer Weise: Nicht zuletzt im Sinne einer verbesserten intergenerationellen Kommunikation wird die zentrale väterliche Position aufgespalten und durch eine Bruder- und eine Mutterfigur ersetzt (Reiner Wild). Gesteigerte Kommunikativität und Dialogizität in der Pomona für Teutschlands Töchter wiederum verdeutlichen La Roches innovatives Potential in einem anderen Bereich des literarischen Feldes, der aufklärerischen Zeitschriftenliteratur mit ihren etablierten ästhetischen Vermittlungsstrategien (Nina Birkner / York- Gothart Mix). Hybridisierung schließlich ist das unkonventionelle Merkmal zweier weiterer Spätwerke La Roches, Mein Schreibetisch und Melusinens Sommer-Abende, welche, gattungs- und stiltransgressiv, kulturelle Praxis mit der identitätspolitischen Erinnerungsfunktion lebensweltlichen Sammelns verbinden (Helga Meise). Neue Kenntnisse über die persönlichen Beziehungsdimensionen im literarischen Feld bringen die Beiträge über Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck (Ulrike Leuschner), über La Roches Beziehung zu Elise zu Solms-Laubach (Jürgen Vorderstemann) und zu den Brüdern Petersen (Patricia Sensch). Das abschließende Literaturverzeichnis vermittelt einen - ausschnitthaften! - Eindruck von La Roches umfangreicher Bibliothek wie auch zur regen und ergebnisreichen Forschung (bis 2007) über sie und ihre literaturpolitische und kulturelle Bedeutung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Quellen- und Literaturnachweise erscheinen im Anmerkungsapparat mit Autornamen und Kurztiteln. Werke von La Roche sind nur mit Kurztiteln bezeichnet; sie sind im Literaturverzeichnis gesondert ausgewiesen. Unser herzlicher Dank für die administrative und finanzielle Unterstützung von Tagung und Dokumentationsband richtet sich (in alphabetischer Folge) an: die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Heinrich Vetter-Stiftung (Mannheim), die Ohio State University (Columbus, Ohio), die Otto Mann-Stiftung (Mannheim), die Philosophische Fakultät der Universität Mannheim sowie an die Stadt Bönnigheim und das dortige Museum Sophie La Roche. Columbus / Mannheim im Juli 2010 Die Herausgeberinnen <?page no="11"?> 1 Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. 2 Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 43. Gerhard Sauder Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches Die bekanntlich an schlechtem Gedächtnis leidende Literaturgeschichte kennt von Sophie von La Roche ein einziges Werk, deren erfolgreichsten Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771). Durch das grobe Raster, mit dem Heinz Schlaffer in seiner Kurzen Geschichte der deutschen Literatur (2002) arbeitet, fällt sie durch; besser wäre es ihr wohl ergangen, wenn sie ein Mann und ihr Vater Pfarrer gewesen wäre, waren es doch nach der Schlaffer’schen These vor allem die Pfarrerssöhne, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum geglückten Anfang der deutschen Literatur beitrugen. Die intensive Forschung, die seit den 80er Jahren dem Werk La Roches gewidmet wurde, hat den Vorurteilscharakter vom ›einzigen Werk‹ erwiesen. Die Übersichten über ihr Werk lassen uns darüber staunen, was diese Frau, Mutter mehrerer Kinder, Hausfrau, Gesellschaftsdame und zunächst auch Sekretärin ihres Mannes, schreibend geleistet hat. Es ist dem Impetus vieler Literaturwissenschaftlerinnen zu verdanken, dass die Fokussierung des Interesses auf die Geschichte des Fräuleins von Sternheim der Vergangenheit angehört. Die Erkenntnis, dass es eine Aufklärung der Frau auf dem langen Weg zur Mündigkeit gegeben hat (Becker-Cantarino), 1 die Beschreibung der ›Feminisierung‹ der Literatur öffnete den Blick auf die Funktion von La Roches Werk: Es sollte der Mädchen- und Frauenerziehung dienen. La Roche schrieb in pädagogischer Absicht. Der prinzipielle Konflikt, in dem sie schrieb, wurde charakterisiert als »Autorschaft und fehlendes Wissen, das heißt Autorschaft und Frau-Sein, Autorschaft und ›weibliches‹ Schreiben‹«. 2 An dieser Diskussion über die weibliche Autorschaft und ihre Paradoxien muss ich mich mit meiner Fragestellung nicht unmittelbar beteiligen. Es soll um ein Segment des Komplexes La Roche gehen: Was heißt es, wenn sie bereits in den ersten Rezensionen, die ihrem Hauptwerk galten, als ›empfindsam‹ bezeichnet wurde? In den Arbeiten, die in größerer Zahl seit den 80er Jahren zu La Roches Gesamtwerk erschienen sind, wird diese Frage merkwür- <?page no="12"?> 12 Gerhard Sauder 3 Vgl. Sauder (Hrsg.): Theorie der Empfindsamkeit, S. 18-19. Zur nachfolgend erläuterten historischen Begrifflichkeit vgl. ebd. passim. 4 Eichendorff: Sämtliche Werke, Bd. 8,2, S. 90-91. digerweise nicht zum Thema. Der Eindruck entsteht, als sei ›empfindsam‹ im Kontext La Roches ein aus sich selbst verständliches und im Horizont der empfindsamen Tendenz nicht weiter zu hinterfragendes und zu explizierendes Phänomen. Um die Spezifik von La Roches eigenartiger Empfindsamkeit deutlicher hervortreten zu lassen, skizziere ich das allgemeine Verständnis der empfindsamen Tendenz. Sie tritt zwischen 1740 und 1760 erstmals deutlicher zu Tage - zunächst als ›Zärtlichkeit‹ und vor allem in den Moralischen Wochenschriften. Zwischen 1760 und 1770 breitet sie sich in allen literarischen Genres aus und wird zur Mode, die weitere Bereiche des Lebens erfasst. 1773 hat sie ihren Höhepunkt erreicht. Von diesem Jahre an werden die ersten kritischen Stimmen gegen die ›Modekrankheit‹ laut. Im Roman finden Nachahmungen von Samuel Richardsons Briefromanen, von Laurence Sternes Sentimental Journey, Goethes Werther und Johann Martin Millers Siegwart bis über das Jahrhundertende hinaus das Interesse der Leser und Romanautoren. Um 1785 häufen sich die Zeugnisse, dass die Entwicklung der Empfindsamkeit an ein Ende gekommen sei und jede innovatorische Qualität verloren habe. Zahlreiche Kritiker stellen um 1790 das Ende der empfindsamen Tendenz fest. Nach 1795 führt jedoch die zweite Welle der Sterne-Rezeption zu einer letzten Wiederkehr der Empfindsamkeit. In der Romantik verliert sie ihren moralischen Anspruch und wird nun psychologisch und ästhetisch adaptiert. In der Unterhaltungsliteratur wird sie trivialisiert und im Biedermeier sentimental popularisiert. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts sind Filiationen oder Ableger der Empfindsamkeitstradition zu beobachten. 3 Ich greife hier voraus: Sophie von La Roche hat in ihren Werken bis an ihr Lebensende an der empfindsamen Tendenz - in ihrer individuellen Variante - partizipiert. Eichendorff bemerkt in seiner Abhandlung Der deutsche Roman (1851), sie sei zur »geistige[n] Ahnfrau jener süßlichen Frauengeschichten geworden«. Wie »zur Buße« - so Eichendorff in origineller Bildlichkeit - wurde La Roche die leibliche Großmutter eines völlig andern genialen Geschlechts [ihrer Enkel Clemens und Bettina Brentano-von Arnim], und nimmt sich dabei wie eine Henne aus, die unverhofft Schwäne ausgebrütet hat, und nun verwundert und ängstlich das ihr ganz fremde Element umkreist, auf welchem diese sich wiegen und zu Hause sind. 4 <?page no="13"?> 13 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches Die Begriffe ›empfindsam/ Empfindsamkeit‹ tauchen um 1760 zunächst in Übersetzungen aus dem Englischen auf. Empfindsamkeit hat vorderhand zwei Bedeutungen: Zunächst meint es ›moralische Zärtlichkeit‹ für freundschaftliche, verwandtschaftliche Gefühle, vor allem der Liebe; dann bezeichnet es die Fähigkeit, sinnliche Empfindungen wahrzunehmen; »physische Empfindsamkeit bezieht sich auf die Empfindsamkeit der Nerven und Organe.« Sprach man vor 1760 von ›zärtlich/ Zärtlichkeit‹, so war damit entweder die moralische Empfindsamkeit, die ›Tugendempfindsamkeit‹ oder die positiv verstandene ›Empfindlichkeit‹ gemeint. 1778 ist der am häufigsten gebrauchte Gegenbegriff »Empfindelei« erstmals belegt. Der Wörterbuchautor und Schriftsteller Joachim Heinrich Campe hat ihn 1779 nachdrücklich empfohlen. Die Empfindsamkeit, aber auch ihre negativen Aspekte der Überspannung, war schon früh Gegenstand von Abhandlungen der Popularphilosophen, Moralisten und Anthropologen. Sie warnten vor der »Seelenseuche« der Empfindelei, die als Nervenschwäche zu Hysterie und Hypochondrie führe. Alle Theoretiker betonten den dabei zu beobachtenden Verlust an »Proportion« der Gefühlskräfte. In den positiven Beurteilungen der Empfindsamkeit wurde eine sittliche Empfindung gepriesen, die auf moralischen Gedanken beruhe. Bereits in der Phase der Zärtlichkeit fordert Michael Ringeltaube eine »vernunftsinnliche Zärtlichkeit«. Bei der Empfehlung einer »proportionierlichen« Ausbildung menschlicher Gefühlsvermögen rücken die Extreme der Überspanntheit, Schwärmerei, Leidenschaft auf der einen und der Empfindungslosigkeit, Langeweile, Hypochondrie und Melancholie auf der anderen Seite ins Blickfeld. Die Erkenntnis, dass es sich bei Empfindsamkeit und noch mehr bei Empfindelei um sublimierte Sexualität (»Geschlechtslust«) als dem geheimen Motiv abweichenden Verhaltens handelt, wird bereits von den Zeitgenossen öfter formuliert. Vor allem die Vorfahren der heutigen Psychologie, die Erfahrungsseelenkundler und Anthropologen, weisen auf die Bedeutung von Einbildungskraft für Empfindsamkeit und Empfindelei hin. Einbildungskraft wirke verfeinernd auf die moralischen Empfindungen und vervielfältige die Gegenstände der Empfindsamkeit, verleite aber auch zu den wollüstigen und narzisstischen Phantasien der Empfindler. Für alle Popularphilosophen, Anthropologen und Erfahrungsseelenkundler war es unstrittig, dass die Empfindsamkeit alle menschlichen Neigungen, Sitten und Begierden verfeinere und dadurch das Ziel aller Empfindsamkeit, das empfindsame Handeln, außerordentlich differenzieren und fördern könne. Empfindsamkeit ist, so verstanden, die Basis von Freundschaft, Liebe und Mitleid. Am meisten profitierte die Ästhetikdiskussion von der empfindsamen Tendenz. Die nun immer wichtiger werdende Wirkungsästhetik, die von der rhetorischen Affektenlehre vorbereitet wurde, veränderte zusammen mit <?page no="14"?> 14 Gerhard Sauder 5 Vgl. Sauder (Hrsg.): Theorie der Empfindsamkeit, S. 15. 6 Diss. Bielefeld 1984, Stuttgart 1988. einem sich neu formierenden Publikum die Rezeption von Kunst. Die auf Rührung zielende Tragödientheorie der Aufklärung ist bis heute diskussionswürdig geblieben. In den einzelnen literarischen Gattungen und Textsorten (u.a. Roman, Brief- und Reiseroman, Brief, Tagebuch, Autobiographie, Stammbuch, Poesiealbum, Idylle, Lyrik, ›weinerliche Komödie‹, Monodram, bürgerliches Trauerspiel) ist Empfindsamkeit meist nicht dominant, sondern taucht zusammen mit den in aufklärerischer Literatur entwickelten literarischen Tendenzen auf. Die gegen Ende des Jahrhunderts entstehende Unterhaltungsliteratur für den schnellen Leseverzehr kumuliert dann empfindsame Motive und Stilmittel und wird zur zählebigen Tradition von Kitsch beitragen. 5 Die meist jungen Autoren, die in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts der empfindsamen Tendenz zu einem nicht allzu lang anhaltenden Modeerfolg verhalfen, waren sich schnell über ihre ›kanonischen‹ Romane einig: Dazu gehörten als Grundbestand Goethes wegweisender Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774), Johann Martin Millers Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776), Benedikte Nauberts Heerfort und Klärchen. Etwas für empfindsame Seelen (1779) und Albrecht Christoph Kaysers lange verschollenes Werk Adolfs gesammlete Briefe (1778). La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) fehlt in diesem Katalog, obwohl ihr Roman zeitlich vor dem Werther der erfolgreichste war. Offenbar wurde La Roches Empfindsamkeit von Anfang an als Abweichung von der allgemeinen Tendenz beurteilt. Die intensive Erforschung der Empfindsamkeit begann in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Eines der Probleme dieser Rekonstruktions- Arbeit war die mangelnde Kenntnis der Quellen. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass heute ein zureichender Überblick wirklich besteht. In den wichtigen jüngsten Untersuchungen scheint kein Anlass mehr zu bestehen, im Sinne einer Kontinuität der Forschung die Verbreiterung der Quellenbasis fortzuführen. Eine primär theoretisch orientierte Neuformulierung des Bekannten scheint nun geboten. Bevor ich zur spezifischen Empfindsamkeit La Roches übergehe, skizziere ich zwei prominente Ansätze neuer Empfindsamkeits-Forschung. Sie erleichtern durch Übereinstimmung und Kontrast mit La Roches Empfindsamkeitskonzept dessen differenziertes Verständnis. Der Titel von Nikolaus Wegmanns Arbeit ist methodologisches Bekenntnis: »Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts«. 6 Er verbindet Michel Foucaults Diskursanalyse mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Der Akzent liegt - wie auch bei der Untersuchung Koschorkes - auf sozialer Kommunikation, <?page no="15"?> 15 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches 7 Ebd., S. 13. 8 Ebd., S. 26. 9 Ebd., S. 62. Zivilisationsgeschichte, den Medien der Literatur, speziell der empfindsamen. Unter »Diskursen« versteht Wegmann »Funktionseinheiten«, die den Erfolg sozialer Kommunikation gewährleisten und so das Risiko des Nichtverstehens, des Nicht-zustande-Kommens von Handlungssequenzen möglichst gering halten. Sie geben den Subjekten bewußtseinsentlastende Vorgaben, bieten generalisierte Verständigungs- und Orientierungsmuster, die die sprachlose Kommunikation 7 vereinfachen. Empfindsamkeit wird generell bestimmt als ein »soziales Orientierungs- und Wiedererkennungsmuster, das als kultureller Imperativ die (Selbst-)Wahrnehmung des Subjekts und seine Position zur Gesellschaft diszipliniert.« 8 Die bereits erwähnte Frühphase der »Zärtlichkeit« wird diskursanalytisch neu formuliert als »Interaktionsparadigma«; ihre Funktion sei die Steigerung des Ich-Bewusstseins, die Einübung in Individualität zum Einen, Intensivierung von Sozialität zum Anderen. Im Gegensatz zur höfischen Interaktion, die zu Beginn der Geschichte des Fräuleins von Sternheim eine wichtige Rolle spielt, unterlaufe die Empfindsamkeit »den Primat einer ethisch indifferenten Politik als soziale Handlungsrationalität« 9 - so dürfe die empfindsame Interaktionstheorie als Gesellschaftskritik verstanden werden; ihre Maximen seien interpersonale Transparenz (Rousseau) und Gleichheitsmoral. Allerdings habe die Empfindsamkeit mit der behaupteten überständischen Menschlichkeit ein »Ausschließungsprinzip« praktiziert, das sich nicht auf den Klassengegensatz von Adel und Bürgertum beschränkte. Wegmann hat bei der Analyse der »empfindsamen Rede« den Brief als Kommunikationsform für Privatheit, Intimität und gesteigertes Selbstgefühl beschrieben - dieses Medium ermögliche vor allem das Gelingen der interpersonalen Kommunikation. Der scheinbaren ›Natürlichkeit‹ und ›Authentizität‹ ist allerdings nicht zu trauen; zur empfindsamen Sprachregelung gehört das Inszenieren von Unmittelbarkeit mit rhetorischen Instrumenten, z.B. durch Emphase, Aposiopese, Gedankenstrich. In seinem letzten Kapitel stellt Wegmann »Extrem und Normalität« einander gegenüber. Die Radikalisierung der Empfindung bis zur Leidenschaft durch die »Radikalempfindsamen« wie Werther, Allwill und Woldemar zerstöre die Kohärenz des Diskurses und führe die Protagonisten zur Distanz gegenüber Gesellschaft und Konvention, zur Abkehr von moralischen Prinzipien. Sophie von La Roche, soviel vorweg, ist den »Radikalempfindsamen« - trotz ihrer Freundschaft mit Goethe und Jacobi - nicht gefolgt. <?page no="16"?> 16 Gerhard Sauder 10 München 1999. 11 Ebd., S. 12. 12 Ebd., S. 64. 13 Ebd., S. 72. 14 Ebd., S. 82. Eine der originellsten Arbeiten zur Empfindsamkeit hat Albrecht Koschorke unter dem Titel »Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts« 10 vorgelegt. Sie wurde im Kontext der literarischen Anthropologie geschrieben und akzentuiert den Aspekt der Kommunikation und der Medialität in Form der Schriftlichkeit und Textualität einer auf schriftliche Kommunikation gestützten Gesellschaft. Immer wieder wendet sich der Verfasser den »Modalitäten« zu, »in denen das im sozialen Raum zirkulierende Wissen, von seinen Adressaten angeeignet und einverleibt wird«. 11 Eine zentrale These des Buches ist mit »Verschließung des Körpers« überschrieben. Medizinhistorische Fakten aus der Tradition der Lehre von den Körpersäften und der notwendigen Beförderung körpereigener Zirkulation werden ausgebreitet. Danach ist der Entzug von Körpersäften - etwa durch Aderlass - durch Veränderungen der medizinischen Grundannahmen spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts fragwürdig geworden. Das neue Paradigma nach Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs bedeutet, dass der Körper mit dem Blutkreislauf über ein »zirkuläres System verfügt, das ihn zu weitgehend autonomer Selbstregulierung befähigt«; 12 Entzug bedeutet nun Schwächung. An die Stelle von Lehren zur Verwendung von Überschüssen tritt eine Moral »des unbedingten körperlichen Ansichhaltens«. 13 Der menschliche Körper werde nun gleichsam in sich verschlossen, der Trieb gedämpft, der Körper in sich gekräftigt und zur Enthaltsamkeit angehalten. Bevorzugtes Diskussions- Thema ist die Onanie-Debatte am Ende des 18. Jahrhunderts. So entsteht eine »physiologische Basis einer Sublimationstheorie«. 14 Den Subjekten muss für ihre äußere und innere Abschließung ein Ersatz geschaffen werden; es entstehen zahlreiche ›Substitutionen‹. Die in der Empfindsamkeit obligatorischen Tränenflüsse gelten nun als neue und eigene Formen der Verschwendung. An die Stelle der verbotenen Ausgießungen seien die Tränen getreten. So haben - nach Koschorke - die Entfernung von sexueller Lust zugunsten einer Privilegierung des Auges und die Entlastung von biologischer Reproduktion die Gefühlskultur der späten Aufklärung ermöglicht. Analog zu den ›Tränen‹ fließen auch Mesmers magnetische »sympathetische Ströme«, die auf der Basis energetischer Annahmen beschrieben werden. Sympathie entlastet die Menschen vom Individuationsdruck und der Entfremdung von der Natur und ermöglicht zumindest unter den Eliten eine Kultur des Mitempfindens. Auf dem Weg vom »humoralen Gefäßleib zum nervösen Organismus« entsteht eine Form der <?page no="17"?> 17 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches 15 Ebd., S. 140. 16 Vgl. Bamberg: Sophie von La Roche, S. 68-69. Gemeint ist der berühmte Ostasien-Fahrer, schottische Mediziner und Universalgelehrte James Lind (1736-1812). 17 Koschorke: Körperströme, S. 146. 18 Ebd., S. 154. 19 Ebd., S. 162. Sublimation mit unterschiedlichen Repräsentationen - etwa eine platonisch grundierte umfassende ›Vergeistigung‹ des sozialen Umgangs. Formen der Distanzierung des einzelnen verbinden sich mit einem Verbalisierungsschub und einem außerordentlichen Bedarf an sprachlichem Artikulationsvermögen. Wesentliches Zirkulationsmittel ist die Schrift. Der Aufschwung der Lektüre und die Entstehung einer bürgerlichen Lesekultur sind in diesem Kontext zu verstehen. Sophie von La Roche hat, wäre ergänzend hinzuzufügen, durch ihre Werke, u.a. auch durch Zeitschriften-Beiträge, dafür unter Frauen und Mädchen geworben. Literarische Instrumente wie die »Rührung« ermöglichen die Verschiebung von »Körperströmen auf Seelenströme, von Lust auf Empfindung«. 15 Wie zur Erinnerung an die alten Begierden schaffen sich die Empfindsamen Fetische, die ein »System der Abwesenheit« in Gang halten können. An Motiven wie dem Bett der Geliebten, dem empfindungsreich zu Lebzeiten ausprobierten Grab, Stofffetzen oder Taschentüchern wird der Mechanismus der Substituierung anschaulich. In der La Roche-Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt (2007) sind Beispiele aus deren reicher Sammlung von Gegenständen mit beschreibenden Zetteln von Claudia Bamberg zusammengestellt worden, z.B. »Erde von J.J. Rousseau Grab - auf der Pappel-Insel zu Ermenonville gesucht von Sophie La Roche 1786 [nicht mehr enthalten]« oder »Brod von Manioc wie es die gemeine Indier u. africanische Negresklaven essen«, »ein Stück Chinesische Schnur von H. Doctor Lind in Windsor, den 17. 7br. 1786«. 16 Die Empfindsamen suchen sich - nach Koschorkes Terminologie - zahlreiche »Repräsentanten«: 17 Gräber, Grabsteine, Totenmäler, Porträts und Silhouetten. Bei La Roche wären die Ruinen hinzuzufügen, aber auch die Denk- und Ehren-Steine und Ehren-Tempel, die sie ihre Romanfiguren aufrichten lässt. Die empfindsamen Texte tendieren dazu, »alle Positionen, die Sexualität indizieren, durch solche umzubesetzen, die auf die semantische Allianz von Abwesenheit, Tod und Beseelung deuten«: 18 Die Schrift als Fetisch, die Intensivierung der Lektüre über jedes bisher akzeptierte Maß hinaus, die Erzeugung von Ersatzhandlungen in der Lektüre, gemeinsame Lektüre, Lesungen und Formen der »Substitution«. Für alle Versagungen der bürgerlichen Gesellschaft hat die empfindsame Kultur einen Ersatz in der Literatur bereitgestellt. »Liebe, Leben, Literatur« 19 fließen ineinander. <?page no="18"?> 18 Gerhard Sauder 20 Ebd., S. 171. 21 Ebd., S. 184. 22 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit. Tendenzen der Forschung, Bd. 13, u.a. S. 318-319, 329. Zu den ›Substitutionen‹ gehört in einem umfassenden Sinne der »Prozeß der Literalisation«: Die Schrift tritt immer mehr in Konkurrenz zur mündlichen Rede und schafft sich neue Formen von Verständigung, und zwar im Hinblick auf mündliche Interaktion nicht mehr »nur subsidiär, sondern substitutiv«. 20 Einsamkeit ist die Ermöglichung der gesteigerten Schriftkultur; aus ihr heraus werden Innerlichkeit und Freundschaft kommuniziert. Das innerste Geheimnis wird in sympathetischer Kommunikation veröffentlicht, Öffentlichkeit wird in Form von Schriftlichkeit geschaffen, wobei zur geschriebenen oder gedruckten Nachricht eine unbegrenzte Anzahl von Empfindungen gehört: Schriftlichkeit erst erlaubt es, »Inkommunikabilität zu kommunizieren«. 21 Der Schriftverkehr ist das Medium der Sympathie. Durch das Schreiben wird die Teilhabe an »telepathischen Verbrüderungen« möglich. Ständische und lokale Rücksichten sind dabei nicht zu beachten. Durch Verschriftlichung wird auch Abwesenheit überwunden; Freundschaft und Liebe ermöglichen geradezu eine Umwertung der Abwesenheit, eine Steigerung des Briefplatonismus in erotischen und ehelichen Beziehungen. Aus der Entfernung liebt man sich besser; in quasi himmlischer Kommunikation - man denke an die vielen ›Engel‹ in empfindsamer Literatur! - finden geistige Wesen in vollkommener Harmonie zueinander. Ich habe in notwendiger Verkürzung vorgetragen, was in den methodologisch neuen Arbeiten von Wegmann und Koschorke einer besseren Erkenntnis der Empfindsamkeit zustatten kommt. Auf eine Auseinandersetzung mit ihren Positionen verzichte ich, ebenso auf eine Auflistung der Mängel dieser Sichtweisen im Hinblick auf die empfindsame Literatur. Ich habe dies 2001 ausführlich getan. 22 Wer mehrere Werke von Sophie von La Roche kennt oder auch nur die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, deren größter Teil in Bönnigheim geschrieben wurde, hat gewiss zahlreiche Elemente in den vorausgeschickten Charakteristiken wiedergefunden. Der Roman lebt ohne große Handlungebögen. Die Briefform, die tagebuchartigen Passagen bringen den Lesern - von dem längeren resümierenden Eingang abgesehen - einen jeweils neuen Moment im Leben der jungen Frau zur Kenntnis. Der Wiederholungscharakter der primär auf Emotionalität und Tugend zielenden Schreibweise fordert der heutigen Lektüre einige Geduld ab. Allmählich zeigt es sich aber, dass die Wiederkehr derselben Termini keiner platten Semantik gehorcht, sondern dank eines je leicht variierten Briefkontexts Differenzierungen des Leseverständnisses ermöglicht. <?page no="19"?> 19 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches 23 Sternheim, S. 157. Zitiert wird nach der Reclam-Ausgabe, hrsg. v. Becker-Cantarino, 3. Aufl. 2006. 24 Ebd., S. 336. Auf den ersten Seiten fällt schon die Häufigkeit von »Herz« auf - dieses konventionelle dichterische Bild, pars pro toto für den ganzen Menschen in seiner Affektivität, repräsentiert häufig die von sich schreibende Person oder die Eltern, Freunde etc. Zu den empfindsamen Patterns gehört auch »Geist und Herz«. Es ist die Formel, deren Balance besonders von Popularphilosophen und Philanthropen von der »wahren Empfindsamkeit« gefordert wurde. »Tugend« ist mit verschiedenen Attributen neben »Herz« Zentralbegriff des Textes, dem sich »Freundschaft«, »Menschenliebe« und »Seele« anschließen, die häufig »edel« oder »tugendhaft« genannt wird. Die »Empfindungen«, »Sanftmut«, »Güte«, »Aufrichtigkeit« und »Zärtlichkeit« sind das große Thema des Romans. »Leidenschaft« wird als Störung der affektiven Harmonie negativ konnotiert. Und wie in andere deutschsprachige Texte der Empfindsamkeit ist auch in den Sternheim-Roman die Wertschätzung von Traurigkeit und Melancholie aus der englischen Dichtung eingewandert. Wie Ossians Gesänge aus den schottischen Highlands zelebrieren sie den »joy of grief« - Karl Philipp Moritz hat den Begriff in seinem Anton Reiser mehrfach verwendet. Wehmut und Klage dienen der empfindsamen Imagination immer wieder als Topoi der Empfindungsartikulation. Im Kontrast dazu vertritt - insbesondere bei la Roche - »Wohltätigkeit« die positiv bewertete Empfindsamkeit; nach Meinung empfindsamer Theoretiker ist die »ausgeübte Tugend«, die »tätige Empfindsamkeit« das Ziel aller Bemühungen empfindsamer Ethik. Die nur auf sich selbst bezogene und narzisstisch in sich selbst luxurierende Empfindung als »Empfindelei« ist in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim nicht zu finden; und auch in späteren Werken La Roches taucht sie nur gelegentlich auf. Die Gefährdung durch die affektive Ich-Zentrierung wird allerdings angedeutet: da hieß ich meine Empfindlichkeit für meine Ruhe und Ideen derjenigen weichen, welche mich zum Besten dieser Kinder einnahm; sollte die Delikatesse meiner Eigenliebe nicht der Pflicht der Hülfe meines notleidenden Nächsten Platz machen […]. 23 Das Selbstbewusstsein der Tugendhaftigkeit fällt nicht unter das Verdikt der Empfindelei. Am Ende des Romans heißt es: »Mit dem Anblick eines Engels und der ganzen Würde der sich fühlenden Tugend richtete Lady Sternheim sich auf […]«. 24 Offensichtlich hat Sophie von La Roche schon Ende der 60er Jahre wesentliche Positionen der theoretischen Auseinandersetzung über die Legitimität der Empfindsamkeit gekannt. Noch bevor Campe und Adelung, <?page no="20"?> 20 Gerhard Sauder 25 Ebd., S. 214-215. 26 Ebd., S. 215. Garve und Platner und die Philanthropen mit Aufsätzen und Abhandlungen auf die neue Kultur der Empfindungen einzuwirken versuchten, kann sich die Autorin bereits kompetent über Grundsätzliches äußern. In einer Gewissenserforschung distanziert sich die Sternheim von einer ich-zentrierten Empfindsamkeit: Sie kritisiert ihre von Jugend auf genährte Empfindsamkeit, die nur ganz allein für meine beleidigte Eigenliebe arbeitete. Oh, wie sehr hab ich den Unterschied der Würkungen, der Empfindsamkeit für andere und der für uns allein kennengelernt! […] Die zwote ist billig, und allen Menschen natürlich; aber die erste allein ist edel; sie allein unterhält die Wahrscheinlichkeit des Ausdrucks, daß wir nach dem Ebenbild unsers Urhebers geschaffen sein, weil diese Empfindsamkeit für das Wohl und Elend unsers Nebenmenschen die Triebfeder der Wohltätigkeit ist, der einzigen Eigenschaft, welche ein zwar unvollkommnes, aber gewiß echtes Gepräge dieses göttlichen Ebenbildes mit sich führt; ein Gepräge, so der Schöpfer allen Kreaturen der Körperwelt eindrückte, als in welcher das geringste Grashälmchen durch seinen Beitrag zur Nahrung der Tiere ebenso wohltätig ist, als der starke Baum es auf mancherlei Weise für uns wird. Das kleinste Sandkörnchen erfüllt seine Bestimmung wohltätig zu sein, und die Erde durch Lockernheit fruchtbar zu erhalten, so wie die großen Felsen, die uns staunen machen, unsern allgemeinen Wohnplatz befestigen helfen. Ist nicht das ganze Pflanzen- und Tierreich mit lauter Gaben der Wohltätigkeit für unser Leben erfüllt? Die ganze physikalische Welt bleibt diesen Pflichten getreu; durch jedes Frühjahr werden sie erneuert; nur die Menschen arten aus, und löschen dieses Gepräge aus, welches in uns viel stärker, und in größerer Schönheit glänzen würde, da wir es in so vielerlei Weise zeigen könnten. Sie erkennen hier, meine Emilia, die Grundsätze meines Vaters; meine Melancholie rief sie mir sehr lebhaft zurück, da ich in der Ruhe der Einsamkeit mich umwandte, und den Weg abmaß, durch welchen mich meine Empfindlichkeit gejagt, und so weit von dem Orte meiner Bestimmung verschlagen hatte. Oh, ich bin den Pflichten der Wohltätigkeit des Beispiels entgangen! […] 25 So lang ich für andere unempfindlich war, fehlte ich nur gegen die Vorurteile der fühllosen Seelen, und wenn es auch schien, daß meine Begriffe von Wohltätigkeit übertrieben wären, so bleiben sie doch durch das Gepräge des göttlichen Ebenbildes verehrungs- und nachahmungswürdig. Aber itzt, da ich nur für mich empfand, fehlte ich gegen den Wohlstand und gegen alle gesellschaftliche Tugenden eines guten Mädchens. 26 Dieser Versuch der Protagonistin, ihre Empfindsamkeit als falsche »Empfindlichkeit« zu korrigieren, führt stets zum Zentrum ihrer Konzeption, der <?page no="21"?> 21 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches 27 Ebd., S. 127, Anm.** 28 Ebd., S. 163. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 164. »Wohltätigkeit«. Empfindsamkeit ist nur als »Triebfeder der Wohltätigkeit« gerechtfertigt! Der »Stoff«, den die karitativen Taten Sophie Sternheims liefern, ist die Voraussetzung für affektive Reflexion. In einer Anmerkung von Wieland heißt es, das, worin ihr Stärke liege, sei die Feinheit der Empfindung, der Beobachtungsgeist, und eine wunderbare, und gleichsam zwischen allen ihren Seelenkräften abgeredete Geschäftigkeit derselben, bei jeder Gelegenheit die Güte ihres Herzens tätig zu machen; […]. 27 Die empfindsame Tendenz will keine ständischen Schranken anerkennen, wenn es um die Transparenz der affektiven Kommunikation geht. Zur Abschaffung der Standeshierarchie ruft sie allerdings nicht auf. Es gibt eine »Ordnung, die Gott unter den Menschen durch die Verschiedenheit der Stände eingesetzt hat«. Durch die Eltern sind wir »zu einem gewissen Stande« bestimmt, und jede »Klasse« habe ihre »Vorteile[n] und Lasten«. In »ehrerbietige[r] Zufriedenheit« mit dem Schöpfer sei dies hinzunehmen. Die Bürgerlichen bestimmt Sternheim, »einen Freund geistlichen Standes« zitierend, durch ihre »Pflichten«: Der erste Rang des Privatstandes habe die edle Pflicht, durch nützliche Kenntnisse und Gelehrsamkeit, auf den verschiedenen Stufen öffentlicher Bedienungen, oder in der höhern Klasse des Kaufmannsstandes dem gemeinen Wesen nützlich zu sein. 28 Alle Menschen, der Fürst wie der Geringste, seien »zu den Pflichten der Tugend und der Religion« verbunden. 29 Empfindsame »Gleichheit« ohne politischen Anspruch ist möglich: Wir können ohne eine adeliche Geburt edle Seelen, und ohne großen Rang einen großen Geist haben; ohne Reichtum glücklich und vergnügt, und ohne kostbaren Putz durch unser Herz, unsern Verstand und unsre persönliche Annehmlichkeiten sehr liebenswürdig sein […]. 30 Von den »zum Nutzen des Vaterlandes ausgeübten vorzüglichen Tugenden und Talente[n]«, die als »Belohnung« für die Entstehung des Adels herangezogen werden, kann allerdings auch das Fräulein von Sternheim nicht mehr viel erkennen. Der Fürst, der ihr nachstellt, trägt die Maske der Empfindsamkeit und Wohltätigkeit. Über den Kontrast zwischen der Verschwendung bei höfischen Festen und der Armut der Menschen, die als Zuschauer draußen stehen, kommt sie nicht hinweg. Sie beobachtet, wie Spieler die <?page no="22"?> 22 Gerhard Sauder 31 Ebd., S. 86. 32 Ebd., S. 87. 33 Vgl. ebd., S. 32, 34. 34 Ebd., S. 41. 35 Ebd., S. 28. Spielregeln vorzüglich beherrschen, aber, kaum haben sie den Spieltisch verlassen, »alle Vorschriften der Tugend und des Wohlstandes beleidigten«. 31 Ein als »edler Spieler« gerühmter Kavalier nennt die Untertanen »Hunde« und rät einem jungen Standesherrn die »heftigste und liebloseste Maßregeln« an, um die »Bauren in Furcht und Unterwürfigkeit zu erhalten, und die Abgaben alle Jahre richtig einzutreiben, damit man in seinem standesgemäßen Aufwand nicht gestört würde.« 32 Die Standesproblematik ist für Sophie von La Roche eines der großen Sujets ihres Werkes. Gewiss dominieren Tugend und Religion alle Prinzipien des gesellschaftlichen Umgangs oder sollten es zumindest. Luhmanns These von der Ablösung des stratifikatorischen Gesellschaftsmodells zu Gunsten eines funktionalen ist nur teilweise im großen Roman der Autorin zu verifizieren. Die Bürgerlichen sind, was sie sind, durch Erfüllung ihrer spezifischen Pflichten und Funktionen. Der »Mangel der Ahnen« bei Sternheims Vater ließ sich in den Augen seines Freundes durch »sein edles Herz, seine Wissenschaft und seine Freundschaft« kompensieren. Von Sternheims Adel ist Dienst- und Amtsadel: Bei der Überreichung der Ernennungsurkunde zum Obersten erfolgte die Erhebung in den Adelsstand. Deshalb gibt es zunächst einigen Widerstand in der Familie des Freundes gegen seine Heirat mit Sophie, der Mutter der Protagonistin. Vom »Heiraten außer Stand« 33 und dem Verlust des Ansehens beim benachbarten Adel ist die Rede. Der Oberst von Sternheim verspricht nach der Heirat, dass er »durch alle [s]eine Handlungen den Beweis zu geben suchen werde, daß ich der Hand von Sophien P., und der Aufnahme in die freiherrliche Klasse nicht unwürdig war«. Seinen Ursprung im bürgerlichen Stande werde er nicht vergessen; für seine Untergebenen wolle er sorgen, um ihrem Herzen die Unterwürfigkeit, in welche sie das Schicksal gesetzt hat, nicht nur erträglich, sondern angenehm zu machen, und mich so zu bezeugen, daß sie mir den Unterschied, welchen zeitliches Glück zwischen mir und ihnen gemacht hat, gerne gönnen sollen. 34 Sophie von La Roche hat ihren eigenen sozialen Aufstieg reflektiert; ihr Ehemann Georg Michael Frank von La Roche litt auch unter dem »Mangel der Ahnen«. Die Parteilichkeit für die Bürgerlichen mit den »edlen Herzen« hindert sie nicht daran, den Adel als ein Geschenk des Schicksals zu betrachten, der Voraussetzung für ein unbeschwertes Leben »in Tugend und Vernunft« sei. 35 Die empfindsame Maxime, »zu einem moralischen Wohltäter an <?page no="23"?> 23 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches 36 Ebd., S. 40. 37 Ebd., S. 84. 38 Ebd. 39 Ebd., Anm. 22, S. 367-368. seinen Nebenmenschen« 36 zu werden, ist ein Programm empfindsamer Kompensation des Elends und der Ungerechtigkeit, die das feudale System produziert. Das Fräulein von Sternheim verfügt über eine geschärfte Sensibilität dafür. Wenn es gelegentlich übertrieben wirkt, wie sie allenthalben nach Anlässen zur Wohltätigkeit sucht, wenn sie Projekte entwirft, wie der »arbeitsame Landmann«, »der gemeine Mann« unterrichtet werden könne, wenn sie - als Physiokratin - zur Verbesserung des Landbaus beitragen möchte, für die Gründung von Armen- und Findelhäusern wirkt, so sind dies Zeichen eines im besten Sinne schlechten Gewissens: Zärtliches Mitleiden, Wünsche und Segen erfüllten mein Herz, als ich ihren sauren Fleiß und die traurigen, doch gelaßnen Blicke sah, mit welchen sie den Zug unsrer zwoen Chaisen betrachteten. Die Ehrerbietung, mit der sie uns als Günstlinge der Vorsicht grüßten, hatte etwas sehr Rührendes für mich; und ich suchte durch Gegenzeichen meiner menschlichen Verbrüderung mit ihnen, und auch durch einige Stücke Gelds, die ich den Nächsten an unserm Wege ungebeten zuwarf, ihnen einen guten Augenblick zu schaffen. Besonders gab ich armen Weibern, die bei ihrer Arbeit hie und da ein Kind auf dem Felde sitzen hatte. Ich dachte, meine Tante macht eine Reise zum verhofften Vorteil ihrer Söhne, und diese Frau verrichtet zum Besten der ihrigen eine kümmerliche Arbeit; ich will dieser Mutter auch eine unerwartete Güte genießen lassen. 37 Es ist der von Sternheim, der nachdenklichen Empfindsamen, sympathetisch erfahrene Sozialneid, der sie Almosen aus der Kutsche werfen lässt: »Der reitende Bediente erzählte uns dann die Freude der armen Leute, und den Dank, den sie uns nachriefen.« 38 Wie mögen diese nachgerufenen Danksagungen geklungen haben? Hinter der immer wieder beschworenen Idealfigur der Sternheim sind nicht wenige Schatten zu sehen. Zu ihrer eigenen Verurteilung der zu großen Naivität gegenüber Derby kommen zahlreiche Ambivalenzen ihres empfindsamen Konzepts mit dem Fokus der »übenden Tugend«. Zeitgenössische Kritiker haben Schwächen des Buches erkannt. Aber Merck - vielleicht in Koautorschaft mit Goethe - hat die wichtige interpretatorische Einsicht formuliert, es gehe hier nicht um die Beurteilung eines Buches, sondern um »eine Menschenseele«. Die Verfasserin habe sich selbst Rechenschaft gegeben, »wie sie sich in der Situation ihrer Heldin würde betragen haben; und also betrachtet sie den Plan der Begebenheiten, wie ein Gerüste zu ihren Sentiments«. 39 Die einfache Struktur des Plots ist damit vorzüglich legitimiert. <?page no="24"?> 24 Gerhard Sauder 40 Lony, S. 97. 41 Ebd., S. 139. Der erste Roman der Autorin, der sie berühmt und in der Literaturgeschichte der frühen 70er Jahre Epoche gemacht hat, darf wohl als ihr bedeutendstes Werk gelten. Um die Kontinuität der empfindsamen Orientierung für ihre lebenslange Autorschaft nachzuweisen, müssten alle Werke der verschienenen Genres untersucht werden. Es liegt auf der Hand, dass einige Reisebeschreibungen oder die Briefe über Mannheim zurückhaltender sind mit der Applikation des empfindsamen Instrumentariums. Aber es bleibt ihr wichtig, und sie kann bis in die letzten Arbeiten hinein darauf zurückgreifen - unangefochten von der historischen Einsicht, dass die empfindsame Tendenz als innovative Kraft bereits am Ende der 70er Jahre erschöpft war. Mit Bedacht habe ich eine Auswahl aus den Romanen getroffen, die ich nur kurz im Hinblick auf die uns beschäftigende Thematik charakterisieren kann. Die Geschichte von Miß Lony (1789) liest sich über mehrere Kapitel hin wie ein ›Remake‹ der Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Wieder ist der Plot geradezu eindimensional: Eine junge Frau, die ihre Eltern früh verlassen hat (der Vater war Offizier), lebt bei einem Pfarrer und wird mit der Tochter, die von der Pfarrersfrau in die Ehe gebracht wurde, erzogen. Ein Adliger, Sir Redall, verliebt sich in Lony und verspricht ihr die Ehe. Die Liebe zu »Wahrheit und Tugend« verbindet sie. Lony wird immer wieder als »schöne Seele« charakterisiert. Nach dem Tod des älteren Bruders von Redall ist er Erbe eines Herzogtums. Lony missfällt es, dass er so häufig von seinem »Herzogshut« spreche - der Titel sei es aber nicht, weshalb sie Redall liebe. Sie wird befragt: Hat der Titel etwas in Redall geändert? Ist er stolzer geworden, oder weniger zärtlich? O nein! im Gegentheil könnte ich sagen, daß seine Zärtlichkeit vermehrt wurde, und ihm eine Art von Stolz für mich gab; doch habe ich gefühlt, daß der Herzogshut etwas Drückendes hat, und daß der Federbusch auf dem Helm eines Ritters der Seele eine leichtere Bewegung lässt. 40 Wieder steht die nicht standesgemäße Abkunft Lonys einer Heirat entgegen. Sie wird von ihrer Pflegemutter wegen ihrer Abkunft verleumdet. Redall verlässt sie und reist nach Italien. Lony erkrankt. Kurz vor ihrem Tod kehrt Redall zurück, erfährt von den Intrigen gegen sie. Dem Tod nahe, auf den sie sich zum Vorbild aller empfindsam und gefasst vorbereitet, werden sie getraut. In Redalls Abwesenheit hat Lady Charlotte, bei der Lony Zuflucht gefunden hat, Gainsborough kommen lassen, der sie malt. Einem nach Italien reisenden Freund gibt die schon kranke Lony den Auftrag: »Versichern Sie, die edle Künstlerinn Angelika [Kauffmann, G.S.] meiner Verehrung, und werfen Sie, in meinem Nahmen einen Blick auf schöne Ruinen«. 41 »Ruinen« <?page no="25"?> 25 Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches 42 Ebd., S. 186. 43 Ebd., S. 188. 44 Ebd., S. 198. 45 Ebd., S. 279, 281. versteht Lony symbolisch im Sinne der zerstörten Hoffnungen ihres Lebens; eine vom Wind geknickte Lilie vor ihrem Fenster repräsentiert ihr Leben. Weiß ist ihre Lieblingsfarbe. Vor ihrem Tod hat sie noch ein Stück Land kaufen lassen, das sie zwei armen Familien schenkt: Lonys Farm soll ihnen zum Unterhalt dienen. Ihr Tod wird wirkungsvoll inszeniert; ihren Besitz hat sie für die Armen bestimmt. Ein runder Tempel wird auf einer Anhöhe des Gartens erbaut, »in dessen Mitte ein Aschenkrug auf einem Altar steht. Die Bildsäule der Tugend umfaßt ihn, und beugt voll Trauer ihr Haupt auf die Urne, und hält mit einer Hand den Sternenkranz über ihr«. 42 Die Nähe zur Heiligenverehrung ist deutlich; die junge Frau, deren empfindsame Liebe der Standesunterschiede wegen scheiterte, soll als »schöne Seele« in Erinnerung bleiben. Angebunden an diesen Roman, der die empfindsame Terminologie nicht in dem Maße kumuliert wie die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, ist eine längere Erzählung Der schöne Bund (1789). Vier junge Mädchen, die in einer »Kostschule« erzogen wurden, beweisen nach ihrer Entlassung »den Hang zu wahrer Freundschaft«. 43 Erneut steht eine empfindsame Inszenierung im Zentrum; die Abschriften der Statuten des Bundes werden zunächst auf einem »Altar von Rasen« 44 verborgen. Die Erzählung wird durch ein »Fest der Freundschaft« 45 beendet. La Roches spätere Werke sind geprägt durch solche Inszenierungen und ästhetische bis religiöse Repräsentationen der Empfindungen. Die Ritualisierung enthebt die Autorin der Aufgabe, stets neue »Gerüste« für die empfindsamen Übungen zu suchen. Das Opernhafte solcher Veranstaltungen bis hin zur Bemühung der stellvertretenden Malerei (Gainsborough-Bild) führt allerdings auch zum Verlust des Scheins von Authentizität, durch den der Sternheim-Roman so viele Bewunderer fand. Schönes Bild der Resignation (1795) heißt einer von La Roches späten Romanen. Er ist Luise von Preußen gewidmet und erzählt, wie in der Vendée eine alteingesessene Adelsfamilie vertrieben wurde. Nur die junge Frau und ihr Sohn leben noch - unerkannt - in einer Hütte auf dem Gutsgelände. Ein Engländer, Lord Georg(e), lernt sie kennen und verehrt sie. Die Hütte will er wie die von Angelika Kauffmann ausgestaltete Loretto-Hütte Santa Casa überbauen lassen, nachdem die Familie wieder vereint ist, und der ›Verehrung‹ weihen. Zuvor hat er viel Geld ausgegeben, um der Familie und den verbliebenen Bedienten zu helfen. ›Resignation‹ - Lord Georg(e) liebt Eugenie, deren Mann schließlich zurückkehrt - ist auch ein ›Gerüst‹, an dem <?page no="26"?> 26 Gerhard Sauder 46 Mannheim, S. 49-50. 47 Ebd., S. 197-198. 48 Ebd., S. 199. Empfindungen über die Auswirkungen der Revolution und edle Gesinnungen zu befestigen sind. Sophie von La Roche hat ihre spezifische Empfindsamkeit als ›moralische‹ oder ›Tugendempfindsamkeit‹ nicht aufgegeben. Dies spricht für ihren Mut zur Beharrlichkeit und für den Verzicht darauf, literarischen Innovationen nachzueifern. Dabei kann ihre »wohltätige Empfindsamkeit« durchaus ›moderne‹ Züge annehmen. Vor dem Mannheimer Schloss, in dem nach dem Weggang des Hofes nach München jetzt (d.i. 1784) Totenstille herrsche, kommen ihr beim Anblick der Wohnungen armer und geringer Leute kritische Gedanken. 46 Unter den renommierten Autoren des 18. Jahrhunderts geschieht es selten, dass sie die Not der Armut überhaupt wahrnehmen; diese Sensibilität ist eine Qualität der »wohltätigen Empfindsamkeit«. Und wer schreibt schon ausführlich über ›Arbeit‹? Arbeit - schien mir immer eine Schuzwehr gegen Laster zu seyn, und viele fleissige Menschen beysammen zu sehen, war eines meiner süssesten Vergnügen, weil ich die Leute unter dem Einfluß einer nüzlichen Tugend, von schädlicher langer Weile entfernt, in dem Genuß ihrer Talente und ihrer Kräfte glücklich und gut achtete. Meine Blicke ruhten einst mit soviel Vergnügen und Seegen - auf dem schönen, für die Arbeiter in der Porcelanfabrikke zu Seve angepflanzten Plaz - wo sie ihre Erholungsstunden zubringen - und da soll ich mir von nun einen Haufen Bösewichter denken, welche diese Zeit zu Vermehrung ihrer Verderbniß anwenden? - Was soll ich nun mit meiner Freude über Fabricken anfangen, die immer so glücklich mich machte? 47 La Roche lebte von einer ›naiven‹, glücklichen (seit der Revolution freilich oft verzweifelten) Hoffnung auf Perfektibilität - Erbstück ihrer aufklärerischen Sozialisation: »[M]an glaubt jetzt an Freundschaftsinseln, in welchen alle Einwohner schön seyn sollen, und von unsern Enklen wird man denken, daß sie einst alle gut sind - glückliche Zeit! « 48 Dass sie nicht eintraf, verringert den Anspruch ihres dichterischen Traumes nicht! <?page no="27"?> 1 Sophies Titelgebung lautete offenbar ursprünglich Denkblätter von dem See Oneida (so in einem Brief an Elise zu Solms-Laubach, 30.4.1797). Der endgültige Titel stammte von dem Leipziger Verleger Gräff. Weitere Zeugnisse zur Titelfrage, samt Quellennachweisen, ausführlich bei Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie, S. 177-179 (mit den Anmerkungen S. 388-389). 2 So der vermutlich treffendste Begriff, der auch in der Forschung begegnet. ›Briefroman‹ knüpft an das epochentypische (europäische) Genre an, ist jedoch gattungstheoretisch ebenso wenig präzise wie der (für die Erscheinungen) eingeführte Verständigungsbegriff ›Roman‹. 3 Neben »Indianer« begegnet in unregelmäßigem Wechsel auch »Indier«. 4 In den Quellen (dazu unten Anm. 14) dominiert die Schreibung »Watine«, daneben auch »Vatines«. 5 Dass das unter den Zeitgenossen vieldiskutierte Werk Sophie von La Roche entgangen sein sollte, ist unwahrscheinlich. Möglicherweise vermied sie jedoch des großen Namens wegen hier Anspielungen oder Vergleiche. Wilfried Barner Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur der späten Aufklärung Sophie von La Roches später Roman mit dem leicht rätselhaften Titel Erscheinungen am See Oneida, 1 dieser 1798 in Leipzig erschienene Briefbericht 2 in drei »Bändchen« (ohne nähere Gattungsangabe) - wenn wir die Verfasserin nicht kennten, würden wir dieses Produkt vielleicht nicht ohne weiteres aus der Feder der Autorin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) oder der Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter (1783-1784) erwarten (das Gedankenexperiment wäre zumindest des Nachdenkens wert). In der zurückgezogenen Offenbacher Existenz entstanden, mit seinem Hauptgeschehen in Nordamerika spielend, einem abgelegenen Landstrich im heutigen Staat New York, in der Nachbarschaft von Indianern, 3 führt das Werk uns ein durch die Revolution gebeuteltes vornehmes französisches Ehepaar namens Wattines vor. 4 Es ist ein Paar, das sich in die Neue Welt geflüchtet hat - also damals noch ein hochbrisantes aktuelles, zeitgeschichtliches Sujet. Man erinnere sich, dass wenige Jahre zuvor erst, 1794-1795, Goethes postrevolutionäre Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in Schillers Horen herausgekommen waren. 5 Auf einer Insel in einem See namens Oneida (heute einer der eindrucksvollen Finger Lakes in Upstate New York, in der Nähe von Ithaca, dem Sitz der Cornell University) versuchen <?page no="28"?> 28 Wilfried Barner 6 Die Namensgleichheit mit einem von Sophies Söhnen (»Carl«) wird nicht erkennbar ausgespielt. Der gemeinsame Sohn der Wattines erhält den ostentativ ›synthetisierenden‹ Namen »Carmil«. 7 Wichtig hierbei - wie bei den Erscheinungen - der europakritische Zug, so in Johann Gottfried Schnabels Die Insel Felsenburg (1731-1743). 8 Dies gilt verstärkt noch für das ›Alterswerk‹. 9 Schon Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts, S. 160-163. 10 Darunter mit besonderer Wirkungsbreite Singspiele und sogar Opern (z. T. mit Anspielungen auf die Idylle). 11 Vorzüglich informierend die Artikel »Barbare, sauvage« von Hans-Jürgen Lüsebrink und (mit dem Zusatz »Représentations du«) von Madeleine Pinault Sfrensen in Delon (Hrsg.): Dictionnaire Européen des Lumières, S. 140-146. 12 Zu diesem Aspekt umfassend Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin; und zu den epochalen Strömungen Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1 u. 3. Carl und Emilie - der Anklang an Rousseau ist nicht zufällig, nur eben: ›crosswise‹ - eine neue Existenz. 6 Aber es entsteht keine ›Robinsonade‹ im strikten Sinn (wie es mitunter etwas leichthin formuliert wird): schon weil es sich um eine selbstgewählte Lebensform handelt. Die beiden sind ausgestattet mit einem - gewiss reduzierten - europäischen Haushalt samt großer Bibliothek, deren Überführung über den großen Teich schon damals ein veritables Luxus-Unternehmen dargestellt haben dürfte. Die Bibliothek: ein fast überdeutliches habituelles Kultursymbol im Sinne Panofskys. Das Insel-Motiv mag indes nicht nur an ein diskursives Lieblingsmodell der europäischen und insbesondere der deutschen Aufklärungsliteratur erinnern, 7 auch an Rousseau, spezifischer noch an den französischen Schriftsteller, Sozialreformer und - nota bene - Weltreisenden Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre, auf den im übrigen die Forschung (da ihn Sophie von La Roche wiederholt mit Verehrung nennt) 8 längst aufmerksam geworden ist. 9 Der Eindruck, der von seinen Ideen ausgeht, schiebt sich, so kann man sagen, für unsere Autorin zeitweise ein wenig vor Rousseau, mit Bernhardins Études de la nature (1784) und vor allem seiner berühmten Idylle Paul et Virginie von 1787. 10 Deren Titelgestalten wachsen allein, modellhaft nur mit ihren Müttern, auf einer einsamen Insel auf. Die - bei La Roche - in der Nähe der Wattines siedelnden Indianer, zu denen zu schwimmen sich die Familie nach einiger Zeit entschließt, evozieren - und hier verknüpfen sich epochentypisch die diskursiven Linien - mit den ›edlen Wilden‹ 11 wiederum ein Jahrhundertthema (und zwar in der Figurenrede des indianischen Anführers selbst). Hier ist unverkennbar zugleich europäischer Kolonialdiskurs greifbar, und zwar mit leicht kosmopolitischen Beitönen - dazu gleich. Bei aller sich schon recht dicht abzeichnenden aufklärerischen Kontextualität - zu der man mindestens noch sentimental journey hinzunehmen muss: 12 Das alles ist, wie <?page no="29"?> 29 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 13 La Roche hat in Briefen und offenbar auch in Gesprächen ihr Vorhaben wiederholt erwähnt (auch die biographisch-autobiographischen Bezüge dazu). 14 Der Briefwechsel mit dem Sohn Fritz über den Atlantik reicht bis zu seinem ersten Amerika-Aufenthalt zurück; vgl. etwa den Brief aus Speyer vom 5.11.1780, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 226-227. 15 Lange: Empfindsame Abenteuer; Lange: Visitors to Lake Oneida. 16 So der Titel des Marbacher Vortrags. 17 Unter den neueren Arbeiten vor allem bei Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin (sie nennt die »Realistin« schon im Titel). 18 Schon aus Kostengründen (selbst die europäischen Reisen konnte La Roche nur mit Mühe - und zum Teil mit fremder Hilfe - finanzieren). 19 Die leicht abwertende Vokabel ›plaudern‹ begleitet von früh an ihre Rezeptionsgeschichte. schon einige von Sophies ersten Leserinnen und Lesern wissen mussten, 13 keineswegs pure Fiktion. Es entstammt, bis in zahlreiche Details hinein, den mündlichen und schriftlichen Berichten ihres Sorgensohns Fritz (ihres ältesten) und dessen Ehefrau Elsina, die 1792 nach Nordamerika ausgewandert waren. Einschlägige Briefe der Mutter, vor allem vom Juli 1794 und vom April 1795, mit der Bitte um weitere Auskünfte - da arbeitet sie schon an ihrem Oneida-Projekt - sind uns erhalten. 14 Fritz war im Übrigen schon 1780 als Offizier nach Amerika gegangen und hatte im Unabhängigkeitskrieg in einer französischen Truppe gekämpft. Eine wichtige ›Zwischenquelle‹ - es ist von Belang, sich das innereuropäische und transatlantische Geschehens- und Kommunikationsgewebe vor Augen zu führen -, nämlich die Berichte des aus Europa geflüchteten Niederländers François Adrian van der Kemp (bei Sophie »Vandek« genannt), hat vor Jahren schon Victor Lange identifiziert. 15 Und Gudrun Loster-Schneider wiederum hat Sophie von La Roche nicht zuletzt wegen des Oneida-Projekts als eine »Feld-Pionierin des Amerika-Romans« gewürdigt. 16 La Roches Bemühen um Fundierung im Faktischen, Belegten, Realitätsnahen gehört, wie oft beobachtet worden ist, 17 zu ihrem Autorinnenprofil und zu den Konstituenten ihrer besonderen Glaubwürdigkeit (was durchaus einschließt, dass sie die Details höchst sorgsam und mitunter auch phantasievoll auszumalen versteht). Der alte narrative Beglaubigungstopos ist für unser Thema auch insofern von Bedeutung, als bei weit entfernten Gegenden, die von der weiblichen Schreiberin - im Gegensatz zu europäischen Ländern - nicht bereist werden konnten, 18 das männliche Vorurteilsklischee des ›Plauderns‹ möglichst weit entfernt gehalten werden sollte - durch desto genauere Berufung auf Fremdzeugnisse. 19 Zum Unerwarteten dieser fremdartigen, ebenso abenteuerhaften wie zeithistorischen Story der Wattines gehört auch, dass das Pariser Ehepaar, wie schon erwähnt, in die Abgeschiedenheit des Oneida-Sees die umfängliche Bibliothek von nicht weniger als 300 Bänden mit sich herübergebracht hat, <?page no="30"?> 30 Wilfried Barner 20 Als »Autobiographie« gefasst, mit zeitlicher Erstreckung, von Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 293-343. 21 Zum Beispiel an Leonhard Meister, 4.10.1787, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 301. 22 Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 132. sozusagen als geistiges Rüstzug im Exil, als kosmopolitisches Reservoir, wie ich es vorgreiflich schon einmal nennen möchte. Und wie Sophie von La Roche eine Bibliothek in die Vorstellung ihrer Leserinnen und Leser zu heben versteht, und zwar im Gebrauch, Titel für Titel, weiß man aus den nicht ganz ermüdungsfreien Aufzählungen in ihrem Monumentalwerk Mein Schreibetisch (die beiden Bände sind 1799, gleich im Jahr nach den Erscheinungen, als Ganzes herausgekommen). 20 Bibliotheken, große wie kleinere, ziehen sich als frauenbildungsprogrammatische Symbole durch einen großen Teil ihres Œuvres. Die autobiographischen Linien, bis zurück zur umfangreichen Bibliothek ihres »sehr gelehrten« Vaters (wie sie ihn selbst tituliert) 21 und zur frühen Bücher-Initiation der Tochter, sind oft gezogen worden. Die narrative Erschließung der Wattine’schen Exilbibliothek verdiente in ihrem Modellcharakter besondere analytische Aufmerksamkeit. Zwei einander durchkreuzende Sinnfunktionen sind zunächst zu unterscheiden. In der erkennbar gewordenen innereuropäischen, d.h. vor allem französischdeutschen, dann in der transatlantisch-kolonialen Verwirrstruktur des Geschehens der Oneida-Berichte (und das noch in Briefform) steht die Bibliothek von Carl und Emilie semantisch als ›Wissenstopographie für Welt‹. Genauer, sie steht für eine durchaus disponible, verfügbare Welt, also auch in diesem Sinne: für eine kosmopolitische. In ihrer Titelauswahl repräsentiert sie tragende Elemente eines französisch-humanistischen Kanons, mit bestimmten Erweiterungen, von denen noch zu reden sein wird. Insgesamt bilden sie sozusagen den materialisierten Niederschlag eines primär gelehrtmännlichen Habitus. Aber dadurch, dass wichtige Titel dieser Bibliothek jeweils abends nach getaner Tagesarbeit von den beiden Protagonisten vorgenommen werden, dass aus ihnen vorgelesen wird, entsteht mit dieser personalen Aktualisierung etwas Zweites, das nun für das Bourdieu’sche Habituskonzept kennzeichnend ist und das er »inkorporiertes folglich individuiertes Soziales« nennt. 22 Dieses Vorlesen zielt auf sukzessive Erschließung eines Wissenskosmos, aus dem in der Abgeschiedenheit des Sees Oneida Carl und Emilie individuelle Welterweiterung gewissermaßen einsaugen. Und: In diesen Kosmos, oder jeweils in einzelne Segmente führt - bei La Roche nicht überraschend - Carl, der gelehrte Mann. Er führt ein. Freilich geschieht das so, dass Emilie aus eigenem Impuls zwischendurch auch wiederholt ausgiebig in der Encyclopédie liest. Das Monumentalwerk von Diderot und d’Alembert ist nicht nebenher ›mitgekommen‹, sondern fungiert als zentrales Orientie- <?page no="31"?> 31 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 23 Sternheim, S. 85. Zitiert wird nach der Reclam-Ausgabe, hrsg. v. Becker-Cantarino, 3. Aufl. 2006. 24 Ebd., S. 129. 25 Nicht nur in der ständischen Dimension, sondern auch gebunden etwa durch die tägliche Fürsorge für die Kinder. 26 Sternheim, S. 17. rungsnetz und zugleich als eminentes symbolisches Kapital. Epochenspezifischer gesprochen ist hierin fast überdeutlich der aufgeklärte Wissens-Kosmopolitismus bzw. der Typus des kosmopolitisch Aufgeklärten repräsentiert, freilich im ausgehenden Jahrhundert, nach den ersten Erfahrungen der terreur. Zwei Zwischenbemerkungen zum methodischen Vorgehen. Mit dem gewissermaßen gegenchronologischen Einsatz bei den vergleichsweise spät entstandenen Erscheinungen am See Oneida sollte frühzeitig die erstaunliche Spannweite und Vielfalt angedeutet werden, die Sophie von La Roche im Hinblick auf unsere ›kosmopolitische‹ Fragestellung mit diesem Erzählwerk exponiert. Thematisch reicht es von Kolonialstrukturen über das Revolutions- und Nachrevolutionsgeschehen bis zur ›Exilbibliothek‹, und was die Kommunikationsstrukturen anbelangt, so arbeitet der Oneida-Text mit dem Rekurs auf weite Reisen, auf Nachrichten von ethnologischem Neuland, auf Erzählungen, Briefberichte etc. Ohne einem Zwang zu folgen, in Sophie von La Roches Vita und Œuvre eine strikte Teleologie hineinzukonstruieren, führen Linien zu den deutsch-englischen, ja anglophilen Imaginationen schon in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (und dort eingeschlossen etwa die »auserlesene Bibliothek« des Landedelmanns Graf von W., 23 aber auch die kritisch gesehene »französische Belesenheit« des deutschen Adels). 24 Zum gleichen Linien-Netzwerk der mit Eifer und Wissensdrang - und gegen Widerstände - vorangetriebenen transnationalen Horizonterweiterung gehören fundamental Sophie von La Roches mehr und mehr bewunderte europäische Reisen (mit den zugehörigen publizierten Tagebüchern, Briefen und Briefberichten). Es geht hier um das Prinzip des - in der Geschlechterrolle desto eingeschränkteren 25 - sich ›nach außen‹ Bewegens, dem kosmopolitische Konnotationen erst nach und nach zuwachsen. Schon aus den bisherigen Beobachtungen zum Oneida-Projekt wird die wiederholte Selbstverständlichkeit erkennbar, dass auch die sozialen Bestimmungen des angestrebten Habitus männlich sind. Um auf die Anfänge zurückzulenken: Es ist Sophies kosmopolitischer Mentor Wieland, der in seiner Vorrede zur Geschichte des Fräuleins von Sternheim als seine Aufgabe formuliert, die »Urheberin« (des Romans) »in die Welt einzuführen«. 26 Die zweite Zwischenbemerkung. Vergegenwärtigt man sich die Titelformulierung des Beitrags (»im Feld kosmopolitischer Literatur der späten <?page no="32"?> 32 Wilfried Barner 27 Dies vor allem durch den Sohn Fritz (der in einer französischen Truppe gekämpft hat). 28 Vgl. Anm. 10. 29 Unklar bleibt, ob nicht zunächst Übersetzungen eine ›Brücke‹ bildeten. 30 Erscheinungen, Bd. 2, S. 31. Aufklärung«), so sind von den Erscheinungen und von ihrer Autorin her erste spezifische Strukturmomente des einschlägigen Feldes schon erkennbar geworden, sozusagen induktiv: die wiederholt präsenten Spannungen Französisch-Deutsch als transnationale Impulse, jedoch auch als kulturellsoziale Konkurrenzen (›sozial‹ vor allem im Bereich des Adels); die tiefgehende Erschütterung der menschenrechtlichen, weltbürgerlichen Gleichheitspostulate durch die Gräuel des Revolutionsgeschehens (gespiegelt vor allem im Schicksal der Wattines); schließlich die Öffnung und Erweiterung älterer Kolonialerfahrungen durch die amerikanischen Befreiungskriege 27 - alles dies sind Mitkonstituenten dessen, was man europäische Spätaufklärung zu nennen sich angewöhnt hat. Nicht zuletzt sind drei französische Schlüssel-Autoren, Schlüssel-Werke dieses Feldes in den Blick getreten, solche, die diskursformierend gewirkt haben: die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert, Rousseau mit Émile und Nouvelle Héloise und schließlich Bernardin de Saint-Pierre mit Paul et Virginie (da diese Idylle heutzutage etwas in den Hintergrund getreten ist, sei hier nur angefügt, dass sie seit 1788 binnen eines reichlichen Jahrzehnts nicht weniger als 36 Ausgaben erreichte und zahllose Übersetzungen sowie Nachahmungen). 28 Diese Trias mag einstweilen statt eines europäischen Namens- Teppichs als Andeutung eines spätaufklärerischen Feldes stehen und zugleich wieder zu Carl und Emilie als darin ›Wandernden‹ zurückleiten. Als La Roches Arrangement war erwähnt worden, dass sie die Bibliothek in Benutzung vorführt, abends, nach der Tagesarbeit. Was aber nehmen Carl und Emilie - außer, kontinuierlich, den Bänden der Encyclopédie - konkret in die Hand, um es (zumeist gemeinsam) zu lesen? Bedenkt man ihr Konzept des Exil-›Rüstzeugs‹, so nimmt sich nur halbwegs überraschend aus, was hervorgehoben wird: Sie lesen auf Lateinisch, 29 das beide - besonders natürlich Emilie - auf ihrer Insel verbessert, ausgebaut haben, und zwar: Cicero, Horaz und Vergil. 30 Es ist nicht müßig, zu erwähnen, dass hier der Doyen des römisch-philosophischen Universalismus und zwei Glanzlichter des kaiserzeitlichen, augusteischen Weltreichsbewusstseins zusammenstehen. Doch die Veranstaltungen der weithorizontigen Antiken-Lektüre bilden noch eine bezeichnende Figur der Habitusformung ab. Das Unternehmen setzt ganz ungescheut binäre Geschlechterdifferenzen voraus, hier in Gestalt unterschiedlicher lesekultureller Dispositionen. Pragmatisch wird das Ziel verfolgt, Emilie sukzessiv an den Wissensstand Carls heranzuführen. Für die Lesungen etwa aus der Encyclopédie resümiert Emilie recht freimütig, sie <?page no="33"?> 33 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 31 Ebd., S. 32. 32 Des näheren untersucht unter anderen von Langner. 33 Die »Inselutopie« (Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 289-291) bleibt das überwölbende Strukturprinzip. 34 Der genaue Titel: The Universal Magazine of Knowledge and Pleasure (1796). 35 Als ›Markierung‹ gilt die Bill of Rights von Virginia des Jahres 1776. 36 Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 146-149. 37 Erscheinungen, Bd. 2, S. 46. seien zusammen mit Carls Erklärungen so angelegt, »daß ich [d.h. Emilie, W.B.] dadurch mit Wattines [d.h. Carl, W.B.] eine völlige Wiederholung seiner Studien machte«. 31 Es ist nicht überzogen, nebenher zu bemerken, dass mit »Studien« der alte humanistische Begriff der studia aufgenommen wird, nachgerade curricular für (männliche) Wissenschaft stehend. Die Repräsentantin bildungswilliger Weiblichkeit geht in den Spuren, die der Mann schon gegangen ist - eine bei Sophie von La Roche durchaus vertraute Figur 32 (auch unabhängig von den Strukturen, die sie in den Quellen über die Wattines vorfand). 33 Aber - hier wird eine Leitdifferenz erkennbar - in die »Studien« dringen spezifisch moderne Elemente ein. Mit Hilfe einer in der Bibliothek vorhandenen Monatsschrift (Universal Magazine) 34 lernen die beiden im Selbststudium Englisch, d.h. die dominante Verkehrssprache des Landes, aber auch die neben dem Französischen aufsteigende Weltsprache, Kolonialsprache, immerhin auch die Sprache, in der in Nordamerika seit den 1770er Jahren 35 die kosmopolitisch verstandenen Menschenrechte kodifiziert und verteidigt werden. In der Perspektive der Sophie von La Roche jedoch ist es die hinter alle diese zeitgenössischen Linien (1798! ) zurück reichende Sprache ihrer frühen hoffnungsvollen Imaginationen, die Sprache des »freien Denkens«, deren Pflege Michael Maurer vor allem mit den Vorlieben des Grafen Stadion verknüpft hat. 36 Um es etwas zugespitzt zu formulieren: Mit seinen Englisch-Studien schließt sich das französische Paar zugleich symbolisch noch spät jener europäischen, transnationalen Öffnung an, die schon den Weg der jungen Sophie von Sternheim kennzeichnete. Das ›Abendgymnasium‹ der beiden bleibt also nicht im älteren Sinne humanistisch. Aber das Ganze nimmt noch eine andere bezeichnende Wendung. In jener Monatsschrift, aus der die beiden Englisch lernen, werden Auszüge aus klassischen, also antiken Autoren mitgeteilt, hier in Übersetzung: über Cicero, Horaz und Vergil hinaus zum Beispiel Aristoteles, Plinius, Marc Aurel und Homer - das ist Neuland. Und Emilie kann es sich nicht verkneifen, mit einem Anflug von distanzierendem Spott auf die von den Männern zelebrierte Geschlechterdifferenz hinzuzeigen (also gegenüber Carl): »Lächeln Sie mir ganz offenherzig, ich weiß wohl, daß Ihr Männer Eure Sprachkenntniß und alten Schriftsteller wie Heiligtümer betrachtet, welche wir guten Geschöpfe nicht berühren sollen.« 37 <?page no="34"?> 34 Wilfried Barner 38 Ziolkowski: Goethe’s Unterhaltungen. 39 Sternheim, S. 85. 40 Erscheinungen, Bd. 2, S. 32. 41 Ebd., S. 33. 42 Dies wiederum programmatisch gesteigert durch »Pinsel und Feder« (Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 277). Es kommt hier weniger auf die gewiss reizvollen Spiegelungen oder auch Parallelen zu Sophie von La Roches weiblicher Bildungskarriere an. Sie mag man ungezwungen auch als einen Subtext mitlesen - man denke nur an Sophies Verhältnis zu ihrem hochgelehrten Vater und natürlich an den bald strengen, bald feinfühlig-freundschaftlichen Mentor Wieland. Zuvörderst geht es um das Muster einer unter ungewöhnlichen Umständen geschaffenen inselhaften aufklärerischen Existenz mit programmatisch kosmopolitischer Zielsetzung. Aber es ist eine - die wiederholte Erinnerung bleibt unumgänglich -, die schon mit dem spätaufklärerischen Erfahrungshorizont revolutionärer terreur konfrontiert worden ist, darin durchaus den Goethe’schen Ausgewanderten vergleichbar. Goethes oft herausgearbeiteter moraldidaktischer Intention 38 steht freilich bei La Roche eine klar frauen- und gesellschaftspädagogische Programmatik gegenüber, in diesem Punkt eher der Pomona für Teutschlands Töchter benachbart. Unter den Modernitätssignalen wie dem abendlichen Englischlernen und -lesen darf ein bis zur Geschichte des Fräuleins von Sternheim 39 zurückreichender epochentypischer Zug von Wissensakquisition nicht vernachlässigt werden: dass Emilie unbedingt auch »den Gebrauch aller mathematischen Instrumente« 40 - »physikalische« kommen dann noch hinzu 41 - lernen will und lernt. Instrumente zur Beobachtung, zum Messen und für Versuche, zugleich als Schlüssel zum Aufstieg der Naturwissenschaften in der Epoche der Aufklärung, das Ganze selbstredend eine Männerdomäne (kontrastiert gegenüber Nadel und Faden), 42 gewinnt für Emilie/ Sophie einen offenbar hoch eingeschätzten Status als symbolisches Kapital. Der hier unternommene Versuch, dem spätaufklärerisch-kosmopolitischen Feld von den habituellen Modellvorstellungen des Oneida-Projekts und insbesondere von der ›Exilbibliothek‹ her sich zu nähern, kann nur ausgewählt Charakteristisches greifen. Hierzu gehört noch eine Leitpublikation der Epoche, für Emilie auch insofern ›leitend‹, als sie wiederholt zur Orientierung - wie bei der Encyclopédie - danach greift (allen La Roche-Leserinnen zumindest als Name wohl vertraut): Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, Autor der vielbändigen, reich illustrierten (kolorierten) Histoire naturelle générale et particulière, die 1749 zu erscheinen begann (seit 1750 auch auf deutsch), mit signifikant starker Stellung der Naturwissenschaften, besonders der Biologie/ Zoologie und der Geologie/ Mineralogie. Hohen Ehrgeiz wendet <?page no="35"?> 35 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 43 Auf aktuellem Stand informierend: Stéphane Schmitt: Introduction zu Œuvres complètes, S. 9-114. 44 Erscheinungen, Bd. 2, S. 76. 45 Ebd., S. 77. 46 Beispielsweise Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 289-291. das Werk an das intensiv visuell Beschreibende, und zwar erdumspannend, weltumspannend (Buffon hielt hier bald eine Pionierposition). 43 Bezeichnend für die Weise, wie die Wattines mit Buffon, aber auch etwa mit Bernardin de Saint-Pierre umgehen, ist nun wiederholt die Kombination des globalen Blicks, der globalen Orientierung mit dem welthistorischen, weit in die Antike ausgreifenden. An einer zentralen Stelle, wo die für das epochentypische Kulturentstehungs-Interesse naheliegende Frage gestellt wird, wann die Indianer auf einem modernen Kenntnisstand angelangt sein werden, macht Carl eine höchst eigenartige, antik-moderne Zeitrechnung auf. Es geht um Prozesse jeweils bis zu einer neuen historischen Wissensformation, oder in der Foucault’schen Terminologie bis zu einer neuen Episteme: Bei den Griechen brauchte es 514 Jahre bis zu Sokrates, bei den Römern 642 Jahre bis zu Cicero, bei den Briten von Caesars Zeiten bis zu Bacon und Newton 900 Jahre, folglich müßten die Oneidas (»wenn sie nicht von den Europäern ausgerottet werden«) noch 937 Jahre warten. Und schließlich: »unser Vaterland aber [mußte] von Cäsar an 1700 Jahre durch die Stufen der Kenntnisse gehen […], bis ein Büffon entstehen konnte.« 44 Von dem Vaterlandsbegriff, der hier am Schluss der welthistorisch-kosmopolitischen Berechnungen auftaucht, wird gleich noch kurz die Rede sein. Es gelingt Sophie von La Roche noch, in diese geraffte Historie kulturellen Lernens nicht nur, Leibniz als Zielfigur einzuführen, als äußerste Extension universalen aufklärerischen Wissens, sondern auch noch ihren eigenen Mentor: »Ich erinnerte mich auch, daß unser großer Wieland einmal bei dem edlen weisen Graf Friedrich von Stadion, dessen letzte Lebensjahre er verschönerte und die Freundschaft des geistvollen Ministers genoß, einmal von den Wanderungen der Wissenschaften sprach und auch noch eine Art von Rechnung gemacht wurde […]« etc. 45 Man lässt Sophie von La Roche, der 67-Jährigen, gewiss kein Unrecht widerfahren, wenn man in dieser Direktheit der Verknüpfung (auch: Leibnizens) mit dem Grafen Stadion und vor allem mit Wieland auch ein Moment von Naivität wirken sieht, und den unbedingten Willen zur Huldigung. Hier kommt es darauf an, dass sie in die »Utopie« vom See Oneida (von der man häufiger gesprochen hat) 46 durch narrative Konstruktion eine nordamerikanische Weltregion einbindet, die sie trotz ihrer staunenswerten europäischen Reisetätigkeit (Schweiz, Holland, Frankreich, England) selbst nie hat kennenlernen können. Von dieser transatlantischen Welt spricht sie nicht primär <?page no="36"?> 36 Wilfried Barner 47 Vgl. die mit Anm. 37 nachgewiesene Äußerung. 48 Gesamtüberblick bei Busch/ Horstmann: Artikel »Kosmopolit, Kosmopolitismus«; wichtige Ergänzungen auf neuestem Stand vor allem zum 17. und 18. Jahrhundert bei Albrecht: Kosmopolitismus. Die bewährten Geschichtlichen Grundbegriffe von Brunner/ Conze/ Koselleck lassen »Kosmopolitismus« und »Weltbürgertum« eigentümlicherweise ganz am Rande. 49 Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 63-66, 199-202. durch Ausbreitung von landeskundlichem Wissen, sondern geradezu programmatisch im Zeichen einer weltumspannenden Lebens- und Bildungsidee, die auch ihr zugänglich ist: als schriftstellerisch erfolgreicher, gebildeter, erfahrener, daseinsgeprüfter Frau. Das geschieht zwar, wie schon beobachtet, 47 wiederholt mit kleinen spöttischen Seitenhieben auf die gelehrte Männerphalanx und deren privilegiertes, kosmopolitisches Exklusiv-Wissen vor allem im Gebiet der klassischen Sprachen und Autoren. Auf den Feldern der modernen, weltumgreifenden Naturkunde (Stichwort: Buffon), ja auch schon Naturwissenschaft wie Biologie, Geologie, Physik hat sich symbolisches Kapital ausgebildet, für das die alte Exklusivität eben nicht mehr gilt (s. bei Sophie von La Roche die »mathematischen und physikalischen Geräte«). Eine neue Variante, ja Stufe des Kosmopolitismus? Die Bezeichnungen ›Kosmopolitismus‹, ›kosmopolitisch‹ sind bisher schon fast bedenklich facettenreich aufgetaucht: als historische Selbstbezeichnung, als neuartige globale Erfahrung (weit in die Frühe Neuzeit, in die Anfänge des Kolonialismus, zurückreichend), als philosophisches Konzept mit Fundamenten in der Antike. 48 Und es scheint, als drängten sich die Phänomene und Prozesse im späteren 18. Jahrhundert, möglicherweise im Zeichen der von Koselleck beobachteten epochentypischen Akzeleration. 49 Durchaus nicht nebenbei bemerkt: Es ist ungefähr die Epoche, in die Sophie von La Roches erwachsene Lebenszeit fällt. Wie kann es gelingen, in die bisweilen verwirrende Vielfalt der Kosmopolitismen in der Spätaufklärung eine zumindest weitmaschige ideen- und erfahrungsgeschichtliche Struktur zu bringen? Ein an den Phänomenen ausgerichteter Versuch sollte zwei Hauptperspektiven unterscheiden. Die eine, globusorientierte, verbindet sich mit den tiefgreifenden Erfahrungen und Wissenszuwächsen, die seit der Frühen Neuzeit mit der Entdeckung und Ausbeutung der Kolonien außereuropäischer Länder unabweisbar werden. Hierzu gehört das praktische Sich-Einstellen auf deren ›altérité‹ schon aus Nützlichkeitsgründen, aber auch aus Interesse an der Besonderheit alter Kulturen in anderen Weltteilen. Neben Nord- und Südamerika ist vor allem an Indien und China zu denken - eine für das europäische 18. Jahrhundert spezifische Strömung wie die sogenannte Sinophilie spielt über Utilitätserwägungen bereits hinaus, wird etwa schon bei Voltaire auch staatspolitisch <?page no="37"?> 37 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 50 Zum Kontext der verschiedenen ›Weltbürger‹-Konzepte Wielands s. Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation, S. 217-272. 51 Also aus der Entstehungszeit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim. 52 Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 99. 53 Ebd. durchdrungen (Reflexionen über den Mandarinenstaat! ). Die andere Perspektive steht mit der globusorientierten in enger Wechselwirkung und bringt doch eine eigene geschichtliche Diskursausrichtung mit. Sie sei hier als die anthropologische bezeichnet. Sie reicht hinter die Frühe Neuzeit weit zurück in die Epoche, die Hegel die ›griechische Aufklärung‹ genannt hat: mit Sokrates und den Sophisten des 5./ 4. Jahrhunderts, deren Loslösung von der einen Polis (Vaterstadt) bezeichnenderweise politische Erfahrungen in den griechischen Kolonien zugrunde liegen (besonders Sizilien). Exkurs: Als Konzept begegnet ›kosmopolites‹ zuerst im 4. Jahrhundert bei Diogenes von Sinope (dem in der Tonne), dem Wieland im Jahr 1770, als er mit Sophie noch in engem Austausch stand, eine Schrift Diogenes und sein Nachlaß widmete, 50 aus dem Wieland seiner Sophie und der Gräfin Stadion vorgelesen hat. Es ist reizvoll zu beobachten, wie er sie mit den autonomistischen Positionen dieses Kosmopoliten schockte, so dass sie - laut einem Brief Sophies an Wieland vom 25. Februar 1770 51 - »ein paarmal bös über Sie [waren], da Sie uns bei dem Vorlesen erröten machten«. 52 Der Casus ist nicht überzubewerten, wirft aber ein Licht darauf, dass dieser anthropologische Kosmopolitismus, der sich am Menschen und seiner moralischen Ausrichtung orientierte, in seinem Freizügigkeitsanspruch - ähnlich den englischen free thinkers - durchaus auch beargwöhnt wurde. Sophie spricht im gleichen Brief davon, dass der Diogenes »der Geistlichkeit gar nicht gefalle«. 53 Die antiken Kosmopolitie-Vorstellungen sind um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei den europäischen ›philosophes‹, den Intellektuellen höchst präsent, insonderheit die erwähnten römischen Varianten mit dem imperialen Blick, deren Repräsentanten in La Roches Oneida-Modell abends gelesen werden (Cicero, Horaz, Vergil). Latein ist das Eingangsmedium, von Emilie sozusagen ertrotzt. Und mit einem einzigen Satz nur sei daran erinnert, dass über Jahrhunderte hinweg die weltweite lateinische res publica litteraria die Diskursträgerschaft dieser kosmopolitischen Ideen innehatte, eine männlich codierte. Für das Feld, in das hinein Sophie von La Roche ihre schriftstellerischen Expeditionen des 18. Jahrhunderts unermüdet vorantreibt, sei eine letzte, neuere Ausformung des anthropologischen Kosmopolitismus namhaft gemacht. Es ist die zunehmend naturrechtliche Stützung des Kosmopolitie- Gedankens, die der epochalen Kodifizierung der Menschenrechte auffällig <?page no="38"?> 38 Wilfried Barner 54 Die großen Linien: wie Anm. 48. 55 Spezieller zu den Illuminaten: Albrecht: Kosmopolitismus, S. 138-168. 56 Die britische Tradition geht bekanntlich bis zur Habeas-Corpus-Akte (1679) und weiter zurück. 57 Vorzugsweise als kulturell und - zurückhaltender - als moralisch akzentuierte Adelskritik. 58 Wie Anm. 48. 59 Albrecht: Kosmopolitismus, S. 78-81. 60 Vgl. Busch/ Dierse: Artikel »Patriotismus«; Frankreich und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Fink: Patriotisme. parallel läuft 54 (übrigens unter tendenzieller Zurückdrängung der Geschlechterbegrenzungen). Jedem Angehörigen des Menschengeschlechts steht es demnach zu, qua Geburt Weltbürger zu werden. Diese neue ›Einbettung‹ des Rechts auf Kosmopolitie ist bei Shaftesbury charakteristisch, dann bei Montesquieu und anderen, auch bei Lessing (bei den europäischen und amerikanischen Freimaurern wird es eingegrenzt durch das Elitekonzept). 55 Die Herübernahme elementarer Menschenrechte wie des Rechts auf Unversehrtheit aus der englischen Bill of Rights von 1689 56 in die berühmte Declaration von Virginia (1776) repräsentiert den einen Hauptzweig der Politisierung. Für den anderen Zweig, den durch ›égalité‹ und ›fraternité‹ bestimmten rousseauistischen, muss es hier genügen, auf die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 zu verweisen. Und damit befinden wir uns wieder im unmittelbaren Umfeld von Sophie von La Roches Oneida- Projekt. ›Politisierung‹ betrifft hier zweifellos primär die sozial-ständische Dimension (die schon in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim nur zögerlich und keinesfalls etwa polemisch angesprochen wird). 57 Das Kosmopolitie- Konzept steht jedoch schon in der Antike wiederholt unter dem Verdacht der ›politischen‹ Unzuverlässigkeit (ältere Polis-Bindung gegen jüngere Freizügigkeit). 58 In der Diskussion darüber begegnet als beliebte, weil bündige Formel: Sokrates der Kosmopolit, Cato der Patriot. 59 Dass für das 18. Jahrhundert der Patriot primär am Gemeinsinn orientiert ist (in diesem Sinne dem Aktivsein der ›übenden Tugend‹ bei Sophie von La Roche recht nahe), dass er zugleich emotional seiner Nation oder Region oder Stadt verpflichtet ist, sei hier nur als Stichwort in Erinnerung gerufen. 60 Für La Roches Lebenszeit fordert eine bestimmte auch politische Zuspitzung Aufmerksamkeit, die mitunter übersehen wird. Unstreitig vollzieht sich infolge des Schlesischen Krieges (bzw. der beiden Kriege) und insonderheit des Siebenjährigen Krieges der Jahre 1756 bis 1763 in Preußen und Sachsen und Frankreich und darüber hinaus eine merkliche Aufheizung des ›Patriotismus‹ bzw. der ›Vaterlands‹-Gesinnung und des ›Nationen‹-Bewusstseins (beide Begriffe samt Synonymen begegnen bei Sophie von La Roche bereits <?page no="39"?> 39 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 61 »Nation« bereits in Wielands Vorrede (Sternheim, S. 10), bald auch im Romantext selbst (S. 20, sogleich in Verbindung mit dem »Charakter« der Engländer), »Vaterland« (S. 108 u. ä.) als Raum der Verpflichtung zum Handeln. 62 Gleim hat den Freund um kritische Mitwirkung an der Sammlung gebeten, so dass Lessing im Entstehungsprozess auch ›Steigerungen‹ wahrnehmen konnte. 63 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11,1, S. 305-306. 64 Busch/ Horstmann: Artikel »Kosmopolit, Kosmopolitismus«, Sp. 1160. 65 Sternheim, S. 108. 66 Ebd., S. 129. 67 Nicht zufällig nimmt La Roche mehrfach ausdrücklich auf die Ausnahme, Jacobis Iris, Bezug. Dass die Moralischen Wochenschriften, weit überwiegend von Männern produziert, eine große Gruppe von Leserinnen anzog, sei als eine andere wichtige ›Variante‹ erwähnt (Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 141-161). in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim). 61 Charakteristisch für die Bewegung sind die beiden popularphilosophischen Schriften von Johann Georg Zimmermann, Von dem Nationalstolze (1758, die Prägung wird noch bei Pomona-Leserinnen begegnen) und Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland (1761). Wie nahe ›Patriotismus‹ in Konfrontation gegenüber ›Kosmopolitismus‹ rückt, zeigt mitten im Siebenjährigen Krieg ein hoch erregter Brief Lessings (vom 16. Dezember 1758) an seinen Freund Gleim. Dessen Preußische Kriegslieder 62 steigern sich zuweilen derart ins Blutrünstige, dass Lessing sich zur Reaktion genötigt fühlt, zur Distanzierung vom »eifrigen Patrioten« [d.h. vom eifernden, fanatischen, W.B.], »der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte« 63 (es ist in der deutschen Überlieferung einer der frühesten Belege für ›Weltbürger‹ überhaupt). 64 Von diesem zwischen Gleim und Lessing hin und her gehenden Patriotismus-Kosmopolitismus-Diskurs ist die von Wieland in die ›Welt‹ eingeführte junge Autorin gewiss noch um einiges entfernt (anders als zur Zeit des Oneida-Projekts). Die Heldin ihres Roman-Erstlings bekennt »meine Liebe für Deutschland« und preist die »Verdienste meines Vaterlandes«, 65 ohne ihre wachsende Hinneigung zu England als zu einem Land der »Tugend«, der »Natur« und des »freien Denkens« zu verbergen. Doch auch hier bilden erst die vielerörterten soziokulturellen Distanznahmen des Fräuleins gegenüber Frankreich und dem Französischen (und darin dem Höfischen) den ganzen strukturellen Zusammenhang, auch in auffällig prinzipiellen Stellungnahmen wie »die seltsame Schwachheit unseres Adels […], die französische Belesenheit immer der deutschen vorzuziehen«. 66 Mit Pomona für Teutschlands Töchter mehr als ein Jahrzehnt später (1783-1784) ist in einem äußerlichen Sinne das Zielpublikum national und geschlechtlich viel eingegrenzter. Und Sophie von La Roche muss sich für das Zeitschriften-Genre noch tiefer und praktischer in ein ›Feld‹ hineinarbeiten, dessen Strukturen fast zur Gänze von Männern für Männer gebastelt worden sind. 67 An dem Monats-Rhythmus, den Sophie wählt, ist nicht nur die Abset- <?page no="40"?> 40 Wilfried Barner 68 Becker-Cantarino: Sophie von La Roche (1730-1807); zu Pränumeration und Subskription damals Kiesel/ Münch: Gesellschaft und Literatur, S. 149-154. 69 Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 80. 70 Pomona 1783, H. 1, S. 3-4. 71 Zur Integration der Jahreszeiten Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 83-84. 72 Themen der Gelehrtinnensatire begegnen mit signifikantem ›Schub‹ vor allem seit der Gottschedin. zung von den Moralischen Wochenschriften von Interesse, sondern auch, dass dies der Rhythmus der gelehrten Periodica ist. Ansonsten bleibt der Herausgeberin nichts anderes übrig, als zur Gewinnung von Abonnentinnen Freunde, Männer als Werber einzuspannen. Wieland und sogar Lavater lassen sich gewinnen. Barbara Becker-Cantarino hat durch Analyse der Pränumeranden-Listen (mit solchen hatten schon Klopstock, Lessing und andere gearbeitet) herausgefunden, ein wie breites weibliches Sozialspektrum Sophie unter all den Mühen doch erreicht, von Beamtenfrauen bis zu Fürstinnen. 68 Der eigene Ehegatte, fern aller denkbaren Solidarität, kann sich der Süffisanz nicht enthalten. Im Brief Georg von La Roches an Johann Heinrich Merck vom 4. November 1782 heißt es lapidar: »Meine Frau Pomona empfiehlt sich aufs allerbeste. Sie sitzt und brütet an ihren Hirnkindern, chacun a sa marotte! « 69 Die Welten bleiben getrennt, und trotz Wielands limitierter Unterstützung werden ›Teutschlands Töchtern‹ realistischerweise keine kosmopolitischen Ausflüge zugemutet. Zwei Programmpunkte La Roches verdienen gleichwohl festgehalten zu werden. In der sehr kurzen Vorrede 70 zum ersten Heft setzt La Roche die vielzitierte Differenzgeste, Distanzierung von dem, was bisher »deutsche Männer uns [d.h. den Frauen] nützlich und gefällig achten. Pomona wird Ihnen sagen, was ich als Frau dafür halte.« Und sie setzt sogleich noch hinzu, dass sie auch aus »Engelland, Italien und Frankreich« etwas aus »Schriften« bringen werde (und sie tat es). Das ist noch durchaus eurozentisch gedacht, wie bei den meisten kosmopolitisch ehrgeizigen Männern, aber es bedeutet doch auch symbolisch: Öffnung, Erweiterung. Nicht nur wird die erfundene Eingangs-Erzählung von der Entstehung des Pomona- Plans in eine Naturszenerie eingebunden, die sich auf das europäische Kultbuch Die Jahreszeiten (The Seasons) von James Thomson zurückführt. 71 Es wird in spielerischer Einkleidung auch exponiert, dass den »Frauenzimmern« »etwas Gelehrsamkeit« vermittelt werden soll - also doch ein Schritt auf eine Männerdomäne zu, deren weibliche Auswucherungen schon Gegenstand der Satire zu werden begonnen haben 72 (und der Text spielt unverkennbar damit). Die Wahl der ersten drei Teilfelder zur »Kenntnis von gelehrten Wissenschaften für das schöne Geschlecht« fällt in der Kombination leicht irritie- <?page no="41"?> 41 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 73 Pomona 1783, H. 1, S. 8. 74 Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 270. 75 Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie, S. 143-147. 76 Florack (Hrsg.): Nation als Stereotyp; dort besonders der Beitrag der Herausgeberin, S. 319-338. rend aus: »Dichtkunst, Mythologie und Geschichte der Lehrgedichte«. 73 Dichtkunst, Poetik - damit hatte schon Wieland seinen Unterricht für die junge Sophie begonnen, kleinen Formen, also auch Anfängern zugänglich. Und für Pomona hat Gudrun Loster-Schneider die schöne Devise gefunden: »Mama La Roche ›ermannt‹ sich und ›referiert‹ männliche Poetik«. 74 Um es etwas zu generalisieren: Sie versucht auch in den schönen Künsten pädagogisch anschlussfähig zu bleiben. Der zweite Programmpunkt, Mythologie, nimmt sich auf den ersten Blick wagemutiger aus. Schaut man näher hin, so schränkt es sich im Wesentlichen auf wenige Göttinnen ein, etwa auf die ›mütterliche‹ Juno. Doch bedenkt man, dass nur wenige Jahre darauf Karl Philipp Moritzens Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten erscheint (1791), mit der für viele begeisternden Öffnung in das Reich der ›Phantasie‹ hinein, dann deutet sich an, dass Sophie von La Roche etwas wie eine Witterung für ein Feld besaß, das aus dem gelehrt Antiquarischen herauszuführen begann. Der dritte Punkt dürfte bei manchen von ›Teutschlands Töchtern‹ eher ein Frösteln herausgelockt haben: Lehrgedichte. Thomson bildet mühsam die Brücke, und wie bei Poetik und Mythologie ist die feste Verankerung in der Antike evident (Hesiod, Lukrez, Vergil, Ovid), als ein Stück des symbolischen Kapitals, das vielleicht einmal - viel später - ins Freie führen würde. Von kosmopolitischen Ausblicken, wie sie der Oneida-Roman versuchen wird, bleibt dies noch durch etliche Barrieren getrennt. Fast als ein Schock-Element stellt sich dar, was Sophie von La Roche durch ihr vielerörtertes Leserinnen-Konzept 75 sich einhandelt, durch das Einwerben von Korrespondenz. Mit der vorsichtigen Distanzierung von der Überverehrung französischer Kultur und Mode, französischer Sprache und Literatur vor allem durch den Adel offerierte Sophie von La Roche ein aktuelles, nicht unbrisantes Reizthema. Es war sogar mit nationalpolitischen Konnotationen verknüpft, mit nationalkulturellen Auto- und Heterostereotypen, wie sie jüngst Ruth Florack in dem von ihr herausgegebenen Band Nation als Stereotyp (2000) vor allem für die französisch-deutschen, auch geschlechterdifferentiellen Projektionen wieder sichtbar gemacht hat. 76 Aus der Pomona- Korrespondenz, von La Roche selbst abgedruckt, mag ein einziges Zitat blitzartig bewusst machen, in welche Kontexte sie auch hineinsprach. Unvermittelt finden wir uns in einem gegendiskursiven Feld zum Kosmopolitismus, im Jahre 1784 dokumentiert. Eine Leserin stellt im Hinblick auf das <?page no="42"?> 42 Wilfried Barner 77 Pomona, 1784, H. 10, S. 906. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Diese Stereotypik folgt zugleich der von La Roche selbst verwendeten Opposition von »Wunder der Natur« in der Schweiz und »Wunder der Kunst« in Frankreich, so im Brief an Wieland vom 9.5.1784, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 265. 81 Hierzu wieder Florack (wie Anm. 76). 82 Jurt: Das literarische Feld, S. 79-85. aktuelle Thema »Nachahmung französischer Moden« 77 fest (und man mag sich dabei der Aufwallungen im Zeichen des Siebenjährigen Krieges erinnern): »Die Morgenröte eines edlen Gefühls von Nationalwürde bricht endlich über unser Vaterland hervor; laßt uns zu ihrer Verbreitung beitragen, soviel wir immer können.« 78 Da ist jener an der Frankreich-Rivalität aufgeheizte »Vaterlands«-Begriff manifest, von dem als durchaus gegen-kosmopolitisch schon die Rede war. Das Frauen- und Töchter-Publikum wird regelrecht agitiert, zunächst in Richtung auf Vaterlandsliebe als solche, aber dann wird - gesteigert noch mit dem Blick auf die Männer - die eigene Herabwürdigung angeprangert, dahingehend, dass »wir in den Augen edler Jünglinge und Männer von deutschem Biedersinne so verächtlich erscheinen, daß sie, uns Affen der Französinnen, bloß als Puppen und Haushälterinnen, nicht als Gesellschafterinnen und Freundinnen ansehen.« 79 Das »Puppen«- Bild, im Zeichen der Distanzierung von Frankreich und für Französinnen verwendet, begegnet ja in La Roches Œuvre wiederholt, namentlich im Journal einer Reise durch Frankreich (1787). 80 Und nun schließt sich die dritte Stufe an, mit der es an die Wurzel des deutschen Männerbewusstseins geht, begleitet schon von quasi-politischen Konnotationen: Und Ihr Männer, die ihr den Geschmack an edler Einfalt der Natur gegen die elende Neigung zu Frankreichs Flitterstaat vertauschen konntet, die ihr in fremde Länder reiset, um darinnen die Würde eines echten Deutschen für den armseligen Ruhm, ein Mann nach der Welt zu sein verschleudert […], ihr seid unwert, daß das Herz eines deutschen Weibes [usw.]«. (Ich breche hier ab). In dieser vermutlich gar nicht marginalen Position der Leserin überkreuzen sich nationale und geschlechterspezifische Konfrontationen nachgerade gender-schulmäßig. 81 Spätestens mit den Männer-Reisen »in fremde Länder«, um »weltmännisch« zu werden, sind einerseits die Traditionen der adligen Kavalierstour seit dem 17. Jahrhundert ›anzitiert‹, andererseits die der angehenden Gelehrten in der kosmopolitischen Welt der res publica litteraria (mit Besuchen bei bedeutenden Autoritäten), zwecks Einübung des einschlägigen Habitus. 82 Der Aufschwung auch neuer Mischformen des technisch, geographisch, logistisch höher entwickelten Reisens, bis hin zur Weltreise, ereignet sich nicht von ungefähr gerade während des 18. Jahrhunderts <?page no="43"?> 43 Sophie von La Roche im Feld kosmopolitischer Literatur 83 Orientierend auf neuerem Stand: Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. (in das Sophie von La Roche hineingeboren wird) und bringt neue, auch kosmopolitisch orientierte Arten von Reiseliteratur hervor, die in den letzten Jahrzehnten gründlicher erforscht wurden. 83 Wie tief diese neuen Möglichkeiten auch auf die anthropologischen Entwürfe und die Erziehungskonzepte europäischer Diskursführer des 18. Jahrhunderts eingewirkt haben, mag exemplarisch daran erkennbar werden, dass Rousseaus Émile mit seinem Erzieher für zwei Jahre auf kosmopolitische Reise geschickt wird. Der eben zitierte Zornesausbruch der Pomona-Leserin mag ins Bewusstsein rufen, wie weit Sophie von La Roches programmatische Bemühung um weibliche »Gelehrsamkeit« in der Erziehung und um europäische literarische Belehrung (aus England, Frankreich, Italien) vom eigentlichen Feld kosmopolitischer Literatur der späten Aufklärung noch entfernt ist. Bei der Auslotung ihrer kulturellen Position, bei der Präzisierung ihrer Bildungs-Topographie müsste sich zumindest noch ein strukturierender Blick in La Roches Reisen und Reiseberichte anschließen (mit Schweiz, Frankreich, Holland/ England; Italien blieb ein Wunsch). Nicht nur, dass das Zustandekommen dieser Reisen in Anbetracht ihres Standes, ihres Geschlechts, ihrer finanziellen Ressourcen eine ungewöhnliche Leistung darstellte (zu Anfang waren wohl noch Mittel aus dem Pomona-Unternehmen verfügbar, die Englandreise finanzierte ihr zu wesentlichen Teilen die gut betuchte Elise von Bethmann, und es begleitete sie der Sohn Carl). Mit ihren Reisebüchern erreichte sie nun auch wieder, nach ›Teutschlands Töchtern‹, ein etwas breiteres, partiell auch männliches Publikum. Nicht zu vergessen ist hier die bereits beträchtliche Reiseliteratur-Konkurrenz verschiedenster Ausrichtung (Friedrich Nicolai, Moritz August von Thümmel, Johann Wilhelm von Archenholtz u.a.). Von Sophies besonderem Blick für die national reichen Varianten des ›Fremden‹, von der Realistik des Alltäglichen, von ihrer emotionalen Anteilnahme müsste noch die Rede sein. Blickt man auf die wenigen hier ausgewählten Ausschnitte des Œuvres und ansatzweise auch der Vita der Sophie von La Roche, ohne übermäßige teleologische Vorannahmen, so lassen sich durchaus Schritte hin zu einem Feld spätaufklärerischer kosmopolitischer Literatur ausmachen. Es sind partielle Annäherungen von außen an männlich codierte Diskurse, denen früh Sperren entgegentreten, wie Gelehrsamkeitsverbote, auch etwa moralisch verstörende Texte wie Wielands Diogenes-Elaborat (1770, just zur Zeit der Entstehung der Geschichte des Fräuleins von Sternheim). Danach aber gelingen europäische Öffnungen sogar in der Pomona - etwas bemüht -, für ein primär weibliches Publikum. Und mit ungewöhnlicher Autopsie gelingen einzelne Schritte in die europäische ›Welt‹ durch das Medium der Reiseberichte. <?page no="44"?> 44 Wilfried Barner 84 Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 241-246. 85 Charakteristisch der Brief von Gottlieb Konrad Pfeffel an Sophie von La Roche, 1.2.1792, in: Maurer (Hrsg): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 339-341. 86 Dass hieraus freilich in der Komposition auch ›verwirrende‹ Effekte entstehen, hat schon Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie, S. 179-181, hervorgehoben. 87 Jean Paul: Levana, S. 650, 685-685. Welche Attraktivität Vorstellungen von Kosmopolitie ausstrahlen können, durch die Weite und Modernität der Weltorientierung, aber auch pragmatisch durch die Zugänglichkeit des einschlägigen Wissens, über Bücher, und jenseits von Geschlechtergrenzen, ist im Oneida-Roman ganz unverkennbar; Lebensentwürfe zeigen sich modellhaft über Intertexte wie Bernhardin de Saint-Pierres Paul et Virginie. Doch die Trübung, ja der fundamentale Bruch im Gefolge der Revolutionserfahrungen ist ebenso unverkennbar, bei Carl und Emilie wie bei Sophie von La Roche 84 - und epochenspezifisch bei Klopstock, Goethe, den Schlegels, Schiller oder aus Sophies Umkreis bei Gottlieb Konrad Pfeffel. 85 In Erscheinungen am See Oneida sind es anspruchsvolle ›Spielversuche‹ (die Insel-Existenz, das ›Abendgymnasium‹), unter globalen und zugleich künstlichen Habitus-Bedingungen. Und schon durch die Integration mehrerer ›Stimmen‹ (in La Roches Quellentexten) ist Pluriperspektivität angelegt. 86 Kaum ein Jahrzehnt später, 1807, rechnet Jean Paul in seiner Levana oder Erziehlehre (Spielarten von Pädagogik verbinden ihn eigentümlich mit Sophie von La Roche) seinen Lesern und Leserinnen, mit seinem genial verdrehten Witz in § 83 ihre Vor-Annahmen vor: dass nämlich Frauen »als gebornes Stubengeschlecht […] auch mit dem wärmsten Herzen keine Weltbürgerinnen, kaum Stadt- und Dorfbürgerinnen« sein können; keine Frau könne »zu gleicher Zeit ihr Kind und die vier Weltteile lieben, aber der Mann kann es«. 87 Sie alle haben, so könnte man dem entgegenhalten, um ihrer Phantasie nachzuhelfen, zu wenig Erscheinungen am See Oneida gelesen. Habituelle Sackgasse oder Zukunftsmodell? Eher etwas Drittes: eine späte Trostschrift, die andeutet, welches Bildungs- und Überlebenspotential für Carl und Emilie in erzwungener, ausprobierter Kosmopolitie steckt. Ohne dieses Ausprobieren sogleich mit dem Etikett ›modern‹ zu belegen: Es geschieht mit Hilfe einer - durchaus nicht immer erzählstrategisch klar angelegten - Pluriperspektivität. <?page no="45"?> 1 In Volker Riedels informativer Studie zur Rezeption der Antike werden deutsche Autorinnen nicht erwähnt. Vgl. Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur. 2 Vgl. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. 3 Gottsched: Sterbender Cato. Leipzig 1732. 4 Vgl. Barner: Produktive Rezeption, S. 86. Monika Nenon Über das Glück. Stoizismus und Popularphilosophie im Spätwerk Sophie von La Roches Sophie von La Roche: eine Stoikerin? Diese Behauptung in Bezug auf eine Schriftstellerin aufzustellen, die für die Entwicklung der Gefühlssprache des 18. Jahrhunderts bahnbrechend und wegweisend war, mag gewagt erscheinen. Verbindet man mit Stoizismus strenge Selbstbeherrschung und Affektkontrolle, dann war Sophie von La Roche, so wie man ihre Persönlichkeit aus dem Briefwechsel kennt, wohl keine Stoikerin. Aber in der letzten Phase ihrer schriftstellerischen Tätigkeit fällt auf, dass bestimmte Autoren der späten Stoa sowie andere, zeitgenössische, populärphilosophische Werke mit einer gewissen Häufigkeit zitiert und in ihren Werken prominent hervorgehoben werden. Deshalb soll gefragt werden, um welche Autoren, bzw. Werke es sich hier handelt, welche philosophischen Inhalte besonders betont werden und warum und welche didaktische Absicht damit verbunden sein könnte. Damit soll auch ein Beitrag zum Thema weiblicher Rezeption klassischer Autoren geleistet werden, eine Frage, die in der bisherigen Forschung zur Antikerezeption im 18. Jahrhundert noch kaum gestellt wurde. 1 Während viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen des 17. Jahrhunderts, wie z.B. Martin Opitz, Andreas Gryphius, Paul Fleming oder Catharina Regina von Greiffenberg, sich dem Stoizismus zuwandten und ihn in ihren Werken produktiv machten, 2 findet diese philosophische Richtung im 18. Jahrhundert gemischte Aufnahme. Kritik am Stoizismus kann man z.B. schon in Gottscheds Sterbendem Cato 3 finden; auch der frühe Lessing äußert sich ablehnend gegenüber den Schriften Ciceros. 4 Im späten 18. Jahrhundert lässt sich unter Schriftstellern seit Winkelmann eine Bevorzugung der griechischen Autoren der klassischen Antike gegenüber den römischen ausmachen, worin bekanntlich Goethe und Schiller maßgeblich werden. Ein <?page no="46"?> 46 Monika Nenon 5 Zur Diskussion um den Klassikbegriff siehe: Vosskamp: Klassik als Epoche, S. 492-514, hier S. 512: »Die literaturtheoretischen Konzepte der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Deutschland stehen im Zusammenhang mit Krisenerfahrungen, die in der französischen Revolution und ihren Folgen zugespitztesten Ausdruck finden.« 6 Vgl. den Brief La Roches an Johann Caspar Hirzel vom 8.11.1771: »Mit 13 Jahren wollte der große Brucker meine Erziehung und Bildung meines Geistes besorgen. Ich bat meinen Vater auf Knien um die Einwilligung, aber er wollte nicht, und meine empfindungsvolle Mutter bereicherte nur mein Herz, in welches alle Geschäftigkeit meines Geists übergetreten ist.« In: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 155. Zur Erziehung im Elternhaus vgl. : Nenon: Autorschaft und Frauenbildung, S. 17-35. 7 Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien; Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern. Siehe auch die Werküberblicke von Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie; Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin. idealistisches Griechenbild und Humanitätsideal bestimmte die Weimarer Klassik, deren angestrebte Ziele eine auf Perfektibilität angelegte Persönlichkeitsentwicklung und die Autonomie der Kunst waren. Sophie von La Roche macht diese Wendung zur griechischen Antike nicht mit, sondern konzentriert sich in ihrer Lektüre auf einige Werke der römischen Antike, doch lässt sich ihre Rezeption antiker Texte wie die Entstehung der Klassik überhaupt auch als Reaktion auf eine historisch-politische Krisenerfahrung verstehen. 5 Eine andere Frage ist der Zugang zu klassischen Texten. Während Schriftsteller eher die Möglichkeit hatten, klassische Sprachen zu lernen und damit Zugang zum Kanon des klassischen Altertums finden, sieht die Lage für Schriftstellerinnen anders aus. Von Sophie von La Roche z.B. weiß man, dass sie in ihrer Jugend sehr gern Latein gelernt hätte, aber aufgrund der ablehnenden Intervention ihres Vaters keine Möglichkeit bekam, diese Sprache zu lernen. 6 Werke des klassischen Altertums werden von Sophie von La Roche dank der regen Übersetzungstätigkeit im 18. Jahrhundert in Übertragung rezipiert, und so ist zu fragen, welche Spuren die Rezeption klassischer Autoren in ihren Werken hinterlassen haben und warum sie sich gerade bestimmten Autoren zuwendet. Im Folgenden sollen vor allem die Werke Briefe über Mannheim, Mein Schreibetisch, Herbsttage und Melusinens Sommer-Abende, die zum Spätwerk der Autorin gehören, besondere Berücksichtigung finden. Diese Werke, die nach 1790 veröffentlicht werden, gehören zu einer äußerst produktiven Schaffensperiode der Autorin, der sich die Forschung abgesehen von einigen wichtigen Ausnahmen wie z.B. Gudrun Loster-Schneider und Barbara Becker-Cantarino 7 noch relativ wenig zugewandt hat. Zeitlich kann man den Beginn von Sophie von La Roches Alterswerk etwa nach 1786 mit dem Umzug der Familie La Roche nach Offenbach ansetzen. Nach diesem Ortswechsel veröffentlicht die Autorin ein umfangreiches Werk, zu dem Reisejournale, Romane, explizit pädagogische Werke und die oben genannten Werke gehö- <?page no="47"?> 47 Über das Glück 8 Vgl. dazu den Beitrag von Helga Meise in diesem Band. 9 Vgl. zur Identität des Freundes den Beitrag von Patricia Sensch in diesem Band. ren. Fragt man sich, wodurch diese beeindruckende Produktivität bedingt ist, so muss man sich sicherlich vor Augen halten, dass das Spätwerk vor dem Hintergrund persönlicher Verlusterfahrungen und historisch-politischer Umwälzungen entsteht, die für das Leben der Menschen in den deutschen Ländern allgemein und im Besonderen auch für Sophie von La Roche erhebliche Konsequenzen mit sich brachten. Im Folgenden möchte ich diese Schreibkonstellationen, unter denen das Werk entsteht, kurz in Erinnerung rufen, da sie für die Fragestellung von Bedeutung sind. Nach dem Umzug nach Offenbach ist das Leben Sophie von La Roches von dem Tod ihr nahestehender Menschen und von politischen Veränderungen geprägt, die vor allem ökonomische Auswirkungen auf die Familie La Roche haben. 1788 stirbt Georg Michael Frank von La Roche, 1791 ihr Lieblingssohn Franz, 1793 ihre Tochter Maximiliane Brentano und im Jahr 1800 ihre Enkelin Sophie Brentano sowie Freunde und Bekannte wie z.B. Johann Heinrich Merck und Johann Georg Schlosser. Im politischen Bereich erfährt sie die Französische Revolution mit der anschliessenden Schreckensherrschaft, die nachfolgenden Revolutionskriege, die aufkommende Herrschaft Napoleons und das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Diese politischen Ereignisse bringen den Einzug französischer Truppen in den deutschen Ländern mit sich und konkret auch die Besatzung und Einlagerung französischer Truppen in Offenbach, wodurch Sophie von La Roche ihre Witwenpension, die Einkünfte aus dem Rheinzoll von Boppard, verliert. Nur die Veröffentlichung von literarischen Werken bietet der Autorin die Aussicht auf kontinuierliche finanzielle Unterstützung, und vor allem deshalb widmet sich Sophie von La Roche mit besonderem Eifer und mit Intensität ihrer Feder. Schreiben aufgrund ökonomischer Notwendigkeit ist aber natürlich nur eine Schreibmotivation, denn nach wie vor hält die Autorin an ihrer pädagogischen Mission fest, die angesichts des zunehmenden äußeren Drucks nun eine bestimmte Richtung nimmt. Formal haben Werke wie Briefe über Mannheim, Mein Schreibetisch, Herbsttage und Melusinens Sommer- Abende gemeinsam, dass sie hybride Mischformen aus Fiktivem und Autobiographischem 8 darstellen. Einige Werke richten sich an fiktive Personen wie z.B. Pomona an Caroline in den Briefen über Mannheim oder an Melusine in Melusinens Sommer-Abende, andere wie in Mein Schreibetisch an einen Freund G.R.P. in D, gemeint ist der Geheime Rat Johann Friedrich Christian Petersen 9 in Darmstadt, oder allgemein wie in den Herbsttagen an das Publikum. Diese Werke vereinigen fiktive Inhalte, Lesefrüchte, Erinnerungen und Reflexionen der Autorin. Deshalb werden sie, wie Gudrun Loster-Schneider das in Bezug auf Mein Schreibetisch getan hat, auch Collagenwerke oder <?page no="48"?> 48 Monika Nenon 10 Schreibetisch, Bd. 1, S. 6. 11 Herbsttage, S. IV. 12 Mannheim, S. 7. Erinnerungsbücher genannt. Was Sophie von La Roche im Hinblick auf Mein Schreibetisch geäußert hat, nämlich dass »eine aufrichtige Beschreibung des, auf diesem Tische und bey der Fenstermauer verbreiteten, Gemisches aus Papieren und Büchern, […] auch einen sehr genauen Grundriß von meinem Kopf und meinen Neigungen geben würde« 10 , lässt sich in einem weiteren Sinne auf alle genannten Werke übertragen, die im Grunde ein intellektuelles Porträt der Autorin zeichnen und ihr pädagogisches Vermächtnis an die Nachwelt darstellen. Wie alle Werke Sophie von La Roches sind auch diese einem aufklärerischen, pädagogischen Anspruch verpflichtet, nützlich für die Erziehung des Publikums zu sein, wie es die Autorin bildhaft in den Herbsttagen ausdrückt: Wie die Blätter der Bäume und Stauden, Pflanzen und Wurzeln vor dem harten Winterfrost schützen, so wünsche auch ich durch meine zufälligen Betrachtungen gute Gefühle und Gedanken, welche in jungen Seelen ruhen, vor Zerstörung schützen zu helfen, bis sie alle zu ihrem Ruhm und zu den edelsten Freuden des Lebens glücklich empor blühen. 11 Werke wie Herbsttage, Melusinens Sommer-Abende, Briefe über Mannheim und Mein Schreibetisch richten sich besonders an ein weibliches Publikum und streben pädagogische Wirkung an. Hauptintention der Autorin dabei ist, Rat zur Lebensführung mit dem Ziel eines glücklichen Lebens zu bieten. Diesem Begriff des Glücks möchte ich mich nun im Folgenden etwas näher widmen und fragen, wann Sophie von La Roche von Glück spricht und wie dieser Begriff inhaltlich zu füllen ist. Dabei möchte ich die These aufstellen, dass das, was die Autorin unter dem Begriff Glück fasst, einer stoischen Einteilung folgt und meist mit stoischen oder popularphilosophischen Inhalten zu verbinden ist. Grundsätzlich definiert Sophie von La Roche Glück als etwas, das von der subjektiven Einstellung zur Welt abhängt und mit intellektuellen und moralischen Inhalten gefüllt ist. Glück hat also nicht mit materiellen Werten zu tun, sondern mit immateriellen wie sie an Karoline in den Briefen über Mannheim formuliert: »daß das wahre Glück - wie die Tugend - in unserer Seele, nicht in äusserlichen Umständen oder Beziehungen seyn müsse, und daß man alsdann überall Glück geniessen könnte.« 12 Gerade beim Wechselspiel des Schicksals käme es auf Selbstbeherrschung und Kontrolle, Tugend und Verstand an: so denken Sie auch mit mir an die Lehren zurück, welche wir bey dem Lächeln des Glücks uns eigen zu machen suchten - daß Gedult bey Schmerzen - <?page no="49"?> 49 Über das Glück 13 Ebd., S. 81. 14 Epictetus: The Discourses as Reported by Arrian, The Manual, And Fragments, Bd. 2, S. 482. Übersetzung: »Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unsern Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht.« Epiktet: Handbüchlein der Moral, S. 1. 15 Marcus Aurelius: The Communings With Himself, S. 126. Übersetzung: »Es liegt in deiner Macht, daß dein Leben glücklich dahinfließt, wenn du nur dem rechten Weg folgen und auf diesem urteilen und handeln willst. Denn der Seele Gottes und des Menschen und überhaupt jedes vernünftigen Geschöpfes sind folgende zwei Eigenschaften gemeinsam: erstens, daß sie sich von nichts anderem hindern läßt, und zweitens, daß ihr Wohl auf einer gerechten Sinnes-und Handlungsweise beruht und ihr Streben sich darauf beschränkt.« Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, S. 73. Stärke bey Unglück - Edelmuth gegen die, so uns unrecht behandlen, und großmüthige Güte gegen Feinde - die Beweise von unserm Verstand, und von unsern moralischen Gefühlen seyn sollen. 13 Diese Unterscheidung zwischen äuâeren Dingen und inneren Werten erinnert an die grundsätzliche Unterscheidung Epiktets wie sie gleich zu Beginn seines Encheiridion formuliert wird: » μ μ , μ . μ μ , μ , , ! "# $ # %& ' " μ " ! %" . μ ( μ " , ) , " , * +"# "# $ # %& ' " + μ " ! %" .« 14 Diese grundlegende Unterscheidung zwischen Dingen in unserer Macht und außerhalb unserer Macht wird auch von Marc Aurel übernommen, der in den Selbstbetrachtungen formuliert: ,-" " * # , . %/ "# / / , / . %/ "# 0 " μ 12 / "# 2 / . - "3 " 4 / 3 5/ 3 "# 4 3 * 5 6 7 "# " ( % 3 89 7 7+4: ( μ ; μ <8 5" = 7 "# ( 4 "> 4 "5 "# 2 ! + ( *%"5( , "# "35" ; * % . 15 Marc Aurel betont hier die Fähigkeit des Menschen, sich nicht von äußeren Dingen beeinflussen zu lassen und sein Denken und Handeln nach bestimmten Prinzipien der Gerechtigkeit auszurichten. Wie ersichtlich wird, übernimmt Sophie von La Roche diese stoischen Gedanken und propagiert diese Botschaft schon seit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, aber vor allem in den Alterswerken unermüdlich. Natürlich ist stoisches Gedankengut in das Christentum eingegangen und viele dieser Prinzipien gehören auch zur christlichen Botschaft, aber Sophie von La Roche bezieht sich gerade in ihrem Alterswerk gehäuft auf Marc Aurel und Cicero, so dass die Entsprechungen meiner Ansicht nach sehr deutlich werden. Immer wieder betont sie ihre <?page no="50"?> 50 Monika Nenon 16 Mannheim, S. 88. 17 Ebd., S. 96. 18 6.3.1799, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, S. 80. 19 Ebd., S. 81. 20 Mannheim, S. 296; Schreibetisch, Bd. 1, S. 131, 141, 376. 21 Vgl. z.B.: Garve: Philosophische Anmerkungen. 22 26.10.1798, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, S. 78. 23 Zur Rezeption stoischer Texte als ›Krisenphilosophie‹ siehe: Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 16. 24 Mannheim, S. 204. 25 Ebd., S. 261. 26 Ebd., S. 104. Wertschätzung für die »Schriften der Alten« 16 und bedauert, keine Möglichkeit gehabt zu haben, die alten Sprachen gelernt zu haben. 17 Wichtige Werke des klassischen Altertums liegen ihr in französischen Übersetzungen vor, die sie rezipiert und auch ihren Freunden, wie z.B. ihrer Freundin Elise zu Solms-Laubach empfiehlt und weitergibt. An Elise zu Solms-Laubach schickt sie z.B. Marc Aurels Selbstbetrachtungen: Heute kommt Marc Aurel, wenn Sie ihn aber schon kennen, so vergeben Sie und blättern nur nach den mit Bleistift angestrichenen Stellen. O, wenn Ihre erhabene, reine und richtig denkende Seele bei [der] ein und anderen mit mir stimmte, so würde mein Marc Aurel mir doppelt lieb. 18 Von Marc Aurel spricht sie mit anerkennenden Worten. Sie schätzt ihn nicht nur als Philosophen, sondern auch als guten, weisen Herrscher. Häufig betont sie, dass Marc Aurel Vorbild für Friedrich II. war und berichtet, dass er ein Bild Marc Aurels in seinem Arbeitszimmer gehabt hätte. 19 Marc Aurel, Friedrich II. und auch Graf Stadion sind ihr Beispiele vorbildlicher Regenten, die nach den Tugenden der Gerechtigkeit und Wohltätigkeit aufgeklärte Herrschaft ausüben 20 und ihrer Meinung nach Gegenbilder zu den Vertretern der Französischen Revolution darstellen. Neben Marc Aurel findet vor allem Cicero ihre Wertschätzung, wobei ihr besonders dessen Werk De officiis wichtig wird, das sie in Christian Garves Übersetzung 21 mehrmals liest und betont, dass sie darin »eine Menge auf unsere Unglückszeiten passende Stellen« fand. 22 Vertreter der Stoa bieten ihr in den Zeiten der Krise 23 Zuflucht und Lebenshilfe, deren Ratschläge sie den LeserInnen empfiehlt wie hier z.B. Ciceros Rat: »Daß wenn uns die wirkliche Welt nichts angenehmes giebt - sollen wir in das Gebieth der Einbildung fliehen, und dort die Gegenstände aufsuchen, welche uns eine stärkende Zerstreuung geben können.« 24 Darüber hinaus zitiert sie z.B. auch Ciceros Gedanken zum Wert der Selbstbildung, zur Geselligkeit der menschlichen Natur, die eine wichtige Voraussetzung zum menschlichen Glück darstellen 25 sowie seine Ausführungen zum Ideal der Freundschaft. 26 Diese Elemente - Wissensaneignung, Geselligkeit <?page no="51"?> 51 Über das Glück 27 Ebd., S. 121. 28 Vgl. Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 151. 29 Mannheim, S. 308. und Freundschaft - gehören auch zentral zu Sophie von La Roches Definition von Glück wie sie z.B. in den Briefen über Mannheim formuliert: Sie glauben, meine Liebe! daß ich die trüben Wintertage mit Heiterkeit und Vergnügen durchlebe. Ihre Vermuthung ist richtig, denn so bald ich entweder mit guten Menschen umgehe, etwas lehrreiches lese - gutes höre und schönes sehe, so geniesse ich dieß, was ich Glück nenne. 27 Diese Ideale des 18. Jahrhunderts der Geselligkeit, Freundschaft und der Aneignung von Wissen und Kenntnissen, die natürlich von vielen Zeitgenossen geteilt werden, werden von Sophie von La Roche ebenfalls aufs Höchste geschätzt und unermüdlich propagiert. Überhaupt gehören die Werke von Autoren wie Marc Aurel und Cicero zum Kanon eines gebildeten Lesers des 18. Jahrhunderts, die dem Publikum auch durch Übersetzungen wie z.B. die Cicero-Übersetzungen von Christian Garve und später auch die von Christoph Martin Wieland bekannt gemacht werden, der ebenfalls eine enge Verwandtschaft zu Cicero empfindet und sich diesem gerade in einer Zeit der Krise verstärkt zuwendet. 28 Zu betonen ist hier aber, dass diese klassischen, philosophischen Werke von einer Frau rezipiert und einem weiblichen Publikum empfohlen und vermittelt werden. Zu Sophie von La Roches Erfahrung von Glück gehören zentral auch der Anblick von Natur und das Wissen über Natur und Naturgeschichte. Die Betrachtung der Natur im Wechsel der Jahreszeiten ist wie das Lesen und Schreiben etwas, das nach der epiktetischen Einteilung zu den Dingen gehört, die innerhalb der menschlichen Kontrolle sind. Die Natur ist immer da und ist deshalb immer auch zu unserem Genuss und Studium präsent. Das Wissen über Natur und Naturgeschichte, das La Roche ebenfalls als großes Gut erscheint, wird ihr in ihrer späten Lebensphase vor allem von dem Popularphilosophen Bernardin de Saint-Pierre vermittelt. Mit zunehmendem Alter verengt sich der Radius der Autorin, doch bietet ihr die Natur immer einen Raum, der Trost und Vergnügen bereitet. Deshalb häufen sich in ihren Alterwerken in empfindsamer Sprache beschriebene und bildreich ausgeschmückte Natur- und Gartenszenen. »Die Natur«, so sagt sie in den Briefen über Mannheim, »zeigt uns Ruhe, und dann überall die Spuren von Gottes Güte« 29 , wo Schönheit und Nutzbarkeit miteinander verbunden wird. Die Erscheinungen der Natur als Beweis für die Existenz Gottes zu lesen, ist nun einer der zentralen Gedanken von Bernardin de Saint-Pierres Werk Études de la Nature, das nach ihren eigenen Angaben zu ihren Lieblingsbüchern <?page no="52"?> 52 Monika Nenon 30 Herbsttage, S. 112, 153. 31 Cook: Bernardin de Saint-Pierre, S. 1. 32 Saint-Pierre: Études de la nature, Bd. 1, S. 105. gehört. 30 Wer war Bernardin de Saint-Pierre? Bernardin de Saint-Pierre, den der Biograph Malcolm Cook, a »major intellectual figure of the late eighteenth century« 31 nennt, war Ingenieur in Diensten der französischen Armee und machte weite Reisen durch Russland, Finnland, Schweden und nach Mauritius (Ile de France) im Indischen Ozean, auf denen er unter anderem auch eingehende Naturstudien betrieb. Nach seiner Rückkehr nach Paris befreundet er sich mit Jean-Jacques Rousseau und veröffentlicht 1784 seine bald überaus erfolgreichen Naturstudien, die auf Sophie von La Roche, wie auf viele andere seiner Zeitgenossen, einen bleibenden Eindruck hinterlassen sollten. Vor allem für ihr letztes Werk Melusinens Sommer-Abende stehen die Naturstudien im Hintergrund, die entweder ausführlich paraphrasiert oder oft wörtlich zitiert werden. Bernardin de Saint-Pierre handelt in diesem mehrbändigen, weit ausholenden Werk, in dem er den Leser gleichsam auf eine imaginative Reise rund um den Globus nimmt, von der Ordnung der Natur, den Naturgesetzen und den moralischen Gesetzen. Er beschreibt Bereiche wie Astronomie, Geographie, Botanik, Zoologie, Klimazonen und die Anatomie des Menschen. Dabei bedient er sich einer an Rousseau geschulten, empfindsamen Gefühlssprache, die die Sachverhalte bis in die kleinsten Details wortreich ausschmückt und bildreich darstellt. Angeregt wurde er zu den Naturstudien durch eigene Beobachtung der Natur. Konkret berichtet er z.B. von der Betrachtung eines kleinen Erdbeerstocks, auf dem sich innerhalb von drei Wochen nicht weniger als 37 Insektenarten zeigten, die sich alle durch verschiedene Formen und Farben auszeichnen: Les mouches que j’avois observées étoient toutes distinguées les unes des autres, par leurs couleurs, leurs formes et leurs allures. Il y en avoit de dorées, d’argentées, de bronzées, de tigrées, de rayées, de bleues, de vertes, de rembrunies, de chatoyantes. Les unes avoient la tête arrondie comme un turban; d’autres, allongée en pointe de clou. A quelques-unes elle paroissoit obscure comme un point de velours noir, elle étinceloit à d’autres comme un rubis. 32 Im Anblick dieses Erdbeerstocks, dessen Beschreibung an die physiko-theologischen Schilderungen von Barthold Hinrich Brockes erinnert, fasst er den Plan einer groß angelegten Studie zur Ordnung der Natur. Dieses Werk ist sowohl durch eigene Untersuchungen und Beobachtungen, die er entweder durch mikroskopische Studien oder durch vergleichende Analysen auf Reisen gewinnt, als auch durch Lektüre von Reiseschriftstellern und Naturforschern wie z.B. Linnæus und Newton informiert, deren Erkenntnisse in sein Werk eingehen. Saint-Pierre verfährt dabei synthetisierend und moralisierend, d.h. <?page no="53"?> 53 Über das Glück 33 Melusine, S. 20. 34 Ebd., S. 143. 35 Ebd., S. 110. 36 Zur Religionsauffassung Bernardin de Saint-Pierres siehe: Wiedemeier, der die Bedeutung der Natur für Saint-Pierres Vorstellung von Gott betont: »Ne nous y trompons pas! Pour Bernardin ce n’est pas l’Eglise qui lui transmet le message d’un Dieu vivant. C’est la nature qui révèle à notre auteur le secret de Dieu.« Wiedemeier: La Religion de Bernardin de Saint-Pierre, S. 231. 37 Melusine, S. 211. er folgt keinem Wissenschaftsideal im heutigen Sinne. Viele seiner naturwissenschaftlichen Urteile, wie z.B. seine Lehre von der Entstehung der Gezeiten, in der er nicht Newtons Erkenntissen folgt, erwiesen sich als unrichtig. Sophie von La Roche wird nun vor allem in ihrem Werk Melusinens Sommer- Abende zur kulturellen Vermittlerin seiner Erkenntnisse und Urteile. Bernardin de Saint-Pierre verbindet ihrer Meinung nach »Unterricht und das Vergnügen« 33 auf vorbildliche Weise. In ausführlichen Passagen beschreibt sie Saint-Pierres Pflanzenwelt und deren geographische Verteilung über die Erde; sie spricht z.B. von der Bedeutung des kulturellen Anbaus von Pflanzen und dem ökologischen Nutzen des Waldanbaus. 34 Sie teilt Saint-Pierres Ansicht vom Menschen als dem Mittelpunkt des Kosmos 35 und seine Einschätzung von der Natur, die die göttliche Vernunft und Güte wiederspiegelt. 36 Seine naturphilosophischen und moralphilosophischen Überzeugungen werden von Sophie von La Roche zustimmend aufgenommen, weil diese ihre eigene Gedanken- und Gefühlslage vollkommen reflektieren, und sie werden in ihren Werken bekannt gemacht. Auch sprachlich trifft Bernardin de Saint-Pierre den Ton, der bei Sophie von La Roche Gehör findet: »Bernardin ist so mannichfaltig und so reich an Ideen und Bildern« 37 . Seine ausmalende, bilderreiche Gefühlssprache entspricht derjenigen Sophie von La Roches und findet in der Paraphrasierung in ihren Werken weiten Raum. Beide Autoren haben die Gefühlssprache ihrer Zeit entscheidend beeinflusst und geformt. So lässt sich zusammenfassend feststellen: Vor dem Hintergrund politischer und wirtschaftlicher Instablität und dem Verlust von Familienmitgliedern und Freunden definiert Sophie von La Roche in ihren Briefen und Werken noch strenger, was für sie Glück bedeutet. Dabei zeigt sich, dass die Autorin im Grunde die stoische Einteilung von Dingen in unserer Macht und ausserhalb unserer Macht übernimmt. Mit Glück verbindet sie immaterielle Werte wie die geistigen Tätigkeiten des Lesens und Schreibens, die Aneignung von Wissen und Kenntnissen, Freundschaft und Geselligkeit, Tugend sowie die Betrachtung und das Studium der Natur. In dieser Phase nimmt die Autorin häufig Bezug auf Werke von Marc Aurel und Cicero sowie auf die von Bernardin de Saint-Pierre, deren Lehren sie rezipiert und sich produktiv <?page no="54"?> 54 Monika Nenon aneignet, indem sie in ihren eigenen Werken philosophische Inhalte kulturell vermittelt. Dabei besteht die pädagogische Intention der Autorin vor allem darin, das, was für ihre subjektive Lebensbewältigung wichtig geworden ist und was sie als richtig erkannt hat, dem Publikum - besonders einem weiblichen Publikum - nahe zu bringen. So bleibt ihr Werk dem pädagogischen Ziel der Erziehung des Publikums zu einer von äußeren Umständen unabhängigen angemessenen Lebensführung als Voraussetzung zu einem glückenden Leben verpflichtet. <?page no="55"?> 1 Positionen der rezeptionstheoretischen Einflussforschung können hier nicht diskutiert werden. Vgl. die Hinweise bei Jaumann: Rousseau in Deutschland, S. 1-22. 2 Das zeigt die deutsche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Voltaires und der Enzyklopädisten auf der einen, Rousseaus und der englischen Moralphilosophie auf der anderen Seite. Das politische Potential der rousseauistischen Kulturkritik wurde in Deutschland weniger wahrgenommen als das anthropologische. Jutta Osinski Zum rousseauistischen Tugendbegriff in Sophie von La Roches Sternheim-Roman In La Roches Sternheim geht es vor allem um die Tugend und ihre Bedeutung für die Selbstverwirklichung des Individuums in der Gesellschaft. Das zugrunde liegende Denkmodell verweist auf Rousseaus Tugendbegriff und seine damit eng verbundene Gewissenskonzeption. Das setzt keine direkte Beeinflussung des Romans durch Rousseaus Schriften voraus, wohl aber ein vorfreudianisches Menschen- und Weltbild im Sinne Rousseaus. 1 Im Hinblick darauf lässt sich ein Interpretationsansatz zur Diskussion stellen, der dem Roman möglicherweise angemessener sein könnte als seine Wahrnehmungen und Deutungen aus nachfreudianischen Perspektiven. Man kann die rousseauistische Anthropologie im Amalgam mit moralphilosophischen Varianten als kulturell diffundiertes Gedankengut im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verstehen - vergleichbar mit dem kulturell diffundierten Freudianismus und seinen tiefenpsychologischen Ablegern, der das gegenwärtige Menschenbild prägt. Rousseaus Auffassung vom Menschen steht in grundsätzlicher Opposition zum französischen Materialismus, was die Frage nach moralischer Freiheit oder Determiniertheit betrifft. In dieser Konkurrenz erklärt Rousseau die materialistische Anthropologie zum Produkt einer von der Natur des Menschen abgewichenen Aufklärungsvernunft und setzt ihr die eigenen Überzeugungen kulturkritisch entgegen. Vor dem Hintergrund des leibniz-herderschen Weltbilds folgt die deutsche Literatur Rousseau, nicht den Materialisten. 2 La Roches Lord Derby oder Schillers Franz Moor stehen für das abgelehnte materialistische Menschenbild und werden angesichts des Todes der Reue bzw. der Verzweiflung zugeführt; ihr Scheitern bestätigt die Charaktere als selbstentfremdete und von der Weltordnung abgewichene, nicht etwa als mit der eigenen Natur identische Bösewichte, wie sie bei de Sade zu finden sind. <?page no="56"?> 56 Jutta Osinski 3 Rousseau: Confession de foi, in: Œuvres complètes, Bd. 4, S. 565-635, hier S. 600-601: »Conscience, conscience! instinct divin, immortelle et céleste voix, guide assuré d’un être ignorant et borné, mais intelligent et libre; juge infaillible du bien et du mal, qui rends l’homme semblable à Dieu; c’est toi qui fais l’excellence de sa nature et la moralité de ses actions; sans toi je ne sens rien en moi qui m’élêve au dessus des bêtes, que le triste privilége de m’égarer d’erreurs en erreurs à l’aide d’un entendement sans régle, et d’une raison sans principe.« - Dt.: Glaubensbekenntnis, S. 593-594. Wenn die folgenden Ausführungen sich auf Rousseau konzentrieren und La Roches Roman erst abschließend in den Blick genommen wird, dann deshalb, weil sich der Interpretationsvorschlag aus den rousseauistischen Denkmustern ergibt; sie sind also vorrangig darzustellen. Grundlegend für Rousseaus Anthropologie ist zunächst die Gewissenskonzeption. Gewissen! Gewissen! göttlicher Instinkt, unsterbliche und himmlische Stimme, sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber vernünftigen und freien Wesens; unbestechlicher Richter über das Gute und das Böse; du, der du den Menschen Gott ähnlich machst, du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Moralität; ohne dich fühle ich nichts in mir, das mich über die Tiere erhöbe, als das traurige Vorrecht, durch ein ungeordnetes Erkenntnisvermögen und eine grundsatzlose Vernunft von einem Irrtum in den anderen zu fallen. 3 Der Preis des Gewissens findet sich im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, dem Kernstück des Emile. Dort fasst Rousseau sein Menschen- und Weltbild zusammen. Gott wird verstanden als eine universale Kraft und Intelligenz, die den Kosmos ordnet und bewegt und die Natur belebt; vom Menschen an der Spitze dieser belebten Natur kann er nicht intellektuell ergründet, sondern nur existentiell erfühlt werden. Welt-, Natur-, Sozial- und Individual-Ordnungen insgesamt sieht Rousseau in deistischer Zentrierung als vollendete Wirkharmonie aller Bereiche, als ein harmonisch geregeltes Gesamtsystem von Kräften, dem der Mensch wesensgemäß eingefügt ist. Aber wegen seiner körperlich-geistigen Doppelnatur kann er auch von der Weltordnung und damit von seiner Bestimmung abweichen. Denn als körperliches Wesen ist er, ganz materialistisch gedacht, Einflüssen und Wechselwirkungen von innen und außen ausgesetzt, die durch die Sinne vermittelt werden; so entstehen deviante Gewohnheiten, Affekte, Leidenschaften, Wünsche und der Wille, sie zu befriedigen. Aber: Rousseau trennt, ausdrücklich gegen die materialistische Anthropologie gewendet, das empfindende Wesen des Menschen vom Körper und dessen sinnlichen Erfahrungen. Das heißt: Empfinden, das innere Gefühl als Stimme des Herzens, wird nicht sensualistisch-materialistisch, als von außen bedingt bestimmt, sondern in Übereinstimmung mit Leibniz wie auch der englischen Moralphilosophie als <?page no="57"?> 57 Zum rousseauistischen Tugendbegriff 4 Ebd., S. 587: »Le mal que l’homme fait retombe sur lui, sans rien changer au sistême du monde, sans empêcher que l’espéce humaine elle-même ne se conserve malgré qu’elle en ait. […] Le mal moral est incontestablement notre ouvrage, et le mal physique ne seroit rien sans nos vices qui nous l’ont rendu sensible.« - Dt.: Glaubensbekenntnis, S. 575. 5 Ebd., S. 602: »Il y a quelque ordre moral par tout où il y a sentiment et intelligence. La différence est que le bon s’ordonne par raport au tout et que le méchant ordonne le tout par raport à lui. Celui-ci se fait le centre de toutes choses, l’autre mesure son rayon et se tient à la circonférence. Alors il est ordonné par raport au centre commun qui est Dieu, et par raport à tous les cercles concentriques qui sont les créatures.« - Dt.: Glaubensbekenntnis, S. 596. Teil der menschlichen Geistnatur verstanden. Und als Geistnatur ist der Mensch frei: Er muss falschen Einflüssen von außen und innen nicht folgen, sondern kann seiner Bestimmung gemäß leben. Er ist frei, nicht determiniert geschaffen, damit er sich in die Gesamtharmonie der Natur- und Weltordnung einfüge und so sein angeborenes, ursprüngliches Wesen in ihr verwirkliche. Missbraucht er seine Freiheit, kann er nur sich selbst, nicht der Weltordnung schaden, denn: Das Böse, das der Mensch tut, fällt auf ihn selbst zurück, ohne am Weltsystem etwas zu ändern, ohne zu verhindern, daß das menschliche Geschlecht sich selbst erhalte - ob es will oder nicht. […] Das moralische Übel ist unbestreitbar unser Werk, und das physische Übel wäre nichts ohne unsre Laster, die es uns spürbar gemacht haben. 4 Der richtige Gebrauch der Freiheit ist Tugend, der Missbrauch Untugend. Tugend als die frei getroffene Wahl des Menschen, sich in die Weltordnung einzufügen, kann nicht auf Vernunft und Verstand gegründet werden, weil deren Inhalte und Urteile selbst deviant sein können. Ohne Maßstab sind sie grundsatzlos und legitimieren auch individuelle und soziale Abweichungen als Ordnung. Nur die Einfügung in die göttlich geregelte Universalordnung garantiert, dass der Mensch wie die Gesellschaft sich nicht selbst zum Mittelpunkt machen und dem Laster und dem Bösen verfallen. In diesem Modell sind also »Tugend« und das »Gute« ebenso wie »Untugend«, »Laster« oder das »Böse« nicht inhaltlich, sondern strukturell bestimmt als Ordnungsbzw. Devianzphänomene. Überall, wo Gefühl und Verstand sind, gibt es auch irgendeine moralische Ordnung. Der Unterschied besteht darin, daß der Gute sich in Beziehung zum Ganzen ordnet und daß der Böse das Ganze in bezug auf sich selbst ordnet. Dieser macht sich zum Zentrum aller Dinge; jener mißt seinen Radius und hält sich an der Peripherie. So hat er sich in Beziehung zum gemeinsamen Zentrum geordnet, das Gott ist, und in Beziehung zu allen konzentrischen Kreisen, die die Geschöpfe sind. 5 <?page no="58"?> 58 Jutta Osinski 6 Ebd., S. 598-599: »Il est donc au fond des ames un principe inné de justice et de verdu, sur lequel, malgré nos propres maximes, nous jugeons nos actions et celles d’autrui comme bonnes ou mauvaises, et c’est à ce principe que je donne le nom de conscience. […] Les actes de la conscience ne sont pas des jugemens, mais des sentimens; quoique toutes nos idées nous viennent du dehors, les sentimens qui les apprécient sont au dedans de nous, et c’est par eux seuls que nous connoissons la convenance ou disconvenance qui existe entre nous et les choses que nous devons rechercher ou fuir.« - Dt.: Glaubensbekenntnis, S. 590, 592. 7 Rousseau differenziert zwischen »amour propre«, der Selbstliebe als natürlicher Empfindung, und »amour de soi«, der Eigenliebe als relativer Empfindung, die in der Gesellschaft entsteht. Vgl. Rousseau: Sur l’Origine et les Fondements de l’Inégalité, in: Œuvres complètes, Bd. 3, S. 109-223, hier Anm. XV, S. 219-220. - Dt.: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, S. 297-298. Der Böse - wie Lord Derby - missbraucht seinen freien Willen, weil er sich das Ganze statt sich selbst dem Ganzen unterordnet und dies im Eigeninteresse mit Hilfe von Vernunft und Verstand zu begründen weiß. Wenn aber so Vernunft, Philosophie und das Fortschreiten der Aufklärung in eine insgesamt deviante Kultur und Gesellschaft, ins Chaos von Ordnungen statt in die Harmonie führen können und offensichtlich auch geführt haben, dann ist auf sie kein Verlass. Deshalb ist es das authentische innere Gefühl des Individuums, das jedem Bewusstsein und jeder Reflexion voraus liegt, das Rousseau in Übereinstimmung mit der englischen Moralphilosophie als Maßstab für die Unterscheidung von Ordnung und Devianz setzt - eben das Gewissen. Es wird ausdrücklich als angeborenes, nicht lebensgeschichtlich internalisiertes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend definiert. So heißt es: Im Grunde der Seele gibt es also ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und der Tugend, nach dem wir, entgegen unsren eigenen Maximen, unsre Handlungen und die anderer als gut oder schlecht beurteilen, und diesem Prinzip gebe ich den Namen Gewissen. […] Die Akte des Gewissens sind keine Urteile, sondern Gefühle. Wenn uns auch alle unsre Vorstellungen von außen kommen, so sind doch die Gefühle, die sie werten, in unserem Innern, und einzig durch sie erkennen wir die Angemessenheit oder die Unangemessenheit, die zwischen uns und den Dingen, die wir suchen oder meiden müssen, besteht. 6 Rousseau trennt Gewissensregungen als urteilende Empfindungen für Gut und Böse von allen Inhalten, also erworbenen Vorstellungen. Was aber dann das Gewissen überhaupt unterscheiden lässt, sind die angeborenen Naturtriebe, die Selbst- und die Fremdliebe - »amour propre« und »pitié« - die durch Streben nach Glück und nach Vermeidung von Unglück definiert sind. 7 <?page no="59"?> 59 Zum rousseauistischen Tugendbegriff 8 Rousseau: Confession de foi, S. 600: »Ces sentimens, quant à l’individu, sont l’amour de soi, la crainte de la douleur, l’horreur de la mort, le desir du bien-être. Mais si, comme on n’en peut douter, l’homme est sociable par sa nature, ou du moins fait pour devenir, il ne peut l’être que par d’autres sentimens innés, rélatifs à son espéce; car à ne considérer que le besoin physique, il doit certainement disperser les hommes, au lieu de les rapprocher. Or c’est du sistême moral formé par ce double rapport à soi-même et à ses semblables que nait l’impulsion de la conscience. Conoitre le bien, ce n’est pas l’aimer, l’homme n’en a pas la conoissance innée; mais sitôt que sa raison le lui fait connoitre, sa conscience le porte à l’aimer: c’est ce sentiment qui est inné.« - Dt.: Glaubensbekenntnis, S. 592-593. 9 Ebd., S. 603: »Unie à un corps mortel par des liens non moins puissans qu’incompréhensibles, le soin de la conversation de ce corps excite l’ame à raporter tout à lui, et lui donne un intérest contraire à l’ordre général qu’elle est pourtant capable de voir et d’aimer; c’est alors que le bon usage de sa liberté devient à la fois le merite et la récompense, et qu’elle se prépare un bonheur inaltérable en combattant ses passions terrestres et se maintenant dans sa prémiére volonté.« - Dt.: Glaubensbekenntnis, S. 597-598. Beim Einzelwesen sind diese Gefühle Selbstliebe, Furcht vor Schmerz, Schrecken vor dem Tod und das Verlangen nach Wohlergehen. Wenn aber, so, wie es auch unzweifelhaft ist, der Mensch von Natur aus gesellig oder zumindest dazu geschaffen ist, es zu werden, kann er es nur durch andere angeborene Gefühle sein, die sich auf seine Gattung beziehen; denn nimmt man allein das physische Bedürfnis, so muß es mit Gewißheit die Menschen voneinander trennen, anstatt sie einander zu nähern. Aus dem moralischen System, das durch diese Doppelbeziehung, nämlich der zu sich selbst und der zu den Mitmenschen gebildet wird, entsteht der Anstoß des Gewissens. Das Gute erkennen heißt nicht, es lieben: diese Erkenntnis ist dem Menschen nicht angeboren, aber sobald seine Vernunft ihn das Gute erkennen läßt, treibt ihn sein Gewissen, es zu lieben - dieses Gefühl ist angeboren. 8 So gesehen ist der Mensch nur frei, wenn er seinen angeborenen Trieben nach Selbsterhaltung und Geselligkeit im System der Moral folgt, das die Eigen- und Fremdbezüge in Analogie zur gesamtharmonischen Welt- und Naturordnung harmonisch regelt. Das Problem dabei ist, dass das Individuum aufgrund seiner Doppelnatur mit der Austarierung von Eigen- und Fremdbezügen im System der Moral in Konflikt kommen kann und für angemessen hält und als Glück erstrebt, was der allgemeinen Ordnung widerspricht. In dem Fall werden die Eigenbezüge deviant. Durch nicht weniger mächtige als unbegreifliche Bande mit einem sterblichen Körper vereint, wird die Seele um der Erhaltung dieses Körpers willen dazu angeregt, alles auf ihn zu beziehen und ihm eine der allgemeinen Ordnung widersprechende Fürsorge zukommen zu lassen, obwohl sie diese Ordnung erkennen und zu lieben dennoch imstande ist - dann wird der richtige Gebrauch ihrer Freiheit Verdienst und Belohnung zugleich, und sie bereitet sich ein unvergängliches Glück, wenn sie ihre irdischen Leidenschaften bekämpft und an ihrem ursprünglichen Wollen festhält. 9 <?page no="60"?> 60 Jutta Osinski 10 Vgl. dazu Rousseau: Lettre a Christophe de Beaumont, in: Œuvres complètes, Bd. 4, S. 925-1007, hier S. 935-937. - Dt.: Brief an Christophe de Beaumont, S. 508-510. 11 Institutes of Moral Philosophy, 1769; - dt: Grundsätze der Moralphilosophie, 1772, in: Garve: Gesammelte Werke, Abt. III, Bd. 11, S. 1-420. Vergleichbar auch Hutcheson: A System of Moral Philosophy, 1755. Tugend wird dann zum Verdienst und setzt Seelenstärke voraus, wenn selbstzentrierte und damit im System der Moral deviante Wünsche und Gefühle als Eigenliebe bekämpft werden müssen. Die Gewissensregungen garantieren also nicht unbedingt individuelles Glück, wenn sie befolgt werden. »Glück« und »Unglück« sind bei Rousseau nicht als individuelle oder gar natürliche Gefühle definiert. Als Begriffe im Ordnung/ Devianz-Modell beziehen sie sich auf ein angeborenes Lust/ Unlust-Prinzip, das an bewusste Vorstellungen von Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit gebunden ist. Deshalb kann der tugendhafte Verzicht auf das irdisch-körperliche Glück, seine Leidenschaften ohne Rücksicht auf die überindividuelle Ordnung auszuleben, auf ein durch freie Wahl zu erkämpfendes höheres, »unwandelbares Glück« vorbereiten, das nur in der Vorstellung existiert. Wenn der Einzelne aber etwas für gut und seiner Natur angemessen halten kann, was es aus der Perspektive überindividueller Ordnung nicht ist, dann ergeben sich widerstreitende Empfindungen zwischen den untrüglichen Gewissensregungen und der Eigenliebe als »amour de soi«. Der Widerstreit ist durch den Einsatz der höheren Seelenvermögen Vernunft, Verstand und Urteilskraft mit ihren bewussten Grundsätzen zu entscheiden. Sie bestimmen die Verhältnismäßigkeit der Güter, und diese ergibt sich aus einer Wertehierarchie zwischen der tierischen Natur des Menschen und seiner geistigen sowie zwischen dem Individuum Mensch und der Gattung Menschheit. Das Gewissen entscheidet auf der Grundlage dieser Hierarchie im System der Moral; sie ist der angeborenen Geistnatur des Menschen inhärent. Nur muss dieser im Widerstreit von Empfindungen das Über- und Untergeordnete bereits kennen, um die eigenen Empfindungen richtig beurteilen und den Impulsen des Gewissens folgen zu können. Das bedeutet: Im Naturzustand des Menschen ist das Gewissen nur eine Anlage; wegweisende Instanz kann es erst auf der Basis erworbener Vorstellungen werden, also nach der Vergesellschaftung. 10 Bei Rousseau wie in der englischen Moralphilosophie korrelieren im Gewissensbegriff natürliches Gefühl und Vernunft. Ohne die vorhergehende Vermittlung konkreter Vorstellungen vom System der Moral durch die Eltern und vor allem durch die Lektüre moralphilosophischer Schriften könnte das Fräulein von Sternheim sich in ihrer Leidensgeschichte nicht ständig auf Grundsätze berufen. Zeitgenössische Abhandlungen wie z.B. Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie 11 führen das inhaltlich aus. Zielkonflikte zwischen den <?page no="61"?> 61 Zum rousseauistischen Tugendbegriff 12 Ferguson: Institutes of Moral Philosophy, S. 115-116: »Systems have differed chiefly by deriving our choice of actions and characters, some from the law of self-preservation, and others from the law of society: but the fact is, that the laws […] coincide in all their tendencies and applications. Man is by nature a member of society; his safety, and his enjoyment, require that he should be preserved what he is by nature; his perfection consists […] in his being an excellent part of the system to which he belongs. So that the effect to mankind should be the same, whether the individual means to preserve himself, or to preserve his community: with either intention he must cherish the love of mankind, as the most valuable part of his character.« - Dt.: Grundsätze der Moralphilosophie, S. 101-102. naturgegebenen Selbst- und Fremdbezügen kennt Ferguson ebenso wenig wie Rousseau: Die Diskussionen darüber, ob der Mensch von Natur aus egoistisch oder altruistisch sei, ob also die Eigenliebe oder die Menschenliebe anthropologisch bestimmend seien, erklärt er vor dem Hintergrund eines harmonischen Zusammenwirkens von Einzelnem und Ganzem in der Natur für überflüssige Theoriendebatten. Die verschiednen Systeme sind hauptsächlich darinnen von einander abgegangen, daß der Grund zum Vorzuge gewisser Handlungen und Charaktere von dem einen in dem Gesetz der Selbsterhaltung, von dem andern in dem Gesetz der Geselligkeit gesucht worden. Aber in der wirklichen Natur fallen die Gesetze […] in allen ihren Wirkungen und Anwendungen zusammen. Der Mensch ist von Natur das Glied einer Gesellschaft; sein Wohlseyn und sein Vergnügen erfordern, daß er das zu seyn fortfahre, was er von Natur ist; seine Vollkommenheit […] besteht darinnen, daß er ein vortreflicher Theil des Ganzen ist, zu dem er gehört. So also, daß es für das menschliche Geschlecht dieselbe Wirkung haben muß, ob der einzelne Mensch, bloß sich selbst, oder die ganze Gesellschaft, deren Glied er ist, zu erhalten gedenkt. Bey jedem dieser beyden Vorsätze, muß er die Menschenliebe, als den schätzbarsten Theil seines Charakters, werth halten. 12 Dass Selbstverwirklichung gegen die Ordnung des Ganzen nicht möglich ist und im Falle gegenteiliger Behauptungen oder Versuche als Devianz beurteilt werden muss, besagen die Gewissenspflichten. Diese stellt Ferguson im sechsten Teil der Grundsätze vor. Als Tugend bestimmt er das Gute zu wollen, es tun, es beharrlich verfolgen und es gegen Hindernisse innerer oder äußerer Art durchsetzen zu können. Das entspricht der »übenden Tugend« des Fräuleins von Sternheim und auch dem Modell Rousseaus, demzufolge die Verwirklichung von Tugend sowohl dem Menschen wesensgemäß als auch ein zu erringendes Verdienst ist, das in der Vermeidung oder Überwindung von Devianzen Seelenstärke erfordert. Als Gewissenspflichten ordnet Ferguson seinem Tugendbegriff inhaltlich die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Mut zu, aus denen dann die lebenspraktischen Untertugenden abgeleitet werden. Eine tugendhafte Gesinnung <?page no="62"?> 62 Jutta Osinski 13 Die Grundsätze der natürlichen Religion entsprechen denen der »Religion civile«, deren Verordnung durch den Staat Rousseau im Gesellschaftsvertrag fordert. Auch die Bürgerpflichten werden im Absoluten verankert. Vgl. Rousseau: Du Contract social, in: Œuvres complètes, Bd. 3, S. 347-470, hier, S. 460-469 (Kap. IV,8: De la Religion civile). - Dt.: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 140-153. wird dem Handeln übergeordnet, weil dieses auch auf Anpassung an vorgegebene Normen und Werte statt auf rechter Einsicht und freier Wahl beruhen kann; nur die Gesinnung verbürgt die Übereinstimmung mit dem Gewissen. Handlungen, die der Vervollkommnung des ganzen Menschengeschlechts und damit, der Logik des Moralsystems nach, zugleich des Einzelnen dienen, sind tugendhaft und verdienstvoll, gegenteilige Handlungen, auch Selbstzentriertheit, sind zerstörend und schuldhaft. So weit zur moralphilosophischen Konkretisierung tugendgemäßer erworbener Vorstellungen, denen das Fräulein von Sternheim unter Bekämpfung ständiger Anwandlungen von Eigenliebe im Leiden folgt, um zur »übenden Tugend« zu gelangen. Wo das Gewissen schweigt und in einer devianten Kultur sogar völlig usurpiert werden kann, sind Rousseau zufolge falsche erworbene Vorstellungen an die Stelle der natürlichen Gefühle getreten, und der von seiner eigenen Natur entfremdete Mensch ist nicht mehr in der Lage, die innere Stimme zu hören. Diese selbst ist als vor- und außergesellschaftliche Instanz religiös verankert und bei Rousseau vom absoluten Göttlichen her begründet, ohne spezifisch christlich zu sein. Der Natur des Menschen entsprechen die Grundwahrheiten der natürlichen Religion, zu der sich der savoyische Vikar bekennt: Es gibt einen Gott, der die Gesamtharmonie von Mensch, Menschheit, Natur und Kosmos garantiert; als Teil der Geistnatur hat der Mensch eine unsterbliche Seele; die ausgleichende Gerechtigkeit für Tugend und Laster im Diesseits gibt es im Jenseits, und darauf weist das Gewissen hin. Der savoyische Vikar konnotiert es ebenso wenig wie das Fräulein von Sternheim mit den christlichen Gedanken von Erbsünde, Sünde, Erlösung, Gnade und Vergebung, sondern mit dem universalisierten Ordnung/ Devianz-Modell: Wenn diesseitige Devianzen im Jenseits bestraft werden und Tugend, auch wenn sie individuell Leiden verursacht hat, im Jenseits belohnt wird, dann sind die Grundprinzipien des Gewissens, Tugend und Gerechtigkeit, absolut gültig; der Ausgleichsgedanke gibt dem Menschen Anlass, seine Empfindungen vernünftig zu überprüfen und der Stimme des Gewissens beizeiten Aufmerksamkeit zu schenken. 13 Aus den dargelegten Zusammenhängen ergibt sich der pädagogische Auftrag, für den lebensgeschichtlichen Erwerb der richtigen Vorstellungen zu sorgen. Dem entsprechen die Eltern Sternheim, vor allem der Oberst, problemlos im harmonischen Umfeld, in dem Tugend als Verdienst den Men- <?page no="63"?> 63 Zum rousseauistischen Tugendbegriff 14 Deshalb ist die Rousseau-Kritik in der Nachfolge des Vorwurfs einer »schwarzen Pädagogik« (1977) von Katharina Rutschky denkgeschichtlich unangemessen; auch die Rede vom »paradoxen« oder »widersprüchlichen« Rousseau bedarf der Überprüfung. schen buchstäblich adelt. Bei Rousseau hingegen geht es darum, das Ziel vor dem Hintergrund einer abgeirrten Gesellschaft zu demonstrieren. So kann man den Emile als umfassendes ideales Devianzvermeidungsprogramm lesen: Der fiktive Zögling wird durch seinen Erzieher so lange von allen Abweichungsmöglichkeiten von der eigenen Natur ferngehalten, bis er sich körperlich, intellektuell und geistig harmonisch entwickelt hat, aus freier Wahl tugendhaft ist, eine Familie gründet und durch eine deviante Kultur nicht mehr beeinflusst werden kann. Für die der jeweiligen Entwicklungsstufe angemessenen richtigen Vorstellungen sorgt der allgegenwärtige Erzieher so lange, bis Emiles Intelligenz und Beurteilungsvermögen so gefestigt sind, dass er die eigenen Leidenschaften und Glücksansprüche beherrschen und beurteilen kann. Als Erwachsener lebt er schließlich seinem Gewissen gemäß in Übereinstimmung mit sich selbst, mit der Welt- und Naturordnung und mit der natürlichen Religion. Erziehung ist hier nicht als die totalitäre Einflussnahme gedacht, die Rousseaus fiktiver Erzieher aus nachfreudianischer Perspektive ausübt, sondern als Hilfe zur freien Entfaltung eines Individuums, das in einer entfremdeten und entfremdenden Kultur mit sich selbst identisch leben soll. 14 In der Anwendung auf die Lebenspraxis sind die im Ordnung/ Devianz- Modell strukturell bestimmten Oppositionen Tugend/ Untugend, Recht/ Unrecht, gut/ böse, die das Gewissen unterscheidet, inhaltlich gefüllt mit den kultur- und gesellschaftskritischen Moralvorstellungen Rousseaus. Diese werden also nicht in ihrer Zeitgebundenheit reflektiert, sondern anthropologisch und ontologisch im Wesen des Menschen und in der Natur verankert; das gilt auch für Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts wie Ferguson, ungeachtet dessen Wende gegen die Annahme eines historisch ursprünglichen Naturzustands. Der höchst problematische moralische Naturbegriff in der rousseauistischen Anthropologie erklärt sich aus seiner Bedeutung als Gegenentwurf zum materialistischen Menschenbild. Auch die rousseauistischen Ehe- und Familienkonzeptionen sind aus der Natur abgeleitet; im Hinblick darauf erscheint die heimliche Heirat des Fräuleins von Sternheim mit Lord Derby als Schritt aus der Ordnung, der seine Folgen zeitigt. Die Familie als erste auf den Selbsterhaltungs- und Sozialtrieben beruhende biologische und geistige Gemeinschaft bildet die Urszene der Vergesellschaftung und damit den Keim von Gesellschaft und Staat; die Eltern- und Kindesliebe ist Teil der Naturordnung, anthropologisch verankert und wird <?page no="64"?> 64 Jutta Osinski 15 Vgl. dazu Rousseau: Sur l’Origine et les Fondements de l’Inégalité, bes. S. 167-171. - Dt.: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, S. 234-238. Als Vorstufe der Vergesellschaftung bildet das Familienstadium eine Art Idealzustand. Vgl. auch ders.: Du Contract social, S. 352-354 (I,2: Des premieres sociétés). - Dt.: Gesellschaftsvertrag, S. 6-8. 16 Zuerst 1761; Rousseau: Julie, ou la Nouvelle Héloïse, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 1-745. - Dt.: Julie oder Die neue Héloïse. im vergesellschafteten Zustand zur Gewissenspflicht. 15 In Staat und Gesellschaft ist die rechtmäßig geschlossene, religiös sanktionierte Ehe Teil der allgemeinen Ordnung; Untreue und Ehebruch weichen davon ab und könnten, allgemein praktiziert, in die Anarchie menschlicher Beziehungen führen. Die Heiligung der Ehe und die Verurteilung vorbzw. außerehelicher Sexualität bei Rousseau kann als Kritik am Mätressenwesen Ludwigs XV. und an seinen sittenlosen französischen Zeitgenossen aufgefasst werden. Aber die daraus folgende Gewissenspflicht, individuelle Liebe und sexuelle Leidenschaft dann mit Seelenstärke bekämpfen zu sollen und Tugend zum Verdienst zu machen, wenn sie der übergeordneten Eltern-Kindes-Liebe oder der ordnungsgemäß geschlossenen Ehe zuwiderlaufen, wird nicht kultur- und sittenkritisch, sondern anthropologisch, ontologisch und religiös wiederum mit dem Ordnung/ Devianz-Modell begründet. Um den Kampf zwischen Tugend und verbotener leidenschaftlicher Liebe geht es in Rousseaus Julie-Roman, 16 und in diesem Kampf stehen den Liebenden Julie und Saint-Preux schließlich nicht mehr äußere Konventionen im Wege, sondern einzig und allein das Gewissen. Dieses gibt auf den etwa 800 Seiten des Romans schwer zu vereinbarende Impulse: Es legitimiert die gegen die gesellschaftliche Ordnung gerichtete Liebe zwischen Julie und ihrem Hauslehrer als subjektive Empfindung, die naturgemäß und darum authentisch und gut ist. Es ist die nicht naturgemäße, auf Standesschranken bestehende Gesellschaft, repräsentiert durch die Eltern, die diese Liebe als deviante ablehnen. Zugleich unterscheidet das Gewissen der Liebenden, vor allem das Julies, zwischen Gut und Böse; die sexuelle Erfüllung ihrer Liebe verstößt gegen die überindividuelle Ordnung und ist böse. Deshalb gilt es, nach dem Fall auf den Weg der Tugend zurückzukehren und zugunsten der Einfügung in die höhere Ordnung die deviante Leidenschaft füreinander als Eigenliebe zu bekämpfen. Daraus ergibt sich, dass die Liebenden nicht voneinander lassen können: Bei äußerer Trennung empfinden sie innere Nähe, weil sie einander platonisch lieben und ihr Gewissen rein ist; bei äußerer Nähe müssen sie sich innerlich voneinander distanzieren, weil die Leidenschaft sie zu überwältigen droht und ihr Gewissen sich meldet. Julie heiratet auf Wunsch des Vaters den Herrn von Wolmar, hat während der kirchlichen Trauung das innere Gefühl der Einfügung in die göttliche Ordnung von Ehe, Familie und Gesellschaft und bleibt ihrem Mann ebenso wie Saint-Preux <?page no="65"?> 65 Zum rousseauistischen Tugendbegriff treu: Ihre Tugend als Ehefrau Wolmars und Mutter zweier Kinder wird zum Verdienst, weil sie Saint-Preux weiterhin liebt, ihre sexuelle Leidenschaft für ihn jedoch standhaft bekämpft. In diesem Kampf fungiert Wolmar als gütiger Erzieher im Sinne der Emile-Pädagogik. Als Julie ihm ihre Liebe zu Saint- Preux und ihren einmaligen Fall in die Untugend gebeichtet hat, lädt er Saint-Preux ein, bei ihnen zu wohnen: Er hält es für besser, die naturgemäße authentische Liebe zwischen Julie und Saint-Preux in geordnete Bahnen zu lenken als sie gegen die Stimmen der Herzen aufzulösen. Ordnung steht gegen deviante Leidenschaft, aber nicht gegen die Liebe der beiden, die dem inneren Gefühl als Stimme ihrer Natur entspricht und tugendhaft gelebt werden kann. Als Gewissenserzieher kann Wolmar sich auf die Liebenden verlassen: Als er für zwei Wochen verreist und sie allein im Haus zurücklässt, passiert nichts. Alle zusammen leben schließlich in Clarens in naturgemäßer, nicht devianter Gemeinschaft, in einer dem ganzen Hauswesen gerecht werdenden Ordnung. Saint-Preux wird Hauslehrer der Kinder und Julie stirbt, nachdem sie ihren Sohn vor dem Ertrinken gerettet hat. Auf dem Totenbett aber legt sie, der Sache nach, das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars ab und bekennt, allein ihrem Gewissen folgend, dem selbstlosen Ehemann ihre ewige Liebe zu Saint-Preux: Diese wird im Jenseits ihre Erfüllung finden, wo die ordnungsgefährdenden körperlich-sexuellen Leidenschaften ausgeschlossen sind. Rousseaus Briefroman, heute wegen des endlosen Räsonierens der Beteiligten über Liebe, Leidenschaften, Tugend, Ordnung und Gewissen kaum noch lesbar, dürfte nicht zuletzt deshalb in Deutschland vor der Französischen Revolution so erfolgreich gewesen sein, weil er der Mentalität der Empfindsamkeit entsprach und ganz widersprüchliche Bedürfnisse befriedigte. Er bestätigt Liebe als authentisches Gefühl und sexuelles Begehren gegen soziale Normen als naturgemäß; er setzt die Rechte des Individuums gegen eine verhindernde Gesellschaft; er misst zugleich Individuum wie Gesellschaft an einer in sich guten, harmonischen Weltordnung, die sich, verschoben von Saint-Preux auf Herrn von Wolmar, in Ehe, Familie und restriktiver Sexualmoral spiegelt; statt Liebeserfüllung gegen soziale Normen zeigt er Tugend als Selbstverwirklichung in der Weltordnung; er führt die Beherrschung devianter Sexualität als verdienstvolle Seelenstärke vor; und er verlagert den Lohn aller Tugend ins Jenseits, wo allein die Liebe erfüllt werden kann. Das weist zurück auf den ersten Punkt: Gegen das Jenseits steht das Diesseits authentischen Fühlens und Begehrens. Ohne die Instanz des Gewissens als »Stimme der Natur«, die Ordnung und Devianz unterscheidet und dafür auf erworbene Vorstellungen angewiesen ist, wäre eine Vereinbarung der angeführten Widersprüche nicht denkbar. Der Roman bestätigt zugleich die Authentizität des Individuums, die Normen einer eben dies verhindernden Standesgesellschaft, die kulturkritischen Positionen der moralischen Aufklärung und das <?page no="66"?> 66 Jutta Osinski 17 Eine gründliche Analyse des Romans im skizzierten Sinne liegt noch nicht vor, weil vorfreudianische Interpretationsansätze zur Literatur des 18. Jahrhunderts kaum verfolgt werden. verabsolutierte System der Moral, von dem diese Aufklärungsrichtung ausgeht. 17 Für La Roches Sternheim-Roman ergibt sich folgende Interpretation, die abschließend zur Diskussion gestellt sei: 1. Der Roman stellt im beschriebenen Ordnung/ Devianz-Modell Tugend als Verdienst dar und verfolgt am Beispiel Sophies eine pädagogisch-aufklärerische Intention. 2. Die Handlung verläuft in einem Dreischritt: Ordnung der Ausgangsfamilie - Devianz als Weg Sophies - neue Ordnung der Ehe und Familie Sophie/ Lord Seymour. 3. Die Devianz-Phase fungiert als Demonstration von Sophies Tugend- Grundsätzen, damit in der Opposition Selbstbezüglichkeit im Unglück vs. Altruismus die Tugend als Verdienst erscheinen kann. Es geht um die Überwindung von Eigenliebe im Leiden, was nicht im Jenseits, sondern mit der Erhebung in den Adelsstand auf höherer Stufe im Diesseits belohnt wird. 4. Deviant ist also nicht Sophie, sondern es ist der Lebensweg, auf den sie nach einem einzigen Schritt aus der Ordnung (heimliche Heirat) gerät. Von ihm aus erscheint die moralische Ordnung umso gültiger und erstrebenswerter. Diese wird als Ständeordnung im Rahmen der Weltordnung bestätigt. Insofern bleibt die Sozialkritik des Romans in den Grenzen der rousseauistischen Kulturkritik, wie sie in Deutschland rezipiert wurde. 5. Es handelt sich nicht um einen Bildungs-, sondern um einen Stationenroman, der an verschiedenen Orten und wiederholten Beispielen dieselbe Idee demonstriert. Seinen Unterhaltungswert bezieht er aus der Darstellung von Devianzen; für Figuren wie Situationen gilt: Je devianter, desto interessanter. 6. Die Figuren haben keine psychologische Tiefendimension, sondern sind Charaktertypen im Modell: Es gibt die Tugendhaften mit Grundsätzen (der Oberst, Sophie, Lord Rich); die mit gutem Herzen, zunächst wegen Mangels an Einsicht ins Rechte und Ordnungsgemäße noch nicht ganz Gefestigten (Lord Seymour); die egoistischen Gemütscharaktere (Gräfin Löbau) und natürlich die Materialistisch-Sinnlichen (Lord Derby). Man kann sie als Prototypen zur Vorführung von Einstellungen und Verhaltensmöglichkeiten im Modell verstehen. <?page no="67"?> 67 Zum rousseauistischen Tugendbegriff 7. Der Tugendbegriff des Romans ist nicht geschlechterspezifisch, er gilt wie bei Rousseau für beide Geschlechter gleichermaßen. Nicht Sophie muss am Ende entsagen - sie wird für alles Leiden belohnt -, sondern Lord Rich. Die inhaltlichen Gender-Zuschreibungen im Sinne des Ergänzungstheorems sind im gedachten Natur- und Moralsystem begründet und gelten nicht als sozial gemacht, sondern als naturgegeben. 8. Der Tugendbegriff des Romans ist auch nicht spezifisch christlich oder pietistisch geprägt; die religiösen Bezüge bleiben im Rahmen der rousseauistischen Konzeption einer natürlichen Religion. 9. Die aufklärende Intention des Romans über Wahrheit und Wert von Tugend im vorgegebenen Ordnungsrahmen erklärt, ähnlich wie für Rousseaus Julie, sowohl die Widersprüche zwischen Kulturkritik und Bestätigung bestehender Verhältnisse als auch den dozierenden und räsonierenden Stil der Briefe, der nach Goethes Werther ästhetikgeschichtlich schnell veraltete. 10. Die kurzfristige positive zeitgenössische Rezeption des Romans unter so verschiedenen Lesern wie Aufklärern, Empfindsamen und Stürmern und Drängern dürfte sich, ähnlich wie im Fall von Rousseaus Julie, der Tatsache verdanken, dass er sowohl das bekannte allgemeine Interesse am Devianten als auch den Glauben an eine harmonische Weltordnung befriedigen konnte. Er eignete sich als Projektionsfläche für unterschiedliche Literaturauffassungen und Wahrnehmungen des Menschen. Dass solche Wahrnehmungen im kulturell diffundierten Rousseauismus das literarische Interesse am Devianten geradezu freisetzten, zeigen Schillers Räuber: Dort werden alle Möglichkeiten von Devianz durchgespielt, bis eine nur noch gedachte, nicht mehr darstellbare harmonische Weltordnung übrigbleibt. <?page no="68"?> 1 »Manche nachfolgende Blätter, wie der zweite und dritte Teil dieser Briefe [der Briefe an Lina, K.H.], entstanden teils aus dem Grunde des hohen Wertes, welchen ich auf meine erhaltene Erziehung legte, teils durch Überzeugung, daß der einfache Gang der Ordnung des täglichen Lebens auf eine Familie des gelehrten Standes ohne anderes einen nützlichen und angenehmen Eindruck machen würde«. Melusine, S. IV. 2 Ebd. 3 Ebd. Kevin Hilliard Der »Gang der Ordnung«: 1 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche Urszenen Am Anfang von Melusinens Sommer-Abenden (1806), dem letzten Werk von Sophie von La Roche, legt die Autorin in einer weitgespannten Rückschau ihren Lesern noch einmal über Lebensstationen und biographische Einschnitte, über Bildungseinflüsse und Vorlieben, über Entstehung und Absichten ihres literarischen Schaffens Rechenschaft ab. Dabei kommen auch früheste Kindheitserinnerungen hoch: Mein Vater [machte] mich früh die Bücher lieben, da er mich oft, ehe ich volle zwei Jahre alt war, in seine Bibliothek trug, wo er mich mit den schönen Verzierungen der Einbände und Titelblätter zu belustigen suchte und es auch damit so weit brachte, daß ich mit drei Jahren vollkommen lesen konnte; wo hingegen meine Mutter mich, da unser schönes Haus nahe an einem Tore lag, bei ihren Spaziergängen mit sich nahm und auf einer freundlichen mit Bäumen umfaßten Wiese mich hinsetzte, wo ich bei Gras und Wiesenblümchen sehr ruhig und glücklich war. 2 Diese »kleinen Umstände« verdienen Beachtung, so La Roche, zeigt doch die Erfahrung, nach dem Ausspruch einer Freundin, »einer geistvollen, vortrefflichen Familienmutter«, dass die »Neigungen und Charakterzüge, welche [die Kinder] im zweiten und dritten Jahre« an den Tag legen, »im achtzehnten und zwanzigsten« noch »in der größten Stärke« wiederzufinden sind, und damit auch für das ganze Leben als prägend zu gelten haben. 3 <?page no="69"?> 69 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 4 Ebd. 5 Vgl. auch Lina I, S. 102-104. Mag sein, dass La Roche die Kindheitserfahrungen im Nachhinein zu Bildungserlebnissen stilisiert. Es ist aber unwichtig zu wissen, ob ihre Erinnerungen auch stimmen. Das Aufschlussreiche ist vielmehr, dass La Roche eben diese und keine anderen Erinnerungsbilder an den Anfang ihrer Lebensgeschichte stellt. Es sind, so will uns die Autorin selbst zu erkennen geben, gleichsam die Urszenen ihres Lebens. Die eine spielte sich in einer Bibliothek, unter der Aufsicht des Vaters, die andre, unter der Obhut der Mutter, auf einer Blumenwiese ab: hier die Bücher, die Gelehrsamkeit, das Reich der Wissenschaften - dort das Gras, die Blumen, die Schönheit der Natur. Diese Orte stellen die Eckpunkte in der geistigen Welt Sophie von La Roches dar. Selbstverständlich waren diese Schlüsselerlebnisse religiös überformt. Die erste Lektüre der jungen Sophie war die Bibel, die sie »im Alter von fünf Jahren zum ersten Male ausgelesen hatte«; 4 und auch die Natur ließ sich für das - pietistisch - fromm erzogene Mädchen nur als Gottes Schöpfung begreifen. Variationen Schon lange vor den Ausführungen in Melusinens Sommer-Abenden hatte La Roche die Aufmerksamkeit ihrer Lesergemeinde auf die prägenden Erlebnisse ihrer Kindheit gelenkt. In dem Aufsatz Über meine Bücher (1783) aus der Zeitschrift Pomona (1783-1784) war sie schon einmal darauf zu sprechen gekommen. 5 Die Stelle ist bekannt: Als Tochter eines Gelehrten, hörte ich von Jugend auf von dem Werth der Wissenschaften […] sprechen […]. Dadurch wurde in mir die […] Begierde nach Vorzug in den edlen Ehrgeiz verwandelt, mich in Kenntnissen hervor zu thun: aber Umstände verhinderten die Erfüllung meines Wunsches, daß ich als Knabe erzogen werden möchte, um ordentlich gelehrt zu werden. Die Hauptsache meines Stolzes war also verlohren; aber die Wißbegierde und der Geschmack an Kenntnissen blieben in meiner Seele, und vereinigten sich darinn mit den Empfindungen der ersten Freuden meines Herzens, welche, wie der Engelländer, David Hume sagt, auf unser ganzes Leben würken. Ich fande es auch an mir sehr wahr, und ich danke Gott, nicht nur für die Lebhaftigkeit des Gefühls, welches er in mich legte, sondern auch dafür, daß es sich im vierten Jahr meines Lebens bey den unschuldigen Gegenständen der Schönheit der Blüthen, Bäume und Wiesen entfaltete, und jedes folgende Jahr meiner ersten Jugend durch einen Besuch bey unserer Milchbäurin bestärkte. Denn von dort <?page no="70"?> 70 Kevin Hilliard 6 Ueber meine Bücher, in: Pomona, Repr. Bd. 1, S. 419-432, hier S. 421. 7 An Johann Caspar Hirzel, 8.11.1771, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 155. In der Erzählung Liebe, Misverständnis und Freundschaft hallt das Erlebnis nach: Die Heldin Elise Baumthal »wollte studieren, und die teutsche Laura Bassi werden. Ein Oheim hinderte die Erfüllung ihres Wunsches«. (Moralische Erzählungen, Bd. 1, S. 46-78, hier S. 46). Das gelehrte Wunderkind Laura Bassi (1711-1778) hatte von 1731 bis 1738 an der Universität Bologna einen Lehrstuhl inne. »Wie freue ich mich schon im Geiste, daß das Bildnis meiner Geliebten einst das Portrait einer […], Bassi […] so sehr überstrahlen wird« (Christoph Martin Wieland an Sophie Gutermann, Ende Juli 1751, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 44). 8 »In gewisser Weise sind die Moralischen Wochenschriften das A und O ihrer Bildung«. Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 151. In den Herbsttagen spricht La Roche von der »mich seit vielen Jahren beherrschende[n] Gewohnheit, alle Abend vor dem Einschlafen eine Betrachtung in dem Englischen Zuschauer zu lesen« (S. 1). 9 Von Addisons und Steeles Spectator urteilt sie: »Diese erste aller Monat- Wochen- und Tage Blätter sind gleich und immer Modell gewesen, wie man Charakter malen, Briefe, Lehren und Betrachtun[gen] schreiben soll«. Schreibetisch, Bd. 2, S. 394. an bis auf diese Stunde machte der Anblick einer ländlichen Gegend mich glüklich, und immer liebte ich Bauerleute und ihre Beschäftigungen. 6 Hier wird ein differenzierteres und realistischeres Bild der frühen Erfahrungen gezeichnet. Die Bücher und die Wissenschaften sind hier zunächst der Gegenstand von La Roches »Begierde nach Vorzug«, »Ehrgeiz« und »Stolz«. Nachdem man ihr den Wunsch verweigert hatte, »als Knabe erzogen [zu] werden«, blieben davon die »Wißbegierde und der Geschmack an Kenntnissen« zurück. Wie schmerzhaft das junge Mädchen diese Verweigerung empfunden haben mag, lässt sich aus einem privaten Brief erahnen, wo die Erwachsene davon berichtet, wie der Gelehrte Johann Jakob Brucker ihrem Vater angeboten hatte, ihre Erziehung in die Hand zu nehmen: »Mit 13 Jahren wollte der große Brucker meine Erziehung und Bildung meines Geistes besorgen. Ich bat meinen Vater auf Knien um die Einwilligung, aber er wollte nicht.« 7 Von da an musste sie sich mit eher populärwissenschaftlichen Werken wie den englischen Moralischen Wochenschriften begnügen, um ihren Wissensdurst zu stillen. Für diese allerdings zeigte sie sich zeitlebens sehr dankbar, und sie zählten bis ins Alter zu ihrer liebsten Lektüre; 8 auch für ihre eigene Schreibweise bildeten sie das Muster. 9 Hier wird also gleichsam die an sich männliche Gelehrsamkeit ›verweiblicht‹, d.h. auf ein vom Patriarchat bestimmtes weibliches Maß zurechtgestutzt. Nur mit dieser Einschränkung wird es La Roche möglich, sich das Terrain der Wissenschaften zu erschließen. In der angeführten Stelle sollte man aber zudem auch die Ausweitung der landschaftlichen Szenerie beachten. Zwar ist wieder von »Blüthen, Bäume[n] und Wiesen« die Rede; nun aber auch von den »Bauerleute[n] und ihre[n] Beschäftigungen«. Die entsprechende Stelle in den Erinnerungen in Melusi- <?page no="71"?> 71 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 10 Melusine, S. IX. 11 Ueber meine Bücher, S. 423. 12 Ebd., S. 422. 13 Ebd., S. 420. 14 Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer, in: Pomona, Repr. Bd. 1, S. 229, 231-232. Poetisch überhöht begegnet uns eine ähnliche Szene in der Geschichte von Miß Lony. Die sterbende Lony schaut durch ein Fernglas zufrieden der Arbeit auf einem nahe gelegenen Bauernhof im Tal von Richmond zu - und tritt gleich darauf von diesem in das andere Leben über (Lony, S. 174-176). nens Sommer-Abenden ist noch um eine Nuance deutlicher: »Alle Jahre einmal führte uns meine Mutter zum Mittagsessen zu unserer Milchfrau, wo wir ländliche Arbeit und Kost kennen [und] Landleute schätzen […] lernten«. 10 Hier rückt die Landschaft nicht bloß als Spenderin von Zierpflanzen, das Landleben nicht bloß als dekorative Kulisse in den Blick, sondern als Ort von nützlicher »Arbeit«. Gegen die tändelnden »Idee[n] von Zephir, und Rosenlauben« führt La Roche die »wohlthätige […] Nuzbarkeit der Erde« ins Feld 11 und setzt sich damit gegen den Vorwurf eines ungenannten männlichen Kontrahenten zur Wehr, »daß die Liebe zum Landleben das Herz zu sehr erweiche«. 12 La Roche versucht, diesen Verdacht einer ›weibischen‹ Verweichlichung zu entkräften, indem sie einen gleichsam ›männlichen‹ Blick auf das Landleben wirft. Das Land ist kein bloßer locus amoenus. Neben dem dulce kommt darin in erster Linie das utile, neben dem delectare das prodesse zum Ausdruck. Subjekt des Landlebens ist eine arbeitende Bevölkerung, die Nutzen aus dem Boden zieht. Diesmal lässt sich La Roche ihre Überzeugung, dass erste Erlebnisse prägend sind, von einem männlichen Gewährsmann bestätigen. Bestärkt durch David Hume, beharrt sie auf ihrem Eigensinn. Es bleibt bei ihrer ersten Orientierung. Es müssen dem Patriarchat aber auch Zugeständnisse gemacht werden. Die Wissenschaften werden ihr nur als leichte Kost verabreicht. Das Landleben erscheint ihr unter der Gestalt nützlicher Arbeit. So bildet sich ein männlich-weiblicher Kompromiss heraus. Unter dieser Bedingung wird die Fixierung auf die Bereiche Wissenschaft und Landleben, auf die affektbesetzten Orte Bibliothek und Feld noch einmal verstärkt. In ihrem Zimmer sitzt sie nun »würklich zwischen einer Menge Bücher«. 13 Zugleich kann sie aber aus dem Fenster zusehen, wie nebenan der Küster und seine Frau in ihrem »Gärtgen […] fleißig arbeiten«; und wenn sie gar das »Fernglaß« zur Hand nimmt, erblickt sie »einen Bauerhof […], bey dem ich […] alle Feldarbeit beobachten kann«. 14 <?page no="72"?> 72 Kevin Hilliard 15 Ueber meine Bücher, S. 420; vgl. Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer, S. 248-249. 16 Lina I, S. 14. 17 Zu dieser Einteilung s. Lina als Mutter, S. XI. 18 Lina I, S. 232. 19 Ebd., S. 275. Briefe an Lina (1783) Noch ein weiteres Opfer muss La Roche dem Patriarchat bringen. Neben den Büchern auf ihrem Schreibtisch hat sie noch »zwei Schiebladen« für ihren »Näh- und Strikvorrath«, den sie sofort hervorholt, sobald Besuch (besonders männlicher Besuch) kommt. 15 Denn die Frau muss schließlich auch den Haushalt besorgen. Sie hat ihren eigenen Aufgabenbereich, dem sie sich nicht entziehen darf. Was dazu erforderlich ist, stellt La Roche in den sich zu einem kleinen Roman ausweitenden Briefen an Lina dar. Die Briefe, die zuerst 1783-1784 in loser Folge in der Pomona erschienen, dann 1785 gesammelt veröffentlicht wurden, sind ein Tugendspiegel für heranwachsende Mädchen. (Es folgten später zwei weitere Bände von Briefen für Lina als Mutter (1795-1797). Nach den einleitenden Briefen geht La Roche vom vierten bis zum elften Brief zu einer räumlichen Gliederung über, in der zugleich die Aufgaben der Frau abgesteckt werden. Denn »der Kreis, den wir durchzulaufen haben, ist in den Schranken unsers Hauses abgezeichnet«. Es folgen in schönster topographisch-moralischer »Ordnung« Ausführungen zu den einzelnen Zimmern und den ihnen zugeordneten Aufgabenbereichen: »Schlafzimmer - Wohnzimmer - Küche - Speißkammer - Eßzimmer - Visitenzimmer - Geräthzimmer«. 16 Erst nachdem dieser Rundgang absolviert ist, erlaubt es die fürsorgliche Tante ihrer Nichte, den Blick zu den Gegenständen der natürlichen und moralischen Welt zu erheben. 17 Nach dieser Vorbereitung wartet auf Lina das Glück einer Ehe mit einem braven Landbeamten, der von Berufs wegen in der beneidenswerten Lage ist, in einer »durch seine weise[n] wirthschaftliche[n] Kenntnisse« und »durch treue Verwendung seiner Gewalt« zum Aufblühen gebrachten Landschaft voller »wohlangebaute[r] Felder, […] gutstehende[r] Häuser, […] erträgliche[r] [d.h. ertragreicher, K.H.] Wiesen, dichte[r] Wälder und Seen voll Fische« sein Leben zu verbringen. 18 Der Bräutigam wiederum ist beeindruckt von Linas kleiner Reisebibliothek, die neben den Jahreszeiten von Thomson u.a. Werke über Kunst und Handwerk, Astronomie und eine Geschichte der teutschen Waldung umfasst. 19 Da versteht es sich von selbst, dass es zwischen den beiden auf den ersten Blick zündete. <?page no="73"?> 73 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 20 Pomona, Repr. Bd. 1, S. 6, 13. 21 Ebd., S. 6. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 8. 24 Ebd., S. 10. 25 Ebd., S. 11. Veranlassung der Pomona (1783) Die moralische Welt erschließt sich La Roche topographisch. Werfen wir einen Blick auf den kleinen Aufsatz Veranlassung der Pomona, der ihrem eigenen Versuch in der Gattung der moralischen Wochenschriften zur Einleitung diente. Diesem Bericht nach verdankte Pomona ihre Entstehung einem Spaziergang, den La Roche in der Nähe von Speyer in Begleitung eines »edlen« und »aufgeklärten«, mit »Kenntnis der schönen Natur und guter Schriften« begabten männlichen Freundes unternahm. 20 Dabei stellten sich vor ihnen Bilder der durch Menschenhand verbesserten Natur auf, zu denen sich dann aus ihrem Bildungsschatz empfindsame Reflexionen und Erinnerungen gesellten. (Dass wir es auch hier mit einer stilisierten Wirklichkeit zu tun haben dürften, tut der Sache keinen Abbruch. La Roches Wirklichkeitsdarstellung hat immer auch Entwurfscharakter. Gerade um die dabei aktivierten Idealvorstellungen geht es uns aber.) La Roche und ihr Freund kommen also zunächst an Fischerhütten vorbei, wo sich drei Generationen mit dem »reinsten Ausdruk der Gesundheit, und Zufriedenheit« um das gemeinsame Wohl der Familie bekümmern. 21 Indem sie die von Nutzpflanzen bebauten Felder durchschreiten, haben sie Anlass, »von dem Werth der fleißigen Hand des Landmanns zu reden«; 22 einem davon machen sie auf dem schmalen Fußweg Platz, um ihn nicht in seiner Arbeit aufzuhalten. Dann unterhalten sie sich mit einem Bauern, der durch Entwässerung seinen Besitz verbessert hat. Sie loben »seinen verdienstlichen Fleiß.« 23 Ein von Efeu umrankter, verfallener Turm gibt als ins Leben getretenes Emblem zu gefühlvollen Betrachtungen über Familienanhänglichkeit zwischen den Generationen Gelegenheit. Bei den in der Abendsonne heimkehrenden Landarbeitern fallen den Spaziergängern die berühmten Anfangszeilen aus Thomas Grays Elegy Written in a Country Churchyard ein. La Roche nimmt sich vor, an derselben Stelle »ein Stük aus Thomsons Herbst« zu lesen; 24 woraufhin ihr der ebenso empfindsame wie gelehrte Freund die Mitteilung macht, dass einst Ewald von Kleist, »der Sänger des teutschen Frühlings«, eben diesen Spaziergang sehr geliebt habe. 25 Diese Nachricht macht ihr die vertraute Landschaft noch einmal so wert, und sie lässt sich zu einer Apostrophe an Kleist hinreißen, in der sie den Wunsch äußert, es möge <?page no="74"?> 74 Kevin Hilliard 26 Ebd., S. 12. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 14. 29 Ebd., S. 14-15. Dergleichen blumige Metaphern für die weibliche Wissensaneignung und -verwertung haben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Konjunktur: »Unsere Frauenzimmer selbst finden es leicht und anmuthig, alle Gefilde des Wissens zu durchstreifen, sie wie Gärten geschmückt zu sehen, und ihre Blumen in einen Strauß zusammenzubinden, den man im bunten, gesellschaftlichen Kreise […] jedem zur Erquickung darreichen kann« (Forster: Ansichten, S. 43-44). 30 Ueber meine Bücher, S. 424. 31 Veranlassung der Pomona, in: Pomona, Repr. Bd . 1, S. 12. einst auf diesem Weg ein Denkmal aufgestellt werden, das den »theuren Namen« des Dichters verewigen und den »künftige[n] Wanderer[n]« die »Aufmunterung zu der Liebe der Natur« einflößen solle. 26 Von dem Spaziergang schließlich zurückgekehrt, nicht ohne vorher für eine Freundin in Berlin »Feldblümchen« als botanische Exempla gesammelt zu haben, 27 überlegt sie sich, wie das dabei Gedachte und Empfundene auch anderen mitzuteilen wäre, bis sie mit Hilfe einer Freundin und zweier »sehr vernünftige[r] Männer« auf den Gedanken einer moralischen Wochenschrift für Frauen kommt - eben der Pomona, die wir in Händen halten. 28 Deren Blätter sollen »die Blumen […] zeigen, welche […] auf dem Weg unserer Bestimmung wachsen, und die benennen, welche wir […] in unser Gebiet verpflanzen können«, und so den Leserinnen gleichsam »im Spazierengehen eine Menge nüzlicher und angenehmer Kenntnisse« vermitteln. 29 Lesen und Erkennen, Bildungs- und Naturerfahrung bedingen einander wechselseitig. Auf dem realen Ausflug in die Landschaft nehmen die beiden Spaziergänger gleichsam im Kopfe ihre Bibliothek mit sich, um bei geeignetem Anlass das Gesehene mit erbaulich-empfindsamen Gedanken schmücken zu können. In der Niederschrift und der Lektüre werden daraus die »Spaziergänge des Geistes«, von denen sich La Roche für die Bildung ihrer Leserinnen so viel erhofft. 30 Der Landschaftsgarten La Roche beklagte, dass sie nicht selbst »reich« genug sei, die »Pyramide« für Kleist auf dem Spaziergang vor Speyer aufstellen zu können. So wurde der künftige »gefühlvolle einsame Spaziergänger« des Vergnügens beraubt, an dieser Stelle dem »Andenken« des Dichters und der edel gesinnten Stifterin seines Denkmals eine Träne nachzuweinen. 31 Was La Roche dabei offenbar vorschwebte, war das Beispiel des englischen - im nahe bei Speyer gelegenen Schwetzinger Schlossgarten adaptierten - <?page no="75"?> 75 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 32 Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer, S. 238-240. 33 Schreibetisch, Bd. 1, S. 19. Heely: Description; oder Heely: Letters. An gleicher Stelle erwähnt La Roche den »Calender für Gartenfreunde, nebst den zwei Bändchen der […] Anlagen zu Hohenheim und zwei mir aus London geschickte almanc [sic] oder Pocket Companion, mit den niedlichsten Kupfern von englischen Landhäusern«. 34 Auszug aus dem 15. der Briefe über Mannheim (1791) in Melusine, S. 266. 35 Pomona, Repr. Bd. 4, S. 1090-1122, hier S. 1115. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 36 Sternheim, S. 284. 37 Ebd., S. 282. Landschaftsgartens, in dem das moralisch-topographische Prinzip seine geradezu klassische Gestalt annahm. Denn zum englischen Garten comme il faut gehörte selbstverständlich eine bildnerische und architektonische Ausschmückung, durch die an kunstvoll-kunstlos ausgesuchten Stellen das Andenken an verdienstvolle Vorfahren oder Mitmenschen wachgerufen wurde. Dem auf seinen verschlungenen Pfaden lustwandelnden Beschauer boten sich simultan die Landschaft zum Genuss und die am Wege aufgestellten Denkmäler menschlicher Tugend zu empfindsamer Betrachtung an. Dem Besitzer gab er die Gelegenheit, verfeinerten Geschmack und humanistische Bildung in kongenialer Verbindung zur Schau zu stellen. La Roche hatte für den Garten im englischen Stil eine besondere Vorliebe. In ihrem Arbeitszimmer hingen Stiche mit Abbildungen berühmter englischer Gärten. 32 Eifrig las sie topographische Werke wie »Heelys, mir äußerst liebe, Beschreibung der Gärten zu Hagley, Envil und Leasowes in England«. 33 Ihre fiktionalen Gestalten teilen ihre Passion. (La Roche bekennt ja, dass in ihren Erzählungen »die Leute von allem was ich liebe [reden], [und] […] alles, was ich will, [tun]«.) 34 In der »moralischen Erzählung« Eine Baad- Bekanntschaft verliebt sich die Gouvernante Luise in den jungen Herrn von Knospe, nachdem der eben von einer Englandreise Zurückgekehrte, im Garten mit ihr auf- und abspazierend, »von Englischen Anlagen mit mir sprach, Kupferstiche holte, Zeichnungen von Gärten verschiedener Arten wieß, die er selbst gemacht hatte, und mir Hirschfelds Gartenkunst in mein Zimmer gab«. 35 (So erobert man bei La Roche Frauenherzen! ) Um Luises Glück voll zu machen, hätte nur noch gefehlt, dass ihr von Knospe die Gelegenheit verschafft hätte, »einem neuen Versuch von Besämung der Äcker mit einer Maschine zuzuschauen« - ein Glück, wie es Sophie in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim auf dem Landgut des Lord Rich zuteil wird. 36 So hätte sich zum dulce der Gartengestaltung noch das utile der Bodenbewirtschaftung gesellt. Der besagte Lord Rich besitzt neben dem Mustergut einen »wohlangelegte[n] Garten, in welchem er selbst arbeitet«, einen »Park« und »eine große Büchersammlung, worunter zwanzig Folianten sind, in denen er beinahe alle merkwürdige Pflanzen des Erdbodens mit eigner Hand getrocknet hat«. 37 <?page no="76"?> 76 Kevin Hilliard 38 Moralische Erzählungen, Bd. 2, S. 40-109, hier S. 45. 39 Ueber meine Bücher, S. 420. Vgl. auch Gürdenhall und Mis Elma (Moralische Erzählungen, Bd. 2, S. 155-193), wo Lady Gürden in ihrem Zimmer »die schöne Auflage der Werke von Lord Lidleton […] aufgeschlagen« hat (ebd. S. 174). Thomson besingt Lyttelton und dessen Gut Hagley in The Seasons, ›Spring‹, Z. 901-959 (The Poetical Works of James Thomson, S. 23-25). Die Stelle wird von La Roche frei übersetzt in Aus Thomsons Jahrszeiten. Der Frühling, in: Pomona, Repr. Bd. 1, S. 474-499, hier S. 493-495). 40 Moralische Erzählungen, Bd. 1, S. 78-117; vorher in Pomona, Repr. Bd. 1, S. 435-473. Dass sich Sophie von Sternheim bei allen diesen Vorzügen nicht in ihn (mitsamt Sämaschine) verliebt, liegt einzig und allein daran, dass sie vorher schon seinem Bruder, dem edlen Lord Seymour, ihr Herz geschenkt hat. Aber das tut nichts: denn der besitzt eine ebenso ausgesuchte Bibliothek und ebenso schöne Garten- und Parkanlagen wie sein Bruder. Der mit Denkmälern verzierte Landschaftsgarten steht dabei an der Schnittstelle von Bibliothek und Landgut. Dort genießt man sowohl die Schätze der Natur wie auch die des menschlichen Wissens. Beide werden dem Betrachter in veredelter Auswahl dargeboten. Im Spazierengehen kann er sich das Beste aus beiden Bereichen aneignen. Im Rhythmus von Stillstand und Weiterschreiten kann er sich die darin angebotenen Lehren aneignen, die dazu gehörigen Tugenden einüben. La Roches idealtypische Tugendörter ersten Grades, Bibliothek und Wiese bzw. Acker, sind im Landschaftsgarten in einer höheren Synthese aufgehoben. Die Bildungsreise In der moralischen Erzählung Miß Kery und Sophie Gallen reist die junge Sophie mit ihrem Onkel und ihrer Tante nach England: »Und wenn Herr und Frau Elbe ihre Reisen in England nach dem Sinn von Sophien eingerichtet hätten, so würde zuerst jede Gegend besucht worden seyn, die Thomson besungen hat: Denn würde sie Hagley als einen heiligen Grund und Boden durchgegangen haben, weil sie nicht ehrwürdigeres kannte, als den Charakter des edlen Litleton.« 38 Sophie Gallen ist eine Figur ganz nach dem Sinne ihrer Schöpferin. George Lyttelton, der Mäzen Thomsons, war einer von La Roches Lieblingsschriftstellern. 39 Sophie Gallens Verlangen, Hagley zu besichtigen, liegt der fromme Wunsch zugrunde, beim Durchschreiten seiner Anlagen sich auch Lytteltons Tugenden einzuverleiben. In größerem Format ist dies auch die Leitvorstellung des jungen Georg Merioneth, der Hauptfigur in der Erzählung Ein guter Sohn ist auch ein guter Freund. 40 Auf seiner Bildungsreise überlässt er sich ganz der geistigen Führung des bewunderten Vorgängers. Zunächst dient ihm bei der Reise durch das eigene Heimatland Lytteltons Account of a Journey into Wales (1774) als <?page no="77"?> 77 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 41 Ebd., Bd. 1, S. 81-83. 42 Ebd., Bd. 1, S. 86. 43 Ebd., Bd. 1, S. 87. 44 Erscheinungen, Bd. 1, S. 72-73. Von der Bibliothek Wattines, »eine[r] aus 300 Bänden bestehende[n] Bücher-Sammlung der besten französischen Schriftsteller, und die Englische Monathschrift universelle Magazin« war im Roman schon vorher die Rede gewesen (Bd. 1, S. 39). Später erfahren wir, dass sich unter den französischen Werken die Encyclopédie, eine »schöne Edition von Büffons Naturgeschichte« (Bd. 2, S. 183) und eine Ausgabe der Werke von Bernardin de Saint-Pierre befinden. Die Bewunderung von d’Alemberts und Diderots Encyclopédie gilt eher deren ausführlicher Beschreibung der handwerklichen Künste (vgl. den Untertitel des Werks: Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers) als den weltanschaulich-philosophischen Partien, die La Roche scharf verurteilte (Schreibetisch, Bd. 2, S. 248). Von besonderer Bedeutung für den Oneida-Roman ist eine Übersetzung der Werke Hesiods (s. Bd. 2, S. 69; Bd. 3, S. 228-231), dessen Werke und Tage zusammen mit den Georgica Vergils (Bd. 3, S. 230) Vorbild und Muster sind für die Idealvorstellung des Landlebens, nach der die Kolonie sich entwickelt. Vgl. dazu Hilliard, Sophie von La Roche, S. 47-48. Vademecum. 41 Dann pilgert er nach Hagley. Im Sterbezimmer Lytteltons lässt er sich den väterlichen Segen geben, indem er schwört, »ein eben so guter Sohn und Patriot zu seyn, als der grosse Mann war, dessen Geist in diesem Zimmer in die Ewigkeit überging«. 42 Auch auf dem Kontinent folgt er getreulich der Spur des großen Vorbilds: »Sein bis zum Starrsinn getriebene Anhänglichkeit an Georg Litleton machte ihn zuerst alle Orte besuchen, die in des Lords Briefen bezeichnet sind«. 43 Ganz Europa wird dadurch zur Fortsetzung der Anlagen von Hagley. Indem der junge Merioneth hier wie dort in den Fußstapfen Lytteltons tritt, kann er nie den Pfad der Tugend verfehlen. Aus Wandel wird so Lebenswandel. In der Fortbewegung von einem Tugendort zum anderen bildet sich der moralische Charakter. Utopie Der nach Amerika ausgewanderte holländische Kolonist Vandek führt den Erzähler von Erscheinungen am See Oneida (1798) durch die Anlagen des französischen Emigranten Wattines und beschreibt ihm seine Eindrücke bei seinem eigenen ersten Besuch. Sie betreten die Holzhütte, die sich Wattines gebaut hat: [D]enken Sie Freund! wie ich staunte, als Wattines hier, eine […] Doppelthür öfnete, und ich die vielen Bände der besten französischen Werke fand, die über den Vorrath von Sägen, Hacken, Beil, Hämmer, Nägel, Eisendrath, Schaufeln, Sensen […] aufgestellt waren. […] Edler junger Mann! […] hätten Sie nur den ernsten, aber schönen Ausdruck seiner Züge gesehen, als er mit einer Hand die Bücher, mit der andern eine Harke berührte und sagte: dieß waren die vier Jahre hindurch die zwey Stützen unsers Lebens. 44 <?page no="78"?> 78 Kevin Hilliard 45 Erscheinungen, Bd. 1, S. 78. 46 Ebd., Bd. 1, S. 79-80. 47 Sternheim, S. 309. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 307, 312. 51 Ebd., S. 311-312. 52 Ebd., S. 313. Daraufhin nehmen sie die »äußerst nett angebauten […], hier und da mit Blumenbüschen besetzt[en] [Felder]« in Augenschein, 45 bevor sie ein »schm[aler] und […] gewunden[er] [Gang]« aufnimmt und auf einen » sich unter düster verwachsene Eichen und Trauerbirken hinziehende[n] Waldplatz« führt, wo Wattines und seine Frau ihren in der Revolution guillotinierten Verwandten in Form zweier Urnen ein zu besinnlicher Trauer aufforderndes Denkmal aufgestellt haben. 46 Bibliothek, Mustergut, Landschaftsgarten: in Wattines Anlagen ist auf engstem Raum noch einmal alles beisammen, was für La Roche den Wert des Lebens ausmachte. Es ist die Topographie der Tugend in gedrängter Form. Und Wattines, der abwechselnd zum belehrenden Buch und zur Harke greift, verkörpert ihr moralisches Ideal. »Bleygebürge« Dieses Positive leuchtet uns selbst noch in der Negation entgegen. Als La Roche die Tugend ihrer Sternheim auf den Prüfstand stellen wollte, versetzte sie sie in eine unwirtliche Gegend fernab von aller Zivilisation. In den schottischen »Bleygebürgen« fehlt alles, was dem Leben von außen Halt und Bedeutung gibt. »Oh, wie arm ist hier die Natur! Man sieht, dass ihre Eingeweide bleiern sind.« 47 Ebenso dürftig ist das menschliche Umfeld. Die Menschen um sie reden eine »arme Sprache«. 48 Sophies kärgliche Wohnung bietet nichts von alledem, was dem Geist Nahrung gibt. Ihre Wirte bzw. Wärter sind Analphabeten, die kein einziges Buch besitzen. So wie die Natur hier für Sophie die Antithese des englischen Landschaftsgartens darstellt, ist ihre »Hütte« gleichsam die Negation der Bibliothek. Aber siehe da: das Fehlende findet Ersatz. Das »kleine Stück Feld«, auf dem ihre Hauswirte »Haber und Hanf« anbauen, muß ihr statt aller landwirtschaftlichen und gärtnerischen Anlagen dienen. 49 Und als Ersatz für die Bücher hat sie Schreibzeug und eine »ganze Rolle Papier« mit sich gebracht, mit deren Hilfe sie der Tochter des Hauses das Lesen und Schreiben beibringt. 50 Auch die weiblichen Hausarbeiten werden betrieben so gut es geht. 51 Wie »mager« ist das nicht alles; 52 und doch kann sich Sophie daran wieder <?page no="79"?> 79 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 53 Ebd., S. 308, 309. 54 Auszug aus dem 15. der Briefe über Mannheim in Melusine, S. XXXV. 55 Lina I, S. 84-85. aufrichten. Diesem Rahmen für die »übende Tugend« verdankt sie die »Wiederherstellung« ihrer Seele. 53 La Roche und die Epik ihrer Zeit Ich habe in meinen Ausführungen vielfach auf La Roches pädagogische und publizistische Gebrauchsschriften Bezug genommen. Wie wir gesehen haben, sind aber die Übergänge zum erzählerischen Werk fließend. Abschließend will ich deshalb einen Ausblick auf ihr Schaffen als Ganzes wagen. Das kann hier natürlich nur skizzenhaft und stichwortartig geschehen. La Roche selbst bezeichnet bekanntlich ihre Epik als »moralisch-romantisch«. 54 ›Romantisch‹ sind ihre Romane und Erzählungen insofern, als sie »meistens [beschreiben], wie ein Jüngling mit einem artigen Mädchen bekannt [wird], sie [liebt], sie zu seiner Frau [wünscht], aber tausend Hindernisse [findet], die alle überstiegen werden [müssen], ehe er seine Geliebte [erhält]« - so La Roches eigene Definition der Gattung des Romans, den man »daher […] auch [eine] Liebesgeschichte [nennt]«, wie sie hinzufügt. 55 ›Moralisch‹ aber sind sie im Sinne der bisherigen Ausführungen: indem sie nämlich ihre Helden und Heldinnen im Durchgang durch die Tugendorte und unter Umgehung der Orte des Lasters zu guten und glücklichen Menschen erziehen. Wie lässt sich La Roches erzählerisches Werk demnach einordnen? Es gab zu ihrer Zeit vier größere Möglichkeiten: Erstens die philosophische Erzählung (bzw. ihre Verlängerung im Roman), wie sie in vielfältigen Ausprägungen u.a. Diderot und Voltaire, Samuel Johnson und Wieland vorgelegt hatten. Diese Möglichkeit war von vornherein ausgeschlossen: zu gelehrt, zu enzyklopädisch, zu souverän über den gesamten alt- und neusprachlichen Wissensfundus der europäischen Kulturgeschichte verfügend hatte die philosophische Narrativik, zu anspielungsreich, zu witzig, eben zu männlich der Erzähler zu sein, als dass es sich für eine Frau geschickt hätte, diese Möglichkeit aufzugreifen. Auch versperrte ihr gerade zu dieser Gattung der Freund und Mentor Wieland den Weg. Zweitens die Schauergeschichte in der Nachfolge von Horace Walpoles Castle of Otranto. Für La Roche als Anglophile wäre das eine naheliegende Möglichkeit gewesen. Man kann auch nicht behaupten, dass das keine Literatur für eine Schriftstellerin gewesen wäre; es war ja eine Frau, Ann Radcliffe, die am entschlossensten das Erbe Walpoles antrat. La Roche lehnt diese Richtung aber ab: »Das Heftige und Rauhe des Unmuts, das Niedrige, Riesen- <?page no="80"?> 80 Kevin Hilliard 56 Auszug aus dem 15. der Briefe über Mannheim in Melusine, S. XXXV. 57 Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 152-153. Vgl. Lina I, S. 87-88. 58 Swifts The Journal to Stella und Raynals L’éloge d’ Eliza, in: Pomona, Repr. Bd. 1, S. 387-406, hier S. 398. 59 Ueber Engelland, in: Pomona, Repr. Bd. 1, S. 323-376, hier S. 325. 60 Ebd., S. 328-329. 61 Ebd., S. 333. und Marionetten-Ideen, Zwergen- und Satans-Gestalten kann ich weder in Gemälden, Statuen noch Schriften ertragen«. 56 Drittens die Epik der psychologischen Analyse und Entlarvung, die von Richardson, Fielding und Sterne bis zu Jane Austen auf breiter Front entwickelt wurde. Richardsons Bedeutung für die Geschichte des Fräuleins von Sternheim ist bekannt. 57 An Sternes Kunst hat La Roche bewundert, wie er »alle grosse und kleine Wendungen des menschlichen Geists, alle Winkelgen der geheimsten Gefühle des Herzens entdekte, welche in dem gewöhnlichen Leben vorkommen«. 58 Und obwohl sie Austen nicht kannte, zeigt sie hier und da, dass sie das Zeug dazu gehabt hätte, es ihr gleichzutun. Man siehe, à propos Anglophilie, die feine Ironie der folgenden Beobachtung über den Ruf englischer Waren: Jede meiner Leserinnen erinnert sich gewiß, daß, wenn von Englischen Stahlwaaren, Kleiderzeug, Uhren, Bücherband, Silbergeschirr, Druckerey und Kupferstichen die Rede war, daß man gleich von der Vortreflichkeit überzeugt ist, und nichts zu theuer findt. Ja man hat ein stolzes Aussehen dabey, wenn man sagen kann: es ist Englisch. Geben Sie nur auf Frauenzimmer mit Englischen Fächern, und auf artige Herrn mit Englischen Peitschen in den Händen acht, ob sie nicht ausgezeichnete Manieren dabey haben. Ich finde diesen Einfluß ohnendlich schätzbarer, als den, welchen Pariser Modewaaren haben: denn bey diesen schmeichelt man sich mit dem Geschmack an dem leichten und artigen, welches in der Französischen Nation gelobt wird: das stolze Aufsehen aber bey dem Blick nach der Stunde auf einer Englischen Uhr, oder bey Darbietung seiner Rockfalte, um das Tuch fühlen zu lassen, gründet sich auf die Ueberzeugung, dass man sich auf Vollkommenheit und Gründlichkeit verstehe. 59 Nach Ansätzen bei der Beschreibung des Hoflebens im Sternheim-Roman wird diese ironische, leicht mokante Manier von La Roche aber nicht weiter entwickelt. Sie ist dazu einfach zu gütig, zu menschenfreundlich gesinnt. Ihr Grundsatz ist der einer nachsichtigen Nächstenliebe: »Daß doch immer der Mantel, den wir zur Decke unserer Fehler zusammenweben, groß genug gemacht würde, um auch die von unserm Nächsten einzuhüllen, anstatt ihn durch Anklagen noch der Lappen zu berauben, die einige seiner Mängel verbergen können«. 60 Und im Umgang, sagt sie, »lenk[t] [sie] gern bey jeder Art von Satyre das Gespräch auf eine andere Seite«. 61 <?page no="81"?> 81 Zur Topographie der Tugend bei Sophie von La Roche 62 Stifters Epik ist bekanntlich von einem Ordnungsdenken geprägt, das sich u.a. auch in einer strengen, nach Tätigkeitsbereichen, Geschlechterrollen und moralischen wie lebenspraktischen Leitfunktionen aufgefächerten Gliederung der Räume niederschlägt, in denen sich die Figuren bewegen und denen sie sich wiederum anzupassen haben. Erzählung ist bei Stifter über weite Strecken Entfaltung einer moralisch sinnvoll gegliederten Bewegung im Raum. Strukturell sind damit Parallelen zu La Roches Romanen und Erzählungen gegeben. Zu diesem Fragenkomplex vgl. Becker/ Grätz (Hrsg.): Ordnung - Raum - Ritual, bes. die Einleitung, S. 7-16. - Das Raumrepertoire in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim wird untersucht von Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, S. 55-124. Desto eher konnte hier der Blick auf andere Werke La Roches gelenkt werden. Für den Hinweis auf die Arbeit Krugs, sowie auf die Sterbeszene in der Geschichte der Miß Lony (s. Anm. 14), danke ich Frau Marie Isabel Schlinzig, Oxford. Bleibt nur noch die Tugend- und Erziehungsliteratur. Dieser schließt sich La Roche an. Sie steht damit selbstverständlich im europäischen Vergleich keineswegs alleine da. Dennoch scheint sie mir eher ein Teil eines deutschen Sonderwegs zu sein. In der engen Verschränkung von Topographie und Tugend, in dem Motiv der Reise, in der markanten Rolle, die die Orte Bibliothek und Garten bzw. Landgut, die Tätigkeiten der Wissensaneignung und Naturbewirtschaftung in ihren Werken spielen, in der ins Utopische verlängerten Suche nach idealen Lebensformen (so wie in den Erscheinungen am See Oneida) und in der ländlich-konservativen, anti-höfischen wie antistädtischen Grundhaltung weist sie in die Richtung des deutschen Romantyps par excellence: des Bildungsromans. Wenn ich nach Parallelen für ihre Romane und Erzählungen suche, fallen mir Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, noch mehr die Wanderjahre, vor allem aber Stifters Der Nachsommer ein. Beim Freiherrn von Risach, Heinrich Drendorf, Mathilde und Natalie Tarona, auf dem Asperhof mit seinen Büchern, seinen Zier- und Nutzgärten, hätte sich La Roche wie zu Hause gefühlt. 62 <?page no="82"?> 1 So seit der ersten Ausgabe durch Loeper (Hrsg.): Briefe Goethes an Sophie von La Roche, und mit Korrekturen zur Datierung bei Fielitz: Goethe und Sophie von La Roche. Loepers Ausgabe von 1879, die 24 Briefe Goethes an La Roche, 14 Briefe Goethes an Bettina Brentano und einige kleine Goethe-Texte bringt, wollte diese Texte aufwerten, wohl um in der (hieran wenig interessierten) Goethe-Forschung Gehör zu finden. - Dagegen betrachtet jetzt Monika Nenon: Aus der Fülle des Herzens, S. 62-69, die frühen literarischen Beziehungen sehr differenziert. Barbara Becker-Cantarino Von der Sternheim und vom Werther zur Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck und zu Dichtung und Wahrheit: Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe La Roches Beziehung zu Goethe, ihre literarische Freundschaft in den 1770er Jahren und Goethes späteres, ironisches Urteil über La Roche und die Empfindsamen sind zwar wohl bekannt jedoch eher einseitig aus Goethes Perspektive kursorisch behandelt worden. 1 Mir geht es hier um eine nähere Betrachtung der in der Tat langjährigen Beziehung, der zeitweiligen Konkurrenz im literarischen Feld und um die späteren Divergenzen und die Ausgrenzung von La Roches Werk (und das ihrer Generation der Empfindsamen) durch Goethe. Zunächst soll eine Übersicht über die überlieferten Fakten der Bekanntschaft gegeben werden, um über die (belegten) Treffen, den (nur einseitig) erhaltenen Briefwechsel und die Meinungsäußerungen der beiden über den jeweils anderen und dessen literarisches Schaffen La Roches und Goethes Beziehung zu klären und dabei klischeehafte Vorstellungen in der Forschung zu differenzieren. Dazu betrachte ich erstens die Beziehung der beiden in den 1770er Jahren und ihre Positionierung im literarischen Feld, im gesellschaftlichen Kontext und aus der Gender-Perspektive. Dann gehe ich auf Goethes Distanzierung von den Empfindsamen ein, auf seine spätere ironische Beurteilung von La Roches Persönlichkeit in Verbindung mit der pauschalen Ausgrenzung ihres literarischen Schaffens (Dichtung und Wahrheit) aus der Perspektive seines Literaturprogramms der Kunstperiode und als Kritiker literarisch tätiger, selbstständiger Frauen. Auch <?page no="83"?> 83 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 2 Wiede-Behrend: Lehrerin des Guten, Wahren, Schönen, S. 206-215, spricht noch von Salon; Plato: Sophie La Roche in Koblenz-Ehrenbreitstein, Zimmermann: Das Haus Laroche in Ehrenbreitstein. Weckel: Frauen und Geselligkeit, und jetzt Nenon: Aus der Fülle des Herzens, S. 19-31, beschreiben die Geselligkeit genauer. 3 Nenon: Aus der Fülle des Herzens, S. 31. 4 Bach: Aus Goethes rheinischem Lebensraum, S. 223-224, berichtet von Goethes Besuch bei der (damals noch) unverheirateten Louise La Roche im Juli 1774, als sie am 18.7. durch Koblenz kamen und die Eltern La Roche verreist waren (S. 184). La Roches Schweigen, was Goethe und sein Werk nach den 1780er Jahren angeht, und die wenig beachtete Darstellung ihres Treffens in Weimar in ihrer Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahr 1799 bedarf einer näheren Betrachtung. Abschließend sollen die Briefromane Sternheim und Werther kurz aus kulturhistorischer Perspektive verglichen werden, um die Beziehung der beiden im literatur- und kulturgeschichtlichen Feld zu verorten. I. ›Mama La Roche‹ und der Frankfurter Goethe Sophie von La Roche lernte Goethe durch die Vermittlung Mercks im April 1772 bei ihrem Besuch in Frankfurt kennen, und Goethe besuchte das Haus der La Roches in Koblenz-Ehrenbreitstein zum ersten Mal im Herbst 1772 nach seiner plötzlichen Abreise aus Wetzlar (am 11. September 1772). Goethes Besuch galt wohl zunächst Georg Michael von La Roche und dessen prominenten Gästen wie dem Domherrn Christoph Willibald von Hohenfeld, La Roches Kollege als Staatsrat und Konferenzminister. Bei La Roches verkehrten Hofbeamte und Angehörige der Hofgesellschaft, prominente Familien aus benachbarten Orten als Gäste, so dass man eher von einem gastlichen Haus als von einem Salon (etwa mit Habitués wie mehrere Jahrzehnte später in den Berliner Salons) der La Roches sprechen kann, 2 in dem sich die neue gebildete, großbürgerliche Oberschicht der Funktionselite traf. La Roche benutzte die neue Stellung ihres Mannes und das große Haus, das sie nun führen konnte, um ihre Freunde wie Wieland, die Jacobis, Merck, Leuchsenring einzuladen und sich »ein Netzwerk von empfindsamen Schriftstellern [zu schaffen], das sich bei ihren literarischen Unternehmungen als hilfreich erweisen wird.« 3 Goethe war an dieser Geselligkeit für sein berufliches Fortkommen, an Beziehungen zu dieser Oberschicht der Hofbeamten interessiert, er hatte noch keine feste Stellung. Erst am 2. August 1774 machte Goethe wieder einen Besuch in Ehrenbreitstein zusammen mit Basedow, als er auf der ›Geniereise‹ mit Lavater und Basedow an den Rhein und die Lahn (Bad Ems) war. 4 <?page no="84"?> 84 Barbara Becker-Cantarino 5 Brief aus Darmstadt vom 20.11.1772, in: Der junge Goethe, hrsg. v. Fischer-Lamberg, Bd. 3, S. 10. Bekanntlich ging die Episode mit Maxe in den Werther in der Geschichte des Fräulein von B* ein, dessen Vorbild und Maxe gewesen sein soll. 6 Witkowski: Cornelia Goethe an Sophie von La Roche; Goethes Mutter machte anscheinend nie die kleine Reise zu den La Roches nach Ehrenbreitstein, kritisierte aber die Verheiratung der beiden La Roche Töchter, während auch ihre eigene Tochter Cornelia nach wenigen Jahren in einer unglücklichen Ehe starb. 7 »Ich habe indessen meine älteste Tochter an einen sehr rechtschaffenen Kaufmann in Frankfurt verheuratet, bin mit ihr hingereist und drei Wochen bei ihr geblieben,« schrieb La Roche am 10.3.1774 an Hirzel, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 179. Die zwei heiratsfähigen Töchter La Roches waren ebenfalls eine Attraktion für die männlichen Besucher. Goethe begann sich besonders für Tochter Maximiliane (Maxe) zu interessieren, als er nach seinem ersten Besuch in Ehrenbreitstein im November 1772 an La Roche schrieb: Seit den ersten unschätzbaren Augenblicken, die mich zu Ihnen brachten, seit jenen Scenen der innigsten Empfindung, wie oft ist meine ganze Seele bei Ihnen gewesen. Und darauf in der Glorie von häuslicher mütterlicher Glückseligkeit, umbetet von solchen Engeln […]. Mit welchem Gefühl sehen sie zween Töchter unter ihren Augen werden […]. Ich hoffe Mlle Max wird erlauben dass ich manchmal schreibe. 5 Goethes Brief ist sehr devot, gefühlvoll und kurz und ist an die ›Mama La Roche‹ gerichtet. La Roche ist immerhin eine Generation (19 Jahre) älter als Goethe und er ist an seiner, der jungen Generation interessiert. Ob er die Erlaubnis zum Briefwechsel mit Maxe erhielt und nutzte, ist nicht bekannt, aber weitere Kontakte bahnten sich über die Frauen an: Goethes Schwester Cornelia machte im Sommer 1773 bei den La Roches einen Besuch, 6 La Roche dann verschiedentlich in Frankfurt, um die Verbindung von Maximiliane mit dem reichen Kaufmann (Witwer mit sechs Kindern) Peter Anton Brentano in Frankfurt zu arrangieren. Nach der Trauung in Ehrenbreitstein kehrte das junge Paar am 15. Januar 1774 in Begleitung der Mutter nach Frankfurt zurück, die dann drei Wochen dort blieb (Georg Michael von La Roche war derzeit für fast zwei Jahre in Wien). 7 Goethe verkehrte bei den Brentanos, musizierte und las gemeinsam mit Maxe, bis er Hausverbot vom Ehemann Brentano erhielt - das freie gesellige Leben traf auf gesellschaftliche Schranken in der realen Welt. Kulturelle Unterschiede haben anscheinend den Bruch mit bewirkt; Maximiliane und Goethe waren jünger als Brentano, belletristisch und an Musik interessiert, hatten ein vergleichsweise abwechselungsreiches, unterhaltsames Leben geführt, Goethe konnte studieren und reisen, war nicht an einen beruflichen Alltag gebunden, während Brentano als ›Negoziant‹ vielseitig beschäftigt war und wohl kaum Freizeit für geselliges Treiben hatte. Merck nannte Brentano einen »Kaufmann der über seinen <?page no="85"?> 85 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 8 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, S. 446. 9 Brief vom 15.3.1775, in: Der junge Goethe, hrsg. v. Fischer-Lamberg, Bd. 5, S. 15. 10 Ebd. 11 Brief vom 27.7.1775, ebd., S. 243. 12 Brief vom 1.8.1775, ebd., S. 245. 13 Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 194. 14 Hertz: Bernhard Crespel, S. 135-138. Hertz vermutet, dass sich Goethe sehr negativ über die beiden La Roches geäußert und daher auch Crespel die Verbindung abgebrochen habe. Stand hinaus wenig Geist besitzt«, und bedauerte, Maximiliane »zwischen Fässern, Heringen und Käsen« zu sehen. 8 Zur Geburt des ersten Kindes in Mai 1775 ging Goethe dann »zu Brentano ihm Glück wünschen« 9 (Maximilane war bei der Mutter in Ehrenbreitstein) und konnte wenig später an La Roche schreiben: Brentano hat mir ihre täglichen Briefe an ihn gezeigt. Das Weibgen ist wohl auf und ich wünsche dass die Freundschaft und das Zutrauen, das mit bisher der Mann bezeugt, ungeheuchelt seyn möge, ich glaubs wenigstens, und so hoff ich, dass ich der Kleinen künftig keine Verdruss mehr, und vielleicht eine angenehme Stunde hie und da machen werde. 10 Das Verhältnis wurde wieder freundschaftlich: »Die Max mit ihrem lieben Jungen habe ich gesehen, mit meiner Mutter hatte sie viel Verkehr in meiner Abwesenheit,« 11 schrieb Goethe im Juli 1775 an La Roche und wenig später: »Gestern Abend, liebe Mama haben wir gefiedelt und gedudelt bey der lieben Max.« 12 Am 11. Oktober 1775 konnte Goethe an La Roche berichten: »Ich gehe nach Weimar […] Die Max ist hold, wird in meiner Abwesenheit noch freier mit meiner Mutter sein, obgleich Brent[ano] allen Anschein von Eifersucht verbirgt, oder auch vielleicht mich jetzo für harmlos hält.« 13 Mit Goethes Abreise nach Weimar wendete er sich anderen Kreisen zu, Maxe and La Roche waren nun nicht mehr von Interesse für ihn. Ende 1779 kam es anscheinend sogar zu einem Bruch oder doch Entfremdung. Die La Roches erwarteten Goethe mit seinem fürstlichen Reisegefährten in Ehrenbreitstein, als Goethe von seiner (zweiten) Schweizerreise zurückkehrte und sich einige Zeit in Frankfurt aufhielt. Der Besuch erfolgte aber nicht, und während Goethes Aufenthalt in Frankfurt brach auch Goethes Frankfurter Jugendfreund Bernhard Crespel, mit dem La Roche bis dahin in regem Briefwechsel und Austausch von Bestellungen und Gefälligkeiten gestanden hatte, die Verbindung zu La Roche ziemlich unvermittelt ab (anscheinend auf Goethes Bemerkungen über die La Roches hin). 14 Eventuell war es der Klatsch über die unglückliche Verheiratung der Tochter Louise und wichtiger wohl noch über die schwierige politische Stellung Georg Michael von La Roches, der dann wenige Monate später im August 1780 entlassen wurde. Auch Goethes Mutter kritisierte bekanntlich La Roche mit drastischen Wor- <?page no="86"?> 86 Barbara Becker-Cantarino 15 Brief vom 11.4.1779, in: Köster (Hrsg.): Die Briefe der Frau Rath Goethe, Bd. 1, S. 95. »Eine Frau wie die La Roche […] die es recht darauf anfängt ihre Töchter unglücklich zu machen - und doch Sternheime und Frauenzimmerbriefe schreibt.« 16 Merck an Anna Amalia, Brief vom 7.5.1779, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 2, S. 229. An Wieland schrieb Merck zwei Tage vorher: »Die Herzogin nimmt großen Anteil an der Sache, und ist herzlich böse auf die Frauenzimmerbriefstellerin«, ebd., S. 226. 17 La Roche wurde »wegen Vorstellungen, die dem La Roche gemacht wurden dahin gezwungen […] Gott sah, was für ein Widerwillen in meiner Seele entstund, etwas tun zu müssen, das gegen meinen ganzen Charakter, gegen meine herrschende Leidenschaft des Wohltuns, des Mitteilens war. Hier, kann ich sagen, entstund eine Entfernung zwischen La Roche und mir, nie mehr geopfert und in nichts mehr getragen als an diesen Vermutungen, da allein ich genannt, ich verdammt wurde, als die Verbindung unglücklich war«. Brief von etwa 1792 an Caroline von Keller, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 338. 18 Berger: Anna Amalia, S. 322-322. In ihrer Bibliothek befand sich von La Roches Werken nur ein Exemplar des Sternheim-Romans, das anscheinend Wieland angeschafft hatte. 19 Fischer-Lichte (Hrsg.): Der junge Goethe, Bd. 3, S. 410. Die neueste, v. Wilhelm Große herausgegebene Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe. Von Frankfurt nach Weimar. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurt 1997), S. 737-741 betrachtet die Briefe ganz aus der Perspektive von Dichtung und Wahrheit und La Roche nach der völlig veralteten Arbeit von Werner Milch (1935). 20 Fischer-Lichte (Hrsg.): Der junge Goethe, Bd. 4, S. 7. ten für die Verheiratung von Louise an »das Ungeheuer […] dumm wie ein Heu Pferd«, 15 und Merck meldete ebenfalls Louises Abscheu vor diesem Ehemann nach Weimar. 16 Dass berufliche Rücksichten auf die Karriere ihres Mannes bei der Heirat ausschlaggebend waren, wie La Roche sich viel später verteidigte, 17 wurde, obwohl Konvenienzehen damals noch durchaus üblich waren, nicht berücksichtigt. Auch ›Goethes Herzogin‹ Anna Amalia, die die La Roches noch bei ihrer Rheinreise 1778 besucht hatte, stand nun La Roche kühl gegenüber und mokierte sich über deren Sentimentalität. 18 Mit der Entlassung ihres Mannes 1780 wurde Sophie gesellschaftlich unbedeutend für Goethe und Goethes persönliche Kontakte zu ihr rissen endgültig ab. Von dem vergleichsweise regen Briefwechsel zwischen La Roche und Goethe von 1772 bis 1775 haben sich 42 Briefe Goethes erhalten, nur drei als Originale, die anderen in Abschriften von Bettina von Arnim und Johann Georg Schlosser; 19 La Roches Briefe sind mit einer Ausnahme verschollen. Goethes Briefe zeigen sein Interesse an La Roches Familie, besonders den Töchtern, an ihren gesellschaftlichen Kontakten und dienten auch als Nachrichtenbörse. Er redete die um 19 Jahre ältere Frau mit »Mama La Roche« an, sie war zunächst die anregende mütterliche Muse, eine mitfühlende Seele: »Ich dancke Ihnen liebe Mama für die beyden Briefe, sie haben mir die ganze wahre Lage ihrer Seele ausgedrückt,« schrieb Goethe Mitte Februar 1774. 20 Goethes Briefe enthielten Mitteilungen über Familienangelegenheiten, kurze Nachrichten über Dritte, viele sind kurz und schnell dahin geschrieben, <?page no="87"?> 87 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 21 Ebd., S. 16. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 18. 24 Goethe schrieb an die literarisch interessierte Schwester der Grafen Christian und Friedrich Leopold Stolberg, Auguste Louise von Stolberg (1753-1835) vertrauliche, persönliche Briefe von Anfang 1775 bis 1782. 25 Ihren zweiten Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St. konnte sie unter ihrem eigenen Namen selbständig mit Hilfe des Buchhändlers und Schriftstellers Johann Joachim Christoph Bode bei dem Verleger Richter in Altenburg veröffentlichen. 26 Fischer-Lichte (Hrsg.): Der junge Goethe, Bd. 4, S. 7. besonders die späteren. Aber auch das literarische Schaffen wurde berührt: Goethe bedankte sich für La Roches wohl anerkennende Worte über den Götz, über Stella, schickte ihr auch Briefe aus dem ersten Teil des Werther (nicht aber das gesamte Manuskript vor der Veröffentlichung): »Meinen Werther musst ich eilend zum Drucker schicken, auch dacht ich nicht, dass Sie in der Lage seyen, meiner Empfindung, Imagination und Grillen zu folgen,« schrieb er an La Roche Ende Mai 1774. 21 Von einer literarischen Beratung La Roches für Goethe gibt es keine Zeugnisse; La Roche war jedoch nützlich für ihn beim Vertrieb, wenn er sie um Verkaufshilfe für seinen Götz bat, dann aber seiner Schwester Cornelia davon abriet, für Jacobis Iris Abonnenten zu werben (worum La Roche angefragt hatte, denn sie war ja auch Beiträgerin der Zeitschrift und mit Jacobi befreundet). Auch war La Roche eine nützliche Folie (und Mittlerin) bei seinem Streit mit Wieland, um seinen Standpunkt darzulegen: »Ich dachte Wieland sollte sich so albern nicht gebärden,« 22 schrieb er wohl wissend, dass La Roche das an Wieland weitergeben würde. Aber vor allem ist La Roche zuständig für Herz und Gefühl: »Ich habe Ihren Brief geküsst und an mein Herz gedruckt. Es sind meine eininnige Gefühle. Ja, liebe Mama, es ist wahr Feuer das leuchtet und wärmt.« 23 Goethe imitiert (oder parodiert) eine gefühlvolle Haltung und Sprache, seine Briefe werden bald kürzer und oberflächlicher. Weitaus gefühlvollere und intimere Briefe schreib er dann an die (ihm nicht persönlich bekannte) Werther- Verehrerin Auguste Gräfin Stolberg. 24 Lediglich in drei Briefen ging Goethe kurz auf einen Text von La Roche ein, als sie ihm einige ›Frauenzimmerbriefe‹ (die dann in Jacobis Iris gedruckt wurden und später zu Rosaliens Briefe, 1779/ 81 erweitert wurden) 25 im Manuskript zuschickte. So bedankte sich Goethe im Februar 1774 für die beyden Briefe, sie haben mir die ganze wahre Lage Ihrer Seele ausgedruckt, und ich binn gewiss dass wenn Sie fortfahren in Ihrem eignen Ton über vorwaltende interessante Gegenstände zu schreiben das ganze eine fürtreffliche Wirkung tun muß. Nur müssen Sie mir erlauben dass ich Ihnen über die Verbindung und Stellung der Theile meinen guten Rath ertheile. 26 <?page no="88"?> 88 Barbara Becker-Cantarino 27 Ebd. 28 Ebd., Bd. 4, S. 27. La Roche war im Juni/ Juli 1774 vier Wochen in Frankfurt und hatte mit Goethes Mutter und Goethe geselligen Verkehr. 29 Ebd., Bd. 5, S. 3. Im 29. Brief (des späteren Romans) besucht Rosalie Henriettes Grab, im 38. wird Madame W. charakterisiert. 30 Das meint jedoch Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie, S. 73. Goethe rät dann, die »Apotheose Brechters« im zweiten Brief weiter nach hinten zu verlegen und besser vorzubereiten, »wenn der Charackter und der Sinn Rosaliens sich mehr entfaltet haben; « auch wünscht Goethe, »mit der süsen Melankolie von verirrter Empfindung, die den ersten Brief füllt das Ganze gewürzt« zu sehen, und dass sie »die ersten Briefe mit ganz simplen Detail wo Gefühl und Geist nur durchscheint« eröffnen solle. 27 Goethes Vorschläge sind sehr allgemeine kompositorische Hinweise, auch La Roche nahm für ihre Darstellung in Anspruch, Gefühl und Geist durchscheinen zu lassen. Ob und wie La Roche ihren Text daraufhin änderte, kann nicht festgestellt werden, da weder die Manuskripte zum Roman noch La Roches Antwortbriefe erhalten sind. In der Figur des Pfarrers M.K., der in der Geschichte der Henriette von Effen eine wichtige Rolle spielt, hat La Roche den Pfarrer Brechter (aus Bönnigheimer Tagen) beschrieben, ohne jedoch eine direkte Apotheose einzuschalten. Wenige Monate später, im Juni oder Juli 1774, schrieb Goethe: Gestern Abend las ich Rosaliens Zusammenkunft mit der armen Henriette. Sie ist herrlich rührend aber der Eintritt ist wahrhaftig gross. Wollen Sie mir erlauben zu der Geschichte des braven Buben einige Züge hinzuzusetzen, die Sie neulich in der Kutsche in die Erzählung webten, und auf dem Papier fehlen? 28 Mit dem »braven Buben« ist wohl der Herr von T. gemeint, den La Roche mündlich anscheinend ausführlicher geschildert hatte. Oder wollte Goethe ihren männlichen Protagonisten verbessern (wie Wieland ihr auch abgeraten hatte, sich an männliche Charakteren, die sie als Frau nicht kennen könne, zu versuchen)? Ob Goethe dann etwas zum Text zusteuerte, ist nicht ersichtlich. Und noch einmal Anfang Januar 1775 kommentierte Goethe kurz: Hier liebe Mama die Briefe zurück die ich fürtrefflich finde. Den 29. wegen seines glücklichen Tons, womit er eine so ernsthafte Materie vorträgt, den 38. weil er dem ganzen ihrer Briefe eine Rundung Wendung und Weisung gibt. 29 Solche Komplimente scheinen kaum dafür zu sprechen, dass Goethe Manuskriptseiten von La Roches Frauenzimmerbriefen durchlas. 30 Er selbst war in dieser Zeit mit der Abfassung seines ganz anders konzipierten Werthers beschäftigt, wovon er auch den zweiten Teil nicht mehr an La Roche schickte. Auch wurde auch das Versenden von Manuskripten mit der Bitte um Beur- <?page no="89"?> 89 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 31 Fischer Lichte (Hrsg.): Der junge Goethe, Bd. 4, S. 382. 32 Ebd., dieser Brief La Roches befindet sich im Goethe-Museum, Düsseldorf. 33 Ebd., S. 252. teilung und Reaktion allgemein gepflegt: La Roche schickte einzelne Briefe ebenfalls an interessierte Bekannte wie auch an Heribert von Dalberg, an den Schweizer Arzt und Schriftsteller Johann Kaspar Hirzel oder (später) an den Schriftsteller Heinrich Christian Boie in Hannover. Den (einseitigen) Briefzeugnissen zu urteilen blieb Goethes literarisches Interesse an La Roches Werk jedoch ziemlich konventionell und oberflächlich. Er ging vielmehr auf die gesellschaftlichen Verbindungen ein, besonders seine Beziehung zu einflussreichen Kollegen ihres Mannes und zu ihren Töchtern. Fast alle Goethe-Briefe sind aus den Jahren 1774 und 1775, als Goethe mit der seit Januar 1774 in Frankfurt lebenden Maximiliane verkehrte. Lediglich ein Brief La Roches an Goethe (vom 17. Oktober 1774) hat sich erhalten. Es ist ein Brief voller Mitteilungen, eine Reihung schnell hingeworfener Gedanken und Gefühle, die eine vielseitig interessierte, beschäftige und geforderte Dame der Gesellschaft zeigt: Göthe mein Freund! Warum so gar nichts von Ihnen - gar nichts - sind Sie so glüklich das die Zufriedenheit Ihrer Freunde überfluss wird - oder so übel gestimmt - das auch alles, was ich für Sie denke u. bin unnüzes Zeug für Sie ist. 31 Nach dieser klagenden Aufforderung zu einem Brief bat La Roche Goethe um Zusendung des Werther an Georg Michael von La Roche und an den befreundeten Rat und Dichter Eberhard Friedrich von Gemmingen. Sie berichtet weiter, dass Hohenfeld Anteil (am Werther) genommen und den Gang von Goethes Seele Schritt für Schritt mitgemacht habe, dass Boie aus Göttingen sie besucht und sie über Goethe gesprochen haben. Hinter den eher konventionellen Freundschaftsbeteuerungen steht auch La Roches Interesse an literarischen Bekanntschaften, Nachrichten und Netzwerk. Den Rest des Briefes füllen Besorgnis über das Los Maximilianes: »Ruhe u. Glück meines Herzens ist ermordet.« 32 Damit wollte sie wohl ihrem Herzen Luft machen, Goethe aber auch zu einem Bericht über die Tochter ermuntern und zugleich sich darüber beklagen, dass ihr Vertrauen in den gemeinsamen Bekannten Dumeiz, dessen Rat als Heiratsvermittler sie befolgt hatte, hintergangen worden war. Goethes rasche Antwort vier Tage später ist im selben Ton gehalten (»Ich lag zeither, stumm in mich gekehrt«) und schließt mit dem pastoral klingenden Rat, doch auf ihr Glück und das ihrer Familie zu schauen. 33 Gerade weil La Roche von ihren gesellschaftlichen und mütterlichen Pflichten während der 1770er Jahre so stark in Anspruch genommen war, <?page no="90"?> 90 Barbara Becker-Cantarino 34 Wieland an La Roche am 24.3.1774, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 5, S. 344. 35 Götter Helden und Wieland, in: Fischer-Lichte (Hrsg.): Der junge Goethe, Bd. 3, S. 360. 36 La Roche an Wieland vom Anfang Februar 1779, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 7,1, S. 163. 37 Ebd., S. 606. brauchte sie Mitgefühl, Anerkennung ihrer Rolle und literarische Anregungen in ihrem persönlichen Bereich. Mit La Roches Hinwendung zu Jacobi, Merck und Goethes Frankfurter Kreis war auch eine Entfremdung zu Wieland entstanden, den die junge Generation um Goethe beiseite schieben wollte. Wieland schrieb verärgert und mit kaum verhaltener Eifersucht an La Roche: daß Sie mir wenigstens alle Vierzehn Tage ein Briefchen schreiben, und mich nicht über alle den Genies, mit denen Sie sich embarquirt haben, vernachlässigen und endlich gar mit der Verachtung ansehen wollen, womit man eine Puppe ansieht, mit der man in seiner Kindheit gespielt hat. Die Habitude mit so vielen Leuten umzugehen, die mich (es sey nun aus innerm Gefühl oder Affectation) für eine gar arme, schwache, kleine Creatur in Vergleichung mit sich selber ansehen, könnte unvermerkt ansteckend werden, und wer weiß, ob sie es nicht schon gewesen ist. 34 Zwar lobte Wieland in diesem Brief überschwänglich »den Verfasser von Götz und Werthers Leiden« aber er fühlte sich doch von Goethes gerade publizierter Farce Götter, Helden und Wieland »unverzeihlich beleidigt«, in der Goethe (u.a.) die Geschichte der Danae im Agathon von 1773 so persiflierte: Was soll ich von eines Menschen Verstand denken, der in seinem vierzigsten Jahr ein groß Werks und Wesens daraus machen kann und fünf, sechs Bücher voll schreiben, davon, dass ein Maidel mit kaltem Blut bei drei, vier Kerls liegen und sie eben in der Reihe herum lieb haben. 35 La Roche war wohl auch eine Vermittlerin in dieser Auseinandersetzung, die aber bald von beiden Parteien beiseite geschoben wurde. Sie selbst empfand, wie Wieland sich von ihren literarischen Bemühungen distanzierte. Sie hatte ihn bei ihrer Arbeit an den Frauenzimmerbriefen nicht »wegen dem gang der ideèn dieser Briefe zu fragen« gewagt, weil wieder eine »schiedwand« zwischen den beiden war. 36 Erst in Goethes 1812 bis 1813 abgefasstem Rückblick in Dichtung und Wahrheit würdigte er die frühen persönlichen Beziehungen zu den La Roches: »Mit der Mutter verband mich mein belletristisches und sentimentales Streben, mit dem Vater ein heiterer Weltsinn, und mit den Töchtern meine Jugend.« 37 Das reduzierte La Roches Stellung auf ›belletristisch‹ und ›senti- <?page no="91"?> 91 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 38 In ihrem Brief vom April 1794 berichtet Goethes Mutter nach Weimar, sie habe La Roche davon abgehalten, nach Weimar zu reisen: »Die Bürgerkrone wäre verdient! Mama La Roche kommt nicht zu euch,« Köster (Hrsg): Die Briefe der Frau Rath Goethe, Bd. 1, S. 254. 39 Assing: Sophie von La Roche, S. 314. Nach Goethes Tagu. Jahresheften soll seine Mutter die ängstliche La Roche beschwichtigt haben, nicht zu fliehen. 40 Goethe an Schiller vom 12/ 14.8.1797 (Konzept), zit. n. Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, S. 181. mental‹ und auf die Mutterrolle; auf Goethes eigenen Distanzierung von der Empfindsamkeit ist weiter unten noch zurückzukommen. Das (abwertende) Etikett der Sentimentalität blieb an La Roche haften. Für die 1770er Jahre ist jedoch festzuhalten, dass La Roche gesellschaftlich und literarisch eine wichtige Stellung im kulturellen Netzwerk einnahm; ihr Roman, ihre Mitwirkung an der Iris, ihre enge Beziehung zu dem damals wichtigsten und bekanntesten Autor Wieland und zu den Jacobis und zu Mercks Kreis sowie ihre Rolle als Gastgeberin und Ehefrau eines einflussreichen Verwaltungsbeamten sollten nicht unterschätzt werden. II. La Roches Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahre 1799 Mit La Roches sozialem Abstieg verlor Goethe jegliches Interesse an ihr, und die persönlichen Beziehungen schliefen ganz ein. Nach dem Umzug 1786 nach Offenbach verkehrte La Roche wieder mit Goethes Mutter und nahm an Geselligkeiten mit deren Frankfurter Freunden teil. Als 1793 Gerüchte über die Besetzung Frankfurts durch französische Truppen Panik verbreiteten, viele Bürger aus der Gegend flohen und ihren Besitz in Sicherheit zu bringen versuchten, lud Goethe seine Mutter nach Weimar ein, Wieland habe jedoch, wie Goethe berichtet hat, La Roches Bitte, sie bei ihm aufzunehmen, abgelehnt. Im Juli 1796 flüchtete Goethes Mutter 38 in den kritischen Tagen bei der Besetzung Frankfurts zu der (seit 1788 verwitweten) La Roche nach Offenbach. 39 1797 stattete Goethe aus Frankfurt kommend La Roche einen Besuch ab. Er war von ihrer Redegewandtheit wenig angetan und fühlte sich »von ihren sentimentalen Sandsäckchen so abgebläut, dass [er] mit dem größten Missbehagen wieder fortfuhr […]. Es ist erschreckend was eine bloße Manier durch Zeit und Jahre immer leerer und unerträglich wird.« 40 Diese Stimmung teilte er Schiller in einem Privatbrief mit, und sie vermittelt schon den Ton und die Gefühle Goethes (und seines Weimarer Kreises) bei La Roches Besuch in Weimar zwei Jahre später. La Roches seit vielen Jahren geplante Reise zu ihrem Sohn Karl, der Bergrat in Schönebeck bei Magdeburg war, gab ihr Gelegenheit zum Besuch <?page no="92"?> 92 Barbara Becker-Cantarino 41 Vgl. hierzu Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 67-75. 42 Ebd., S. 247, 295. Das Werk erschien mit doppeltem Titelblatt: Schattenrisse abgeschiedener Stunden in Offenbach, Weimar und Schönebeck im Jahre 1799; mein Kurztitel lautet hier Reise von Offenbach. 43 Der Bruder Ernst Gräf leitete »die Geschäfte des Weidemann-Reichischen Hauses«, Reise von Offenbach, S. 275. 44 Nach Langer: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin (S. 249, Kapitelüberschrift, S. 250) entsteht der Eindruck eines »ungeordneten, oberflächlich-sprunghaften Berichts«. in Weimar. 41 Nach längeren Vorbereitungen (La Roche machte u.a. ihr Testament) verließ sie am 11. Juli 1799 Offenbach in Begleitung ihrer Enkelin Sophie Marie Therese Brentano, der ältesten Tochter der 1792 verstorbenen Maximiliane. Die Reise ging über Fulda, Bebra, Eisenach, Gotha und Erfurt. Am 15. Juli trafen sie auf Wielands Gut in Oßmannstedt bei Weimar ein. Sie wohnten zwei Wochen bei Wieland, machten Besuche in Weimar (darunter ein Diner bei Goethe) und am 10. August kam Sohn Karl aus Schönebeck und begleitete die beiden zu seiner Familie in Schönebeck. Dort blieb La Roche fünf Wochen, erkundete die Stadt, die Umgebung und Landschaft; Karl zeigte ihr die Salzgewinnung, sie besuchten Magdeburg und die Herrnhutersiedlung Gnadau. Am 18. September traten sie die Rückreise über Halle und Leipzig an; bis dahin fuhren sie in der Kutsche des Sohnes und in Begleitung von dessen Bedienten. Am 26. September ging es in der Begleitung des (damals ganz jungen) Ernst Moritz Arndt über Lützen nach Weimar. Sie blieben nochmals einige Tage bei Wieland, verabschiedeten sich in Weimar und reisten am 12. Oktober in Begleitung von Clemens Brentano weiter, der in Jena studierte und sie abzuholen gekommen war. Am 16. Oktober waren sie wieder in Offenbach. Schon im September 1800 konnte La Roche ein Exemplar ihrer Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahre 1799 schicken, 42 ihre literarische Verarbeitung der Reise. Die zügige Publikation dieses umfangreichen Werkes bei dem bekannten Verleger Heinrich Gräf 43 in Leipzig, der 1771 auch ihren Sternheim-Roman verlegt hatte, war durch La Roches zielstrebige Planung möglich geworden. Sie hatte den Umweg über Leipzig im voraus geplant, dann von Schönebeck aus an Gräf geschrieben, der ihr einen Brief mit der Einladung, bei ihm in Leipzig zu wohnen, an das Zollhaus der Stadt geschickt hatte. Gräf wusste von dem Erfolg von La Roches Werken, denn er hatte die letzten fünf seit 1794 verlegt, und eine Reisebeschreibung aus persönlicher Kenntnis und Perspektive von Mitteldeutschland mit Weimar, Magdeburg und Leipzig am Ende des 18. Jahrhunderts war ein attraktives Thema. La Roches Reise kann eben nicht als eine sentimentalische »Reise in die Vergangenheit« 44 abgetan werden: Das ganze Unternehmen war vielmehr ein <?page no="93"?> 93 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 45 Einen Überblick aus der Perspektive der Weimarer Klassik bietet Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, passim. 46 Reise von Offenbach, S. 446. 47 Ebd., S. 248. präzise geplantes, wohl durchdachtes Schreibprojekt in der Art, in der La Roche am besten und wohl auch am liebsten erzählte. Ihre Reiseplanung hatte sich auch keineswegs nur auf Weimar konzentriert; die Reise selbst, der viel längere Aufenthalt in dem (damals modernen) Industriegebiet in der Nähe von Magdeburg, der Besuch der (im Vergleich zu Weimar) Weltstadt Leipzig waren wahrscheinlich das Wichtigste in ihrem Programm. So nehmen Goethe, Wieland und Weimar auch nur knapp je 50 Seiten (der 451 Druckseiten umfassenden) Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck ein, 45 und in der Beschreibung ihres Weimar-Besuches auf der Rückreise werden sie nur noch gelegentlich erwähnt. La Roches Reisebericht ist in einen Jahres-Rhythmus eingekleidet; er beginnt mit dem Januar, der Winterlandschaft und dem von der Schneeschmelze überschwemmten Main in Offenbach, mit erfrorenen Bäumen im Garten und endet mit dem Spätherbst wieder dort: »Die Sonne rufte noch Blumen hervor, und erlaubte mir also auch Hoffnung, Rhein- und Maynreben mit reifen Trauben zu finden.« 46 Neubeginn und Verfall, Zerstörung und Erneuerung sind wie in der Natur zyklisch in das Geschehen der Reise verwoben. Ich gehe dem Winter meines Lebens entgegen«, ist ihre Einsicht, Herbst und Abschied werden betont. 47 So lautet denn auch der Zweittitel Schattenrisse abgeschiedner Stunden, Erinnerungen an frühere, oft glücklichere Zeiten kommen immer wieder auf. Mit ›Ich erinnere mich an‹ verknüpft die Autorin so manche Beobachtung mit einem früheren Ereignis und zeigt sich dankbar dafür, wenn auch wehmütig, dass es vergangen ist. In der Reise von Offenbach bleibt die Autorin jedoch nicht bei dem Schwelgen in der Erinnerung stehen. La Roche evoziert die Erinnerung, um dann den Wandel, aber auch das Altern an sich selbst und den Tod zu thematisieren und ihnen in die Augen zu sehen. Hierin unterscheidet sie sich von (dem damals fünfzigjährigen) Goethe, dass sie als Autorin ihr eigenes Altern sehen und ansprechen konnte. La Roche gehört zu den ganz wenigen Autoren ihrer Zeit, die an sich das Altern fühlen und sich dazu bekennen; mit ›alte La Roche‹ signiert sie häufig ihre Briefe und stilisierte sich zur Matrone. In der Reise von Offenbach machte La Roche das schwierige Thema des Alterns, den Umgang mit der Vergangenheit und Gegenwart aus der Perspektive des alternden Menschen - der alternden Frau - zum Mittelpunkt. Während La Roche überall, besonders in Leipzig, als bekannte Autorin befragt und gewürdigt wurde, ist das in Weimar anders. Wie sie berichtet, wird sie bei den zahlreichen Gesellschaften und Essen nicht nach ihren <?page no="94"?> 94 Barbara Becker-Cantarino 48 Reise von Offenbach, S. 58. 49 Ebd., S. 60. 50 Ebd., S. 60-63. Alle weiteren Zitate aus diesen Seiten. eigenen Gedanken, Erlebnissen oder gar Schriften gefragt (auch nicht bei Wieland, Goethe, Herder oder anderen Besuchen). Ab und an bedauert sie, dass sie ihre Frage nicht stellen konnte, weil die Unterhaltung weiter gegangen war. In ihrem Reisebericht kritisiert La Roche das zwar nicht direkt, aber sie erzählt und bedauert es; auch die Rolle als Zuhörerin eröffnet ihr die Möglichkeit, als schreibende Autorin das Gehörte wiederzugeben, zu kommentieren und aus ihrer Perspektive zu arrangieren. So zeichnet La Roche ein Bild von Distanz und geplanter künstlerischartifizieller Erhabenheit in ihren Begegnungen mit Goethe. Zunächst erwähnt sie lediglich Goethes Anwesenheit bei ihrer Einladung nach Tiefurt zu Anna Amalia, deren Person, Begleitung, Umgebung, Wirksamkeit und Landsitz La Roche dagegen ausführlich beschreibt. Die nächste Begegnung, Goethes Besuch bei Wieland wenige Tage später, stilisiert sie zur ländlich-einfachen Idylle: Goethe »kam freundlich die Mittagssuppe mit uns zu teilen«; hier sieht La Roche Wieland und Goethe als »zwey verbündete Genies, [die] ohne Prunk oder Erwartung, mit dem traulichen du der großen Alten sprechen« 48 und bringt in ihrer Phantasie Goethe und das Landgut als Altersruhesitz mit dem Bild Grafen Stadion in Verbindung. Auch Goethe hatte erst 1798 ein Landgut ähnlich wie Wieland erworben; doch der Aristokrat Stadion und sein Alterssitz, das durchaus elegant-herrschaftliche Schloss Warthausen, gehören einer anderen Epoche und gesellschaftlich höheren Sozialschicht, entsprachen sicher nicht Goethes und Wielands Habitus und mussten ihnen unpassend erscheinen. Auch ebnet La Roche in ihrem Text ganz bewusst die Altersunterschiede und die (politischen wie persönlichen) Gegensätze von Wieland und Goethe ein. La Roche bringt dann lediglich Goethes bedauernde Äußerung, »dass die Gegenden um Weimar so wenig Erdbeeren und Kirschen tragen«, und was sie gern »ihm geantwortet« hätte, aber wohl nicht gesagt hat: »›Wer alle Früchte des Geistes vereint, verliert das Recht über Mangel des andern Obstes zu klagen‹ .« 49 La Roche erkennt die beiden ›großen Alten‹ (Goethe war knapp 50, Wieland jedoch bereits 66 Jahre alt) mit ironischem Abstand an und versieht Goethe mit einem verhaltenen Tadel. Dann gibt La Roche eine Beschreibung des Diners bei Goethe als »Fest der Seele«. 50 Sie nennt sein Haus eine »römische Villa«, bewundert (wohl mit heimlichem Neid auf Goethes Italienreise) »diese herrliche Ausbeute einer Reise nach Rom! « und »sprach aber hier […] ebenso wenig […]. Was sollte auch Urtheil und Reden einer guten alten Frau bey diesen Gegenständen bedeuten? « Sie stilisiert sich klassizistisch zu »alte Baucis! […] - du dachtest in Weimar ein Göttermahl nur von der Thürschwelle eines Tempels zu sehen, <?page no="95"?> 95 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 51 Ebd., S. 62-63. Ich kann in La Roches Beschreibung keine »Ablehnung eines Kunstgesprächs, ein unverzichtbarer Bestandteil von Goethes Programm mit seinen Gästen« sehen, wie Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, S. 259, Anm. 34, meint. 52 Hierzu Seifert, S. 192 und Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 75-76. und bekommst nun selbst einen Antheil von Ambrosia« an der so »mit Blumen und Früchten aller Art so niedlich verzierte[n] Tafel.« Aus der Position einer sich selbstlos, anspruchslos glücklich und bescheidenen gebenden alten Frau, die sich überrascht und dankbar für die nicht erwartete Einladung und Gastlichkeit erzeigt, schildert La Roche das Diner, das gar nicht nach dem gewöhnlichen Geschmack der Gastmahle [war], und die Gegenwart der Verfasserin [Caroline von Wolzogen, B.B-C] der reizenden Agnes von Lilien, die Dichterin der Gesänge von Lesbos, Wieland und Göthe, lauter Lieblinge des Apolls, konnten diese Vermuthung rechtfertigen. Eine aus dem Garten zwischen schönen Gewächsen ertönende Musik und die Erscheinung eines Amorino dienten zum Beweis, daß ich bei einer Art Götterfest zugelassen war. Dieser Tag verherrlichte sich abends in hoher Feyer in dem großen Park von Weimar. 51 Damit geht La Roche sofort über in eine ausführliche Beschreibung der regierenden Herzogin, ihres von Angelika Kaufmann in Rom gemalten Porträts, der anderen Gästen und der Festlichkeiten im Park, die wieder in ihrem eigenen Stil, der Mischung von guter Beobachtung, empfindsammoralischen Reflexionen und subjektiven Deutungen, gehalten ist. In La Roches Beschreibung des Diners bei Goethe fällt die kühle, artifiziell wirkende klassizistische Einkleidung ebenso auf wie die Knappheit und Distanz. Ihr Hinweis auf die Erscheinung eines ›Amorino‹, worunter der zeitgenössische Leser den leicht tadelnden Hinweis auf Goethes (illegitimen) Sohn verstand, beleuchtet die damalige Sicht auf Goethes Beziehung zu Christiane, die ja auch bei geselligen Treffen in Goethes Haus gar nicht in Erscheinung trat und bei Hofe und in der Weimarer Gesellschaft nicht zugelassen war. Eine nähere Charakterisierung Goethes, wie La Roche sie bei allen anderen Personen gibt, fehlt. In La Roches Passagen über Weimar erscheint Goethe als einer der vielen interessanten, dem Leser als bekannt vorausgesetzten Persönlichkeiten (keineswegs als die epochale Figur der Goethezeit in der Literaturgeschichte), jedoch ohne weiteren Kommentar La Roches. Sie hat jedoch ihre Distanz und Kritik am Programm der Klassik an anderer Stelle der Reise von Offenbach im Zusammenhang mit ihrem Besuch in Leipzig, der Literaturmetropole, und nicht in Weimar ausführlich geäußert und begründet. 52 <?page no="96"?> 96 Barbara Becker-Cantarino 53 Starnes: Christoph Martin Wieland, Bd. 2, S. 729. 54 Ebd. Die Schilderung ist in einem Brief an Charlotte Schiller vom 26.7.1799 enthalten; Urlichs (Hrsg.): Charlotte von Schiller und ihre Freunde, Bd. 2, S. 337; wie weit die Beschreibung von dem Herausgeber Ludwig Urlichs 1860 geglättet oder gekürzt wurde, konnte ich nicht feststellen. 55 Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, S. 183. Auch in der Beschreibung Charlotte von Steins sehe ich keine hintergründige Ironie - allegorische Spielereien waren an der Tagesordnung bei Geselligkeiten. 56 Schiller an Goethe am 23.7.1799, in: Schiller: Werke, Nationalausg., Bd. 30, Nr. 81. Während Goethe lakonisch notierte: »Frau v. la Roche und andere Freunde zu Tische«, 53 hat die (von La Roche hier gar nicht erwähnte) Charlotte von Stein Goethes Diner für La Roche so beschrieben: Gestern aß ich mit der La Roche bei Goethe, es war ein empfindsames Diner; wir mussten uns jedes nach unserem Namen auf dem Couvert setzen, und Nachbarn oder vis à vis, eines oder das andere, waren am schicklichsten zur Unterhaltung ausgesucht. Auf dem Tisch standen anstatt der Gerichte Blumennäpfe mit raren Gewächsen und Bouteillen mit Wein dazwischen. Die Unterhaltung ging gleich auf die Blumen, und nach einer Weile wurden uns vorgelegte Speisen gebracht. Gegen das Dessert erhob sich eine unsichtbare sanfte Musik, und endlich trug man schöne Früchte und wohlgestaltete Kuchen auf den Tisch zwischen die Blumenstöcke. 54 Verglichen mit dieser Version erscheint La Roches Beschreibung durchaus glaubwürdig und trotz klassizistischer Verbrämung sachlich. Goethes allegorisches Spiel mit der Tischdekoration und dem Diner spiegelt die Sorgfalt und Bedeutung, die er seiner Veranstaltung für den Besuch beimaß. Er wusste um La Roches Verarbeitung ihrer Begegnungen und Reiseerlebnisse in ihren Schriften. Wenn Goethe sich wirklich »mit den emfindsamen Elementen des Diners einen hintergründigen Scherz mit der La Roche erlaubte«, 55 so ließ La Roche sich nichts anmerken und Charlotte von Steins Bericht zeigt davon auch keine Spur. Mit der leicht ironischem Bezeichnung als ›empfindsames Diner‹ benutzte die Goethe-Freundin lediglich das Etikett, das La Roche seit dem Sternheim-Roman anhaftete. Goethes Urteil über La Roche, das er hinter ihrem Rücken Freunden in Weimar 1799 mitteilte, fiel eher ungünstig aus. In einem Privatbrief an Schiller, der selbst La Roche als »Ungewitter aus Oßmannstedt« 56 bezeichnete, äußerte Goethe: Frau von La Roche habe ich zweimal, erst in Tiefurt, dann in Osmannstädt gesehen und habe sie eben gerade wie vor zwanzig Jahren gefunden. Sie gehört zu den nivellierenden Naturen, sie hebt das Gemeine herauf und zieht das Vorzügliche herunter, und richtet das Ganze alsdann mit ihrer Sauce zu <?page no="97"?> 97 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 57 Goethe an Schiller vom 24.7.179l, zit. n. Starnes: Wieland, Bd. 2, S. 728, Anm. 64. Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, S. 167-98 übersieht La Roches leise Kritik an Goethe und an der Arroganz einiger Weimaraner; statt mit boshaften Bemerkungen in ihrem Bericht zu antworten, reduzierte sie ihren Weimar-Text auf wenige Episoden und vereinnahmte diese mit ihrem Stil der Vergleiche und Wertungen. 58 Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, S. 183. beliebigem Genuß an. Übrigens möchte man sagen, dass ihre Unterhaltung interessante Stellen hat. 57 Goethe dürfte hier eher La Roches versöhnliche Art, vieles zu loben und selten zu tadeln gemeint haben (von ihren Schriften kannte er nur den Sternheim-Roman und Entwürfe für den Rosalien-Roman, die er in den 1780er Jahren noch sehr positiv beurteilt hatte). Seinem Klassik-Programm der 1790er Jahre entsprachen diese Romane aus der eignen Werther-Zeit nicht, und La Roches spätaufklärerische, Allgemeinwissen vermittelnde Romane ebenso wenig. Gerade dieses Goethesche Urteil wird bis heute immer wieder zitiert und hat das negative Bild La Roches mit ihren sentimentalen »Attitüden« 58 in der Literaturgeschichte befestigt hat. Goethes Werturteil spiegelt auch die Weimarer Stimmung dieser Jahre wieder. Seine Bemerkungen reflektierten die eigene Angst davor, zu altern, zu überaltern, unmodern (gemacht) zu werden, von Jüngeren verdrängt und überholt zu werden. Indem Goethe La Roches Alterspersönlichkeit mit dem 30 Jahre jüngeren Schreibprofil der Sternheim-Phase zusammen denkt, negiert er jegliches Interesse daran, dass La Roche persönlich und literarisch seit den 1770er Jahren andere Wege gegangen war als er selbst. Die Weimarer Großen wurden ja selbst inzwischen auch von den Schlegels, von der jungen Generation der Romantiker nunmehr als veraltet betrachtet. La Roches ›Canzleystil der Empfindsamkeit‹ (Wieland), ihre ›nivellierende Natur‹ und ›ihre Sauce‹ (Goethe), das war eben auch das fremdprojizierte Andere der nunmehr ›alten Großmutter‹ (Schiller), die als junge Frau sich in Hofkreisen bewegt und sich dann als Schriftstellerin der Volksaufklärung besonders für Frauen profiliert hatte. Das wurde als altmodische, unpassende Empfindsamkeit etikettiert und abgetan. Andere Zeitgenossen, die La Roche in Weimar 1799 kennen lernten, urteilten jedoch viel unbefangener und vorurteilsloser. So schrieb Susette Gontard an Hölderlin von ihrer Begegnung in Weimar: »Die alte La Roche kam uns sehr freundlich entgegen sehr ungezwungen froh und äußerst lebendig«, und Böttiger notierte in seinen Aufzeichnungen: »Die neunundsechzigjährige Frau verbindet mit der lebhaftesten Phantasie ein außerordentlich treues und gehorsames Gedächtnis. […] Die Frau von La Roche hat Alles selbst gesehen, erfahren, umtastet. Daher ist ihr Gedächtnis durch <?page no="98"?> 98 Barbara Becker-Cantarino 59 Zit. n. Starnes: Wieland, Bd. 2, S. 731. 60 Savignys Notiz in seinem Reistagebuch, zit. n. ebd., S. 735. 61 Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 15,2, S. 30. 62 Klaus-Detlev Müller in seinem Kommentar zu: Johann Wolfgang Goethe. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Frankfurter Ausg., S. 1052. 63 Jansen: Sophie von La Roche, S. 46-58, bringt Auszüge aus Schlüters Erinnerungen an Sophie von La Roche (1809 gedruckt im Westfälischer Anzeiger). Autopsie so treu.« 59 Der junge Savigny, der 1804 La Roches Enkelin Gunda Brentano heiraten sollte, besuchte Weimar Ende Juli 1799 und fand in La Roche »eine lebhafte Frau, zwar sehr Schauspielerin und sehr verschieden von meinem Ideal einer Patriarchin, aber sehr interessant, es war mir recht wohl bei ihr.« 60 Der junge Literat, Tasso-Übersetzer und zeitweilige Wieland- Sekretär Samuel Lütkemüller berichtete von seiner Begegnung mit La Roche in Wielands Haus: Sie war von sehr ehrwürdigem Ansehen, und schlicht, wie in halber Trauer gekleidet. Ich verneigte mich vor ihr mit einiger Verlegenheit, die sie durch ein Paar mit herzlichem Ton gesprochene Worte leicht zu heben wusste. Sie befragte mich über mein Vaterland, über meine Studien, wie ich mit Wieland bekannt geworden. […] Sie äußerte sich über den Geist des Ariosto und Tasso mit Kunstkennerschaft. 61 Diese Feststellungen werden La Roches Persönlichkeit eher gerecht. III. Dichtung und Wahrheit: Goethes ironischer Rückblick auf die Empfindsamkeit Goethes reflektierende Selbstdarstellung in Dichtung und Wahrheit ist natürlich eine produktive Auseinandersetzung mit seiner Rolle im literarischen Feld und - wie alle literarischen und stilisierten Zeugnisse - nur mit kritischem Abstand als Quelle zu lesen. Goethes Bild der Geselligkeiten und Menschen im Hause La Roche ist eingebaut in eine bewusst historisierende Darstellung von der Literatur einer vergangenen Epoche, der bei der Abfassung um 1811/ 1812 als veraltet und unmodern geltenden Empfindsamkeit; seine Darstellung ist insofern tendenziös, als Goethe seine Individualität, seine Bedeutung und eigene Leistung »als ›Befreier‹ einer neuen Generation von Dichtern« herausstellen wollte. 62 Sein Porträt der fast vierzig Jahre zurückliegenden Zeit in Dichtung und Wahrheit basiert, was La Roche anbetrifft, weniger auf der eigenen Erinnerung als auf den nach La Roches Tod erst 1808 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des Professors Christoph Schlüter in Münster, die dieser von seiner zweiwöchigen Begegnung mit La Roche im Jahre 1790 aufzeichnete. 63 <?page no="99"?> 99 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 64 Goethe: Aus meinem Leben, Frankfurter Ausg., S. 607. 65 Ebd., S. 608-609. So schrieb Goethe leicht ironisch über die Geselligkeit der La Roches in Ehrenbreitstein: »Nicht lange war ich allein der Gast im Hause. Zu dem Kongreß, der hier teils im artistischen, teils im empfindsamen Sinne gehalten werden sollte, war auch Leuchsenring beschieden, der von Düsseldorf heraufkam.« 64 Goethes Bezeichnung ›Kongress‹ und Wahl der Worte ›sollte‹ und ›war beschieden‹ impliziert eine Aufforderung zu einer etwas gekünstelten, steifen Geselligkeit, die er dann über sich ergehen ließ. In der rückblickenden Darstellung der geselligen Treffen der La Roches (er selbst hatte sie ja nur zweimal besucht! ) wollte er sich wohl vielleicht von dem höfisch geprägten Umgangston der La Roches distanzieren, der anders war als der in der wohlhabenden städtischen Oberschicht, wie ihn der (damals) junge Gerichtsassessor in Frankfurt oder Wetzlar gewöhnt war. Wenn er sich zu den La Roches hin ›beschieden‹ oder abgeordnet darstellte, so überspielte er damit auch seine damaligen Ambitionen nach einem Hofamt. Goethes Bezeichnung dieser Geselligkeiten aus der Perspektive von 1812 als teils ›artistisch‹ und teils ›empfindsam‹ wertete die Literatur der Empfindsamen der nunmehr vergangenen 1770er Jahre bewusst ab und grenzte sie als nicht eigentlich ästhetisch aus. Dabei mokierte sich Goethe darüber, was er als eine erzwungene Offenherzigkeit und fehlende Privatheit beim Verlesen und Weiterreichen von Briefen darstellte: »Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der anderen«, eine recht hat pauschale Äußerung, ein Topos der Pietismus-Kritik, die nicht der florierenden Brief-Kommunikation und freundschaftlichen Verständigung in den 1770er Jahren in der Ausbildung der Schönen Literatur gerecht wird. Dann wiederholt er die Legende von Julie Bondeli als ›Freundin Rousseaus‹ kritiklos, wobei er von La Roches Publikation von Bondeli-Briefen in Mein Schreibetisch (1799) wohl gehört, sie aber mit Sicherheit nicht gelesen hatte. Goethe stellt sich naiv in seinem Interesse an den ›Vorlesungen‹, um sie dann leise abzuwerten: Ich wohnte diesen Vorlesungen gerne bei, indem ich dadurch in eine unbekannte Welt versetzt wurde, und das Innere mancher kurz vergangenen Begebenheit kennen lernte. Freilich war nicht alles gehaltreich […], wo mancher Einzelne ohne Wert sich durch Verbindung mit bedeutenden Menschen aufstutzte. 65 Auch Goethe profitierte für seine Karriere von der Förderung in diesen Kreisen einflussreicher, aristokratischer Gönner ebenso wie auch die anderen aufstrebenden, jungen Männer wie Merck oder Leuchsenring, die zumeist schon ein Hofamt hatten und solche gesellschaftlichen Kontakte gern nutzten <?page no="100"?> 100 Barbara Becker-Cantarino 66 Ebd. (auch Wieland ging 1772 und Goethe dann 1775 als Hofbeamter nach Weimar). Goethes Porträt von Georg Michael von La Roche ist durchaus freundlich anerkennend, weitaus weniger das von dessen ›Herrn und Meister‹, des Grafen Stadion, den Goethe mit einer (bekannten) dummen Anekdote zum Rokokoliebhaber stilisiert und damit indirekt auf die (allerseits bekannte, illegitime) Abstammung Georg Michael von La Roches anspielt. Ebenso benutzt Goethe Georg Michael, um sich über die ›Chatoullen‹ und Briefe der ›Frauenzimmer‹ lustig zu machen, und er benutzt ihn als Folie gegen die Empfindsamkeit: Wenn sich aber Herr von Laroche gegen alles was man Empfindung nennen könnte, auflehnte, und wenn er selbst den Schein derselben entschieden von sich abhielt, so verhehlte er doch nicht seine väterlich zarte Neigung zu seiner ältesten Tochter. […] Bei Tische war er heiter, unterhaltend, und suchte seine Tafel von der empfindsamen Würze frei zu halten. 66 Indem Goethes La Roches ›väterlich zarte Neigung‹ betont und ein warmes Porträt von Maximiliane einschaltet, kann er dann Sophie von La Roches empfindsamen Wesen in einem durchaus einfühlsamen Porträt dagegen absetzen: Wer die Gesinnungen und Denkweise der Frau von Laroche kennt, - und sie ist durch ein langes Leben und viele Schriften einem jeden Deutschen ehrwürdig bekannt geworden, - der möchte vielleicht vermuten, dass hieraus ein häusliches Missverhältnis hätte entstehen müssen. Aber keineswegs! Sie war die wunderbarste Frau, und ich wüsste ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, hatte sie bis in ihre höheren Jahre eine gewisse Eleganz der Gestalt sowohl als des Betragens zu erhalten gewusst, das zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau gar anmutig schwebte. Im Anzuge war sie sich mehrere Jahre gleich geblieben. Ein nettes Flügelhäubchen stand dem kleinen Kopfe und dem feinen Gesichte gar wohl, und die braune oder graue Kleidung gab ihrer Gegenwart Ruhe und Würde. Sie sprach gut, und wusste dem was sie sagte durch Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr Betragen war gegen jedermann vollkommen gleich. Allein durch dieses alles ist noch nicht das Eigenste ihres Wesens ausgesprochen; es zu bezeichnen ist schwer. Sie schien an allem Teil zu nehmen, aber im Grunde wirkte nichts auf sie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zärtlichkeit ihrer Freunde, die Anmut ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne dass ihr in der Welt durch Gutes und Böses, oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches wäre beizukommen gewesen. Dieser Sinnesart verdankt die ihre <?page no="101"?> 101 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 67 Ebd. 68 Ebd., S. 637. 69 Dazu Stephan: ›Meteore‹ und ›Sterne‹, passim. 70 Vgl. hierzu Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 87-103; s. auch die Thesen zum Sternheim-Roman von Jutta Osinski in diesem Band, die sich jedoch auf eine Darstellung des Tugendsystems von Rousseau, herkommend aus der Perspektive des Devianz-Modells, konzentriert. Selbständigkeit bis in ein hohes Alter, bei manchen traurigen, ja kümmerlichen Schicksalen. 67 Goethe schließt diese Charakteristik von La Roches Wesen mit einem Hinweis auf ihre besondere Hinwendung zu ihren Söhnen. Die Beschreibung ist weitaus konzilianter als sein Urteil von 1799. Die derzeit nur fünf Jahre zuvor Verstorbene ist zu einem Denkmal unerschütterlicher Gleichmütigkeit in längst vergangenen Zeiten erstarrt; ein wenig später erwähnt Goethe noch mit leichtem Tadel, dass La Roche ›sich in Klagen erging‹ über den Zustand ihrer Tochter, den sie doch selbst ausgesucht‹ hatte, 68 sie bleibt die larmoyante Mutter. Ihr schriftstellerisches Werk bleibt - abgesehen von Goethes lakonischem Hinweis auf La Roches ›viele Schriften‹ - dagegen gänzlich ausgespart. Goethes Aussprüche über La Roche sind oft verknappt und kritiklos wiederholt worden, ohne die Goethesche Parteilichkeit und literarische Politik darin zu beachten. Bei den Positionskämpfen der männlichen Literaten untereinander (etwa Goethes und Lenz’ in den 1770er Jahren 69 oder der Schlegels und Wieland um 1800) hatte La Roche nichts zu suchen und stand abseits. Auch La Roches Leistung für den empfindsamen Roman war 1812 vergessen. IV. Der Sternheim-Roman und Werther: Distanz und Alterität Die bewusste Distanz Goethes zur Person La Roches und die Ausgrenzung ihres literarischen Werkes spiegelt sich schon in den frühen Werken, in der poetologischen Konzeption der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) und den Leiden des jungen Werther (1774). Wohl hat die Forschung den Sternheim-Roman insofern aufgewertet, als er bei Studien zur Empfindsamkeit, zum Roman des 18. Jahrhunderts und zu Gender-Studien vielfach mit herangezogen wird und weitaus differenzierter behandelt wird. 70 La Roches Darstellung und Entfaltung einer empfindsamen Seele, die Zergliederung ihrer innersten Gefühle, ihrer bewussten und unbewussten Reaktionen bedeuteten eine Vertiefung der Romanheldin. War Weinen die Ausdrucksform von Emotionen in Gellerts Schwedischer Gräfin, so sind es Selbstanalyse, <?page no="102"?> 102 Barbara Becker-Cantarino 71 Sternheim, S. 307. 72 Wenn aber der Roman ganz aus der Abhängigkeit von Männern und der »moralischen Überwachungsgesellschaft der Aufklärung« her gesehen interpretiert wird, und nur die Gestaltung des Bösen, der »Phantasiesünden« als bereichernd, wichtig und ungewöhnlich deklariert werden, bleibt der religiöse Hintergrund dieses Prüfungsromans unverstanden. Naumann: Das Fräulein und die Blicke, S. 507. Zweifel und psychologisches Einfühlungsvermögen (auch in andere) im Sternheim-Roman. Auch die männlichen Charaktere sind psychologisch realistisch motiviert, vornehmlich Lord Derby durch Skrupellosigkeit, Eifersucht und Selbstgefälligkeit, Lord Seymour durch Schwermut, Gedankentiefe und Verletzbarkeit. Seymour ist ein tragisch-melancholischer Liebhaber wie Werther vor Werther, nur ist die Erzählperspektive völlig anders: Seymour steht nicht im Mittelpunkt des Geschehens, seine Geschichte ist nur insofern entwickelt, als sie die Sternheim betrifft - so wie Lotte Anstoß und Objekt für Werthers Geschichte ist. La Roche erzählt aus der Perspektive der Sophie Sternheim, die in der Episode im ›schottischen Bleygebürge‹ am Tiefpunkt ihrer äußeren Existenz anlangt, als ihr Glaube und ihr Ich zerstört zu werden drohen. Aber kraft des imaginierten Bildes der Freundin, ihres Schreibens und ihrer Erziehungstätigkeit - alle gehen zusammen mit ihrem Glauben an Gott - gelingt Sophies Selbstheilung. Hier steht nicht ein Prozess von Individuation und Zerstörung am Horizont der Sternheim-Fiktion, wie er als Selbstmord nur drei Jahre später von Goethe im Werther thematisiert wurde, sondern ein - angesichts der an der narrativen Oberfläche als aussichtslos dargestellten Lage der Protagonistin - emotionales und religiöses Selbstrettungsprojekt. Diese (Re-)Konstitution der Protagonistin in und durch Freundschaft strukturiert die Ich-Beschaffenheit in den fiktionalen Texten La Roches und trägt sie als latentes, religiöses Sinngefüge. Als die Heldin dem sicheren Tod entgegenzugehen scheint, rekurriert sie auf das Schreiben eines Tagebuchs und fährt fort: Diese Blätter sollen dir [Emilia] geweihet sein! Von Jugend auf ergossen sich meine geheimsten Empfindungen in dein treues zärtliches Herz; der Zufall kann diese Papiere erhalten, sie können dir noch zukommen. 71 Das Schreiben am Ort des Todes rettet die Sternheim, ist essentielle Konstitution ihres Ich, wie sie sich schon durchgängig im Schreibakt (als Briefschreiberin) manifestiert hat. Dazu kommen ihre für die Romanfiktion nicht zu unterschätzenden sozialen Aktivitäten (hier ihre freiwillige, kreative und religiöse Fürsorge für die Köhlerfamilie und deren Pflegekind, durch die sie das Vertrauen ihrer Bewacher gewinnt und ihr Überleben ermöglicht) und ihr Glaube. 72 So konstituiert sich die Person der Sophie von Sternheim also im Wesentlichen in drei weltlichen Aspekten: in der aktiven, sozialen Tätig- <?page no="103"?> 103 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 73 Diese Ich-Konstitution scheint mir die psychologische Interpretation von Ehrich-Häfeli: Individualität als narrative Leistung, und ähnlich in: Die Syntax des Begehrens, völlig zu übersehen, da sie weder historisiert noch den Generationen- und die Gender-Differenz beachtet, der in beiden Roman sich an allen Figuren manifestiert und auch Position von La Roche und Goethe mit bestimmt hat. 74 Maurer: Das Gute und das Schöne, betont an der literarischen Produktion La Roches die ›Nützlichkeit‹ der Aufklärungsliteratur. 75 Das utopische Ende des Sternheim-Romans unterscheidet sich besonders in der Situation der Frau vom Ausgang von Rousseaus Nouvelle Héloïse: zwar erlischt die Rivalität zwischen Julies Ehemann und ihrem Liebhaber, der nun zum Erzieher der Kinder wird, aber Julie hat sich mit ihrer Ehe den Wünschen des Vaters und der Gesellschaft geopfert; sie stirbt an diesem Opfer - wobei die Männer dann frei über die Kinder verfügen und ihr eigenes Leben ohne Julie fortsetzen können. Dagegen hat La Roche das Motiv der rivalisierenden Männer, die zu einem freundschaftlichen Vergleich (oder Verzicht) kommen, ohne Aufopferung der Frau dargestellt, und sogar durch das bewusste Handeln der Frau und durch ihre Vermittlung in einem partnerschaftlichen Verhältnis aller Beteiligten (Freundschaft) zu lösen versucht. 76 Sternheim, S. 349. keit, im Akt des Schreibens und in der Vergegenwärtigung der anderen, der Freundin. Gemeinsam ist diesen drei Aspekten ein Glaube und zentrales Ethos, das mit dem Begriff ›Seelenfreundschaft‹ auch als Zeichen einer höheren, göttlichen Ordnung bezeichnet werden kann. 73 Die Fiktion La Roches zeigt die Spannung zwischen einer noch pietistischen Frömmigkeit und dem Autonomiestreben des Individuums, hier einer Frau, die pietistischen Glauben und Autonomiebestrebungen zu vereinigen sucht. 74 Herrschafts- und Besitzanspruch auf Frau und Kind, Frauenopfer, 75 Rivalität und Konkurrenz sich gegeneinander abgrenzender Individuen, die Kennzeichen der europäischen Leistungs- und Individualgesellschaft, wie sie im Werther so deutlich in Erscheinung treten, sind in der Sternheim auch bei den Männern in einen »Enthusiasmus der Wohltätigkeit« sublimiert und in »lebendige Empfindung des Edlen und Guten« umgesetzt worden. 76 Goethe bezeigte wohl Interesse am Sternheim-Roman in den Jahren vor der Abfassung des Werther, ohne jedoch La Roches Erzählmuster weiter zu entwickeln. Er setzte sich vielmehr davon ab. Goethe verabsolutierte die Subjektivität des Individuums, des schreibenden Ich, indem er die gesamte Welt nur durch Werthers Brille erfahrbar machte, was sich schon in der einseitigen Richtung aller Briefe an den (blassen) Freund, dem alter ego Werthers, ausdrückt. Das Ich ist jedoch narzisstisch in seiner eigenen Subjektivität und Individualität verfangen; es kreist nur um das eigene Erleben und Leiden, um sich in sein Ich zu verlieren. Während La Roche ihre Sternheim sich einem Netz von zwischenmenschlichen, freundschaftlichen Bindungen, von denen sie mitgetragen wird und in denen ihr Ich sich erst manifestiert, konstituieren lässt, entwickelt Goethe den empfindsamen Menschen in <?page no="104"?> 104 Barbara Becker-Cantarino 77 Aus den zahllosen Interpretationen zum Werther sei hier nur auf Meyer-Kalkus: Die Krankheit, verwiesen. 78 Hierzu u.a. Nusser: Unterhaltung und Aufklärung. - Die Trivialliteratur-Debatte scheint endgütig passé zu sein ebenso wie die vom Autonomiebegriff der Klassik. 79 Schiller: Werke, Nationalausg., Bd. 24, S. 149, Brief an Körner vom August 1787. 80 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 124-126. Werther weiter als leidenschaftlich liebenden Mann, dessen Leiden - an sich, seiner Liebe, anderen Menschen, der Gesellschaft, des Lebens überhaupt - sich in eine Krankheit zum Tode wandelt. 77 Goethe konnte als Autor Werthers Individuation in seiner dichterischen Phantasie unbegrenzt entfalten, ohne wie La Roche auf eine moralische und philosophisch-literarische Wesensbestimmung (der Protagonistin Sternheim als Frau) festgelegt zu sein. Es ist diese poetische Freiheit des männlichen Autors und Subjekts im 18. Jahrhundert, die die Fiktion eines Werther von der einer Sternheim wesentlich unterscheidet. Schon Wieland hatte La Roche und den Sternheim- Roman auf die Tugendliteratur für Frauen verwiesen, damit die didaktische Wirkung bestärkt aber zugleich die erzählerischen, literarischen Qualitäten herabgesetzt. Als die Schöne Literatur im späten 18. Jahrhundert von der Kritik immer mehr nach inhärent ästhetischen Kriterien und weniger nach ethisch-moralischen Aspekten beurteilt wurde, ging La Roches fiktionales Werk unter den Etiketten ›Erziehung zur Tugend‹ oder ›Frauenliteratur‹ in die Literaturgeschichte ein. Es wurde als ›Trivialliteratur‹ aus der modernen Perspektive autonomer, kreativer Individualitätskonzeptionen und in der Ablehnung jeglicher Didaktik und Moral verengend gesehen und abgewertet oder als ›nicht ästhetisch‹ abgeurteilt. 78 Wessen Ästhetik ist hier gemeint? ›Empfindsam‹ wurde wie auch in der englischen Literatur immer mehr zu einer Bezeichnung für Frauen mit ›Romanen‹ oder Liebschaften, wie Schiller 1787 über Weimar bemerkte: »Die hiesigen Damen sind ganz erstaunlich empfindsam, […] keine, die nicht eine Geschichte hätte oder gehabt hätte.« 79 Der Geschlechtscharakter der Frau wurde als empfindsam propagiert; »Empfindsamkeit als psychische Mitgift der Frau in die Ehe eingebracht«, wurde als »Voraussetzung für privates Glück, als Basis für sympathetische Geselligkeit und Friedfertigkeit« betrachtet, wurde »nur als ›privat-intime‹ Qualität« toleriert. 80 Im Feld der sozialen Orientierungsmuster konnte Empfindsamkeit nicht die ausgezeichnete Stellung über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus halten. Schon in den 1790er Jahren ließen die Revolutionsgräuel und Kriege die Darstellung von Zärtlichkeit, Güte und Mitgefühl und eine optimistische Menschenkonzeption vollends irreal und unzeitgemäß erscheinen. Die Karikatur und die modischen Auswüchse, die als ›Empfindelei‹ bezeichnet und als Heuchelei gewertet wurden, trugen zur weiteren Abwertung von Empfindsamkeit bei. Goethes ›sentimentale Sandsäckchen‹ spiegeln die <?page no="105"?> 105 Sophie von La Roche und Johann Wolfgang von Goethe 81 Es sei erwähnt, dass Wegmann mit einer nachdenklich-positiven Position zur Empfindsamkeit (als »essentielles Orientierungsmuster«, S. 133) schließt und Garber/ Szell: Das Projekt der Empfindsamkeit, differenzierte Diskussionen bringen. 82 Sauder: Empfindsamkeit, S. 307-338; Pikulik: Die Mündigkeit des Herzens, S. 9-31; Anz: Emotional Turn. kulturellen Vorurteile gegen mit Frauen assoziierte Emotionen - und die Abwertung besonders der (alten) Frau im Herrschaftsanspruch des Mannes. Während vor einigen Jahrzehnten die Empfindsamkeit als Epochenbezeichnung in einigen Literaturgeschichten zugunsten von Sturm und Drang und Genieperiode völlig vereinnahmt worden ist, 81 hat die neueste Forschung die Epoche der Empfindsamkeit und die Einfühlungsästhetik im Zuge eines emotional turn endlich wieder in den Blick genommen und das kulturhistorische Verständnis für diese Epoche gefördert, nachdem Emotionen, Einfühlung und identifikatorische Literatur und Lesen lange als hoffnungslos antiquiert galten. 82 <?page no="106"?> 1 Schneider: Naturerfahrung und Idylle in der deutschen Aufklärung, S. 289-315, hier S. 301. 2 Vgl. dazu etwa Mary Montagu (1718): »Ich habe im Sinne, morgen abzureisen, um über die fürchterlichen Alpen zu gehen, von denen man so viel spricht«. Montagu: Briefe der Lady Marie Worthley Montague während ihrer Reisen in Europa, Asia und Afrika, S. 254. 3 Haller: Die Alpen, in: Die Alpen und andere Gedichte, S. 3-22, hier S. 15, Vers 317-320. Erdmut Jost ›Rationalistische Exegese‹. Sophie von La Roches Haller-Rezeption im Tagebuch einer Reise durch die Schweitz (1787) und ihre Auseinandersetzung mit der ästhetischen Kategorie des Erhabenen Mit Albrecht von Hallers 1732 veröffentlichten Alpen tritt »die ›erhabne‹ Natur ins literarische Bewusstsein der deutschen Aufklärung«, 1 wird erstmals die Schönheit einer Landschaft entdeckt, die vordem nur geeignet war, Schrecken und Abscheu zu erregen. 2 Im Zentrum des in der Tradition der klassizistischen Lehrdichtung verfassten Textes steht allerdings nicht die Natur, sondern der Mensch, der von ihr geprägt ist. Haller entwirft ein ideales Gesamtbild der idyllischen Enklave Schweiz, ein Tempetal, das die Übereinstimmung von menschlicher Vernunft und göttlicher Ordnung widerspiegelt. Als einer der ersten spricht der Autor den späteren Topos aus, dass die Abgeschiedenheit und Kargheit der Natur der Schweiz ›natürliche‹ und ›freie‹ Menschen hervorbringe. Naturschönheit bzw. -erhabenheit besitzt hierbei keinen Eigenwert, sondern wird im Sinne physikotheologischer Anschauungen vor allem über ihre Nutzbarkeit für den Menschen definiert: Allein der Himmel hat dies Land noch mehr geliebet, Wo nichts, was nötig, fehlt und nur, was nutzet blüht; Der Berge wachsend Eis, der Felsen steile Wände Sind selbst zum Nutzen da und tränken das Gelände. 3 Selbst in den berühmt gewordenen Versen 321-360, die vordergründig einen Gipfelblick auf die ausgebreitete Gebirgslandschaft beschreiben, schaut Haller nicht auf das individuelle Gesicht einer Landschaft - charakteristischerweise fehlt jegliche Spur subjektiven Sehens und damit auch ein erlebendes Ich - <?page no="107"?> 107 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 4 Ebd., Vers 326, S. 15. 5 Vgl. etwa Hirschfeld: Briefe über die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Schweiz, Bd. 1, S. 136-137. Vgl. dazu auch Weiss: Das Alpenerlebnis in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 55-57. 6 Vgl. Posselt: Apodemik oder die Kunst zu reisen, Bd. 1, S. 360-361. Zur Bedeutung Hallers vgl. auch Raymond: Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache, S. 12-14. 7 Brun: Prosaische Schriften, Bd. 2, S. 30-31. Vgl. auch ebd., S. 18. 8 Vgl. Hentschel: Albrecht von Hallers Alpen-Dichtung und ihre zeitgenössische Rezeption, S. 183-191, hier S. 189. 9 Haller: Die Alpen, Verse 339-340, S. 16. sondern zeigt das objektive Abbild eines Paradiesraumes, der als ein Ewiges gesetzt ist, den »Schauplatz einer Welt«. 4 Gleichwohl wurde die Landschaft der Alpen durch Hallers Gedicht bildfähig. Die rationalistische Propagierung des ›Nutzens‹ der wilden (Berg-) Natur stellte bekanntermaßen die erste Stufe auf dem Wege zu ihrer Wahrnehmung als die erhabene dar. Über das ›prodesse‹ erschließt sich der Wahrnehmungsgegenstand erst für den Betrachter: Was nützlich ist, ist gut und darf auf wohlwollende Begutachtung Anspruch machen. Gerade die Verse 321-360 liefern ein Vorbild für authentische Landschaftsbetrachtung und werden insbesondere in der Reiseliteratur bis in die 80er Jahre des 18. Jahrhunderts immer wieder zitiert. Der Text(-auszug) dient den Autoren zunächst als Ersatz für die Erfahrung der wilden Natur, für die sie noch keine eigenen Worte oder ›Bilder‹ finden. 5 Später wurde Haller, losgelöst von jedem inhaltlichen Bezug, vor allem als ›Sänger der Alpen‹, Wegbereiter eines neuen Naturgefühls, rezipiert. 6 Dies bedingte andere Rezeptionsformen als das ausführliche Zitat: In der Reiseliteratur ab den frühen 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, deren Autoren es in erster Linie um das eigene Erleben der erhabenen Landschaft geht, fungieren die Alpen als Urmutter der neuen Landschaftserfahrung. So fühlt etwa Friederike Brun angesichts des berühmten Staubbachs »ganz den klassischen Werth der wunderschönen Strophe aus Hallers Alpen, welche den Staubbach mahlt« und verortet den Text damit in der Antike der Landschaftsdarstellung. 7 Erst um 1820 endet der topische Verweis auf Haller. 8 Sophie von La Roches Bekanntschaft mit den Alpen datiert aus ihrer Verlobungszeit mit Christoph Martin Wieland. Bezeichnenderweise wählt dieser in seiner Rolle als La Roches Lehrer und Mentor Hallers Gedicht als Lehrstück in rationalistischer Regelpoetik. In einem Brief an die Verlobte vom März 1751 diskutiert Wieland die richtige Verwendung des ›Beywortes‹ (Adjektives), um eine gelungene »poetische Mahlerey« herzustellen, am Beispiel der Verse 339 und 340: 9 Eben diesen Begriff [des krummen Tals, E.J.] drükt der Hr. v. Haller ungemein schön in diesen zween Versen aus; welche eine Umschreibung jenes <?page no="108"?> 108 Erdmut Jost 10 Wieland an Sophie Gutermann zwischen Januar und März 1751, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 1, S. 13-16, hier S. 15. Es handelt sich um die Verse 339-340, Haller: Die Alpen, S. 16. 11 Wieland an Sophie Gutermann zwischen Januar und März 1751, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 1, S. 15. 12 Ebd., S. 16. 13 Schweizer Tagebuch. Ich beziehe mich auf den Brief »Lausanne, den 17ten Julii«, ebd., S. 185-189. 14 Haller: Die Alpen, S. 15, Vers 324-325; Vers 311. einzigen Beyworts sind: Bald aber öfnet sich ein Strich von grünen Thälern, die Hin und her gekrümt sich im entfernen schmälern. Da Sie oft einen langen Strich von Thälern gesehen haben werden; So werden Sie finden, daß diese poetische Mahlerey unvergleichlich gerathen ist, und unserer Phantasie den Vorwurf so lebhaft vor Augen mahlet, als ob wir ihn mit Augen sähen. 10 Gemäß der aufklärerischen Abbildästhetik funktioniert das Adjektiv als Detail des ›passendsten‹ Bildes, dergestalt, dass »an dem Plaz wo es ist kein anderes mus stehen können ohne das ganze Bild zu verunstalten«. 11 Als Comparandum oder ›Urbild‹ des sprachlichen Analogons ›poetischer Text‹ dient die Wirklichkeit selbst beziehungsweise ihr Abbild in der Vorstellung des Lesers (›Da Sie oft einen langen Strich von Thälern gesehen haben werden‹). Und Wieland führt das Postulat des mimetischen Illusionismus, dass Bilder über die richtige, die ›empirische‹ (Zentral-)Perspektive zu konstruieren seien, weiter aus: Ein ungeschikterer Nachahmer der Natur als Hr. von Haller ist, würde villeicht gesezt haben, von bunten Thälern, um die Blumen zu mahlen, womit sie geschmükt sind. Aber eben dieses würde ein unvergeblicher Schnizzer gewesen seyn. Denn da der Dichter eine ferne Aussicht beschreibt, So muste er die Thäler mahlen, wie Sie uns aus der Ferne vorkommen. Sie mögen aber so schön und bunt mit Blumen gefärbt seyn als Sie wollen, So werden Sie von ferne nicht anders als grün scheinen. 12 33 Jahre nach dieser Lektion sieht Sophie von La Roche auf dem Wege zwischen Moudon und Lausanne bei sinkender Sonne zum ersten Mal die Savoyer Alpen und meint nichts anderes, als dass sie nun dem Urbilde der Hallerschen Dichtung gegenübersteht. 13 Dabei tut es nichts zur Sache, dass in den Alpen nicht erkennbar ist, von welchem Berg aus sich »der Schauplatz einer Welt« eröffnet, die Verse zuvor legen allerdings nahe, dass er sich in der Nähe des Gotthards befindet, also weit entfernt von La Roches Standort, den sie jedoch auch nicht genauer fixiert. 14 Denn für die Autorin gilt Hallers ideale Landschaft: Ein unnennbar Gefühl von Freude durchdrang meine Seele bey dem immer stärkern Annähern gegen diese Berge und Gegenden, welche ich so viele Jahre <?page no="109"?> 109 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 15 Schweizer Tagebuch, S. 185. Hervorhebung E.J. 16 Sophie von La Roche zitiert vermutlich aus dem Gedächtnis. Für diese Annahme spricht die Orthographie sowie einige Änderungen: »erhabnen« statt »erhobnen« (Schweizer Tagebuch, S. 186; Haller: Die Alpen, Vers 335), »malt« statt »wallt« (Schweizer Tagebuch, ebd.; Haller: Die Alpen, Vers 338), »von diesem« statt »vom Eise« (Schweizer Tagebuch, ebd., Haller: Die Alpen, Vers 345) und »tausend Heerden« statt »hundert« (Schweizer Tagebuch, ebd.; Haller: Die Alpen, Vers 348). 17 Zur besseren Lesbarkeit hier die entsprechenden Verse 331-348, Haller: Die Alpen, S. 16: Ein angenehm Gemisch von Bergen, Fels und Seen Fällt und erbleicht, doch deutlich ins Gesicht, Die blaue Ferne schließt ein Kranz beglänzter Höhen, Worauf ein schwarzer Wald die letzten Strahlen bricht; Bald zeigt ein nah Gebürg die sanft erhobnen Hügel Wovon ein laut Geblök im Tale widerhallt; Bald scheint ein breiter See ein Meilen-langer Spiegel Auf dessen glatter Flut ein zitternd Feuer wallt. Bald aber öffnet sich ein Strich von grünen Tälern, die, hin und her gekrümmt, sich im Entfernen schmälern. Dort senkt ein kahler Berg die glatten Wände nieder, Den ein verjährtes Eis dem Himmel gleich getürmt, Sein frostiger Kristall schickt alle Strahlen wieder, Den die gestiegne Hitz im Krebs umsonst bestürmt. Nicht fern vom Eise streckt voll Futter-reicher Weide Ein fruchtbares Gebürg den breiten Rücken her; Sein sanfter Abhang glänzt von reifendem Getreide, und seine Hügel sind von hundert Herden schwer. 18 Schweizer Tagebuch, S. 185-186. 19 Haller: Die Alpen, S. 16, Vers 333. gewünscht, und deren Geschichte ich gelesen hatte. Menschen und Natur waren meinem Verstand bekant, und jetzo sah ich beyde vor mir. Ich dachte an des unsterblichen Hallers Verse. 15 Dem sich anschließenden Zitat der Alpen-Verse 331-348 16 geht eine kurze Beschreibung des landschaftlichen Eindrucks voraus, der in seiner Bildlichkeit deutlich dem Vorbild korrespondiert. 17 La Roche notiert: Gegen 7 Uhr erblickten wir die Spitzen des sovoyischen Eißgebürges schön beleuchtet in röthlichem Feuer, und dann den Genfer See, der bey der Windstille Spiegelglatt die lezten Strahlen unserer gemeinsamen Sonne in Silberglanz zurückwarf, und die grosen Schattenabdrücke der Berge zeigte. An den beyden Ufern hin blickten noch beleuchtete Thurm- und Schloßspitzen zwischen tausendfachen Grün hervor. 18 Den ›schön beleuchteten Spitzen‹ bei La Roche entspricht in den Alpen der »Kranz beglänzter Höhen«. 19 Die Metapher des Genfersees als Spiegel wirkt wie eine Paraphrase von Hallers Versen »Bald scheint ein breiter See <?page no="110"?> 110 Erdmut Jost 20 Ebd., Vers 337-338. 21 Ebd., Vers 339. 22 Mannheim, S. 58. Die Autorin bezieht sich vermutlich auf: Falconet: Observations sur la statue de Marc Aurèle, et sur d’autres objets relatifs aux beaux arts von 1771. ein Meilen-langer Spiegel/ Auf dessen glatter Flut ein zitternd Feuer wallt.« 20 Ein ›tausendfaches Grün‹ hier korrespondiert dem »Strich von grünen Tälern« dort. 21 Zwar beherzigt Sophie von La Roche damit die alte Empfehlung Wielands, dass Vegetation, aus der Ferne betrachtet, grün zu sein habe, aber ›perspektivisch‹ ist ihr Bild - oder besser: die Reihung von Bildern - nicht. Wie es keinen genau definierten Standort gibt, so gibt es auch keine Tiefe, das Bild bleibt Tableau. Der Dichtung kommt es zu, den landschaftlichen Eindruck wiederzugeben. Gerade angesichts der chaotischen Bergwelt bleibt der poetische Text die ›bessere‹ Wirklichkeit. Das Auge des Textes ersetzt den individuellen Blick der Autorin, weil es die Lesbarkeit (Blumenberg) auch dieser Landschaft als Abbild oder Spiegel der göttlichen Weltordnung garantiert. Hallers gezeigtes Bild verdichtet das Übermaß von disparaten Eindrücken der realen Natur zur idealen Landschaft. La Roche selbst hat dieses rationale Grundprinzip in einer Paraphrase von Falconets Definition in den Briefen über Mannheim von 1791 folgendermaßen zusammengefasst: Ideal ist die Vereinigung des Schönen, welches in verstreuten Zügen bald hie, bald da vor unser Auge kommt. Wie hohe und grosse Gefühle der Seele, und moralische Thaten auch zerstreut in der Menschheit liegen, und uns durch Erzählen - Lesen und eigene Empfindungen eingeprägt werden - die erste durch den Maler auf der Leinwand - andre durch den Bildhauer in Marmor, wie durch den Dichter in seinen Schriften, verbunden werden. 22 Gegenüber der eigenen, subjektiven Ansicht der Natur bietet der als Ideal begriffene Text den Vorteil der von der Aufklärung gewünschten unmittelbaren Evidenz und damit der bestmöglichen Wirkung auf den Leser. Diese wird gerade deshalb erreicht, weil sich mit Hilfe des Prätextes das gesamte Bedeutungsspektrum der literarischen Landschaft wiedergeben lässt. Da es der Aufklärung in erster Linie um den Menschen ging, dient die Natur vor allem als Reservoir für moralisch-didaktische Exempel. Neben dem zitierten beziehungsweise paraphrasierten Landschaftseindruck bringt La Roche darum als zentralen Punkt aus der lehrhaften Argumentation der Vorlage den Nutzengedanken ins Spiel: Diese Gebürge haben Größe, Macht, und Wohlthätigkeit in sich vereint; denn die, welche ewigen Schnee und Eiß tragen, geben auch unsern Flüssen ewig Wasser. Andre sind mit nährendem Gras für tausend Heerden bedeckt; andre <?page no="111"?> 111 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 23 Schweizer Tagebuch, S. 188. 24 Haller: Die Alpen, S. 19-21: Im nie erhellten Grund von unterirdschen Grüften Wölbt sich der feuchte Ton mit funkelndem Kristall, Der schimmernde Kristall sproßt aus den Klüften […]. (Verse 405-407) Des Berges hohler Bauch, gewölbt mit Alabaster, Schließt zwar dies kleine Meer in tiefe Schachten ein; Allein sein ätzend Naß zermalmt das Marmor-Pflaster […]. (Verse 425-427) Der Berge reicher Schacht vergüldet ihre Hörner Und färbt die weiße Flut mit königlichem Erzt, Der Strom fließt schwer von Gold und wirft gediegne Körner […]. (Verse 435-437) 25 Bei Haller spielte die Gefährlichkeit der Natur 1732 noch keine Rolle, vielmehr inszenierte er die rauhe Bergwelt der Alpen in erste Linie, wie dargestellt, als nützliche Lebensgrundlage, sowie als Schutz- und Trutzburg eines als ideal begriffenen Volkes (Haller: Die Alpen, S. 5, Verse 51-54): Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen, Allein Dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt; Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen, Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind […]. 26 Schweizer Tagebuch, S. 188. mit Waldung, und aus ihrem Schooß geben sie edle und unedle Metalle, Chrystall und Marmor; alle sind auf ihren Höhen mit reiner Luft begabt. 23 Wiederum wirkt ihr Text wie eine Paraphrase Hallers. »Tausend Heerden« stellt ein wörtliches Zitat dar, die Aufzählung der Bodenschätze erscheint als Zusammenfassung verschiedener Verse aus den Alpen. 24 La Roches Rezeption oder besser: Exegese der Vorlage weicht jedoch insofern vom Original ab, als die Autorin 1787, anders als Haller 55 Jahre zuvor, nicht ohne die Thematisierung der mittlerweile etablierten Ästhetik des Erhabenen auskommt, für welche der reale Schrecken der Natur konstitutiv ist. 25 Damit jedoch stellt sich für La Roche das Problem, wie das Sublime (und damit auch das ihrer Vorstellungswelt nach ›Böse‹) - erstens - in das übergeordnete Konzept einer a priorisch gesetzen Harmonie von göttlicher ordo und menschlicher ratio zu integrieren sei, und wie es - zweitens - mit der eigenen Tugendästhetik zur Deckung gebracht werden könne, die auf der Überzeugungskraft allein des moralisch Guten basiert. Mit ihren Überlegungen zum Erhabenen knüpft die Autorin wiederum beim Gedanken der Nützlichkeit an. Direkt im Anschluss an die oben zitierte Stelle heißt es: »Aber von alle dem wissen [die Berge] nichts, so wie sie auch von dem Grausen nichts fühlen, den ihr Einsturz bey den Menschen erregt«. 26 <?page no="112"?> 112 Erdmut Jost 27 Ebd. Hervorhebung E.J. 28 Schweizer Tagebuch, S. 187-188. 29 Burkes A philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, die als Initialzündung der Entwicklung der Ästhetik des Erhabenen im 18. Jahrhundert wirkte, erschien erstmals 1757. 30 Haller: Die Alpen, S. 15-16: So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt […]. (Verse 324-325) Ein sanfter Schwindel schließt die allzu schwachen Augen, Die den zu breiten Kreis nicht durchzustrahlen taugen. (Verse 329-330) Auf diese Weise gelangt zunächst die von Haller ausgesparte Gefährlichkeit der Natur in den Text. Wenig später folgt dann der typische ›moralische‹ Vergleich: »Ich möchte nicht wie diese Gebürge bloß ein Gegenstand der Bewunderung seyn; es ist mir angenehmer, den Geist zu haben, der alle andre Güter dieses Lebens zu schäzen und zu lieben weiß«. 27 Mit der antithetischen Setzung ›Gebirge als vernunft- und gefühllose Gebilde‹ - ›vernunft- und gefühlsbegabte Menschheit‹ erhält La Roche die für sie notwendige Abbild- oder Spiegelfunktion der Natur aufrecht. Ihre ›Erfahrung‹ des Naturerhabenen will, im Gegensatz zum damals gängigen Verständnis, nicht auf die prinzipielle Differenz von Mensch und Natur hinaus, sondern zeigt im Gegenteil ihre Übereinstimmung, eine wohlgeordnete Welt, in der Schöpfung und Schöpfer zwar verschiedenen Sphären angehören, aber dennoch miteinander harmonieren. »Diese Gebürge und der herrliche See«, schreibt La Roche, waren mir majestätische Söhne der Schöpfung, welche ich mit eben so viel Ehrfurcht als Freude betrachtete. Es war ein erquickender Anblick für mein Herz; denn so lang ich deutlich denke und fühle, haben grose Gebürge immer mit einem Einfluß von Stärke auf mich gewürkt. Sie erniedrigen mich nicht diese mächtigen Geschöpfe, im Gegentheil finde ich mich erhöht, wenn ich bey ihrem Anblick an unsern gemeinsamen Urheber denke, der mir zerbrechlichem Wesen eine unsterbliche Seele gab. 28 Die erhebende Wirkung der Natur tritt hier ohne das ›gemischte Gefühl‹ der Angstlust, den Burke’schen beautiful horror, 29 ein der für das Erhabene als ›Phänomen des Übergangs‹ unabdingbar ist: Erst aus dem Gefühl der Überwältigung der sinnlichen Vermögen angesichts des unfassbaren Naturgegenstandes resultiert Erhebung als die Einsicht in die Überlegenheit des menschlichen Geistes. Die Autorin verzichtet denn auch auf das Zitat jener Verse, die in den Alpen unmittelbar dem Gipfelblick vorangehen und in denen zumindest ansatzweise das ›gemischte Gefühl‹ anklingt. 30 Stattdessen macht La Roche deutlich, dass sie schon immer ein Gefühl der Stärke und Unsterblich- <?page no="113"?> 113 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 31 Ebd., S. 260. 32 Brun: Prosaische Schriften, Bd. 1, S. 205. 33 Ebd., S. 281. 34 Ebd., S. 278. keit beim Anblick von Gebirgen empfunden habe, dass die Spiegelung ihrer selbst in der ›großen‹ Natur eine natürliche, ewige Konstante ihrer (und damit allgemeinmenschlicher) Welterfahrung sei. Darüber hinaus bestätigt die unbeseelte große Natur einmal mehr den moralischen Vorzug des beseelten Menschen. Zwischen La Roches Fassung des Erhabenen und seiner Behandlung durch Nachreisende und Nachschreibende besteht somit ein grundsätzlicher Unterschied, wie der Vergleich einer anderen Passage aus der Schweizreise mit den zwölf Jahre später veröffentlichten Prosaischen Schriften Friederike Bruns zeigen kann. Beide Autorinnen befinden sich am identischen Ort, dem Chamonix-Tal, einem der kanonischen Schauplätze der Schweiz, beide beschreiben das Montblanc-Panorama. La Roche notiert: Ich […] sah mich mitten unter diesen staunenden Geschöpfen, und fühlte, daß wir erst in einer andern Welt über sie erhaben, sie ganz sehen, und mit den andern Wundern der Schöpfung ihre Natur und Bestimmung erkennen werden. Ich fühlte mich näher bei diesen obern Gegenden, meine Seele war bewegt und durchdrungen. Gefühle der Anbetung, wie man sie sonst nirgends fühlen kan, Liebe gegen seinen Urheber, feyerliche Freude über Unsterblichkeit, Vergessen alles erlittenen Wehes, Vergebung alles Unrechts, liebreiches Uebersehen aller Unvollkommenheiten, waren Gesinnungen, die mich durchdrangen. Ich dachte, des Glücks unwürdig zu seyn, das ich genoß, wenn ich nicht meine Seele dem Himmel so rein zeigte, wie die Luft, welche ich athmete. 31 Für Sophie von La Roche ist die Erfahrung des Erhabenen als Übergang nur jenseitig möglich, der göttliche Gesamtplan der Schöpfung kann vom Menschen erst nach dem physischen Ende, in der Transzendenz, erkannt werden. Die Gebirge erheben den Betrachter, indem sie ihn buchstäblich dem Himmel näherbringen, die Seele von allem Irdischen reinigen und ihr eine Vorstellung von der künftigen moralischen Vollkommenheit des Paradieses vermitteln. Demgegenüber beschreibt Brun genau die gegenteilige, nämlich eine diesseitige Erfahrung des Erhabenen, wenn sie kategorisch feststellt: »Denn in Chamouni [umfasst] der unsterbliche Geist kühn auch die erhabenste Gegenwart«. 32 Brun fühlt sich »nie göttlicher als jetzt«, 33 mühelos verfolgt ihr Auge den »ungeheuern Raum von dem schwarzen Abgrund, in dem [der] Fuß [des Montblanc] wurzelt, bis in die Wölbung des Himmels, den sein Haupt zu stützen scheint«. 34 <?page no="114"?> 114 Erdmut Jost 35 Brun: Tagebuch einer Reise durch die östliche, südliche und italienische Schweiz, S. 454. 36 Vgl. Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 342. 37 Vgl. Schiller: Über das Erhabene, in: Werke, Nationalausg., Bd. 21, S. 38-54, hier S. 38-39. 38 Schweizer Tagebuch, S. 257. 39 Vgl. Schiller: Vom Erhabenen, in: Werke, Nationalausg., Bd. 20, S. 185. Während La Roche auf dem Gipfel im übertragenen Sinne dem Tode begegnet, erfährt die Kollegin statt dessen gerade »die Kraft zum Leben«, wie sie im Tagebuch ihrer Schweizreise von 1800 notiert. 35 Brun wird sich angesichts der Natur ihres höheren individuellen Selbst, des poetischen Wesens bewusst, 36 das Erhabene verschafft ihr Zugang zu den idealischen, den künstlerischen Anteilen ihrer Persönlichkeit. Damit befindet sie sich im Einklang mit der Kantischen bzw. Schillerschen Fassung des Erhabenen: Sie erkennt ihre prinzipielle, im Leben verwirklichte Freiheit vom Naturzwang. 37 Für La Roche dagegen sind »aller Stolz der Welt, alles, wovon wir eine grose Idee hatten« 38 , angesichts der Transzendenz nichtig, Götterblicke auf die Natur wären reine Anmaßung. Während Brun derart der Landschaft die Augen zuwendet - ihre Reisebeschreibungen bestehen zum größten Teil aus der reinen Darstellung der betrachteten Natur - prallt La Roches Blick vor ihr zurück. Die bereits zubereitete, ästhetisch wie moralisch genießbare Landschaft des rezipierten Vorbildes ersetzt das eigene Bild des Gesehenen. Mittels des Naturerhabenen den Übergang zu vollziehen von einem nur durch Gott ausgezeichneten zu einem individuellen Größenselbst würde in La Roches von der Frühaufklärung geprägten Vorstellungswelt bedeuten, ihr universales Bezugsmodell einer prästabilierten Ordnung von ›oben‹ und ›unten‹ aufzugeben. Damit aber geriete die Statik, der Ewigkeitscharakter des Modells buchstäblich in Bewegung, die Grenzen würden verschwimmen, und es wären keine Analogieschlüsse zwischen ›physischer‹ und ›moralischer‹ Welt mehr möglich. Die Vermeidung des eigenen Landschaftsblickes durch die Rezeption von Hallers Alpen bedeutet mithin auch den bewussten Ausschluss einer bereits virulenten subjektiven Ästhetik, die La Roches eigenen Plan in den Reisebeschreibungen wie im Gesamtwerk, nämlich nur das moralisch Gute zu zeigen, gefährdet hätte. Für die Rationalistin La Roche liefert das massive Auftreten erhabener Landschaftserfahrung in der Literatur und Ästhetik seit den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts ein beunruhigendes Zeugnis der Devianz, des Niedergangs moralischer Kultur, während Schiller und Kant, genau konträr, im Erhabenen den Beginn derselben verorten. 39 In diesem Sinne beschwört die Autorin vier Jahre nach dem Bericht der Schweizreise in den Briefen über Mannheim noch einmal ihr gesellschaftliches Ideal, als dessen Antagonist das Erhabene inszeniert wird: Schimmerndes liebes Bild des Lebens der Ordnung, und Harmonie mit den Absichten des Schöpfers! Warum folgten dir, die schwarzen Schatten des <?page no="115"?> 115 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 40 Mannheim, S. 297. 41 Ebd., S. 297-298. 42 Ebd., S. 297. 43 Zu La Roches Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Schriften zum Erhabenen vgl. auch Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 345-347. 44 Ebd., S. 298. 45 Schweizer Tagebuch, S. 188. 46 Vgl. Haller: Die Alpen, S. 22, Verse 461-462: Dort spielt ein wilder Fürst mit seiner Diener Rümpfen, Sein Purpur färbet sich mit lauem Bürger-Blut […]. 47 Tagebuch einer Reise durch Holland und England. Offenbach: Weiss & Brede 1788. Verderbnisses, der Unbändigkeit und Ungenügsamkeit! wer sollte sagen, daß die von so viel guten Lehrmeistern bewillkommte und ausgebildete Menschen […] nach und nach ausarten? 40 Unverkennbar klingt Kants berühmte Definition von Aufklärung als ›dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ an, gerade auch, wenn La Roche fortfährt, dass die Menschheit in der Bevorzugung des Sublimen, welches sie auch das »Verwirrte«, »Ausschweifende«, »Närrische«, oder das »Böse« schlechthin nennt, 41 »von den mühsam errungenen schönen Höhen der wahren Kenntnis […] durch einen unwiderstehlichen Hang […] zu den abgeschmacktesten Dingen« herabstürze. 42 Damit wird Kant, der ›Vater‹ der Aufklärung, als Theoretiker des Erhabenen 43 gleichzeitig für ihr »moralisches Absterben« verantwortlich gemacht. 44 Für La Roche existieren nur zwei Umgangsweisen mit der erhabenen Natur: Ruhige Kontemplation wie in der hier bereits beschriebenen Quasi- Jenseits-Erfahrung oder moraldidaktisch-vergleichende Ausdeutung. So dienen ihr am Schluss der Haller-Rezeption im Schweiztagebuch die trotz Nützlichkeit dennoch angstgebietenden Berge zum Negativexempel. Denn die ›bewusstlose‹ Gefahr der Berge korrespondiert, der Autorin nach, schlechten menschlichen Regierungen. Ein Bergsturz, schreibt sie, »geschieht aber auch oft unter den grosen moralischen Wesen der Erde, wenige Fürsten scheinen die Macht des Wohlthuns, oder die Wirkungen ihres Unmuths zu kennen«. 45 Für diese Reflexion existiert in den Alpen kein Äquivalent, Haller hatte statt dessen im Gegenteil Fürstenwillkür als Kontrastfolie zum natürlichen und freien Volk der Bergwelt gesetzt. 46 La Roches Bearbeitung der Alpen stellt somit keine bloße Paraphrase des Vorbildes dar. Ihre ›rationalistische Exegese der Landschaft‹ ist vielmehr eine Form der kreativen Rezeption, bei der die Vorlage durch Auswahl, Kommentar und Interpretation den eigenen Darstellungszielen angepasst wird. Nur ein Jahr später sollte sie, im Tagebuch einer Reise durch Holland und England, 47 das auf Haller angewendete Verfahren verfeinern. In der Rezeption von Alexander Popes Windsor Forest griff La Roche nun auch direkt in den <?page no="116"?> 116 Erdmut Jost 48 Vgl. Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild, S. 155-167. 49 Mannheim, S. 21-22. 50 Ebd., S. 363. 51 Vgl. Jost: Wege zur weiblichen Glückseligkeit, S. 122-153. 52 Goethe: Konzept eines Briefes an Schiller vom 12.-14.8.1797, in: Schiller: Werke, Nationalausg., Bd. 37,2, S. 146 (Anmerkungen zu Brief Nr. 100). 53 Vgl. Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Werke, Akademie-Textausg., Bd. 2, S. 205-256, hier S. 211, 213, 215, 217, 220-222. zitierten Text ein, den sie im Hinblick auf die eigene originäre Erfahrung der Landschaft und ihrer Bewohner umschreibt. 48 Zu einer subjektiven, jeglicher literarischen beziehungsweise moralischen Gehalte entkleideten Beschreibung der Landschaft, wie sie sich in der Reiseliteratur um 1800 endgültig durchgesetzt hatte, fand La Roche jedoch nicht mehr. Wie oben dargestellt, kann die Autorin mit dem Naturerhabenen, das sie mit Unvernunft und Unmoral assoziiert, wenig anfangen, gleichwohl durchzieht die Auseinandersetzung mit dem Erhabenen das gesamte Werk. Innerhalb ihrer Tugendästhetik nimmt, der aufklärerischen Präferenz für den Menschen getreu, der moralisch erhabene Charakter eine zentrale Stellung ein. Da La Roche an eine Identität des Wahren, Guten und Schönen glaubt, »echtes Kunstgefühl von jedem gutem Gefühl unzertrennlich« zu sein hat, 49 kann nur derjenige Kunst hervorbringen, der moralisch über jeden Zweifel buchstäblich erhaben ist. Ihr Œuvre verfolgt deshalb immer ein doppeltes Ziel. Zunächst geht es um die Erstellung einer, man könnte sagen, ›Weltkarte des Guten‹, die Sammlung und Präsentation aller »Gattung Kenntnisse, alle Art Mühe, Verdienst und Glück« des Menschen, 50 wie es in den Briefen über Mannheim heißt. Sowohl in der Fiktion als auch in den Reisebeschreibungen entwickelt La Roche ein Panorama menschlicher Vollkommenheiten, wobei immer, im Sinne ihres Frauenbildungsanspruches, weibliche Mustergestalten im Vordergrund stehen. 51 Die Stereotypie dieser Tugenddarstellungen hat der Autorin später von Seiten Goethes, Schillers und Herders den Vorwurf einer unverändert sentimentalen »Manier« eingebracht, welche »durch Zeit und Jahre immer leerer und unerträglicher« werde. 52 Ein Verdikt, das in Teilen der Forschung bis heute nachwirkt. Dabei übersieht man jedoch, dass sich die Schilderung weiblicher Ikonen, wie ich sie nennen möchte, aller Wahrscheinlichkeit nach an ein ganz bestimmtes Vorbild anlehnt, nämlich Kants Fassung des erhabenen Charakters in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Die dort aufgezählten Merkmale sowohl des äußeren Ansehens - hohe Gestalt, schlichte Kleidung, Blässe, schwarze Augen - wie der inneren Eigenschaften - ausgebildeter Verstand, Wahrhaftigkeit, Mitgefühl, Selbstachtung, vorzügliches Gefühl für die Kunst, moralischer Enthusiasmus sowie besondere Befähigung zur Freundschaft, 53 geben genau das Programm <?page no="117"?> 117 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 54 Ebd., S. 216. 55 Ebd., S. 232. 56 Ebd., S. 230. 57 Ebd., S. 241. 58 Karin Hausen definiert den Begriff ›Geschlechtscharakter‹ als »eine Kombination aus Biologie und »Bestimmung«, welche aus »der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere des Menschen verlegt« wird. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 363-393, hier S. 369. 59 »Im ästhetischen Sinnes-Urteile ist es diejenige Empfindung, welche von der empirischen Anschauung des Gegenstandes unmittelbar hervorgebracht wird, im ästhetischen Reflexionsurteile aber die, welche das harmonische Spiel der beiden Erkenntnisvermögen der Urteilskraft, Einbildungskraft und Verstand im Subjekte bewirkt, indem in der gegebenen Vorstellung das Auffassungsvermögen der einen und das Darstellungsvermögen der andern einander wechselseitig beförderlich sind, welches Verhältnis in solchem Falle durch diese bloße Form eine Empfindung bewirkt, welche der Bestimmungsgrund eines Urteils ist, das darum ästhetisch heißt und als subjektive Zweckmäßigkeit (ohne Begriff) mit dem Gefühle der Lust verbunden ist«. Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 170-232, hier S. 201-202. wieder, nach dem La Roche unzählige fiktionale, aber eben auch nonfiktionale weibliche Charaktere gestaltet hat. Allerdings mit einer entscheidenden Abänderung: Sie überträgt die von Kant ausschließlich für das männliche Geschlecht entwickelte Konzeption des erhabenen Charakters auf das weibliche. Nach Kant sind Frauen der »wahren Tugend« 54 oder moralischen Erhabenheit nicht wirklich fähig, weil sich ihr Denken und Handeln nicht auf Grundsätze stützt. 55 Im Gegensatz zum ›tiefen‹, das heißt, erhabenen Verstand des Mannes erfasst der ›schöne‹ der Frau nur die gefällige Oberfläche der Dinge. 56 Während seine Erhabenheit produktiv wird beispielsweise in der Kunst, zeigt sich die ihre, wie Kant unnachahmlich formuliert, »nur darin, daß sie diese edle Eigenschaften [des Mannes] zu schätzen weiß«. 57 An dieser Stelle wird deutlich, dass die ästhetische Kategorie des Erhabenen im 18. Jahrhundert nicht nur der Erfassung weiträumiger Natur diente, sondern vor allem auch, wie schon am Beispiel Friederike Bruns gezeigt, ein Modell der, mit Schiller gesprochen, ›ästhetischen Erziehung‹ des Menschen zur moralischen Kultur und damit zur Kunstproduktion darstellte. In der Erfahrung des Erhabenen erwirbt der Mensch - hier: der Mann - das Vermögen der reflektierenden Urteilskraft, Voraussetzung aller künstlerischen Tätigkeit, während die Frau, welche zu dieser Entwicklung aufgrund ihres Geschlechtscharakters 58 nicht fähig ist, auf der Seite des Schönen festgebannt bleibt und nur das - rein rezeptive - ästhetische Sinnesurteil vollziehen kann. 59 Wenn daher La Roche mit ihren weiblichen Ikonen im Kantischen Sinne genuin erhabene Charaktere gestaltet, dann übertritt sie die Geschlechtergrenzen und beansprucht grundsätzliche ästhetische Autonomie. <?page no="118"?> 118 Erdmut Jost 60 Mannheim, S. 88. 61 Später sollte Sophie von La Roche in einem anderen, noch stärker poetologisch orientierten Text ausführlicher auf d’Alembert zu sprechen kommen, in den Briefen an Lina als Mutter (1795). 62 Schweizer Tagebuch, S. 285. 63 Ebd. 64 Ebd. Was aber für das weibliche Geschlecht im allgemeinen gilt, gilt im besonderen für die Künstlerin La Roche selbst. Das zweite wesentlichen Ziel ihres Œuvres nämlich ist die Erforschung der eigenen erhabenen Seelenkräfte mittels der Kunst. Im Schreiben will die Autorin herausfinden, wie sie in den Briefen über Mannheim schreibt, was in meiner Seele vorgeht - was für einen Gebrauch ich von ihren so bewundrungswürdigen Eigenschaften machte - machen sollte - wollte und noch will - welche Fähigkeiten ich am meisten benutzte und anbaute … ich will sie wirklich vornehmen diese Fragen, an mich selbst - ob es Gedächtnis, Einsicht, Urtheils- oder Einbildungskraft war. 60 Sie spielt damit auf d’Alemberts Theorie der Herkunft aller Wissenschaften und Künste aus den drei Kardinalfähigkeiten der Seele an: mémoire, raison und imagination 61 - ergänzt eben um die Kantische Kategorie der Urteilskraft. Sophie von La Roches Arbeiten fungieren so immer auch als Berichte über die eigene ›ästhetische Erziehung‹ wie als Abbilder ihres moralischerhabenen Charakters. Um fremdes Weiblich-Erhabenes, also ›Ideales im Wirklichen‹ (Schiller) anzuschauen, sind jedoch vor allem die Reisebeschreibungen geeignet. Im Tagebuch der Schweizreise schildert Sophie von La Roche einen Besuch bei der Genfer Emaillemalerin Mademoiselle Tercoux. Die Künstlerin tritt ihren Gästen selbstbewusst, »voll Gefühl ihres Werths« gegenüber. 62 Beeindruckt notiert La Roche, Tercoux besitze »die Gestalt einer Juno« und »das größte schwarze Auge, welches wir je sahen«. 63 Mit einer entschiedenen Begabung verbindet die Künstlerin die ›zärtlichste‹ Liebe zu ihrem Vater. Derart im Kern das Kantische Psychogramm des erhabenen Charakters übernehmend, geht La Roche in der Darstellung Tercoux’ aber noch weiter und attestiert der jungen Frau ein ›feuriges‹ Wesen, weil sie sich, »wie Juno, […] in einem Wettstreit ungern überwinden ließ«. 64 Bescheidenheit gehört nicht zu den Tugenden dieser Frau, dennoch ist gerade sie es, die Sophie von La Roche zu einer Reflexion inspiriert, die Einsicht in ihr eigenes Bewusstsein als erfolgsorientierte Künstlerin gewährt: Was für eine wohlthätige zauberische Gewalt liegt in den Worten und dem Ton des Beyfalls; wenn man Jahre lang wirkliche Kräfte des Geistes und Körpers an eine Thatsache verschwendete, oft Gesundheit und Vergnügen <?page no="119"?> 119 Sophie von La Roches Haller-Rezeption 65 Ebd., S. 286. 66 Mannheim, S. 200. 67 Ebd., S. 143. 68 Ebd., S. 180. dabey aufopferte; so erneut ein einziger Ausdruck des Lobes alle Lebensgeister, gießt süßen stärkenden Balsam des Glücks in die Seele, und lohnt für Harm und Mühe ruheloser Tage und Nächte. 65 Für die Darstellung der erhabenen Natur innerhalb des Konzepts einer prästabilierten Ordnung war das literarische Vorbild Haller das ›bessere‹ Bild, dem zumindest die eigene Wahrnehmung bereitwillig untergeordnet wurde. In der Schilderung der Malerin jedoch kommt es gerade auf das Selbersehen und -beschreiben, auf die Autopsie des Ideals in der Realität an. Denn durch die Gestaltung weiblicher Ikonen wollte Sophie von La Roche eine weibliche Tradition in der Kunst begründen, Leserinnen zu eigener produktiver Tätigkeit ermuntern. Ihre Thematisierung des Moralisch-Erhabenen bedeutet aber keine Aufgabe des Prinzips der Analogieschlüsse zwischen ›oben‹ und ›unten‹: Die Pointe von La Roches selbstbewusster Demonstration der ›erhabenen‹ Befähigung der Frau zur Kunst gegenüber den misogynen Ausfällen Kants, Schillers oder Grosses ist, dass sie weibliches Künstlertum der a priori gesetzten Güte, Schönheit und Nützlichkeit der Natur korrespondieren lässt und ihm somit Ewigkeitscharakter verschafft. Doch nicht nur das: Durch ihre ›natürliche‹, nicht-depravierte Tugend sind Frauen besser befähigt als Männer, moralisch wirksame Kunst hervorzubringen. Denn weil »unsere Schriften«, wie La Roche in den Briefen über Mannheim notiert, nichts »anders, als Züge unserer Seele im Denken und in Gefühlen« darstellten, 66 bringe beispielsweise ein Schiller mit seinen Dramen nur »Riesenideen« zum Ausdruck, »Umstände und Leidenschaften, die das Herz zerreißen« und »neue Ungeheuer« erschüfen, anstatt »die alten auszurotten«. 67 Frauen dagegen trachteten stets danach, »immer den Standpunkt zu behalten, in welchem […] alles gefällig scheint«, also nur Gutes zu sehen und in einer gemäßigten Form zu verbreiten. 68 Weibliche Kunstäußerungen stellen so La Roches Meinung nach ein Bollwerk wie eine Zukunftshoffnung innerhalb des an der Ästhetik des Erhabenen diagnostizierten allgemeinen Niedergangs ›moralischer Kultur‹ dar. <?page no="120"?> 1 Lauterwasser: Ein Franzose in Deutschland, S. 119. 2 Schäfer: »Ehrliche Leute, die nicht nach Shakspeare-excrementen stinken«, S. 77. Helmut Schmiedt Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik: Sophie von La Roche und Gottlieb Konrad Pfeffel im Vergleich Im Einladungstext für Tagung und Tagungsband hieß es unter anderem: Sophie von La Roche […] hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts […] das literarische Leben in Deutschland nachhaltig und richtungsweisend beeinflusst. […] Der literarische Salon, den La Roche in den siebziger Jahren nach französischem Muster in Ehrenbreitstein führte, wurde zum Anziehungspunkt und Forum einer jungen, aufstrebenden politisch-kulturellen Elite […]: die Brüder Jacobi, Goethe, Merck, […] Leuchsenring, Wieland u.a. waren Gäste. In einem Sammelband über Leben und Werk des Colmarer Dichters Gottlieb Konrad Pfeffel finden sich folgende Sätze: Wollte man Pfeffels Beziehungen zum schreibenden, druckenden und rezensierenden Deutschland umfassend und im Detail darstellen, dann ergäbe sich ein fast geschlossenes Bild der literarischen Szene seiner Zeit. 1 Die Literaten […] kamen Pfeffel ins Haus, Christoph Kaufmann, Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Maximilian Klinger, wie so viele Staatsmänner, Pädagogen, Neugierige aus deutschen und fremden Ländern. 2 Die Übereinstimmungen sind offensichtlich: La Roche wie Pfeffel spielten in dem Bereich, den man heute ›Literaturbetrieb‹ nennt, eine maßgebliche Rolle, und das hatte viel zu tun mit den intensiven Kontakten, die sie über persönliche Beziehungen unterhielten; beiden wird nachgesagt, dass sie in diesem Sinne zeitweise mit großer Resonanz ein gastfreundliches, offenes Haus führten. Ihre Lebensdaten (La Roche 1730-1807, Pfeffel 1736-1809) liegen dicht beieinander, so dass ihre Tätigkeit in dieselbe Epoche fiel und ihnen dafür eine fast gleiche Zeitspanne zur Verfügung stand. Es liegt also nahe, die beiden, die auch eng miteinander befreundet waren, einmal vergleichend in den Blick zu nehmen. Das gilt umso mehr, als noch <?page no="121"?> 121 Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik 3 Guhde: Pfeffel-Rezeption in Deutschland seit 1945, S. 214. 4 Nenon: In der Fülle der Herzen, S. 11-12. weitere Gemeinsamkeiten existieren. Beide folgen in ihrer Literatur ausgeprägt didaktischen Intentionen, und beide engagieren sich zeitweise zugunsten pädagogischer Einrichtungen. Beiden geht es in bestimmten Lebensphasen recht gut, während sie in anderen Zeiten zur Verbesserung der materiellen Situation ihre literarischen Aktivitäten forcieren. Beide stehen gewiss nicht in der ersten Reihe der Literaturgeschichte: Bei Umfragen zur Kenntnis über deutsche Schriftsteller, die man auf der Straße durchführte, würden ihre Namen kaum jemandem einfallen. Literaturliebhaber, denen sie dennoch bekannt sind, neigen dazu, die jeweilige literarische Produktion sehr reduziert wahrzunehmen: La Roche ist die Autorin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, und Pfeffel wird fast ausschließlich zur Kenntnis genommen als Verfasser von Fabeln mit besonders ausgeprägter gesellschaftskritischer Tendenz. Analog dazu ist gelegentlich beklagt worden, dass auch die zuständige Wissenschaft die beiden ungebührlich behandle: Im bereits zitierten Tagungsexposé ist von einer »literaturhistorische[n] Marginalisierung« La Roches die Rede; im Katalog einer Pfeffel-Ausstellung, die vor zwei Jahrzehnten in Karlsruhe stattfand, heißt es, er sei von der Literaturwissenschaft »grundlos vernachlässigt« und »ungenügend […] beachtet« 3 worden. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass beide bei ihren Aktivitäten ein großes persönliches bzw. soziales ›Handicap‹ bewältigen mussten: Pfeffel erblindete mit ca. zwanzig Jahren, und Sophie von La Roche war - eine Frau! Natürlich hängt ein großer Teil der Gemeinsamkeiten mit allgemeinen Zeitumständen zusammen und lässt sich insofern relativ einfach erklären. Die Literatur der Aufklärung war auf die eine oder andere Weise grundsätzlich didaktisch orientiert. Die damals generell intensive Kommunikation zwischen vielen Schriftstellern führte fast zwangsläufig dazu, dass die beiden zum großen Teil dieselben Personen kannten, dieselben Besucher hatten und in denselben Zeitschriften publizierten, z.B. der Iris, dass sich also »ein soziales Netzwerk konstituiert«, 4 und wenn unser schon mehrfach zitierter Projekttext darauf hinweist, La Roches »Salon« in Ehrenbreitstein habe sich an »französischem Muster« orientiert, so ist bei Pfeffel zu beachten, dass er eben in Colmar lebte, also schon über seinen Wohnort der Ausstrahlungskraft der französischen Kultur ausgesetzt war. Offensichtlich lohnt es sich also nicht, nur die Übereinstimmungen zwischen den Fällen La Roche und Pfeffel herauszustellen; interessanter wird es, wenn man vor dem gemeinsamen Hintergrund signifikante Differenzen entdeckt. Dabei sind zwar auch keine spektakulären neuen Erkenntnisse zu gewinnen, aber auf einige Sachverhalte fällt vielleicht doch ein helleres Licht. <?page no="122"?> 122 Helmut Schmiedt 5 Vgl. Pfeffel: Fremdenbuch. 6 Plato: Sophie La Roche, S. 25. 7 Goethe: Dichtung und Wahrheit, Berliner Ausg., S. 598. Zunächst einmal müssen lebensgeschichtliche Umstände bedacht werden. Pfeffel hat fast sein ganzes Leben in Colmar verbracht, La Roche ist immer wieder umgezogen. Pfeffels Fixierung auf seine Vaterstadt zeigt sich nicht zuletzt in der Gründung und Leitung einer Erziehungsanstalt für männliche Zöglinge protestantischen Bekenntnisses, einer sog. École Militaire, die von 1773 bis 1793 bestand. Seine Bindung an Colmar ist also gewissermaßen auch berufsbedingt und institutionalisiert; La Roches Umzüge sind oft eine direkte Folge der Gegebenheiten, mit denen sie als (verheiratete) Frau lebte. Pfeffels Schule erfreute sich bald eines ausgezeichneten, weit verbreiteten Rufes und lockte Scharen von Besuchern aus nah und fern an; das Fremdenbuch, das Pfeffel führte, verzeichnet rund 2200 Namen. 5 Wer Pfeffel besuchte, traf also lange Zeit auf so etwas wie einen etablierten selbstständigen Unternehmer in pädagogischen Gefilden, und dieser Umstand dürfte auch jene Besucher beeindruckt haben, die in erster Linie des Schriftstellers Pfeffel wegen kamen. Wer Sophie von La Roche in Ehrenbreitstein besuchte, war dagegen bei einer interessanten und sympathischen Privatperson mit dem Ruf eines literarischen ›One-Hit-Wonders‹ zu Gast. Pfeffels Schule musste unter dem Druck der Französischen Revolution schließen, eines weltpolitischen Ereignisses. Sophie von La Roche hat nie daran denken können, selbst einer derartigen Einrichtung vorzustehen, verfolgte aber seit 1771 immerhin den Plan, »ihren Freund Wieland für die Leitung einer zu gründenden pädagogischen Akademie in Neuwied zu begeistern«; 6 daraus wurde nie etwas, und mit dem legendären Salon in Ehrenbreitstein ging es zu Ende, als Sophies Ehemann, Georg Michael Frank von La Roche, seine Stelle beim Kurfürsten von Trier verlor. Wen und was treffen die Besucher in Colmar und Ehrenbreitstein an? Bei der Antwort auf diese Fragen ist zu bedenken, dass sie nicht auf Berichte zurückgreifen kann, die sich einem Objektivitätsideal verpflichtet fühlen; wir haben es mit Schilderungen aus dezidiert subjektiver, fast immer männlicher Perspektive zu tun. Mit entsprechenden Verzerrungen ist zu rechnen. Der bekannteste Bericht über La Roches Salon ist zweifellos der im dreizehnten Buch von Dichtung und Wahrheit. Dessen erster Satz hält fest, dass Goethe und sein Freund Merck einander »bei Frau von Laroche« 7 treffen wollen; der Scheinwerfer ist also eigentlich auf sie gerichtet. Tatsächlich aber tritt dann, bei der Schilderung der Vorgänge in Ehrenbreitstein, Herr von La Roche eindeutig in den Vordergrund; ihm sind mehr als doppelt so viele Zeilen gewidmet wie seiner Frau, Goethe gibt Anekdoten und wörtliche Äußerungen von ihm wieder und gestaltet seine Charakterisierung mit scharfen Konturen, z.B. mit dem Hinweis, er, der doch im Dienste geistlicher <?page no="123"?> 123 Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik 8 Ebd., S. 602-603. 9 Ebd., S. 603. 10 Ebd., S. 604-605. 11 J.G. Jacobi an F.H. Jacobi, 1.5.1809, in: Pfeffel: Fremdenbuch, S. 299-300. 12 Heinse an F.H. Jacobi, 8.12.1780, in: Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 83. 13 Braeuner: Die Militärakademie von Colmar, S. 159. Herren steht, sei von einem »unversöhnliche[n] Haß gegen das Pfafftum« erfüllt. Seine Frau wird durchaus mit Zuneigung und Hochachtung beschrieben; aber was sie auszeichnet, was ihre »Selbständigkeit« 8 ausmacht, ist letztlich die Fähigkeit, sich zurückzunehmen und auf dieser Basis dem allgemeinen Wohlbefinden zu dienen: Sie schien an allem teilzunehmen, aber im Grunde wirkte nichts auf sie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden, ohne zu leiden […] alles erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne daß ihr in der Welt durch Gutes und Böses oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches wäre beizukommen gewesen. 9 Als zwischen den Versammelten »Unverträglichkeit« droht, bringt Frau von La Roche es mit ihrem sanften Gemüt fertig, »alles Scharfe […] zu mildern und das Unebne auszugleichen.« 10 Pfeffel-Besucher schildern ihre Eindrücke mit einer ganz anderen Tendenz: Pfeffel gilt uneingeschränkte Bewunderung, weil er trotz seiner körperlichen Beeinträchtigung mitreißend und aktiv auftritt. Johann Georg Jacobi z.B. berichtet über mancherlei Befürchtungen, die er vor der ersten Begegnung mit dem Blinden empfunden habe, und fährt dann fort: »Aber die heitere Stirn über den erloschenen Augen, wo kein Wölkchen von Kummer sich zeigte, der muntere Ton, mit dem er mich willkommen hiess, und nicht nur Zufriedenheit, sondern Fröhlichkeit, die über sein ganzes Wesen verbreitet war, beruhigten mich bald.« 11 Für den Besucher Wilhelm Heinse ist Pfeffel »ein sehr witziger Kopf und unvergleichbarer Gesellschafter«, mit dem er »einige himmlische Tage verlebt [hat].« 12 Die erfolgreiche Einrichtung der Militärschule hält noch ein Kommentator unserer Zeit für etwas Unglaubliches […]: Ein Dichter, blind, ohne Titel, ohne militärische Erfahrung[…], dem es gelingt, eine Militärschule für junge Adlige zu gründen, in einer Zeit, als der Protestantismus unter strenger Überwachung steht, und in sie auf dem Weg über Basedow die verbotene Rousseausche Pädagogik einfließen zu lassen, das alles mit dem Segen des Königs und ohne die Eigenliebe der bereits bestehenden Schulen zu kränken! 13 - eine Meisterleistung! Zugespitzt formuliert: Während die Besuche bei Sophie von La Roche die Gelegenheit zum interessanten Umgang miteinander bieten, findet man sich bei Pfeffel ein, um diesen einzigartigen und <?page no="124"?> 124 Helmut Schmiedt 14 Pfeffel an Sarrasin, 24.4.1778, in: Schäfer: »Ehrliche Leute, die nicht nach Shakspeareexcrementen stinken«, S. 83. 15 La Roche an J. G. Jacobi, 20.1.1786, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 272. 16 Kühlmann: Einleitung, S. 13. 17 Vgl. Schmiedt: Zum religiösen Erbe. geradezu heroischen Menschen kennenzulernen und sein berufliches Wirken zu studieren. Zu diesem Bild einer vielseitig kompetenten, leistungsstarken Persönlichkeit gehört es, dass Pfeffel auch über den Bereich seiner Schultätigkeit hinaus als unmissverständlich wegweisende Orientierungsinstanz auftritt. Dazu passt einerseits, dass er nicht vor rüde formulierten Urteilen zurückschreckt. So hält er wenig vom Sturm und Drang, obwohl er mit Lenz nach dessen Ausweisung aus Weimar eine Zeitlang in näherem Kontakt steht; über Goethe, dem er in Straßburg begegnet, äußert er sich im Hinblick auf dessen Ungebärdigkeit außerordentlich distanziert, und nach einem Besuch Klingers schreibt er an einen Freund, Klinger zeichne sich dadurch aus, dass er »eine Handvoll von Shakspeare-excrementen gefressen hat« und alle Leute verachte und beschimpfe, die nicht nach dieser Speise »stinken«. 14 Anders verhält es sich mit Sophie von La Roche, die ebenfalls Autoren des Sturm und Drang kennt und viele ihrer Stücke nicht mag: Als sie Schillers Kabale und Liebe zu Gesicht bekommt, gipfelt ihre Ablehnung in dem erheblich diskreteren Wort »abscheulich« und der fast mütterlich anmutenden Sorge, wie es um Schauspieler bestellt sein müsse, die solche Rollen spielen. 15 Auf der anderen Seite des Orientierungsspektrums wird von jungen Menschen Pfeffels konstruktiver Rat auch außerhalb des institutionalisierten Rahmens immer wieder gesucht: Die Briefe an den vierzig Jahre jüngeren Johann Gottfried Schweighäuser zeigen, wie Pfeffel in einer »Mentorrolle […] dem in seinen Lebensplänen schwankenden jungen Mann zur Seite [steht]«, 16 und nach der Schließung seiner Schule wird Pfeffel von befreundeten Familien gelegentlich als Privatlehrer engagiert, z.B. mit dem Auftrag, Mädchen auf die Konfirmation vorzubereiten; diese Tätigkeit schlägt sich anschließend in brieflichen, z.T. veröffentlichten Zusammenfassungen nieder, die einen vorzüglichen Überblick zu theologischen Positionen der Aufklärung vermitteln. 17 Darüber hinaus ist Pfeffel ein zeitlebens mit vielen Auszeichnungen bedachter Mann, unter anderem wird er 1763 vom Landgrafen von Hessen-Darmstadt zum Hofrat ernannt und 1788 zum Ehrenmitglied der Königlich Preußischen Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften in Berlin; 1802 lädt ihn Herzog Karl August ein, als Leiter des Erziehungsinstituts Belvedere nach Weimar zu kommen. Ehrungen gibt es zunächst auch noch nach Pfeffels Tod: Fünfzig Jahre danach wird in Colmar ein Pfeffel-Denkmal eingeweiht, und weitere fünfzig Jahre später findet dort eine zweitägige Gedenkfeier mit <?page no="125"?> 125 Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik 18 Braeuner: Pfeffel l’Européen. 19 Goethe an Schiller, 24.7.1700, in: Goethe/ Schiller: Briefwechsel, S. 623. Volksfest-Charakter statt. In unserer Zeit stößt man in Colmar (Stand: Frühjahr 2006) immer noch auf das Denkmal, eine Rue Pfeffel, eine Tafel am Geburtshaus sowie ein Restaurant, eine Schule und eine Bushaltestelle mit seinem Namen. Kein Zweifel: Wir haben es - nach dem Zeugnis nahezu aller Beobachter - mit einer höchst eindrucksvollen Koryphäe zu tun. Liebenswürdigkeit, Prinzipientreue und Überzeugungskraft im persönlichen Umgang, Geschicklichkeit und zielbewusstes Handeln bei der pädagogischen Tätigkeit und ihrer Organisation sowie ausgeprägte literarische und intellektuelle Kompetenz verbinden sich auf das Glücklichste bei diesem in zwei Sprachen schreibenden Mittler zwischen der französischen und deutschen Kultur, bei »Pfeffel l’Européen«, 18 und begründen eine zeitweise völlig unangefochtene, vielfach dekorierte Autorität. Wenn es Begriffe gibt, die sie zusätzlich charakterisieren, dann sind es die der Kontinuität und Kohärenz: Pfeffel bleibt sich in einem erstaunlichen Maße immer treu, und alles passt bei ihm zusammen. Im persönlichen Bereich bewirken selbst so schwerwiegende Einschnitte wie die Erblindung und der Verlust des Vermögens 1793 jenseits der Äußerlichkeiten keine substanzielle Veränderung seines Lebens und Strebens, und an der Grundkonzeption seiner literarischen Produkte hält er ebenso konsequent fest wie an den Vorstellungen zur Religion und zum heiter-geselligen Miteinander als Ideal zwischenmenschlicher Beziehungen. Da ruht einer in sich selbst und entfaltet eine gewaltige - wenn auch historisch begrenzte - Wirkung. Das Ruhen in sich selbst ist nun ein Persönlichkeitsmerkmal, das man auch Goethes Bericht über Sophie von La Roche in Ehrenbreitstein entnehmen kann. Aber hier schwingt untergründig noch etwas ganz anderes mit, eine negativ konnotierte Komponente, die Goethe sehr viel schärfer umreißt, als die alte Bekannte ihn 1799 in Weimar besucht und er Schiller darüber Folgendes schreibt: Sie sei eine »nivellierende Natur«, sie »hebt das Gemeine herauf und zieht das Vorzügliche herunter und richtet das Ganze alsdann mit ihrer Sauce zu beliebigem Genuß«. 19 Im Lichte dieser Äußerung ist das ausgeglichene und ausgleichende Wesen der einstigen Ehrenbreitsteiner Gastgeberin kaum mehr als eine sozialverträgliche Begleiterscheinung beklagenswerter Indifferenz, eine Konstellation, von der Jahrzehnte später nur noch die Indifferenz übrig bleibt, und damit bildet La Roche das Gegenteil einer wegweisenden Orientierungsinstanz, als die Pfeffel anerkannt wird. Man mag bezweifeln, ob Goethes Schilderungen für bare Münze zu nehmen sind; es wird jedenfalls sichtbar, dass das Bild von der Persönlichkeit Sophie <?page no="126"?> 126 Helmut Schmiedt 20 Schaub: Empfindsame Reise, S. 153. 21 Schweizer Tagebuch, S. 404. 22 Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 19. von La Roches, das sie vermitteln, in erheblichem Maße mit dem kontrastiert, das uns in diversen Berichten über Pfeffel entgegentritt. Unter diesen Umständen erscheint es als eine interessante Frage, wie La Roche und Pfeffel persönlich miteinander umgehen. Brieflicher Kontakt besteht spätestens seit 1783. In diesem Jahr lernt Pfeffel die Kollegin anlässlich einer Reise in die Pfalz persönlich kennen, 1788 bietet eine weitere Reise Pfeffels die Gelegenheit zu einem neuen Zusammentreffen, bei dem La Roche den Gast »mit […] Ekstase« 20 begrüßt, wie ein Begleiter spöttisch festhält. La Roche wiederum besucht Pfeffel 1784, auf der Rückkehr von ihrer Reise durch die Schweiz, und notiert dazu: »Meine Seele war unendlich bewegt, als ich Herrn Pfeffel […] sah«. 21 1789 folgt ein weiterer Besuch in Colmar. Im Zusammenhang mit der ersten Begegnung widmet Pfeffel der Freundin ein Gedicht, das zunächst Der Dogge heißt und später umgedichtet und Der Hänfling betitelt wird. Wie eng die privaten Beziehungen sind, geht daraus hervor, dass La Roche bei einem Aufenthalt in Versailles auch Pfeffels Bruder besucht, ihren Sohn Franz in Pfeffels Militärschule steckt und ihrerseits eine Zeitlang Pfeffels Tochter Karoline zu sich nimmt; der Austausch der Kinder findet 1784 in Colmar statt. Als Pfeffel unter den Folgen der Revolution zu leiden hat, bietet La Roche an, ihm zum Asyl in Deutschland zu verhelfen; Pfeffel lehnt dankend ab. Ich verfolge diese direkten Beziehungen jetzt aber nicht weiter, sondern stelle die beiden Persönlichkeiten noch einmal im Grundsätzlichen nebeneinander. Ausgangspunkt mag wieder die Feststellung sein, dass Pfeffels Gastgeberrolle in Colmar eine lang anhaltende, institutionell verankerte ist, die sich mit seiner literarischen Tätigkeit aufs Beste verbindet. Eine solche stabilitas loci mit all ihren glücklichen Begleiterscheinungen und Konsequenzen ist Sophie von La Roche nicht beschieden: Obwohl auch ihre Gastgeberrolle wie eine Erfolgsgeschichte anmutet, muss sie sie aufgeben, als sich die berufliche Situation ihres Ehemanns unglücklich verändert. Zusätzlich ist zu bemerken, dass die literarische Produktivität der mit dem Sternheim-Roman hervorgetretenen Schriftstellerin in dieser Phase stagniert: Die Arbeiten an Rosaliens Briefen an Mariane von St* ziehen sich lange hin, die Gastgeberfunktion und die literarische Tätigkeit vertragen sich bei ihr offenbar nicht recht miteinander, erst der Abschied aus Ehrenbreitstein »ermöglicht die nun kontinuierlich erfolgenden literarischen Produktionen«. 22 Allerdings geht es nicht nur um das Ermöglichen, sondern auch um Erfordernisse: In den Veröffentlichungen sieht La Roche die Chance, ihre finanzielle Lage zu verbessern, eine <?page no="127"?> 127 Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik 23 Meighörner: »Was ich als Frau dafür halte«, S. 7. Situation, die wir ebenso bei Pfeffel nach der Schließung seiner Schule beobachten können. Bemerkenswert ist nun, dass der Einschnitt Ehrenbreitstein/ Speyer exemplarisch erscheint, denn generell zeichnen statt Kontinuität und Kohärenz - wie wir sie bei Pfeffel finden - Brüche und Veränderungen die Lebensgeschichte Sophie von La Roches aus. Das wird man allerdings keineswegs als trauriges Verhängnis bezeichnen, denn eben damit - vielleicht sollte man sagen: erst damit - werden Freiräume geschaffen, über die sie sich dank ihrer dynamischen, tatkräftigen Persönlichkeit zu einer langfristig kreativen Autorin entwickeln kann. Ein weiteres Beispiel dafür: Seit 1784 leben auch die beiden jüngeren Söhne Carl und Franz nicht mehr im Haus der Eltern La Roche, 1784 findet die erste große Reise der Mutter statt und wird zum Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit als Reiseschriftstellerin; da zeigt sich anschaulich, wie eine äußere Veränderung in selbstständig gesteuerte Aktivität und Produktivität umgemünzt wird. Pfeffel lebt das Muster einer abgerundeten, gewissermaßen geschlossenen Form der Lebensführung: Hier steht er, er kann nicht anders, und er muss auch nicht anders können, denn er beeindruckt kontinuierlich über alle Maßen. Bei Sophie von La Roche existiert ein solches Muster nicht; obwohl vieles von dem, was sie plant und tut, den Unternehmungen Pfeffels ähnelt, können sich ihre Aktivitäten nicht auf die harmonische Weise wie bei ihm entfalten und verbinden, sondern erwachsen aus der energischen Reaktion auf Differenz- und Defiziterfahrungen. Um es etwas feuilletonistisch im Hinblick auf den Titel meines Beitrags zu formulieren: Bei Pfeffel gehen Geselligkeit, Freundschaft und seine aktive Rolle im Literaturbetrieb nahezu lebenslang Hand in Hand; bei La Roche ist die Verknüpfung eine - wenn man an Goethes Sätze denkt - trügerische mit partiell doppeltem Boden, aber das muss auch so sein, denn unter den gegebenen Umständen etabliert erst der fortgesetzte Wechsel, die im Vergleich zu Pfeffel gewissermaßen offene Existenz, eine Schriftstellerin Sophie von La Roche. »Sophie erfand sich immer wieder neu«, heißt es in einer neueren Biographie; dabei war sie »häufig die Erste« 23 und reagierte insofern grandios auf die oft von dritter Seite herbeigeführten Wechselfälle des Lebens. Es ist kein Zufall, dass es sich da, wo doch einmal Kontinuität zu verzeichnen ist, um eine der Abhängigkeit handelt: Wieland versieht bekanntlich La Roches ersten Roman mit einem Vorwort und gibt ihn heraus, drei Jahrzehnte später wiederholt er das bei Melusinens Sommer=Abenden, La Roches letztem Werk, und führt dabei unter anderem gönnerhaft an, er habe als »Herausgeber« nur eingreifen müssen bei »einigen Komma’s und Semikolons, die in der Handschrift nicht <?page no="128"?> 128 Helmut Schmiedt 24 Wieland: Der Herausgeber an die Leser, unpaginiert. 25 Becker-Cantarino: Freundschaftsutopie, S. 113. 26 Schweizer Tagebuch, S. 5. 27 Becker-Cantarino: Freundschaftsutopie, S. 113. immer am rechten Orte standen, und ähnlichen grammatikalischen Kleinigkeiten« 24 - eine Bemerkung, die engagierten Feministen und Feministinnen noch postum den Gedanken an eine Ohrfeige für den Verfasser eingeben könnte, und, alles in allem, ein besonders denkwürdiger Fall von literaturpolitischer Unterstützung. Was sind nun die gerade erwähnten gegebenen Umstände, in welchem Bereich liegen sie jenseits der Zufälligkeiten individueller Lebensschicksale? Zur Erklärung drängt sich natürlich in erster Linie der geschlechtsspezifische Aspekt auf. Während Pfeffel das Handicap seiner ›homerischen‹ Blindheit derart zu nutzen versteht, dass die männliche Leistungs- und Durchsetzungskraft umso eindrucksvoller erstrahlt, bedarf Sophie von La Roche als Frau einer fortgesetzten Suchbewegung, um die eigentlich nicht vorgesehene Rolle als Schriftstellerin öffentlich übernehmen und durchhalten zu können, und dies gelingt auch nur im Rahmen zahlreicher Kompromisse. Verantwortlich für die Auslösung derart zwiespältiger Flexibilität sind - ganz konkret - häufig die Männer, mit denen sie zu tun hat, und der elementare Kompromiss, den sie innerliterarisch eingeht, ist, dass sie die traditionelle Frauen- und Mutterrolle in ihre schriftstellerische Tätigkeit hinein verlängert, indem sie ihre Arbeiten »weitgehend als Erziehungs- und Lebenshilfe für Mädchen und Frauen erscheinen [lässt].« 25 Das führt zu so kuriosen Phänomenen wie dem, dass sie selbst einen Text wie das zur Publikation bestimmte und tatsächlich veröffentlichte Tagebuch einer Reise durch die Schweiz als zunächst einmal privat sich gerierenden Bericht für ihre »Geliebte[n] Töchter« 26 präsentiert; La Roche als »mütterliche Freundin« 27 ihrer Leserinnen ist eine mehr oder weniger unabdingbare Voraussetzung dafür, dass La Roche überhaupt als Autorin in Erscheinung treten kann. »Liebe Mama« ist bekanntlich die bevorzugte briefliche Anrede Goethes für sie. Ein weiterer Aspekt der beobachteten Unterschiede ist literaturgeschichtlich-epochenspezifischer Art. Dass Pfeffel seine Texte grundsätzlich didaktisch ausrichtet, ist in jeder Hinsicht konsequent bei einem Autor, der einst Vorlesungen bei Christian Wolff gehört hat und mit Gellert bekannt gewesen ist; sein Denken stützt sich auf jene Phase der Aufklärung, in der es um möglichst zuverlässige Weisheiten und sichere Ordnungskategorien geht, die ans Publikum möglichst unmissverständlich vermittelt werden sollen. Sophie von La Roche wurzelt in derselben Tradition; aber bei ihr drängen die an die Empfindsamkeit geknüpften psychologischen Interessen in den Vordergrund, die per se den stabilen Orientierungsrahmen à la Pfeffel aufbrechen oder <?page no="129"?> 129 Geselligkeit, Freundschaft, Literaturpolitik 28 Sternheim, S. 308. 29 Kammler: Sophie von La Roche, S. 49. 30 Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 238. zumindest bedrohen. Man kann sich diese Akzentverschiebung vor Augen führen, indem man nacheinander Gellerts Schwedische Gräfin und das Fräulein von Sternheim liest. Bei Gellert wird eine ganz bestimmte Verhaltensweise von pseudomenschlichen Krisenbewältigungsmaschinen in Extremsituationen musterhaft und vorbildlich durchexerziert, bei La Roche wird in vergleichbaren Extremsituationen erheblich mehr Wert auf die genaue Ausleuchtung seelischer Befindlichkeiten bis hin zur, wie es einmal heißt, »Zerrüttung meiner Empfindnisse« 28 gelegt. Wenn man diese Diskrepanz in die Lebensgeschichte unserer Protagonisten überträgt, ergibt sich womöglich eine weitere Erklärung dafür, dass wir bei Pfeffel - in der Gellert-Tradition - mehr Geradlinigkeit beobachten als bei La Roche. Mit dieser Überlegung soll keineswegs der alten These von der schroffen Dichotomie rein vernunftgeprägter Aufklärung und radikal irrationaler Empfindsamkeit das Wort geredet werden; aber Akzentverschiebungen im Hinblick auf diese Kategorien treten in unseren Fällen wohl doch zutage, bei Pfeffel dominiert - nach der damaligen Terminologie - im Zweifelsfall eher der ›Kopf‹, bei La Roche in Anlehnung an den Sensualismus englischer Provenienz eher das ›Herz‹. Als Aufklärer alter Prägung weiß Pfeffel immer, wo es langgeht; als Erbin der Aufklärung weiß La Roche das auch, als Protagonistin der Empfindsamkeit weiß sie es etwas weniger genau, und als schreibende Frau muss sie - mit welchem Grad an Bewusstheit auch immer - so tun, als wisse sie es im Hinblick auf eine geschlechtsspezifisch reduzierte Leserschaft. Vielleicht erklären sich vor diesem Hintergrund auch Unstimmigkeiten in der Schilderung ihres persönlichen Auftretens: Goethe beanstandet ein nivellierendes, bedenklich gleichförmiges Verhalten, der zitierte Zeuge ihres Empfangs für Pfeffel dagegen eine exaltierte Inszenierung, die an die legendäre, zumindest aus heutiger Sicht theatralisch anmutende Wiederbegegnung mit Wieland in Ehrenbreitstein erinnert - mag sein, dass hier abwechselnd diese und jene Orientierung zutage treten. Entsprechend hat die Sekundärliteratur »Diffusität als biographisches Konstruktionsprinzip« 29 bzw. eine »Manier unverbunden nebeneinanderstehender Empfindsamkeit und Rationalität« festgestellt, in der »sich ein plurales, fragmentiertes Ich [offenbart]« 30 ; es tritt umso deutlicher hervor, wenn man es mit dem Bild von Pfeffel vergleicht. Pfeffel war unter den Zeitgenossen La Roches vielleicht auch derjenige, der ihre schöpferischen Kompromissbildungen am schärfsten zu pointieren vermochte, indem er ihre Lebensumstände und literarischen Aktivitäten in der Erstfassung des ihr gewidmeten Gedichts Der Dogge mit einem höchst <?page no="130"?> 130 Helmut Schmiedt 31 Pfeffel: Der Dogge, S. 4. ambivalenten Bild bedachte: Es wirkt unbarmherzig einerseits, euphemistisch andererseits. Die Rede ist von einer angeketteten Dogge, die die schwere »Kunst« praktiziert, mit den »Ketten, deren Last wir fühlen,/ […] zu spielen./ O Freundin, diese Kunst besitzest du.« 31 Dass ausgerechnet Pfeffel dies sagt - ein Mann und ein Aufklärer eher alter Schule -, passt wiederum zu seiner hier skizzierten Rolle so gut wie zu der engen Beziehung zwischen ihm und Sophie von La Roche. Die bearbeitete Version des Gedichts verwandelt dann den Hund in einen Hänfling, also einen Vogel: Das wirkt charmanter und weniger düster, der Herr macht der Dame großzügig eine Freude. <?page no="131"?> 1 Sternheim, hrsg. v. Häntzschel, S. 14. Michael Maurer »Ich bin eine Engländerin, zur Freiheit geboren.« Die Figuren des Engländers und der Engländerin in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts I. Sophie von La Roche hat in ihrem Werk immer wieder Engländerinnen und Engländer als Hauptfiguren gewählt: Ihre früheste, noch französisch geschriebene Erzählung Les Caprices de l’amour et de l’amitié (1772) ist sogar ausdrücklich als »Anecdote Angloise« bezeichnet; sie spielt auf englischem Boden und ist mit englischen Charakteren ausgestattet. In etwas variierter Form findet sich dasselbe Schema in ihrem frühesten veröffentlichten Werk, der epochemachenden Geschichte des Fräuleins von Sternheim, in der sich die Mutter der Titelheldin auf ihr »engelländisches Herz« beruft und tatsächlich eine Engländerin zur Mutter hat. Sie ist von Anfang an durch diese nationalcharakterbestimmte Rolle gekennzeichnet: Dieses Fräulein schien zu aller sanften Liebenswürdigkeit einer Engländerin auch den melancholischen Charakter, der diese Nation bezeichnet, von ihrer Mutter geerbt zu haben. Ein stiller Gram war auf ihrem Gesicht verbreitet. Sie liebte die Einsamkeit, verwendete sie aber allein auf fleißiges Lesen der besten Bücher. 1 Ihre Tochter, Sophie von Sternheim, wird als gelungenste Mischung deutscher und englischer Tugenden angelegt. Aber auch die treibenden männlichen Figuren, ob nun Schurken oder Helden, Derby oder Seymour, sind Engländer, und zwar nicht zufällig, sondern durch ihre Ungebundenheit und Rücksichtslosigkeit, aber auch durch ihre Melancholie, Empfindsamkeit und Großherzigkeit speziell mit englischen Eigenschaften ausgestattete ›englische Charaktere‹. Auch in späteren Werken, in verschiedenen Moralischen Erzäh- <?page no="132"?> 132 Michael Maurer 2 Fink: Das Englandbild in Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim. 3 Vgl. Maurer: Aufklärung und Anglophilie, vor allem S. 26-39. 4 Muralt: Lettres sur les Anglois. Vgl. Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 29-32. 5 Voltaire: Lettres philosophiques. Vgl. Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 32-36. lungen und in Fanny und Julia (1801-1802), hat Sophie von La Roche auf die Figuren des Engländers und der Engländerin zurückgegriffen, um ihren Erfindungen Konturen zu verleihen. Worum es im folgenden gehen soll, lässt sich schlicht so formulieren: Wie kann man das Feld der Assoziationen rekonstruieren, in dem fiktive Personen der Moralischen Erzählungen, Romane und Dramen des 18. Jahrhunderts als ›Engländerinnen‹ und ›Engländer‹ etikettiert wurden? Welche Komponenten enthielt diese ›nationale Rolle‹ und wie veränderte sie sich im Laufe der Jahrzehnte? Welche Faktoren beeinflussten diesen Wandel? II. Sophie von La Roches England-Wahrnehmung lässt sich durch eine einfache Tendenz beschreiben: Sie war anglophil und blieb anglophil bis zum Ende, aber ihr anfangs wesentlich durch Bücher bestimmtes Ideal konkretisierte sich im Laufe der Jahrzehnte durch Lebenserfahrung, durch England-Erfahrung. Ihre erste Schrift, Les Caprices de l’amour et de l’amitié (veröffentlicht 1772, geschrieben wohl in der Warthausener Zeit), verwendet noch ein Englandbild aus literarischen Klischees, in dem die Engländer ›wild‹ sind, England ein ›Schauplatz moralischer Extremitäten‹, ›bizarrer‹ Charaktere. Im späten Roman Fanny und Julia (veröffentlicht 1801-1802), geht es um bodenständigere Ideale der agrarischen Meliorisierung und industriellen Erfindungsgabe. Sophie von La Roche bietet in der Entwicklung ihrer literarischen Figuren ein Kompendium der Anglophilie, wie sie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in Deutschland entwickelte. 2 Am Anfang steht eine Klischeebildung, wie sie wesentlich von der französischen Aufklärung vollzogen wurde, namentlich von dem französisch schreibenden Berner Beat Ludwig von Muralt, von Voltaire und Montesquieu. 3 Mit ihrer ersten Erzählung stellt sich Sophie von La Roche voll in diese Tradition. Die Stichwörter ›féroce‹, ›bizarre‹, ›gens extrêmes‹ verweisen auf Beat Ludwig von Muralts Lettres sur les Anglois et le François et sur les voiages (geschrieben wohl 1694, veröffentlicht aber erst 1725), in denen diese Charakteristika herausgearbeitet sind, und zwar in Verbindung mit den Aufklärungsidealen Vernunft, Freiheit und Natur. 4 Voltaire hat diesem Bild stärker die Züge einer empirischen Philosophie eingeschrieben sowie die der religiösen Pluralität und Toleranz. 5 Montesquieu hat diesem Idealbild die sozial-politischen <?page no="133"?> 133 Die Figuren des Engländers und der Engländerin 6 Montesquieu: De l’Esprit des lois. Vgl. Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 36-39. 7 Vgl. Grieder: Anglomania in France; Graf: L’anglomania e l’influsso inglese in Italia. 8 Vgl. Teuteberg: Entstehung des deutschen Englandbildes; Selling: Deutsche Gelehrten- Reisen nach England. Komponenten hinzugefügt: die relative Offenheit der Ständegesellschaft in Verbindung mit Institutionen der Sicherung von Freiheit im Rahmen eines umfassenden Ausgleichs der Interessen. 6 Zusammenfassend lässt sich über diese Ausformungen eines spezifischen Englandbildes der Aufklärung sagen, dass sie stark auf die Differenz zum Eigenen setzen und die Differenz zwischen England und Frankreich absichtsvoll überpointieren. Dieser französische Spiegel Englands hatte aber gesamteuropäische Relevanz in einem Zeitalter, dessen Kultur insgesamt französisch geprägt war. England musste unter diesen Umständen nicht nur zu einem Gegenbild Frankreichs werden, sondern zu einer alternativen Entwicklungsmöglichkeit Europas. III. In der französischen und deutschen Literatur, aber darüber hinaus auch in ganz Europa, wurde es zu einer Mode, Engländer als Figuren der Literatur zu wählen und England zum Schauplatz von Romanen und Dramen zu machen. 7 Dies folgte einerseits der vorgängigen Klischeebildung durch Reisende, ließ sich andererseits durch Reisen auch wieder modifizieren. Die realistische Komponente der Beobachtung und die konstruktivistische Komponente des utopischen literarischen Entwurfes durchdrangen sich gegenseitig bis zur Unkenntlichkeit. Als hilfreich erwies sich dabei anfangs die relative Ferne: Im 17. Jahrhundert waren Kontinentaleuropäer nur ausnahmsweise nach England gekommen. 8 Dies änderte sich freilich im Laufe des 18. Jahrhunderts entscheidend: Durch die Entwicklung der Verkehrsmittel und der touristischen Infrastruktur wurde England zu einem Reiseland, zu einer ›nahen Ferne‹ für Deutsche oder Franzosen. So versteht es sich von selbst, dass die anfangs überbetonte Fremdartigkeit der ›wilden Engländer‹ im Laufe der Jahrhunderte abgeschwächt und durch konkrete Erfahrung kultureller Begegnung ersetzt wurde. Die ›relative Nähe‹ Englands und der Engländer ließ sie im 18. Jahrhundert zum kulturellen Vorbild Europas werden, mit dem sich eine Auseinandersetzung am ehesten lohnte, an dem man sich abarbeitete, das der Findung einer eigenen Identität dienlich sein konnte. Dies lässt sich an einem dänisch-norwegischen Autor demonstrieren, der sich für die Eigenschaften der Engländer sowohl als Historiker als auch als <?page no="134"?> 134 Michael Maurer 9 Ebd., S. 246. 10 »Soviel dünkt mich gewis zu seyn, daß unter allen Völkern die Engländer am meisten Mensch sind, und daß man dies als einen Hauptzug ihres Charakters ansehen kann.« Wendeborn: Zustand des Staats, Bd. 2, S. 239. 11 Holberg: Nachricht von meinem Leben, S. 247. Komödienautor interessierte: Ludvig Holberg. Innerhalb seiner Autobiographie (1727-1743 in lateinischer Sprache erschienen: Epistolae ad virum perillustrem), befasste er sich auf über zehn Druckseiten mit dem Charakter der Engländer. Holberg hatte sich 1706-1708 in England aufgehalten, doch spiegeln die Aufzeichnungen nicht nur Erfahrungen, sondern auch Lesefrüchte. Er geht effektvoll vom Extremen aus, das wir schon von Muralt kennen: Diese Nation hält in keinem Dinge die Mittelstraße. Die Tugendhaften sind bei ihnen im höchsten Grade tugendhaft, und mit den Lasterhaften ist es ebenso beschaffen. […] Religion, Unglaube, Eifer, Nachlässigkeit, Gelehrsamkeit, Unwissenheit, Arbeitsamkeit, Trägheit, Tugenden, Laster, alles kommt in diesem Reiche aufs höchste und zur völligen Reife. 9 Man erkennt sofort, dass diese behauptete Supercharakteristik sich für die Literatur geradezu aufdrängt: Der Engländer und die Engländerin bieten sich nicht zuletzt dadurch als literarische Figuren an, dass ihre Eigenschaften deutlicher hervortreten als die gewöhnlicher Menschen. Dieser Zug wird in der Spätaufklärung von Gebhard Friedrich August Wendeborn dahingehend erläutert, dass infolge der englischen Freiheit und Individualität der Mensch in England am ehesten Mensch werden könne. 10 Die eigentümliche Sozialverfassung und Hochschätzung des Einzelnen wird dafür in Anspruch genommen, England als anthropologisches Treibhaus aufzufassen, in dem der Mensch besonders deutlich und ausgereift als solcher in Erscheinung treten könne, während er in den konventionelleren und gebundeneren Kontinentalstaaten sich als Mensch gar nicht voll entfalten könne. - Die Engländerinnen und Engländer im Frühwerk Sophie von La Roches folgen genau dieser Vorgabe, und krasser noch entfaltet Jakob Michael Reinhold Lenz diese Eigenschaft der Engländer, ›gens extrêmes‹ zu sein. Holbergs nächstes Charakteristikum betrifft die ›Eigenliebe‹, nämlich den Nationalstolz der Engländer: Sie sind fast alle von der Eigenliebe so sehr eingenommen, daß sie alles, was ausländisch ist, verachten. Man kann ihnen aber diese Eigenliebe um so viel leichter verzeihen, wenn man die Glückseligkeit, den Reichtum, die Fruchtbarkeit und andre herrliche Vorzüge bedenkt, womit die Natur dieses Land begabt hat. 11 <?page no="135"?> 135 Die Figuren des Engländers und der Engländerin 12 Wendeborn: Zustand des Staats, Bd. 2, S. 253. 13 Holberg: Nachricht von meinem Leben, S. 248. 14 Ebd., S. 251. 15 Voltaire: Lettres philosophiques, S. 23. 16 Lenz: Werke und Schriften, Bd. 2, S. 353. Man sieht, dass diese positive Schätzung des Eigenen erneut literarische Qualitäten hat: Ein Komödienautor wie Holberg braucht nun einmal klar konturierte Figuren, die sich zu ihrer Eigenheit bekennen und als solche abgrenzend zur Erscheinung gebracht werden können. In der Spätaufklärung - ich verweise wiederum auf Wendeborn 12 - wird diese »übertriebene Schätzung der eigenen Nation« als Gegenpol zu individueller Eigenliebe aufgefasst und den Deutschen als Vorbild vorgehalten: Gerade der Stolz auf die eigene Nation ermöglicht altruistisches Handeln, ein Absehen vom bloßen Privatnutzen, weil man sich im Ganzen wiedererkennt. - Auch die literarischen Figuren Sophie von La Roches sind durch einen starken philanthropischen Impuls gekennzeichnet, der als ›englisch‹ aufgefasst wird. Politisch gesehen, wird aus starkem Nationalbewusstsein Patriotismus (Wendeborn); sozial gesehen, Verantwortungsbewusstsein für weniger Begünstigte (Sophie von La Roche). Holbergs drittes Charakteristikum ist die Gründlichkeit des Denkens, die Engländer seien »Maschinen bloß zum Denken gemacht«. »Sie reden wenig, aber was sie reden, das ist vorher von ihnen wohlüberlegt worden.« 13 Dies entspricht der Kennzeichnung Voltaires. Der schweigsame, aber zugleich tiefsinnige Engländer ist zu einer stehenden Figur im Roman und auf der Bühne geworden. Holberg führt aus: Die Engländer glauben nichts, als was sie begreifen können, und was sie begriffen haben, das bekennen sie frei. Und da die Freiheit zu denken durch kein Gesetz eingeschränkt ist, so trifft man hier so viele Atheisten als an andern Orten Heuchler an. 14 Voltaire hatte Ähnliches bemerkt: »C’est ici le pays des Sectes. Un Anglais, comme homme libre, va au Ciel par le chemin qui lui plaît.« 15 Lenz schließt sein Drama Der Engländer (1777) mit dem provozierenden Satz seines Helden Robert Hot: »Behaltet euren Himmel für euch.« 16 Im Rahmen der deutschen Aufklärung wäre eine solche atheistische Absage »aus der Fülle des Herzens« blasphemisch erschienen; möglich wurde sie durch Zuschreibung an einen tiefdenkenden und starkfühlenden Engländer. Die Bühnenfigur des Engländers darf hier dank ihrer Originalität und Individualität äußern, was bei anderen Zeitgenossen durch ihre Konventionalität und Gebundenheit kaum in dieser Radikalität gesagt werden könnte. - Bei Lenz besteht eine direkte Abhängigkeit von Sophie von La Roche; als er ihr für Les Caprices de <?page no="136"?> 136 Michael Maurer 17 Lenz an La Roche, 20.5.1775, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 185. 18 Vgl. Stanzel: Europäer; Maurer: »Nationalcharakter« in der Frühen Neuzeit; Maurer: Nationalcharakter und Nationalbewußtsein; Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. 19 Fink: Baron Thunder-ten-tronckh und Riccaut de la Marlinière; Fink: Nationalcharakter und nationale Vorurteile bei Lessing; Fink: Von Winckelmann bis Herder. 20 Ridderhoff: Sophie von La Roche; Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman; Nicklas: Aporie und Apotheose der verfolgten Unschuld; Arnds: Sophie von La Roche’s Geschichte des Fräuleins von Sternheim. l’amour et de l’amitié dankte, hob er besonders den »braven Mylord Allen« hervor: »ein Portrait, das ich in meiner Galerie hoch anstelle. Er hat Erdbeben in meinen Empfindungen gemacht«. 17 Holbergs Charakteristik mündet in eine Parallele zwischen dem Engländer und dem Franzosen - dies war die einzig wirklich lohnende Gegenüberstellung, weil gerade der Engländer und nur der Engländer innerhalb der französisch bestimmen europäischen Kultur eine echte Alternative zu bieten vermochte. IV. Über alle europäischen Nationen waren Klischees im Umlauf. 18 Allerdings eigneten sich die meisten nicht als Bühnen- und Romanfiguren, weil sie nicht genügend distinkt waren. Ein Schwede, ein Finne, ein Tscheche konnten gelegentlich vorkommen, hatten aber für die Literatur insgesamt kaum Bedeutung. Am schärfsten profiliert waren der Franzose (mit dem sich Gonthier-Louis Fink wiederholt befasst hat 19 ) und der Engländer. Wir können festhalten, dass sich die Engländerin und der Engländer auch deshalb in besonderem Maße als literarische Figuren eigneten, weil ein Teilkomplex aus dem Set ihrer Nationalcharakterzuschreibungen sie dafür prädestinierte: Individualität, Originalität, Nationalstolz. Anders gesagt: Wo Figuren mit flachem Profil benötigt wurden, eigneten sich Engländerinnen und Engländer gerade nicht. Wo Figuren beliebiger Nationalität eingesetzt werden konnten, durfte die Wahl gerade nicht auf Engländer fallen. Neben dieser allgemeinen Erwägung gibt es eine gattungsspezifische: Der Roman - in der Form, wie er seit Gellert, La Roche und Goethe in Deutschland gängig wurde -, galt als ›englische Gattung‹, er wurde zunächst stark nach Richardson, dann nach den Vorbildern von Fielding, Goldsmith und Sterne gestaltet. 20 Durch diese Vorbilder besaßen aber englische Figuren von Anfang an Heimatrecht im deutschen Roman. Der englische Schauplatz wurde zum privilegierten Phantasieraum im deutschen Roman seit den 1760er Jahren. <?page no="137"?> 137 Die Figuren des Engländers und der Engländerin 21 Vgl. Maurer (Hrsg.): »O Britannien, von deiner Freiheit nur einen Hut voll«. 22 Unger: Julchen Grünthal, Bd. 1, S. 155. 23 Klinger: Betrachtungen und Gedanken, in: Werke, Bd. 12, Nr. 626. Wir haben es insofern hier mit einer mehrfachen Klischeebildung zu tun: Zunächst gab es die Nationalcharakterklischees der Engländerin und des Engländers, wie sie sich vor allem in der Reiseliteratur finden; 21 diesen könnte man die Kontrastfiguren vor allem der Französin und des Franzosen an die Seite stellen. Sodann gab es auf einer zweiten Ebene die Klischeebildung über die Romanfiguren englischer Romane, denen man in besonderem Maße die unübersetzbare Eigenschaft des ›humour‹ zusprach. Damit ist hauptsächlich gemeint, dass sie sich geben durften, wie sie waren, dass sie ihren Launen nachhängen konnten, ohne durch Konventionen restringiert zu sein. Friederike Helene Unger bekräftigte in ihrem Roman Julchen Grünthal (1798), »daß es in England deshalb so viel Originalität der Karaktere gebe, weil die Kinder früh wie Menschen behandelt, und nicht alle auf einer Drehbank zu gleichförmigen Marionetten gedrechselt werden«. 22 Auch Friedrich Maximilian Klinger sah in seinen Betrachtungen und Gedanken (1803-1805) einen wesentlichen Grund für die ausgeprägte englische Eigenart neben der politischen Verfassung in der Pädagogik: daß sie an der Erziehung so wenig künsteln oder verkünsteln, dass sie keine Basedows, Campen und wie sie heute alle heißen mögen, haben, die die Kinder zu moralischen Schwätzern machen und ebendie Kraft einschläfern, die den Mann machen und beleben soll. 23 Die Unterscheidung von ›Engländer‹ und ›Roman-Engländer‹ mag auf den ersten Blick nicht überzeugend sein, doch lässt sich feststellen, dass die ›wirklichen Engländer‹, wie man sie auf Reisen traf und in Reiseberichten darstellte, deutlich unterschieden sind von den ›Roman-Engländern‹, die man in der fiktionalen Literatur fand. ›Humour‹ ist die Leiteigenschaft des ›Roman- Engländers‹; in Reiseberichten wurde nie einem Engländer ›humour‹ zugeschrieben. - Wir halten fest, dass es im deutschen Roman eine gattungsspezifische Rollenklischeebildung gibt, die von Zeitgenossen zwar mit der allgemeinen Nationalcharakterideologie verwechselt werden konnte, die man aber analytisch auseinanderhalten kann. Der ›Roman-Engländer‹ war weit bekannter als der wirkliche Engländer, da englische Romane, anglisierende Romane, französische Romane mit englischem Personal und Übersetzungen aller Art in großen Massen verbreitet waren, während wirkliche England-Erfahrung, auch wenn sie zunahm, weit dahinter zurückblieb. Zahlreiche Autoren unternahmen es, die beiden Ebenen der Klischeebildung zu vermitteln. Der wichtigste unter diesen ist Johann Gottfried Herder, welcher ein hochgradig romangezeugtes England- <?page no="138"?> 138 Michael Maurer 24 Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 18, S. 108. bild gewissermaßen sozialgeschichtlich herleitete, wo er in den Briefen zu Beförderung der Humanität (1794-1797) ausführte: Da England das erste Land in Europa war, in welchem der dritte Stand in Angelegenheiten des Reichs mitsprechen dorfte und von den Zeiten der Elisabeth an es ein so bewerbsamer Handelsstaat geworden war: so gingen die eigenthümlichen Sitten seiner Einwohner natürlicher Weise freier aus einander. Nicht alles war und blieb blos König, Baron, Ritter, Priester, Mönch, Sklave. Jeder Stand zeichnete sich in seinen Sitten ungestört aus, und dorfte nicht eben, um der Verachtung zu entgehen, Sitten und Sprache seiner höhern Mitstände nachahmen; kurz, er dorfte sich auch in seinem humour zeigen. Ohne Zweifel ist dies der Grund, warum die Engländer diese Eigenschaft so eifrig zu einem Zuge ihres Nationalcharakters gemacht haben; ihr humour nämlich war ein Sohn der Freimüthigkeit und eines eignen Betragens in allen Ständen. 24 V. Wie es solche sozialgeschichtlichen Rückschlüsse aus Kenntnis der Literatur gibt, zeigt sich früh auch schon eine Kritik des ›Roman-Engländers‹ unter Verweis auf die historische Realität. Diese wurde am deutlichsten im Versuch über den Roman von Friedrich von Blanckenburg ausgeführt, bereits 1774, also drei Jahre nach der Geschichte des Fräuleins von Sternheim und zwei Jahre nach Les Caprices de l’amour et de l’amitié. Bei Blanckenburg heißt es wörtlich: England ist besonders der Schau- und Tummelplatz, den unsre junge Dichter sich wählen. Aber ist deßwegen eine Person individueller und genauer gezeichnet? Und warum ist die Scene lieber nach England gelegt worden, als sonst wohin? Ist in den Begebenheiten, in den Personen etwas, warum diese nun nicht in Deutschland, sondern in England nur wirklich werden konnten? Der Dichter soll in seinem Werke nichts vorgehen lassen, überhaupt gar nichts anlegen, von dem es nicht der Erfolg des Werks zeige, daß es für sein Ganzes gerade am schicklichsten Orte, und auf die beste Art vor sich gehe, und, an keinem andern Orte, so habe vorgehn können. Die Mittel, die er zur Erreichung seiner Absichten gebraucht, müssen im genauesten Verhältniß mit diesen stehen, so daß jene unausbleiblich nothwendig sind, um diese zu erreichen. Aber findet sich dies in den Romanen gewöhnlicher Art? Sind sie so, daß sie nur auf Engländischem Boden haben zur Reife kommen können? Gewöhnlich sind sie so eingerichtet und angeordnet, daß sie in keinem Lande dieser Erde, - oder in allen gleich sehr zu Hause gehören. Wenigstens sind die <?page no="139"?> 139 Die Figuren des Engländers und der Engländerin 25 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 234-236. 26 Vgl. Giesenfeld: Die Leiden des papiernen Mädchens. 27 Wieland an La Roche, 27.1.1800, in: Briefe an Sophie von La Roche, S. 319. 28 Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z, § 181: »Der Engländer«. 29 Jean Paul: Hesperus, 35. Hundsposttag, Bd. 2, S. 1060. Kennzeichen, die sie von ihrem angegebenen Vaterlande tragen, sehr zweydeutig. - Im Grunde ist es Unwissenheit, Unbekanntschaft mit einheimischen Sitten, die unsere Romanendichter aus dem Lande treibet; in der Hoffnung, daß wir eben so wenig von fremden Sitten kennen werden, um sie beurtheilen zu können; oder daß wir gar nicht diese Züge aus den Sitten und dem Leben, diese individuellen Kennzeichen der Menschen, in ihnen suchen sollen. Denn was haben nun wohl unsre Romane, die in England wirklich werden sollen, anders, als Engländische Namen? Und wenns ja etwas mehr ist: so ists übertriebener, unnatürlicher Humor, der so wenig in England, als sonst wo, wirklich ist; - oder so genannte brittische Großmuth, das heißt, der Dichter hat seine Personen reich gemacht, (eine wichtige Erfindung, eine große Anstrengung für ein Genie! ) und läßt sie das Geld nun oft sehr albern und unnütz verspenden; - oder, sie müssen einander brav morden und würgen, weils - Engländer sind. […] Ist etwas eigenthümlich Engländisches darinn? Was hat die Geschichte der … anders, als Engländische Namen? 25 Die Klischeebildung wird als solche entlarvt. Der ›Roman-Engländer‹ wird hier kritisiert im Namen des wirklichen Engländers. Seit Blanckenburg gibt es in der deutschen Literatur beides nebeneinander: Engländer (und Engländerinnen) als typische Romanfiguren und zugleich eine ätzende Kritik daran, welche eine eigene Tradition ausbildet. Blanckenburg hat bei seiner Kritik wohl in erster Linie den Trivialroman im Auge; man könnte sich in der Tat fragen, ob der Rekurs auf solche Klischees nicht für den Trivialroman typisch ist. 26 Bei Christoph Martin Wieland etwa, dessen Romanschaffen ja in engster Verbindung mit der Theoriebildung Blanckenburgs steht, finden sich keine Engländer als Figuren, und seine Äußerungen Sophie von La Roche gegenüber lassen auch erkennen, dass er die Roman-Engländer mit beißender Kritik überzog. 27 Andererseits gab es Engländer als Romanfiguren auch weiterhin im ernsthaften und anspruchsvollen Roman, etwa bei Theodor Gottlieb von Hippel in den Kreuz- und Querzügen des Ritters von A bis Z (1793-1794) 28 oder bei Jean Paul im Hesperus (1795) gleich in dreifacher Ausgabe. 29 Blanckenburgs Kritik wurde von Friedrich Schlegel in den Athenäumsfragmenten (1805) aktualisiert, wo er gegen Jean Paul polemisierte: Wenn seine Werke auch nicht übermäßig viel Bildung enthalten, so sind sie doch gebildet: das Ganze ist wie das Einzelne und umgekehrt; kurz, er ist fertig. Es ist ein großer Vorzug des Siebenkäs, daß die Ausführung und Darstellung darin noch am besten ist; ein weit größerer, daß so wenig Englän- <?page no="140"?> 140 Michael Maurer 30 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abt. Bd. 2, S. 246. 31 Knigge: Reise nach Braunschweig, S. 84-91. der darin sind. Freilich sind seine Engländer am Ende auch Deutsche, nur in idyllischen Verhältnissen und mit sentimentalen Namen. 30 Solche Kritik verstummte nicht mehr. Adolph Freiherr Knigge zerpflückte etwa die Komödie Die Indianer in England (1790) von August von Kotzebue in seiner Reise nach Braunschweig (1792) con gusto mit zahlreichen Verweisen auf die Unwahrscheinlichkeit und das Künstliche von Kotzebues Bühnenengländern: Verzeichnet sind fast alle Charactere. […] Samuel und der Visitator haben Originalität, aber sie sind so offenbar von teutscher Schöpfung, daß wohl schwerlich in ganz Großbrittanien zwey solcher Charactere werden gefunden werden. - Wenn sich ein teutsches Fräulein mit allen albernen Prätensionen des Adelstolzes an einen englischen Kaufmann verheyrathete, so würde diese Thorheit doch gewiß in dem ersten Jahre ihres Aufenthalts in Großbrittanien schon von ihr weichen; Nichts kann ihr dort Nahrung geben; Man wird sie nicht einmal verstehn. Die ganze Art der Zusammenlebung, die öffentliche persönliche Achtung, deren ein Kaufmann daselbst in viel größerm Maaße, wie ein kleiner teutscher Edelmann, genießt; das alles wird ihr die Grillen von ihren Ahnen bald vertreiben. […] - Wer Schauspiele schreibt, soll doch auch die Sitten des Landes studieren, in welches er seine Scenen versetzt; auch das vergißt der Herr von Kotzebue in der Eil, mit welcher er schreibt. Herr Smith heißt Sir John, folglich ist er Baronet, denn kein Andrer führt in England vor seinem Taufnamen den Titel Sir. Er selbst aber sagt, er sey von bürgerlicher Abkunft. Aber sey er Baronet; so kann, bey seinen Lebzeiten, es doch sein Sohn nicht auch seyn; allein auch Dieser nennt sich selbst Sir Samuel Smith. - In England wird niemand zehntausend Pfund lieber in baarem Gelde als in Banco-Noten haben wollen, wie Herr Samuel. - In England wird gar kein Knaster verkauft und doch will Herr Smith Knaster rauchen. 31 VI. Zu den literarischen Gattungen gehören, neben den inneren Traditionen einer jeden Gattung, auch gattungsspezifische Vorstellungen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Deshalb geht eine Kritik der Fiktion unter Berufung auf die Realität keineswegs komplett an der Literatur vorbei; sie legt vielmehr deren Wirkungsbedingungen offen. Die Kritik an den Figuren der Engländerin und des Engländers im deutschen Roman und im Schauspiel kann insofern nur wirklich verstanden werden, wenn man die gleichzeitige Veränderung der Wirklichkeit und die Umwertung der Nationalcharakterklischees in <?page no="141"?> 141 Die Figuren des Engländers und der Engländerin 32 Knigge: Ausgewählte Werke, Bd. 8: Politik I, S. 152-154. 33 Schütz: Briefe über London. 34 Vgl. Maurer: Aufklärung und Anglophilie, S. 213-215, 247-252, 430-447. 35 Fanny, Bd. 1, S. 67. 36 Vgl. Maurer: Skizzen aus dem politischen und sozialen Leben der Briten; Nürnberger: Der frühe Fontane; Neuhaus: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Betracht zieht. Es fällt auf, dass beispielsweise Knigge gleichzeitig mit seiner Kritik am englischen Schauplatz und den englischen Figuren bei Kotzebue eine Kritik der Anglomanie veröffentlichte, und zwar in seinem Werk Josephs von Wurmbrand […] politisches Glaubensbekenntnis, mit Hinsicht auf die französische Revolution und deren Folgen. Im 6. Abschnitt (»Ob unsere heutigen Staatsverfassungen auf echten Grundsätzen beruhen und der Stimmung des Zeitalters angemessen sind«) wird das idealisierte englische Vorbild radikal destruiert. 32 Knigge stimmt in den Chor der Kritiker der Anglomanie ein, der erst seit der Französischen Revolution vernehmbar wird. Sein Englandbild entspricht demjenigen von Friedrich Wilhelm von Schütz 33 und von bekehrten Anglophilen wie Archenholtz und Wendeborn. 34 Im Umschlagen der englischen Nationalcharakterklischees vom Positiven ins Negative wurden auch die Rollenklischees der Engländerin und des Engländers in literarischen Werken grundlegend beschädigt. Diese Entwicklung bot zwei Möglichkeiten: Das Verschwinden des Engländers aus den Romanen (wie es Blanckenburg und Friedrich Schlegel gefordert hatten) oder die Modifikation der Figur aufgrund der neuen historischen Einsichten. Wenn Blondchen in Mozarts Entführung aus dem Serail im Libretto von Stephanie dem Jüngeren nach Carl Friedrich Bretzner (1782) selbstbewusst verkündet: »Ich bin eine Engländerin, zur Freiheit geboren! « (II. Aufzug, 1. Auftritt), war das noch ganz im Sinne des Ancien Régime; nach 1789 hatte diese Figur an Überzeugungskraft verloren. Sophie von La Roche dagegen entwickelte ihre Engländerfiguren weiter nach Maßgabe des modifizierten Bildes von England, wenn in Fanny und Julia (1801-1802) die englische Hauptperson gerügt wird: »…denn selbst die geistvolle Fanny, war von diesem allgemeinen englischen Fehler, der zu hohen Schätzung des Reichthums nicht frey geblieben…« 35 . Hier hören wir bereits jene Kritik des englischen Krämergeistes, welche für das 19. Jahrhundert so charakteristisch werden sollte und in Fontanes Kritik am ›Tanz um das Goldene Kalb‹ mündete. 36 <?page no="142"?> 1 Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 115-229. 2 Zur Frühen Neuzeit insbesondere: Fränkel: Um Städte werben; Rublack: Metze und Magd; Bernard: Babylons Erbe. 3 So ist in Bernards diachroner Studie die Konzentration auf Texte männlicher Autoren auffällig. Ihre These, dass die frühneuzeitliche Tendenz zur ›Verweiblichung‹ von Städten in der Moderne geschlechterübergreifenden Stategie der ›Be-Lebung‹ weiche, wäre für Literatur von Autorinnen zu überprüfen. 4 Kleinschmidt: Die ungeliebte Stadt, S. 29 (Titel). 5 Ebd., S. 29. 6 Ebd., S. 35. Vgl. auch Kleinschmidt: Textstädte. Gaby Pailer Paris - London: Stadtraum und Gender in Erzählwerken und Reiseschilderungen Sophie von La Roches Dem Zusammenhang von Stadtraum und Gender wurde seit einigen Jahren erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Von antiken Gründungsmythen bis zu Imagines der modernen Großstadt lässt sich die Analogisierung von ›Stadt und Frau‹ nachweisen. 1 Die weibliche Allegorisierung von Städten als standhafte Jungfrau oder gefallene Hure (mit den Archetypen Jerusalem und Babylon) scheint besonders im 16. und 17. Jahrhundert auffallend. 2 Von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne überwiegt die Perspektive männlicher Autoren, die über literarische Städtetopographien dichotome Bilder des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹ generiert. 3 Das 18. Jahrhundert bildet in dieser Entwicklung eine merkwürdige Lücke, wird im Zeitalter der Aufklärung doch die Stadt, insbesondere der deutsche Stadtraum, zum eher »ungeliebte[n]« 4 Gegenstand literarischer Texte. Laut Kleinschmidt ist dies dem Umstand geschuldet, dass Deutschland keine »Metropole vom Typus Paris oder London« 5 biete. Städtedarstellungen gelten daher häufiger fremden Haupt- und Großstädten und finden sich vornehmlich außerhalb der fiktionalen Genres, in der Journal- und Reiseliteratur. 6 Die Forschung hat sich, gerade für das 18. Jahrhundert, auf nicht-fiktionale Textsorten konzentriert und überwiegend männliche Autoren in den Blick genommen, am bekannesten wohl Johann Gottfried Herder, Justus Möser und Johann Wolfgang von Goethe. Das bestätigt sich etwa in den Beiträgen des Symposiums- <?page no="143"?> 143 Paris - London: Stadtraum und Gender 7 Wiedemann (Hrsg.): Rom - Paris - London. Weitere Untersuchungen zum Verhältnis von Stadt und Literatur: Galle/ Klingen-Protti (Hrsg.): Städte der Literatur; Wuthenow: Die Entdeckung der Großstadt; Brüggemann: »Aber schickt keinen Poeten nach London«; Mahler: Stadttexte - Textstädte. 8 Pelz: Reisen durch die eigene Fremde; Scheitler: Gattung und Geschlecht. 9 S. auch Studien der Verf. zu Rom-Reisen im 18. und 19. Jahrhundert bei Hedwig Dohm und Johann Wolfgang Goethe (Pailer: Rom im Blick) und Paris-Reisen im frühen 18. Jahrhundert bei Luise Adelgunde Victorie Gottsched (Pailer: Multi-layered Conficts with the Norm). 10 Schutte-Watt: Women’s Progress; und Worley: Sophie von La Roche’s ›Reisejournale‹. 11 Maurer: Aufklärung und Anglophilie; Becker-Cantarino: Vorwort, in: England. 12 Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. 13 Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien. 14 Nenon: Autorschaft und Frauenbildung; Nenon: Aus der Fülle der Herzen; Becker-Cantarino: Freundschaftsutopie. bandes Rom - Paris - London. 7 Der Reiseliteratur von Autorinnen widmeten sich Spezialstudien, die indessen nicht direkt auf die Erfahrungen von Stadtraum fokussiert sind. 8 Zwei Aspekte wären gerade für das 18. Jahrhundert übergreifend zu untersuchen, zum einen das Verhältnis von literarischen Städten zu realen Städten, zum zweiten das Verhältnis von Gender- und Stadt-Imagines, und zwar beides für Texte von Autoren und Autorinnen. Dem Desiderat kann hier indessen nur insofern begegnet werden, als eine exemplarische Untersuchung 9 zu Sophie von La Roche unternommen wird. Würdigung fanden La Roches Reiseschilderungen bisher in verschiedenen Einzelstudien, 10 im Kontext der Anglophilie des 18. Jahrhunderts 11 und von Texten anderer reisender Autorinnen der Zeit, insbesondere Friederike Brun und Johanna Schopenhauer. 12 Studien, die sich dem Gesamt-Œuvre La Roches widmen, untersuchen ihre Schreibstrategien innerhalb des geschlechtlich kodierten literarischen Feldes ihrer Zeit 13 und die Errichtung eines ›weiblichen‹ Schreib- und Korrespondenz-Raumes. 14 Ein neuer Aspekt eröffnet sich indessen, wenn man die Topographien der literarischen Texte La Roches mit ihren Strategien der Raumergreifung als reisende Autorin verknüpft. Den Bezugspunkt sollen dabei die beiden frühen europäischen Metropolen Paris und London bilden. Bereits in ihrem Debütroman, Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771), alludiert La Roche beide gleichsam als Orte der (potenziell gefährlichen) großen Welt, wenn der Verführer aus London stammt, sein Hauptkorrespondent sich in Paris aufhält. Im Kontrast dazu präsentiert die Erzählung Der schwermüthige Jüngling (1783) einen jungen Helden, der Bildungsreisen in europäische Städte unternimmt. Mitte der achtziger Jahre kann La Roche endlich selbst erst nach Frankreich, dann nach England reisen. Höhepunkte bilden jeweils die Hauptstädte. In einem ersten Teil sollen zunächst Roman und Erzählung, in einem zweiten dann die Reiseschilderungen untersucht werden, um die Strategien der <?page no="144"?> 144 Gaby Pailer 15 Die ausgedehnte Sekundärliteratur, die sich mit dem Roman in anderen Zusammenhängen als dem hier behandelten Städte-Diskurs befasst, kann nicht im Einzelnen zitiert werden. Sie ist über die neueren grundlegenden Forschungsarbeiten von Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien; Nenon: Autorschaft und Frauenbildung, sowie die Edition von Becker-Cantarino erschließbar. 16 Kleinschmidt: Die ungeliebte Stadt, Titel. 17 Sternheim, erstmals S. 62. Der Hof und die umliegenden Landgüter bilden die Topographie des ersten Romanteils. 18 Die Schreibweise ändert sich, z.B. »P.« (ebd., S. 41, 48, 213), dagegen »P**« (S. 169). 19 Ebd., S. 61-62. 20 Ebd., S. 63. 21 Ebd., S. 64. 22 Ebd., S. 68. 23 Ebd., S. 99. 24 Ebd., S. 146. literarischen Bearbeitung von Paris und London vor und nach ihrem Besuch beider Städte zu vergleichen. Der erste Eindruck von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim 15 deckt sich grundsätzlich mit Kleinschmidts These von der »ungeliebte[n] Stadt«. 16 Deutsche Orte, seien es Reichsstädte, Residenzen oder Dörfer, werden in anonymisierter Form bzw. mit einem Akronym wiedergegeben. Im Zentrum des ersten Romanteils steht »D.«, 17 Residenz eines Fürsten, dem die unerfahrene, auf einem Landgut bei »P.« 18 aufgewachsene, früh verwaiste Heldin als Mätresse zugespielt werden soll. Der Hof in D. konfrontiert sie mit einer »ganz neuen Welt«, deren »Geräusch von Wagen und Leuten« ihr »an die ländliche Ruhe gewöhntes Ohr« stört. 19 Putz, Kleidung und Äußerlichkeiten stehen im Vordergrund. D. als Stadt außerhalb des Hofes wird nur kurz erwähnt, als Sophie sich über die von ihrer Tante sehnsüchtig erwarteten »Hof- und Stadtkleider« amüsiert, in denen sie ihre »Erscheinung machen« soll. 20 Abgesehen davon ist der Raum, in dem sie sich bewegt, ein Fürstenhof, dessen Leben sich ganz auf den Regenten konzentriert, mit Komödienbesuchen und Maskenbällen. D. präsentiert sich ihr als »die große Welt« 21 , die sie bislang nur aus Schilderungen ihres Vaters und ihrer Großmutter kannte, und nun »durch [s]ich selbst« kennenlernt. 22 Der Bildungsaspekt freilich ist der einzige Nutzen, den sie aus ihrem Aufenthalt zu ziehen vermag, konstatiert sie doch schon recht bald: »D. hat nichts - nichts für mich.« 23 Um die dem Landleben zugeneigte Sophie ins Garn des Fürsten zu locken, wird gar ein regelrechtes Landfest organisiert, bei dem sich der Hofadel bäuerlich kostümiert. Sophie nimmt freudig, in der »Kleidung eines Alpenmädchens«, 24 am Fest teil. Dabei ahnt sie nicht, dass die Festivität eigens für sie inszeniert wurde, obschon sie den Inszenierungscharakter als solchen durchschaut: »wo mir denn bald der fröhliche und glänzende Haufen von Landleuten, die wir vorstellten, in die Augen fiel, bald auch der, welchen <?page no="145"?> 145 Paris - London: Stadtraum und Gender 25 Ebd., S. 148. 26 Akronyme bzw. anonyme Dörfer bilden mehrfach einen Gegensatz zu Stadträumen: Derbys Diener bringt Sophie ins Dorf »Z* unweit B*« (ebd., S. 198); Sophie hält sich im einsamen Dorf auf (S. 210); Derby und Seymour treffen sich zufällig in einem Dorf (S. 224); Seymour kommt mit seinem Oheim zu dem Dorf, in dem sich Sophie aufhielt (S. 259). 27 Ebd., S. 234 (Hervorhebung. i. O.). 28 Ebd., S. 303 (Hervorhebung i. O.). 29 Nach Vaels, zum Gesindehaus der Mme. Hills, nach D. und auf das Sternheimsche Gut. 30 Ebd., S. 99 (Hervorhebung i. O.). 31 Ebd., S. 64. 32 Ebd., S. 100. unsre Zuseher ausmachten, darunter ich viele arme und kummerhafte Gestalten erblickte«. 25 Während der erste Romanteil um D. kreist, führt der zweite die Heldin an zahlreiche kleinere deutsche und englische Orte. Nachdem die Hofintrige Sophie in die Arme Lord Derbys getrieben hat, flieht sie, begleitet von dessen Diener John und ihrem Kammerfräulein Rosina in ein einsames Dorf, 26 bis sie, von Derby enttäuscht und verlassen, unter dem Inkognito »Madam Leidens« 27 zu ihrer Freundin Emilia nach Vaels geht und bei Madam Hills als Erzieherin tätig wird. Auf einer Badereise nach Spaa lernt sie die englische Lady Summers kennen, mit der sie auf deren Landsitz reist, von wo Derby sie nach den schottischen »Bleygebürgen« 28 verschleppen lässt. Erneut kann sie sich retten, heiratet schließlich Lord Seymour, zu dem sie schon in D. eine Neigung gefasst hat, und lebt mit diesem - nach einer Reise an deutsche Orte 29 - auf seinem englischen Landgut. Im Geflecht von Korrespondenzen, das der Briefroman entfaltet, finden drei europäische Städte Erwähnung, Florenz, Paris und London. Das italienische Florenz ist Aufenthaltsort ihrer Tante Gräfin G. und deren Mannes, während Sophie in D. weilt. Zu ihnen wünscht sie nach ihrer Flucht zu reisen, doch Derby bricht, wie alle anderen, auch dieses Versprechen. Signifikanter in ihrer Funktion für den Roman sind Paris und London. Beide stehen in engem Zusammenhang zu den beiden Engländern, Lord Seymour und Lord Derby, die Sophie in D. kennenlernt. Der Adressat Derbys ist ein Lord B. »in Paris«. 30 In mehreren Briefen der beiden Korrespondenten nimmt Paris eine Kontrastfunktion zu D. ein. Repräsentiert die Residenz, wie bereits erwähnt, für Sophie die »große Welt«, 31 so erhellt sich aus Derbys Briefen, dass das dortige Hofleben, die Intrigen und die Orientierung an Äußerlichkeiten, nur eine Miniaturausgabe der wirklich ›großen Welt‹ darstellen. Er setzt sich zum Ziel, das Landmädchen Sophie, »Meisterstück der Natur und der Kunst« 32 zu erbeuten, was wesentlich <?page no="146"?> 146 Gaby Pailer 33 Ebd. 34 Ebd., S. 169. 35 Ebd., S. 219. 36 Die Schreibweise wechselt zwischen »T**« (ebd., S. 90) und »T.« (S. 173). 37 Ebd., S. 264. schwieriger sei, als die »Pariser Eroberungen« 33 seines Freundes, die aus käuflichen Koketten und Aktricen bestehen. In D. befindet sich Derby in einer grundsätzlich anderen Ausgangssituation als in der französischen Metropole, wo alles für Geld zu haben ist. Auch der Fürst, den er im Kartenspiel mit Sophie und einem französischen Marquis beobachtet, ist hingerissen von Sophies auf dem Land »in P**« gewonnenen Grazie und ist davon überzeugt, dass Frankreich »nichts Liebenswürdigers zeigen« kann. 34 Freilich ist der Freund in Paris letztendlich schlauer, da er die kurze Dauer von Derbys brennender Leidenschaft eher als dieser erkennt: »Wie, zum Henker, konnte Dein Dummkopf dieses in Paris sehen, und ich hier so ganz verblendet sein? « 35 Der Adressat des zweiten Engländers, Lord Seymour, ist ein gewisser Doktor T., 36 von dessen Aufenthaltsort man lange Zeit nichts erfährt. Er ist offenbar wie Seymour Engländer und dessen väterlicher Freund und Ratgeber. Nachdem Seymour in das einsame Dorf kam, wo Sophie weilte, und entdeckt hat, dass Derby es war, der (zum Schein) sich mit ihr vermählte, bittet er Doktor T.: »Beobachten Sie ihn, wenn Sie nach London kommen, ob Sie nicht Spuren von Unruhe und quälender Reue sehen.« 37 Derby hat mittlerweile seinen Bruder beerbt, führt den Namen eines Lord N. und hat eine Lady Alton geheiratet, die ihn aber weit weniger reizt als die nach Schottland verbannte Sophie von Sternheim. Nach einer Paris-Reise erkrankt er schwer und erwartet auf seinem Landsitz in Windsor bei London seinen Tod. Während Paris als Potenzierung einer deutschen Residenz wie D. erscheint und mit Leichtsinn, Luxus und Verführbarkeit assoziiert wird, und der Bösewicht am Ende dorthin reisen muss, um mit einer zwar nicht explizit so diagonstizierten, jedoch unschwer zu assoziierenden ›französischen Krankheit‹ bestraft zu werden, erscheint die Metropole London als neutrale Geschäftsstadt und als der Ort, an dem der Verführer reuevoll stirbt. Diese unterschiedliche Konnotation beider Metropolen ist auch in Sophies Äußerungen zu erkennen. So schildert sie den Besuch eines französischen Schriftstellers in D., […] den ein Mangel an Pariser Glück und die seltsame Schwachheit unsers Adels die französische Belesenheit immer der deutschen vorzuziehen in dieses Haus führte. Die Damen machten viel Wesens aus der Gesellschaft eines Mannes, der geradenwegs von Paris kam, viele Marquisinnen gesprochen <?page no="147"?> 147 Paris - London: Stadtraum und Gender 38 Ebd., S. 129 (Hervorhebung i. O.). 39 Ebd., S. 131. 40 Ebd. 41 Ebd. (Hervorhebung i. O.). 42 Ebd., S. 276. 43 Ebd., S. 294. 44 Ebd., S. 317. 45 Ebd., S. 346. hatte, und ganze Reihen von Abhandlungen über Moden, Manieren und Zeitvertreibe der schönen Pariser Welt zu machen wußte […]. 38 Sie unterhält sich mit ihm über die Bildung der »französischen Damen« 39 und gewinnt den Eindruck, dass »diese Nation« 40 der eigenen, was Bildungschancen für Frauen betrifft, einiges voraus habe, wundert sich aber zugleich über die Kavalierstouren junger deutscher Männer, die den deutschen Damen ganz entgegengesetzte Eindrücke vermitteln: Warum brachten seit so vielen Jahren die meisten unserer Kavaliere von ihren Pariser Reisen ihren Schwestern und Verwandtinnen, unter tausenderlei verderblichen Modenachrichten, nicht auch diese mit, die alles andere verbessert hätte? Aber da sie für sich nichts als lächerliche und schädliche Sachen sammeln, wie sollten sie das Anständige und Nutzbare für uns suchen? 41 Die französische Metropole wird in deutlicher Verbindung mit Geschlecht gesehen, als Ort, der als Stadt der Moden auf deutsche Frauen besonderen Reiz ausübt, was aber auch darin begründet liegt, dass es deutsche Männer sind, die die ihrem Geschlecht vorbehaltene Paris-Reise schlecht nutzen und falsche Klischees von der ›Weiblichkeit‹ der Stadt heimbringen. London findet in Sophies Aufzeichnungen vier Mal Erwähnung. Als sie in Spaa einwilligt, Lady Summers nach England zu folgen, schreibt sie: »Nach London würde ich nicht gegangen sein; Gott bewahre mich vor der Gelegenheit Engländer, die ich schon kenne, zu sehen! « 42 In Summerhall dauert es nicht lange, bis »Briefe von London« 43 kommen, und zwar von Lord N., der die junge Lady Alton, Nichte der Lady Summer, geheiratet hat, und dessen Handschrift sie als die Derbys erkennt. Im schottischen Gebirge erhält sie Besuch von Derbys Diener John, […] um mir den verhaßten Vorschlag zu tun; ich sollte mich zu dem Lord nach London begeben; er liebe seine Gemahlin nicht, wäre auch selbst kränklich geworden, und halte sich meistens auf einem Landhause zu Windsor auf, wo ihm mein Umgang sehr angenehm sein würde. 44 Sophies letzter Brief, nun als Lady Seymour, endet mit der Aussicht, die englische Hauptstadt selbst zu besuchen: »[I]ch werde aber meine übrigen Verwandten, London und den großen Kreis meiner Nachbarn erst nach unserer Zurückkunft aus Deutschland sehen.« 45 <?page no="148"?> 148 Gaby Pailer 46 Jüngling. 47 Ebd., S. 35. 48 Ebd., S. 13. 49 Ebd., S. 8-9. Paris und London bilden im Roman symbolische Räume, insofern sie mit sozialen Strukturen und Geschlechterverhältnissen konnotiert sind. Anders als Paris, das in den Schilderungen Derbys und Sophies sexualisiert und mit einem Geschlechterverhälnis vom Mann als Eroberer, der Frau als potenzieller Beute unterlegt wird, bleibt die Darstellung Londons geschlechtsneutral. Es scheint auf als Ort, aus dem der Verführer stammt, wohin er sein Opfer bis zuletzt locken will, und wo er schließlich seiner Krankheit erliegt, sowie als Ort, an dem Sophie Verwandte zu treffen hofft. Wirtschaftlich-politische Faktoren werden in Bezug auf beide Städte nur indirekt angesprochen: Paris als die gesteigerte Version einer fürstlichen Residenz wie D., in der der ›Landesvater‹ dem Luxus und Mätressenwesen frönt, anstatt für seine Untertanen vernünftig zu sorgen; zwar nicht London direkt, aber England als eine Nation, die liberalere Vorstellungen von ständischer Hierarchie unterhält und daher auch die Verdienste einer jungen Frau wie Sophie, die nicht von altem Adel ist, anders zu würdigen vermag. La Roches zwölf Jahre später veröffentlichte moralische Erzählung Der schwermüthige Jüngling 46 stellt im Unterschied zum Sternheim-Roman einen reisenden jungen Mann ins Zentrum: Eduard Rose, reicher Kaufmannssohn, besucht mit seinem Hofmeister Gutheim europäische Länder und Städte. Nach dessen Tod lernt er in einer Stadt eine Witwe Sittens mit sechs Kindern kennen, in deren zweitälteste Tochter, Juliane, er sich verliebt. Sein Vater schickt heimlich einen Brief an die Witwe, in dem er ihr dankt, dass die Besuche seines Sohnes in ihrem Haus diesen von seiner Schwermut ablenkten, sie aber gleichzeitig davor warnt, dass Eduard nicht durch eine der Töchter »angekettet würde«. 47 Als Eduard eines Tages emphatisch um Juliane anhält, zeigt ihm die entsetzte Mutter den Brief. Eduard will zu seinem Vater reisen, doch ist dieser soeben verstorben, Eduard mithin nun sein eigener Herr. Eduard ist ein empfindsamer Jüngling, der sich in großen Städten nicht wohlfühlt (»Grosse lärmende Städte liebte er gar nicht […]« 48 ). Den Landsitz seines Vaters zieht er dem Stadthaus vor. 49 Am Ende, nach glücklicher Verbindung mit Juliane, wünscht er sich, dass sie alle lieber auf dem Land wohnen sollen. Deutsche Orte, Eduards Vaterstadt oder die Stadt, in der die Witwe mit ihren Kindern wohnt, bleiben namenlos - anders die Länder und Städte, die Eduard mit seinem Lehrer besucht, darunter Paris und London. Die Erwähnung beider Metropolen erfolgt zusammenhängend: <?page no="149"?> 149 Paris - London: Stadtraum und Gender 50 Ebd., S. 13-14 (Hervorhebung i. O.). 51 Unter den Politikern und Schriftstellern des Namens Littelton (auch in der Schreibweise Lyttelton oder Littleton) lässt sich keiner als der von La Roche skizzierte Reformer identifizieren. Vgl. Oxford Dictionary of National Bibliography (www.oxforddnb.com). Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine Namensverwechslung: Gedacht ist hier wohl an Sir Hugh Myddelton, Goldschmied und Unternehmer, der mit Gründung der New River Company im frühen 17. Jahrhundert zur verbesserten Wasserversorgung Londons beitrug und dessen neues Rohrsystem bis ins 19. Jahrhundert in Gebrauch blieb. Für ihre gemeinsamen Anstrengungen zur Aufklärung danke ich den Historikern Chris Friedrich (UBC Vancouver), Derek Keene (University of London, UK) und Mark Yenner (University of York, UK). Den Herrn Neker in Paris achtete er als einen der grösten und beneidenswürdigsten Männer, der auf eine weise und edle Art die Last von Millionen Menschen erleichterte, und mit wahrer Gerechtigkeit aus der Schaale des Uebermuths und des Misbrauchs den Ueberfluß wegnahm, um ihn zu Lohn und Hülfe der Verdienste und der Bedürfnisse zu machen. - Der Gedanke: Ein junger König, Vater seines Volks, der Genius eines Negocianten, Schutzgeist einer ganzen Nation - erhob seine Seele. Es freute ihn, der Sohn eines Kaufmanns zu seyn. Die Wasserleitung, welche der Chevalier Littelton für ein Drittheil der Stadt London hatte bauen lassen, rührte ihn zur edlen Thräne; er hätte sie mögen erbaut haben […]. 50 Der Stadtraum selbst wird nicht beschrieben, der Erzähler bezieht sich vielmehr auf einzelne herausragende ökonomische und technologische Leistungen. In Paris ist es der kaufmännische Sinn des Finanzministers, Jacques Necker, der den Missständen - Luxus des Adels, Armut des Volkes - nach Kräften abhilft. Eine politische Dimension kommt hinzu, indem Eduard als Kaufmannsspross sich lieber mit dem Finanzminister, als dem französischen König vergleicht. In London bewundert er den sozial-politischen Verstand eines Chevalier Littelton - gemeint ist wohl Sir Hugh Myddelton 51 -, dessen Verbesserungen der urbanen Wasserversorgung seit dem 17. Jahrhundert dem Volkswohl dienten. Während im Roman eine aus Zwang und Not reisende Frau mit den schlecht genutzten Kavalierstouren deutscher Jünglinge kontrastiert wird, präsentiert die Erzählung die Sicht auf einen solchen jungen Mann, der als vermögender Kaufmannssohn die Kavalierstour für seine eigene Bildung zwar zu nutzen vermag, den Rückzug aufs Land aber für sich selbst vorzieht, unter gleichzeitigem Verzicht auf Einmischung in die Geschäfte der ökonomisch-politischen Welt. Ist im Roman die symbolische Dimension von Paris und London vorherrschend, insofern es sich um Stadträume handelt, die von der Heldin selbst nur in der Vorstellung besucht, ansonsten nur über Dritte vermittelt werden, so bietet die Erzählung eine kurze Reflexion auf beide Städte als soziale, wirtschaftliche und politische Räume in Korrelation <?page no="150"?> 150 Gaby Pailer 52 Vgl. Maurer: Einleitung, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 28; Becker- Cantarino: Vorwort, in: England, S. 13-15. 53 Vgl. die Titelseiten im Journal einer Reise durch Frankreich und Tagebuch einer Reise durch Holland und England. 54 Frankreich, S. 327. 55 England, S. 611-612. 56 Frankreich, S. 35. 57 Ebd., S. 37. 58 Ebd., S. 38. 59 Ebd., S. 67. 60 Ebd., S. 42. mit der Standes- und Genderrolle des männlichen Reisenden. Beide Erzähltexte eröffnen Aspekte, die auf La Roches Beobachtungen als reisende Schriftstellerin vorausweisen. Erst Jahre nachdem sie ihre ›papiernen‹ Mädchen und Jünglinge hat ihre Reiseerfahrungen machen lassen, ist es Sophie von La Roche möglich, selbst zu reisen. Wie schon 1784 für ihre Schweizreise findet sie in den zwei folgenden Jahren Gönner für die Reisen nach Frankreich und England: 1785 begleitet sie ihre Freundin Elise von Bethmann aus einer bekannten Frankfurter Bankiersfamilie, die u.a. in Bordeaux Verwandte besuchen will; 1786 wird sie von Baron Hohenfeld eingeladen, als Gesellschafterin seiner Schwester, Frau von Erthal, nach England zu reisen. 52 In beiden Fällen reist sie im Selbstverständnis einer erfolgreichen Schriftstellerin. Auf der Titelei beider Reiseberichte erscheint sie zwar nicht namentlich, jedoch als Autorin ihres jüngsten Romans: »von der Verfasserin von Rosaliens Briefen«. 53 In beiden Reiseberichten erwähnt sie andere ihrer Werke, in Frankreich etwa ist sie als die Autorin der Sternheim 54 bekannt, auf der England-Reise vermerkt sie, dass sie durch Absatz einer Restauflage der Pomona ihrem mitreisenden Sohn Carl die Rückreise über Paris ermöglichen kann. 55 Obschon eine große Zahl Orte auf dem Weg besucht und geschildert werden, bilden in beiden Reiseberichten die Metropolen den Höhepunkt, wobei Paris in Referenz zu seinem Ruf in Deutschland betrachtet, London dagegen immer wieder mit Paris verglichen wird. »In wenigen Stunden bin ich nun in Paris, wohin so viele Tausende sich wünschen, und dessen Anblick ich mit Begierde erwarte«. 56 Zwischen hohen Häusern, deren Erdgeschosse Kramläden beherbergen, fallen ihr die »ganz gemeinen Leute« auf, die »ungemein schmuzig und schlecht [gingen]«. 57 Paris ist eine »Stadt, wo das Aeusserliche das meiste ist«, 58 weshalb man in eine Wohnung mit besserer Aussicht am Palais Royal umzieht. Als schon ältere Frau, die »für ihr äusserliches Ansehen gleichgültig geworden ist« 59 glaubt sich La Roche in der rechten Position, um den »Zauberort Paris«, 60 die <?page no="151"?> 151 Paris - London: Stadtraum und Gender 61 Ebd., S. 519. 62 Ebd., S. 37, 172. 63 Ebd., S. 456. 64 Ebd., S. 42. 65 Ebd., S. 47. 66 Ebd., S. 384. 67 Ebd., S. 54. 68 Ebd., S. 235. 69 Ebd., S. 372. 70 Ebd., S. 519. 71 Ebd., S. 50. 72 Ebd., S. 56. 73 Ebd., S. 364. 74 Ebd., S. 56. 75 Ebd., S. 227. 76 Ebd., S. 148-149. »Wunderstadt«, 61 neutral zu schildern, obschon sie sich des in Deutschland herrschenden Vorurteils 62 und der Wirkungsmacht des Landes, »von welchem wir Teutsche von der ersten Jugend an sprechen hören« 63 bewusst ist. Gleichwohl ist ihre fest verankerte Vorstellung des französischen Nationalcharakters nicht zu verbergen: Frankreich sei eine Nation mit »Talent für Kleinigkeiten«, 64 »welche Pracht liebt«, 65 ein »Land, wo der Witz einheimisch«, 66 die »Geschwätzigkeit« 67 der Leute auffällig ist. Charakteristisch erscheinen ihr die »Munterkeit der Nation« 68 , eine »natürliche Lebhaftigkeit« 69 und schließlich der »Leichtsinn«, der die Grundlage des »gesellschaftlichen Wesens« 70 bilde. Entsprechend fallen ihr Modebewusstsein und Gefallsucht auf 71 , die Launenhaftigkeit im »Kopfputz« 72 der Pariserinnen, aber auch »die etwas zu große Freyheit«, die man Kindern gewährt, »mit ihren Eltern zu scherzen, und sie wie ihre Cameraden zu necken«. 73 »Mutterliebe« glaubt sie auch in Paris beheimatet 74 , wundert sich aber bei einem Ausflug in das Dorf Chantilly, dass Pariser Damen ihre Säuglinge auf dem Land bei Bäuerinnen in Pflege geben. 75 Ihr besonderes Missfallen erregt die mangelnde Zucht der jeunesse dorée: Diese Classe Menschen stehen um 10 oder 11 Uhr des Morgens auf, haben dann mit Frühstücken und Morgenkleidung zu thun, rennen hierauf in ein berühmtes Koffeehaus, gucken und horchen eine Weile, gehen von da zu einer artigen Geliebten […], hören ihr zu, wenn ihr aufgeweckter Kopf gerade gestimmt ist, einen Menschen zu unterhalten, der nicht eine Sylbe spricht, sondern nach einem oft zwo Stunden dauernden Stillschweigen wieder weggeht, um sich zu einem Mittagsessen anzukleiden […]. Ist dieses Leben in der Blüthe von etlich und zwanzig Jahren wohl ein Leben zu nennen? und welche Rolle mögen diese armen Leute wohl spielen, wenn sie dreisig, vierzig und funfzig alt sind? 76 <?page no="152"?> 152 Gaby Pailer 77 Ebd., S. 447. 78 Ebd., S. 126. 79 Ebd., S. 178. 80 Ebd., S. 111. Vgl. auch S. 37. 81 Ebd., S. 77. Vgl. auch S. 80. 82 Ebd., S. 65. 83 Ebd., S. 96. 84 Ebd., S. 438. Weitere Stellen: S. 52 und 66. 85 Ebd., S. 75-76. 86 Ebd., S. 127-128. Sie moniert ein laissez-faire in der Erziehung, das sich gar auf die Regierungsebene auswirkt. Als Beispiel führt sie Cardinal Fleury an, den Hofmeister Ludwigs XV., der »die unumschränkte Gewalt« erhielt, den König in »freyen Stunden zum Leichtsinn und Müßiggang« zu verleiten. 77 Den von jungen Adligen besuchten »artigen Geliebten« unterstellt sie dabei größere Intelligenz. Geschäftssinn in einer positiven Konnotation bemerkt sie ebenfalls bei einer Frau, die den höfischen Hang zum Luxus bedient, Madame Bertin, die im Ruf eines »Voltaire unter den Modehändlerinnen« steht. 78 Während La Roche sich fragt, warum »ganz Europa den Nacken unter den Zepter der phantastischen Mode« beuge, bewundert sie den praktischen Verstand der Modehändlerin, die »vielen hundert Menschen Lebensunterhalt verschafft«. 79 Ein dominantes Thema ist der Gegensatz von Arm und Reich, bzw. Schmutz und Pracht, was sie vor allem deshalb betont, weil den Deutschen »von Jugend auf die seltsame Idee eingeprägt würde, als ob in Paris alles schön, alles vollkommen und Prachtvoll wäre«. 80 Sei es beim Durchfahren der Boulevards oder beim Spaziergang, Schmutz und Elend sind »beynah unbeschreiblich« 81 , Unreinlichkeit und Volksarmut übersteigen »alle Vorstellung« 82 . Ihr Fazit lautet: »Gewis, das Volk in Paris muß dem gerechten gefühlvollen Fremden schätzbar werden, und er muß es bedauern, wenn er sieht, wie viele Mühe es sich giebt, so kümmerlich lebt, so viel arbeitet, und so wenig Glück und Achtung genießt.« 83 Dass die Arbeit der »Polizey« lobenswert ist - »Die pariser ist gewiß die kunstvollste und zugleich vollkommenste Machine dieser Art« 84 - kann über die zu grausam empfundene Strafjustiz mit öffentlichen Hinrichtungen nicht hinwegtäuschen. Im Falle einer solchen Hinrichtung - Vierteilung des Delinquenten auf dem Rathausplatz - bemerkt sie, dass insbesondere Frauen, die bei einer Todesszene im Theater ohnmächtig zu werden pflegen, unter den Schauslustigen gewesen seien. 85 Unorganisiert sind die Theatervorstellungen selbst, einmal etwa in der »italiänischen Comedie« 86 bricht ein Tumult aus. La Roches Blick auf Armut, mangelnde Ordnung und Hygiene lässt sie auch Schulen und soziale Einrichtungen kritisch beleuchten. Im Findelhaus etwa wird ihr »der Nationalcharakter unendlich werth; denn die dem Franzo- <?page no="153"?> 153 Paris - London: Stadtraum und Gender 87 Ebd., S. 109. 88 Ebd., S. 164-165. 89 Ebd., S. 202. 90 Ebd., S. 487. 91 Ebd., S. 185. 92 Ebd., S. 88. 93 Ebd., S. 508. 94 Ebd., S. 134. Vgl. auch ihre Einschätzung, der Palast der Tuilerien sei königlicher als das Schloss zu Versailles, S. 401. 95 Ebd., S. 181-183. 96 Ebd., S. 183. 97 Ebd., S. 91. sen eigene Munterkeit und Unruhe zeigt sich nicht nur in diesen Kindern sehr frey, sondern wird auch mit vieler Liebe geduldet«. 87 Weiter besucht sie ein von Anna von Österreich gestiftetes Nonnenkloster, das Marie Antoinette in ein freies Damenstift verwandeln will 88 , eine Taubstummen-Schule 89 und schließlich die von Madame de Maintenon gegründete Mädchenschule in St. Cyr: Wer nicht an Nationalphysiognomie glaubt, darf nur die 250 blühende Mädgen sehen, und bemerken: Wie fein schon die ersten Spuren des Witzes, der Heiterkeit, des Ehrgeizes, der Liebe, des Putzes, der Güte und Sanftmuth sich ausdrücken […]. 90 Bekannte Gebäude, die sie besucht, sind der Louvre, 91 Notre Dame, 92 zahlreiche Paläste, wie etwa der »Pallast der Gerechtigkeit«, in dem sie einer Parlamentssitzung beiwohnt. 93 Beim »Pallast der Tuileries« bedauert sie, »daß dieses herrliche Gebäude nicht vollendet und von seinen Königen bewohnt wurde«, 94 der französische Monarch, Ludwig XVI. statt dessen in Versailles residiert, welches sie durch Herrn Pfeffel, königlichem Rat daselbst, in mehreren Besuchen kennenlernt. Beim ersten Besuch macht sie die Erfahrung, dass Pilgerfahrten nach Versailles, sei es, um die königliche Familie zu sehen oder Petitionen einzureichen, mit einem erhöhten Wegzoll belegt werden und die Kutscher sich in Geschwindigkeitsrekorden überbieten. 95 Endlich angekommen, konstatiert La Roche, dass das Schloss in natura weniger prächtig wirkt als auf Kupferstichen. 96 Verbunden mit den zahlreichen Beispielen zu Nationalcharakteristiken des sozio-ökonomischen Pariser Raumes - Erziehungsaspekte, Geschäftssinn, Besitzverhältnisse, Organisation und Ordnung des öffentlichen Lebens - ist das Journal einer Reise durch Frankreich von Eindrücken des französischen Königspaars durchzogen, über die Paris als politischer Raum erscheint. Kurz nach ihrer Ankunft verfolgt sie den Einzug Ludwigs XVI. in Paris vom Balkon einer befreundeten Familie aus. Sie kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass »alles Gold […] ein Ansehn von Rost und Alter« 97 hat. Obschon sie <?page no="154"?> 154 Gaby Pailer 98 Ebd., S. 403. 99 Ebd., S. 404. 100 Ebd., S. 371 (Hervorhebung i. O.). 101 Zum Beispiel ebd., S. 372, 404, 443. 102 Ebd., S. 557. Ludwigs Erscheinung in günstigem Licht sieht, reflektiert sie bei ihrem Besuch in Versailles - nicht ohne Ironie - seine überdimensionale Machtposition: »Es war für mich ein sonderbarer Augenblick, in welchem ich sagte: Das ist also der Mensch, welchem 25 Millionen Menschen unterworfen sind. Es ist ein wichtiges Geschöpf, so ein König von Frankreich.« 98 Im Zweifel, ob sich dies mit seiner Kurzsichtigkeit verträgt, wünscht sie ihm »gute Augen […], weil das kurze Gesicht macht, daß er blinzelt, welches den gefälligen Eindruck vermindert«. 99 Gemischt sind auch ihre Eindrücke von Königin Marie Antoinette. Kurze Zeit nach La Roches Ankunft in Paris bringt diese einen Sohn zur Welt, und nach ihrer Rückkehr von einer Bordeaux-Reise verfolgt sie den Einzug der Königin nach dem Wochenbett vom selben Balkon aus, von dem sie der Parade Ludwigs XVI. beiwohnte: Was ist das? alle Strasen voll Menschen, und niemand ruft: Vive la Reine! Die todte Stille war auffallend im Vergleich des Rufens beym Einzug des Königs. Ein Mann von diesem Geist sagte mir: Sie sehen einen Zug des Volks, welches den Muth hat, sein Misvergnügen zu zeigen. Es trägt Lasten, aber es kriecht nicht, wie die Grosen: Man hat etwas gegen die Königinn, und zeigt ihr, daß man nur der Pracht des Zuges zu liebe kam, nicht für ihre Person. 100 Immer wieder lobt sie die schöne, erhabene Gestalt der Königin, 101 die allerdings auch immer in deutlicher Distanz zum Volk erscheint. Kurz vor ihrer Abreise lässt La Roche in Gedanken noch einmal alle »characteristischen« Situationen Revue passieren, in denen sie Marie Antoinette gesehen hat: Einmal als sie mit wirklicher Majestät die grose Gallerie zwischen 1200 Personen in Versailles durchgieng; dann in der Kirche vor Gott; dann an der Tafel; beym Einzug in Paris; im Kabriolet […]. Man kann selten mehr Feinheit im Gesichte und Feuer im Auge haben, als diese Dame. Und heute sahe ich Antonie von Oesterreich, als Mutter und Tänzerin. Bey meinem letzten Blick dachte ich: Schöne gute Frau! Möge Frankreichs Genius und dein eigener Engel deine Schritte leiten, damit die schönste Stelle, welche sich eine Fürstin wünschen kann, eine glückliche und geliebte Königin zeige. 102 In Paris kulminiert für La Roche die französische Nationalkultur, die mit der Staatsform der Monarchie untrennbar verbunden ist. Ludwig XVI. und Marie Antoinette bewundert sie aus der Distanz, gewissermaßen in ihrer <?page no="155"?> 155 Paris - London: Stadtraum und Gender 103 Ebd., S. 197 (Hervorhebung i. O.). 104 Vgl. weitere Stellen zu Republik/ Monarchie (ebd., S. 446), bzw. zu antiken/ modernen Staaten (S. 451). 105 Vgl. ebd., S. 202, 231. 106 England, S. 201 (Hervorhebung i. O.). 107 Frankreich, S. 35. 108 England, S. 201. tragischen ›Fallhöhe‹. So mischen sich in ihre Bewunderung für das Königspaar Hinweise auf die Volksarmut und die große Diskrepanz in der Verteilung der Güter, die einen potenziellen Krisenherd anzeigen. Zur ›weiblichen‹ Konnotation mancher Züge des ›Nationalcharakters‹, wie etwa Witz, Munterkeit, aber auch Geschwätzigkeit, gesellen sich negative Eindrücke von Mode- und Gefallsucht, die sie allerdings auch, mit weiblichem Geschäftssinn verbunden, positiv wendet. Die Königin selbst, vom Volk als luxurierender Fremdkörper wahrgenommen, repräsentiert stärker als der Monarch selbst das Krisenpotenzial, das sich in der Metropole akkumuliert. La Roches Kritik der französischen Monarchie schließt Gedanken zur Republik - verstanden hier als eine Staatsorganisiation mit wählbarer Volksvertretung - ein, für deren Vorzüge sie Montesquieu zitiert: Er sagt so schön: In Republiken, wo das Volk die Gewalt selbst behält, oder sie Einigen vertraut, welche es wählt, ruhen die Gesetze auf der Liebe zur Gleichheit und des so viel bedeutenen Worts Tugend. In Monarchien, wo die Gewalt einem einzelnen Oberherrn gehört, sind sie auf Ehrliebe und Hochachtung gegründet. In despotischen Staaten, wo der Eigensinn des Fürsten über alle Gesetze erhaben ist, regiert allein die Furcht. 103 Grundgedanken dieser Art zur politischen Organisation eines Staates 104 bilden eine wesentliche Folie für ihre grundsätzlich positivere Erwartungshaltung bei ihrem Besuch der englischen Metropole: London, wo ›republikanischer Geist‹ sich mit der Monarchie verbindet. 105 Gleich im ersten Eintrag bei Ankunft in London zieht La Roche den Vergleich zu Paris: Nun bin ich nicht nur in dem Lande, sondern auch in der Stadt, welche zu sehen ich immer wünschte; die mehr als Paris und Frankreich, aber nicht so viel, als Italien, für mich waren […]. Doch ist London der Hauptsitz einer von so vielen Jahrhunderten ausgezeichneten Nation […]. 106 Betonte sie bei der Einfahrt in Paris, dass »viele Tausende« 107 es zu sehen wünschen, so unterstreicht sie in London den individuellen Wunsch. In gewisser Weise setzt sich dies in zahllosen Vergleichen auf allen Ebenen fort: »London ist mehr, viel mehr, als Paris, in vielen Theilen«. 108 Dass Reichtum und Armut in weniger schroffen Gegensätzen vorzufinden sind, ist eine ihrer ersten Beobachtungen, die sie in Verbindung zur Regie- <?page no="156"?> 156 Gaby Pailer 109 Ebd., S. 202. 110 Ebd., S. 250. 111 Ebd., S. 341. 112 Ebd., S. 250. 113 Ebd., S. 203. 114 Ebd., S. 226. 115 Ebd., S. 278. 116 Ebd., S. 203. 117 Ebd., S. 248. 118 Ebd., S. 444. 119 Ebd., S. 204. Vgl. auch S. 270. rungsform reflektiert: »Sollte nicht die gleichere Austheilung der Glücksgüter in England, und der viel minder merkbare Abstand unter Londons Bewohnern, dem mit der Monarchie verwebten republikanischen Geiste zuzuschreiben seyn? « 109 Die Arbeiter sind emsige, nachdenkliche, liebenswürdige Gestalten, 110 die Gesetze behandeln Lords und Mitglieder der geringsten Klasse mit gleichem Ansehen. 111 Auffällig sind die »Reinlichkeit, und ein ganz eigener guter Geschmack« 112 in Straßenzügen und Architektur. Die Gebäude sind »simpel, aber erhaben, und Verstand in allem«. 113 Die Kreationen des königlichen Hofuhrmachers werden mit französischen Werkstätten verglichen - »Keine Pariser Erfindung reicht an die, welche ich hier sah«, 114 den Tower vergleicht sie mit der (in Paris indessen nicht besuchten) Bastille : Dieser freie Zutritt in den Towr sollte jedem Engänder sein Vaterland lieb machen, weil dadurch, selbst bei Staatsgefangenen, die Rechte der Menschheit geschätzt sind. Dieß deucht mich der vorzüglichste Unterschied zwischen London und Paris zu seyn: Der Fremde wird in den Towr geführt, - und die Bastille darf man nicht einmal ansehen. Hier genießen Gefangene noch Hoffnung, und den Anblick des Himmels und der Menschen - dort nur Verzweiflung und Angst. - 115 Im Vergleich zu Frankreich ist die öffentliche Ordnung vorbildlich; »Es ist beinahe unmöglich zu sagen, wie schön alles in London geordnet ist. - Alle Gegenstände sind dem Auge reitzender vorgestellt, als in Paris, oder in irgend einer anderen Stadt.« 116 Läden und Geschäfte präsentieren sich in ihrer Schönheit. Die Polizei arbeitet auch hier mit »Sorgfalt« 117 , allerdings ist die Selbstdisziplin der Londoner Bürger so hervorragend, dass ihr Eingreifen weniger vonnöten ist: Ein Theatertumult, ähnlich wie sie ihn in Paris erlebte, entsteht hier erst gar nicht, da bei einer Unterbrechung der Vorstellung, um einen Kranken abzutransportieren, alle - auch das königliche Paar - brav warten, bis es weitergeht. 118 Die »Lehnkutschen« sind »so schön, wie die sind, in welchen man bei uns nach Hofe fährt« 119 , und stehen reichlich zur Verfügung. <?page no="157"?> 157 Paris - London: Stadtraum und Gender 120 Ebd., S. 256, 260. 121 Ebd., S. 257. 122 Ebd., S. 260. 123 Ebd., S. 342. 124 Ebd., S. 231. 125 Der Umstand, dass Frauen in der Öffentlichkeit immer einen Hut, und Frauen ihres Alters unter dem Hut noch eine Haube tragen, erspart ihr den Frisieraufwand (ebd., S. 206). 126 Ebd., S. 207. Weitere Stelle zu Reifröcken und Schleppen: S. 441. 127 Frankreich, S. 156. 128 England, S. 347 (Hervorhebung i. O.). 129 Ebd., S. 350. 130 Ebd., S. 352-354. 131 Ebd., S. 357. 132 Ebd., S. 368-367. Der einzige Punkt, in dem sie Paris den Vorzug geben muss, ist der Vergleich der »Westmünster-Kirche« 120 mit den Pariser Gotteshäusern. Äußerlich sei Westminster durch die schlechte Londoner Luft »zernagt und abgestumpft« 121 , und innen »nicht so gut besorgt, und nicht so rein gehalten«. 122 Erschwerend kommt hinzu, dass Banken ihre »prächtige Architektur«, mit »große[n] Goldstangen« verziert, entfalten, wo früher Kirchen standen. 123 Auch London ist mithin über einen Hang zum Luxus nicht erhaben, zum Teil freilich von der französischen Mode beeinflusst. So sei etwa, schreibt La Roche, Pariser Mode auch in England verbreitet, das »Karakteristische der National-Kleidung […] dahin«. 124 Was die Damenmode betrifft, bemerkt sie indessen immerhin praktische Vorteile im Kopfputz 125 und im Schuhwerk: auch Frauen tragen niedrige Absätze und sind daher gut zu Fuß. 126 Wie in Paris besucht sie Schulen und andere sozialen Einrichtungen. Hatte sie dort auf den Besuch der Straf- und Heilanstalt Bicêtre verzichtet 127 , so überwindet sie sich in London, das »Tollhaus Bedlam« 128 anzusehen, von Doktor Monro über das Wesen der Geisteskrankheiten zu lernen 129 und die Attentäterin Nicolson zu sehen, die Anspruch auf den Thron zu haben vermeint. 130 Die Besichtigung führt auch zu Überlegungen, »ob diese Anstalten in den Provinzstädten und auf dem Lande eben so nöthig sind, als in der Hauptstadt, wo die Leidenschaften mehr gereizt und mehr genährt werden«. 131 Wie sie in Paris das Findelhaus besuchte, so auch hier - und sie kann die aufklärerische Leistung dieser Einrichtung, ebenso wie die anderer sozialer Institutionen, nicht genug loben: London! dein Findelhaus, die Erziehung deiner Waisen, und die Menschenliebe, welche arme Wöchnerinnen und deine unglücklichen Wahnsinnigen versorgt - sind mir auszeichnende seegenvolle Züge des Edelmuths, der Weisheit und Größe! - Du mußt Fehlerhaftes haben, weil du von Menschen bewohnt bist, und weil Unvollkommenheit unser allgemeines Loos ist: - Aber wie viel Gutes, wie viel Vortreffliches liegt in dir […]! 132 <?page no="158"?> 158 Gaby Pailer 133 Ebd., S. 214-215. 134 Ebd., S. 500. Ferner besucht sie eine Stiftung für arme Wöchnerinnen (S. 531). 135 Ebd., S. 221. 136 Ebd., S. 225. 137 Ebd., S. 226. 138 Ebd., S. 313. 139 Ebd., S. 231. 140 Ebd., S. 414. 141 Ebd., S. 308 (Hervorhebung i. O.). 142 Ebd., S. 284, 412. 143 Ebd., S. 309. 144 Ebd., S. 283. Gleich zu Beginn freut sie sich darauf, die Mädchenschule am Queens Square zu sehen und sie mit der Schule der Maintenon in St. Cyr zu vergleichen. 133 Der Besuch der Einrichtung regt sie zu Gedanken über die unterschiedlichen Nationalcharaktere an. In den englischen Mädchen erkennt sie eine »Anlage zur Würde voll Stolz«, während sie an den französischen ein »feuervolles Aug, eine Stimmung zu Muthwillen und geistvollem Scherz« 134 erinnert. Als Medium der Volksbildung faszinieren sie die Zeitungen - täglich erscheinen in London 21 davon -, in denen von der Ankunft des königlichen Paars vom Schloss Windsor 135 , über Privatanzeigen, z.B. die »Nachfrage nach zwei verlornen Männern«, 136 überhaupt »alle Angelegenheiten des Hofs, des Parlaments« 137 mitgeteilt werden. Das königliche Paar, Georg III. und Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, werden, ähnlich wie die französischen Regenten, über Räume eingeführt. In La Roches England-Tagebuch beginnt dies mit dem Buckingham Palace. Der Durchgang durch die Reihe der Zimmer lässt sie an die Reihe der »Tugenden und Kenntnisse denken« und die »Ordnung und Simplicität« bewundern, welche ihr Eigenschaften der »erhabenen Besitzer« spiegeln. 138 Den Gebäuden selbst schon meint sie anzumerken, dass »der republikanische Geist über die Gewalt der Monarchie herrscht«. 139 Auch das Landhaus der königlichen Familie in Windsor hat »eben die Simplicität, wie in London«. 140 Bei der Besichtigung des Stadtpalastes ist sie vor allem »innig gerührt«, den Boden des Hauses zu betreten, »wo unsere deutsche Charlotte von Mecklenburg, mit jeder moralischen Tugend, wohnt, - »jede Mutterjede Königssorge fühlt, und jede Güte ausübt«. 141 Während sie die französische Königin aus der Distanz bewunderte, empfindet sie größere Nähe zur britischen Königin (was freilich auch damit zu tun hat, dass ihr Mann sie als Prinzessin im Alter von elf Jahren kennenlernte.) 142 Charlotte, Mutter von vierzehn Kindern 143 , repräsentiert überdies die vollendete »[e]nglische Hausfrau« bei einem Teebesuch der Herzogin von Mailand - ein Ereignis, das La Roche leider nur der Zeitung entnehmen kann. 144 Und schließlich schildert sie, wie sie in Windsor das königliche Paar höchstselbst treffen darf: <?page no="159"?> 159 Paris - London: Stadtraum und Gender 145 Ebd., S. 410-411. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 412. 148 Ebd., S. 377. Ich fühlte die Ehre, welche mir bewiesen wurde, vollkommen: denn ich hatte die Gesetze der Ordnung, welche die göttliche Weisheit unter den Menschen einleitete, nicht aus dem Gesicht verloren; aber ich fühlte auch deutlich, daß mein Herz sich eigentlich vor ihrer Tugend beugte. Das Schicksal hat ihnen die höchste Stelle in einer großen Monarchie angewiesen […]. 145 Der König ist nicht nur »einer der ansehnlichsten, schönsten Männer« 146 , sondern überzeugt auch in seiner Rolle als Familienvater. La Roche ist entzückt, als er ihr mitteilt, dass alle königlichen Kinder Deutsch sprechen. 147 Kurz, das englische Königspaar ist seinem Volke näher als das französische, indem es sich in der Hauptstadt selbst sehen lässt, keinen übertriebenen Luxus auf Kosten des Volkes pflegt und zudem ein ideales Familienmodell mit entsprechend väterlichen und mütterlichen Rollen verkörpert, so dass es sich auch dafür vom Volk geliebt sieht: Ich sah die königliche Familie, den Hof, den Gottesdienst; sah das erbauliche, ehrerbietige Bezeugen des Monarchen, seiner würdigen Gemalin und Kinder in dem Hause des Königs aller Könige, und bemerkte den aus dem Herzen quellenden Respekt der Britten gegen das königliche Haus, und die edle Simplicität in Allem. 148 Auf bemerkenswerte Weise nehmen die Reiseschilderungen der Mitte der achtziger Jahre von La Roche besuchten Metropolen Paris und London Aspekte auf, die in ihren frühen fiktionalen Werken, dem Sternheim-Roman und der Erzählung Der schwermüthige Jüngling bereits in ähnlich kontrastierender Weise angelegt sind. Erschienen im Roman beide Hauptstädte als symbolische Räume, insofern Paris für Luxus, Leidenschaft, Verführung, Müßiggang, London dagegen für ordnenden Geschäftssinn, Läuterung des Verführers und Verwandtschaftsbeziehungen steht, so wurden in der Perspektive des Jünglings Einschätzungen zu sozio-ökonomischen Verhältnissen in beiden Städten angedacht, wobei das politische Krisenpotenzial vor allem für die französische Metropole erwogen wurde. Die beiden Reiseberichte, ihrer Art nach sehr detailfreudig und über erfahrene/ imaginierte Details größere Zusammenhänge evaluierend, widmen sich in analogem Verfahren den sozialen, ökonomischen und politischen Dimensionen beider Stadträume, wobei die in den Erzählwerken bereits entworfenen Aspekte facettenreicher, aber gleichwohl in ähnlicher Tendenz aufscheinen. Erkennbar ist eine Grundtendenz zur ›Verweiblichung‹ von Paris in Verbindung mit nationalstereotypischen Vorstellungen, aber auch im Kontext der ›absolut‹ <?page no="160"?> 160 Gaby Pailer monarchischen Regierungsform. London dagegen wirkt im Blick La Roches geschlechtsneutraler, insofern hier eine republikanisch gefärbte Monarchie repräsentiert wird in einem Fürstenpaar, dessen ›vorgelebtes‹ Familienmodell größere Volksnähe signalisiert und zwischen sozialen und ökonomischen Abständen moderiert. <?page no="161"?> 1 Worley: Sophie von La Roches Reisejournale, S. 91. Linda Kraus Worley »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden«. Performative Selbst-Einkleidungen in Sophie von La Roches Tagebuch einer Reise durch England und Holland Die 2007 abgehaltene Tagung Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit gab Anlass, meinen 1990 erschienenen Artikel Sophie von La Roche’s Reisejournal: Reflections of a Traveling Subject, weiterzudenken. Dieser frühe Artikel zur Reiseliteratur von La Roche versuchte, auf einen konkreten Einzelfall feministische Erkenntnisinteressen zu übertragen, die von Frederiksen und Pelz für Reiseliteratur von Frauen im allgemeinen entwickelt worden waren. La Roches 1787 und 1788 erschienene Werke, die ihre Reisen in die Schweiz, nach Frankreich, Holland und England verarbeiteten, wurden untersucht, um Fragen wie »Which practical considerations enabled a woman to embark upon a journey? , Which more abstract, private preconditions existed? , How did she explain or justify her departure? «, zu beantworten. 1 Dabei zeigte sich, dass La Roche sich des Prekären ihrer Situation als Reisende und darüber Schreibende durchaus bewusst war und reichlich Begründungen und Absicherungen, die als Verteidigung dienen sollten, in den Texten liefert. Auf früheren Untersuchungen von Becker-Cantarino, Maurer, Nenon und Wiede-Behrendt aufbauend, konnte die Frauenzentriertheit La Roches herausgearbeitet werden: Sie unterstreicht ihren Status als reisende Frau, schreibt, als ob sie lediglich Tagebücher für ihre Töchter Maximiliane Brentano und Luise Möhn führe, und nimmt so viel von weiblicher Lebenswirklichkeit, vergangener und gegenwärtiger, berühmter und bescheidener, wie möglich auf. Sie berichtet über das Alltagsleben von Frauen - ihre Frisuren, Moden, häuslichen Einrichtungen, den Inhalt ihrer Schränke, die Anordnung ihrer Küchen, ihre Erziehungssorgen, Bildung und Lebensgeschichten - wie über das außergewöhnliche Leben einer Sybilla Merian oder Angelika Kaufmann. Dabei macht sie auf eine breite Skala weiblicher Rollen, Leistungen, Einfluss- und Habitusformen, die von den ›Tugenden‹ einer sich aufopfern- <?page no="162"?> 162 Linda Kraus Worley 2 Ebd., S. 100-101; siehe auch Bovenschen: Imaginierte Weiblichkeit, S. 190-200. 3 Ebd., S. 101. 4 Adam: Schweizer Reisen, S. 49. 5 Watt: Woman’s Progress, S. 50. 6 Nenon: Nationalcharakter, S. 66. den Mutter bis zu den ›Verdiensten‹ und der Macht gelehrter Frauen und Künstlerinnen reichen, aufmerksam. Was aber damals auch zur Sprache kam, war die höchst interessante Tatsache, dass ein komplexes, sich scheinbar widersprechendes Verhältnis zwischen La Roche als Autorin der Reisetagebücher, der Ich-Erzählerin und verschiedenen ›Sophie-Figuren‹, die in den Texten kursieren, besteht. Solche ›Sophie-Figuren‹ sind zum Beispiel die belehrende Mutter, die ein harmonisierendes Wesen und Selbstaufopferung predigt, die sentimentale Heldin, die nach Wissen und Reisen begierige Frau oder die ›Frauenadvokatin‹. Diese Vielfalt warf weitere Fragen auf: What do the various roles La Roche assumes as author, narrator, traveler imply? Are they indications of an inability to achieve artistic unity? Was hers a fragmented personality, a »zwiespältige Erscheinung« unable to develop a consistent philosophy of life? […] Can the situation be judged only negatively in terms of »Fräulein von Sternheim contra Mme. de La Roche«. 2 Als Erklärung wurde die provisorische These angeboten, dass »[t]he travel journals, not bound by concepts of unified plot and characterization, enabled her [La Roche] to place herself in a variety of situations and roles, allowing her multifaceted subjectivity to surface«. 3 In der Zwischenzeit sind mehrere nuancierte Arbeiten über La Roches Reiseberichte erschienen, die mehr oder weniger unter die Rubrik ›Reisen als Mentalitätsgeschichte‹ fallen. Adam wertet La Roches Beschreibung von ihrer ersten Schweizerreise als Spiegelung »einer vergangenen Gefühlskultur«. 4 Watt und Langner heben die Frauenbezogenheit La Roches hervor. Watt zum Beispiel betont, dass La Roche »not only writes about women but lives and demonstrates the enlightened woman’s expanded role as she travels for her readers«. 5 Nenon untersucht den Zusammenhang zwischen Nationalcharakter und Kultur, wie er in den Reisejournalen gestaltet wird, und stellt fest, dass im Zeichen der Aufklärung La Roche ›Kultur‹ als etwas definiere, was »mit dem Anbau des Verstands des einzelnen und mit dem Stand der Entwicklung eines Landes im Hinblick auf die Entfaltung einer bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte zu tun« habe und als solches ›Kultur‹ »nicht als unabänderlicher Ausdruck des Nationalcharakters« - oder des Geschlechtscharakters - gesehen werden müsse. 6 Das Vorwort Becker-Cantarinos zum Neudruck von La Roches Tagebuch einer Reise durch England und Holland wie <?page no="163"?> 163 »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden« 7 Pelz: Reisen durch die eigene Fremde, S. 49. 8 Ebd., S. 64. 9 Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 264. 10 Watt: Sophie La Roche. Von der Glückseligkeit des Reisens, S. 115. 11 Ebd., S. 116. 12 Ebd., S. 126. auch Maurers 1990 und 1992 angestellte Überlegungen zur pädagogischen Absicht der Reisen liefern einen detaillierten geschichtlichen Kontext. Die komplexe Subjektgestaltung La Roches wird in der neueren Sekundärliteratur mehrfach aufgegriffen. In ihrer Monographie zu Reiseliteraturen von Frauen erweitert Pelz den Begriff ›Reiseliteratur‹ zu ›autogeographischen‹ Schriften, um La Roches Alterswerk Mein Schreibtisch (1799) einbeziehen zu können. Pelz behauptet, dass in diesem Text La Roche den Versuch unternehme, sich »als eine Reisende im Interieur zu beschreiben« 7 . Dabei erreiche La Roche eine »Selbstbemächtigung«, dergestalt, »daß sie als Frau von diesem peripheren Ort des Weiblichen abrückt, um sich selbst als Subjekt im Zentrum des Augenpunkts zu platzieren«. 8 Loster-Schneider, die Widersprüche (»Paradoxien«) in La Roches Schreiben betonend, zeigt die mühsamen Anpassungs- und Übersetzungsleistungen, die La Roche erbringen musste, um sich selbst, der von Wieland verlangten »weiblichen« emotionellen Schreibweise und den herrschenden Weiblichkeitsnormen, die auch mütterlich-pädagogische Funktionen erforderten, zu genügen. Dabei schildert Loster-Schneider eine Mehrzahl von ›Sophies‹: Und dokumentiert sie [La Roche, L.W.] mit solchen, in ›männlichen‹ Reisebeschreibungen defizitären sozial- und alltagsgeschichtlichen Informationen ihren sozial geprägten weiblichen Wahrnehmungsfokus, fällt ihre ideologische ›Weiblichkeit‹ oft ihrer Neugier zum Opfer: Sie trennt sich gewissermaßen symbolisch von ihr, als sie sich am Montblanc ihre Absätze abschlagen läßt, […] als sie höchst unempfindsam das Schauspiel einer Schiffshavarie herbeisehnt, pikant-erotische Anekdoten über den verehrten Joseph II. erzählt und fasziniert diskriminierte weibliche Rand- und Ausnahmeexistenzen in Augenschein nimmt […]. 9 Ausgehend von La Roches Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise (1793) und ihrer Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck (1800) konstatiert Watt, wie »die Verfasserin ihre Person gelegentlich mit in Szene« setze 10 und wie sie »gleichzeitig Subjekt und Objekt des Schreibvorgangs« sei. 11 Watt erblickt in den Texten einen »Kampf der weiblichen und persönlichen Selbstbehauptung«, der sich unter der »meist sanften und glatten Oberfläche« abspiele, wobei La Roche es wage, »sich immer wieder neu und anders zu produzieren«. 12 Martin, die La Roches konstatierte Frauenbezogenheit anerkennt, aber auch revidiert, argumentiert, La Roches England-Reise- <?page no="164"?> 164 Linda Kraus Worley 13 Martin: Travel, Sensibility and Gender, S. 133. 14 Ebd., S. 130. 15 Ebd., S. 141. 16 Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten, S. 274. 17 Worley: Sophie von La Roches Reisejournale, S. 101. 18 Langner: Sophie La Roche - die empfindsame Realistin. 19 Martin: Travel, Sensibility and Gender, S. 130. 20 Butler: Gender Trouble, S. 16. 21 Ebd., S. 17. tagebuch »attempted to break out of domestic confinement and anonymity. In so doing, it constructed a hybrid self which oscillated between the public and the private, the male and the female, the rational and the anti-rational«. 13 Um dieses Ziel zu erreichen, habe La Roche »a variety of rhetorical devices, both sentimental and more obviously empirical« 14 angewendet, die insgesamt La Roches »refusal to be imprisoned along with other female writers within the irrational idiom of sensibility« 15 kundtun würden. Sobald die Fragestellung La Roches Identität als erzählendes Ich, als Subjekt und/ oder Figur betrifft, kommen immer wieder Formulierungen wie »zwiespältige Erscheinung«, 16 »multifaceted subjectivity«, 17 »empfindsame Realistin« 18 oder »hybrid self« 19 auf. Diese Ambivalenz und die ebenso bekannte Tendenz La Roches, sich selbst zu produzieren und in Szene zu setzen, laden nun aber geradezu ein, Ideen von Judith Butler und Arnold Ludwig heranzuziehen, um so den theoretischen Horizont um ›das Phänomen La Roche‹ zu erweitern. Judith Butler diskutiert Identität, bzw. Geschlechtsidentität (gender) unter anderem in Gender Trouble (1990), Bodies that Matter (1993) und Critically Queer (1993). Sie untersucht die herrschenden Diskurse, die postulieren, dass »identities are self-identical, persisting through time as the same, unified and internally coherent«. 20 Obwohl Diskontinuitäten und Inkohärenzen, wie man sie zum Beispiel in »those ›incoherent‹ or ›discontinuous‹ gendered beings who appear to be persons but who fail to conform to the gendered norms of cultural intelligiblity by which persons are defined« 21 findet, aus der herrschenden ›metaphysics of substance‹ gebannt werden, können sie demungeachtet die Illusion naturgegebener Identität bzw. Geschlechtsidentität zerstören. Butler bezieht sich ausdrücklich auf Nietzsche, wenn sie behauptet: The challenge for rethinking gender categories outside of the metaphysics of substance will have to consider the relevance of Nietzsche’s claim in On the Genealogy of Morals that »there is no ›being‹ behind doing, effecting, becoming; ›the doer‹ is merely a fiction added to the deed - the deed is everything.« In an application that Nietzsche himself would not have anticipated or condoned, we might state as a corollary: There is no gender identity behind <?page no="165"?> 165 »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden« 22 Ebd., S. 25. 23 Ebd., S. 139. 24 Butler: Critically Queer, S. 24. 25 Ludwig: How do we know who we are? , S. 108. 26 Ebd., S. 49. 27 1791 hat La Roche in Briefe über Mannheim die Phantasiegestalt der Sternheim so beschrieben. Zit. n. Becker-Cantarino: Nachwort, S. 394. the expressions of gender; that identity is performatively constituted by the very »expressions« that are said to be its results. 22 Geschlechtsidentität wird als »a corporeal style, an ›act‹, as it were, which is both intentional and performative, where ›performative‹ suggests a dramatic and contingent construction of meaning« 23 betrachtet. »Performance«, der oft zitierte Schlüsselbegriff Butlers, ist »a reiteration of norms which precede, constrain, and exceed the performer and in that sense cannot be taken as the fabrication of the performer’s ›will‹ or ›choice‹« 24 . Demzufolge findet alles, was performativ ist, immer in Beziehung zu spezifischen, geschichtlich bedingten Möglichkeiten statt. In How do we know who we are? A Biography of the Self (1997) untersucht der Psychiater Arnold Ludwig die Möglichkeiten eines Subjekts, sich selbst zu (er)kennen bzw. ein ›Selbst‹ zu konstruieren. Ludwig benutzt das Vokabular von Performativität, wenn er von der Erzeugung eines Ich-Gefühls durch das Spielen von Rollen, die in ›scripts‹ (Drehbüchern) vorzufinden sind, spricht 25 . Ludwig umgeht das Problem eines von vorhandenen ›scripts‹ vollkommen determinierten Lebens, indem er die Möglichkeit offenlässt, das Individuum könne sowohl als ›playwright‹ als auch ›actor‹ fungieren. Es wird eine psychische Dynamik geschildert, in der ein ›Ich‹ die Gedanken, Taten und Gefühle eines ›Mich‹ beobachtet und zuweilen kommentiert. Ludwig greift die gängigen Diskurse, die ein ›wahres‹ von einem ›falschen‹, ein ›privates‹ von einem ›öffentlichen‹ Selbst trennen, an: »Conflicted, multiple selves are as true as any other«. 26 Was bedeuten diese Theoreme nun aber für die Interpretation La Roches? Um es vorweg als These zu formulieren: In ihren Reiseberichten entwirft La Roche eine Sophie-Figur, die sowohl erzählendes Ich als auch erzähltes Ich (bzw. »Mich«) ist. Auch wenn diese Figur ein autobiographischer Entwurf hätte sein sollen, ist sie demungeachtet fiktional, wie jedes autobiographische »Ich« im Grunde genommen sein muss. Losgelöst vom häuslichen Rahmen, kann diese Figur vor den wechselnden Kulissen, die eine Reise mit sich bringt, weibliche Identität, bzw. Identitäten spielen (perform). Durch diese facettenreiche, Diskontinuitäten aufweisende Figur gelingt es La Roche, den performativen Aspekt weiblicher Ich-Gestaltung zu zeigen und sich ein mögliches weibliches Ich - nicht mehr ein »papierenes Mädchen« 27 , sondern <?page no="166"?> 166 Linda Kraus Worley 28 England, S. 3. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 4. 31 Ebd., S. 190. 32 Ebd., S. 359. 33 Ebd., S. 391. 34 Ebd., S. 628. 35 Ebd., S. 59, 693. 36 Ebd., S. 477. 37 Ebd., S. 479. eine Frau »in meinen Jahren« 28 - zu erschreiben. Nachfolgend werden an La Roches Tagebuch einer Reise durch Holland und England einige Facetten dieses kompexen Ichs herausgearbeitet, wobei der performative Aspekt, der sich in dramatischen Szenen, Tableaus und Körpersprache ausdrückt, von besonderem Interesse sein wird. Die erste auf die Bühne tretende Facette dieses erdachten Ichs ist die ›Begehrende‹. Schon im ersten Absatz nennt La Roche diese Figur eine »Wissbegierige«, 29 die begehrt, sich »umzusehen, und alles zu bemerken, was mir Unterricht und Freude geben kann«. 30 »Bücher und Reisen« 31 sind die angeführten Mittel, diese Begierde zu stillen, aber auch zu schüren. Das Extreme dieser Begierde wird durch den Körper ausgedrückt: Bald aber hätte ich da [in einem Buchladen] ein Fieber bekommen: denn die Begierde alle die schönen Werke zu sehen und zu lesen, wurde so stark, daß der Gedanke der Unmöglichkeit mir Thränen auspreßte, und wirklichen Schmerz erregte […]. 32 Ein anderes Mal schreibt La Roche: Kummer umfaßt mein Herz, wenn ich, wie Tantalus, nun alles vor mir sehe, wornach [sic] meine wißbegierige Seele dürstet, und ich, wie er, ohne getrunken zu haben, durch die Gewalt der Umstände gezwungen bin, abzubrechen und wegzugehen […]. 33 Die Reisestationen sind die Bühne, auf der die Ich-Figur sich bewegt und ihre Begierde darstellt. Sie wird als fragende, beobachtende, bzw. ›rasende‹ Reporterin in Szene gesetzt, die aus »Neugierde« 34 unermüdlich Gespräche anknüpft, Besuche macht, sich enzyklopädisches Wissen aneignet und weitergibt, dabei sowohl in die Küchen der Bürgersfrauen 35 als auch in die Salons der Reichen und Adligen geht. Dieses begehrende »Ich« wird auch aus dem Wunsch nach Abenteuer gespeist: »[I]ich wünschte uns aber, nur einen von diesen unangenehmen Herren [highwaymen, L.W.] anzutreffen«, 36 um, wie später mildernd hinzugefügt wird, »gütlich mit ihm zu reden«. 37 Die genaue Kontrastfigur zur ›Begehrenden‹, die Resignierende, Gelassene, Leidende, kommt ebenfalls auf diese Reisebühne. La Roche entwirft ein <?page no="167"?> 167 »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden« 38 Ebd., S. 553. 39 Ebd., S. 623-624. 40 Ebd., S. 271. 41 Ebd., S. 140. 42 Ebd., S. 15. Ich, das bewusst und gewollt aus dem Drehbuch (script) der Gelassenheit liest: »Ich will gelassen des widrigen Schicksals Gewalt [ein Treffen mit Mary Montagu kam nicht zustande, L.W.] mich unterwerfen und immer dem Himmel danken, das ich dieses Land, das mir immer so lieb war, doch in etwas mit eigenen Augen sah […]«. 38 Die als Tugenden naturalisierten kulturellen Normen weiblicher Gelassenheit und Resignation regulieren das begehrende Ich: Ich wurde aufs neue an Ausübung mancher Tugend erinnert, da ich das Schloß, diese Kirche, und besonders die schwimmenden Inseln einer See nahe bei St. Omer […] zu sehen begierig war, und mich wie meist alle Menschen, nach den Umständen schmiegen mußte, dabei aber die Resignation auf verlorne Wünsche, - Dankbarkeit für das genossene [sic], und aufmerksamen Fleiß für das mir nahkommende Gute und Schöne, üben konnte. 39 La Roche konstruiert diese Ich-Möglichkeit auch zuweilen durch die den Bildern inhärente Körpersprache: »Ich kaufte mir ein Pettschaft, welches wirklich meine gegenwärtige Stimmung, und mein vergangenes Schicksal ausdrückt: nämlich eine auf den Überrest einer Säule sich stützende weibliche Gestalt, welche mit Nachdenken einen zurückgelegten Weg überschaut […]«. 40 Einige Szenen für dieses performativ-empfindsame Ich werden vor einem anerkennenden und womöglich deswegen mitgestaltenden Publikum gespielt. So beobachtet die Sophie-Figur, als sie von einer anderen Mutter mit Freudentränen umarmt wird, »daß die Kaufleute um uns her sich an unserer Freude ergötzten, und bei dem Abschied der jungen Freunde und dem Seegen [sic], den wir Mütter ihnen gaben, gerührt wurden«. 41 Es ist, als ob die Ich-Erzählerin selbst mitunter die Zuschauerposition der Kaufleute einnähme und vom theatralischen Effekt der Szene wüsste. Das erzählende Ich bleibt aber nicht nur beobachtende Ich-Möglichkeit, sondern schreibt sich in den Text auch als ›Agierende‹ ein. Diese Figur kommt immer wieder durch eingeschobene Sätze zum Vorschein. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Gegend um den Rochusberg heißt es beispielsweise: »Aber ich will mit meiner Gesellschaft weiter gehen«. 42 Solche durch Gedankenstriche vom Beschriebenen getrennten Einschübe geben dem Reisebericht Lebendigkeit, lassen aber auch das erzählende Ich mitspielen und ein - wortwörtlich - ›sich erschreibendes‹ Ich erscheinen. Diese Mög- <?page no="168"?> 168 Linda Kraus Worley 43 Ebd., S. 730. 44 Ebd., S. 317. 45 Ebd., S. 407. 46 Ebd., S. 408. lichkeit von Identitätsgestaltung kommt nirgendwo so klar zum Ausdruck als in der folgenden, kurz vor dem Ende der Reise stattfindenden Szene: Denn in Weidenbusch, da ich noch ein Blättchen schrieb, näherte sich die Schwester des dasigen Posthalters Cramer, die verwittwete Frau Pfarrerin Muzelius, mit einer freundlichen und bescheidenen Miene zu mir, indem sie die Vermuthung äusserte: daß wohl keine andre Frau, als ich, sogleich in einer kalten Stube sich hinsetzen und schreiben würde. 43 La Roche produziert aber nicht nur die Ich-Möglichkeit einer schreibenden Frau, sondern auch die einer gefeierten Schriftstellerin und Gesprächspartnerin. Die Stellen im Text, die diese Facette der Ich-Figur gestalten, sind besonders stark durch Performanzen gekennzeichnet. Ein Gespräch mit Lord Gordon im Hause von Cagliostro liest sich wie ein ausgedehntes Drehbuch - komplett mit Dialog, Regieanweisung und zuweilen mit einem »voice over« der Ich-Erzählerin: »denn ich fühlte, dass ich wirklich etwas gewagt hatte«. 44 La Roche, die Autorin, schafft so eine Erzählerin, die weiß, wie sich die Ich-Figur vor verschiedenen Kulissen aufführen und sich der Charakter der Madame Sophie von La Roche situativ repräsentieren soll. Ein Beispiel ist besonders aufschlussreich: Die Erzählerin beginnt die Darstellung einer Abendgesellschaft bei Lady Charlotte Finch mit einer ausführlichen Beschreibung, die sich mehr als zwei Seiten lang wie ein die Ich-Figur miteinschließender ›cast of characters‹ liest. Vor dieser Kulisse und mit dieser Besetzung soll, beim geselligen Ratespiel der »20 Questions«, die Ich-Figur die kenntnisreiche Pädagogin »Madame de la Roche« geben. Sie weiß ganz genau, was von ihr erwartet wird, aber durch eine - wie sie den Vorfall schildert - ›mißvergnügliche‹ »Gedächtnislücke« 45 kann sie die Rolle nicht erfüllen. Die Ich-Erzählerin kommentiert: Sie bemerkten die Mühe meines Nachdenkens, schwiegen alle, und erwarteten natürlich, nach der vortheilhaften Idee, welche sie von mir hatten, etwas sehr Ausgewähltes; und siehe da! Madame de la Roche war in Verlegenheit gerathen, welche mich nun auch hinderte, eine andere Idee, die mir ganz lag, zu ergreifen, und einzuschieben […]. 46 Nach diesem Debakel ist es für das positive Selbstgefühl der Ich-Figur wichtig, das ramponierte Ansehen und das Selbstbewusstsein zu stärken. Interessanterweise findet am nächsten Abend die sehr positiv verlaufende, aber als biographische Tatsache in Frage gestellte Audienz mit dem englischen <?page no="169"?> 169 »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden« 47 Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, wahren,Guten, S. 274. Was gegen das Argument, diese Audienz sei nur Wunschdenken, spricht, ist die Tatsache, dass die Beschreibung der Audienz publiziert wurde. Die Mitwirkenden hätten davon lesen können. 48 England, S. 411. 49 Zit. n. Bovenschen: Imaginierte Weiblichkeit, S. 198-199. Königspaar (George III. und Sophie Charlotte) statt. 47 Dialog, Erinnerungsbilder und literarische Texte schaffen eine performative Situation, in der die Ich-Erzählerin das Lob der Königin (»sie [denke] Gutes von mir und meiner Feder« 48 ) benutzen kann, um die Ich-Figur zu restituieren und wieder als gefeierte Schriftstellerin und geschätzte Persönlichkeit agieren zu lassen. Es gibt viele solche Performanzen in dem Reisetagebuch, worin noch andere Facetten des Ichs lebendig werden. In dieses Spielrepertoire gehören auch die vielen Stellen, wo die Personenkonstellation als Tableaux beschrieben wird, wo die Rede von Gemälden ist und wo die Ich-Figur von außen gesehen wird. Korrespondieren so Butlers und Ludwigs Ansätze unschwer mit vielen Textstellen, stellt sich eine Frage freilich dennoch: Ist das theoretische Konstrukt der Performativität für die Identitätsentwürfe der Sophie-Figur lediglich eine neue Verkleidung von schon Erkanntem? Sicherlich könnte man La Roches Verwendung von Szene und Dialog einfach als geschickte Einsetzung literarischer Mittel werten, um den Reisebericht lebendig zu machen. Wir wissen, dass solch szenische Gestaltung von Gefühlen charakteristisch für die Texte der Empfindsamkeit ist. Ein typisches Beispiel dafür wäre das viel zitierte, von Friedrich Jakobi geschilderte Wiedersehen von La Roche und Wieland: Sophie ging ihrem Freund mit ausgebreiteten Armen entgegen; er aber, anstatt ihre Umarmung anzunehmen, ergriff ihre Hände und bückte sich, um sein Gesicht darein zu verbergen: Sophie neigte mit einer himmlischen Miene sich über ihn und sagte in einem Tone, den keine Clairon und kein Dubois nachzuahmen fähig sind: »Wieland - Wieland - o ja, Sie sind es - Sie sind noch immer mein lieber Wieland! « Wieland von dieser rührenden Stimme geweckt, richtete sich etwas in die Höhe, blickte in die weinenden Augen seiner Freundin und ließ dann sein Gesicht auf ihren Arm zurücksinken. Keiner von den Umstehenden konnte sich der Thränen enthalten; mir strömten sie die Wangen hinunter, ich schluchzte; ich war außer mir, und ich wüßte bis auf den heutigen Tag noch nicht zu sagen, wie sich diese Scene geendigt und wie wir zusammen wieder hinauf in den Saale gekommen sind. 49 Diese Dominanz des Performativen und der Körpersprache im Zeitalter der Empfindsamkeit speist sich aus mehreren Quellen. Das Performative verbindet sich mit der medizinischen und literarischen Verbindung von Nerven <?page no="170"?> 170 Linda Kraus Worley 50 Minter: ›Empfindsamkeit‹ and Nervous Sensibility, S. 1017: »The links between the physical and moral spheres in the cult of sensibility in Germany are illustrated by the correspondences that exist between the neurophysiological terminology of the period and elements of the stock vocabulary of sentimental fiction«. 51 Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 265. 52 La Roche hat das Wort »Lappen« ein Jahrzehnt später beim Schreiben ihrer Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck wiederaufgenommen: »Ich setzte mich letzt hin, um die kleinen Läppchen auszusuchen und anzureihen, auf welche ich die Noten von meiner Reise schrieb«. Maurer: (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 376. Dieses Mal sind die Lappen wirkliche Notizen, aber die Vorstellung von Konstruktion und Fluidität schwingt noch mit. und Seele. 50 Da La Roches Auffassung von Tugend die Ausübung von Tugend unentbehrlich machte, wurde das Performative so ein notwendiges Element ihres Systems. Das Theatralische kann vielleicht aber auch als Zeichen eines sich ändernden Ich-Gefühls gelesen werden. Es ist, als ob dieses neue Ich- Gefühl sich erst aus Performanzen bilden müsste; als ob neue Ich-Identitäten erprobt werden müssten. La Roche ist Teil dieses allgemeinen Aufbruchs, dieser Aufführung eines erweiterten Ichs. Sie erlebte und bewahrte in sich mehrere Weiblichkeitsentwürfe, die verschiedenen Epochen ihres Lebens entstammten und die von den Diskursen der Aufklärung bis zur Ideologie des Geschlechtscharakters reichten. In und durch diese Diskurse konnte sie eine Ich-Figur denken, deren Identität facettenreich und verhältnismäßig fluide ist und sich aus mehreren gleichzeitigen ›Drehbüchern‹ speist. Solche Flexibilität kann zur Zeit der Englandsreise noch stattfinden, da das Paradigma eines biologisch verankerten Geschlechtscharakters noch nicht dominiert. Eins ist noch besonders wichtig zu erkennen: Obwohl die verschiedensten Facetten der erspielten Identität, bzw. Identitäten nicht unbedingt harmonieren, sind die Diskontinuitäten in dieser Vielschichtigkeit weder für die Ich- Figur noch für die Ich-Erzählerin problematisch. Die Autorin La Roche scheint eine Ahnung von der Performativität von Identität bzw. Geschlechtsidentität gehabt zu haben. Kurz vor ihrer Reise in die Schweiz schreibt sie an Wieland, sie freue sich »wie ein Kind […], welches neue große und kleine Puppen bekommt und eine Menge Lappen vorrätig hat, die Puppen darin zu kleiden«. 51 Dieses Gleichnis deutet auf das Spielerische, das Fluide und das Konstruierte der Reisetagebücher hin. Es deutet aber auch auf die verschiedenen Ideen, Rollen und Drehbücher - die ›Lappen‹ eben -, die La Roche parat hat, um die neuen Puppen, die nackten ›Ich- Mannequins‹, die ihr die Reisen geben werden, darin zu kleiden und wieder umzukleiden. 52 Es bleibt eine abschließende Frage: Wie haben Leser und Leserinnen auf die performativen Aspekte der Ich-Gestaltung reagiert? Vielleicht haben sie gespürt, dass Identität bzw. weibliche Identität fluide und facettenreich sein <?page no="171"?> 171 »Lappen […], die Puppen darin zu kleiden« 53 Ludwig: How do we know who we are? , S. 49. 54 Schwarzer: The ›Construction‹ of Queer Selves, S. 181. 55 Ebd., S. 181. kann, ohne dem Subjekt-Gefühl Abbruch zu tun. Vielleicht haben sie gespürt, dass »[c]onflicted, multiple selves are as true as any other«. 53 Es ist höchst verlockend zu erwägen, dass wenigstens eine mögliche Leserin, La Roches Enkelin, Bettina Brentano-von Arnim, die Reiseberichte gelesen und in diesem Sinn aufgenommen hat. So argumentierte Schwarzer jüngst, dass Brentano-von Arnim »challenges the notion that identity is singular or fixed«. 54 Brentano-von Arnim entwerfe demnach eine Bettine-Figur [sic], die in den Briefromanen Die Günderode, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde und Clemens Brentanos Frühlingskranz »is constantly metamorphosing into different states of being, constantly recreating itself, and thus confronting the issue of her own gender«. 55 Die Übereinstimmung ist frappant und bildet den Ansatz für ein neues Forschungsvorhaben - die Kontinuitäten zwischen La Roches und Brentano-von Arnims Gestaltung weiblicher Identitäten zu untersuchen. <?page no="172"?> 1 Pomona 1783, H 7, S. 519. 2 Vgl. Einleitung, S. XIV. Ulrike Böhmel-Fichera »Aber man spricht und schreibt immer noch von dem ersten verlohrnen Paradieß«: 1 Sophie von La Roche und Italien I. Eine der eindrucksvollsten Szenen aus dem Leben von Sophie Gutermann, spätere La Roche, ist von ihr selbst in ihrem letzten Werk, Melusinens Sommer-Abende (1806), so geschildert worden, dass die schon 60 Jahre zurückliegende Verletzung noch deutlich zu spüren ist: Den Tag nach seiner [Bianconis, U.B.-F.] Abreise wurde ich von Großmutter, Tante und Onkel wegen meiner Thränen gescholten. Ich mußte meinem Vater alle seine Briefe, Verse, schöne Alt-Arien, mit meinen sehr pünktlich ausgearbeiteten geometrischen und mathematischen Uebungen, in sein Cabinet bringen, mußte alles zerreißen und in einem kleinen Windofen verbrennen; […] einen Ring mit den verzogenen Buchstaben N.B. in Brillanten und der Unterschrift: o h n e D i c h n i c h t s (sans vous rien) mit zwei in den Ring entgegen gesteckten Eisen, entzwei brechen und die Brillanten auf den rothen Steinen umher fallen sehen. - Die Ausdrücke meines Vaters dabei will ich nicht wiederholen. - So wollte man das Andenken des Mannes auslöschen, dem mein Geist so viel Schönes zu danken, mein Herz so viel Glück von ihm zu hoffen hatte […]. 2 Die als Unterwerfung des jungen Mädchens unter den väterlichen Willen und die väterliche Entscheidung inszenierte Auflösung der Verbindung blieb ihr lebenslang als Trauma gegenwärtig. Dieser Schilderung, in der die Reihenfolge von ›Geist‹ und ›Herz‹ aufschlussreich ist, werden einige weitere gesperrt gesetzte und also besonders hervorgehobene Sätze hinzugefügt: Ich bin von dem Manne losgerissen, von dem ich das Beste, was ich weiß, gelehrt wurde. Ich kann nichts mehr für ihn thun, nicht für ihn leben. - Er wird keine Frucht seiner verehrungsvollen delicaten Bemühung, seiner künftigen Gattin Kenntnisse und Talente zu geben, genießen. - Nun soll auch <?page no="173"?> 173 Sophie von La Roche und Italien 3 Ebd., S. XV. Im Original gesperrt. 4 Gian Lodovico Bianconi (1711-1781) stammte aus Bologna, wo er Medizin studierte. Nach einer Zeit als Assistenzarzt in seiner Heimatstadt wurde er auf Empfehlung von Laura Bassi und Benedikt XIV. als Arzt von Joseph Ignaz Philipp, Landgraf von Hessen-Darmstadt und Fürstbischof von Augsburg, in die süddeutsche Stadt berufen, wo er Sophie Gutermann wahrscheinlich durch den gemeinsamen Bekannten Brucker kennenlernte. 1750 ging er als Leibarzt nach Dresden an den Hof des Kurfürsten Friedrich August II. (als polnischer König: August III.). Nachdem dieser wie auch dessen Sohn verstorben waren, siedelte er 1764 als Vertreter des sächsischen Hofes am Heiligen Stuhl nach Rom über, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Er starb während eines Besuches bei seiner in Perugia verheirateten Tochter. Vgl. zu seinem Leben Emery: G.L. Bianconi. 5 Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 155. 6 Pomona, 1783, H. 5, S. 421. 7 Vgl. dazu die ausführliche Erörterung bei Loster-Schneider: »[…] einen sehr genauen Grundriß von meinem Kopf und meinen Neigungen geben«. 8 Der Brief findet sich im Anhang zu Fechner: Landschaft, S. 255. Niemand mehr jemals meine Stimme, mein Clavierspiel, die italiänische Sprache, die Bekanntschaft mit Rohault, oder irgend etwas, so er mich lehrte, hören, oder nur in mir vermuthen. 3 Sie hat diesen Schwur gehalten und ist erst nach dem Tod von Gian Lodovico Bianconi (1781) 4 bzw. dem ihres Mannes Georg Michael Frank von La Roche sieben Jahre später auf diese frühen Ereignisse zurückgekommen. Der vom Vater ausgeübte Zwang wurde verinnerlicht, hatte er ihr doch ein für alle Mal die Grenzen ihrer weiblichen Existenz klargemacht. Diese Episode stellte eine Art Urerlebnis dar, war einer ihrer ›Originaleindrücke‹ (Anna Seghers), ging ihr doch eine andere Zurückweisung voran, die La Roche in einem aufschlussreichen Brief an Hirzel vom 8.11.1771 vergegenwärtigt hatte: Mit 13 Jahren wollte der große Brucker meine Erziehung und Bildung meines Geistes besorgen. Ich bat meinen Vater auf Knien um die Einwilligung, aber er wollte nicht, und meine empfindungsvolle Mutter bereicherte nur mein Herz, in welches alle Geschäftigkeit meines Geists übergetreten ist. 5 Ihre ursprünglichen Hoffnungen, eine - wie sie an anderer Stelle sagt - »knabenmäßige Ausbildung« zu erhalten, »um ordentlich gelehrt zu werden«, 6 konnte sie nicht verwirklichen, und nach dem Ende der Beziehung zu Bianconi verzichtet sie definitiv. Die ihr bewusste und häufig beklagte Folge war eine mangelhafte, unsystematische Ansammlung von Kenntnissen, die sie in der autobiographischen Einleitung zu Melusinens Sommer-Abende, aber auch mehrmals in Briefen, als »Stückwerk« 7 bezeichnet. Beide Episoden werden in einem Brief von 1783 an Bertola zusammengedacht, als sie sich ihm vorstellte und um Material für ihr Italienheft der Pomona bat. 8 Und kurz <?page no="174"?> 174 Ulrike Böhmel-Fichera 9 Vgl. Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 301. 10 Dazu näher Böttiger: Literarische Zustände, S. 263. 11 Schreibetisch, Bd. 1, S. 365-366. 12 La Roche bezieht sich (ebd., S. 366) auf die »Zeit des ersten Verlangens nach Italien zu kommen« und datiert diese auf der folgenden Seite auf das Jahr 1746. vor dem Tod ihres Mannes berichtete sie dann auch Leonhard Meister von diesen frühen Erfahrungen. 9 Diese Erinnerungen waren es, die ihr Verhältnis zu Italien in starkem Maße beeinflusst haben. Die Autorin erwähnt ihre Liebe zu Italien, ihre Sehnsucht, eine Reise dorthin zu unternehmen, häufig, und gegen Ende ihres Lebens nehmen ihre Klagen darüber, dass sie das Mittelmeerland nie hatte sehen können, zu. Der nachfolgende Beitrag nun versucht, das Ineinander von persönlichen Erinnerungen an den ersten Verlobten, von verwehrten Bildungschancen und von Äußerungen über das Mittelmeerland zu umreißen, indem zuerst der Italiensehnsucht der Autorin nachgegangen wird, dann die Bezüge auf Italien im Länderheft der Pomona beleuchtet und schließlich die Italienvision in Mein Schreibetisch untersucht werden. Die abschließenden Schlussfolgerungen greifen noch einen zusätzlichen Aspekt auf, der sowohl biographische wie literarisch-kulturelle Relevanz beanspruchen kann. II. Bei ihrem Besuch in Oßmannstädt 1799 hielt Böttiger 10 in seinen Aufzeichnungen fest, La Roches ständige Klagen über den nicht zustande gekommenen Italienbesuch hätten Wieland irritiert und missmutig reagieren lassen, da auch er nie nach Italien gekommen sei. In Mein Schreibetisch (1799) erwähnt sie an verschiedenen Stellen solche Vorhaben: [Ich] dachte mit Schmerz zurück, an das, dem Verhängniß zweymal dargebrachten, Opfer der Reise nach Italien, ich rief den Genius der mütterlichen Liebe, und den Schutzgeist der wahren Freundschaft zum Ersatz auf; alle seit meinem sechzehnten Jahre in mir glimmenden Wünsche, Bilder und Hoffnungen vom Genuß dieses edelsten Glücks des Verstandes waren vor mir, aber viel größer, viel schöner als je, denn ich sagte: wäre ich in der Zeit des ersten Verlangens nach Italien gekommen […]. 11 Neben der in den 90er Jahren mit Johann Friedrich Christian Petersen, dem sie dieses Werk zueignet, geplanten Reise erwähnt sie hier ein vorangegangenes Vorhaben, das offensichtlich zur Zeit ihrer Verlobung mit Bianconi geplant war. 12 Von mindestens zwei weiteren Reisen berichtete sie in den 80er und 90er Jahren: Ihr Sohn Fritz hatte sie 1789 eingeladen, mit ihm und seiner <?page no="175"?> 175 Sophie von La Roche und Italien 13 Schreibetisch, Bd. 1, S. 367. 14 Dieser Brief wurde mir freundlicherweise von Patricia Sensch zugänglich gemacht, die den Briefwechsel der Brüder Petersen mit Sophie La Roche bearbeitet und zur Veröffentlichung vorbereitet. Die Reise mit Petersen scheint für dasselbe Jahr geplant gewesen zu sein, denn in Schreibetisch bedauert sie, dass nichts daraus geworden war. 15 Diese Bezeichnung benutzt sie mehrfach, etwa in diesem Brief an Johann Fr. Chr. Petersen vom 12.2.1798. Wiedergegeben in: Sensch: »Ich muß an meinem Schreibtisch mit Ihnen reden«, S. 241. 16 Niccolò Jommelli (1714-1774) war einer der bekanntesten italienischen Komponisten des 18. Jahrhunderts. Sein Name steht noch heute auf der Fassade des Opernhauses San Carlo in Neapel. Er hatte von 1750 bis 1768 in Stuttgart gelebt und dort mehrere Opern zur Aufführung gebracht, u.a. die von La Roche erwähnte Inszenierung von Didone abbandonata (1763), von der sie in ihrem Journal einer Reise durch Frankreich (S. 9-10) berichtet, dass sie ihr großen Eindruck gemacht habe. 17 Pietro Metastasio (1698-1782; eigentlich Pietro Trapassi) war vor allem Dichter und schrieb zahlreiche allgemein gerühmte Libretti. Die Zusammenarbeit mit Jommelli war für beide Künstler fruchtbar und führte zu Erfolgen in ganz Europa. Er gilt heute als wichtigster Dichter der (ersten) Arkadia. Über die Rezeption seines Werkes in Deutschland vgl. Lütteken: Metastasio im Deutschland und die Ausführungen in Teil V. dieses Artikels. 18 Dazu Vorderstemanns Einführung zu dem materialreichen und anregenden Sammelband: Meine liebe grüne Stube, S. 38. Frau das Mittelmeerland kennenzulernen, 13 und in einem bisher noch unveröffentlichten Brief an Petersen von 1793 gibt sie an, von einer englischen Bekannten 14 eine Aufforderung erhalten zu haben, mit ihr in den Süden zu reisen. Trotz solcher Pläne blieb ihr Italien aber zeitlebens unbekannt. Viele und vertiefte Bezüge auf dieses Land und seine Kultur lassen sich in ihrem Werk nicht finden, wohl aber Anspielungen und Querverweise. In ihren Reiseberichten erwähnt sie zahlreiche Begegnungen mit damals allgemein bekannten Persönlichkeiten, etwa mit Alessandro Collini, Cagliostro oder mit Neapels Gesandtem in Paris, Luigi Antonio Caraccioli, und der berühmten Sängerin Gabrielli. Bestimmte ›italienische Details‹ gibt es in einigen ihrer Romane - so beherrscht Miß Lony Italienisch und singt in besonders bedrückter Stimmung italienische Arien, Redall flüchtet nach Tivoli bei Rom oder ähnliches. Und als roter Faden ihrer inneren Bindung zum Herkunftsland ihres »ersten Freundes« 15 kann die Vorliebe für bestimmte Arien von Jommelli 16 und Metastasio 17 gelten. Obwohl sie im Allgemeinen kein besonders starkes Interesse an Musik erkennen lässt 18 und ihrem alten Gelöbnis im Zusammenhang ihres Trennungs-Traumas treu zu bleiben scheint, erwähnt sie im Journal einer Reise durch Frankreich eine zwanzig Jahre zuvor besuchte Opernaufführung von Jommellis Didone abbandonata; in Herbsttage und Mein Schreibetisch gibt sie den Text einer der bekanntesten Arien aus Mozarts La clemenza di Tito wieder, in einer übrigens <?page no="176"?> 176 Ulrike Böhmel-Fichera 19 Der Text der Arie findet sich sowohl in Herbsttage (S. 13, mit Übersetzung) als auch im Schreibetisch (Bd. 1, S. 73). Beide Versionen weisen kleine (Druck-)Fehler auf, die das Verständnis erschweren. Einige Worte scheinen La Roche unbekannt zu sein. Der Originaltext findet sich in Brunelli: Tutte le opere di Pietro Metastasio, S. 733. 20 Eine nahezu vollständige Übersicht über die gängigsten Reiseberichte des 18. Jahrhunderts gibt Volkmann (Historisch-kritische Nachrichten von Italien) in seiner Einleitung, wo er begründet, warum er trotz so vieler Werke noch ein weiteres Buch über Italien vorlegt. 21 Vgl. dazu Maurers Vorwort zu Archenholtz: England und Italien. Außerdem vom selben Autor: Genese und Funktion. 22 Pomona, 1783, H. 7, S. 548. La Roche gibt zahlreiche Verweise auf die Autoren von Reiseberichten und Italiendarstellungen. Übrigens bescheinigt ihr auch Böttiger (Literarische Zustände, S. 262) noch in fortgeschrittenem Alter ein besonders gutes Gedächtnis. sehr freien und emotional aufgeladenen Übersetzung. 19 Zwar sollen diese Indizien nicht überbewertet werden, weil sie auch als Ausdruck von Allgemeinbildung des gehobenen Bürgertums aufzufassen sind; dennoch bleiben sie erwähnenswert, da sie die Präsenz des Themas ›Italien‹ in Sophie von La Roches Werk dokumentieren. III. Im Italienheft der Pomona findet sich freilich wenig faktisches Anschauungsmaterial zur Gegenwart des Landes; La Roche hält sich an den ihr zugewiesenen Raum der Frauenliteratur und lässt es sich angelegen sein, den ›weiblichen Zirkel‹ nicht zu überschreiten. Deshalb finden sich keine Angaben zur historischen, politischen und gesellschaftlichen Situation Italiens 20 . Diese wurde bekanntlich von zahlreichen Reisenden, auf deren Darstellungen sie selbst im Text immer wieder verweist, beleuchtet. Die italienische Kultur wird nicht als - wenn auch ferner - Abglanz antiker Traditionen verstanden, und die teils erbitterten Debatten um Italiens Stellung unter den aufgeklärten Nationen Europas bleiben ausgespart, 21 obwohl La Roche in diesem Thema sehr belesen war, wie eine beiläufige Bemerkung ihres Korrespondenten Beroldingen deutlich macht: »Denn was sollte ich Ihnen schreiben - Ihnen, die alles gelesen hat, was über dieses Land geschrieben wurde, und alles doppelt so gut im Gedächtniß hat, als einer von den gewöhnlich Reisenden, der Italien durchlaufen ist? « 22 Wie schon in den England und Frankreich gewidmeten Heften beschränkt sich die Autorin auf Kenntnisse, die sie für Frauen angemessen und nützlich hält, etwa auf Nachrichten über die Seidenherstellung und die Verfertigung von Strohhüten. Aber anders als in den vorangegangenen ›Auslandsheften‹ druckt sie nur einen einzigen Auszug aus einem Werk einer anderen Schrift- <?page no="177"?> 177 Sophie von La Roche und Italien 23 Die in Dresden publizierte Ausgabe ist in französischer Sprache erschienen (Lettres de Madame du Boccage). Die Briefe aus Italien sind datiert auf die Jahre 1757 und 1758 und wie alle an eine Schwester gerichtet. 24 Pomona, 1783, H. 7, S. 548. Erste Angaben finden sich in Fechner: Landschaft, wo Bertolas kulturelles Umfeld rekonstruiert und er selbst ausführlich charakterisiert wird. Bertola widmet seinem Speyerer Freund eine Ode, die in seiner Werkausgabe Operette enthalten ist. 25 Nach 1776 hatte sie mit ihrer Mutter längere Zeit in Rom und Neapel gelebt, ging später als Erzieherin an den englischen Hof und veröffentliche in ihrer Heimatstadt gut drei Jahrzehnte später über ihre Zeit in Rom die Description of Latium, or La Campagna di Roma. 26 Der offenherzige Fischer ist von Bertola, der Text findet sich in Operette, S. 225 und unter http: / / www.girodivite.it/ antenati/ XVIIIsec/ bertola/ bertola2.htm. 27 Seit 1774 (H. 8) erschienen im Teutschen Merkur einige Briefe von Plinius dem Jüngeren. La Roche mag davon angeregt worden sein, trifft aber eine eigene Auswahl, um die weibliche Thematik in den Vordergrund zu stellen. Vgl. zu den Beiträgen über Italien in Wielands Zeitschrift die lesenswerte, detailliert eingeführte Darstellung von Kofler: Wanderschaften. stellerin ab, nämlich eine Episode aus Du Boccages Briefen. 23 Offensichtlich hatte sie keine Verbindungen zu Schriftstellerinnen, die ihr angemessenes Material über Italien und italienische Frauen hätten liefern können. Der allgemeinen Einführung Ueber Italien aus La Roches Feder folgen mehrere Berichte Joseph von Beroldingens, der sich Anfang des Jahres einige Monate in Neapel aufgehalten hatte und im Mai nach Speyer zurückgekehrt war. Die Beobachtungen des Speyerer Geistlichen bringen weder in der Themenauswahl (die Musik und ein Opernabend in Neapel), noch in der sprachlichen Gestaltung Neues. Sein Vorhaben umreißt er gleich zu Beginn, nämlich [Ihnen] etwas von den Empfindungen mitzutheilen, welche bey dem Anblick wichtiger Gegenstände in meine Seele kamen. Ich werde Ihnen aber damit mehr mein Herz, und mein Gefühl, als die Sachen schildern, so wie die nützliche Geschichtschreiber die Thatsachen nur als Grundsteine benutzen, um durch Hülfe der Philosophie die Geschichte des menschlichen Herzens darüber aufzubauen. 24 Dementsprechend beschreibt er seine Eindrücke von den vielen Menschen und dem Schmutz in den Straßen, von der Bedrohung durch Diebe und den Gepflogenheiten des neapolitanischen Adels bei Veranstaltungen und gegenüber Fremden. Ein Gesang der englischen Autorin Ellis Cornelia Knight (1757-1837) 25 auf das Kapitol, ein von Johann Georg Jacobi aus dem Italienischen übersetztes Lied 26 sowie ausgewählte Briefe von Plinius dem Jüngeren 27 vervollständigen das Heft, ohne allerdings ein ›Bild‹ Italiens zu entwerfen. <?page no="178"?> 178 Ulrike Böhmel-Fichera 28 Das Erdbeben fand am 5. Februar 1783 statt und verwüstete weite Teile Kalabriens und die Gegend um Messina in Ostsizilien. Es gab nach damaligen Berichten etwa 30.000 Tote. Jacobs verweist in seinem Aufsatz (Auswirkungen eines Erdbebens) darauf, dass diese Katastrophe schon längst nicht mehr die nachhaltige Wirkung zeitigte, die nach dem Erdbeben von Lissabon von 1755 in ganz Europa zu beobachten gewesen war. 29 Pomona, 1783, H. 7, S. 528. Dieser versteckte Hinweis auf die ästhetischen Debatten der Zeit werden nicht weiterverfolgt. 30 Ebd., S. 515. 31 Schreibetisch, Bd. 1, S. 382. 32 Die Beschreibung der Investitur findet sich bei Du Boccages Lettres auf S. 127, wo sie bezeichnenderweise die zukünftige Nonne als ›Opfer‹ tituliert und die Entscheidung für ein Leben im Kloster lediglich pragmatisch, als Versorgungsmöglichkeit lediger Frauen, erwähnt. La Roche dagegen lobt diese als eine moralische Wahl, verurteilt zugleich aber den damit verbundenen materiellen Aufwand, die Prachtentfaltung, aufs Schärfste. 33 Ob man in diesem Namenskürzel eine Anspielung auf Bianconis Familie sehen darf, ist nicht eindeutig auszumachen. Da La Roche aber angibt, dass sie den Bruder gekannt habe, bietet sich eine solche Lesart geradezu an. 34 Giovanni Vincenzo Antonio Ganganelli war nur von 1769 bis 1774 Papst, wird aber bei La Roche auch noch im Schreibetisch und in ihren Erscheinungen (vgl. den Beitrag von Loster- Schneider im vorliegenden Band) erwähnt bzw. zitiert. Für unser Thema ist die Einleitung des Heftes deshalb besonders aufschlussreich. An den Anfang stellt La Roche eine aktuelle Betrachtung über das zu Beginn des Jahres 1783 bekannt gewordene Erdbeben von Kalabrien und Ostsizilien (um Messina), 28 womit sie zugleich das zentrale Thema anschlägt: Italien als das Land des »großen Schönen und des großen Fürchterlichen, das in der Natur und in der menschlichen Seele erscheinen kann.« 29 Italiens Landschaft ist auf den ersten Blick ein »Paradies« und (mit Volkmann) der »Garten unsers Europas«, 30 die dort wirkenden Naturgewalten werden zum Sinnbild des Nebeneinanders von Gut und Böse, von Tugend und Leidenschaften, also der menschlichen Natur schlechthin. Eine Natur, die durch Tugend gemäßigt, regiert und befriedet werden muss. Auf diese Vorstellung kommt sie später in Mein Schreibetisch zurück, nun als Frage, »[…] ob nicht die Wuth der Leidenschaften, des Neides und des Hasses, über die Vorzüge der Obergewalt in der Kunstwelt eben so viel zerstörten, als Erdbeben und Vulkane zu Grunde richteten? « 31 In diesem Sinn wird auch Du Boccages Bericht über die Einkleidung einer adligen Nonne in Venedig wiedergegeben, 32 gefolgt von der exemplarischen Geschichte der Ludovika B. 33 Diese gibt in bewegenden Worten den löblichen Verzicht auf eine sozial unangemessene Verbindung wieder und warnt - wie andere Geschichten der Autorin auch - vor den schrecklichen Folgen einer Mésalliance. Wenn zudem in diesem Zusammenhang einige Verse des Papstes Klemens XIV. 34 zitiert und auf die Protagonistin angewandt werden, so zeigt die Autorin damit nachdrücklich, dass weibliche Tugend in allen Län- <?page no="179"?> 179 Sophie von La Roche und Italien 35 Die bei La Roche als Journal für die Damen in Neapel erwähnte Zeitschrift hieß im Original Giornale delle dame italiane und erschien mit dem Datum 1782 in Neapel. Die Publikation verzögerte sich offensichtlich durch verschiedene Instanzen der Zensur. Bibliographisch ließ sich bislang nur einziger erster Band nachweisen. Das Blatt wurde von dem Priester Antonio Scarpelli herausgegeben, einem in keiner der einschlägigen Biographien aufgeführten Verfasser. Er soll aber, laut einer Anmerkung zum Briefwechsel mit Metastasio (Opere, Bd. 4. S. 882), einen in französischer Sprache verfassten Reisebericht im damaligen Italien (Voyage en Italie avant ses dernières revolutions, 1798; nachgewiesen unter dem Verfassernamen Scarpelli Romain und mit dem Verlagsort Neuchâtel) und auch mehrere Gelegenheitsgedichte geschrieben haben. Der Name dieses Geistlichen taucht außerdem als Beiträger der Zeitschrift Effemeridi letterarie auf, worauf im Folgenden noch einzugehen sein wird. Auch Jagemann erwähnt Scarpelli in seinem Magazin der italienischen Litteratur und Künste als Mitarbeiter der römischen Zeitschrift. 36 Der Textvergleich mit dem Original macht deutlich, dass La Roche keinesfalls eine Übersetzung, sondern eine äußerst freie Nacherzählung anfertigt. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass sie das Original nur als Anlass für eine eigene Erzählung nimmt. 37 Vgl. dazu Baier: Lesende Frauen, S. 107-108. dern und Verhältnissen möglich ist und von den entscheidenden geistlichen und weltlichen Autoritäten gepriesen und gefördert wird. In dieselbe Richtung weist der Auszug aus dem Giornale delle dame italiane, 35 der in einem späteren Heft nachgereicht wird, weil er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Juni-Heftes noch nicht vorgelegen hatte. In einer mehr als freien Paraphrase des ursprünglichen Textes 36 gibt La Roche die Regeln des Anstands und der Vorsicht im Verkehr mit dem ›anderen‹ Geschlecht wieder, die der Herausgeber zu verbreiten bemüht ist. Die langatmigen moralischen Belehrungen des neapolitanischen Geistlichen, dessen fiktive Briefe zwischen einem jungen Madchen und ihrem Liebhaber die Leserinnen zu Vorsicht im alltäglichen Umgang mit dem anderen Geschlecht anleiten sollen, decken sich mit denen, die auch sonst in der Pomona vertreten werden. Bei der Lektüre von Du Boccages Originaltexten fällt der belehrende und emotional aufgeladene Ton von La Roches Adaption besonders deutlich auf. Die Französin, die schon 1757 nach Italien reiste und also noch viel Unbekanntes berichten konnte, beschränkt sich auf Aspekte, die ihre Aufmerksamkeit erregen und die sie für wissenswert hält. Sie verbindet damit keinen pädagogischen oder moralischen Anspruch, und ihre anspruchslose, aber detaillierte Schilderung fremder Lebensverhältnisse kann noch heute mit Interesse gelesen werden. Diese empfindsam-moralisierende Aneignung des fremden Textes relativiert dabei auch die Liste berühmter Italienerinnen. Tatsächlich bleiben die Ausführungen über Wissenschaftlerinnen und Dichterinnen des 18. Jahrhunderts in der Pomona eher oberflächlich. 37 Zwar werden Verdienste auf verschiedenen Gebieten erwähnt, aber kaum anschaulich gemacht. Die <?page no="180"?> 180 Ulrike Böhmel-Fichera 38 Ueber das Lesen, in: Pomona, 1783, H. 9, S. 845-846. 39 Ebd., 1783, H. 7, S. 536. 40 Ceranski (»Und fürchtet sich vor niemandem«) und Logan (The Desire to Contribute) weisen nach, dass Bassi an der Universität und später am Istituto delle Scienze eine Sonderstellung einnahm. Sie konnte öffentliche Vorlesungen an der Universität nur auf ausdrückliche Aufforderung des Senats halten und führte deshalb vor allem zu Hause Experimente durch, bei denen allerdings Studenten und auch häufig berühmte Durchreisende (wie etwa Mme. Du Boccage) anwesend waren. 41 Kurz nach seiner Ankunft in Augsburg 1744 schildert er Laura Bassi, die sich über einen Cousin für Bianconi eingesetzt hatte und der er seinen Dank abstattet, seine ersten Eindrücke der Stadt: »Questa è una città assai bella, ed assai ricca, anzi è una assolutamente delle più belle della Germania. Vi è molta nobiltà, e nobiltà assai più riguardevole anche della maggior parte di quella, che siamo avezzi a trattare così a Bologna perché ella vedrebbe per esempio canonico semplice qui in Augusta il fratello dell’Elettore di Magonza, che è la prima persona nell’Impero dopo l’Imperadore. In somma questo è un un’altro mondo assai diverso dal nostro, e quando qui si dice un conte s’intende assai più di quello s’intende originariamente da noi. I medici per tutta la città sono sedici, e in verità senza far loro alcun torto sono piuttosto sedici ministri della giustizia di dio, che della sua beneficienza, e misericordia. […] I chirurghi poi non ne parlo, sono bestie, che non sanno che diavolo si peschino, e guai a quel meschino, che cade loro nelle mani.« (Dies ist eine sehr schöne und sehr reiche Stadt, ja, sie kann als eine der schönsten von Deutschland angesehen werden. Es gibt viele Adlige und zwar Adlige, die entschieden bedeutender sind als diejenigen, die wir in Bologna als solche behandeln, weil etwa der Bruder des Reichsfürsten von Mainz, der der zweite Würdenträger nach dem Kaiser ist, hier als einfacher Priester Debatte um weibliche Gelehrsamkeit, um Grenzen und Möglichkeiten weiblicher Bildung wird nicht aufgenommen, und La Roche vertritt gerade in ihrer der weiblichen Bildung gewidmeten Zeitschrift die Ansicht, für bürgerliche junge Frauen genüge eine Kenntnis der »Christenlehre und biblische[n] Geschichte.« 38 Es erscheint dementsprechend konsequent, dass sogar Laura Bassi, die in ganz Europa bewunderte und angestaunte Physikerin aus Bianconis Heimatstadt, folgendermaßen vorgestellt wird: Laura Bassi in Bologna gab lateinische Vorlesungen über Physik, war aber bey ihrer ausserordentlichen Gelehrsamkeit eine sehr achtsame Mutter von sieben Kindern. Denn da sie eine Professorstelle, und Besoldung hatte, so gieng sie nicht eher zu ihren Vorlesungen, bis ihre Kinder und Haushaltung besorgt waren. 39 Abgesehen von der missverständlichen Formulierung »Vorlesung« 40 wird ihr Fall auf ein unvermitteltes Nebeneinander von hausfraulicher ›Normalität‹ und wissenschaftlichen Leistungen reduziert, ohne Bassis außergewöhnliches Leben auch nur annähernd zu würdigen. Obwohl Bassi offensichtlich Modell stand für die von La Roche selbst ersehnten Bildungsbestrebungen - Bianconi stand im Briefwechsel mit ihr 41 und schilderte ihr anschaulich seine ersten <?page no="181"?> 181 Sophie von La Roche und Italien behandelt wird. Es gibt sechzehn Ärzte in der ganzen Stadt und, ohne ihnen Unrecht tun zu wollen, kann man sagen, dass sie eher Minister der göttlichen Gerechtigkeit sind als die seiner Güte und seines Mitleids. […] Von den Chirurgen will ich lieber schweigen, es sind Tiere, die nicht wissen, woran sie sind und diejenigen, die in ihre Hände fallen, sind zu bemitleiden.) Der Brief findet sich bei Cenerelli (Hrsg.): Lettere inedite alla celebre Laura Bassi. Ob diese sehr kritischen Anmerkungen zu den Fähigkeiten der Augsburger Ärzte (unter die auch La Roches Vater gezählt werden muss) diesem vielleicht später zu Ohren gekommen ist, ließ sich nicht feststellen. 42 Schon gleich nach ihrer öffentlichen Bestallung als Professorin gaben die Acta Eruditorum in Leipzig Nachricht von diesem Ereignis (1732 und 1733, in mehreren Nummern), auch Der Wöchentlichen Historischen Münzbelustigung« (9. Stck. vom 27.2.1737) widmet dem Ereignis eine Nummer, bezeichnet Bassi als ein »Wunder unserer Zeit« und als »welsche Muse« (S. 66). Dort wird auch die Ehrenmedaille abgebildet, die in Umlauf war. In einem längeren Kommentar allerdings wird der Typ der gelehrten Frau sogleich heftig angegriffen: »Eine gelehrte Frau, die keine gute Suppen kochen kann, taugt gar nichts…« (S. 72). Du Boccage berichtet, dass sie an einem von Bassi in ihrem Haus veranstalteten Experimente teilgenommen habe. Jagemann druckt eine Lobschrift auf die Frau Laura Baßi Veratti ab und der Teutsche Merkur rückt ausführliche Nachrichten über die berühmte Physikerin ein. 43 Zu Agnesi insbesondere Kleinert: Gaetana Agnesi und Laura Bassi, und Findlen: Science as a Career in Enlightenment Italy. 44 Diese wird schon von Du Boccage erwähnt als eine der drei Frauen (außer Laura Bassi und Maria Gaetana Agnesi), die in das Istituto delle Scienze von Bologna aufgenommen worden war. Bekannt ist nur, dass sie 1785 starb. Vgl. Logan: The Desire to Contribute, und Costa-Zalessow: Scrittrici italiane, S. 184, wo sie als Förderin von Maria Maddalena Morelli während deren Aufenthalt in Neapel erwähnt wird. Zuletzt Findlen, die weitere Hinweise auf Briefpartner gibt. Eine weiterhin ergiebige Quelle ist Natali: Il Settecento, Bd. 1. Eindrücke aus Augsburg - werden keine weiteren Einzelheiten aus ihrem Leben mitgeteilt. Dass zahllose Reisende aus den verschiedensten Ländern mit großer Aufmerksamkeit von ihren Fähigkeiten berichtet hatten, dass ihr Ruhm seit den 30er Jahren des Jahrhunderts auch in Deutschland schon in unterschiedlichen Formen zirkulierte, findet keine Erwähnung und lässt erkennen, dass jede weitere Erörterung unterbunden werden soll. 42 Etwas länger wird lediglich über die zweite, damals weit über die Grenzen ihres Landes bekannte Gelehrte, die Mailänder Mathematikerin Maria Gaetana Agnesi (1718-1799), 43 berichtet: Vollzog diese doch in der zweiten Hälfte ihres Lebens eine religiös motivierte Wendung und widmete sich fortan nur noch wohltätigen Zwecken. Damit scheint sie La Roche offensichtlich besser geeignet, den Leserinnen die weibliche Lebenswelt vor Augen zu halten. Eine weitere, schon Du Boccage bekannte Gelehrte, Faustina Pignatelli Carafa di Columbrano, 44 wird in der Gruppe der Neapolitanerinnen flüchtig erwähnt (als Gräfin Ligneville), ohne dass die Leserin irgendwelche weiteren Informationen erhielte. Auch Maria Pellegrina Amoretti (1756-1787), die erste Italienerin, deren Abschlussexamen in Rechtswissenschaften 1777 an der <?page no="182"?> 182 Ulrike Böhmel-Fichera 45 Anlässlich ihres Abschlussexamens schrieb Parini die Ode La Laurea. Laut Natali (Il Settecento, S. 137) starb sie schon ein Jahr vorher. Inzwischen finden sich auch im Internet biographische Angaben zu ihrem Leben. 46 Sie übersetzte schon früh Werke aus dem Deutschen, auch Geßners Idyllen, mit deren Übersetzung Bertola bekannt wurde. Vgl. zu Leben und Werk von Elisabetta Caminer Turra die Arbeiten von Rita Unfer-Lukoschik. Beweis für das Netzwerk von Bertolas Bekanntschaften ist es, dass er Caminer Turras deren Zeitschrift Europa letteraria (vorher Giornale enciclopedico) ab 1796 übernahm, da er inzwischen in Norditalien lebte. 47 Giosseffa Cornoldi Caminer gab von 1786-1788 La donna galante ed erudita in Venedig heraus. Vgl. dazu den Anhang in Böhmel-Fichera: Kein Werk des Zufalls. Eine Auswahl aus den drei Jahrgängen erschien 1983 bei Marsilio in Venedig. 48 Ein Exemplar des von ihr übersetzten Textes (Statica de’ vegetabili ed analisi dell’aria Opera del Signor Hales. Trad. dall’inglese con varie annotazioni da Maria Angela Ardinghelli, Neapel 1756) befindet sich in der Nationalbibliothek Neapel. Findlen geht näher auf ihre Übersetzungstätigkeit ein und kommt zu dem Schluss, dass diese durchaus eine Art von selbständiger intellektueller Arbeit darstellt. Ebd. 49 Allgemein bekannt ist der Fall von Dorothea Schlözer, die 1787 der Proklamation ihrer eigenen Promotion nur versteckt beiwohnen konnte. Vgl. Kern/ Kern: Madame Doctorin, S. 114-137. Findlen zeigt, dass in Italien besonders viele Frauen öffentliche Anerkennung als Wissenschaftlerinnen fanden. 50 Die wichtigsten Angaben zu den genannten (Stehgreif-)Dichterinnen finden sich bei Baier: Lesende Frauen. Wie aus den Geburtsdaten ersichtlich wird, gehören sie bis auf Faustina Zappi Maratti alle der zweiten römischen Arkadia an. Die weiblichen Doppelnamen entstehen bei Heirat durch die Anfügung des Namens vom Ehemann. Weil diese Regelung aber erst in heutiger Zeit allgemein wurde, kam es häufig zu Namensumstellung bzw. zu Ungenauigkeiten in der Benennung bei Frauen, die gelegentlich sowohl unter ihrem Familiennamen wie unter dem des Mannes bekannt waren. 51 La Roche gibt zwei Namen - Todini und Lugarelli - an, die nirgends nachgewiesen werden Universität Pavia offiziell anerkannt wurde, wird keine Beachtung zuteil. 45 Der bekannten Journalistin und Übersetzerin Elisabetta Caminer Turrà (1751-1796), 46 deren Schwägerin 47 übrigens eine der ersten italienischen Frauenzeitschriften herausgab, kann ebenso wenig Pomonas Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie Maria Angela Ardinghelli (1728-1825), 48 die durch die Übersetzung eines wissenschaftlichen Werkes aus dem Englischen allgemein bekannt geworden war. Nicht erwähnt bleibt schließlich auch der gewichtige Unterschied zwischen der deutschen und italienischen Situation, dass einigen Italienerinnen das gelang,was im angeblich so aufgeklärten Deutschland nicht möglich war, die öffentliche Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen. 49 Etwas genauer sind die Angaben über Frauen, die Beroldingen angeblich selbst kennengelernt haben will, nämlich die Dichterinnen bzw. Stehgreifdichterinnen Livia Accarigi (1718-1786), Maria Maddalena Morelli (1727- 1800), Maria Fortuna (geb. um 1742), Faustina Zappi Maratti (1679-1745) und Fortunata Sulgher Fantastici (1755-1824). 50 Allerdings scheint die ungenaue Angabe zu Chiara Todini Luparelli, 51 die als »die Damen Todini und <?page no="183"?> 183 Sophie von La Roche und Italien können. Es handelt sich offensichtlich um die damals nicht unbekannte Chiara Todini Luparelli, von der keine bio-bibliographischen Angaben gefunden werden konnten. Ihr Name taucht aber unter den Korrespondentinnen von de’ Giorgi Bertola auf, und dieser widmet ihr eine Ode (Operette, S. 92). Im Fall des Namens »Lugarelli« handelt es sich um einen der häufigen Druckfehler (in der Pomona) durch Verwechslung von ähnlichen Buchstaben (g und p). 52 Fechner (Landschaft, S. 64) gibt an, dass Bertola und von Beroldingen zeitweilig vorhatten, in Speyer zusammen zu leben, um dort mit einer Zeitschrift die Kulturvermittlung zwischen Italien und Deutschland zu fördern. Vgl. dazu auch Piromalli: Aurelio Bertola, Kap. 1. 53 Viele zeitgenössische deutsche Reisende berichten, wie beispielsweise Volkmann, ähnlich positiv voreingenommen. Die heutige italienische Geschichtsschreibung beurteilt Ferdinand IV. und die »deutsche« Königin dagegen sehr kritisch und zeichnet ein gegensätzliches Bild von dem Herrscherpaar. Dazu Carpanetto/ Ricuperati: L’Italia del Settecento, S. 401 sowie: Storia d’Italia, Bd. 3, S. 130. 54 Bertola, war nicht nur Schützling des österreichischen Statthalters von Wilzeck, sondern schätzte die deutsche Kultur und Literatur sehr hoch und widmete sich ihrer Verbreitung in Italien. Das schon erwähnte Giornale delle dame italiane macht sich ebenfalls zum Sprachrohr einer unkritischen Verehrung von Maria Karoline (Brief XXI, S. 120-128). Lugarelli« erwähnt wird, eher darauf zu weisen, dass die Informationen von Bertola stammen, von Beroldingens gutem Freund, der damals in Neapel lebte und fast alle genannten Frauen persönlich kannte. 52 Der oberflächlich bleibenden Aufzählung gelingt es nicht, der deutschen Leserin eine genauere Vorstellung von den »Verdiensten« dieser Italienerinnen zu vermitteln und vermeidet es sorglich, weiterführende Beschäftigung mit ihren Lebensentwürfen oder ihren Schriften anzuregen. Auch La Roche selbst scheint kaum mit Werken von ihnen vertraut zu sein, erwähnt jedenfalls keine Titel. Was in den Frankreich und England gewidmeten Heften als Verzicht auf unnütze Wiederholung gerechtfertigt sein konnte, da die Werke der genannten Autorinnen in deutscher Übersetzung vorlagen oder im Original gelesen werden konnten, führte bei den italienischen Dichterinnen zu Unverständnis, waren sie doch so gut wie unbekannt. Die darauf folgende hagiographische Darstellung des Königspaars von Neapel schreibt der »würdige[n] Tochter der wohlthätige[n] Maria Theresia« und ihrem Gemahl, Ferdinand IV., König beider Sizilien, Haltungen und Entscheidungen zu, die die Geschichtsschreibung schon längst als Legenden entlarvt hat. 53 La Roche übernimmt offensichtlich falsche Informationen von ihren Gewährsmännern 54 und trägt - mit vielen anderen Deutschen - dazu bei, den heilsamen Einfluss der österreichischen Kaisertochter auf das Land zu überschätzen. Ebenso ignoriert sie, was an Reformbestrebungen zu der Zeit diskutiert und von Hof und Adel blockiert wird bzw. schon widerrufen <?page no="184"?> 184 Ulrike Böhmel-Fichera 55 Vgl. zu den historischen Kenntnissen, die man in Deutschland von Italien hatte, Altgeld: Das politische Italienbild, und Dipper: Das politische Italienbild. 56 Es handelt sich um Johann Isaac Freiherr von Gerning (1767-1837), der 1794 einer Einladung des Königs nach Neapel folgte und drei Jahre später zum Legationsrat ernannt wurde. Zur Kaiserkrönung von Leopold II. in Frankfurt wohnte das Königspaar im Hause der Familie Gerning. Wie La Roche im Schreibetisch (Bd. 1, S. 367) betont, war Gerning ihre erste Quelle für die Verehrung des neapolitanischen Herrscherpaares. Er schrieb verschiedene Artikel für den Teutschen Merkur (Kofler: Wanderschaften), unternahm im Laufe seines Lebens mehrere Reisen nach Italien und veröffentlichte Reiseberichte. Vgl. Götting: Gerning. 57 So der Katalog zur Ausstellung über Lessings Reise nach Italien im Jahre 1775. Ritter- Santini: Eine Reise der Aufklärung, S. 583. 58 Pomona 1783, H. 7, S. 599. worden war. 55 Der Kult um Maria Karoline scheint später von Gerning, 56 einem Freund der La Roches und späteren Hofrat in Neapel, noch gefördert worden zu sein. Die Tochter Maria Theresias, die in einer kürzlich veröffentlichen deutschen Darstellung als intrigant und feindselig gegenüber ihrer neapolitanischen Umgebung bezeichnet wird, 57 kann in dieser Perspektive als Beispiel für weibliche Pflichterfüllung tout court dienen, nämlich als Mutter ihrer leiblichen Kinder und als Mutter des Volkes, als Hoffnungsträgerin für den zivilisatorischen Einfluss des aufgeklärten Europas auf ein - so muss wohl im Sinne der Autorin ergänzt werden - zurückgebliebenes Land. Das Italienheft der Pomona schließt mit einigen Briefen von Plinius dem Jüngeren ab, die noch einmal die Hauptthemen aufnehmen und mit denen La Roche zeigen will, wie sie in der Hoffnung auf den Geist ihrer Leserinnen einleitend formuliert, »daß die thätige Tugend bey edlen Völkern immer verehrt wurde, und daß dieß, was die Römer vor 1700 Jahren glüklich machte, auch das Glück unserer Männer ist.« 58 Die aus alledem für die fiktive Leserin Lina gezogene Lehre besteht in einer extremen Vereinfachung: Die andersartigen und potenziell faszinierenden Lebensentwürfe von ausländischen weiblichen Intellektuellen haben nicht etwa als Ansporn für Änderungen und Forderungen zu dienen, sondern sind als Bestätigung der immer wieder bekräftigten Maxime zu lesen, dass jede Frau in der ihr eigentümlichen Stellung ihre Pflichten fleißig und freudig erfüllen kann. La Roches ambivalente Haltung in der Frauenfrage kommt hier besonders deutlich zum Ausdruck, macht sie es sich doch zur Aufgabe, die selbst praktizierte Anpassung und Selbstbeschränkung fortzuschreiben und zu propagieren. <?page no="185"?> 185 Sophie von La Roche und Italien 59 Schreibetisch, Bd. 1, S. 364. 60 Ebd., Bd. 1, S. 372-373. 61 Ebd., Bd. 1, S. 381. IV. In der späten Schrift Mein Schreibetisch (1799) findet sich am Ende des ersten Bandes eine eigentümliche und zugleich bemerkenswerte Vision von Italien, welche als Bewältigung und Rechtfertigung des eigenen Lebens gelesen werden kann. Ausgehend von einem angeblichen Traum im Juni 1793, reflektiert die Autorin nach dem Erwachen über den Vorteil, nicht schon als Sechzehnjährige (d.h. zur Zeit ihrer Verlobung mit Bianconi! ) nach Italien gereist zu sein. 59 Sie merkt dazu an, dass sie dann aller Wahrscheinlichkeit nach nur spontane Eindrücke, nicht aber vernunftgemäße Vorstellungen hätte entwickeln können. Sie wägt die damaligen Gefühle gegen den angeblichen Zuwachs an nützlichen Lebenserfahrungen ab und hebt die inzwischen erreichte innere Reife hervor, die als Resultat des Konflikts aus unerfüllten Wünschen (ihr anfangs berichteter Traum) und rationaler Einsicht (die im Wachen vorgenommene Niederschrift) gestaltet wird. Die Erzählung vollzieht eine Kreisbewegung von Neapel über Rom nach Neapel zurück, wobei die autobiographische Dimension ständig ins Spiel gebracht wird. Der Gang durch die italienische Landschaft dient auch dazu, die eigene Bildung in Szene zu setzen, erwähnt La Roche doch wie nebenher Kenntnisse jeder Art, die mit Italien und dem alten Rom zu tun haben. Der anfängliche Blick auf Neapel vom Wasser aus fängt die Stadt mit ihren zwei Polen ein, Vesuv und Caserta: […] ehe ich in einer stillen Nacht […] von einer Anhöhe das endlose, von dem Mond beleuchtete Meer gesehen, einen Blick auf die Zeit welche ich durchlebte, auf den Weg welchen ich zurück gelegt, geworfen, und an die Millionen Menschen aller Stände gedacht hätte, welche zu beyden Seiten dieses Weges verbreitet wohnen, und a l l e wie ich, nur einen Weg zum wahren Glück haben, den schönen Weg, welchen F e r d i n a n d und C a r o l i n a von Neapel gehen: treue Erfüllung ihrer Pflichten. 60 Danach schweift die Überlegung ab zu den antiken Stätten Roms, deren Verfall La Roche aber mit Wehmut betrachtet und der sie veranlasst, sich wieder in die Nähe von Caserta zu denken, »[…] wo die Liebe der Unterthanen die Grundpfeiler der königlichen Wohnung stüzt, und wo ich noch den Wiederhall des erneuten Schwures der Treue, für die beste Oberherrschaft hören würde.« 61 Diese Verklärung des Herrscherpaares zu diesem Zeitpunkt verdeutlicht La Roches Bedürfnis, ein ›moralisches Gemälde‹ zu entwerfen, das Trost in den politischen Wirren der Zeit zu spenden fähig ist. <?page no="186"?> 186 Ulrike Böhmel-Fichera 62 Ebd., Bd. 1, S. 382. 63 So an Lavater, 24.7.1782, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 243. 64 Goethe: Italienische Reise, in: Sämtliche Werke, Artemis-Gedenkausg., Bd. 11, S. 528-532. 65 Die Aufnahmeurkunde befindet sich im GSA Weimar. Für den Hinweis danke ich Patricia Sensch. 66 Vgl. die vielen Querverweise bei Cantarutti: L’Antologia Romana. Indem es eine Szene von allgemeiner Harmonie entwirft, aus der Widersprüche, Brüche und Gewalt getilgt sind, gibt die Verfasserin indirekt eine Antwort auf die im Text gestellte und schon erwähnte Frage, »ob nicht die Wuth der Leidenschaften, des Neides und des Hasses, über die Vorzüge der Obergewalt in der Kunstwelt eben so viel zerstörten, als Erdbeben und Vulkane zu Grunde richteten.« 62 In dieser Darstellung verdichtet sich die Idealisierungstendenz, die La Roches Gesamtwerk innewohnt und die sie selbst verschiedentlich betont hatte: »[…] mit der Feder bin ich, was ich bin; mit meiner Person, was ich kann.« 63 Dieses ›wirkliche Sein‹ erweist sich nach der Französischen Revolution immer mehr als eine Tendenz zur Flucht aus einer unverständlich werdenden Welt, die ihre Werke kaum noch beachtet und der sich die Autorin nicht mehr zugehörig fühlte. V. Eine letzte Ebene im Verhältnis zu Italien findet keinen direkten Ausdruck im Werk, ist aber aufschlussreich für La Roches Selbstverständnis als Schriftstellerin gegen Ende ihres Lebens. 1790 wird sie in die literarische Vereinigung der Arkadia aufgenommen, obwohl sie sich nicht - wie es bei Goethe der Fall war 64 - in Rom aufhielt. Da die Aufnahme offensichtlich auf die Initiative eines Vermittlers zustande kam (die Urkunde spielt darauf an), 65 ist anzunehmen, dass Bertola, selbst äußerst aktives Arkadia-Mitglied, tätig wurde. Die Beziehung zwischen ihm und La Roche muss also wesentlich intensiver gewesen sein als aus den bisher bekannten Dokumenten hervorgeht. Dieser Professor, Journalist, Dichter und kultureller Mittler zwischen Deutschland und Italien hatte einen ausgedehnten Freundes- und Bekanntenkreis und unterhielt Briefwechsel mit führenden Persönlichkeiten seiner Zeit. Er nimmt in der Arkadia eine beachtliche Stellung ein, wie in jüngerer Zeit hervorgehoben worden ist. 66 Bekannt ist bisher, dass La Roche im Januar 1783 ein Schreiben an ihn gerichtet und um Material für das Juniheft der Pomona gebeten hatte. In der folgenden Zeit wiederholte ihr Speyerer Freund Beroldingen diese Bitte mehrmals und konnte, wie die Gestaltung des Italienheftes zeigt, entsprechende Nachrichten erhalten und nützliche Kontakte <?page no="187"?> 187 Sophie von La Roche und Italien 67 Rheinreise. Der vollständige italienische Text wurde erst 1795, die deutsche Übersetzung 1796 veröffentlicht. Daneben schrieb der Autor auch ein Tagebuch, das 1982 publiziert wurde, aber leider kaum persönliche Angaben enthält, weil er nach ersten Einträgen dazu überging, nur die Reisekosten zu notieren. Nähere Angaben zur Textentstehung von Michèle und Antonio Stäuble in der Einleitung zur Neuausgabe der Rheinreise. Außerdem zu Bertola auch Piromalli: Antonio Bertola. 68 Zur Geschichte vgl. Natali: L’Arcadia, und Stango: L’Arcadia. Für den Zeitraum Ende des 18. Jahrhunderts besonders Nacinovich: »Il sogno incantatore della filosofia«. 69 Salinari: Profilo storico, Bd. 2, S. 199. 70 Bertola: Rheinreise, Einleitung, S. 20. knüpfen. Persönlich lernten sich La Roche und Bertola wenige Jahre später anlässlich der Rheinreise Bertolas (1787) 67 kennen, weitere Begegnungen sind nicht belegt. Die literarische Vereinigung Arkadia war Ende des 17. Jahrhunderts auf Initiative der zum Katholizismus konvertierten Christine von Schweden gegründet worden. Sie setzte sich die Überwindung des barocken ›Schwulstes‹ in der Literatur und die Vereinfachung der italienischen Sprache zum Ziel. 68 Schnell weitete sich der Kreis der anfangs nur vierzehn Gründungsmitglieder aus, so dass bald in vielen Städten des Landes Kolonien und Vertretungen gegründet wurden, die das gemeinsame Ziel, ›guten Geschmack‹ zu verbreiten, verfolgten. Zwar sollte mit dieser nach einer literarischen Republik strukturierten Vereinigung ursprünglich auch auf die Gesellschaft insgesamt Einfluss genommen werden, aber schon bald verlor man dieses weitgesteckte Ziel wieder aus den Augen und beschränkte sich auf gesellige Zusammenkünfte in bukolischer Umgebung, bei denen die Dichtungen der Anwesenden vorgelesen wurden. Die Mitglieder gehörten sowohl dem Adel (und Hochadel) wie dem Bürgertum an; zahlenmäßig stark vertreten waren die Geistlichen, die die Nähe zur katholischen Kirche augenfällig machten. In der heutigen Literaturgeschichtsschreibung wird der Übergangscharakter ihrer ästhetischen Positionen hervorgehoben, die Vermischung unterschiedlicher, auch gegensätzlicher inhaltlicher und formaler Elemente. Sie wird als »Brücke« 69 zwischen Barock- und Aufklärungskultur angesehen. Bekanntester Repräsentant dieser ersten Phase ist Metastasio. Nach 1750, zur Zeit der sogenannten zweiten römischen Arkadia, setzte sich diese Literatur fort, paradigmatisch realisiert in Bertolas Rheinreise, in der sich vorromantische Sensibilität, aufklärerischer Rationalismus und Rokoko-Geschmack am Idyll vereinen. 70 Seit den 70er Jahren, während Gioacchino Pizzi Vorstand (Custode Generale) war, fanden grundlegende Debatten über die Zielsetzungen und die poetologische Ausrichtung der Vereinigung statt, die sich an zwei Ereignissen entzündeten. La Roche nennt im Italienheft die Namen der beiden beteiligten Personen, ohne allerdings auf diesen Hintergrund einzugehen, so <?page no="188"?> 188 Ulrike Böhmel-Fichera 71 Die Schrift Consiglio ad un giovane poeta befindet sich in der Nationalbibliothek in Neapel. 72 Es ist umstritten, ob Bianconi dieses »Sprachrohr der sog. zweiten Arkadia« (Cantarutti: L’Antologia romana, S. 26, Anm. 8) gründete und leitete oder nur als Förderer und Beiträger tätig war (Morandotti: Bianconi, S. 127, Anm. 18). Ein Hinweis im Jg. VIII (1779, S. 309) legt nahe, dass ein Onkel von ihm das Blatt geleitet hat. dass nur spekuliert werden kann, wie weit sie selbst informiert war: die doppelte Dichterkrönung von Maria Maddalena Morelli (arkadischer Name Corilla Olimpica) - 1775 in der Arcadia-Versammlung und 1776 auf dem Kapitol - und die Publikation von Martin Sherlocks Consiglio ad un giovane poeta von gegen Ende der 70iger Jahre. 71 Morellis öffentliche Auszeichnung hatte zu so heftigen anonymen Angriffen und satyrischen Ausfällen geführt, dass sie mit ihrem Gönner überstürzt abreisen musste. Mehrere Mitglieder der Arkadia nahmen Stellung zu dem Skandal und kritisierten die Haltung der Arkadia bzw. ihres Vorstands. Dabei ging es nicht so sehr darum, dass diese Ehrung einer Frau zuteil geworden war (was dagegen in der Öffentlichkeit durchaus eine Rolle spielte, zumal ihr Förderer nach allgemeiner Auffassung auch ihr - bedeutend jüngerer und adliger - Liebhaber war), sondern vielmehr um den Wert ihres Werkes und um das Dichtungsverständnis, das damit ausgelobt worden war. Als Stehgreifdichterin stand Morelli für eine populäre, allen zugängliche Form von Dichtung, die Pizzi u.a. befördern wollte. Wenige Jahre später wurde Sherlocks Werk über die zeitgenössische italienische Literatur Anlass zu einer Selbstbesinnung und Abgrenzung gegenüber anderen Literaturen Europas. Es ging insbesondere um die Durchsetzung von Reformbestrebungen, die Pizzi seit seiner Wahl am Herzen lagen, nämlich um eine neoklassizistische Ausrichtung, die aufklärerische Momente nicht ausschließen sollte. Diese Haltung, die dezidiert von Vincenzo Monti vorgebracht worden war und sich in den Auseinandersetzungen schließlich durchsetzte, fand auch Bianconis und Bertolas Zustimmung. Beide nahmen in der Zeitschrift Effemeridi Letterarie (1772-1798) 72 Stellung, nachdem hier bereits eine verständnisvolle und zustimmende Rezension des Buches, in welcher der Verfasser Scarpelli die dezidiert ›moderne‹ Haltung des Gegenspielers und Nachfolgers von Pizzi, Luigi Godard, unterstützte. Es handelt sich insgesamt um Nuancen einer internen Auseinandersetzung, die im Hinblick auf unser Thema aber insofern einiges Interesse hat, als daran Personen beteiligt waren, die in Kontakt mit La Roche standen und von denen sie Informationen erhalten hatte oder hätte erhalten können. Da La Roche sich meines Wissens nie zu ihrer Aufnahme in die Arkadia geäußert hat - der Grund mag auch hier in dem Schwur aus der Jugendzeit liegen -, kann man nur versuchen, die Motive dafür aus ihrer Haltung gegen Ende des Jahrhunderts abzuleiten. Als sich in Deutschland nach der Französischen <?page no="189"?> 189 Sophie von La Roche und Italien Revolution die Literatur der Empfindsamkeit und des Sturms und Drang definitiv überlebt hatte, als ihre Werke kaum noch Beachtung fanden und sie ihre alte Welt zerstört fand, konnte angesichts der politischen Wirren und kulturellen Umbrüche die Zugehörigkeit zu einer literarischen Gruppe wie der Arkadia als letzte Heimstatt und damit als das ›Paradies‹ (oder Arkadien) erscheinen, als das La Roche Italien immer auch erträumt hatte. <?page no="190"?> 1 Vgl. die Länderhefte der Pomona für Teutschlands Töchter (1783-1784) und die Reisebücher. 2 Vgl. Barton: Sophie von La Roche: Erscheinungen am See Oneida; Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern; Blackwell: An Island of Her Own; Brandes: Escape to America; Heidenreich: Sophie von La Roche - Werkbiographie; Johns: Women’s Utopias of the Eighteenth Century; Krimmer: A Garden of her Own? ; Lange: Empfindsame Abenteuer; Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin; Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts; Vahsen: Die Politisierung des weiblichen Subjekts; Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten. 3 Vor allem andere Koloniegründungs-Geschichten spielen nur wenig in der neuen Welt, so Wezels Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (1776), Seybolds Reizenstein. Die Geschichte eines Officiers (1778-1779), Frölichs Virginia oder die Kolonie Gudrun Loster-Schneider »O nein, nein, lieber sterben als erworbene Kenntnisse verlieren«. Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? I. Ausgangspositionen und Sondierung des Forschungsfeldes Der umfangreiche, dreiteilige Roman Erscheinungen am See Oneida von 1798 gehört zu den Texten von La Roches Alterswerk, welche die anfangs Europazentrierte 1 Neugier der Wissens- und Kulturvermittlerin in die außereuropäische Welt hinaus entlassen haben: Blicken andere Werke aber meist nur durch die Bibliotheks-Fenster, will sagen: durch die Lektüren ihrer Figuren nach draußen, wie etwa Liebe-Hütten (1803-1804) nach Indien oder Afrika, so spielt diese briefförmige Gattungshybride aus facts und fiction, aus Robinsonade, Emigrations-, Entwicklungs- und Reiseroman ausnahmslos in Nordamerika. Dieser Umstand hat La Roches Geschichte über den deutschen Amerika-Reisenden Friedrich und die französischen Revolutionsflüchtlinge Carl und Emilie de Wattines, die sich nach vierjähriger Insel-Einsamkeit und Indianer-Kontakten mit holländischen und deutschen Kolonisten am Ufer des Oneida-Sees zusammentun, eine stete, durch Gender- und Postcolonial-Studies verstärkte Aufmerksamkeit verschafft. 2 Nach Kriegleder weist die historisch belegte Wattines-Handlung dem Werk im Feld älterer Amerika-Romane 3 <?page no="191"?> 191 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? von Kentucky. Mehr Wahrheit als Dichtung (1820), Zschokkes Die Prinzessin von Wolfenbüttel (1804) oder Zschokkes Die Gründung von Maryland (1820). 4 Kriegleder: Vorwärts in die Vergangenheit, S. 54. 5 Ebd., S. 96, 136. 6 Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie, S. 180; Lange: Empfindsame Abenteuer, S. 49. 7 Campe: Voyage d’un Allemand au Lac Oneida, 1803. 8 Zit. n. Lange: Empfindsame Abenteuer, S. 61. 9 La Rochefoucault-Liancourt: Voyage dans les Etats-Unis de l’Amérique, fait en 1795, 1796 et 1797, 1799, Bd. 2, S. 256-261; Tocqueville: Voyages en Sicile et aux Etats-Unis, 1957, Bd. 5, S. 337-338. La Roche wusste um La Rochefoucault-Liancourts Text, der 1800 in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen rezensiert worden war (S. 617-628). 10 La Roche kannte dessen gute Vermarktbarkeit und drängte daher ihre Schwiegertochter, auf deren Schilderung der Wattines-Plot basiert, zu einer eigenen Darstellung. Dresch (Hrsg.): Lettres inédites de Sophie Laroche, S. 28, 31, 34. inhaltlich sogar eine exponierte Position zu. 4 Geprüft auf sein ideologisches und ästhetisches Profil jedoch, bringt der Roman seiner Autorin gewöhnlich nur wenig symbolisches Kapital ein: Er gilt als restaurativer, eurozentrischer und kulturimperialistischer, ästhetisch konventioneller Aufklärungsroman, dessen Figuren den »Habitus des kultivierten und aufgeklärten Europäers« konservieren. Gänzlich uninteressiert an der zeitgeschichtlichen Realität der jungen USA, projiziere er einmal mehr Amerika als utopischen Zukunftsraum des vergangenen Europa. 5 Dabei hat nicht nur der Verriss des politisch-ideologischen Romanprofils Tradition. Ein anderer Einwand gilt der wirren, »blässliche[n] Erzähltechnik« in »liebenswürdige[m] Konversationston«. 6 Ein dritter Vorwurf zielt auf den dysfunktionalen Wissensballast des Romans: So hatte der Robinsonaden- Spezialist und philantropische La Roche-Freund Campe schon 1803 seine eigene französische Übersetzung des Romans 7 als eine von »enzyklopädischen Anmerkungen«, »fiktionale[r] Ornamentik« und »rührseligen Obertöne[n]« 8 glücklich bereinigte Fassung der Geschichte beworben. Und dies mit Erfolg. Wie nämlich kein Geringerer als Victor Lange, Princeton-Ordinarius und selbst Amerika-Exilant, in seiner grundlegenden, verdienstvollen Quellenstudie zu dem Roman zufrieden ausführt, bildete sich der Mythos um das ›Frenchman’s Island‹ im Oneida-See an La Roche vorbei an späteren englisch- und französischsprachigen Bearbeitungen: an La Rochefoucault, an Tocqueville 9 und - eben an Campe. Pointiert gesprochen: Offensichtlich ist es La Roches philantropischem Übersetzer-Konkurrent Campe gelungen, mit seiner freundschaftlich-unfreundlichen Übernahme des Bestseller-fähigen Oneida-Projektes 10 La Roches Original nachhaltig aus dem Feld zu schlagen. Aber, immerhin: Während der dritte Vorwurf gegen die dysfunktionale Wissensfracht dieser Heterotopie noch unwidersprochen im Raum steht, hat sich der zweite, gegen den Erzähldiskurs gerichtete Vorbehalt inzwischen <?page no="192"?> 192 Gudrun Loster-Schneider 11 So jüngst Barton: Sophie von La Roche, S. 252. 12 Terminologie nach Petersen: Erzählsysteme. 13 Nach Langner (Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 289) authentifiziert die ›Schachtelungstechnik‹ die Erzählfiktion. 14 Zum Beispiel Loster-Schneider: »Ich aber nähre mich wieder mit einigen phantastischen Briefen«, S. 71-72. 15 Johns: Women’s Utopias of the Eighteenth Century, S. 150-151. 16 Vgl. Jost: Wege zur weiblichen Glückseligkeit, S. 100. 17 Schon in seiner frühen Schrift Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis (1974), wo sich Bourdieu mit Erwin Panofskys Gothic Architecture and Scholasticism (1951) und dem dortigen Konzept der mental habits auseinandersetzt, zielt er auf ein Vermittlungsmodell, das die traditionelle Dichotomie idealistischer und materialistischer Kunsttheorien auflöst und das die kollektiven und individuellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen (materielle, soziale, institutionelle, autorbiographische) eines Kunstwerkes ebenso berücksichtigt wie seine spezifische ästhetische Verfasstheit und Eigenständigkeit. Bourdieu postuliert die Existenz allgemeiner, aber kulturspezifischer Dispositionen, die teilweise erledigt: Neuere Studien verstehen die vermeintlich wirre Konstruktion als ästhetisch intendiert 11 und sehen das variable Erzählsystem 12 in Funktionszusammenhang zu La Roches poetologischen, 13 genderpolitischen 14 und erkenntniskritischen 15 Interessen. Korrespondenzen ergeben sich auch zum späten Problembewusstsein der Autorin für ›Übersetzungsfragen‹ jedweder Art 16 - sexuelle, kulturelle, mediale und interpersonelle. Die interpretatorischen Konsequenzen hieraus sind freilich nur halb gezogen. Außer Acht blieb bislang, dass dieser diskurszentrierte Textzugang die immer noch blass geredete Nebenfigur des Ich-Erzählers Friedrich zum farbig gezeichneten Romanhelden macht. Mehr noch: Er öffnet die von Campe einst zugeschlagene Tür zur kosmopolitischen Textbibliothek des Oneida-Romans, welche, bisher nie systematisch inspiziert, das naturhafte Insel-Paradies in eine Wissensinsel verwandelt und getrost als die heimliche, eigentliche Heldin der Oneida-Welt gelten darf. Oder, um es nun als interpretationsleitende Thesen und als Erkenntnisinteresse zu formulieren: Textbibliothek und polyperspektivisches Erzählsystem sind die zwei zentralen Elemente, die den Roman erstens unverwechselbar dem wissenszentrierten Habitus seiner Autorin zuweisen und ihn so einer modernen, an Transferfragen interessierten Wissensgesellschaft empfehlen können, die ihn zweitens über die Aspekte Genre und Ideologie im zeitgenössischen literarischen Feld positionieren und die drittens die angeblich kontingente Gesamtkonstruktion ästhetisch integrieren. Nachfolgend geht es also um die Bücher-Erscheinungen am See Oneida, genauer: Es geht um die Schlüsselfunktion, die Bücher und literaturvermitteltes Wissen für die Erzählfiktion von Binnen- und Rahmenhandlung sowie für die (Selbst-)Verortung La Roches im politisierten, sich ausdifferenzierenden literarischen Feld der 1790er Jahre haben. Bourdieus Konzept entsprechend, 17 <?page no="193"?> 193 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? über einen ›eingefleischten‹, der zeitgenössischen Reflexion nur bedingt zugänglichen Habitus der Mitglieder einer Kulturgemeinschaft einen begrenzten Satz mentalitäts- und Struktur prägender Episteme und Schemata erzeugen, die sich wiederum in unterschiedlichen sozialen Feldern handlungs- und stilprägend realisieren. Spätere Arbeiten - zuletzt Les règles d’art. Genèse et structure du champ littéraire (1992) - fokussieren diesen Zusammenhang von Habitus und Feldern (mit einigen Modellanpassungen). Die Akteure im Feld haben zwar immer noch eine in ihrer Biographie sozial erworbene Struktur, aus der heraus sie im Feld Positionen besetzen und verteidigen und aus denen heraus sie ihre ›Positionierungen‹, sprich: auch künstlerische Werke, modellieren. Die Realisierung unterliegt dabei allerdings nicht nur dem mitgebrachten Habitus, sondern auch feldeigenen Regeln. Die (ausdifferenzierbaren) Felder selbst - u.a. das Feld der Ökonomie, und des Intellektes (darunter Literatur) - sind autonom, aber strukturell homolog (hierarchisch, konflikthaft und antagonistisch, unterteilt in Orthodoxe und Avantgardisten), können deshalb miteinander kommunizieren und unterliegen internen und externen Wandlungsprozessen. Die Akteure aller Felder zielen auf die Gewinnung von Kapital, wobei allerdings besonders die Felder der Kunst zur ideologischen Verschleierung dieses Interesses und/ oder zur Dichotomisierung von Kunst- und Kapitaliensorten neigen: Während die vermeintlich wahre, zweckfreie, elitäre und autonome Kunst maximales symbolisches Kapital erzeugt, erzielt die ästhetisch minderwertige heteronome Massenkunst ökonomischen Gewinn. Eine genderspezifische Ausarbeitung seines Modells hat Bourdieu erst spät und in der literarhistorischen Anwendung bisher weitgehend folgenlos geleistet. Vgl. Bourdieu: La domination masculine (1998). 18 Vgl. z.B. im Journal einer Reise durch Frankreich die Reflexe auf Franklin und Penn (S. 40, 216) oder die Debatte im Hause Bethmann (Bordeaux) zu den politischen und wirtschaftlichen Folgen der amerikanischen Unabhängigkeit für Frankreich (S. 316). 19 In den Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise (S. 27-28) erinnert sich die um ihren Sohn Franz trauernde La Roche an eine (Schillers? ) einst gelesene Totenklage eines Indianers. werden dabei textinterne und -externe, auch biographische, Daten genutzt. Um mit Blick auf die erste These das wissenszentrierte Profil der ›Marke La Roche‹ mit dem romanspezifischen Stoff-Interesse ihrer Besitzerin in Verbindung zu bringen, skizziert der folgende Abschnitt zunächst textextern den historisch-biographischen Kontext. II. Texterkundungen II.1 La Roches Amerika-Wissen und Stoffinteresse im biographischen und (literar-)historischen Kontext La Roches Amerika-Interesse lässt sich lange zurück verfolgen und dokumentiert sich auch nicht erst in ihren großen europäischen Reiseberichten der mittleren 80er und frühen 90er Jahre, etwa über Frankreich 18 oder die Schweiz. 19 Bereits 1781 schreibt sie für den Teutschen Merkur - wie stets von <?page no="194"?> 194 Gudrun Loster-Schneider 20 Wieland kritisierte die Erzählkonstruktion als zu schwerfällig. Vgl. Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 198. 21 Zu was taugt dem Unglüklichen der Geschmak am Schönen? (1781). Erzählt wird von einer Auswanderungsfamilie, die nach einem Schiffbruch auf dem Rhein (! ) ersatzweise schon auf pfälzisch-heimatlichem Boden eine herrschaftsfreie, arkadische Amerika-Utopie realisiert, bei deren Besuch der unglückliche Erzähler seinen verlorenen Glauben an das Gute, Wahre und Schöne zurückgewinnt. 22 Vgl. Trautz: Die Pfälzische Auswanderung nach Nordamerika im 18. Jahrhundert. 23 Bis auf Wezel hatte La Roche mit allen Genannten Kontakt, vor allem mit dem einstigen Speyerer Gymnasiumsdirektor Seybold, in dessen Magazin für Frauenzimmer sie publiziert hatte (Mein Glüke, 1782) und dessen Amerika-Roman 1779 im Teutschen Merkur rezensiert worden war. Unterstützt wurde ihr Interesse auch durch die Familie von Kalb und den Mannheimer Buchhändler Schwan, der schon 1781 Amerika-Literatur verlegte. 24 Mit Möser stand La Roche in brieflichem Kontakt; ihre Kenntnis seiner von 1775-1778 erschienenen, 1793 teilveröffentlichten Patriotische[n] Phantasien ist schon in den mittleren 1780er Jahren belegt. Vgl. Briefe an Lina (1788/ 1797), S. 28. 25 Schlözers Stats-Anzeigen und der Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts waren zwischen 1777-1782 bzw. 1782 und 1795 Zentren des Amerika-Diskurses. Vgl. Palmer: German Works on America, S. 275. Im 18. Band der Stats-Anzeigen erschien 1793 die Schrift Neue Constitution der Oneida, einer bis zum J. 1788 wilden Nation in Nordamerika. 26 Vgl. Anm. 60, 140, 141, 38. Ebeling kannte La Roche seit ihrer Hamburg-Reise auch persönlich. Schreibetisch, Bd. 1, S. 210. 27 So schreibt ihr Wieland nach Fritz’ Rückkehr, dass dieser, trotz Mohrenfarbe und lahmen Beins, viel Ehre eingelegt und sie »Tage lang, Wochen lang mit interessantesten Erzählungen« unterhalten habe. In: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 7,1, 1992, S. 426. Wielands kritischen Auslassungen begleitet 20 - eine Erzählung, 21 mit der sie auf die in den Rheinstädten Koblenz, Speyer und Mannheim augenfällige Massenauswanderung nach Amerika 22 reagiert. Nur ganz kurz nach einem Sprickmann (Nachrichten aus Amerika, 1776), Wezel (Belphegor, 1776), Seybold (Reizenstein, 1778-1779) oder Gemmingen (Die Erbschaft, 1779), 23 die meist zu ihren Bekannten gehörten, meldet sie sich also im Feld der Amerika-Fiktionen an. Biographischer Hintergrund war neben dem sozial wie diskursiv aktuellen Auswanderungsthema die gefeierte Teilnahme (1780-1782) ihres ältesten Sohnes Fritz, Leutnant im Zweibrücker Regiment Royal Deux-Ponts, am amerikanischen Freiheitskampf. Zum einen beruht La Roches anhaltendes Amerika-Interesse somit auf älteren und neueren Lektüren, darunter nachweislich auch Werke von Möser 24 und Schlözer 25 oder von den noch zu behandelnden Amerika-Spezialisten Carver, Crèvecoeur und Ebeling. 26 Zum anderen basiert es auf vermitteltem Erfahrungswissen. 27 Auch den Stoff der historischen Wattines-Geschichte erfuhr La Roche persönlich, von ihrem Sohn Fritz und dessen Frau Elsina (geb. Merkus, gesch. de L’ Espinasse-Langeai), die zwischen 1792 und 1797 einen - freilich erfolglosen - privaten und wirtschaftlichen Neuanfang in den Vereinigten <?page no="195"?> 195 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 28 Zum Kundenkreis gehörten u.a. La Rochefoucault, Louis Philipp und Talleyrand. 29 Zit. n. Vorderstemann: Meine liebe grüne Stube, S. 21. 30 La Roche am 20.8.1795 an Elise zu Solms-Laubach, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, S. 63-64. 31 Mannheim, 1791, S. 101. 32 Schreibetisch, Bd. 2, S. 462: Das kleine Bücherkabinett »faßt, wie die Hütte meiner geliebten Wattines auf der Insel des See Oneida, die ganze Encyklopädie und die Werke von Buffon, welche beyde auch mir, wie den Wattines, im Sturme des Unglücks und bey dem Verluste vieler Anmuth des Lebens, Stütze und Ersatz waren.« 33 Anders als die historischen Wattines lebt die Roman-Familie von Mai 1791 bis 1795 auf der Insel, kehrt nie nach Frankreich zurück, und die Kinder werden auf der Insel geboren. 34 La Roche ›vermännlichte‹ damit die Rolle Elsys als Erzählerin der Geschichte. Staaten versucht hatten. So scheiterte Fritz u.a. mit dem Firmenprojekt einer hochklassigen Verlagsbuchhandlung in New York, für das er neben den eigenen brillanten Kontakten zur europäischen Emigrantenszene das Vermögen und die Verbindungen seiner Frau einsetzte, einer Amsterdamer Buchhändlerstochter. Nach dem Zerwürfnis mit seinem Partner, dem Autor und Amerika-Spezialisten Moreau de Saint-Méry, etablierte sich dieser erfolgreich allein. 28 Zur ersten, konkreten und durchaus mythenbildenden Havarie, die der ruhmreiche Freiheitskämpfer Fritz von La Roche 1782 bei der Rückkehr aus Amerika vor der französischen Küste erlitten hatte, kam nun also ein zweiter, wenig rühmlicher metaphorischer Schiffbruch hinzu. Nach dem skandalisierten politischen Sturz ihres Mannes (1780) deutet Sophie von La Roche die Unglücksfälle ihres Ältesten anfangs nur als Teil der persönlichen Familientragödie: Ihre La Roches verständen sich auf jegliche Form von Schiffbruch, klagt sie 1783 ihrem Dichter-Freund Pfeffel. 29 Später aber stellt sie einen kollektivsymbolischen Zusammenhang von Schiffbruch- und Amerika-Motiv, (Familien-)Biographie und Weltgeschehen her: Möge der Basler Friede doch die Meeresstürme der physischen und moralischen Welt beenden und ihr aufklärungsgläubiges Weltbild retten, wünscht sie sich 1795, 30 wenige Monate vor Arbeitsbeginn am Oneida-Roman. Und dass Bücher in Krisenzeiten für sie dieselbe Funktion haben wie rettende Häfen für Schiffe im Sturm, war schon 1791 in ihren Briefen über Mannheim nachzulesen 31 und wurde im autobiographischen Schreibetisch explizit am Beispiel des Oneida-Projektes reformuliert. 32 Für die Interpretation des Romans ist dabei nun entscheidend, dass dieser gesamte persönliche und politische Konnotationszusammenhang wiederkehrt als romaneske Manipulation an den drei historischen Protagonisten der Oneida-Geschichte: 33 Aus dem Familienvater und gescheiterten Büchertycoon Fritz von La Roche wird der ledige, erfolgreiche und hoch belesene Amerika-Reisende Friedrich. 34 Aus den unpolitischen Wattines, die schon in den späten 80er Jahren und mit eher schmalem Büchersack ausgewandert waren, werden in der Fiktion die <?page no="196"?> 196 Gudrun Loster-Schneider 35 Zu La Roches Poetik vgl. Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, Kap. 4.2. Vgl. auch La Roches Zitat ihrer Freundin Mariane Fels: »Sophie! Ich binn sicher, Sie würden nie einen Roman geschrieben haben - wenn Sie ihrem caracter, gesinnungen, in Ihr Leben hätten verweben dörfen«. In: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 15,1, S. 420. 36 Krimmer: A Garden of her own? , S. 26. 37 Sénac de Meilhan: L’Emigré, Bd. 3, Brief 86. Laut Vorwort gleichen die Revolutionsflüchtlinge »Schiffbrüchigen, die auf verlassenen Inseln stranden, auf diese Weise in den ›état de nature‹ zurück versetzt werden und wieder lernen müssen, sich selbst zu versorgen.« Köthe: Vor der Revolution geflohen, S. 197. Der Schreibetisch (Bd. 1, S. 210) listet die (anzuschaffende) Werkausgabe Sénac de Meilhans (1795) gleich neben dem für den Oneida-Roman so zentralen Ebeling. 38 So sind die schiffbrüchigen Textbibliotheken eines Defoe, Schnabel und ihrer Nachahmer recht umfänglich. Vgl. Bersier: Wunschbild und Wirklichkeit; Blackwell: An Island of her Own? ; Nelles: Bücher über Bücher. 39 Schnabel: Wunderliche Fata einiger Seefahrer (1732-1751). 40 Vgl. Nelles: Bücher über Bücher, S. 97. Entgegen Schnabels oder Seybolds Frankophobie ist die Integration der französischen Flüchtlinge in die holländisch-deutsche Oneida- Kolonie ein Postulat La Roches. traumatisierten Revolutionsflüchtlinge Carl und Emilie und eine 300-bändige Bibliothek. Nun gehören solche ›phantastischen Wirklichkeitskorrekturen‹ zwar seit dem Sternheim-Roman (1771) zum festen poetologischen Programm La Roches. 35 Im vorliegenden Fall ermöglichten sie der gewalt- und revolutionsfrustrierten Autorin aber zudem, ihren gewissermaßen ›Leck geschlagenen‹ Aufklärungsoptimismus an den Amerika-Mythos zu binden und in eine kosmopolitische Kolonial-Heterotopie hinüberzuretten, wie sie, rund 20 Jahre zuvor, in Wezels Belphegor und Seybolds Reizenstein schon thematisiert worden war. Mehr noch: Indem die »bookish woman« La Roche 36 das Wattines’sche Fluchtgepäck mit einer ›poetisch frei erfundenen‹ Exilbibliothek beschwerte, platzierte sie ihren Amerika-Roman noch auf zwei weiteren Gattungsfeldern, nämlich bei den aktuellen Revolutionsromanen und bei den traditionsreichen Insel-Utopien und Robinsonaden: L’ Émigré beispielsweise, ein zur Entstehungszeit des Oneida-Romans erschienener Bestseller des La Roche bekannten Exilautors Sénac de Meilhan, 37 diskutierte 1797 den revolutionsbedingten Verlust einer Bibliothek mitsamt den Folgen für seinen in Mainz und Koblenz gestrandeten Besitzer und das kulturelle Gedächtnis. Vergleichbares gilt für zwei ›Meistertexte‹ unter den Robinsonaden und Insel- Utopien. 38 So erbaut und unterrichtet Defoes Robinson sich und Freitag zwar nur aus dem ›Buch der Bücher‹, der Bibel, die er mit einigen anderen Büchern aus dem Wrack geborgen hat. In Schnabels ›Insel Felsenburg‹ 39 aber haben Bücher für Figuren und Herausgeber eine persönliche und soziale Schlüsselfunktion bis hin zur Einrichtung von Bibliothek, Buchdruckerei und Archiv. 40 <?page no="197"?> 197 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 41 Da sich die von La Roche benutzten Ausgaben nicht identifizieren lassen, werden die Titel in der Originalausgabe gelistet. 42 Erscheinungen, Bd. 1, S. 209 u.ö. Der Abgleich mit anderen Textbibliotheken wie etwa im Schreibetisch zeigt, dass viele Titel sich in La Roches Besitz befanden. 43 Erscheinungen, Bd. 3, S. 240. 44 Ebd., Bd. 1, S. 78 u. ö. 45 Ebd., Bd. 1, S. 38 u. ö.; Fanny (Bd. 1, 1801, S. 353) zufolge plante La Roche die Übersetzung der moralphilosophischen Essays. 46 Erscheinungen, Bd. 3, S. 27. 47 Ebd., Bd. 1, S. 204 u. ö. 48 Ebd., Bd. 2, S. 185. Im nächsten Schritt sei daher die Bücher-Kiste von La Roches Amerika- Roman inspiziert. II.2 Der Roman als Buch mit Büchern: Bestandsaufnahme und Funktionsbestimmung der Textbibliothek im literarischen Feld Zunächst: Wie viele andere Texte La Roches sind auch ihre Erscheinungen am See Oneida ein Buch voller Bücher. Die markierte, sichtbar ausgestellte Textbibliothek umfasst pragmatische und belletristische Literaturen. Sie besteht aus einem werkspezifischen Sortiment und einer für La Roche typischen Basisbibliothek bevorzugter Titel und Autoren. Dabei ist die Oneida- Bibliothek zwar kleiner als die anderer Spätwerke; sie ist aber größer als bislang bekannt. Identifizierbar wird sie durch Autornamen oder Titelangaben, durch Paraphrasen, direkte oder indirekte Zitate und Übersetzungen mit und ohne Quellenangaben. Soweit die meist unpräzise Signifizierungsweise es erlaubt, lassen sich (bislang) folgende Werke identifizieren: 41 Als Nachschlagewerke erscheinen Jean Baptiste Le Rond d’Alemberts und Denis Diderots Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751-1772), 42 Honoré La Combe de Prezels Dictionnaire des Portraits Historiques, Anecdotes, et Traits Remarquables des Hommes Illustres (1768-1769) mit Einträgen zu Montesquieu und William Penn 43 sowie der von François Rozier redigierte Cours Complet d’Agriculture Théoretique, Pratique, Économique et de Médicine Rurale et Vétérinaire ou Dictionnaire universel d’Agriculture (1781-1805). 44 Unter den Periodika finden sich The Universal Magazine of Knowledge and Pleasure vom Februar 1796 45 und der Mercure de France von 1783. 46 An wissenschaftlichen und philosophischen Werken führt die Oneida-Bibliothek - wie viele andere Werke La Roches auch - Georges Louis Le Clerc de Buffons Histoire Naturelle, Générale et Particulière (1749-1789) 47 sowie Buffons Époques de la Nature (1780), 48 Johann Gottfried von Herders Briefe zu Beförderung der Humanität (1793- <?page no="198"?> 198 Gudrun Loster-Schneider 49 Ebd., Bd. 3, S. 233 u.ö.; vgl. auch Anm. 140. 50 In der französischen Übersetzung von Pierre Louis Claude Gin (Paris 1785). Ebd., Bd. 3, S. 228. 51 Ebd., Bd. 2, S. 177. Mit Hirzel hatten die La Roches seit 1769 enge Beziehungen. Seine 1785 in Zürich erschienene Neue Prüfung des philosophischen Bauers, nebst einigen Bliken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere den Menschen intereßierende Gegenstände war Sophie von La Roche gewidmet. 52 La Roche schreibt fälschlich: »Heinrich Humes Grundsätze der Critik«. Erscheinungen, Bd. 1, S. 96. 53 Ebd., Bd. 2, S. 40. 54 Ebd., Bd. 3, S. 78 u.ö. 55 Ebd., Bd. 3, S. 79. Carl liest »in einem Bändchen seiner [= Montesquieus] Briefe«; der Schreibetisch (Bd. 2, S. 449) ermöglicht, die Lektüre als die Lettres Familières zu identifizieren. 56 Ebd., Bd. 2, S. 197 u.ö. 57 Ebd., Bd. 3, S. 144-145. 58 Ebd., Bd. 3, S. 64-75. Ansons Werk provoziert einen Streit: Zu Carls Enttäuschung ist für die unglückliche Emilie die Südsee-Insel Tinian - nicht die Oneida-Insel - Chiffre des irdischen Paradieses. 59 Übersetzt wurde Carvers Reisebericht von Ebeling, der in seiner eigenen Beschreibung indianischer Kulturen, auch der Oneidas, Carver folgt. Dieser beschreibt - für La Roches Oneida-Handlung wichtig - u.a. Geburtspraktiken, Babypflege, religiöse Rituale und schreibt die ambivalente Indianerstereotype von Wildheit und Sanftmut aus. Ebd., S. 203, 211, 290, 340-344. 60 Gemeinsam sind den Texten etwa das dem Revolutionstrauma geschuldete geschichtsphilosophische Erkenntnisinteresse an Amerika, das Wissen um die Rolle der Oneidas im 1797), 49 Hesiodos’ französisch übersetzte Erga kai Hemerai (um 700 v.Chr.), 50 Johann Caspar Hirzels Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers (1761), 51 Henry Home Kames’ Elements of Criticism (1763-1766), 52 die auch von dem La Roche besonders werten Populärphilosophen Christian Garve 1772 übersetzt worden waren, ferner Johannes Florentius Martinets weit verbreiteter, von Johann Jacob Ebert aus dem Niederländischen übersetzter (1779-1782) Katechismus der Natuur, 53 Charles-Louis de Montesquieus De l’Esprit des Loix (1748), 54 die Lettres Familières du Président de Montesquieu, Baron de la Brède, à divers Amis d’ Italie (1767), 55 Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen (1795), Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierres Etudes de la Nature (1784) 56 und schließlich Guillaume Thomas Raynals Histoire Philosophique et Politique des Établissements et du Commerce des Européens dans les Deux Indes (1770), 57 die zu den textspezifischen Americana und Reiseliteraturen überleiten. Zu dieser Gruppe zählen George Ansons A Voyage Round the World (1748), 58 John Carvers im Teutschen Merkur von 1780 rezensierte Reisen durch die innern Gegenden von Nord-Amerika in den Jahren 1766, 1767 und 1768 (1780), 59 Christoph Daniel Ebelings Erdbeschreibung und Geschichte von Amerika. Die vereinten Staaten von Nordamerika (1793f.), 60 Michel- <?page no="199"?> 199 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? Unabhängigkeitskrieg sowie die Forderung nach einem amerikanischen Schul- und Bibliothekswesen. 61 Erscheinungen, Bd. 3, S. 210-217 u.ö. 62 So fragt La Roche 1797 Johann Isaak Gerning, ob er den »Cultivateur améri[c]ain« bezahlt habe. Zit. in: Bamberg: Sophie von La Roche, S. 115. 63 Erscheinungen, Bd. 1, S. 2. 64 Ebd., Bd. 2, S. 5-6. 65 Ebd., Bd. 1, S. 148 u.ö. 66 Ebd., Bd. 3, S. 74. 67 Ebd., Bd. 2, S. 88-89. 68 Ebd., Bd. 3, S. 193-196. 69 Ebd., Bd. 1, S. 232. Eine Ausgabe von 1768 führt die Ode unter dem Titel Hymn to Adversity als Epitaph zur Elegy. Für den Oneida-Erzähler Friedrich verkörpert Emilie das Tugendideal der »Ode an die Widerwärtigkeit«. 70 Ebd., Bd. 3, S. 60. Das Gedicht entstammt, wie die Alpen, Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte und illustriert gut La Roches intertextuelle Verfahrensweise: Die Figuren erinnern spontan und meist ungenau Gelesenes, um die jeweilige Situation zu kommentieren. 71 Ebd., Bd. 3, S. 246-253. 72 Ebd., Bd. 3, S. 245. 73 Ebd., Bd. 3, S. 120. Enthalten ist das Gedicht in der von Sulzer 1764 besorgten und im Bondeli-Kreis subskribierten Erstausgabe der Auserlesene[n] Gedichte (S. 137-140). Laut Schreibetisch (Bd. 2, S. 148) war Karsch neben Rousseau und Wieland ein wichtiges Medium in La Roches und Bondelis Freundschaft. Durch die (auto-)biographisch ergänzte Neuausgabe war Karschs Œuvre in den 90er Jahren erneut populär geworden. Guillaume Jean de Crèvecoeurs (auch Hector St. John) berühmte Letters from an American Farmer (1782), 61 vermutlich in der französischen, empfindsam umcodierten Fassung (= Lettres d’un Cultivateur Américain) von 1784 oder 1787. 62 Expositorisch eingeführt ist auch Laurence Sternes A Sentimental Journey through France and Italy. By Mr. Yorick (1766). 63 In der Abteilung belletristischer Prosa finden sich Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Heloïse (1761) 64 und Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie (1788) 65 sowie Johann Georg Jacobis Nessir und Zulima (1782). 66 Hinzu kommen im Feld der schönen Literatur ein Drama - nämlich das auch in Christoph Martin Wielands Shakespeare-Übersetzungen (1762-1766) enthaltene The Life and Death of King John (ca. 1598) 67 - und zahlreiche ›Poesien‹: Thomas Grays, noch 1796 von Johann Gottfried Seume neu übersetzte Elegy Written in a Country Churchyard (1751) 68 und seine Ode to Adversity (1753), 69 Albrecht von Hallers Sehnsucht nach dem Vaterlande (1726), 70 drei in den Briefen zur Beförderung der Humanität (1793-1797) enthaltene Gedichte Herders (Der Himmlische, Das Gegengift, Freude), 71 Johann Georg Jacobis Lied des Orpheus, als er in die Hölle gieng (1770), 72 Anna Louisa Karschs Klagen bey dem Grabe des Herrn von Kleist, als Herr Gleim sagte, dass er sein Schmerz nicht singen könnte, in seinem Namen (zw. 1761 und 1763), 73 François-Philippe de Laurens Abbé de Reyracs Hymne au soleil <?page no="200"?> 200 Gudrun Loster-Schneider 74 Erscheinungen, Bd. 2, S. 28. 75 Ebd., Bd. 3, S. 92. 76 Ebd., Bd. 2, S. 20-23. Das Gedicht wird u.a. auch im Schreibetisch (Bd. 1, S. 75-78) erwähnt und autobiographisch kommentiert: Nach dem Tod ihres Sohnes Franz habe es La Roche »eine neue Art sanfter tröstender Wehmuth« gelehrt. 77 Erscheinungen, Bd. 2, S. 78 u.ö. 78 Ebd., Bd. 3, S. 88. 79 Ebd., Bd. 3, S. 33-34. Der Text zitiert in deutscher Sprache, ohne Titel, ein Gedicht Ganganellis (d.i. Papst Clemens XIV.), der wegen seines Verbotes des Jesuitenordens (1773) und seiner mutmaßlichen Ermordung (1774) von La Roche öfters erwähnt wird. Es entstammt vermutlich der sechsteiligen, bei van Düren in Franfurt am Main und Leipzig in mehreren Auflagen (2. Aufl. ab 1776) erschienenen Ausgabe Merkwürdige Briefe des Pabstes Clemens XIV (Ganganelli). 80 Erscheinungen, Bd. 2, S. 111-112. Für Emilie ist die Analogie zu Moses’ Rettung im Schilfkorb (Buch Mose, 2,1) die eigenkulturelle Legitimation, um ihr Baby mit indianischem Know-How zu retten und einen »kleinen«, mit Biberfellen ausgelegten »Kahn aus Baumrinden herstellen zu lassen«. 81 Ebd., Bd. 1, S. 139. 82 Ebd., Bd. 1, S. 209-210. Ovids Metamorphosen und Heroiden anzunehmen, liegt nahe, ist aber nicht zwingend. Beide Mythen werden von Emilie und Carl anlässlich ihrer z.T. genderinversen Arbeitsteilung erinnert. Sie haben eine pragmatisch-handlungsleitende und die psychohygienische Funktion, »mit unserem Kummer zu scherzen«. 83 Ebd., Bd. 3, S. 23. Die Referenz ist Teil einer Theorie zur Entstehung der Dichtkunst, die Carl nach dem Aufenthalt bei den Oneidas skizziert. 84 Ebd., Bd. 2, S. 44. Da die Figuren die homerischen Texte in Popes Übersetzungen (The Iliad of Homer, 1715-1720; The Odyssey of Homer, 1725-1726) und im englischsprachigen Universal Magazine lesen, der Erzähler sie aber deutsch zitiert, könnte es sich hier um eine eigene Übersetzung La Roches handeln. Das Zitat selbst konnte bislang nicht identifiziert werden. 85 La Roches Kenntnis von James MacPhersons - u.a. durch Petersen übersetzten - The Works of Ossian (1765) ist u.a. in ihrem Schreibetisch (Bd. 2, S. 407-415) belegt. 86 Erscheinungen, Bd. 3, S. 88: »›Gräber haben Young und Gessner die rührendsten Bilder gegeben‹«. (1777), 74 Johann Gaudenz von Salis-Seewis’ in Voß’ Musenalmanach erstpubliziertes Gedicht An die Erinnerung (1790), 75 Friedrich Schillers Klage der Ceres (1796), 76 James Thomsons The Seasons (1730/ 1746), 77 Edward Youngs The Complaint, or Night Thoughts on Life, Death and Immortality (1747) 78 sowie mehrere Gedichte von Giovanni Vincenzo Antonio Ganganelli (d.i. Papst Clemens XIV.). 79 Eine weitere Gruppe bildet die hebräische, antike und nordische Mythologie: Explizit genannt werden das Alte Testament (Moses’ Geburt und Errettung), 80 die klassischen Mythen von Philemon und Baucis 81 sowie von Herkules und Omphale 82 und die »schön zusammenhängende Mythologie[n]« 83 des Homer 84 und Ossian. 85 Auf weitere Literaturen wird in allgemeiner Form mit Autorennamen verwiesen: auf Salomon Geßner, 86 auf ›unsere zwei Gro- <?page no="201"?> 201 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 87 Ebd., Bd. 2, S. 160. 88 Ebd., Bd. 2, S. 160-161. Laut Mein Schreibetisch (Bd. 2, S. 464) besaß La Roches »a l l e s , was unser W i e l a n d […] seinem Vaterlande mittheilte.« 89 Erscheinungen, Bd. 1, S. 19 (u.ö.). 90 Erscheinungen, Bd. 2, S. 42. Anlässlich des harten Inselwinters werden hier verschiedene, dem Universal Magazine entnommene Theorien (von Aristoteles, Homer, Plinius und Thomson) zur Entstehung von Schnee verglichen. 91 Ebd., Bd. 2, S. 32-33. Emilie lernt Latein mit einer zweisprachigen Ausgabe der »Werke und Briefe« von Cicero und Horaz sowie an dem »ganz in seiner Sprache vorhanden[en]« Vergil. 92 Ebd., Bd. 2, S. 53. 93 Ebd., Bd. 3, S. 23. 94 Ebd., Bd. 3, S. 235. 95 Ebd., Bd. 3, S. 238. Der Text differenziert präzise zwischen dem Fénélon-Schüler Bernardin de Saint-Pierre und dem älteren Castel de Saint-Pierre. Vgl. Anm. 141. 96 So inspirieren Reisebeschreibungen Emilie zu Muschelarbeiten und Carl zu indianischen Ernährungsversuchen (ebd., Bd. 1, S. 179, 181). 97 Ebd., Bd. 3, S. 1. 98 Ebd., Bd. 2, S. 54. So antwortet Carl auf Emilies Frage, ob sie in ihrem Insel-Dasein nun »Copien oder Originale« wären: »unsere Lage, meine Emilie! Ist nicht ganz Original, weil es schon oft geschah, dass zwey gute Menschen, durch Schiffbruch, […] oder wie wir durch Unglück geleitet, auf einem unbekannten und unbewohnten Eilande einsam lebten, und wie wir […], bis das erzürnte Verhängniß wieder mit ihnen ausgesöhnt, ihre Erlösung veranstaltete«. 99 Eine Ausnahme macht der ›geistige Brandstifter‹ Rousseau. 100 Terminologie nach Broich/ Pfister (Hrsg.): Intertextualität, S. 26-30. 101 Neben den genannten Koloniegründungs-Geschichten fehlen auch Texte mit nur peripherer Amerika-Motivik, etwa Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795), Therese Hubers Die Familie Seldorf (1795-1796), Sophie Mereaus Blüthenalter der Empfindung (1794) ßen‹, Leibniz 87 und Wieland, 88 auf William Penn 89 sowie auf Aristoteles und Plinius, 90 Cicero, Horaz, Vergil, 91 ferner auf Sokrates und Marc Aurel 92 sowie Thukydites. 93 Als Sekundärnennungen erscheinen, vermittelt über Herder, Bartholomé de Las Casas Brevissima Relacion de la Destruycion de las Indias (1552) und François de Salignac de la Mothe Fénélons Erziehungsroman Les aventures de Télémaque (1699) 94 sowie Charles Irénée Castel Abbé de Saint- Pierres Mémoires pour rendre la paix perpetuelle en Europe (1712). 95 Hinzu kommen titelunspezifische Reisebeschreibungen, 96 »Einsiedler-Geschichten« 97 und Robinsonaden. 98 Auf die genannten Literaturen referiert der Roman selektiv, meist affirmativ, 99 aber unterschiedlich intensiv. 100 Inhaltlich fokussiert sind neben Buffon, Ebeling, der Encyclopédie und Bernardin de Saint-Pierre vor allem Crèvecoeur und Herder. Eine methodische Sonderstellung kommt Carvers Reisen durch die innern Gegenden von Nord-Amerika (1780) zu. Zusammen mit der zeitgenössisch massenhaften, im Roman auffällig abwesenden Amerika-Belletristik (darunter Lyrik und Dramen, aber auch Wezels und Seybolds Romane) 101 <?page no="202"?> 202 Gudrun Loster-Schneider oder Benedicte Nauberts Die Amtmännin von Hohenweiler (1788). Dasselbe gilt von populären, La Roche bekannten Dramen, etwa Schillers Kabale und Liebe (1784). 102 So datieren Neuausgaben von Karschs Gedichten von 1792 und 1797; Grays Elegie erhielt durch Herders Briefe zu Beförderung der Humanität (hrsg. v. Irmscher, S. 26) und durch die Obolen (1796, S. 22-28) des Amerika-Spezialisten Seume neue Popularität. Die gleichfalls mit Herder verbundene Ossian-Begeisterung wurde seit 1782 durch die Neu-Übersetzung Johann Wilhelm Petersen verstärkt. gehört Carvers weit verbreiteter Text eigentlich zur unsichtbaren Kryptobibliothek des Romans. Diese ist kein Bestandteil der kommunizierten Wissens- und Handlungswelt, sondern eines auktorialen Textwissens, zu dessen Identifizierung es gesonderter Verfahren und textexterner Nachweise bedarf, die bei derzeitiger Forschungs- und Quellenlage jedoch nicht zu erbringen sind. Obwohl diese Kryptobibliothek viel über La Roches Amerika-Roman und über das literarische Agieren seiner Verfasserin in den 1790er Jahren verraten könnte, wird sie aus dem genannten methodischen Grund im Weiteren daher nur ergänzend berücksichtigt. Aber auch die sichtbare, weil markierte und kommunizierte Oneida- Bibliothek ist aufschlussreich und arbeitet der zweiten Eingangsthese zu: Zeigt sie doch eine überaus selbstbewusste und strategische Selbstpositionierung La Roches im literarischen Feld. Fast ausnahmslos nämlich erfasst La Roche antike und moderne westeuropäische Kanonliteratur verschiedener Sparten, Genres, Stile. Viele Titel sind im Publikationskontext der 90er Jahre durch neue Auflagen, Ausgaben oder Übersetzungen (wie etwa bei Ossian, Gray oder auch Karsch 102 ) besonders aktuell und haben zudem, wie La Roches eigenes Œuvre, anerkannte Transferqualitäten. Nicht umsonst etwa erscheint das ›Buch der Bücher‹, bei Defoe noch einzig die Bibel, in der Oneida-Bibliothek daher metapoetologisch in dreifaltiger Gestalt von Altem Testament, Encyclopédie und den Epen Homers, welche La Roche schon in den Briefen an Lina als frühe enzyklopädische Wissensspeicher gepriesen hatte. Diese ambitionierte fiktive ›Bücherkiste‹ nun als bloßes Abbild von La Roches persönlicher Bibliothek oder als peinliche Zitier-Gefälligkeit für persönliche Bekannte oder gar als geschäftstüchtige Kapital-Anleihe bei literarischen Autoritäten zu lesen, wäre absurd: Solche Deutungen der Oneida-Bibliothek übersähen deren gerade aufgezeigte strategische Funktion im Feld. Mehr noch: Sie würden - um die dritte Eingangsthese aufzugreifen - die Schlüsselfunktion verkennen, welche die angeblich dysfunktionale und wissensballastige Oneida-Bibliothek textintern für die ästhetische Gesamtkonstruktion übernimmt. Kommen wir deshalb also zur Rolle ›dieser heimlichen Heldin‹ in der Wissens- und Buch-Handlung des Romans. <?page no="203"?> 203 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 103 Erscheinungen, Bd. 1, S. 73. 104 Ebd., Bd. 1, S. 39. 105 Ebd., Bd. 1, S. 209. 106 Ebd., Bd. 1, S. 206. 107 Ebd., Bd. 2, S. 71. 108 Ebd., Bd. 2, S. 162-163: »[A]lle Menschengeschlechter hatten einen gleichen Antheil an Tugenden und Fehlern. - Weißheit und Thorheit flossen durch alle Jahrhunderte der Geschichte der Menschheit […] - und Wattines erzählte mir nun auch die Geschichte des Geistes der Kenntnisse und moralischer Begriffe.« 109 Ebd., Bd. 2, S. 120. II.3 Die Oneida-Bibliothek in der Wissens- und Buch-Handlung des Romans Als Vandek, der holländische Vorsteher der künftigen Siedlergemeinde am Ufer des Oneida-Sees, die junge französische Adelsfamilie in ihrem einsamen vermeintlichen Insel-Paradies entdeckt, definiert der vormalige Festungsoffizier Carl de Wattines Harke und Bibliothek als die stärksten »Stützen« 103 im harten Überlebenskampf in der Wildnis. Diese existentielle Funktion von Bücherwissen an der frontier hat verschiedene, im Handlungs- und Erzählverlauf durchkonjugierte Facetten. Emilies Anfangsstrategie, die extreme Situation mit bukolischen, mythologischen und poetischen Leseerinnerungen in ein ästhetisches Als-Ob zu verwandeln und so im galant-höfischen Habitus lebbar zu machen, genügt auf Dauer nicht. Anders etwa als in Seybolds Reizenstein bedarf die vorgefundene Realität zu ihrer physischen und psychischen Bewältigung mehr als ernst gewordener arkadischer Schäferspiele und Poesien; sie bedarf auch ernsthafter Lektüren und eines bedarfsorientierten, systematisch gestuften, pragmatisch ausgerichteten Lesecurriculums, das La Roches Interims-Insulaner am Ende wieder ›reif für das Festland‹ macht. Wie die Beschreibungen der vier Lesewinter zeigen, ist Wattines’ universale 300-bändige »Sammlung der besten französischen Schriftsteller« 104 das eigentlich überlebenswichtige Instrument. In ständigem Dialog mit der Erfahrung vermittelt diese Bibliothek zum einen nämlich ›Kenntnisse und Fertigkeiten‹ in der physischen Welt, etwa bei der Nahrungsgewinnung, Werkzeugherstellung 105 und Rohstoffverarbeitung, 106 bei Arbeitstechniken oder Hygienefragen. 107 Zum andern hilft sie bei der Rückführung der Wattines in die moralische und soziale Welt, indem das Paar sich Natur- und Landeskundliches vorliest und nach Carmils Geburt die ›jahrtausendlange‹ Universalgeschichte der Menschheit mit ihren politisch-sozialen Organisationsformen studiert und deren Wissenssysteme aufarbeitet. 108 Das solcherart neu eingelesene universelle Vernunft- und Tugendparadigma restauriert den revolutionsbedingt zerstörten Glauben in die weltumspannende, auch ›Naturvölkern‹ eigene Menschenliebe 109 und in den allgemeinen, freilich kulturdifferenten Menschheitsfortschritt. Zudem verhilft es dem Paar zu einer neuen, <?page no="204"?> 204 Gudrun Loster-Schneider 110 Ebd., Bd. 2, S. 164-166: »[E]ntsagen auf Wissen, auf verbesserte Sitten, und zurückgehen auf die niederste Stuffe der Vernunft, - o nein, nein, lieber sterben, als erworbne Kenntnisse verlieren. […] Denken Sie selbst, was unsere Büchersammlung gegen die Unwissenheit der Indier für mich werden musste. […] Ach bey allem Mangel, bey allem Leiden dankte ich Gott, in dieser spätern Zeit geboren zu seyn«. 111 Ebd., Bd. 2, S. 88-89. 112 Ebd., Bd. 2, S. 6-7. 113 Vgl. Loster-Schneider: »Wie belehrend für die Zukunft«, S. 200-201. 114 Erscheinungen, Bd. 3, S. 72. 115 Ebd., Bd. 2, S. 133. 116 Vgl. u.a. Brandes: Escape to America, S. 165-168. 117 So hilft Carl bei der Nahrungs- und Textilherstellung. Erscheinungen, Bd. 1, S. 177, Bd. 2, S. 31, 209. reflektierten und sendungsbewussten Selbstverortung auf der Stufenleiter der Zivilisation, 110 was wiederum den - wenn auch asymmetrischen - Wissensaustausch mit ›schwächeren Bildungsschichten‹ und der indigenen Bevölkerung erlaubt. Damit ist die Nutzfunktion der Wattines’schen Bibliothek aber keineswegs erschöpft: Sie stiftet Identität, stabilisiert in Beziehungskrisen oder hat, wenn sie diese umgekehrt bisweilen auslöst, 111 hilfreiche Gegenlektüren parat: So ersetzt der ›sanftere‹ Bernhardin de Saint-Pierre den Autor der Nouvelle Heloïse, nachdem dieser Carl zu einer (auf Emilie projizierten) Selbstmordphantasie verleitet hat. Gerade die Rousseau-Episode exemplifiziert aber auch die Schaltfunktion, die das Bibliotheks- und Wissensmotiv für die kontingent verdächtigte Romankonstruktion hat: Es verschränkt die textkonstitutiven Diskurse zu Politik, Bildung und Geschlecht und führt zudem Insel-, Reise- und Erzählhandlungen zusammen. So ist die flammende Klage der sanften Emilie gegen Rousseau als geistigen Brandstifter politischer und persönlicher Leidenschaften 112 Ausdruck der texteigenen affekttheoretischen und nationalcharakterologischen Deutung der französischen Revolution, 113 und der Umstieg auf Saint-Pierre fördert die ›Umkehr‹ des aufklärungsabtrünnigen »feuervollen« »Hitzkopfe[s]« Carl, 114 der auf die ›Barbarei‹ der Pariser Revolutionshorden (»Bösewichter«) mit ohnmächtiger Wut, 115 Menschenhass, Empathieverlust und mit Rückzug in die menschenferne amerikanische Insel-Wildnis reagiert hat. Die glückliche Emanzipation von diesen negativen Leidenschaften verdankt Carl nun aber nicht nur seiner lesenden Selbstaufklärung. Er verdankt sie auch Emilies weiblicher Emanzipation zum Widerspruch, die es ohne das vierjährige enzyklopädische Lektüreprogramm in Carls Herrenbibliothek wiederum aber auch nicht gäbe. Mag, wie verschiedentlich moniert wurde, 116 der Text am Ende auch viele Genderexperimente des Insel- Interims 117 restaurativ überschreiben und Carl das Spinnrad wieder mit dem <?page no="205"?> 205 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 118 Die gemeinsamen Lektüren helfen, den anderen zu verstehen, ›Unsagbares‹ zu sagen und verstärken die Gefühlsbindung: Sie liebt ihn für die Mit-Teilung seines ›Herrenwissens‹, er liebt sie als geistig ebenbürtigere Partnerin. 119 Erscheinungen, Bd. 2, S. 8, 50, 137. 120 Der (fiktive) Friedrich ist Schwabe, in Warthausen aufgewachsen, kennt die Autorin, wurde zusammen mit dem verstorbenen Franz von La Roche von dem (historischen) La Roche-Freund Friedrich Wilhelm Wucherer in Karlsruhe unterrichtet und ist verwandt mit seiner (fiktiven? ) Briefpartnerin Luise W. in Ottheim. 121 Ebd., Bd. 2, S. 59. Friedrich will sich damit zum »Wohlthäter [s]eines Vaterlandes« machen. 122 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Münchner Ausg., S. 433. 123 Erscheinungen, Bd. 1, S. 25. Bärentöter vertauschen lassen: ›Was bleibt‹, sind Emilies Lektüren. ›Was bleibt‹ ist somit auch die endliche, in ein ›freies Amerika‹ verschobene - ›phantastische‹ - Erfüllung von La Roches eigenem, autobiographisch belegten Bildungsbegehren, für das sie als Wissensvermittlerin programmatisch wie literarhistorisch steht. Dass sie diesen emanzipatorischen weiblichen Willen zum Wissen erotisch konnotiert, 118 erhöht nur seine Attraktivität und verstärkt die implizite Opposition des Textes gegen genderbasierte Bildungsrestriktionen: Nützliche und schöne weibliche Lektüren lähmen die Liebe nicht - sie halten sie lebendig. Wichtiger noch: Sie stiften weltumspannende Freundschaften, über alles Trennende hinweg. Und damit kommt der dritte Protagonist in den Blick, der Held der rahmenden Reisehandlung und Verfasser der polyperspektivischen Oneida- Geschichte: Friedrich nämlich liebt Bücher immer schon, und am Ende liebt er auch die an Leben und Literaturen vollendet gebildete Emilie. 119 Textextern und im biographischen Kontext betrachtet, liest Friedrich sich als fiktiver Zwitter von La Roches ›schiffbrüchigem Amerika-Sohn‹ Fritz und seinem idealisierten Bruder Franz. 120 Bezogen auf La Roches Œuvre, ist Friedrich der jüngere Bruder von George, dem englischen Helden aus ihrem Revolutionsroman Schönes Bild der Resignation (1795f.), mit dem er Weltbild, Liebes- und Reisesituation teilt. Im literarhistorischen Kontext der - wie gesagt, unerwähnten - Amerika-Fiktionen gehört Friedrich zum Typus des Heimkehrers, der mit seinem rückimportierten Projekt einer sozialutopischen Oneida-Kolonie 121 auf heimatlich-deutschem Boden Goethes Lothario - »Hier oder nirgend ist Amerika! « 122 - zu folgen scheint. Bei textinterner Betrachtung schließlich antwortet La Roches Ich-Erzähler-Figur indessen auf unser Erkenntnisinteresse an der fiktionseigenen Funktion literaturvermittelten Wissens: Friedrich ist anfangs ein intellektueller, schwärmerischer Rousseau-Anhänger mit Schreinerkenntnissen. 123 Über Revolution und Krieg von Europa <?page no="206"?> 206 Gudrun Loster-Schneider 124 Ebd., Bd. 1, S. 29. 125 Friedrich schifft sich am 28. Juni 1795 bei Bremen ein, landet am 28. August in Baltimore (ebd., Bd. 1, S. 5, 11) und kehrt im Herbst des Folgejahres zurück (Bd. 3, S. 264). 126 Ebd., Bd. 1, S. 3. 127 Vgl. Anm. 141. 128 Ebd., Bd. 1, S. 2. 129 Ebd., Bd. 1, S. 28. 130 Ebd., Bd. 3, S. 290. 131 Ebd., Bd. 1, S. 2. 132 Die ›Museumsinsel‹ wird zum ›Geschichtspark‹ und kultischen Gegenüber der Kolonie, wo die Wattines für Friedrich Alltagsszenen nachspielen (ebd., Bd. 3, S. 3). 133 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 145; Bd. 3, S. 83-84. frustriert, ist der kosmopolitische Schwabe und Bücher-Mensch 124 nun, im Frieden des Frühsommers 1795, 125 auf weltweiter Spurensuche nach dem Wahren, Guten und Schönen und der allgemeinen Vernunft. Da ihn der Osten - Russland und Ostindien - zu wild, zu weit, zu fremd anmutet, 126 wendet er seine Neugier westwärts auf die junge Gründungsgesellschaft des ihm ›sympathetisch nahen‹ Amerika. Dort will er, von - vermutlich Herders 127 - »Genius unsers Zeitalters« inspiriert, die Entdeckung Amerikas nicht länger »Kaufleute[n], Eroberer[n], Physiker[n] und Maler[n] [= d.i. West]« überlassen; 128 stattdessen möchte er in der Gegenwart die menschliche Vergangenheit und Zukunft erkunden, Zivilisationstheorien an der Wirklichkeit prüfen sowie »Natur und Kunst an ihren Gränzen […] vergleichen«, 129 um am Ende mit Crèvecoeur zu fragen: »Warum kommen die Europäer nicht zu uns, neue Tugend und Glück zu sehen? « 130 Und auch in seinen Gefühlserwartungen kommt der ledige junge Mann, der sich mit Sterne selbst als »gefühlvolle[n] Reisende[n]« 131 taxiert, in dieser interkontinentalen Pseudo-Zeitreise auf seine Kosten: Das unmittelbare, aktive Mit- Erleben der entstehenden Ufer-Kolonie und das mittelbare Nach-Erleben der Wattines’schen Inselgeschichte, welche er sich aus Befragungen, Gesprächen, Niederschriften, Ortsbesichtigungen und musealen Re-Inszenierungen 132 allmählich erschreibt, verschafft ihm die ganze Klaviatur empfindsamer Gefühle: Enttäuschung, Wehmut, Hoffnung, Freude, Grauen, Mitleid, Rührung, freundschaftliche Zuneigung und - entsagungsvolle Liebe. 133 Nicht minder empfindsam - und ästhetisch funktional - ist die komplizierte Mit- Teilung dieser Herz und Kopf befriedigenden Nachrichten aus der neuen Welt an Friedrichs verlassene, verstimmte Freunde daheim. Erneuert sie doch den sympathetischen Freundschaftsbund und begründet so die künftige ideale Lebens-Gemeinschaft zu Hause. Und, anders als in den älteren Amerika-Romanen Wezels und Seybolds, konstituiert sich bei La Roche diese - okzidentale - Gemeinschaft interkontinental, indem die Mittlerfigur des kosmopolitischen Erzählers die alten <?page no="207"?> 207 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 134 Ebd., Bd. 1, S. 226-228. 135 Terminologie nach Titzmann: Aspekte der Fremdheitserfahrung. 136 Das Anwesen der Wattines hat einen Freundschaftshain mit einem »Friedrichsbaum«. Ebd., Bd. 3, S. 175. 137 Carmil hat einen indianischen Paten und lernt französisch, englisch, lateinisch und, wie seine Eltern, deutsch. 138 So verbindet der Erzähler das Universal Magazine mit Schiller, »welcher die Menschen durch die Empfindung des Schönen zu der Moral führen will.« Ebd., Bd. 1, S. 228. und neuen Freunde dies- und jenseits des Atlantiks vereint. Helferinnen bei diesem weltumspannenden Freundschafts-Netzwerk sind Friedrichs zwei belesene Freundinnen in Deutschland und Amerika, seine bürgerliche Base Luise und die adlige Französin Emilie. Eine dritte Verbündete ist die von Friedrich (v)ermittelte Geschichte selbst, an der die Wattines, zukunftsnotwendig, ihre Vergangenheit durcharbeiten und die zudem zur Gründungserzählung der Oneida-Kolonie wird. Die letzte, wichtigste Bundesstifterin aber ist die - weltanschaulich geschlossene - Oneida-Bibliothek. Deren politische Funktion gilt es nun noch abschließend zu bestimmen. II.4 (Kosmo-) politische ›Bücher-Erscheinungen am See Oneida‹ Auf textinterner Ebene seien zwei Aspekte genutzt: Zum ersten sind es vornehmlich vergleichende Literaturgespräche 134 und die so erarbeitete gemeinsame Bibliothek des aufklärerisch-humanistischen grand récit, die den adligen Franzosen Carl und den bürgerlichen deutschen Friedrich zu Freunden machen. Im Alter-Raum der neuen Welt öffnet sie den Blick für die gemeinsame abendländische Identität und minimiert die im revolutions- und kriegspolarisierten Europa maximierte kulturelle Differenz aus verschiedenen Standeszugehörigkeiten, Berufen, Konfessionen und Nationalcharakteren. 135 Zum zweiten reist der allseits beliebte 136 Friedrich erst nach Europa zurück, als die Integration der französischen Familie in die holländisch-deutsche Oneida-Kolonie gesichert ist, als er die multilinguale Erziehung des kleinen Carmil-Nesquehionnah eingeleitet hat, 137 als er Geselligkeitszirkel und Schulwesen aufgebaut - und die öffentliche Bibliothek eingerichtet hat. Diese aber ist kosmopolitisch und - aus La Roches deutscher Perspektive - patriotisch zugleich, und auch das verdankt sich den ›Bücher-Erscheinungen‹ dieses Amerika-Romans. Wattines’ Exil-Bibliothek versammelt nämlich lediglich einen amerikanischen sowie ›die besten‹ antiken, englischen und französischen Schriftsteller. Die von Friedrich eingebrachten, mit den Wattines’schen Büchern dialogisierenden deutschen Werke und Übersetzungen 138 machen die Oneida-Bibliothek noch reicher - und besser. <?page no="208"?> 208 Gudrun Loster-Schneider 139 Anders als Lange meint, war Crèvecoeur Autorin und Figuren bekannt. Dies zeigen Carls Identifizierung mit der Vorlage (ebd., Bd. 3, S. 211) sowie einige Zitate (Bd. 3, S. 210-216, 290-291) und Motive, etwa Carls Bienenfang, Emilies Besuche bei der Feldarbeit oder ihr Grauen davor, bei den Indianern leben zu müssen. 140 Die Parallelen sind zahlreich: Auch die Briefe zu Beförderung der Humanität sind eine Amerika-Schrift mit Affinität zu beiden Saint-Pierres, mit Kolonialismus- und Sklaverei- Kritik, verweisen auf Zentralfiguren des Amerika-Mythos, darunter Franklin, Penn, Crèvecoeur, raten zum Kulturvergleich und zum Reisen in barbarische Länder statt in »Hasenländer«, zu »freundlichen Mördervölkern« (hrsg. v. Irmscher, S. 223) und rufen Schlüsselkonzepte des unabgeschlossenen Aufklärungsprojekts auf: Humanität, Billigkeit, Güte und Vernunft, Wissens- und Erkenntnisfortschritt, Pazifismus, die Konzeption vom Menschen als soziales Wesen, die Konzepte der Leidenschaften, der Nationalcharaktere und kulturdifferenter - etwa deutsch-französischer - Lebensweisen (Habitus). 141 Ebd., S. 179. Herder erinnert an einen Bund aus sieben irokesischen ›Nationen‹, mit den Delaware als ›Friedensfrau‹ inmitten von sechs männlichen Beschützern. In seiner Projektion auf Europa besetzt Herder die Vermittlerrolle aber nicht mit einer Nation (wie dies auch Saint-Pierre vorschlägt), sondern mit den Universalwerten »Billigkeit, Menschenliebe, tätige Vernunft«. Zu de Staël vgl. den Artikel von Vordestemann im vorliegenden Band. Aus diesem textinternen Kulturvermittlungsprojekt lassen sich nun aber auch zwei textexterne Funktionsthesen ableiten, eine für den literarischen und eine für den politischen Kontext: Solche transatlantischen Textkorrespondenzen steigern die Akzeptanz der Figuren - bei anderen Figuren wie beim Publikum: Mit dem frankoamerikanischen Erfolgsautor St. John/ Crèvecoeur liest sich Carl als idealtypischer gentleman farmer; 139 mit dem deutschschweizerischen La Roche-Freund Hirzel ist Carl die vornehme Variante eines philosophischen Bauers. Mehr noch: Der von Friedrich eingebrachte deutsche Meistertext, Herders Briefe zu Beförderung der Humanität, 140 enthält selbst eine internationale Bibliothek. Diese aber verschwistert ein indianisches Friedensmodell mit dem (von Rousseau popularisierten) Friedensbund-Projekt von Castel Abbé de Saint-Pierre, das wiederum La Roche bestens kannte und auf das sich 1795 auch Kants Schrift Zum ewigen Frieden und de Staëls Reflexions sur la paix bezogen. 141 Vor dieser intertextuellen Folie nun liest sich La Roches Amerika-Roman, dessen Plot so auffällig in die Zeit nach dem Basler Frieden (1795) verschoben ist, als nichts geringeres als eine fiktive Friedensvision, in der die ›Wissensinsel Amerika‹ zum Vorfeld eines vereinten, befriedeten Europa wird. Die internationale, kosmopolitische Oneida-Bibliothek ist so Instrument und Metapher zugleich und positioniert ihre Erfinderin Sophie von La Roche zugleich im Feld politischer Diskurse. <?page no="209"?> 209 Sophie von La Roche als Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹? 142 Wieland: Koxkox und Kikequetzel, 1769-1770. 143 Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. 144 Jefferson an John Adams am 10.6.1815, in: Cappon (Hrsg.): The Adams-Jefferson Letters, S. 443. III. Fazit: La Roches amerikanische Wissensinsel - romanesker Flop einer verspäteten Feld-Pionierin? Die Oneida-Bibliothek ist mitnichten dysfunktional - weder im Hinblick auf die ästhetische Kohärenz des Romans noch auf seinen politischen Gehalt. Vor allem diente sie La Roches Positionierung am Markt, und das mit den genannten, vorgezeigten Titeln wie den verschwiegenen, ungenannten. Gerade die erwähnte konsequente Aussparung früherer Amerika-Fiktionen macht diese Oneida-Bibliothek für La Roche (auch) zum Instrument, ihr altes Autorimage literarischer Vorreiterschaft auf einem weiteren Gattungsfeld zu erneuern und mit ihrem etablierten Marktprofil der Wissensvermittlerin zu verbinden - zu einer Zeit, als Innovativität der einst gefeierten Sternheim- Autorin und Pomona-Unternehmerin längst schon lebhaft abgesprochen wurde. Zumindest für den literarhistorischen Nachruhm hätte es solcher konkurrenzbewusster Manipulationen dabei gar nicht bedurft - denn eine Feld-Pionierin des ›Amerika-Romans‹ ist La Roche allemal: Schreibt sie doch tatsächlich als erste Autorin den jungen ›Amerika-Roman‹ aus und am Genre der ›Amerika-Romane‹ mit. Mehr noch: Der monströs monierte Wissens-Impact ist kein Alleinstellungsmerkmal ihres Romans. Freilich kann man die vielen kosmopolitischen, pazifistischen, fortschritts- und wissensgläubigen Bücher-Erscheinungen am See Oneida als naiv, eurozentrisch oder kulturimperialistisch kritisieren. Gerade im Feld heterotoper Insel- und Amerika-Erzählungen haben sie aber eine lange - ›männliche‹ - Tradition, deren intellektuellen Habitus La Roche selbstbewusst und gender-programmatisch teilt. Nur der pessimistische, satyrische oder komische Ton eines Wezel, Seybold, Wieland 142 (oder viel später gar eines Arno Schmidt 143 ) ist in ›ihren‹ mit Wieland einst ausgehandelten empfindsamen, ›englischen‹ Erfolgs-Ton übersetzt. Und antiquiert ist dieser wissensbetonte Habitus - zumindest aus der Sicht eines prominenten Spielers im ›Feld der Macht‹ - schon gar nicht: Denn was ist Emilies Ankündigung, lieber sterben zu wollen als ihre winterlang er-lesenen Kenntnisse je wieder aufzugeben, anderes als eine Vorwegnahme von Thomas Jeffersons berühmter (kultur-)politischer Programmansage für die junge USA, die noch heute als Motto der von ihm begründeten weltgrößten ›kapitalen‹ Bibliothek und Wissensinsel fungiert? »I cannot live without books«. 144 <?page no="210"?> Reiner Wild ›Die Vernunft der Mütter‹? Sophie von La Roche im Feld philanthropischer Literatur des 18. Jahrhunderts Wie auf vielen anderen Feldern ist auch bei der Kinder- und Jugendliteratur das 18. Jahrhundert das Quellgebiet noch für heutige Gegebenheiten; vorrangig in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bilden sich Grundstrukturen der Literatur für Kinder und Jugendliche aus, die - bei allen Unterschieden zu heute - bis in die Gegenwart Gültigkeit haben. Hohe Bedeutung hat dabei der mit Namen wie Johann Bernhard Basedow, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann, Isaak Iselin oder Ernst Christian Trapp verbundene Philanthropismus; er bildet die dominante Tendenz aufgeklärter Pädagogik in Deutschland, an der sich auch orientierte, wer nicht in allem mit ihren Grundsätzen und Vorstellungen übereinstimmte. Maßgebend ist die Vorstellung einer zugleich vernunft- und naturgemäßen Erziehung, deren Leitidee schlechthin die Erziehung zum Gebrauch der Vernunft ist. Dabei soll sich die erzieherische Zuwendung der Eigenheit der Kinder anpassen, sich zu ihnen ›herablassen‹. Wahrnehmungsmöglichkeiten und Erfahrungshorizont der Kinder werden berücksichtigt; spielerische Elemente werden in den Lernvorgang integriert. Zugleich soll die individuelle Ausbildung des Kindes mit sozialer Erziehung verbunden sein; darin unterscheiden sich die philanthropische und überhaupt die aufgeklärte Pädagogik in Deutschland von Jean-Jacques Rousseau und seinem radikal individualistischen Erziehungskonzept. Der Position der philanthropischen Pädagogik vergleichbar kommt auch der in ihrem Umkreis entstandenen Literatur für Kinder eine beherrschende Stellung zu; sie setzt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Maßstäbe für kinderliterarische Bemühungen in Deutschland und bildet so deren maßgeblichen Kern. Die Ausbildung der philanthropischen Kinderliteratur korrespondiert mit den Veränderungen auf dem literarischen Markt und ist zudem mit dem gleichzeitigen Wandel in der Erwachsenenliteratur verbunden. Die literarischen Tendenzen der Empfindsamkeit und dann des Sturm und Drang bilden sich in zeitlicher Parallelität zur philanthropischen Kinderliteratur aus; zwischen den Autoren, die fast alle der gleichen Generation angehören, gibt es zahlreiche persönliche Verbindungen. <?page no="211"?> 211 ›Die Vernunft der Mütter‹? 1 Vgl. dazu Wild: Die Vernunft der Väter; weiter Wild: Aufklärung. Ein auffälliges Element der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur und zudem eines der Merkmale, das diese Kinder- und Jugendliteratur von der heutigen deutlich trennt, ist die markante Anwesenheit der Erwachsenenfiguren in den Texten und damit die hohe Bedeutung, die dem Erwachsensein oder - aus der Perspektive der Kinder gesehen, der Kinderfiguren im Text wie den kindlichen Lesern - dem Erwachsenwerden zukommt. Es gibt verschiedene Gründe oder Ursachen für die Ausbildung dieses Merkmals; eine der wesentlichen Ursachen ist in dem soziohistorischen Wandel zu sehen, in dem die moderne Kinder- und Jugendliteratur in der ihr spezifischen Gestalt überhaupt erst entstehen kann und auf den die aufgeklärte Kinder- und Jugendliteratur eine - erste - Antwort darstellt. Dazu gehört insbesondere die Ausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie im Kontext der Ausformung der bürgerlichen Gesellschaft. Von hohem Gewicht ist vor allem die Etablierung außerhäuslicher Berufstätigkeit des - bürgerlichen - Mannes, in deren Konsequenz die Familie die zuvor maßgebende Funktion der Produktions- und Erwerbsgemeinschaft verliert. Die tiefgreifenden und nachhaltigen Folgen für die familialen Geschlechterrollen, für die genderorientierte Bestimmung der Opposition ›innen/ außen‹ und für die Ausbildung der differenten ›Geschlechtscharaktere‹ sind bekannt. Zu den Konsequenzen gehört aber auch die zunehmende Ausdifferenzierung von Kindheit und Erwachsensein. In einem Maße, wie dies so zuvor nicht gekannt war, werden Kindheit und Erwachsensein tendenziell zu deutlich voneinander geschiedenen Lebensphasen. Im aufklärerischen Kontext bleibt Kindheit freilich noch immer ein Transitorium: Kindheit wird zwar zunehmend als eine Lebensphase relativer Eigenständigkeit und Besonderheit verstanden, die Ausrichtung dieser Lebensphase auf das - künftige - Erwachsensein bleibt jedoch erhalten. Die Zuwendung zum Kind hat ihren Ausgangspunkt nicht in der Vorstellung eigenständiger Bedürfnisse von Kindern, nicht in einem Bild vom Kind, wie es als Kind ist oder sein soll, sondern in dem Bild, wie der Erwachsene sein soll, zu dem das Kind erst werden wird. In den Erwachsenenfiguren der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur ist dieser Bezug der Kindheit auf die Zukunft des Erwachsenseins in den Texten stets präsent. Diese Voraussetzungen führen (im Verbund mit weiteren Bedingungen) zur Ausbildung der für die aufgeklärte, insbesondere für die philanthropische Kinder- und Jugendliteratur kennzeichnenden Grundstruktur des väterlichen Gesprächs, dessen Ziel die Erziehung zur ›Vernunft der Väter‹ ist. 1 Teilnehmer dieses Gesprächs sind ein Erwachsener - und das heißt in der Regel der Vater oder eine Vaterfigur - und die Kinder - in der Regel mehrere Kinder, wobei häufig Geschwister dargestellt werden. Und dieses väterliche Gespräch ist nicht in den einzelnen kinderliterarischen Texten zu finden, es dient <?page no="212"?> 212 Reiner Wild 2 Vgl. die Artikel zu beiden Texten in Brüggemann: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Sp. 137-155 u. 215-233. vielmehr immer wieder zur Konstitution einer Rahmens, innerhalb dessen die einzelnen Texte präsentiert werden. Christian Felix Weißes Zeitschrift Der Kinderfreund, die zwischen 1776 und 1782 erschien, und Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere, seine 1779 und 1780 in zwei Bänden erschienene Bearbeitung des Robinson Crusoe von Daniel Defoe, sind paradigmatische Texte für diese Grundstruktur. 2 In Weißes Kinderfreund wird der Rahmen von den Gesprächen der Familie Mentor gebildet; Teilnehmer sind der Vater Mentor und seine vier Kinder sowie einige Hausfreunde, die verschiedene Wissensgebiete vertreten und als Abspaltungen der Vaterfigur zu verstehen sind. In Campes Robinson erzählt ein Vater am Abend einer Gruppe von Kindern die in Episoden aufgeteilte Geschichte Robinsons auf der Insel. In beiden Fällen bildet der Rahmen einen durchgängigen Erzählstrang. Die Kinder Mentors in Weißes Kinderfreund lesen oder hören gemeinsam die kinderliterarischen Texte, sie reden mit dem Vater darüber, machen Ausflüge, besuchen zum Beispiel die Leipziger Messe, führen Kinderschauspiele auf und dergleichen mehr. In Campes Robinson werden die Episoden von Robinsons Inselgeschichte zum Anlass ausführlicher Gespräche, in denen sachliche Belehrungen gegeben werden, vor allem aber die Kinder gemeinsam mit dem Vater darüber nachdenken, welche Konsequenzen sie aus den Abenteuern Robinsons ziehen können; weiter wird erzählt, wie die Kinder die Geschichte Robinsons nachspielen, einen Sonnenschirm basteln oder Körbe flechten oder sich in mäßiger Lebensweise üben, indem sie fasten oder für eine Nacht auf den Schlaf verzichten. Beide Texte waren gattungskonstitutiv für die aufgeklärte Kinder- und Jugendliteratur; wer um 1780 und danach Literatur für Kinder schrieb, orientierte sich an der hier vorgeführten Struktur des väterlichen Gesprächs, in dessen Inszenierung nicht allein die intendierte Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur dargestellt, sondern zugleich ein Modell der Sozialisation in aufklärerischer Absicht präsentiert wird. In diesem väterlichen Gespräch wird der transitorische Charakter von Kindheit deutlich sichtbar. Das Gespräch ist Kommunikation zwischen den Generationen, der Kinderwie der Elterngeneration; in ihm sind in den Kinderfiguren die Kindheit in ihrer relativen Eigenständigkeit und zugleich in den Erwachsenenfiguren (d.h. in den Vätern) das Erwachsensein als Ziel von Kindheit präsent. Weiter dient dieses Gespräch, in Hinsicht auf das erzieherische Ziel des Gebrauchs der Vernunft, der Vermittlung von intuitiver und diskursiver Erkenntnis. Ausgangspunkt ist in der Regel eine Erfahrung der Kinder. Diese wird dann gleichsam auf mannigfache Weise durchgespielt, und zwar in einem steten Wechsel von Anschauung, sei es in der <?page no="213"?> 213 ›Die Vernunft der Mütter‹? Erfahrung der Kinder oder etwa durch literarische Texte, zum Beispiel eine moralische Erzählung, und begrifflicher Klärung im Gespräch des Vaters mit den Kindern. Die aufgeklärt-philanthropische Kinder- und Jugendliteratur geht von der Erfahrung aus und überführt diese Erfahrung in (begriffliche) Erkenntnis sowie - in einem weiteren, im Gespräch vermittelten Schritt - in Verhaltensgebote, die der gewonnenen Erkenntnis angemessen sind. Durchweg aber ist dieses Gespräch väterlich bestimmt. Der Vater ist der Gesprächspartner, er arrangiert das Gespräch, er führt es zu seinem Ziel, er urteilt über das Verhalten der Kinder, und er ist die maßgebliche - und alleinige! - Identifizierungsfigur, an der sich die Kinder orientieren, er stellt also das telos ihres Kindseins dar. Die Mütter sind ausgeschlossen; ihnen kommt in diesen Gesprächen nur eine marginale Rolle zu, allenfalls in Stellvertretung des Vaters und seinen Anweisungen folgend. Ziel und Ergebnis solcher Sozialisation, deren grundlegende Konstellation im folgenden Schema dargestellt ist, lassen sich in zugegeben radikaler, gleichwohl ins Zentrum treffender Verkürzung in dem Satz zusammenfassen: Verhalte dich stets so, als sei dein Vater anwesend. Diese Gesprächsstruktur ist, jedenfalls in ihrer vollständigen Ausformung, vor allem in Texten zu finden, die für jüngere Kinder etwa bis zur Pubertät gedacht waren. Mit zunehmenden Alter der intendierten Leser und Leserinnen tritt sie zurück; die Grenze liegt etwa beim Alter von vierzehn Jahren. Dies lässt sich beispielsweise bei Campe beobachten. Er hat als einer der ersten Autoren, vielleicht als der erste überhaupt, seine kinderliterarischen Schriften in der von ihm selbst veranstalteten Gesamtausgabe nach Altersstufen geordnet (vom ABC-Buch hin bis zu elaborierten Reisebeschreibun- <?page no="214"?> 214 Reiner Wild 3 Freilich lassen sich auch Tendenzen zur geschlechtsspezifischen Differenzierung feststellen. Die Mädchen werden zumeist außer zu den auch von Jungen verlangten Betätigungen zu spezifisch ›weiblichen‹ Beschäftigungen wie Nähen oder Stricken angehalten. Bestimmte Verhaltensweisen wie etwa Naschsucht oder Eitelkeit werden vor allem Mädchenfiguren zugeordnet und erscheinen so als typisch weibliche Eigenschaften. Zudem ist im Gesamtbereich der unterhaltenden Literatur die Zahl der Jungen merklich höher als die der Mädchen; bei den moralischen Erzählungen etwa sind männliche Handlungsträger deutlich in der Überzahl. Vor allem aber zeigt sich in der zentralen Rolle der Väter in der Erziehung der Vorrang männlich-patriarchalischer Perspektive; auch die Mädchen werden zur ›Vernunft der Väter‹ erzogen. 4 Zur genaueren zeitlichen Einordnung der Briefe an Lina seien hier nochmals einige Erscheinungsdaten angeführt: Den Briefen (1783-1784 in Pomona, 1785 als Einzeldruck) gen); in der Abfolge der Bände wird die Gesprächsform allmählich reduziert und fehlt in den späteren Bänden völlig. Und auch Christian Felix Weiße ist beispielhaft. Er lässt auf den Kinderfreund, in dessen Rahmenhandlung die Kinder Mentors im Verlauf der Jahre, in denen die Zeitschrift erscheint, älter werden, den Briefwechsel der Familie des Kinderfreunds (1784-1792) folgen. Darin sind die Mitglieder der Familie Mentor räumlich getrennt, und das frühere Gespräch wird in einen Briefwechsel zwischen Mentor und seinen Kindern transformiert. Mit dieser Altersdifferenzierung sind geschlechtsspezifische Differenzierungen verbunden. In den Texten der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur für jüngere Kinder gibt es nur in Ausnahmefällen einen geschlechtsspezifischen Adressatenbezug; sie sind gleichermaßen an Jungen und Mädchen gerichtet. Entsprechend sind in den Kindergruppen der Rahmenerzählungen oder der Kinderschauspiele Jungen und Mädchen in annähernd gleicher Zahl vertreten; Erziehungsgrundsätze und Anforderungen gelten für beide Geschlechter. Insofern kann, jedenfalls hinsichtlich der bewussten Intention der Autoren, von einer gleichberechtigten Erziehung gesprochen werden. 3 Mit zunehmendem Alter der gedachten Adressaten wird jedoch zwischen Jungen und Mädchen immer mehr unterschieden; die erzieherischen Anforderungen werden, unter Beibehaltung des Grundverhältnisses väterlicher Erziehung, in steigendem Maße genderorientiert. In diesem Kontext entwickelt sich spezifisch für Mädchen gedachte Literatur; sie ist (wie es in den Titeln oft heißt) an ›junge Frauenzimmer‹ gerichtet, die an der Schwelle zum Erwachsensein stehen. In dieses literarische Feld lassen sich auch Sophie von La Roches Briefe an Lina einordnen, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Diese Briefe hat Sophie von La Roche zunächst in den beiden Jahrgängen ihrer Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter 1783 und 1784 veröffentlicht und zwar in monatlicher Folge: vierundzwanzig Briefe in den vierundzwanzig Monaten des Erscheinens der Zeitschrift. 1785 erschienen die Briefe an Lina dann auch als Buch. 4 Wie der Titel bereits signalisiert, gibt es allein die Briefe <?page no="215"?> 215 ›Die Vernunft der Mütter‹? gingen Weißes Kinderfreund (1776-1782) und Campes Robinson (1779-1780) voran, Weißes Briefwechsel der Familie des Kinderfreunds begann 1784 zu erscheinen (bis 1792); beachtenswert ist insbesondere, dass Campes Väterlicher Rath an meine Tochter, mit dem die Briefe an Lina immer wieder verglichen wurden (vgl. dazu auch hier S. 216), erst 1789, also nach ihnen veröffentlicht wurde. 5 Lina Ib, Bd. 1, S. 2. Zitiert wird nachfolgend nach der zweiten Auflage von 1788. 6 Ebd., S. 230. Es gibt im Übrigen immer wieder Verknüpfungen mit der Zeitschrift; so liest Lina die Pomona, macht Exzerpte und bittet die Briefeschreiberin um die Behandlung eines Themas, was diese dann auch tut, ebd., S. 125, oder die Briefeschreiberin berichtet, dass sie an Pomona arbeite, ebd., S. 142. 7 Grundlegend ist nach wie vor die Arbeit von Grenz: Mädchenliteratur, insbesondere Kap. IV: Philanthropismus und Empfindsamkeit. Sophie von La Roches Briefe an Lina (1785), S. 66-74. 8 Zu Näherem vgl. Grenz: Mädchenliteratur, S. 70-74. an Lina (also keine Antwortbriefe), und sie, die Adressatin der Briefe, ist anfangs 15 Jahre alt: »Du hast 15 Jahre, meine Liebe! Dieses ist die Zeit, wo sich die sorglose Kindheit in Ueberlegung abändert«. 5 Sie hat beide Eltern verloren und lebt bei ihrem Bruder, der ein Freund der Briefeschreiberin ist; der Bruder vertritt, nicht zuletzt als Vormund, die vakante Stelle des Vaters, eine Tante die der Mutter. Die Verfasserin der Briefe gibt sich am Schluss zu erkennen, indem sie mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens unterzeichnet »S.v.L.R.«: Sophie von La Roche. 6 Der Briefwechsel umfasst zwei Jahre, in denen Lina um eben diese beiden Jahre älter wird; ihr 16. Geburtstag schließt den ersten Teil ab, und am Ende steht ihre Verlobung. Die pädagogischen Positionen, die Sophie von La Roche in den Briefen an Lina vertritt, wurden schon mehrfach beschrieben. 7 Die vermittelten Verhaltensweisen entsprechen den aufgeklärt-bürgerlichen Standards; Arbeit, Tugend, Wissensdrang und Bildung, natürliche Religion, Perfektibilität sind leitende Stichworte, wobei durchweg, wie bei Sophie von La Roche nicht verwunderlich, eine empfindsame Eintönung zu bemerken ist. Das gilt auch für das Frauenbild, das für Lina leitend sein soll, und mithin die weibliche Rolle, auf die sie verpflichtet werden soll. Die Briefe an Lina sind dem Paradigma des weiblichen Geschlechtscharakters verpflichtet, wie es im 18. Jahrhundert ausgebildet wurde. Ein einziges, freilich kennzeichnendes Zitat mag hier als Beleg für diese Feststellung genügen: 8 Wird man als Gattin in das Haus eines Mannes berufen, nun da sieht man sich um, wie man die im väterlichen Hause gesammelten Tugenden und Kenntnisse zu dem Glück des Gatten und seiner Kinder ausüben, und noch alle die erwerben kan, welche dem Stand des Gatten angemessen, und seinem Geist angenehm sind. - Mich dünkt immer, daß die menschlichen Bedürfnisse unter gesitteten Völkern in drey Gattungen vertheilt werden können. Wissenschaften für den Verstand, Freuden für das Herz, und Arbeiten für unsern Körper. Die ersten sind den Männern zugemessen, die zweyten uns, und die <?page no="216"?> 216 Reiner Wild 9 Lina Ib, Bd. 1, S. 191-192. Hervorhebung R.W. 10 Campe: Väterlicher Rath an meine Tochter, S. 14-15. 11 Lina Ib, Bd. 1, S. 9; Hervorhebung R.W. 12 Linke: Sprachkultur und Bürgertum. 13 Lina Ib, Bd. 1, S. 6. 14 Ebd., S. 56. 15 Zum Beispiel ebd., S. 83. 16 Zum Beispiel ebd., S. 62-63. dritten besorgen wir gemeinschaftlich. Ohne freudige Augenblicke kann der Geist, ohngeachtet der Unsterblichkeit seines Wesens, nicht bestehen. Also ist unser Loos sehr schön. 9 Das dominante Frauenbild der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur hat Joachim Heinrich Campe in seinem Väterlichen Rath an meine Tochter geradezu paradigmatisch in die berühmt, ja berüchtigt gewordene Formel gefasst: Frauen seien dazu geschaffen, »beglückkende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens« 10 zu sein. Auch in den Briefen an Lina gibt es eine dreigliedrige Bestimmung, die jedoch - jedenfalls in einer Hinsicht - von der Campes deutlich abweicht: Sieh die jetzigen Jahre deines Lebens als die Sammlungszeit aller guten und nützlichen Sachen an, die du in Zukunft wirst nöthig haben, um als ein schätzbares junges Frauenzimmer, oder als die Gattin eines würdigen Mannes, und die geliebte Freundin und Gesellschafterin von Hochachtungswerthen Personen angesehen zu seyn. 11 Die hohe Bedeutung, die hier in markanter Differenz zu Campe der Geselligkeit zugewiesen wird, ist auch im Einzelnen in den Anweisungen an Lina immer wieder wirksam. Dies mag den eigenen Erfahrungen von Sophie von La Roche geschuldet sein; bemerkenswert ist jedoch, dass sie mit dieser Bestimmung zugleich auf einen für die weibliche Rolle im Groß- und Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts wichtiges Element vorausweist, wie es beispielhaft Angelika Linke beschrieben hat. 12 Hier ist Sophie von La Roche deutlich progressiver als die dominante Mädchenliteratur ihrer Zeit. Von Beginn an wird in den Briefen an Lina eine Kommunikationssituation aufgebaut, die als briefliches Derivat der Gesprächssituation verstanden werden kann. Zwar gibt es lediglich die Briefe von »S.v.L.R.«, bereits der Beginn des zweiten Briefes macht jedoch die Fiktion des Briefgesprächs deutlich: »Meine Lina ist mit mir zufrieden. Sie will mehr Briefe von mir haben: sie hat alles gefasst: es hat ihr alles gefallen, was ich ihr schrieb«. 13 Entsprechend erwartet die Briefeschreiberin die »Gedanken meiner Lina über diese Papiere«, 14 sie zitiert aus Briefen Linas 15 und antwortet auf Fragen Linas, die sie wörtlich wiedergibt. 16 Ohnehin werden immer wieder briefliche Äußerungen Anderer zitiert, so etwa von Linas Bruder, oder es wird von Gesprächen <?page no="217"?> 217 ›Die Vernunft der Mütter‹? 17 Ebd., S. 56-62. 18 Ebd., S. 109-113. Anderer berichtet; ein markantes Beispiel dafür bietet der Bericht über Linas sechzehnten Geburtstag im zwölften Brief. 17 Auf diese Weise entstehen komplexe, verschachtelte Kommunikationssituationen. So wird etwa im dreizehnten Brief ein Gespräch zwischen Lina, ihrem Bruder und ihrer Tante wiedergegeben - freilich in eigenartig verschränkter Weise: Die Briefeschreiberin gibt in ihrem Brief, der - wohlgemerkt! - an Lina gerichtet ist, wieder, was ihr, wie sie selbst anmerkt, zuvor Lina in ihrem Brief berichtet hat. Oder die Briefeschreiberin erzählt - wiederum im Brief an Lina - von deren sechzehntem Geburtstag und berichtet dabei, was sie von Linas Bruder über den Geburtstag erzählt bekam. Die modellgebende Struktur für diese Briefkommunikation bildet, so lässt sich feststellen, das familiäre Gespräch der aufgeklärt-philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur; dies gilt umso mehr, als die Beziehung, die zwischen der Briefeschreiberin und Lina aufgebaut wird, eine durchaus persönliche, ja intime und emotional bestimmte ist. Auch bei der intendierten Belehrung Linas entspricht das Vorgehen der Briefeschreiberin den Vermittlungsstrategien der aufgeklärt-philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur. Ausgangspunkt ist die Erfahrung; in der von der Briefeschreiberin angeleiteten Bearbeitung solcher Erfahrung wird Lina zum Wissen, zur Erkenntnis also, und zugleich zur Einsicht in die entsprechenden, aus der Erkenntnis zu folgernden Verhaltensgebote geführt. So wird im ersten Teil der Briefe ein Gang Linas mit der Briefeschreiberin durch die verschiedenen Zimmer des Hauses, durch Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Speisekammer, Esszimmer, Visitenzimmer und »Geräthkammer«, inszeniert; dabei werden ausgehend von der Funktion des jeweiligen Zimmers entsprechendes Wissen und entsprechende Verhaltensweisen besprochen. Im Schlafzimmer geht es um Kleidung und Mode, im Wohnzimmer um die häuslichen und geselligen Pflichten, in der Küche um Essen und Kochkunst sowie um die Tugend der Mäßigung, in der Speisekammer um Vorratswirtschaft und, sehr konkret, um die häusliche Finanzplanung. Während im ersten Teil der Briefe vor allem häusliches Wissen und häusliche Tugenden vermittelt werden, gilt der zweite Teil vorrangig der Vermittlung von Weltwissen, wiederum gekoppelt an die Darlegung des entsprechenden Verhaltenskodexes. Auch hier lässt sich die aus der aufgeklärt-philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur bekannte Vermittlungsstruktur erkennen: Ausgangspunkt ist der Erfahrungshorizont Linas, der dann im Briefgespräch, also durch die Einlassungen der Briefeschreiberin ausgeweitet wird. So wird etwa am Beispiel der Kleidung die soziale Verflechtung durch gesellschaftliche Arbeitsteilung, also die wechselseitige Abhängigkeit und Angewiesenheit der Menschen untereinander, vorgeführt 18 (ein im Übrigen in der aufgeklär- <?page no="218"?> 218 Reiner Wild 19 Ebd., S. 84-87. 20 Eine Bemerkung nebenbei: Eine allein stehende, allein erziehende Mutter ist in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts offenbar undenkbar. 21 Lina Ib, Bd. 1, S. 62. 22 Gerade auch an diesem Detail wird, wie zuvor schon an der ›Beseitigung‹ der beiden Eltern Linas, die Inszeniertheit (oder auch: Künstlichkeit) der Erziehungskonstellation überaus deutlich: Einerseits muss eine Eltern-Kind-Figuration hergestellt werden, die jedoch andererseits so gestaltet ist, dass darin genügend Platz für die Briefeschreiberin bleibt; mit dem Vorhandensein der Ehefrau des Bruders wäre dieser Platz erheblich eingeschränkt. ten Kinder- und Jugendliteratur geradezu topisches Thema), oder es wird, ausgehend von einem Gang Linas mit ihrem Bruder durch das eigene Haus, das Thema Architektur aufgenommen und ausgebreitet. 19 Lina ist elternlos, eine im Haus des deutlich älteren Bruders lebende Waise. Das Fehlen des Vaters ist in der hier inszenierten Erziehungskonstellation, jedenfalls aus der Perspektive der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur, durchaus konsequent, ja - so lässt sich zugespitzt formulieren - geradezu notwendig. Denn diese ›Beseitigung‹ des Vaters ermöglicht überhaupt erst die quantitativ und qualitativ ausgedehnte Stimme der Briefeschreiberin und damit das ›weibliche‹ Gespräch zwischen der älteren Frau und dem Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein; insbesondere wird damit die selbstbewusste Eigenständigkeit möglich, mit der die Briefeschreiberin agiert. Das Fehlen der Mutter ist ähnlich motiviert. 20 Damit wird es möglich, dass die Briefeschreiberin in die Mutterposition einrückt; die Tante, die diese Rolle gewissermaßen im Alltag Linas übernimmt, spielt in den Briefen an Lina lediglich eine marginale Rolle und wird nur hin und wieder erwähnt. Die Briefeschreiberin übernimmt also in der Erziehungskonstellation die Mutterposition. Das gilt sowohl in struktureller Hinsicht, insofern sie als ältere Frau das Mädchen in dessen künftige Rolle einführt, wie auch in der Art ihrer Zuwendung zu Lina, die bestimmt ist von Emotionalität und Verständnis und zu der nicht zuletzt das Loben bei nur gelegentlichem mildem Tadel gehört. So kann sie auch an Lina schreiben: »Ich umarme dich mit mütterlicher Zärtlichkeit«. 21 Das von Sophie von La Roche inszenierte weibliche (Brief-)Gespräch ist also ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Inszeniert sie damit zugleich, in Abweichung von der aufgeklärt-philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur, eine ›Vernunft der Mütter‹? Der Sachverhalt ist komplizierter. Zur Konstellation der hier inszenierten weiblichen Erziehung gehören der Bruder und damit seine Rolle, seine Funktion in dem Beziehungsgeflecht, innerhalb dessen sich das ›mütterliche‹ Briefgespräch entfalten kann. Der Bruder ist deutlich älter als Lina; er hat zwei Töchter, seine Ehefrau ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben. 22 Er nimmt, nicht zuletzt in rechtlicher Hinsicht als Vormund Linas (und darin durchaus im Sinne eines Realismus-Effekts), eine Vaterposition ein. Und <?page no="219"?> 219 ›Die Vernunft der Mütter‹? 23 Lina Ib, Bd. 1, S. 26. 24 Ebd., S. 23. 25 Ebd., S. 84. 26 Ebd., S. 70. diese Position wird in den Briefen an Lina in bemerkenswerter Weise gefüllt. Durchgängig bezieht sich die Briefeschreiberin immer wieder auf den Bruder, auf Briefe von ihm oder auf Gespräche, die beide miteinander führen. Die Briefeschreiberin zitiert immer wieder seine Ratschläge und Lehren, sie verweist auf sein - stets richtiges - Verhalten. Er wird somit, wie der Vater in der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur, zum Vorbild. So heißt es beispielsweise in direkter Anrede an Lina: »Du, meine Liebe! […] wenn du einst einem eigenen Haus vorstehen mußt, und das Vorurtheil erscheint und sagt: - ›Aber das ist so gebräuchlich.‹ - Da antwortest du: Ich bin es von meines würdigen Bruders Haus so gewohnt«. 23 Die Briefeschreiberin schließt in ihren Ratschlägen an vorgängige Belehrung durch den Bruder an: »Dein Bruder […] hat dich gelehret, daß man bey allem den Ursprung und Endzweck zu kennen suchen solle. Dieses wollen wir nun […] befolgen, und uns sagen«. 24 Deshalb kann er auch die Thematik der Briefe vorgeben. So ist etwa vom 14. Brief an für die nächsten Briefe die Architektur das vorrangige Thema; die Briefeschreiberin bemerkt dazu, dass Lina sie gebeten habe, mit diesem Thema fortzufahren, weil sie von ihrem Bruder im Haus herumgeführt und dabei belehrt worden sei: Ich soll, sagst du, doch von den Gebäuden fortfahren, indem du viel Vergnügen dabey ahndest, nachdem es dich letzten Sonntag so sehr freute, als dein Bruder dich in seinem Haus herumführte, dir den Bau der Gewölber im Keller, und die Ursache erklärte, warum die Steine in den runden Bogen so viele Jahrhunderte fest zusammen hielten, und daß die Häuser durch die Keller gesunder und trockner werden. Er hat dir zugleich die großen Haupt- und die leichten Schiedmauren gewiesen, […]. 25 Mit der Vorbildfunktion, die der Bruder einnimmt, ist zugleich eine Kontrollfunktion verbunden. So soll etwa über den »Werth« eines Briefes der Briefeschreiberin bestimmen: »Nun soll dein Bruder den Werth dieses Briefes bestimmen. Seinen Gedanken folge, mein Kind! […] Er weiß, wie ein Weib denken soll, und denken kann. Welch ein Glück ist ein solcher Bruder, und ein solcher Freund! « 26 Mehrfach werden die Ausführungen der Briefeschreiberin vom Bruder ergänzt und - vor allem - bestätigt, wobei dies ja von der Briefeschreiberin selbst berichtet wird. Der Bruder bestimmt damit durchaus maßgebend den Endzweck der gesamten Veranstaltung; so heißt es auch an einer Stelle: »Dein Bruder, sagst du, hat dir das Gemälde von den Verdiensten des Bauern noch recht deutlich ausgemalt, und zugleich versichert: Du <?page no="220"?> 220 Reiner Wild 27 Ebd., S. 125. 28 Ebd., S. 180. 29 Ebd., S. 216. 30 Ebd., S. 216-217. 31 Ebd., S. 229. 32 Ebd., S. 218. würdest durch meine Briefe fähig, mit einem ernsthaften Mann zu sprechen, und vernünftige Bücher zu lesen«. 27 Die Erziehungsveranstaltung der Briefeschreiberin ist also eingefügt in eine hierarchische Beziehung zum Bruder; er hat, basierend freilich auf dem unbezweifelten Einverständnis zwischen ihm und der Briefeschreiberin, gewissermaßen die Oberaufsicht. So muss die Briefeschreiberin schließlich auch festhalten: »ich danke deinem Bruder herzlich für den Antheil, welchen er mich an deiner Erziehung nehmen ließ«. 28 Den Abschluss der Briefe an Lina bildet Linas Verlobung mit einem Herrn Illberg. Die Bekanntschaft Illbergs mit Lina wird über den Bruder vermittelt: Daß dein Bruder gleich, ehe Herr Illberg dich sah, mit ihm und dem Vater spazieren gieng, ohne daß sie den Namen deines Bruders wußten, da er ihnen nur auf dem Geld begegnete, und sie, die aus ihrer Kutsche gestiegen waren, auf ihre freundliche Anfrage durch das Obstwäldgen nach dem Amthaus führte und daß während der halben Stunde, welche der Weg dauerte, das Bezeugen und die Reden des jungen Illbergs deinem Bruder so sehr gefielen, daß er die Freundschaft und den Umgang des Vaters und des Sohns wünschte. 29 Ebenso bedeutend für Illbergs Interesse an Lina sind seine Bekanntschaft mit dem Bruder und seine Kenntnis über dessen häusliche Gegebenheiten; in der Wiedergabe eines Berichts von Lina selbst bekräftigt die Briefeschreiberin ausdrücklich, wie gut es sei, dass Illberg bei einem Zusammentreffen mit Lina »nur von dem Vergnügen sprach, deinen Bruder zu kennen, und bey deiner Antwort sich über das Bild der häuslichen Glückseligkeit freute, welche bey einem solchen Bruder und Schwester wohnen müsse«. 30 So kann der Bruder auch feststellen: »Illberg schätzt unsere Lina unendlich, wegen ihren schwesterlichen Gesinnungen gegen mich«. 31 Und von der Briefeschreiberin wird in diesem Zusammenhang nochmals nachdrücklich die Vorbildlichkeit des Bruders herausgestellt: »Deine Tante und ich hatten den Vortheil, daß wir in deinem Bruder den Mann dir zeigen konnten, dessen Kenntnisse, Rechtschaffenheit, und männliche Herzensgüte das Bild des wahren Glücks einer vernünftigen Frau in sich faßte«. 32 Die Nähe der Briefe an Lina sowohl in inhaltlicher als auch struktureller Hinsicht zu den Grundpositionen der aufgeklärt-philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur und deren väterlich zentrierter Erziehungskonstellation <?page no="221"?> 221 ›Die Vernunft der Mütter‹? ist offensichtlich. Gleichwohl lassen sich Abweichungen bemerken, deren Konsequenzen für die Konstellation sich schematisch in einer Abwandlung des zuvor angeführten Modells so darstellen lassen: Die väterliche Position wird in den Briefen an Lina durchaus abgeschwächt; schon die Substitution des Vaters durch den Bruder deutet diese Abschwächung an. Zugleich wird die weibliche, die ›mütterliche‹ Position deutlich aufgewertet. Die Positionen des Bruders und der Briefeschreiberin sind strukturell einander angenähert. Dabei bleibt freilich die männliche oder - genauer und zugleich aus der Perspektive der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur formuliert - die patriarchale Hierarchie gewahrt. Das Primat der väterlichen Position wird nicht in Zweifel gestellt, auch wenn es gewissermaßen ›brüderlich‹ abgeschwächt ist. Die Ausrichtung der Erziehungskonstellation auf die übergeordnete Stellung des Bruders/ Vaters und damit die letztliche Unterordnung aller Beteiligten unter den Bruder/ Vater stehen außer Frage. Von einer ›Vernunft der Mütter‹, gar als Opposition oder Gegenprogramm zur in der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur dominanten ›Vernunft der Väter‹, lässt sich also kaum sprechen. Zu vermerken ist freilich eine deutliche Aufwertung der weiblichen, genauer: der mütterlichen Rolle in der Erziehung und damit zugleich in der familiären Erziehungskonstellation. Sophie von La Roches Erziehungsvorstellungen, jedenfalls soweit sie in den Briefen an Lina sowohl in den vermittelten Inhalten als auch in der Art der Vermittlung dieser Inhalte gestaltet sind, folgen grundsätzlich den pädagogischen Tendenzen der Zeit, verändern diese aber zugleich in die Richtung eines deutlich stärkeren weiblichen Anteils. Darin weisen die Briefe an Lina auf weitere Entwicklungen voraus, was auch bedeutet, dass Sophie von La <?page no="222"?> 222 Reiner Wild Roche in ihren pädagogischen Konzepten keineswegs so konservativ ist, wie dies gelegentlich in der Literatur dargestellt wird (bei solchen Urteilen wird häufig der historische Kontext zu wenig beachtet); die patriarchale Ordnung wird allerdings nie in Frage gestellt. Die Aufwertung der mütterlich-weiblichen Rolle bei La Roche ist, so darf unterstellt werden, wesentlich ihrer Orientierung an der Empfindsamkeit geschuldet (von der Verarbeitung eigener Erfahrungen abgesehen). Damit wird in der Konstellation La Roche/ Philanthropismus eine Opposition sichtbar, die einige Zeit später, vor allem im Kontext der Entwicklungen in der Pädagogik um 1800, zu einer nachhaltig wirksamen Gender-Opposition verfestigt wird: Die philanthropische Pädagogik erscheint, nicht zuletzt infolge ihrer aufgeklärten Verpflichtung auf den Primat der Vernunft, als ›männlich‹, die empfindsam getönte Pädagogik hingegen als ›weiblich‹. <?page no="223"?> 1 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 30; vier dieser Zeitschriften sind nicht mehr zugänglich. Bis auf Ehrmanns und La Roches Zeitschrift sind die weiteren Journale nur unvollständig erhalten; vgl. Neumann: Die Frauenzeitschrift ›Pomona‹, S. 87. Nina Birkner; York-Gothart Mix Dialogizität als mediale Innovation? Sophie von La Roches Pomona für Teutschlands Töchter im Kontext der aufklärerischen Zeitschriftenliteratur Beeinflusst von den Moralischen Wochenschriften nach englischem Muster sowie von Periodika, die sich, wie das erfolgreiche Magazin des jeunes dames (1763-1764) und das Journal für das Frauenzimmer (1769-1771), an französischen und italienischen Vorbildern orientieren, erscheinen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Frauenzimmerjournale, die dem wachsenden belletristischen Interesse der Leserinnen Rechnung tragen und sich stärker am Typus der literarischen Zeitschrift orientieren. Das erste überregional beachtete, literarästhetisch bedeutende Unternehmen dieser Art ist die von Johann Georg Jacobi und Wilhelm Heinse redigierte Vierteljahresschrift Iris. Als ähnlich ambitioniert erweisen sich die von Sophie von La Roche publizierte Pomona für Teutschlands Töchter (1783-1784), Franz Rudolf Grossings Damen-Journal von einer Damengesellschaft (1784-1785) und dessen Nachfolgeunternehmungen, Marianne Ehrmanns Journale Amaliens Erholungsstunden, Teutschlands Töchtern geweiht (1790-1792) und Die Einsiedlerin aus den Alpen (1793-1794); die von Karl Friedrich Bahrdt gegründete Zeitschrift für Gattinnen, Mütter und Töchter (1791-1792), Flora. Teutschlands Töchtern geweiht von Freunden und Freundinnen (1793-1803) von Ludwig Ferdinand und Therese Huber sowie Leonhard Meisters Monatsschrift für helvetische Töchter (1793). Summa summarum erscheinen in der Zeit zwischen 1720 und 1800 weit über 100 Frauenzeitschriften, aber wohl nur 14 von ihnen werden von Frauen redigiert oder verfasst: 1 Zu diesen gehören Für Hamburgs Töchter (1779) von Ernestine Hofmann, das Wochenblatt für’s Schöne Geschlecht (1779) von Charlotte Hezel, die Journale von Marianne Ehrmann und La Roches vergleichsweise weit verbreitete Zeitschrift Pomona. Ihr Monatsblatt bringt in <?page no="224"?> 224 Nina Birkner / York-Gothart Mix 2 Nenon: Autorschaft und Frauenbildung, S. 122. 3 Albrecht: Aufgeklärte Empfindsamkeit, S. 175. 4 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 377, 379. 5 Die Popularität von La Roches Korrespondenz mit ihren Leserinnen kommt im letzten Heft der Pomona in der ›Anzeige an das Publikum‹ zum Ausdruck, in der Johann Georg Hutten ankündigt, dass La Roche ihre Zeitschrift aufgeben wird. Zugleich kündigt er »eine neue periodische Arbeit« an, die, »nach den Wünschen so vieler unter ihnen, die Stelle der Pomona einigermassen vertretten soll«. Alle zwei Monate soll eine Zeitschrift mit dem Titel Briefwechsel der Pomona erscheinen, in der Leserzuschriften an La Roche und ihre Antworten publiziert werden sollen. Die geplante »periodische […] Schrift« ist aber nicht realisiert worden; vgl. Johann Georg Hutten: Anzeige an das Publikum, in: Pomona, 1784, Repr. Bd. 4, H. 12, S. 1166-1170, hier S. 1168, 1169. 6 Vgl. Albrecht: Aufgeklärte Empfindsamkeit. 7 Vgl. Heidenreich: Sophie von La Roche. 8 Vgl. Neumann: Die Frauenzeitschrift ›Pomona‹. 9 Vgl. Nenon: Autorschaft und Frauenbildung. 10 Brandes: Das Frauenzimmer-Journal, S. 452-468. 11 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 393. der Regel »eine Moralische Erzählung, Gedichte, Übersetzungen, Essays, die Wissenswertes über ein bestimmtes Thema vermitteln oder eine Frage moralischer Lebensführung zum Gegenstand haben«. 2 Zu den festen Rubriken des Journals zählen die Briefe an Lina, in denen sich die Herausgeberin als Tante des verwaisten fünfzehnjährigen Mädchens Lina Derbach geriert, die ihrer Nichte all das beibringt, »was eine gute künftige Hausfrau und Mutter sowie eine gebildete Ehepartnerin und Gesellschafterin […] von Hauswirtschaft, Menschheit und Natur wissen muß«. 3 Ab dem achten Heft publiziert die Pomona außerdem von ihr kommentierte Leserzuschriften unter der Rubrik Briefe und Antworten. Diese »neuartige Einrichtung« hat zwar »in dieser Form im 18. Jahrhundert keine Nachahmung in anderen Frauenzeitschriften« 4 gefunden, aber wesentlich zur Popularität von La Roches Entreprise beigetragen. 5 Die Forschung hat sich mit der Pomona in den letzten Jahrzehnten wiederholt auseinandergesetzt. Bei Wolfgang Albrecht, 6 Bernd Heidenreich, 7 Helga Neumann 8 oder Monika Nenon 9 stehen die Konzeption, das Themenspektrum und die Wirkungsabsicht der Zeitschrift im Vordergrund. Barbara Becker-Cantarino hat den Blick auf das Gesamtwerk gelenkt. Helga Brandes, 10 Britt-Angela Kirstein und Ulrike Weckel charakterisieren die Dialogstruktur zwischen Herausgeberin und Leserinnen als mediale Innovation und betonen, dass den Leserinnen hier erstmals ein Forum geboten wird, »öffentlich hervor- und mit anderen Frauen in Verbindung zu treten, ohne ihren Namen nennen zu müssen«. 11 Kirstein räumt allerdings ein, dass die Herausgeberin auf einen »Gedankenaustausch« zielt, »der innerhalb <?page no="225"?> 225 Dialogizität als mediale Innovation? 12 Kirstein: Marianne Ehrmann, S. 149. 13 Ebd., S. 147. geschlechtsspezifischer Grenzen bleibt«, 12 dass also den »Leserinnen kaum« ein »über die gesellschaftlich sanktionierten Interessensbereiche hinausreichende[r] Horizont« 13 geboten wird. In diesem Beitrag sollen die ästhetischen und thematischen Implikationen dieses Kommunikationsmodells konkretisiert und die genderspezifischen Wertungen der zeitgenössischen Literaturkritik beleuchtet werden. Die Ausführungen beschäftigen sich mit der Dialogstruktur der Pomona. Zunächst sollen die typologischen Spezifika und die Tradition literarischer Dialogizität skizziert werden, um dann kontrastiv die divergente Funktion von Leseransprachen in aufklärerischen Zeitschriften für Frauen und in La Roches Frauenzeitschrift Pomona zu konkretisieren. Die Charakterisierung der Leseransprache in der Pomona als distinktive, identitätsstiftende Verständigungshandlung führt abschließend zur Frage der zeitgenössischen literaturkritischen Wertung und Tradierung der weiblichen Rollenrede in der Literaturgeschichtsschreibung. In diesem Zusammenhang rückt eine Frage in den Vordergrund: Hat das von der Pomona exemplifizierte Modell einer literarischen Selbstverständigung von Autorinnen und Leserinnen im 18. Jahrhundert eine Paradoxität provoziert, die schon kurze Zeit später, von den Frauen der Jenaer Frühromantik, den Salonièren in Berlin, Wien und Weimar, aber auch von La Roches Enkelin, Bettina von Arnim, als ambivalent, konventionell und restriktiv angesehen wurde? I. Tradition und Typologie des Dialogs Auf den ersten Blick lässt sich die von der Pomona vorgeführte Dialogstruktur in ein Öffentlichkeitsmodell integrieren, das gemeinhin mit Kritikfähigkeit, Räsonnement und sozialer Partizipation assoziiert wird. Unabhängig von der Frage, ob Öffentlichkeit angesichts inter- und intrakultureller, sozialer, politischer, historischer, generations- und genderspezifischer Konstituenten nicht pluralisierend gedacht werden muss, stellt sich die Frage nach den typologischen Spezifika des Dialogs. Seit der Antike wird die ars dialogica mit ihrer rhetorisch-ästhetischen Funktion in mimetischen Genres und ihrer Rolle als autonome Kommunikationsform (etwa das Totengespräch, die Disputation, die Gerichtsrede, das Lehrgespräch u.a.) sowie ihren adressatenbezogenen Modi, also dem Gespräch und Diskurs oder der Konversation, in Verbindung gebracht. Als Ausdruck interpersonaler Reflexion über die Bedingungen des menschlichen Mit-, Für- und Gegeneinanders - ergo als primum humanum - und aufgrund seiner thematischen sowie funktionalen <?page no="226"?> 226 Nina Birkner / York-Gothart Mix Offenheit und didaktischen Möglichkeiten wird der Dialog zu einem favorisierten Genre in der Aufklärung. Die Texte des Vertrauten und Mentors von La Roche, Christoph Martin Wieland (Araspes und Panthea, 1760, und Sokrates mainomenos oder Dialogen des Diogenes von Sinope, 1770), tragen dazu bei, die deutsche Form Dialog in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im schönwissenschaftlichen Diskurs zu etablieren. Jenseits der von Georg Philipp Harsdörffer mit den Frauenzimmer Gesprächsspielen oder der von Christian Thomasius mit den literaturkritischen Monatsgesprächen präfigurierten Redemodelle etabliert La Roche eine Dialogform, die nach den seit 1787 gültigen Klassifikationen von Jean-François Marmontel als dialogue philosophique ou littéraire mit den Varianten der Figurenrede, des Selbstgesprächs, fingierten Selbstgesprächs und der phatischen Wechselrede bezeichnet werden kann. Bezogen auf die adressatenbezogenen Modi handelt es sich nicht um eine an französischen oder italienischen Vorbildern orientierte Konversationskunst oder die Form des eruditen, reflexionslogischen Diskurses, sondern um eine gemeinschafts- und identitätsstiftende Verständigungshandlung, das Gespräch. Die dezidiert distinktive Intention wird bereits in den ersten beiden Sätzen des Editorials im ersten Heft der Pomona plakativ vorgetragen. Die sich anschließende Aufforderung an das Publikum, Wünsche zu äußern, ebnet ebenso die für die Autorrolle konstitutive Diskrepanz zwischen dem Schriftsteller als empirischer Person und seiner Repräsentanz im Text wie die analoge Differenz zwischen dem realen und imaginierten Leser ein. Beide Momente, sowohl die Favorisierung des Gesprächs wie die phatische Leseransprache sind, ganz gleich, ob sie real oder fiktiv ist, mit kommunikationsästhetischen und sinngenerierenden Implikationen verknüpft, die auf die schon angesprochene Paradoxität der Pomona verweisen und in der Folge präzisiert werden sollen. I.1 Leseransprachen und Konversation in aufklärerischen Zeitschriften für Frauen Die Publizisten der Aufklärung versuchen umfassender und dezidierter als die Autoren des vorangegangenen Säkulums das weibliche Publikum in das kulturelle Leben zu integrieren. Die von Johann Christoph Gottsched 1725-1726 unter Mitwirkung seiner Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched herausgegebene, 1748 noch in dritter Auflage erschienene Wochenschrift Die Vernünftigen Tadlerinnen wendet sich als erste Zeitschrift explizit und primär an Frauen. Für fast alle der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheinenden Moralischen Wochenschriften ist das Prinzip der Dialogizität konstitutiv. Mit pädagogischem Impetus wird das Publikum meist schon in der ersten Nummer zur Mitarbeit aufgefordert: <?page no="227"?> 227 Dialogizität als mediale Innovation? 14 Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 20. 15 Niefanger: Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften, S. 14. 16 Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 31. 17 Ebd., S. 155. 18 Vgl. Niefanger: Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften, S. 18; vgl. auch ebd., S. 156. 19 Ebd., S. 307. Fast jede […] Wochenschrift bittet um die Einsendung von Beiträgen geschickter Federn, und keine Wochenschrift, die nicht Briefe - fingierte oder echte - aus dem Publikum abgedruckt hätte. Nicht selten wird ein eingesandter Brief zum Gegenstand der Betrachtung, und fast stets erfährt er eine Antwort. 14 Im Unterschied zur Pomona, in der sich La Roche als Herausgeberin zu erkennen gibt, bleiben die Verfasser der Wochenschriften jedoch anonym. Sie verbergen sich hinter der Maske eines fiktiven Autors. Gottsched wählt beispielsweise in den Vernünftigen Tadlerinnen die Fiktion eines Autorinnenkollektivs und suggeriert eine sukzessive Präsenz und Autorschaft der Freundinnen Calliste, Phyllis und Iris. Aber schon durch die »Wahl dieser auch in der Schäferdichtung gebräuchlichen Namen« wird ungeachtet einer ostentativen »Beteuerung der Authentizität der weiblichen Verfasserschaft - die Fiktionalität der drei Autorinnen […] signalisiert.« 15 Der Rückgriff auf eine von den Lesern als imaginativ akzeptierte Verfasserfigur hat entscheidende Konsequenzen für den medial inszenierten Dialog zwischen den Herausgebern und ihrem Publikum. Die Verfasser der Wochenschriften können sich »von allen persönlichen Rücksichten dem Publikum wie auch sich selbst gegenüber« befreien und in einem »familiäre[n], persönliche[n] Ton« schreiben, »ohne aufdringlich oder abgeschmackt [zu] wirken«. 16 Viele Leserinnen scheinen die Möglichkeit zu nutzen, sich im Medium des Briefes mitzuteilen, ohne »vor einer Verfasseranonymität in Verlegenheit zu geraten oder gegenüber einem dem Namen nach bekannten Autor sich geniert zu befinden.« 17 Auch wenn es offensichtlich ist, dass es sich bei der Majorität der publizierten Zuschriften um fingierte Leserbriefe handelt, 18 akzeptiert das Publikum allzu gern die Vorstellung, in eine konkrete literarische Schreib- und Kommunikationssituation involviert zu sein. Durch die fiktive Korrespondenz wird den Rezipienten das Gefühl gegeben, an der Konzeption der Zeitschrift beteiligt zu sein und mit ihren Anliegen gehört werden. Die in den Wochenschriften publizierten Schreiben sind als »Rollenangebot für den realen Leser zu verstehen. Identifiziert der sich mit dieser Rolle, so gewinnt er die Illusion einer fast gleichberechtigten, egalitären, nahezu dialogischen Kommunikation.« 19 Diese Fiktion wird à la longue normkonstitutiv, da sie von den Leserinnen als Ausweis und Möglich- <?page no="228"?> 228 Nina Birkner / York-Gothart Mix 20 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 25. 21 Kirstein: Marianne Ehrmann, S. 152. 22 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 50. keit eines distinkten kulturellen Habitus begriffen wird. Mit dieser Binnendifferenzierung des Publikums werden Wunsch- und Gegenbilder, wird aber auch der Illusionscharakter einer konsistenten Öffentlichkeit offenbar. Der fiktive Briefwechsel suggeriert mit seinem Bekenntnis- und Appellcharakter eine sympathetische Beziehung zwischen Rezipienten und Produzenten und verwischt, dass Lesen de facto divergentes soziales Handeln ist: in den distinkten Usancen der Praxis und den unterschiedlichen Wirkungen, die das Publikum zum Subjekt und Objekt der Lektüre machen. Einige Wochenschriften stellen schließlich, wie das Wiener Blatt Die Meinungen der Babet (1774), angesichts des Wandels weiblicher Leseinteressen die präskriptiven Normen traditioneller Aufklärungsdidaxe in Frage und propagieren eine konsequente Individualisierung der Lektüre. Ab 1760 entstehen mehrere Journale, die sich nicht mehr wie die traditionellen Wochenschriften an ein gemischtes Publikum, sondern an »Frauen der höheren Stände« 20 wenden, um das traditionelle prodesse et delectare genderspezifisch zu konturieren. Zu den wichtigsten Unternehmungen dieser Orientierung zählt die von Jacobi 1774-1776 herausgegebene Iris. Die Zeitschrift bringt literaturtheoretische Abhandlungen, belletristische Texte, Gedichte, Lektürehinweise und nicht zuletzt die von La Roche verfassten Frauenzimmer-Briefe - ein Dialog mit den Leserinnen wird aber nicht gesucht. Das Gleiche gilt für die von Christian Jakob Zahn bei Johann Friedrich Cotta publizierte Flora (1793-1803). Auch hier werden Zuschriften »nicht veröffentlicht und kaum erwähnt«. 21 Im Gegensatz zu Jacobi und Zahn rekurriert Ernestine Hofmann mit ihrem 1779 anonym publizierten Periodikum Für Hamburgs Töchter auf das dialogische Prinzip der Wochenschriften. Anstatt aber ein weibliches Pseudonym zu wählen, versteckt sie sich hinter der fiktiven Verfasserfigur eines »tugendstrenge[n] und etwas humorlose[n], jedoch den Frauen wohlgesonnene[n] Greises«, 22 um mit ihren Leserinnen zu kommunizieren. Diese jede Erotik negierende, an die Tradition des Hausvaters erinnernde und zur Galanterie des französischen Salons kontrastive Maskierung sollte offenbar mögliche Argumente gegen eine Aufhebung der autoritativen Lektüretradition entkräften. Wie Hofmann gibt sich auch Hezel nicht als Autorin zu erkennen. Die Herausgeberin des Wochenblatts für’s Schöne Geschlecht übernimmt den durch Leopold Friedrich Günther von Goeckingks Lieder zweier Liebenden kommunen Decknamen Nantchen, ist aber weniger an der Mitarbeit der weiblichen Leserschaft interessiert, sondern präsentiert »fast ausschließlich <?page no="229"?> 229 Dialogizität als mediale Innovation? 23 Ebd., S. 67. 24 Pomona, 1783, Repr. Bd. 1, S. 3. 25 Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 158. 26 Pomona, 1783, Repr. Bd. 2, S. 810. 27 Vgl. Mix: Medien für Frauen, S. 49. Sachartikel, wenn auch überwiegend zu schöngeistigen Themen.« 23 Mit dem Rekurs auf Goeckingks publikumswirksame Mystifikation weiblicher Autorschaft, die von vielen zeitgenössischen Almanachleserinnen für bare Münze genommen wird, übernimmt Hezel ein etabliertes Erfolgsmuster. Als La Roche fünf Jahre später das erste Heft der Pomona publiziert, ist sie die erste Frau, die sich zu ihrer Redaktortätigkeit bekennt. Sie setzt ihren Namen auf das Titelblatt ihrer Zeitschrift, versucht nicht, gängige Erfolgsrezepte zu adaptieren, sondern markiert gegenüber ihrer männlichen Konkurrenz eine Differenzqualität, wenn sie konstatiert: Das Magazin für Frauenzimmer und das Jahrbuch der Denkwürdigkeiten für das schöne Geschlecht - zeigen meinen Leserinnen, was teutsche Männer für nützlich und gefällig achten. Pomona - wird Ihnen sagen, was ich als Frau dafür halte. 24 In ihrer Zeitschrift fordert sie ihre Leserinnen dezidiert zu aktiver Mitarbeit auf, Zuschriften sollen abgedruckt und ausführlich beantwortet werden. Der phatische Dialog zwischen der Herausgeberin und ihrem weiblichen Publikum transplantiert die von den Wochenschriften vorgegebene Leserkommunikation aus der Gegenwelt in die Alltäglichkeit, verzichtet auf Maskierungen und literarischen Transvestismus und konterkariert die Galanterie der Konversationskunst sowie den formelhaften Stil der ars dictaminis. I.2 Leseransprachen in der Pomona als distinktive Verständigungshandlung Im Gegensatz zu den anonymen Verfassern der Wochenschriften, die mit einem fiktiven Publikum Fragen von »allgemeinem Interesse« 25 erörtern, betont La Roche, als »wahr[e]« 26 Ansprechpartnerin für private Anliegen und Wünsche der Leserinnen zur Verfügung zu stehen. Während die Autoren der Wochenschriften rhetorisch simulieren, en famille zu sein, etabliert La Roche eine empathische Kommunikation, indem sie den phatischen Dialog mit ihren Leserinnen sucht und diese Intention in ihrer publizistischen Praxis erkennbar verifiziert. Dieses Vorhaben wirkt vor dem Hintergrund des epochalen Erfolgs der Musenalmanache, die ja eine Einbindung des Publikums vorzuführen scheinen, glaubwürdig und zukunftsträchtig. 27 Auch konventionelle Rubriken, wie die von den Wochenschriften meist mit dürrer <?page no="230"?> 230 Nina Birkner / York-Gothart Mix 28 Pomona, 1783, Repr. Bd. 1, S. 317. 29 Ebd., 1783, Repr. Bd. 2, S. 1102. 30 Ebd., 1783, Repr. Bd. 1, S. 4. 31 Ebd., 1783, Repr. Bd. 2, S. 810. Didaxe propagierten Leseempfehlungen, versucht sie zu individualisieren und ihrem persönlichen Schreibkonzept zu unterwerfen. Die Diskrepanz zwischen Jacobis Iris und La Roches Pomona ist auch hier kommunikationsästhetisch unübersehbar. Im Gegensatz zur traditionell präskriptiven Praxis favorisiert La Roche im 5. Heft der Pomona 1783 unter der Überschrift Ueber meine Bücher eine auf Selbstdenken beruhende, eigenverantwortliche Lektüre und verweist ihre Leserinnen summarisch auf allgemeinbildende Bücher der Sparten Religion, Naturlehre, alte und neue Geschichte, Moraldidaxe sowie auf anspruchsvolle Gedichte, Romane und Reisebeschreibungen. Bei Bedarf empfiehlt sie, Väter, Brüder und Freunde um Rat zu fragen. Die Iris ist hingegen viel stärker dem traditionell autoritativen Interaktionsmodell der Lesepädagogik verpflichtet. Im 4. Band der Iris plädiert Jacobi in einem Beitrag mit dem Titel Zur Damenbibliothek dafür, aus moralisch fragwürdigen, zu gelehrt oder zu dunkel angesehenen Schriften bestenfalls unbedenkliche und leicht verständliche Auszüge mitzuteilen. Der begrenzte Erfolg von Jacobis Iris beim weiblichen Publikum und die entsprechenden Anspielungen La Roches in der An meine Leserinnen überschriebenen Vorrede zur Pomona verweisen auf die Dynamik und Differenzierung weiblicher Lektüreinteressen. Ihren Erfahrungsschatz als Mitarbeiterin der Iris nutzend, veröffentlicht La Roche mit der Pomona eine konzeptionell distinkte Zeitschrift, die diesem Erwartungshorizont mit emanzipatorischem Impetus und ihrer tendenziell egalitären Dialogstruktur entgegenkommt. Sie fordert ihre Leserinnen auf, Briefe nicht anonym einzusenden, sondern sie namentlich zu unterzeichnen, weil es »so angenehm« sei, »zu wissen, wer uns wohl will«. 28 Dennoch spielt auch die Anonymität in der Pomona eine nicht zu übersehende Rolle. Vigilande, eine möglicherweise fiktive Leserin, wird von der Herausgeberin aufgefordert, sie in der Pfalz zu besuchen und einer anderen kündigt sie an, sie auf ihrer nächsten Reise kennen lernen zu wollen, um nicht mehr mit »eine[r] artige[n] Maske« 29 reden zu müssen. Regelmäßig beschwört sie ihre Rezipientinnen, ihr mitzuteilen, was sie sich von der »Pomona wünschen« 30 und ob sie mit der Zeitschrift »zufrieden« 31 seien. Ganz gleich, ob es sich hier um einen fiktiven oder realen Dialog handelt, in der Regel steht nicht der gelehrt-distanzierte Diskurs, sondern das phatische Moment im Vordergrund. Um ihren Leserinnen die Scheu zu nehmen, an die Öffentlichkeit zu treten, macht die Herausgeberin sich selbst zum Gegenstand der Narration: Sie redet über ihren Alltag, ihre Biographie und ihre Interessen. Wiederholt <?page no="231"?> 231 Dialogizität als mediale Innovation? 32 Vgl. ebd., S. 623. 33 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 374. 34 Pomona, 1783, Repr. Bd. 1, S. 14. 35 Ebd., S. 15. 36 Ebd., S. 13-15. 37 Ebd., 1783, Repr. Bd. 2, S. 844. 38 Ebd., S. 997. 39 Ebd., 1784, Repr. Bd. 4, S. 738. 40 Ebd., S. 867; S. 665-666. erklärt sie, eine ihr unbekannte Schreiberin habe sie nach ihren Lebensumständen gefragt, etwa danach, wie ihr Zimmer eingerichtet sei, welche Lektüre sie empfehle oder was sie in den letzten Monaten am meisten geschmerzt und gefreut habe. 32 Diese vermutlich fingierte Figurenrede liefert La Roche »nicht nur Anlässe, sondern […] auch eine Legitimation, sich persönlich zu exponieren und zum Beispiel detailliert ihren Tagesablauf zu schildern.« 33 Gleichzeitig gelingt es ihr mit diesem Kunstgriff, die Diskrepanz zwischen der Schriftstellerin als empirischer Person und ihrer Repräsentanz im Text sowie die Divergenz zwischen der realen und imaginierten Leserin einzuebnen. Konsequent präsentiert sich die Herausgeberin in ihren Erzählungen und Briefen als lebenserfahrene, mütterliche Freundin, als »Großmamma«, 34 die danach strebt, ihren Leserinnen - wie ihrer Nichte ›Lina‹ - eine »Menge nüzlicher und angenehmer Kenntnisse« 35 zu vermitteln. So wie andere zeitgenössische Frauenzeitschriften will auch Pomona nicht ihre Leserinnen zu gelehrten 36 Frauen erziehen, sondern das erworbene Wissen soll dazu dienen, »die beste Mutter, die beste Wirthin und beste Gesellschafterin ihres Mannes« 37 zu sein. In ihrer selbst gewählten Rolle als gütige, aber auch strenge Erzieherin von Teutschlands Töchtern wird die Herausgeberin von ihrem Publikum akzeptiert und geschätzt. Die Leserinnen der Pomona gerieren sich in ihren Zuschriften als gelehrige Schülerinnen, die sich an die als »theureste Mutter« 38 titulierte Herausgeberin wenden, um Beiträge zu kommentieren, Lesewünsche mitzuteilen, Fragen der Moral zu erörtern oder Ratschläge und Lebenshilfe einzuholen. So geht es beispielsweise um Probleme der Kindererziehung oder um Empfehlungen zum »muntern Zeitvertreib […], ohne immer zu lesen, oder zu singen! « 39 Der Herausgeberin wird aber auch zugetraut, beantworten zu können, ob »alle Tugenden in gleichem Maaß mit einander verwandt« sind, welches »die beste[n] Mittel« sind, »die Menschen kennen zu lernen« oder auf welche Weise »Vernunft und Empfindung in gleichem Grad und Verhältniß kultivirt werden« 40 können. Bereitwillig gibt La Roche Auskunft. Dabei lobt sie die Leserinnen, die den Habitus der empfindsamen Frau pflegen und tadelt die, die gegen die Gebote weiblicher Moral verstoßen. So rügt sie eine Witwe dafür, einen sie liebenden Mann »in Ungewißheit zu <?page no="232"?> 232 Nina Birkner / York-Gothart Mix 41 Ebd., 1783, Repr. Bd. 2, S. 1106. 42 Ebd., S. 816. 43 Nenon: Autorschaft und Frauenbildung, S. 136. 44 Pomona, 1784, Repr. Bd. 3, S. 190. 45 Albrecht: Aufgeklärte Empfindsamkeit, S. 175. 46 Vgl. Pomona, 1784, Repr. Bd. 3, S. 118. 47 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 228. 48 Vgl. Pomona, 1783, Repr. Bd. 2, S. 1111. 49 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 231. lassen, oder eine halbe Hofnung zu nähren, nur daß die Eigenliebe einen Verehrer mehr um sich sehe«, 41 oder weist eine Leserin für ihre Spottlust zurecht, für La Roche »eine gefährliche Eigenschaft, die am Ende ihrem Besitzer mehr als den Fremden schadet«. 42 Die Akzeptanz dieser auf aufklärerischer Pflichtethik und Tugendempfindsamkeit beruhenden Didaxe kommt auch in der besonderen Wertschätzung des Publikums für ihre Briefe an Lina zum Ausdruck. Die Zuschriften vermitteln den Eindruck, dass sich das weibliche Lesepublikum mit der Figur des tugendhaften Mädchens identifiziert und sich an den von der Schriftstellerin proklamierten »Erziehungsprinzipien zur Hausfrau, Gattin und Mutter« 43 orientiert. Nicht nur eine Leserin bekennt, durch Lina »alles dasjenige« gelernt zu haben, was sie auf ihrer »Laufbahn« 44 braucht. Dieses stilisierte Autorbild und die Fragwürdigkeit der phatischen Dialogstruktur werden der Herausgeberin allerdings selbst zum Problem. Um das Idealbild der mütterlichen Freundin und Erzieherin partiell zu konterkarieren, erfindet die Herausgeberin im zehnten Heft der Pomona die Figur der Karoline, die als »kritisch-satirisches Komplement« 45 fungiert. Diese junge Mutter wird als »lebhafter Kopf« beschrieben, die »in ihrer Jugend […] an das Satyrische gewöhnt« worden ist, »so daß ihre Bemerkungen […] noch immer zu viel Bittersalz in sich fassen.« 46 Durch die fiktive Figur ist La Roche in der Lage, einen divergenten Ton in die Zeitschrift zu bringen. Außerdem kann sie Karoline Ansichten vertreten lassen, die sie selbst in ihrer Rolle als lebenstüchtige Ratgeberin nicht proklamieren kann. Während sie selbst etwa »immer wieder großen Respekt vor gebildeten Männern bekundet[]«, lässt sie Karoline »deren Bildungsdünkel und Überheblichkeit entlarven.« 47 Von La Roche wird Karoline als zu belehrende Schülerin, als Freundin von Lina und als Mitarbeiterin der Pomona vorgeführt. Auch in den Dialog mit den Leserinnen wird sie miteinbezogen. 48 Da die Herausgeberin ihre Figur mit ihr, mit Lina und den Rezipientinnen ihrer Zeitschrift kommunizieren lässt, entsteht »der Eindruck gemeinsam lernender und sich gegenseitig anregender und belehrender Frauen.« 49 Indem La Roche vorgibt, sich an den Wünschen und Bedürfnissen ihrer fiktiven Freundinnen zu orientieren, vermittelt sie ihren Leserinnen das <?page no="233"?> 233 Dialogizität als mediale Innovation? 50 Pomona, 1783, Repr. Bd. 2, S. 1015. 51 Ebd., S. 831. 52 Ebd., S. 1206. 53 Ebd., 1784, Repr. Bd. 3, S. 567. 54 Vgl. ebd., 1784, Repr. Bd. 4, S. 730-732. Gefühl, auf die Konzeption der Zeitschrift bestimmenden Einfluss nehmen zu können. Diese Positionierung bestimmt ihre Leseransprachen. Als eine Einsenderin bemängelt, dass sie eingegangene Briefe nur in Auszügen abdruckt, versichert sie ihr: »[I]ch hatte Männer um mich, die es nicht haben wollten, daß sie gedruckt würden. […] doch will ich Ihnen von nun an folgen, und Briefe einrücken, wie sie kommen.« 50 Immer wieder demonstriert La Roche, dass sie die Wünsche ihrer Leserinnen berücksichtigt, so auch im neunten Heft des ersten Jahrgangs, in dem sie berichtet, dass Freunde sie darauf hingewiesen hätten, dass die Ausschnitte aus Thomsons Jahreszeiten für Frauen ungeeignet seien. Daher erklärt sie zunächst, diese Texte zukünftig nicht mehr zu publizieren: »Denn da es von der Natur und den Gesetzen verordnet ist, daß wir den Männern gefallen sollen, so ist ja gut, wenn wir wissen, was ihnen am liebsten ist.« 51 Als sich aber in der Folge mehrere Frauen beklagen, dass die Herausgeberin »den unartigen Männern gefolgt« sei und ihnen »durch Weglassung der Poesie Thomsons viel, sehr viel Vergnügen entzogen« 52 habe, entschuldigt sie sich dafür, der »Vorstellung der Männer« 53 nachgegeben zu haben und publiziert im vierten Heft der Zeitschrift erneut eine Erzählung aus James Thomsons Seasons. 54 I.3 Phatische Dialogstruktur und ästhetische Wertung La Roches Verzicht auf eine Herausgeberfiktion und ihre Insistenz, im Rahmen des phatischen Dialogs immer wieder Privates zu fokussieren, ist ein Charakteristikum der Pomona. Das demonstrativ bekundete Interesse am persönlichen Kontakt zum Publikum wird zum Signum dieser Zeitschrift. Für die Positionierung des Journals im literarischen Feld ist die Frage, ob die Korrespondenz real oder fiktiv ist, von sekundärem Interesse, entscheidend ist, dass die Leserinnen dieses mediale Spezifikum und La Roches Selbstdarstellung als Herausgeberin für glaubwürdig erachten. Die Abgrenzung zum eruditen Diskurs und zur formalisierten Konversationskunst ist in diesem Kontext ebenso konstitutiv wie die Favorisierung des durch die zeitgenössische Briefliteratur legitimierten, sympathetisch-familialen Gesprächstons. Die phatische Dialogstruktur erweckt ähnlich wie der persönliche Brief den Eindruck, unmittelbar in die Schreib- und Gesprächssituation involviert zu sein: <?page no="234"?> 234 Nina Birkner / York-Gothart Mix 55 Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 383. 56 Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 158. 57 Vgl. Mix: Die ästhetische Erziehung des Dilettanten, S. 329-330. Sowohl die Leserinnen als auch Sophie von La Roche erwähnten in ihren Schreiben mehrfach private Details, so als läse ein zahlreiches, unbekanntes Publikum mit. Vigilande erweckte zum Beispiel den Anschein, als vertraue sie der Herausgeberin ein Geheimnis an, wenn sie ein Rendezvous mit ihrem Verlobten folgendermaßen schilderte: ›Unter uns! Er gab mir einen Kuß dazu.‹ 55 Diese dem Brief ähnliche Spontaneität und Intimität steht konträr zur Programmatik der Wochenschriften. Analog zum aufklärerischen Freundschaftsdiskurs, der peinlich zwischen allgemeiner Menschenliebe und individueller Freundschaft differenziert, werden in den Wochenschriften nur Briefe publiziert, die von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse sind: Nicht der Einzelne, sondern das gemeinsame Wohl kommt eigentlich zu Worte, - nicht der Privatmann, sondern die bürgerliche Gesellschaft, vertreten durch eine (mit einem Decknamen schon aus dem privaten Bereich herausgerückte) Stimme, spricht in den Briefen […]. 56 Gegenüber diesem Anspruch exemplifiziert Pomona eine dezidiert distinkte Position. La Roches Zeitschrift wird zum autonomen Gesprächsraum einer neuen Lesergruppe, die sich hier findet, darstellt, verständigt und repräsentiert sieht. Das Journal ist Resultat und Aktivposten im Prozess einer Differenzierung und Dynamisierung des Buchmarktes und einer Öffentlichkeit, in der die Diskrepanz zwischen aufklärerischer Geselligkeitskultur und Autonomieästhetik längst manifest ist. Die Abgrenzung zum nüchternen gelehrten Diskurs und die Anbindung der Pomona an die subjektive Erfahrungswelt der Leserinnen engt das Spektrum der Themen und literarischen Genres deutlich ein. Wird von den Vernünftigen Tadlerinnen noch der Anspruch auf generalisierende Weltdeutung erhoben, so gibt La Roches Pomona dieses Ziel mehr und mehr auf. Ungeachtet ihrer enormen Resonanz exemplifiziert die Zeitschrift einen signifikanten Wandel literarischer Werte und Normen. Texte für das weibliche Publikum und vor allem die so genannten Frauenzimmergedichte werden nun zunehmend ambivalent beurteilt und schließlich, wie in Johann Wolfgang Goethes und Friedrich Schillers Schema Über den Dilettantismus, mit literarästhetischer Mediokrität in Verbindung gebracht. 57 Während die von der Gottschedin mitgestaltete Wochenschrift Die Vernünftigen Tadlerinnen unter gattungsspezifischen und thematischen Vorzeichen noch ganz dem akademischen Literaturprogramm ihres Initiators verpflichtet ist, relativieren <?page no="235"?> 235 Dialogizität als mediale Innovation? 58 Vgl. Brandes: Nachwort, S. 18*. 59 Becker-Cantarino: Vorwort zu Sophie von La Roche Mein Schreibetisch, S. 13. 60 Vgl. Langner: Sophie von La Roche - die empfindsame Realistin, S. 98-100. sich diese didaktischen Ambitionen in den späteren Periodika für das weibliche Publikum. Gehört der aktuelle philosophische Diskurs oder die gelehrte Sprach- und Literaturkritik in den führenden frühen Wochenschriften noch zum guten Ton, so treten diese Inhalte schließlich zurück. Kontroverse Kommentare über kanonisierte Autoren, Probleme der ästhetischen Wertung, stilkritische Erörterungen zur Lyrik, poetologische Betrachtungen über den Roman oder dramentheoretische Trauer- und Lustspielkritik sind für auf gehobene Unterhaltung zielende Publikationen kein Thema mehr. Die kaleidoskopische Themenvielfalt 58 wird in der Pomona zugunsten einer genderspezifischen Selbstverständigung zurückgenommen. Der 1782 veröffentlichten Vorankündigung entsprechend, beschränkt sich die Zeitschrift auf moralische Erzählungen, Auszüge aus Werken berühmter Autoren, sangbare Lyrik, Reiseschilderungen und Berichte aus anderen Ländern Europas sowie die Briefe an Lina, die 1785-1787 auch in Buchform erscheinen. Dieser Verzicht auf Universalität dokumentiert sich auch im zweiten Teilband der 1799 erschienenen Selbstdarstellung Mein Schreibetisch: Auf die »zeitgenössischen Autoren der Klassik und beginnenden Romantik« 59 geht La Roche, so Becker- Cantarino, gar nicht ein. Die Fokussierung auf zeittypisch weibliche Lebenszusammenhänge und eine damit verknüpfte zeittypische moralpädagogische Orientierung der Pomona wird zwar in der neueren Forschungsliteratur 60 positiv bewertet, ist aber schon den 1797 in Jena auftretenden, auf geistige und erotische Autonomie insistierenden Frühromantikerinnen kein Vorbild mehr. Im Jenaer Kreis realisiert sich ein distinkter Habitus und intellektueller Horizont, der alle Traditionen und Konventionen konterkariert, interkulturell Sensation macht und das fortsetzt, was in Frankreich bereits Jahrzehnte zuvor in dem als laboratoire charakterisierten Salon von Julie de Lespinasse und des Enzyklopädisten Jean le Rond d’Alembert diskursive Praxis ist und unter den Prämissen der Romantik zum Laboratorium der europäischen Moderne wird. Schluss Im Kontext der von Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und Thomas Hobbes initiierten, von Christian Thomasius und Christian Wolff fortgeführten Diskussion über das ius naturae, in deren Verlauf sich die Lehre vom Natur- <?page no="236"?> 236 Nina Birkner / York-Gothart Mix 61 Vgl. Brandes: Der Wandel des Frauenbildes, S. 62-63. 62 Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte, S. 223. 63 Ebd., S. 222. recht zur rationalen Sozialanthropologie transformiert, postulieren die frühen Moralischen Wochenschriften eine prinzipielle Egalität der Geschlechter, die als gegeben gilt, jedoch aktiv mit den Mitteln einer geschlechtsspezifisch orientierten Aufklärungspädagogik gesichert und befördert werden soll. Umfassender und problemorientierter als Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspiele (1641-1649) oder andere barocke ›Frauenzimmer-Belustigungen‹ propagieren die Wochenschriften der Frühaufklärung ein umfassendes, differenziertes weibliches Bildungsideal, das sich in umfangreichen Lektüreempfehlungen, den Frauenzimmerbibliotheken, und einer bemerkenswerten Themenvielfalt manifestiert. Ausgehend von der Leitidee, dass in allen Menschen dieselbe Weltvernunft wirksam sein kann, führt Gottsched mit der Fiktion einer weiblichen Verfassergemeinschaft seiner Vernünftigen Tadlerinnen einen Weiblichkeitsentwurf in den literarischen Diskurs ein, der den sozialen Realitäten weit vorauseilt und später unter den Vorzeichen der Empfindsamkeit modifiziert und partiell zurückgenommen wird. Die Norm prinzipieller Gleichheit wird durch die Leitvorstellung einer komplementären Geschlechtertypologie relativiert und weicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts differenten, anthropologisch fundierten Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepten, die in Immanuel Kants Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht oder Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur fundiert und schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ein transzendental inspiriertes Frauenbild überführt werden. 61 In der Pomona werden typologische Spezifika, die schon in La Roches empfindsamem Familienroman Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim zentral sind, emanzipatorisch konturiert: so die aufklärerischen Moral- und Erziehungsvorstellungen, die Fokussierung auf die Privatsphäre oder das zeittypische Freundschaftsideal. La Roche profiliert die Briefform zum Medium des phatischen Gesprächs und weiblicher Selbstaussprache. Die Präferenz für den empfindsam grundierten Brief ist allerdings, so Regina Nörtemann, »sowohl Chance als auch Einschränkung«: Die Fixierung der Pomona auf das Private korreliert mit einer inhaltlichen Selbstbeschränkung, das kaleidoskopische »Experimentierfeld« 62 diskursiv dominanter Themen wird von anderen Medien und Autoren besetzt. Mit dem Blick auf die bestimmten Emanzipationsbestrebungen der Frühaufklärung und die entschiedene Unterstützung La Roches durch Wieland und Goethe ist zu analysieren, ob dieses Paradoxon, die »Dialektik des Ausschlusses«, 63 aus der »Herrschaft männlicher Interessen <?page no="237"?> 237 Dialogizität als mediale Innovation? 64 Becker-Cantarino: Nachwort zu Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 392; dies.: Vorwort zu Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch, S. 5. 65 Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte, S. 223. 66 Die ›Dialektik des Ausschlusses‹ manifestiert sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch in La Roches Konzentration auf den brieflichen Dialog. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt der Brief als »das einzig halb private, halb literarische Medium, das den Frauen uneingeschränkt als Kommunikations- und Selbstdarstellungsmittel zugestanden wurde.« (Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 211-212). Indem La Roche die Korrespondenz mit ihren Leserinnen sucht, ermöglicht sie ihnen den »Zugang zur traditionell männlich dominierten Sphäre der Kulturproduktion«. Durch die Konzentration auf die »semiliterarische Textsorte« (Bunzel: Schrift und Leben, S. 166) werden die Schreiberinnen aber zugleich »in die ›Randzone« der Literatur verwiesen […] - in einen gleichsam ›vorästhetischen‹ Raum« (Dotzler: »Seht doch wie Ihr vor Eifer schäumet…«, S. 369). 67 Pomona 1783, Bd. 2, H. 8, S. 726. 68 Vgl. Heyden-Rynsch: Europäische Salons, S. 96-97. und Gesichtspunkte in der deutschen Literatur« 64 resultiert oder auch als »Selbstentwurf« 65 gewertet werden kann. 66 La Roches Klage, »der Teutsche sey gegen die Verdienste seines Weibs nicht so gerecht, als Männer andrer Länder es gegen ihre Weiber wären« 67 verweist zudem auf ein Problem, das bisher noch nicht diskutiert worden ist: die Mehrsprachigkeit der deutschen Aufklärung und ihre genderspezifischen Konsequenzen. Anders als in Frankreich oder Italien spricht ein bedeutender Teil des weiblichen Elitenpublikums im Alten Reich die deutsche Sprache nur mangelhaft oder widerwillig und orientiert sich nach Paris. Der gesamteuropäische Erfolg der alle 14 Tage als Brief verbreiteten Correspondence littéraire des Lebensgefährten der legendären Salonière Louise Florence Pétronille d’Épinay und Schülers von Gottsched, Melchior Grimm, macht das ebenso deutlich wie die Vielzahl der in Berlin, Wien, Gotha, Göttingen, Leipzig oder Lauenburg in französischer Sprache publizierten Journale, Gazetten, Almanache und Kalender. Eine Salonkultur von der interkulturellen, diskursiven Eloquenz der französischen Vorbilder existiert im deutschen Sprachraum nur in Weimar und kann sich auch in wichtigen Zentren wie Berlin aufgrund der persönlichen Präferenzen von Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preußen nicht entfalten. Die Gemeinschaft der Heiligen um Caroline von Hessen-Darmstadt, 68 der La Roche verbunden ist, pflegt jenen subjektiv-empfindsamen Gesprächsstil, der noch in der Pomona im Ansatz erkennbar ist und sich gegen den gelehrten, universalen Diskurs abgrenzt. Die gegenüber Caroline Flachsland geäußerte Kritik Johann Gottfried Herders an den Gepflogenheiten des Darmstädter Kreises markiert diese Differenz. Mit anderen Worten: La Roches Pomona muss sich ihr Publikum erst suchen, deshalb auch die Favorisierung des phatischen Dialogs. Die »Dialektik des Ausschlusses«, das Paradoxon, dass La Roches Pomona die Präsenz des Weiblichen im literarischen Feld fördert und einengt, ist, so <?page no="238"?> 238 Nina Birkner / York-Gothart Mix unsere Schlussthese, ganz wesentlich eine Konsequenz der deutschen Verhältnisse und ihrer intrakulturellen Disparatheit. Die phatische Orientierung der Leseransprachen und Dialoge korreliert mit diesem Problem. <?page no="239"?> 1 Melusine, S. 339. 2 Meise: »Hirnkinder«. 3 Zu dem Begriff vgl. Bachtin: Ästhetik, S. 195: »Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ›Sprachen‹, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale - kompositorische und syntaktische - Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente.« 4 Schreibetisch. Ausführliche Analysen dieses Werkes insbes. bei: Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien, S. 293-343; dies.: »[…] einen sehr genauen Grundriß von meinem Kopf und meinen Neigungen geben.«; S. 214-232; Pelz: Der Schreibetisch, S. 233-246; Becker-Cantarino: »Meine Liebe zu Büchern«, S. 193-198. 5 Vgl. Anm. 1. Helga Meise »[…] die geheime Macht des Kleinen«. 1 Hybridisierung in Sophie von La Roches Mein Schreibetisch und Melusinens Sommer-Abende Geht man davon aus, dass die »hybride Schreibweise«, die La Roche in der Pomona ausbildet, sich auch in ihrem weiteren Werk niederschlägt, 2 liegt es nahe, zwei Werke in Augenschein zu nehmen, die sich auf den ersten Blick als »hybride Gebilde« 3 darstellen, Mein Schreibetisch von 1799 4 und Melusinens Sommer-Abende von 1806 5 . Mein Schreibetisch fällt bereits durch das äußere Erscheinungsbild auf: Der Text der beiden Bände weist keinen in sich geschlossenen Körper auf, sondern Absätze, Einrückungen und wechselnde Schriftarten; unabhängig davon ist der zweite Band in einer im Unterschied zum ersten Band frappant großen Drucktype gedruckt. Der Titel lässt eine Beschreibung erwarten, der Titelzusatz »An Herrn G.R.P. in D.« einen Briefwechsel. Beide Bände rücken, so zeigt sich bei näherem Hinsehen, in einen fortlaufenden Text andere Textsorten ein, Gedichte, Briefe, Auszüge aus anderen Texten, die mehr oder weniger exakt als Zitate ausgegeben sind. Auch Melusinens Sommer-Abende bietet zunächst keinen fortlaufenden Text, sondern voneinander abgesetzte, eigens paginierte und mit Titeln <?page no="240"?> 240 Helga Meise 6 Melusine, S. a2-bv. 7 Ebd., S. [I]-LVI. 8 Ebd., S. [I]. 9 Ebd., S. [1]. 10 Ebd., S. 25-28: »Geschichte eines kleinen Spiels«. 11 Ebd., S. [3]-36. 12 Ebd., S. [1]. 13 Ebd., S. 16-17, 23. 14 Dazu auch Heidenreich: Sophie von La Roche - eine Werkbiographie, S. 266-272. 15 Melusine, S. 37-341. 16 Ebd., S. 24. 17 Sgard: Journale, S. 4. 18 Meise: »Hirnkinder«. versehene Textblöcke. Zum einen sind das acht Seiten umfassende Vorwort des Herausgebers 6 und der Aufsatz über mein Leben, 7 den die Verfasserin »an Melusine« adressiert, 8 den mit einem eigenen Titelblatt gekennzeichneten Sommer-Abenden vorgeschaltet, 9 zum anderen geht eine Vorgeschichte mit einer eingelagerten »Geschichte« 10 voraus, in der die Verfasserin auf zwei Briefe Melusinens von Planberg antwortet, sie als Briefpartnerin vorstellt und ihre Beziehung zu ihr und ihrem Oheim erläutert. 11 Melusine, die als Tochter ihrer früh verstorbenen Freundin von deren Bruder auf dessen Landsitz erzogen wird, ist auch ihr Gegenüber in den nun folgenden Sommer-Abenden. Unter der Überschrift »Betrachtungen in dem Gebiete der Geographie« 12 nimmt die Verfasserin Melusine in insgesamt 27 Kapiteln zur Beschäftigung an »Sommer-Abenden« 13 auf eine Reise mit, die beide am Leitfaden von Bernardin de Saint-Pierres (1737-1814) Etudes de la nature (1784) 14 im Zeichen der Erinnerung an die Verstorbene in verschiedene Erdteile führt: 15 Ich folgte dem Fingerzeig Ihrer Frau Mutter, und versuchte den Auszug eines Reiseplans. Diesen habe ich noch, wie ihn die beste und liebreich klügste Frau billigte, weil sie den Umfang und den Ton des Wissens eines Frauenzimmers darin zu sehen glaubte, welche bestimmt sey, wohl unterrichtete Mutter, und gute Gesellschafterin eines vernünftigen Mannes zu werden. Sagen Sie dieses Ihrem Onkel, liebes Kind, und wenn er und Sie es wünschen, suche ich meine weit zurückliegenden Papiere wieder vor, und Sie legen Ihre Charten und geographischen Bücher zur Hand. 16 Sowohl der Schreibetisch als auch Melusine sind wie schon die Pomona unabgeschlossen: Beide Texte greifen auf die offene Struktur des ›Journals‹ zurück, nicht aber auf dessen »Periodizität und Aktualitätsbezug«. 17 Gleichwohl knüpfen sie an das alte Werk an. Da ist zum einen die Verwendung des Begriffes »Blätter« für das Gebotene. Der Terminus, der in der Pomona den Gattungswechsel vom Roman zum Journal explizit ausstellt, 18 zieht sich wie ein roter Faden durch die beiden Werke. Indifferent gegenüber dem, was auf <?page no="241"?> 241 »[…] die geheime Macht des Kleinen« 19 Pomona 1783, H. 3, S. 227-250. 20 Schreibetisch, Bd.1, S. 3. 21 Ebd., S. 6. 22 Ebd., S. [1]. 23 Schreibetisch, Bd. 1, S. 19; Schreibetisch, Bd. 2, S. 59. 24 Pomona, 1783, H. 1, S. A2. 25 Schreibetisch, Bd. 1, S. 4. 26 Ebd., S. [1]. 27 Schreibetisch, Bd. 1, S. 7. 28 Ebd. dem einzelnen »Blatt« verzeichnet ist, dient der Begriff der Bezeichnung der einzelnen Textblöcke, unterläuft jede Frage nach deren Gattungszugehörigkeit und erlaubt nicht nur die unendliche Ausweitung der beiden Werke, sondern auch die beliebige Zusammenstellung in ihrem Inneren. Da ist zum anderen die Wiederaufnahme einzelner Themen, insbesondere das der intellektuellen Entwicklung der Verfasserin selbst, erstmals aufgegriffen in der Pomona in der Beschreibung ihres »Zimmers«. 19 Der Schreibetisch und der Aufsatz über mein Leben verschränken aufs neue Selbstdarstellung und Selbstreferentialität, Autobiographie und Autorschaft. Da ist sodann das moralisch-didaktische Dispositiv, das die Texte ins Werk setzen: Die »aufrichtige Beschreibung« des Schreibtisches, die dem Briefpartner alle dort befindlichen »Bücher und Papiere« 20 vorführen soll, 21 steht, wie die Verfasserin regelmäßig in Erinnerung ruft, in unmittelbaren Zusammenhang mit den »Lehrstunden«, 22 die sie auf dieser Grundlage den drei bei ihr lebenden und ihrer Erziehung unterstellten Enkelinnen zu erteilen vermag. 23 Ihr lehrhafter Austausch mit Melusine findet mit deren Heirat zwar ein Ende, bleibt aber virulent, wendet diese doch die erworbenen Kenntnisse in ihrem neuen Lebensstand auf vielfache Weise an, unter anderem auch in Form der Unterweisung der Landbevölkerung. Anders als in der Pomona aber erfasst das moralisch-didaktische Dispositiv hier auch das Schreiben der Verfasserin. Hatte ihr Journal programmatisch verkündet: »Pomona wird Ihnen sagen was ich als Frau [den Frauen für nützlich und gefällig] halte […]«, 24 hatte sie die Redaktion der Beiträge ausschließlich selbst verantwortet, so unterstellt die Verfasserin nun von Beginn an ihr Schreiben nicht nur dem »Wunsch«, 25 sondern auch der Kontrolle eines Mannes. Gleich im ersten Satz des Schreibetisch ist von den »forschenden Blicken des scharfsehenden Auges« 26 ihres Adressaten die Rede. Der mit ihm eingegangene Schreibpakt ist allgegenwärtig: Das »Versprechen, alles ohne Rückhaltung und Veränderung anzuzeigen, machte mich unruhig«, 27 die Sorge, »dem mit großen, ernsten Gegenständen beschäftigten Mann [zu, H.M.] missfallen«, 28 führt kontinuierlich zu Gesten der Unterwerfung. Auch in Melusine ist die Autorität des Mannes von Beginn an omni- <?page no="242"?> 242 Helga Meise 29 Melusine, S. 281. Das System der Überwachung ist in den Briefen an Lina bereits vorgebildet. Vgl. die ersten 24 Briefe in Pomona, 1783, H. 1-4, dann auch separat publiziert: Sophie von La Roche: Briefe an Lina, ein Buch für junge Frauenzimmer, die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen. Erster Band: Lina als Mädchen. Speyer: Enderes, 1785; dies.: Lina als Mutter. 2 Bde. Leipzig: Gräff, 1795-1797. Reprint: Eschborn 1994. 30 Schreibetisch, Bd. 2, S. 464-465. 31 Melusine, S. 224-225. präsent, zunächst in der Figur Wielands, der als Herausgeber auftritt, dann in der des Oheims. Dieser wacht nicht nur über seine Nichte, sondern auch über die Verfasserin: Er folgt den zwischen ihnen hin- und hergehenden »Blättern« genau, bis hin zum »Nachlesen« der von der Verfasserin angefertigten Textauszüge. 29 Schreiben, Lesen und Sammeln und moralisch-didaktisches Dispositiv durchdringen sich immer schon gegenseitig. Rückblickend heißt es am Ende des Schreibetisches: Also in dem enge Raume alles, was den höchsten Glanz und Nutzbarkeit über Jahrhunderte verbreitet, alles, was Glück und Würde der menschlichen Seele bezeichnet, und im Großen und Kleinen alle Wunder und Schönheiten der physischen Welt bekannt macht. Oft schon stand ich mit erhabenem Blicke und Händen vor dieser Sammlung [ihrer Bücher, H.M.], indem ich mir sagte: Alle Tugend und Weisheit der Menschen, alle Auftritte und Erscheinungen in der moralischen und physischen Welt sind hier vor mir! Und dann Gott dankte, daß er, der Allgütige, mir diese Bücher, und meinem Auge die Wohlthat des nahen und fernen Sehens erhielt. Ich kann hier stündlich mich belehren, an schöner Aussicht über seine wohlthätige Erde mich erquicken, und an Kunstwerken meiner Nebenmenschen mich ergötzen. 30 Auch bei Melusine bedankt die Verfasserin sich, und zwar […] für Ihren Wunsch, Ihnen meine Sommerabende zu schenken! Sie haben dadurch mir selbst einen großen Dienst geleistet. Denn ob ich schon Bernardin mehr als einmal gelesen, so habe ich doch um Ihrentwillen mich viel genauer nach Allem umgesehen und tausend neue Kenntnisse von Schönheiten und Wundern der Natur und Eigenschaften aller Wesen der Erde erworben, die für eine gefühlvolle Seele immer neue Quellen reiner und wahrer Vergnügen sind, und die ich, ohngeachtet meines Alters und der Art von Einsamkeit, in welcher ich lebe, sehr oft zu verdoppeln weiß, indem ich manchmal einer Idee, einem Worte oder einer Pflanze, die ich in Bernardin finde, […] auf dem Fuße nachgehe, um die erstere ganz zu fassen, und zu wissen, ob das zweite nicht noch eine Bedeutung habe, und auf wie vielerlei Weise diese oder jene nützliche Pflanze, die mir vorzüglich werth wurde, in andern fernen Landen nach allen ihren Eigenschaften bekannt und gebraucht werde. 31 <?page no="243"?> 243 »[…] die geheime Macht des Kleinen« 32 Schreibetisch, Bd. 1, S. 28, 32, 52, 63, 78. 33 Bamberg: Souvenir. 34 Vgl. Ebd. 35 Schreibetisch, Bd. 1, S. [1-2]. 36 Ebd., S. 3. 37 Ebd., S. 6. 38 Ebd., S. 18-19. 39 Ebd., S. 20. 40 Ebd., S. 27. Beide Werke sind, so ist gleichwohl festzuhalten, ›offene‹, keiner Gattung zugehörige Texte. Kenntlich ist allein ein Strukturprinzip, das der Sammlung, der Zusammenstellung von Verschiedenem, von Heterogenem, das die Kunst- und Naturalienkabinette seit dem 16. Jahrhundert aufweisen, eine Tradition, die die Verfasserin selbst mehrfach aufruft. 32 Claudia Bamberg hat erstmals die Bedeutung, die das Sammeln von Andenken, Souvenirs und Reliquien für Sophie von La Roche hatte, systematisch herausgearbeitet. 33 Der Schreibetisch und Melusine, so meine These, setzen diese Bedeutung in Text, als Text um. Beide Werke zeigen das Sammeln im Vollzug und als kulturelle Praktik, die mit anderen kulturellen Praktiken gekoppelt ist. Was entsteht, sind »hybride Gebilde«, unfeste Texte, die sowohl in Inhalt und Form wie in Gebrauch und Bedeutung offen bleiben. Geht man durch, was wie und zu welchem Zweck ›gesammelt‹, das heißt ›gemischt‹ wird, ist die Hybridisierung der beiden Werke im einzelnen zu fassen. Sie betrifft Inhalt, Form und Schreibweise. I. Festzuhalten ist zunächst die unterschiedliche Natur des ›Gemischten‹. Da sind zum einen die Objekte als solche, Bücher, Bilder und Erinnerungsstücke unterschiedlicher Ordnung. 34 Der Schreibetisch will getreu wiedergeben, was sich in dem »kleinen Stübchen« befindet, »[…] welches meinen Schreibetisch, einige Lieblingsbücher und Bilder faßt.« 35 Die Verfasserin schreitet das auf »diesem Tisch und der an ihn stoßenden Fenstermauer« 36 »verbreitete Gemisch«, so sie selbst, von »Papieren und Büchern« 37 ab. Während das eigentliche Zentrum der Sammlung, die Enzyklopädie, Buffon und Wieland sowie fünf weitere Werke, erst am Schluss enthüllt wird, treten nacheinander gemäß ihrer Platzierung verschiedene Textbündel in den Blick. Zunächst, auf einem von der Verfasserin selbst angebrachten Aufsatz, 38 Textauszüge aus dem Englischen sowie eine Ausgabe eines »alten Ladys Magazin« 39 , »indem wirklich vielerley Gattungen Papiere […] versammelt sind«, 40 darunter Listen <?page no="244"?> 244 Helga Meise 41 Ebd., S. 28-31. 42 Ebd., S. 32-33. 43 Ebd., S. 49-50. 44 Ebd., S. 168-212. 45 Ebd., S. 212. 46 Ebd., S. 231. 47 Ebd., S. 227 ff. 48 Ebd., S. 334 ff. 49 Schreibetisch, Bd. 2, S. [1]-55. 50 Ebd., S. 56-108. 51 Ebd., S. 117. 52 Ebd., S. 141-364. 53 Ebd., S. 368. 54 Ebd., S. 381, 400. 55 Ebd., S. 433, 452. 56 Ebd., S. 469. 57 Ebd., S. 462. von Gemälden, 41 Briefe und »Lieblingsblätter« 42 berühmter Zeitgenossen, die Passagen aus deren Werken im Original bieten. Es folgt eine »Bilanz der deutschen Dichter, welche in einer Tabelle die Grade des Verdienstes aller Gattungen bestimmt«, 43 sodann Briefe von eigener Hand und der ihrer Kinder, bekannter oder unbekannter Zeitgenossinnen und weitere Auszüge aus zeitgenössischen Schriftstellern. Eine Liste hält fest, welche Bücher sie begehrt, 44 die folgende Aufzählung, welches »Mischmasch« 45 sich neben weiteren englischen Büchern befindet. Die Verzeichnung beantworteter Briefe, 46 vorhandener Gedichte 47 und »französischer Erinnerungen«, 48 wiederum Auszüge aus Schriftstellern, macht die zweite Hälfte des Bandes aus. Der zweite Band weist dieselbe Struktur auf: Er bietet u.a., wiederum der Platzierung folgend, »Auszüge aus englischen Schriften, welche meine Lieblinge sind«, 49 »Auszüge im Deutschen«, 50 die Schulzeugnisse ihrer Söhne 51 sowie Auszüge aus Briefen, wobei die Julie von Bondelis den meisten Raum in Anspruch nehmen. 52 Den Abschluss bildet die Aufzählung ihrer zwar wenige Bücher umfassenden, aber »phantastisch geordneten«, »meinem Schreibetisch nahestehenden Büchersammlung«, 53 nach Fach 54 bzw. Platz »neben meiner Stockuhr auf der Kommode«. 55 Romane und Auszüge aus englischen Wochenschriften, die in einem Eckschrank stehen, werden nicht vorgeführt, 56 wohl aber der Kern ihrer Sammlung, ihre wertvollsten Bücher, die in ihrem »kleinen, nur ein halbes Fenster einnehmenden Kabinett« 57 verwahrt werden: Hier stehen die »ganze Encyklopädie«, die Werke von Buffon, »Rößlers [d.i. Rösel von Rosenhof, H.M.] Insekten=Belustigung«, »Ledermüllers mikroscopische Werke«, der »ganze[…]«, als Botaniker berühmte du Hamel, »Valmont de Bomares Dictionaire de physique«, Sandrarts <?page no="245"?> 245 »[…] die geheime Macht des Kleinen« 58 Ebd., S. 462-464. 59 Schreibetisch, Bd. 1, S. 2. 60 Bamberg: Souvenir. 61 Melusine, S. 17. 62 Ebd., S. 24. 63 Ebd., S. 184. 64 Ebd., S. 205. 65 Bamberg: Souvenir. 66 Schreibetisch, Bd. 2, S. 365-366. acht kunsthistorische Foliobände und die Werke Wielands. 58 Was nebeneinander tritt, sind Bücher und Papiere, Textkonvolute. Listen, die vorhandene Bilder, Gemälde, Porträts oder Zeichnungen inventarisieren, werden ebenso als Texte behandelt wie gesehene und nun beschriebene Gemälde; die, die in ihrem »Stübchen« 59 hängen, werden weder aufgelistet noch beschrieben. »Verschriftlicht«, wie Claudia Bamberg formuliert, 60 der Schreibetisch den eigenen Sammlungsraum, so nimmt Melusine das Sammelwerk Bernardins de Saint-Pierres über die Natur ihrerseits als Basis eines neuerlichen Durchgangs durch die empirische Welt in den Dienst, lagert es aber darüber hinaus als Handlungsraum in eine Fiktion ein. Melusine ist begeistert: »Lehren Sie mich aus Ihren Lieblingsschriftstellern unsterbliche Blumengewinde des Guten und Schönen der moralischen Welt neben Fruchtschnurren des Nützlichen sammeln, und meine Tage damit schmücken.« 61 Melusine legt »Charten und geografische Bücher« 62 bereit. Sie beantwortet die »Blätter« der Verfasserin mit Zeichnungen der Pflanzen, die sie im Zuge ihrer ›Reise‹ kennenlernt. Steter Anlass zum Austausch sind auch echte 63 und vorgestellte Gemälde. 64 Text und Bild treten nebeneinander. Als dritte Art von Objekten schließlich behaupten Erinnerungsstücke, Andenken, Souvenirs sowie »säkularisierte Reliquien« 65 einen festen Platz in Sammlung und Fiktion. In Mein Schreibetisch heißt es unmittelbar im Anschluss an die Nachricht vom Tod Julie von Bondelis: Die Generalin von Sandoz […] theilte ein Band mit mir, welches Julie bey ihrem Tode um den Kopf gebunden hatte, schickte mir einen Ring mit braunen Haaren, und ein Zahnstocherbüchschen, dessen Julie sich täglich bediente. Ich allein, von allen ihren Bekannten und Freunden, besitze ihr Porträt, welches nun mit ihren Briefen in einer schwarzen Brieftasche, neben der eben so viel Trauer anzeigenden Brieftasche mit den Papieren und Zeichnungen meines geliebten Franz liegt. 66 In Melusine bedauert die Verfasserin den Verlust eines Stückes einer Baumwollstaude, den sie »in Versailles von einem Secretair der Ostindischen Gesellschaft« bekommen hatte: <?page no="246"?> 246 Helga Meise 67 Melusine, S. 166. 68 Schreibetisch, Bd. 1, S. 72. 69 Ebd., S. 78. 70 Ebd., S. 158. 71 Schreibetisch, Bd. 2, S. 237. 72 Ebd., S. 141. 73 Schreibetisch, Bd. 1, S. 158. 74 Melusine, S. 115. Ich zeigte es einer Familie, die ich sehr liebte, und wollte es in die Länge mit ihnen theilen; aber es wurde nur das Stück mit dem Splinte abgeschnitten, und mir blieb das Holz, sonst würde ich jetzo meiner Freundin Melusine, meinen Antheil, nebst dem schönen Baumlinnen schicken, welches mir der vortreffliche aber unglückliche Georg Forster schenkte, der mit Cook die Reise um die Welt machte, und viel Baumlinnen aus Otaiti mitbrachte. 67 So wie Texte, Bilder und Erinnerungsstücke permanent zusammentreten, so auch die Praktiken Sammeln, Schreiben und Lesen. Sie sind voneinander abhängig, arbeiten sich gegenseitig zu. Dennoch ist das Schreiben dominant, vermittelt es doch die einzelnen Praktiken miteinander und gewährleistet allein, dass jede von ihnen wahrgenommen wird: Die Verfasserin des Schreibetisches hebt immer wieder hervor, dass die Texte Abschriften von eigener Hand sind. Parallel zur Variation des Begriffes »Blätter« - »Blättchen«, »Lieblingsblatt«, »Denkblatt«, »Läppchen«, »dieses wirklich kleine Stückchen Papiers«, 68 »Makulaturbogen gebügelt« 69 - wird das eigene Schreiben umschrieben und inszeniert, vom »unterstreichen« beim Lesen, dem »Sticken« 70 , dem »kopieren« und »ausziehen« über die »Copie der Copie« 71 bis zum »ausschreiben«, den Verweisen auf den »Gang« 72 und »Erguss meiner Feder«. 73 Lediglich eine Variante entgeht ihr: Der gute Onkel will mir, großmüthig wie ein Engländer - da ich so viel schreibe und abschreibe - eine von den äußerst simplen und wirklich sehr nützlichen Copier=Maschinen, welche Watt erfand, aus England kommen lassen, damit ich noch bei den Sommerabenden ihren Nutzen erproben könnte. Da ich aber nach diesen nichts mehr schreiben werde, als kleine Briefe an gute Freunde; so bleibt mir, bei dem Gefühle des Danks, das Bedauern, diese vortreffliche Maschine zu spät zu kennen. 74 II. Das Schreiben des Schreibens dokumentiert gleichzeitig, wie Objekte und Praktiken gemischt werden. Bildet in der Pomona der empirische Befund beim Blick aus ihrem Fenster den Anstoß für die Beschreibung ihres »Zim- <?page no="247"?> 247 »[…] die geheime Macht des Kleinen« 75 Pomona, 1783, H. 3, S. 228: »Ich sehe den größten Theils dieses Hofs […]«. 76 Schreibetisch, Bd. 1, S. 2. 77 Ebd., S. 27. 78 Melusine, S. XLVII-XLVIII. 79 Schreibetisch, Bd.1, S. 183-184. Gemeint ist vermutlich Adam Wilhelm Franzens 1769 von Büsching herausgegebene Einleitung zur Allgemeinen Weltgeschichte, in welcher von er Geschichte überhaupt, von der mathematischen und historischen Zeitrechnung und von der mathematischen und natürlichen Erdbeschreibung gründlich gehandelt wird. 80 Melusine, S. 93. mers«, 75 ist es im Schreibetisch und in Melusine der Blick auf die sich vor ihr ausbreitenden Objekte. Diese erweisen sich durch Platzierung, ein »gespanntes grünes Band« 76 oder ein »Portefeuille« 77 als immer schon zusammenhängend, als Sammlung. Aber die Verfasserin schreitet das sich ihr darbietende »Stückwerk« 78 nicht allein ab, um dessen Beziehungen im Schreiben nachzuvollziehen, sondern auch, um die Gedanken festzuhalten, die sich bei den Objekten als solchen wie beim Durchgehen überhaupt einstellen. Dabei kommen immer gleiche Praktiken zum Einsatz. Da ist zunächst das Verknüpfen, die mehr oder weniger freie Assoziation. So heißt es in ihrer Bücherwunschliste zu dem Titel Franz und Hermanns allgemeine Weltgeschichte: Diese möchte ich mir gerne ganz anschaffen, weil ich schon Theile davon habe, und Geschichte meiner Vormenschen unendlich gerne lese, wobey ich immer von Zeit zu Zeit berechne und beobachte, ob eine meiner Lieblingsideen bekräftigt oder widerlegt wird; da ich mir gleichsam einen eigenen Faden der Ariadne spann, um mein Nachdenken und Menschenliebe glücklich durch das Labyrinth der alten Geschichte und neuen Auftritte zu leiten, und ihn schon oft beym Ausruhen an den Ausspruch des weisen Salomo anknüpfte: Es geschieht nichts Neues unter der Sonne. 79 Neben dem Vergleich - Mich rührte besonders die Aehnlichkeit der Umstände, in welchen das Gedicht [Glovers Leonidas, 1737, dt.: 1766, H.M.] geschrieben wurde, mit denen, in welchen ich nun die Auszüge daraus mache; da jetzt alle Zeitungen mit Nachrichten von den Anstalten erfüllt sind, welche zu der Zerstörung des glücklichen Albions an Hollands und Frankreichs Küsten aufgehäuft wurden. 80 - sind es die Erinnerung und die Empfindung, die Rührung, die den Übergang von einem Objekt zum anderen herstellen. An Melusine schreibt sie: Ihre schöne Zeichnung der Ueberreste des Sonnentempels zu Balbeck in Syrien machte mir eine trübe Stunde. Die Palmbäume und ihr durch die Sonne gleich stark beherrschtes Vaterland erinnerte Sie an den prächtigen <?page no="248"?> 248 Helga Meise 81 Ebd., S. 58-59. 82 Ebd., S. 128 83 Ebd., S. 63. 84 Ebd., S. 201-206. 85 Ebd., S. 204. 86 Ebd., S. 205-206. Tempel, welchen die Bewohner des fruchtbaren Syrien ihr weiheten; mich erinnerten die Ruinen an das Schicksal der Königin Zenobia von Syrien und ihren schönen, nun auch in Schutt liegenden, Wohnsitz Palmyra. Diese Frau lebte im Jahre 270 […]. 81 Bei jedem Objekt »wandeln« sie Ideen, »Phantasien« »an« denen sie bis ins einzelne nachgeht, so etwa »bei Betrachtung einer Grönländischen Wohnung«. 82 Das Verknüpfen, Vergleichen, Erinnern und Empfinden führt das Sammeln, Schreiben und Lesen weiter; jede Praktik führt zu jeder einzelnen von ihnen zurück und mündet so immer aufs neue ins Belehren und ins Erzählen: »Ihre schöne Zeichnung der Ruinen von Balbek hat mich nach Arabien geführt, weil ich sehen wollte, ob Herr von Bolney [d.i. Volnay, H.M.], und der schätzbare Niebuhr etwas von Palmyra gesagt hätten. Ich borgte Beider Reisebeschreibungen […]«. 83 Die wiederkehrenden Verfahren schlagen sich auch in der Schreibweise als solcher nieder. Wie schon in der Pomona, führt die Abfolge der immer gleichen Praktiken, die im Text sowohl nacheinander wie ineinander fließend abgebildet werden und sich gleichzeitig weiter auffächern, nicht nur zur ›Mischung‹ von Inhalten, sondern auch zu deren permanenter semantischer Übercodierung. Das belegt etwa die im Zuge der Bernardin de Saint-Pierre folgenden Beschreibung des Epheu 84 in eine kleine Erzählung ausufernde Betrachtung über Vergils Leben am Golf von Neapel. Sie führt direkt in das Jahr 1757 sowie zu Angelika Kauffmann, der mehrfach aufgerufenen zeitgenössischen Malerin. Die Verfasserin wünscht sich den Dichter von ihr nicht nur beim Niederschreiben seiner eigenen Grabschrift dargestellt, 85 sondern auch bei seiner Begegnung mit Maecenas und Horaz, um zu folgern: Sollten [beide Gemälde, H.M.] nicht in dem Kabinette eines jeden […] Gelehrten und Künstlers eine Stelle finden? weil dies [nämlich das von ihr selbst imaginierte zweite Gemälde, H.M.] eben so schön ist als eines von Vergils Gedichten und mehr als die achtungswürdige Ruhe des Blicks auf das Grab. 86 III. Abschließend seien zwei Funktionen von Hybridisierung und hybrider Schreibweise hervorgehoben. Da ist zunächst die Indienstnahme für die <?page no="249"?> 249 »[…] die geheime Macht des Kleinen« 87 Schreibetisch, Bd. 2, S. 115. 88 Ebd., S. 115-116. 89 Schreibetisch, Bd. 1, S. 6. 90 Melusine, S. XLIX-XLXX. autobiographische Selbstdarstellung der Verfasserin wie für ihre Legitimation als Autorin, den Anspruch auf Autorschaft im modernen Sinn des Wortes. Beides manifestiert sich in den »Sinnbildern«, 87 die die Verfasserin von sich selbst liefert und als Objekte in Sammlung und Fiktion einrückt. Im Schreibetisch heißt es: Eine in Wasserfarbe gemalte weiße Rose, mit Unterschrift: Sanftes Bild! Du bist, wie die Erinnerung, / Schatten der vorübergegangenen Tage schöner Zeiten. Eine mit Schnee bedeckte Gegend mit einem entblätterten Strauch ohne Blumen, aber auch ohne Dornen, als Sinnbild meines Alters und meines Charakters, wobey der Versuch liegt, welchen ich einst machte, den Inhalt meines Kopfes mit dem Kunst- und Naturalienkabinet eines nicht sehr vermögenden, wißbegierigen Mannes zu vergleichen, welcher nur kleine Stückchen aller Arten Steine, Metalle und Holzarten, Fragmente getrockneter Pflanzen, einige seltene Vögel, Käfer, Papillons und Mücken sammelte. - 88 Der »Versuch« wird nicht weiter ausgeführt, er bleibt Objekt der Sammlung, antwortet aber doch auf den »Wunsch« ihres Gegenüber, »einen sehr genauen Grundriß von meinem Kopf und meinen Neigungen« zu erhalten. 89 Im Aufsatz über mein Leben legt die Verfasserin eben diese Charakteristik gleich zwei von ihr anerkannten männlichen Autoritäten in den Mund: Vielleicht sind Sie, theure Melusine, noch mehr aber Ihr Herr Onkel mit den abgekürzten Stellen meines Lebens nicht zufrieden. Er kennt mich seit den zwanzig Jahren, die ich in seiner Nachbarschaft gelebt, und verglich mich oft im Scherze mit einem Kunst= und Naturalienkabinette, wo viel merkwürdige Stücke sich finden, welche oft geistvollen Kennern angenehme Stunden geben, aber auch beweisen, daß Lavater Recht hatte, als er mich zwischen vier sehr ausgezeichneten Physiognomien mit dem ganz neuen Ausdrucke unterschied: Die verschwebteste. Ich ward über diesen Titel unruhig, und verlangte eine Erklärung, welche mir Lavater dahin gab ›er habe bemerkt, daß ich so ausserordentlich leicht von einem Gegenstande der Unterredung zu einem anderen übergehe.‹ - 90 Die Rede von dem ›Schweben meiner Ideen‹ wird Leitmotiv, steter Verweis auf Hybridisierung und hybride Schreibweise. Auch wenn Sophie von La Roche als Ausgangswie als Fluchtpunkt beider Werke ein moralisch-didaktisches Dispositiv errichtet, das auf der Güte Gottes gründet, wie sie regelmäßig erinnert, verrückt die Hybridisierung alle gängigen Perspektiven. Hybridisierung ist ›Bastarderzeugung‹, und jede <?page no="250"?> 250 Helga Meise 91 Schreibetisch, Bd. 1, S. 1-2. 92 Melusine, S. 339. 93 Ebd., S. 74. 94 Ebd., S. 220. ›Bastarderzeugung‹ verschiebt die Blickrichtung. Die im Laufe eines Lebens entstehende Sammlung von verstreuten Objekten bewahrt deren kontingente wie historisch konkrete Bedeutung: »weil dadurch auch die geringste Sache große Vorzüge erhält«. 91 Erst der Blick auf das Kleine, das Nebensächliche lässt dessen »geheime Macht« 92 hervortreten, die Tatsache, dass »selbst in großen Angelegenheiten Nebensachen und Nebenhände mehr wirken als die wichtigsten Beweggründe«. 93 Die Verfasserin verkehrt den geschlechterpolitischen Aspekt, der mit dem Kleinen verknüpft ist, um nicht nur ihre Sicht der Welt auszustellen, sondern auch deren literarisches und kulturelles Existenzrecht: Denn so werden auch Theile der Gegenstände beobachtet, welche der größere, weit umfassendere Geist der Männer, als zu klein, nicht immer des genauen Bemerkens werth achtet. Freuen wir uns, daß Bernardin das schöne und nützliche Kleine in keinem Wesen übersah, und folgen Sie mir jetzt zu der lieblichen Beschreibung der Verschiedenheit, welche er an Pflanzen auf Höhen und an denen in Thälern, als einen neuen Beweis göttlicher Güte bewundert. 94 <?page no="251"?> 1 Henriette Karoline von Hessen-Darmstadt an Graf Nesselrode, 9.6.1771, zit. n. Bräuning- Oktavio: Die Bibliothek der großen Landgräfin, Sp. 728. 2 Flachsland an Herder, 4.6.1771, in: Herder/ Flachsland: Briefwechsel, Bd. 1, S. 235. 3 Ebd., S. 238-239. Ulrike Leuschner Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck Zwanzig Jahre lang standen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck, der literarisch versierte Kriegsrat an Hof von Hessen-Darmstadt, in einem spannungs- und detailreichen Austausch. Die folgende Vorstellung ihres epistolarischen Verkehrs beruht auf der Edition des Merck-Briefwechsels, die im Oktober 2007 herauskam. Eng verquickt mit den editorischen Problemen von Überlieferung und Texttreue ist die biographische wie literarhistorische Kontextualisierung, die Datierung und Kommentierung oft allererst ermöglicht. Zumal im vorliegenden Fall präsentiert die Überlieferung die Korrespondenz als ›Lückentext‹, der, um das Verhältnis der beiden Briefpartner lesbar zu machen, ergänzender Zeugnisse von außen bedarf. I. Das Zustandekommen der Korrespondenz Am 30. Mai 1771 kam Wieland vom Besuch bei Sophie von La Roche in Koblenz nach Darmstadt, wo er verabredungsgemäß mit Gleim zusammentraf. Einen Tag später hatten die beiden Dichter eine Audienz bei der ›Großen Landgräfin‹ Henriette Karoline, die sich über »Ces gens de lettres« ein wenig mokierte. 1 Im Kreis der ›Darmstädter Empfindsamen‹ reüssierte besonders der zärtliche Gleim, während man sich mit Wieland, der sich bis kurz vor dem Abschied spröde verhielt, schwerer tat. 2 Große Zustimmung jedoch löste ein Buch aus, auf das Wieland nach der Chronik der Ereignisse aufmerksam machte: der erste Band der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, dessen Erscheinen er kurz zuvor bewerkstelligt hatte. Bald nach Wielands Besuch setzt die Lektüre ein. 3 Karoline Flachsland, die ›Psyche‹ im Kreis der Empfindsamen, instrumentalisiert die Rolle der Titelheldin in ihren Briefen an den zaudernden Freund Herder in Bückeburg, der seinerseits mit dem Hinweis, »daß es unglückliche Schritte gebe, die man nachher lebens- <?page no="252"?> 252 Ulrike Leuschner 4 Herder an Flachsland, 22.6.1771, in: Herder: Briefe, Bd. 2, S. 35. 5 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 74. 6 Vgl. Herder: Briefe, Bd. 2, S. 35. 7 La Roche an Wieland, 20.8.1771, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 346-347. 8 Herder/ Flachsland: Briefwechsel, Bd. 1, S. 285. 9 Vgl. Merck an La Roche, 10.9.1771, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 79, S. 254; La Roche an Wieland, 7.9.1771, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 357. 10 La Roche an Wieland, 27.6.1771, ebd., S. 346-347. 11 Merck an (seine Frau) Louise Merck, vor dem 19.4.1772, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 97, S. 311. 12 Ebd., S. 312. 13 Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausg., Bd. 16, S. 592 bzw. S. 595. lang nicht zurückholen könnte«, die Fabel zu eigenen Gunsten auslegt und dem Buch insgesamt höchstes Lob zollt. 4 Johann Heinrich Merck, Karoline Flachslands Nachbar, der den Briefwechsel zwischen den beiden Liebenden besorgt und in die Gespräche eingeweiht ist, wendet sich am 27. Juni 1771 im Namen des Darmstädter Zirkels an die Verfasserin der Sternheim, 5 beruft sich auf den gemeinsamen Freund Franz Michael Leuchsenring und zitiert ausführlich aus Herders Brief an Karoline. 6 Sogar die ›Große Landgräfin‹ interessiert sich für die Verfasserin und lädt sie, knapp zwei Monate nach Wielands Besuch, nach Darmstadt ein. Auch Merck bittet um ihren Besuch; doch bei diesem verstehe es sich gewissermaßen von selbst, wie La Roche an Wieland schreibt. 7 Im Brief an Herder vom 12. August 1771 erwähnt Karoline Flachsland, dass Sophie von La Roche »zu Ende Septembers […] mit ihren 2 Töchtern« nach Darmstadt kommen wolle, 8 was aus Krankheitsgründen jedoch unterblieb. 9 Erst Anfang April des nächsten Jahres lernen Merck und La Roche einander persönlich kennen, als er, von einer Visite mit Goethe am Hof von Hessen-Homburg, die verehrte Autorin in Frankfurt trifft und sie und die Tochter Maximiliane nach Darmstadt geleitet, in das - mit ihren Worten - »Pais des Ames sensibles«. 10 Bei der Bewirtung der Gäste fehlt es an nichts, zu Ehren der »femme du grand monde« 11 wird neues Geschirr angeschafft, das Zimmer des Hausherren wird für sie eingerichtet und vorsorglich wird »ce maudit mauvais tableau de cette Susanne nue« abgehängt, da es ihren Geschmack verletzten könnte. 12 Im September stattet Merck mit Frau und Sohn einen Gegenbesuch in Koblenz ab. Goethe und Leuchsenring hatten sich bereits eingefunden, und der »Kongreß […] teils im artistischen, teils im empfindsamen Sinne« sowie die sich spontan anbahnenden »Wahlverwandtschaften« zwischen Louise Merck und Sophie von La Roche einerseits und Merck und Georg Michael Frank von La Roche andererseits fanden die bekannte Schilderung in Dichtung und Wahrheit. 13 <?page no="253"?> 253 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 14 Handschrift Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, Sign. GSA 56/ 48. 15 Vgl. Bräuning-Oktavio: Aus Briefen J.H. Mercks an Sophie von La Roche, S. 298. 16 Ebd. 17 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 79, 82, 88, 94, 95, 130. 18 La Roche an Wieland, 20.8.1771, in: Seiffert (Hrsg.): Wielands Briefwechsel, Bd. 4, S. 346. 19 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 74, 76. II. Die Überlieferung Die derzeit bekannte Korrespondenz zwischen Merck und Sophie von La Roche umfasst 28 Briefe, wobei die 13 Briefe von Merck sämtlich aus den ersten fünf Jahren 1771 bis 1775 stammen. Die Überlieferungslage ist problematisch; sind Mercks Briefe doch nur in Abschriften erhalten, die Leopold Friedrich von Goeckingk 1819/ 20 im Zuge einer geplanten, jedoch nicht realisierten Ausgabe anfertigte. 14 Der Standort der Originale, die 1878 noch vorhanden waren, 15 ist derzeit nicht bekannt, wie überhaupt ein systematisches Verzeichnis des Nachlasses von La Roche als Desiderat anzumahnen wäre. Auch wenn, wie Hermann Bräuning-Oktavio 1957 im Goethe-Jahrbuch nachgewiesen hat, hinsichtlich einzelner Textstellen Übereinstimmungen mit anderen Drucken bestehen und den Abschriften deswegen eine relative Glaubwürdigkeit zukommt, 16 bleibt der Befund, dass Goeckingk mit dem Material höchst souverän verfuhr: Zahlreiche Auslassungszeichen lassen erkennen, dass es sich letztlich nur um Auszüge handelt; 17 der doppelte Gedankenstrich, der in Goeckingks Abschrift gehäuft auftaucht, gehört, anders als bei vielen zeitgenössischen Schreibern, darunter auch La Roche, nicht zu den Schreibgewohnheiten Mercks. Deutlich wird das z.B. im Brief vom 21. Dezember 1771, dessen erster Absatz mit den Worten »Wir waren gewiß, daß alle Briefe« endet, die jedoch gestrichen wurden; der zweite Absatz beginnt mit zwei langen Ersatzstrichen. Weitere Briefe, die, da anderweitig bezeugt, Goeckingk vermutlich vorlagen, ignorierte er ganz: Wenn Sophie von La Roche am 20. August 1771 an Wieland schreibt, »Merk est un home charmant, tout à fait, et tres tres estimable, il m’ecrit souvent«, 18 kann sich das nicht nur auf die beiden vorausgegangenen und einzig bekannten Schreiben vom 27. Juni und 20. Juli 1771 19 beziehen. Mehrere Briefe datierte Goeckingk um, oder er nahm eigenmächtig Zusammenstellungen vor. In der Edition des Merck-Briefwechsels wurden nach eingehender Untersuchung die Abläufe berichtigt. Die Argumente zur Datierung und Neuordnung leiten die Kommentierung der Briefe ein. Bereits bei dem als »Erster Brief« bezeichneten Schreiben, das Goeckingk auf den 21. Mai 1771 setzt, handelt es sich eindeutig um eine Antwort auf La Roches Brief vom 18. Mai 1772; die Jahreszahl wurde demgemäß verbessert, der Brief rückt damit an die neunte Stelle der überlieferten Briefe Mercks an <?page no="254"?> 254 Ulrike Leuschner 20 Ebd., Nr. 100. 21 Ebd., Nr. 74, S. 242. 22 Ebd., Nr. 79. 23 Bräuning-Oktavio: Aus Briefen J.H. Mercks an Sophie von La Roche, S. 301. 24 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 76. 25 Ebd., Nr. 82, Teil I. 26 Merck: Briefe, S. 55. 27 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 82, Teil II, S. 265. 28 Herder: Briefe, Bd. 2, Nr. 26a; Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 80, S. 256. 29 Ebd., Nr. 83. 30 Ebd., Nr. 88. 31 Ebd., Nr. 94. 32 Ebd., Nr. 95. 33 Ebd., Nr. 110. La Roche. 20 Der tatsächlich erste Brief, beginnend mit »Wenn ich wüßte, wie ich’s anfangen sollte, Ihnen unbekannt zu bleiben« 21 erscheint bei Goeckingk in zweiter Position, der dritte blieb an seinem Ort. 22 Der vierte rückte an die zweite Stelle: Die Erwähnung des Gleim-Besuchs, der bis zum 3. Juni andauerte, legt nahe, dass Goeckingk hier eine für den Monat Juli stehende 7 als »September« verlas. Bräuning-Oktavio folgend, 23 wurde der Brief unter dem 20. Juli eingeordnet. 24 Als Fortsetzung des Briefes vom 21. September 1771, von Goeckingk als »Fünfter Brief« aufgeführt, 25 erwies sich ein Fragment, von Goeckingk bezeichnet als »Aus einem späteren Brief, vom 17. Aug. 1772«. Da im Text von Herders möglicher Berufung nach Gießen die Rede ist, änderte bereits Herbert Kraft 1968 in seiner Ausgabe der Merck-Briefe die Jahreszahl in 1771. 26 Ein weiterer Hinweis ergab sich durch den Satz »Ich erhielt gestern einen traurigen Brief von ihm«. 27 Der Bezug findet sich in Herders Brief vom 18. September 1771, der mit den Worten beginnt »Sehen Sie diesen brief, als den brief Eines Trostlosen, Verlohrnen an« 28 und damit die endgültige Datierung erlaubte. Aus Goeckingks »Sechste[m] Brief« wurde nun der fünfte, 29 aus dem siebenten der sechste, 30 aus dem achten der siebente, 31 aus dem neunten der achte. 32 Keinen Anhaltspunkt für eine exaktere Datierung enthält Goeckingks »Zehnter Brief«, den er mit »Ohne Datum« aufgenommen hat. 33 Die Erwähnung der Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz, eine zweibändige, von Jost Anton von Hagen veranstaltete Ausgabe aus dem Jahre 1773, erlaubte wenigstens die Jahreszuordnung. Der 6. Mai 1773, an dem Merck mit der ›Großen Landgräfin‹ und ihren drei noch unverheirateten Töchtern nach Russland aufbrach, damit nach längeren diplomatischen Präliminarien der Thronfolger Paul sich unter ihnen eine Braut erwähle, lieferte das Datum ante quem. Eine Collage mit mehreren Schreibtagen ist Goeckingks »Eilfter Brief«, der während dieser Reise verfasst wurde, wenn er nicht gar von Goeckingk auf der Basis eines Reisetagebuchs zum Brief umge- <?page no="255"?> 255 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 34 Ebd., Nr. 118. 35 Ebd., Nr. 129, S. 422. 36 Ebd., Bd. 2, Nr. 349, S. 280. 37 Ebd., Bd. 1, Nr. 130, S. 425. 38 Ebd., Nr. 148, S. 502. 39 Ebd., S. 503. 40 Ebd., Nr. 74. 41 Herder/ Flachsland: Briefwechsel, Bd. 1, S. 284. 42 Vgl. Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 79, 83. 43 Ebd., Nr. 90. 44 Ebd., Nr. 88. 45 Wagner (Hrsg.): Briefe an Johann Heinrich Merck, S. 32-34. Vgl. Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 98. formt wurde. 34 Da hier wie in allen Abschriften Anrede und Grußformel fehlen, ist jedenfalls diese Möglichkeit nicht auszuschließen; auch heißt es in Mercks Brief an seine Frau vom 20. Dezember 1773, dass er der La Roche aus Russland kein Wort geschrieben habe. 35 Den Hinweis auf eine potentielle Melange der Gattungen liefert auch Sophie von La Roche, wenn sie am 12. September 1779 schreibt: »einen brief oder vielmehr mein klein Tag buch schikte ich Ihnen gerne ob es schon arme vergeltung für Ihre vortrefliche See briefe wäre […]«. 36 »Hier bin ich in meinem Hause angelangt«, beginnt der »Zwölfte Brief«, geschrieben nach Mercks Rückkehr am 18. Dezember und daher mit dem Datum 21. Dezember 1773 wohl zweifelsfrei zu übernehmen. 37 Der letzte Brief, der dreizehnte der Folge, stammt vom 20. Oktober 1774 und erwähnt eingangs ein »langes Stillschweigen«. 38 Mit den Worten dieses Briefes, »Schreiben und reden«, 39 bricht die Überlieferung insgesamt ab, sei es dass Goeckingk an dieser Stelle sein Unternehmen aufgab, sei es dass der Rest der Abschrift verlorenging oder andernorts noch unentdeckt ruht. Ebenso spärlich ist die Überlieferung der Gegenbriefe; lediglich 15 liegen derzeit vor. Unbekannt ist La Roches Antwort auf Mercks ersten Brief vom 27. Juni 1771, 40 der noch einige weitere Schreiben gefolgt sein müssen. Wieder liefert Karoline Flachsland einen Anhaltspunkt, die am 12. August 1771 an Herder schreibt: »Von Frau von La Roche hat Merck einige vortrefliche Briefe«. 41 Auch nach diesem Datum sind in Goeckings Abschriften mehrere Bezugsbriefe erwähnt, die nicht auffindbar waren. 42 La Roches erstes bekanntes Schreiben vom 5. Januar 1772 43 antwortet auf Mercks Silvesterbrief, 44 den siebenten, recte: sechsten Brief der von Goeckingk überlieferten Folge. Ihr zweites Schreiben aus den frühen Jahren vom 18. Mai 1772 liegt nur gedruckt vor, 45 in der ersten der drei Ausgaben, die Karl Wagner, ein Darmstädter Studienrat, mit zahlreichen zensierenden Eingriffen und Auslassungen 1835, 1838 und 1847 aus Mercks Nachlass <?page no="256"?> 256 Ulrike Leuschner 46 Ebd., Bd. 4, Nr. 1000, 1004. 47 Wagner (Hrsg.): Briefe an Johann Heinrich Merck, S. 84-85, 90-92 (Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 187, 192); ebd., S. 176-177, 187-188, 279-280 (Merck: Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 349, 360, 439); ebd., S. 360-361 (Merck: Briefwechsel, Bd. 3, Nr. 554); Wagner (Hrsg.): Briefe an und von Johann Heinrich Merck, S. 270 (Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 885); Wagner (Hrsg.): Briefe aus dem Freundeskreise, S. 275-276 (Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 911, 921); Wagner (Hrsg.): Briefe an und von Johann Heinrich Merck, S. 276-277 (Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 971); Wagner (Hrsg.): Briefe aus dem Freundeskreise, S. 312-313 (Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 999). Zur Auflistung der gesamten erfassten Korrespondenz vgl. Merck: Briefwechsel, Bd. 5, S. 258. 48 Merck: Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 360; ebd., Bd. 4, Nr. 885, 911, 921, 999, 1004. 49 Darmstadt, Hess. Stadtarchiv, Bestand ST 52 (Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 971, 1000). 50 »[I]ch habe Cavalli gebetten, das Mad Merk mir meine briefe zurük schiken soll die ich ihrem mann schrieb es machte sehr glüklich u Ruhig«, schreibt La Roche am 3.7.1791 an Johann Friedrich Christian Petersen (FDH, Signatur 6452), und insistiert nochmals am 20. Juli: »ich habe gebetten das meine briefe aus Merks papiere ungelesen komen mögen ist es nicht möglich Lieber Freund? « (ungedruckt; Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum, Sign.: 6453). Dank an Patricia Sensch für die Überlassung der Transkripte. 51 FDH, Sign. 316 (Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 192); FDH, Sign. 317 und 555 (Merck: Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 349, 439; FDH, Sign. 11729 (Merck: Briefwechsel, Bd. 3, Nr. 554). 52 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Sign. B: S. LaRoche, 892 (Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 187). veranstaltet hat. Mit Ausnahme der letzten beiden Briefe vom 16. März und 19. Juni 1791, die im Merck-Briefwechsel erstmals gedruckt sind, 46 finden sich bei Wagner auch La Roches restliche Briefe, 47 wobei die Kollation der Handschriften zu zahlreichen Neulesungen führte. In Mercks Nachlass, aus dem Wagner schöpfte, befinden sich noch sechs der 13 Briefe La Roches aus den Jahren 1776 bis zu Mercks Freitod am 27. Juni 1791, 48 zwei weitere gerieten ins Darmstädter Stadtarchiv. 49 Die anderen wurden zerstreut. La Roches Aufforderung an die Witwe Louise Merck, ihr durch den Darmstädter Kaufmann Johann Franz Anton Cavalli oder den Prinzenerzieher Johann Friedrich Christian Petersen ihre Briefe aushändigen zu lassen, 50 war man anscheinend nur unvollständig nachgekommen, was die Überlieferungslage zusätzlich trübt. Vier Briefe besitzt heute das Freie Deutsche Hochstift, 51 einen weiteren Brief das Deutsche Literaturarchiv Marbach, 52 Mercks Gegenbriefe aus diesem Zeitraum sind sämtlich nicht bekannt. III. Szenen einer schwierigen Freundschaft Das Verhältnis zwischen den beiden Briefpartnern gestaltete sich schwieriger, als die von Goeckingk vorgenommene Sammlung vermuten lässt; leistet sie <?page no="257"?> 257 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 53 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 90, S. 298. 54 Dechent: Streitigkeiten. 55 Merck: Briefwechsel, Bd.1, Nr. 90, S. 297. 56 Ebd., S. 298. 57 Die Gräfinnen Maria Anna Helene von der Leyen und Hohen Geroldseck, geb. von Dalberg, und Maria Luise Wilhelmine von Wied-Neuwied, geb. von Sayn-Wittgenstein- Berleburg. doch durch die Auslassungen und Zuordnungen einer Inszenierung Vorschub, in der Merck als empfindsamer Schwärmer auftritt, seine Gefühle und Bekenntnisse zur Schau stellt und sich der verehrten Freundin vornehmlich durch Bildungsreminiszenzen empfiehlt. In dieser geschickten Kompilage werfen Ergebenheit wie Intellektualität des Briefpartners Merck ihren Widerschein auf die Empfängerin. Kritisches, soweit es nicht delikate Gefühlslagen betrifft, bleibt ausgespart. In ihrem ersten vorliegenden Schreiben präsentiert Sophie von La Roche sich als Autorität in Fragen des Freundschaftskults und der Mütterlichkeit ebenso wie in Fragen der Etikette des literarischen Feldes. So rügt sie, »daß Sie nicht hätten leiden sollen, daß gleich in den ersten Zeitungsblättern - Nonnen u. Pfaffen angepakt werden«. 53 Damit zeigt sie sich eingeweiht in die Interna der Frankfurter gelehrten Anzeigen, deren Schriftleitung Merck mit Beginn des Jahres 1772 übernommen hatte. Dass sie damit einen entscheidenden Punkt traf, zeigt der weitere Verlauf: Die Frankfurter Orthodoxie verwahrte sich gegen die Unbotmäßigkeiten und verwickelte den Verleger Johann Conrad Deinet in einen Prozess. 54 Auch in den übrigen Nachrichten des Briefes offenbart sich eine große Vertrautheit: Von dem Frankfurter Dechanten Damian Friedrich Dumeiz ist die Rede, dessen Bekanntschaft La Roche vermittelt hatte, von Mercks kleinem Sohn Heinrich Emanuel, dessen Persönlichkeit die Briefschreiberin »rührte«. 55 Den größten Raum nehmen literarische Belange ein: Merck hatte Schriften Herders nach Koblenz ausgeliehen, die Georg Michael Frank von La Roche mit Sympathie gelesen hatte, und, unter dem Siegel der Vertraulichkeit, ein Bändchen von Diderot, aus dem La Roche den Namen des Besitzers »ausgekratzt« hatte, ehe sie es »unserer Princess« weitergab. 56 Dass damit die Essener Fürstäbtissin Maria Kunigunde von Sachsen gemeint ist, die sich gerne am Hofe ihres Bruders Klemens Wenzeslaus, des Kurfürsten von Trier, aufhielt, konnte La Roche bei Merck als bekannt voraussetzen; Gleiches gilt für zwei weitere hochgestellte Personen, 57 in deren Namen sie von Mercks distributorischen Aktivitäten Gebrauch machte und vier Exemplare der kleinen Bändchen mit empfindsamen Briefen bestellte, die Johann Benjamin Michaelis in Halberstadt bei Gleim herausgegeben hatte und durch Merck vertreiben ließ. (Nebenbei: Unter anderem dies führte zur Identifizierung des richtigen Empfängers eines <?page no="258"?> 258 Ulrike Leuschner 58 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 89. Zur Begründung der Neuadressierung vgl. S. 296-297. 59 Ebd., Nr. 98. 60 Dem Antrittsbesuch am 22. April folgte eine weitere Audienz am nächsten Tag und ein freundlicher Eintrag in Karolines Schreibkalender; vgl. Meise: Das archivierte Ich, S. 539. 61 Herder/ Flachsland: Briefwechsel, Bd. 2, S. 99. 62 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 98, S. 316. anderen Briefes von Merck, der in der Forschung zuvor als an Johann Jost Anton von Hagen adressiert galt. 58 ) Die beiden Briefpartner sind in einen intensiven Austausch getreten. Mit der Nennung dieser Personen präsentiert sich Sophie von La Roche zugleich als Mittelpunkt eines illustren Kreises. Wie der Nachsatz verrät, lässt sie Merck an ihren schriftstellerischen Arbeiten teilnehmen: Sie bittet um die Rücksendung ihrer »Letzte[n] Julie«, in feiner Distinktion auf Rousseaus Julie, ou La Nouvelle Héloise anspielend. Gemeint ist La Roches Bändchen Der Eigensinn der Liebe und Freundschaft. Eine englische Erzählung nebst einer kleinen deutschen Liebesgeschichte, Zürich 1772 - die erste der beiden Erzählungen ist an eine junge Frau namens Julie gerichtet. Das zweite Schreiben vom 18. Mai 1772 59 ist es eine Art Beziehungsbrief, der vermuten lässt, dass La Roches Besuch in Darmstadt im vorangegangenen Monat nicht ganz zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war. Zwar hatte sie die Sympathien der ›Großen Landgräfin genossen‹, 60 doch war ihr nicht verborgen geblieben, dass man im Zirkel der ›Empfindsamen‹ die Diskrepanz zwischen der Titelheldin, der »simple[n] erhabene[n] Sternheim« und ihrer Autorin bemängelt hatte. Wie Karoline Flachsland dem Freund Herder mitteilt, habe sie »mit ihrer allzuvielen Coquetterie und Representation nicht gefallen«. 61 Von Merck, der sich im persönlichen Umgang auffallend zurückgehalten hatte, fühlte sich Sophie von La Roche nicht ausreichend ästimiert: warum Merk, warum schrieben Sie mir vor meiner Abreiße, ich könte Ihnen und Ihrer Frau was angenehmes ertzeigen wenn ich bey Ihnen seyn würde - u. da ich da war, sagten Sie mir nichts - ist es nicht - daß Sie etwas in meinem äußerlichen Bezeugen fanden, das Sie zurückhielte - wenn dieses ist - o so dulten Sie daß ich sage Sie hatten unrecht - ich könnte es Ihnen durch einen Theil meiner Hülle, die in Deinen Theil meiner Seele umgab, bezeugen. 62 Sie wirbt um sein Verständnis und seine Freundschaft. Dringend lädt sie ihn und seine Frau zum Gegenbesuch ein, der ja dann im September auch erfolgte. In diesen beiden Briefen sind die Themen ausgespannt, die ihre Korrespondenz in den nächsten Jahren ausmachen werden: Familie, Freunde, literarische Geschäfte. Vor allem der letzte Punkt entsprach den Vorlieben des Netzwerkers Merck, der stets zwischen den in diesen Jahren besonders kontrovers agierenden Parteien zu vermitteln suchte. So bedankt sich Friedrich Nicolai, als <?page no="259"?> 259 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 63 Ebd., Nr. 183, S. 594. 64 Merck an Louise Merck, 29.1.1774; ebd., Nr. 135, S. 444. 65 Ebd., Nr. 148, S. 502 bzw. 503. 66 Ebd., Nr. 179, S. 582. 67 Ebd., Nr. 182, S. 590. Haupt der Berliner Aufklärung dem empfindsamen Stil entschieden abgeneigt, am 8. Oktober 1775: [I]ch sehe aus einem Schreiben der Frau ala Roche, daß Sie Ihr viel Gutes von mir vorgesagt haben. Dieß muste mir sehr vortheilhafft seyn. Ich weiß aus der Erfahrung, daß die sentimentalen Frauenzimmer die Leute, die über Sitten oder über Bücher ihre Meinung frey und ohne Verlarvung wegsagen, für sehr bößartige Geschöpfe halten, bis sie sich aus eigner Erfahrung oder durch den Bericht glaubwürdiger Leute, von der Möglichkeit des Gegentheils überzeugen. 63 Das literarische Feld entwickelt sich trotz mancher persönlichen Verstimmungen zur tragfähigen Basis der Beziehung zwischen Sophie von La Roche und Merck. Denn an Kritik mangelte es nicht. So löste im Freundeskreis die Verheiratung der 18-jährigen Maximiliane La Roche mit dem fast 21 Jahre älteren Kaufmann Peter Anton Brentano am 9. Januar 1774 Befremden aus. Dahinter stecke wohl der Frankfurter Stiftsdechant Damian Friedrich Dumeiz, der sich ein bequemes Plätzchen habe verschaffen wollen, mutmaßt Merck im Brief an seine Frau nach einem Besuch in Frankfurt, »Tu aurois dû Voir Madame dela R. faire tête à tous ces propos, et badinages de ces gros marchands, supporter leurs diners magnifiques, et amuser leurs lourds personnages.« Es habe schreckliche Szenen gegeben, er befürchte, »si elle ne sera pas accableé sous le fardeau de ses regrets«. 64 Immerhin wird bei dieser Begegnung der geplante Besuch bei Baron Groschlag in Dieburg, der witterungsbedingt ausfallen musste, für den kommenden Sommer ausgemacht. Die Briefe nach Koblenz scheinen nun spärlicher geflossen zu sein. Das letzte von Goeckingk überlieferte Schreiben vom 20. Oktober 1774 beginnt mit einer Entschuldigung für ein »langes Stillschweigen«. Just an der Stelle, als Merck zu verbindlichen Worten über die »arme Märtyrerin« Maximiliane anhebt, bricht die Abschrift ab. 65 Im darauffolgenden Jahr ist das Verhältnis allem Anschein nach getrübt: »Zum Beweis daß ich bißher gegen alle Menschen gefehlt habe, lege ich diesen Zettul von Mde dLa Roche bey«, heißt es ironisch in Mercks Brief vom 8. September 1775 an den Freund Höpfner. 66 Und in seinem Abschiedsbrief vor dem Aufbruch nach Weimar teilt Goethe am 7. Oktober 1775 mit: »die La Roche ist in Contrition dass du ihr nicht antwortest.« 67 Heftige Kritik erntet Sophie von La Roche, nachdem sie ihre Tochter Luise am 1. Mai 1779 mit dem kurtrierischen Hofrat Josef Christian Ernst <?page no="260"?> 260 Ulrike Leuschner 68 Ebd., Bd. 2, Nr. 331, S. 226. 69 Merck: Geschichte der Fräulein von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Originalpapieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen. Herausgegeben, von C. M. Wieland. Zweiter Theil, bey Weidmanns Erben und Reich. 1771. 8. 301. S. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen Nr. XII vom 11. Februar 1772. Zit. n.: Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772. Repr. 1983, S. 101. 70 Merck: Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 332, S. 229. 71 La Roche an Caroline von Keller, etwa 1792, in: Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 336-338. 72 Merck: Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 290, S. 119. 73 Ebd., Bd. 4, Nr. 759, S. 35. 74 Hamann an Herder, 2./ 3.4.1774, in: Hamann: Briefwechsel, Bd. 3, S. 75. von Möhn verheiratet hatte. »Der Kerl, dem sie die holde Loulou zu fressen giebt, soll ein Meerkalb im Gusto des phoca seyn, dem die schöne Angelica im Ariost ausgesezt wird«, lästert Wieland im Brief an Merck vom 5. Mai 1779. 68 Dieser Ehemann stamme »aus der Familie der Kalibane«, urteilt Merck zwei Tage gegenüber der Weimarer Herzogin Anna Amalia, just den Vergleich mit dem Unhold aus Shakespeares Sturm aufgreifend, den er in seiner Rezension des zweiten Teils der Geschichte des Fräuleins von Sternheim in den Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 auf den Kritiker des Romans gemünzt hatte. 69 Süffisant fügt er hinzu, Möhn habe die Braut in erster Linie wegen der vortrefflichen Schwiegereltern erwählt. 70 Gegen die allgemeine Unmut, die Missheiraten ihrer beiden Töchter betrieben zu haben, wird sich Sophie von La Roche noch Jahre später in einem langen Brief an eine Bekannte verteidigen und zur eigenen Entlastung weitreichende Intrigen und politische Notwendigkeiten geltend machen. 71 Auch der persönliche Umgang gestaltete sich nicht immer einfach. So hatte Merck über den Besuch in Ehrenbreitstein, den die Reisegesellschaft der Weimarer Herzogin Anna Amalia mit ihm als Cicerone im Sommer 1778 abstattete, am 20. Juli an Wieland berichtet: »Mit der LaRoche wolts am Ende nicht gehen, sie drükte uns mit Sentiments […].« 72 Noch Jahre später wird Merck gegenüber Anna Amalia auf einen peinlichen, der allzu großen Konventionalität der Gastgeberin geschuldeten Zwischenfall anspielen: »In Ehrenbreitstein erinnerte ich mich des Pfahls im Fleische wodurch die berühmte Pomone während des Essens incommodirt war, u. wovon sie aus Empfindsamkeit u. Respect nichts gedenken wolte, biß es zu spat ware.« 73 Mercks von Hamann bemängelte »Distinction zwischen Menschen und Autor«, 74 Grundlage seiner intellektuellen wie persönlichen Unabhängigkeit, fiel nicht immer zu Sophie von La Roches Gunsten aus. Immer wieder kam es zu Schwankungen in ihrem Verhältnis. Merck wehrt sich gegen das Zurschaustellen der Verbindungen, das Sophie von La Roche, teils der geselligen Gepflogenheit der Zeit geschuldet, teils zur gefälligen Selbstdarstellung <?page no="261"?> 261 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 75 Merck: Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 243, S. 756. 76 Ebd., Bd. 2, Nr. 349, S. 279-280. 77 Ebd., Nr. 290, S. 119. 78 Ebd., Bd. 1, Nr. 187, S. 608. betreibt. Im September 1777 heißt es im Brief an Luise von Ziegler, die ›Lila‹ im ehemaligen Kreis der ›Darmstädter Empfindsamen‹: »Mdme de La Roche schreibt mir nun seit ohngefähr 10 Monaten nicht mehr, und das ist auch sehr gut. Denn ihr ists sehr gefährlich zu schreiben sie zeigt alle Briefe herum.« 75 La Roche spürt die Vorbehalte empfindlich, wenn sie am 12. September 1779 nach einem verpassten Treffen in Frankfurt bekennt: [I]ch hätte nach meiner vieljährigen Achtung für Sie und Ihren Geist recht gern über alles mit Ihnen gesprochen - aber ich fürchte Sie auch seit einiger Zeit so sehr, das es mir beynah lieb ist, die Gelegenheit dazu verlohren zu haben […] Merk - meine forcht vor Ihnen hindert mich […], der feine Liebenswürdige scharfsinn Ihres Genius - ist so äzend geworden wie mich däucht -. 76 Ein Garant der Dauer über alle Verstimmungen hinweg war die Beziehung der Männer im Hintergrund. Dass »der Kanzler« besser gefallen habe als seine empfindsame Frau, war eine Erkenntnis schon aus der Ehrenbreitsteiner Zeit. 77 Umgekehrt gaben Georg Michael Frank von La Roche und sein Freund Christoph Philipp von Hohenfeld dem Darmstädter Kriegsrat »beyde den preis des vorzugs, über meine andre Freunde«, 78 weshalb Sophie von La Roche wiederholt und dringend Mercks Besuch anmahnt. Indem sie sich immer wieder zur Sekretärin ihres Mannes macht, zugleich aber eigene Anliegen und Interessen mit einfließen lässt, schafft sie geschickt jene geschlechtsspezifische Balance von sich unterordnender Selbstbehauptung, die sie in ihren autobiographischen und erzählenden Schriften als Muster von Weiblichkeit propagiert. Die Freundschaft bewährte sich besonders nach Georg Michael Frank von La Roches Sturz im September 1780, als die Familie im Hause Hohenfelds in Speyer Zuflucht fand. Umgehend muss Merck darauf mit einer Solidaritätsadresse reagiert haben, wie aus Sophie von La Roches Antwortbrief vom 24. Dezember 1780 hervorgeht: Ich antworte spat auf den theilnehmenden brief der mir und la Roche so viele freude machte - aber seinen entzwek nicht verfehlt hatte, uns trost, und aufheitterung zu geben. den gewiß in dem augenblik, da schlechte Menschen uns quälten, war die freundschaft und mitlaiden der Guten - Felsen grund für uns - Lassen Sie Merk! diesen vorgang mit La Roche - diesen so bittern Kummer der über mich gieng - zum neuen daurenden gewebe einer freundlichen <?page no="262"?> 262 Ulrike Leuschner 79 Ebd., Bd. 2, Nr. 439, S. 529. 80 Ebd., Bd. 3, Nr. 566, S. 187. 81 Georg Michael Frank von La Roche an Merck, 4.11.1782 und Frankfurt am Main, 8. oder 9.1.1783, ebd., Bd. 3, Nr. 566, 580; Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld an Merck, 30.8.1783, ebd., Nr. 629. - Beim Umbau des Koblenzer Schlosses, den Georg Michael Frank von La Roche leitete, waren fossile Zähne eines Elefanten und eines Nashorns ausgegraben worden, die La Roche Merck geschenkt hatte; vgl. Merck: Troisieme lettre sur les os fossiles, S. 16-17. 82 Georg Michael Frank von La Roche an Merck, 4.11.1782, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 3, Nr. 566, S. 187. 83 Merck an Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach, 11.9.1786, ebd., Bd. 4, Nr. 851, S. 310. verbindung werden - kommen Sie einmal zu uns - sehen Sie Hohenfeldt - den großen seltenen freund - was der that - und noch thut - es muß für Sie festag seyn - so eine erscheinung in der würklichen Menschenwelt zu sehen -. 79 Mercks Loyalität mit dem entlassenen La Roche schafft eine neue Basis des Zusammenlebens. Besuche werden häufiger, besonders als Merck eine Kupferstichserie über die Ruinen der im pfälzischen Erbfolgekrieg zerstörten Stadt Speyer in Angriff nimmt und zu diesem Zweck seinen Zeichner Jean François Gout dorthin beordert. La Roche finanziert den Aufenthalt und wehrt jeden Dank ab: Seine Zehrung im Wirthshaus aber ist mir durch zwei Handzeichnungen vergütet und in Mannheim war es nicht der Mühe werth aufzuschreiben. Also für all dieses Nichts. Die Gelegenheit, Ihnen, bester M., etwas Angenehmes, Freundschaftliches zu erweisen, war Freude und Wonne für mich. 80 Zur Untätigkeit verdammt, interessieren er und Hohenfeld sich nun verstärkt für Mercks osteologische Studien und greifen in dieser Sache auch selbst zur Feder. 81 Sophies Schriftstellerei, bisher die Passion einer Hofdame, wird zum notwendigen Mittel des Gelderwerbs. Nun ist es der Ehemann, der Grüße ausrichtet: »Meine Frau Pomona empfiehlt sich aufs allerbeste. Sie sitzt und brütet an ihren Hirnkindern, chacun a sa marotte! «, heißt es im Brief vom 4. November 1782. 82 Bevorzugt verlegt sich Sophie von La Roche auf die auf dem Buchmarkt stark nachgefragte Reiseliteratur. Die durch die Professionalisierung hervorgerufene Sachlichkeit verfehlt ihre Wirkung nicht; als Merck auf der Reise in die Schweiz 1786 mit seiner Tochter Adelheid in Speyer sehr liebenswürdig empfangen wird, gesteht er Anna Amalia, der größten Kritikerin Sophies: Ich habe die La Roche durch ihre lezte Reisen sehr zu ihrem Vortheil geändert gefunden. Das französische conventionelle Scavoir vivre scheint ihre Prätensionen glüklicherweise herabgestimmt zu haben. Sie ist mit ihren Betrachtungen und Sentiments weniger zudringlich und spricht weniger. 83 <?page no="263"?> 263 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 84 Merck an Karl August von Sachsen-Weimar und Eisenach, 28.3.1789, ebd., Bd. 4, Nr. 967, S. 559. 85 Ebd., Bd. 4, Nr. 986. Zur Ausstattung des Hauses vgl. ebd., Nr. 1004, S. 641, Anm. 9. 86 Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 443. 87 La Roche an Merck, 17.7.1789, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 971, S. 569. 88 La Roche an Merck, 11.3.1791, 16.3.1791, 19.6.1791, ebd., S. 999, 1000, 1004. - Ein Brief La Roches, den Louise Merck im Schreiben an ihren in Paris weilenden Mann vom 29.1.1791 (ebd., Nr. 995, S. 621) erwähnt, ist nicht bekannt. 89 Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, S. 330-331. Gegenseitige Empfehlungsschreiben tauchen auf, gegenseitige Gefälligkeiten und Besuche werden die Regel, noch gehäuft nach dem Umzug der Familie La Roche in das nahe Offenbach 1786. Als sich Merck von der schweren Krise des Jahres 1788 erholt hat, ist es auch die Familie La Roche, an deren Umgang er sich aufs neue erfreut. 84 Auch die Söhne gehören nun dazu: Fritz hatte sich vorübergehend in Offenbach niedergelassen und führte aus den Mitteln seiner Frau ein vornehmes Haus, 85 Franz, der Lieblingssohn, suchte nach dem Studium der Forstwirtschaft Darmstädter Dienste. 86 Nach Georg Michael Frank von La Roches Tod taucht gar der Plan einer gemeinsamen Reise nach Italien auf, der sich jedoch alsbald zerschlägt. 87 Die drei letzten Briefe 88 betreffen in erster Linie den Neudruck der Pomona, der in der neugegründeten Stahlschen Druckerei in Mercks Arheilger Haus besorgt werden sollte. Etwas von den alten »Prätensionen« kehrt zurück, als La Roche, nun im Rollenspiel zwischen Autorin und Verleger, immer ungeduldiger die Details der Papierbeschaffung ausbreitet. Ihr Brief vom 19. Juni 1791 ist der letzte überhaupt in der Überlieferung von Mercks Briefwechsel, geschrieben acht Tage vor seinem Freitod. Mitgefühl bringt Sophie von La Roche nicht auf, nachdem Merck, als Parteigänger der Französischen Revolution am Darmstädter Hof untragbar geworden und zudem chronisch krank, seinem Leben durch einen Pistolenschuss ins Herz ein Ende gesetzt hatte. An Elise zu Solms-Laubach schreibt sie am 20. Juli 1791 vielmehr mit einem Anflug von Selbstmitleid: »der elende Austritt, welchen der Kriegsrat Merck aus der Welt nahm, hat mir unangenehme Arbeit zugezogen, indem ich wegen einer neuen Auflage meiner Pomona mit ihm verwickelt wurde.« 89 Gerade die Planung des Pomona-Nachdrucks aber hatte kurz zuvor zu neuer Gemeinsamkeit geführt. Die emphatischste Erwähnung findet Sophie von La Roche in Mercks Brief vom 21. November 1789. Heute habe ich das Vergnügen gehabt, meine alte freundin die Fr. v. LaRoche hier zu sehen, die von einer Reise zurükgekommen ist […]. Sie können nicht glauben, wie ich durch diese angenehme Erscheinung auf lange Zeit glüklich geworden bin. Es liegt doch eine wunderbare Magie darin, sich in dem Anblik eines klugen Menschen zu weiden, und sich mit seinen Lieblingsideen vom <?page no="264"?> 264 Ulrike Leuschner 90 Merck an Christine Luise von Werner, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 977, S. 580-581. 91 Wagner: Briefe aus dem Freundeskreise von Goethe, Herder, Höpfner und Merck, S. 285, Anm. - David Christoph Seybold (1747-1804) hatte das Magazin für Frauenzimmer (in dem auch La Roche publizierte) 1782 gegründet. Seit 1787 führte die Zeitschrift den Titel Neues Magazin für Frauenzimmer, unter dem sie noch bis 1791 bestand. Namentlich wird eine Mitarbeiterin namens Werner dort nicht erwähnt, sie könnte aber zu den im Schlusswort, mit dem sich das Periodikum nach zehn Jahren von seinen Leserinnen verabschiedete, unter den »andere[n], die nicht genannt sein wollen«, mitgemeint sein; Neues Magazin für Frauenzimmer 5 (1791), S. 204. 92 Vgl. Merck: Briefwechsel, Bd. 4, S. 582, Anm. 4. 93 Neben Karoline Flachsland, verh. Herder, tat dies auch Caroline von Wieger, unglücklich verliebt in den verheirateten Darmstädter Geheimen Tribunalrat Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Mercks Freund; vgl. ebd., Bd. 3, Nr. 574, S. 204-206. 94 Grün an Merck, 7.3.1782, ebd., Nr. 507, S. 22. sein in einem Dritten wiedergebohren zu finden. Diese Frau hat das besondre Glük, sich so leicht an alles Verdienst anzuhängen, das Sie auf Ihrem Wege trifft, und durch die grosse Empfänglichkeit anderer Werth anzuerkennen, beynahe den Andern zu nöthigen, sich ganz zu zeigen wie, u. was Er ist. Daher entdekt sie so viele eminente Menschen, wo andre nichts finden konnten. Sie ist u. bleibt für mich das Erste Ideal was ich mir in einer ausgebildeten Weiber Seel denken kann, u. ich glaube, wenn ich schon halb jenseits der Elisäischen Felder angelangt wäre, sie würde mich mit einem Wink zurükzaubern können. 90 IV. Ein Zeugnis der Wirkung Adressatin des Briefs ist die 1766 in Darmstadt geborene Christine Luise von Werner, Mitarbeiterin am Magazin für Frauenzimmer. 91 Merck hatte ihr eine Stelle als Erzieherin in Straßburg vermittelt, nachdem eine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte sie aus der Bahn geworfen hatte. 92 Wie der Briefwechsel zeigt, war sie nicht die einzige junge Frau, die bei ihm Trost suchte. 93 Güte und Feinfühligkeit sind überraschende Charakterzüge an einem Mann, der als ›Mephisto Merck‹ in eine Goethe-zentrierte Literaturgeschichtsschreibung einging. So war es auch für Albertine von Grün aus Hachenburg ein Herzensbedürfnis, ihm aus ihrem einsamen Leben zu schreiben. Die durch ein Hüftleiden hinkende bildungshungrige Frau, geboren 1749, die sich in der Pflege einer kranken Schwester und eines tyrannischen Vaters aufopferte, nahm regen Anteil am Freundeskreis der Stürmer und Dränger in Gießen und Wetzlar - in Klinger hatte sie sich unglücklich verliebt, Goethe war ihr »Liebling«. 94 <?page no="265"?> 265 Der Briefwechsel zwischen Sophie von La Roche und Johann Heinrich Merck 95 Ebd., Nr. 719, S. 629. 96 Grün an Merck, 6.1.1785, ebd., Nr. 721, S. 637-638. 97 Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer, in: Pomona 1783, H. 3, S. 227. 98 Grün an Merck, 6.1.1785, ebd., Bd. 3, Nr. 721, S. 637. Die Pomona fand wenig Gnade vor ihren Augen, wie sie Merck am 26. Dezember 1784 gesteht: Mama La Roche mag mirs nicht übelnehmen - so sehr ich auf die Ehre Stolz bin Sie unter mein Geschlecht zu zehlen, so bin ich mit ihrer Pomona nicht ganz zufrieden. Ihre Erzehlungen sind mir just das was mir mancher feiner französischer Kupferstich ist, worinnen manchmal die HauptHandlung vernachläßigt, oder so durch Blumen und andere Zirathen versteckt ist, daß man ganz davon abgewendet wird - doch ich urtheile ja nicht, dann ich weiß mich sehr wohl zu bescheiden daß ein Kriticker offt mehr zu tadlen weiß als zehn beßer machen. 95 Merck fordert sie daraufhin auf, ihr Zimmer zu beschreiben, ein Wunsch, dem sie umgehend nachkommt. 96 Das Muster hatte Sophie von La Roche im Märzheft des ersten Jahrgangs der Pomona 1783 geliefert. Hier ist es eine »von den liebenswürdigsten Leserinnen«, die um eine Beschreibung ihres Zimmers gebeten habe. 97 Dem vornehmen Ambiente in Speyer kontrastiert das »Stübchen« in Hachenburg so sehr - Ein Gefangner der eine Spinne hätte tanzen lernen und sie Ihnen wiese, wann Sie dann einen Abscheu vor diesem Insecte hätten er lies es Hundert Kunststücken vor Ihnen machen, die in seiner Art Einzig und Vortreflich wären, so würden Sie vieleicht doch noch zulezt dabey bleiben, es wäre ein Garstiges Thier. so wirds auch mit dem seyn was ich Ihnen noch zu Beschreiben hätte 98 -, dass sich Albertine von Grün an eine Zukunftsvision wagt, wie sie nämlich nach dem großen Vorbild ihr Zimmer im künftigen Frühjahr ausstatten werde. Bis in die Details der Aussicht aus dem Fenster, der Wandverkleidung, der Möbel, der (noch zu beschaffenden) antiken Gipsabgüsse und der kolorierten Radierungen an den Wänden, die sie, aus der Not eine Tugend machend, größtenteils eigenhändig anfertigen will, folgt sie Sophie von La Roches Vorlage. Während aber die Autorin der Pomona sich als liebende Mutter, umsichtige Hausfrau, kluge Gefährtin bedeutender Männer und kenntnisreiche Kunstsammlerin einführt, betont das Hachenburger Fräulein mit grimmigem Humor die eigene Kargheit. Parodistisch konterkariert sie <?page no="266"?> 266 Ulrike Leuschner 99 Lies: Pfühl, »ein gröszeres mit federn gefülltes ruheküssen, besonders als bettunterküssen, oder etwas die Stelle desselben vertretendes; synekdotisch auch das bett, das lager«, in: Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 7, Sp. 1806. 100 Grün an Merck, 6.1.1785, in: Merck: Briefwechsel, Bd. 3, Nr. 721, S. 638. das implizite Bildungsprogramm La Roches bis hin zu dem autopoetischen Einschub: Da ich meinen Brief überlesen fällt mir der Stadt Diener wieder ein, der einmal die Armseelige Habseeligkeiten eines hiesigen Bürgers ausruffte - do is Erde Geschir - Bänck - hölzen Tisch - ent Eißentippen - u.s. weiter - Fuhl 99 - wem dat nit anstitt! do kann dä Töwel weßen Wat dem anstihn mag! ! ! ! 100 <?page no="267"?> 1 Vgl. Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften (Phil.-hist. Abt.), 1910, Nr. 29, S. 549. - Die Offenbacher Briefe wurden 1965 in Auswahl von Kurt Kampf (nachfolgend als: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach) veröffentlicht. Eine weitere Auswahl aus dem Briefwechsel veröffentlichte Michael Maurer 1983. Vgl. zum Briefwechsel jetzt auch Pujari: »Ihre Briefe haben mich Freudentränen weinen machen«, außerdem dies.: Drei Briefe an Elise zu Solms-Laubach [Faksimile und Transkription von Gatter], S. 59-75. 2 Vgl. Prößler: Friedrich Ludwig Christian zu Solms-Laubach, S. 1. 3 Prößler zufolge soll im Gräflich Laubachischen Archiv in Laubach ein Brief La Roches an Graf Friedrich, Karlsruhe 21.5.1783, erhalten sein. Das Archiv konnte dies aber nicht bestätigen. Stattdessen findet sich ein Brief an ihn vom Dez. 1784 im Bestand. GSLA, Sign. B-Ruber, XII, 49. 4 Isenburg: Um 1800, S. 121. Jürgen Vorderstemann »An Elise, die Einzige unter den deutschen Fürstinnen«. Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach Sophie von La Roche hat von 1783 bis 1807 rund 360 Briefe an die Gräfin Elisabeth zu Solms-Laubach (1753-1821) geschrieben, über die zuerst Gustav Roethe 1910 einen nicht überlieferten Vortrag in der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1 gehalten hat. Gegenbriefe sind nicht erhalten, so dass die Gräfin nur indirekt in Erscheinung tritt. Diese, auch Elise oder wegen ihrer Herkunft »die Fürstin« genannt, wurde als Prinzessin von Isenburg-Birstein geboren und heiratete 1767 den Erbgrafen zu Solms-Laubach. Mit dem frühen Tode ihres Gatten 1772 wurde die Gräfin Vormund ihrer Kinder Friedrich (1769-1829) und Sophie (1771-1807). 2 Die beiden Kinder der Gräfin sind für den Briefwechsel wichtig, weil die Briefe auch immer wieder Apostrophen an sie enthalten. Sie standen auch selbst von Jugend an in eigenem Briefwechsel mit La Roche. 3 In diesen Kreis wurde schon früh der Verwandte und Jugendfreund der Kinder Graf Volrat zu Solms-Rödelheim- Assenheim einbezogen, der später die junge Sophie heiratete. Er hat La Roche schon 1786 in Speyer besucht. 4 <?page no="268"?> 268 Jürgen Vorderstemann 5 Solms-Laubach: Geschichte des Grafen- und Fürstenhauses Solms-Laubach, S. 375: »Nach dem Tode ihres Schwiegervaters wußte sie […] die Finanzen des Hauses durch die peinlichste Ordnung und ihren ausdauernden Fleiß so schnell wieder zu ordnen, daß sie ihrem Sohne Laubach schuldenfrei und 1000.00 fl. in Cassa übergeben konnte.« Mit Bedauern fügt er an, dass sie dazu u.a. die prachtvollen Hirschgeweihe des Schwiegervaters verkaufen ließ. 6 Pomona 1783, H. 8, S. 736. 7 Ebd., 1783, H. 1, S. 16-22. 8 2.5.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 1, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 139, S. 249. - Zitate aus den Briefen werden, soweit sie veröffentlicht sind, in der normalisierten Form dieser Publikationen wiedergegeben, Zitate aus den Handschriften nach dem Originalbefund. Folgende Autographen-Bestände wurden benutzt: Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz/ Pfälzische Landesbibliothek: Briefe von Sophie von La Roche an Gräfin Elise zu Solms-Laubach 1783-1786 (Autogr. 159/ 1-31). - LBZ/ Rheinische Landesbibliothek (RLB): 12 Briefe von Sophie von La Roche an Gräfin Sophie zu Solms-Rödelheim und Assenheim 1787-1799 (Sign. H 88: 2: 1-2: 12). - Stadtarchiv Offenbach: Briefe von Sophie von La Roche an Gräfin Elise zu Solms-Laubach 1786-1807 (Bestand 1224a). - Gräflich Laubachisches Archiv in Laubach, GSLA B-Ruber, XVII, 49: Brief Sophie von La Roche an Graf Friedrich zu Solms-Laubach vom Dez. 1784. Als 1784 der Schwiegervater starb, übernahm Gräfin Elise bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes die Regentschaft. Damit befand sie sich in ähnlicher Verantwortung wie Anna Amalia von Sachsen-Weimar oder die Große Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt. Ihre Leistungen als Regentin werden durchaus positiv bewertet. 5 Nach der Regierungsübernahme durch ihren Sohn nahm sie 1795 ihren Witwensitz auf dem Hofgut in Utphe bei Hungen (heute Landkreis Gießen). Zu Beginn der Korrespondenz sind La Roche 53, die Gräfin 30, der Sohn Friedrich 14 und die Tochter Sophie 12 Jahre alt. Doch keine der erwähnten Personen findet sich in der Abonnentenliste der Pomona am Ende des Jahrgangs 1783. Dagegen wird im Augustheft der Pomona dieses Jahres Gräfin Elisabeth in der Aufzählung bedeutender Frauen genannt. 6 Die Initiative zu dem Briefwechsel ist offenbar von der Gräfin ausgegangen, die sich durch einen Artikel der Zeitschrift besonders angesprochen gefühlt hatte. Möglicherweise war der Auslöser der Erste Brief an Lina im 1. Heft 7 gewesen. In ihm wird der Verlust teurer Familienmitglieder thematisiert. Wie aus La Roches Antwort hervorgeht, muss die Gräfin den schmerzlichen Verlust ihres Gatten oder auch den zweier früh verstorbenen Kinder beklagt haben, denn für »erlittenen Schmerz« weiß sie tröstende Worte zu finden. 8 Mit diesem Beginn ist die Art der Beziehung schon angedeutet: Die Briefe sind sehr sentimental und sehr privater Natur und gehören nicht in den Zusammenhang literarischer Briefwechsel, auch wenn literarische Themen immer wieder hineinspielen. <?page no="269"?> 269 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 9 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 341-342. 10 Vgl. ebd., S. 345. 11 Ähnliches konstatiert Joachim Berger für Anna Amalia von Sachsen-Weimar: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 63-64. 12 Isenburg: Um 1800, S. 31. 13 1.1.1799, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 157, S. 79. 14 Speyer, 2.8.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 4, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 143, S. 259-260). Vgl. Pomona 1783, H. 3, S. 248-249. 15 Samstag früh, Juni [1785], LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 19; vgl. auch La Roches Journal einer Reise durch Frankreich, S. 424-434. 16 Beide Zitate aus dem Brief vom 24.11.1788, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 41, S. 33. Die Briefpartnerinnen gehören unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Generationen an, ihre Freundschaft überbrückt die Kluft zwischen bürgerlicher Oberschicht und (zunächst noch) regierendem Adel und dauert über die schweren Zeiten der gesellschaftlichen Veränderungen in der Folge der Französischen Revolution fort. Die Resonanz der Schriftstellerin bei der Höhergestellten, nach Bourdieu die »externe Hierarchisierung« 9 oder »weltlicher Erfolg«, ist Teil ihrer Positionierung im literarischen Feld. 10 Es finden sich entsprechend immer wieder in den Schriften La Roches Hinweise auf Fürstlichkeiten, die ihr Wertschätzung zuteil werden ließen. Die Gräfin hingegen, die - auch ohne La Roche - mit Persönlichkeiten der Literatur und des damaligen Geisteslebens in Verbindung stand, ergänzte mit dieser Beziehung ihr eigenes Netzwerk 11 und begründete so ihren Ruf als die »Philosophin von Utphe«. 12 Der Stellenwert dieser Brieffreundschaft für La Roche erhellt aus der Bemerkung: »Ich finde schön und billig, an Wieland, den Einzigen unter den deutschen Dichtern, und an Elise, die Einzige unter den deutschen Fürstinnen, zu schreiben und an sonst niemand.« 13 Die Briefe La Roches spiegeln in der äußeren Form wie im Inhalt wechselnde Befindlichkeiten und Lebensumstände wider. Die Spanne geht von sehr sorgfältig bis zu eilig geschriebenen Zeilen, Krankheitszeiten zeichnen sich auch im Schriftbild ab. Einige Briefe sind so weit ausgearbeitet, dass sie fast unverändert in Veröffentlichungen übernommen werden konnten, z.B. der Bericht über ihren Speyerer Tageslauf 14 oder der mitgeschickte Tagebuchauszug über ihren Besuch bei der pädagogischen Schriftstellerin Madame de Genlis 15 , andere sind inhaltsleer: »Sie, meine Briefe sind selten von Gehalt«; sie dienten nur der Aufrechterhaltung des Kontakts: »damit doch meine Seele Elisen« umschwebt. 16 In ihrer Sprunghaftigkeit, die sich u.a. in einer Unzahl von Gedankenstrichen und Parenthesen zeigt, wie auch in den thematischen Sprüngen entsprechen ihre Briefe Lavaters Charakterisierung ihrer Person als »Verschwebteste«, die »außerordentlich leicht von einem Gegenstande zu <?page no="270"?> 270 Jürgen Vorderstemann 17 Zitat aus Lavaters Physiognomischen Fragmenten nach Becker-Cantarino: Die Lektüren Sophie von La Roches (1730-1807), S. 212, Anm. 38. Vgl. auch die Reaktion darauf in: Melusinens Sommer-Abende, S. LI. 18 Speyer, 25.6.1783, Sign. LBZ/ PLB, Autogr. 159/ 3, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«; Nr. 140, S. 249. 19 Offenbach, 18.7.1802, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 211, S. 93. 20 Friedberg, [1789], ebd. Nr. 45, S. 34. 21 Brenner: Harmoniekultur, S. 185-186. 22 Beide Zitate aus dem Brief Speyer, Im Febr. 1784; LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 8; vgl. auch 18.3.1784, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 9. einem anderen übergehe« 17 , und sie bestätigen ihre Selbsteinschätzung, dass sie »mehr Herz als Kopf« 18 ist. Das zeigt sich auch in der Tränenseligkeit und zahlreichen Segnungen und Umarmungen, die den unmittelbaren Zugang zur Partnerin eröffnen. Persönlich getroffen haben sich die beiden Damen sehr selten. Ankündigungen von Treffen oder Besuchen gibt es zwar in größerer Zahl, aber wirklich gesehen haben sie sich nur wenige Male: Die briefliche Aufarbeitung eines Besuches der Gräfin in Offenbach 1802 ist überschwänglich: Nehmen Sie noch gütigst meinen tiefgefühlten Dank für Ihre Engelserscheinung in meiner Hütte, und Gott der Allmächtige segne und lohne Fürstin Elise für die Freudentränen, die sie mich weinen machten. […]. Ich fühle es mit den Katholischen: Die Berührung eines Heiligen, wie wert, wie heilig wird alles […]. 19 Diese Überhöhung erstreckte sie auf die ganze Familie: »Laubach ist mir ein Tempel geworden, zu welchem man ferner Gelübde sendet, Tugend gelobt und Tugend verehrt.« 20 Peter J. Brenner hat darauf hingewiesen, dass Brieffreundschaften dieser Zeit - er spricht über die Gleims - eine solche Intensität annehmen können, dass sie in der Wirklichkeit nicht aufrechtzuerhalten wären, ja er geht so weit zu behaupten, dass die angeführten Hinderungsgründe Topoi sind und im Grunde die Angst vor der Begegnung in der Realität verschleiern. 21 In toto ist dieses Urteil auf den hier behandelten Briefwechsel nicht übertragbar, denn die wenigen Zusammentreffen relativieren es, tendenziell muss man ihm jedoch zustimmen. Diese Briefe sind nicht darauf angelegt, in sympathetischen Runden verlesen zu werden, und auch nicht in Gedanken an eine spätere Veröffentlichung konzipiert. Die Versuchung dazu ist La Roche allerdings schon angekommen: »Hätte ich mir erlaubt, Auszüge aus den Briefen von Elisabeth zu machen - wie schön wäre das Heft geworden und wie süß die Arbeit damit.« Doch Briefe Dritter, z.B. der Stolbergs oder Wielands, werden weitergereicht. 22 Die Briefe der beiden Damen aber bleiben im privaten Bereich; nur <?page no="271"?> 271 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 23 Speyer, 2.8.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 4, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 143, S. 255-260. 24 O. D., 1793, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 91, S. 50-51. 25 22.11.1787, ebd., Nr. 20, S. 30. 26 Sternheim, S. 163. den Kindern der Gräfin, die auch persönlich angeredet werden, öffnet sich die Korrespondenz. Die beiden Frauen geben einander neben aktuellen Mitteilungen und auch etwas Klatsch genaue Nachrichten über die Schicksale ihrer Kinder oder anderer Familienangehöriger. La Roche berichtet über ihre Reisen, über Krankheit und das Sterben ihres Mannes, über den Tod ihrer Kinder Maximiliane und Franz, über die Brentanos. Einen besonderen Raum nimmt das Totengedenken für diese Tochter und für den Lieblingssohn Franz ein. Auch die Gräfin muss sehr persönlich geschrieben haben, denn es finden sich immer wieder Reaktionen darauf. Später bestimmen Situationsberichte über Krieg und Besatzung einen Teil der Korrespondenz. Der Ton ist sehr offen. So charakterisiert La Roche im langen Brief 1783 23 ausführlich die Stärken und Schwächen ihrer Söhne, 1793 geht sie sogar die Gräfin ganz konkret um den Ankauf einer in Gold gefassten Dose an, um das Begräbnis ihrer Schwester bezahlen zu können. 24 Im Laufe der Bekanntschaft wandelt sich die Ansprache La Roches. Der Grundton der Verehrung bleibt bestimmend, doch was anfangs sicher hauptsächlich Konvention, ihr üblicher überschwänglicher Stil war, wird zunehmend familiärer, um schließlich in unheiliger Zeit in eine Art Kult und Heiligenverehrung nicht nur der gräflichen Person, sondern ihrer ganzen Familie überzugehen. La Roche projiziert letztlich ihre eigenen Wunschvorstellungen in die Briefpartnerin und ihr Umfeld. Anreden und Schlussformeln enthalten anfangs Bekundungen der Demut wie »Dienerin, »küsse die Hand« usw., werden später lockerer (»liebe Fürstenseele« oder Anrede mit Vornamen) und sie zeichnet auch ›burschikos‹ als »Ihre alte La Roche«. Auffällig ist, dass sie in Briefen aus dem Jahre 1806, ausgerechnet zu der Zeit, da die Grafschaft ihre Selbständigkeit verliert, die Gräfin als »Euer Durchlaucht« anredet und sich damit gegen die Zeit stellt. La Roche war eine Anhängerin der alten ständischen Ordnung und hat diese auch mehrfach z.B. gegen Mesalliancen wie die des Prinzen Moritz von Isenburg verteidigt. 25 Diese »Ordnung, die Gott unter den Menschen durch die ›Verschiedenheit der Stände‹ gesetzt hat« 26 , hatte sie schon in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) vertreten. Zwar hatte ihre Romanheldin ihre niedrigere Geburt durch Seelenadel kompensieren können, doch offenbar noch als Ausnahme von der Regel. Aber jetzt lebt die jüngere Generation diesen Wandel; denn am Offenbacher Hof gibt es noch mehr solcher <?page no="272"?> 272 Jürgen Vorderstemann 27 Kampf: Vorwort, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, S. 18. 28 Schreibetisch, Bd. 1, S. 59. 29 Ebd., S. 62. 30 Speyer, 5.2.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 1 LBZ/ PLB, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 139, S. 248-249. 31 Speyer, 26.6.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 3, auch ebd., Nr. 140, S. 250. 32 Speyer, 27.12.1784, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 14, auch ebd., Nr. 151, S. 270. 33 Speyer, 27.12.1784, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 14, auch ebd., Nr. 151, S. 271. 34 Speyer, 4.11.1786, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 29. 35 Speyer, 6.11.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 6. 36 Speyer, 11.5.1786, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 25. morganatischen Ehen. 27 Die im Roman so fortschrittliche Autorin ist in der Realität nicht bereit, das zu akzeptieren. Auf der anderen Seite - und darin ist sie zwiespältig - ist sie selber schon ein Teil der auf Bildung und Tugend basierenden neuen Netzwerke und fühlt sich auch so. Graf Volrat akzeptiert das, wenn er ihr gegenüber von »Erb- und erworbenem Adel« 28 spricht, und sie selbst sieht »das Bild der bürgerlichen Tugend, recht gut neben den Zügen der edlen Seele des Grafen Volrat von Solms-Assenheim« 29 . In der Gräfin sieht sie die Verkörperung ihres Tugendsystems, wie sie es schon in Sophie Sternheim angelegt hatte. Schon im ersten an sie gerichteten Brief 30 spricht sie von ihrer »schönen Seele« und deren »moralischem Ton«. Was das bedeutet, konkretisiert sie schon im übernächsten Brief als tätiges soziales Handeln: »Müde muß Ihr Körper sich niederlegen, aber gewiß muß eine Träne des Danks in Ihrem einschlummernden Auge noch glänzen, daß der Ewige Sie Gutes tun ließ« 31 oder in einem späteren Brief: Sie arbeiten als beste, treueste Mutter, leben als Tochter zum Beispiel für andre, beschäftigen Ihren Geist mit den schweren, aber gewiß für Ihre Seele süßen Sorgen der Regierung eines Landes, sind dabei die edelste, zärtlichste Freundin, voll Tugend und Tugendliebe. 32 Ihre eigene Rolle sieht sie darin, dass sie zur »Beruhigung Ihrer [der Gräfin, J.V.] tätigen Seele« beitragen will, weil sie weiß, »wie schmerzlich der Mangel ist, allein mit einem hohen Maß Gefühle zu wandlen, niemand zu haben, in dessen Busen das Überfließende zu vergießen wäre«. Sie bietet sich damit als Freundin und »das zweite Gewissen« 33 an, sucht sich aber auch selbst zu offenbaren: »O Sie edle wahre frau! sollen ganz sehen die seele. von Sophie La Roche« 34 . Diese denkt sie sich in völliger Übereinstimmung mit der ihrigen: »Ihre Seele fühlt alles was die meine denkt.« 35 Auch ihre Lektüreempfehlungen haben einen empfindsamen Grund, nämlich »gute bücher simpatetisch mit Ihnen zu lieben - mit diesem schönen band an Sie gefesselt zu seyn, wie eine Seele es an Ihrer moralischen Seele ist.« 36 An Elises Tochter Sophie zu Solms-Assenheim schreibt sie in ähnlichem Zusammenhang: »Sie wissen <?page no="273"?> 273 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 37 Offenbach, 24.6.1795, in: La Roche: Briefe an Sophie Gräfin zu Solms-Rödelheim und Assenheim, S. 286. 38 Speyer, 20.1.1786, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 20, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 157, S. 278. 39 Speyer, 4.6.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 2. 40 Speyer, 17.9.1785, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 18. Überhaupt rühmt sie gern die ausübende Tugend bei Herrschern, so z.B. beim Königspaar von Neapel, der Herzogin von Parma, der Erzherzogin von Mailand (Pomona 1783, H. 6, S. 522), auch wenn dies gegenüber der historischen Wahrheit nicht immer gerechtfertigt ist. 41 Zum Beispiel Speyer, 14.3.1786, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 23. 42 Im Februar 1784, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 8. 43 Vgl dazu Deinhardt/ Frindte: Ehe, Familie und Geschlecht, S. 254-272. 44 13.12.1801, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 199, S. 91. Simpathie des denkens und der gefühle ist das was Harmonie der Töne in musik ist.« 37 Als zweites Gewissen sucht sie Einfluss zu nehmen und die Rolle der Gräfin zu definieren, man kann auch sagen, sie nach ihrem Wunsche zu bilden: Und Sie, geliebte Fürstin, müssen der Segen von Laubach werden durch Sie selbst und durch die Bildung, welche Sie der Seele Ihres Sohnes geben. Sie sind zu viel moralischer Stärke berufen, immer Opfer von dem zu machen, was Sie lieben und wünschen. Als Regentin könne sie kein süßeres Glück finden als das Wohl ihres Landes. »Der Begriff von Aufklärung, den Sie haben, ist gewiß der einzig wahre, weil er einzig zum thätigen Guten führt; und tätiges Gute ist allein wahre Tugend und Glaube.« 38 Immer wieder betont sie die Opferrolle der Frau: »Gram bildet unser Herz« 39 , darin sei sie schon mit der Großen Landgräfin von Hessen-Darmstadt einig gewesen, doch aus dieser Bildung entstehe auch ihre Kraft zu ausübender Tugend. Diese bewährt sich auch in Wohltätigkeit. »Ich küsse und seegne Ihre Hände - welche das Herz des künftigen Landes vatters so gefühlvoll für die armen bildet […].« 40 Daher kann sich La Roche in mehreren Fällen erfolgreich bei der Gräfin für mittellose junge Damen von Stand verwenden. 41 Zentral ist zunächst in der Korrespondenz die Thematik der Kindererziehung. Sie lag ihr schon immer am Herzen. Pietistische Einflüsse verbinden sich hier mit denen Rousseaus. Die Familie ist nach einem »Grundsatz ihres Herzens« Ausdruck von Gottes Güte, und der »anblick einer famillie in welcher jede tugend und jedes verdienen blüht […] ein um so edleres seligers vergnügen als Seele mehr als Cörper ist.« 42 Diese Aussage verweist auf die Emotionalisierung der Familie ausgangs des 18. Jahrhunderts. 43 1801 gesteht sie, wie glücklich sie sei, »nun drei Generationen von zwei Familien zu kennen, wo Verdienst und Güte erblich sind.« 44 <?page no="274"?> 274 Jürgen Vorderstemann 45 15.11.1797, ebd. Nr. 140, S. 72. 46 Speyer, 14.9.1783, PLB/ LBZ, Sign. Autogr. 159/ 5, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 144, S. 261. 47 Speyer, 25.6.1783, PLB/ LBZ, Sign. Autogr. 159/ 3, auch ebd., Nr. 140, S. 250. 48 Sternheim, hrsg. v. Becker-Cantarino, S. 44. 49 Samstag früh Juin [1785], LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 16. Gewöhnlich geht es weniger um die eigenen Kinder La Roches als um Wünsche und Ratschläge für die der Briefpartnerin. Über die eigene Familie berichtet sie im allgemeinen nur kurz und schließt gern mit Sentenzen: »Es ist süßer, um ein Kind zu weinen, so tot ist, als über eines, das lebt oder O wie süß und wie bitter ist es, Mutter zu sein.« 45 Auch pädagogische Probleme mit den ihr anvertrauten Enkelinnen spielen in den Briefen der ›Erzieherin von Teutschlands Töchtern‹ keine Rolle. Wirklich ergreifend ist nur ihr Brief aus Lausanne vom 29. November 1791, in dem sie sich für die Kondolenz zum Tode ihres Lieblingssohnes Franz bedankt: »O Fürstin Elise, ich leide! « Die Gräfin dagegen empfängt Belehrungen und Erziehungskonzepte, vor allem durch Literaturempfehlungen, die sie auch an ihre Kinder weitergeben soll, denn Bücher und Kupferstiche seien »beste Nahrung für Geist und Geschmack.« 46 Für den Sohn bzw. die Tochter werden geschlechtsspezifisch unterschiedliche Ziele formuliert: Ihr Prinz soll kein Krieger, sondern ein weiser, wohltätiger Vater seiner Untertanen werden […]. Aber Ihre Sophie, welche einst in ein fremdes Haus tritt und dort nicht den Geist des väterlichen finden wird - wie nötig ist dann der heroische Mut, tausend ihrem Genie, ihrer Herzensgüte widerstrebende Dinge zu tragen und zu vergeben. 47 Den Fürsten als »wahrer Vater und Vormünder« seiner Untertanen 48 hatte sie sich schon in der Sternheim gewünscht, für die Frau kennt sie wieder nur die Rolle der Aufopferung. Eine von ihr als beispielhaft empfundene Mädchenerziehung hatte sie auf ihrer Frankreichreise bei Madame de Genlis, dem »Genius der schönen Wissenschaften«, erlebt. Der Bericht darüber - ein Auszug aus ihrem Tagebuch - ist einer der umfangreichsten der gesamten Korrespondenz. 49 Die Erziehung der Genlis beruhte, ähnlich wie im Pietismus, darauf, die Kinder alles aufschreiben zu lassen, was sie den Tag über getan haben, und es abends mit ihnen kritisch durchzusprechen. Dazu kam über den Tag verteilt wechselnder Sprachunterricht. Die gelehrte Frau hielt Distanz zu den Philosophen Voltaire, Helvetius und Diderot, denen sie vorwarf, durch Untergrabung der Religion die Beweggründe zur Tugend zu schwächen. Diesen Gedanken wird La Roche in ihren politischen Anschauungen im Zuge der revolutionären Umwälzungen wieder aufnehmen und deshalb für ihre Enkelinnen 1793 noch Schriften von Fénélon als Erziehungswegweiser übersetzen, »damit sie einst eine richtige Idee von […] ehemaligen <?page no="275"?> 275 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 50 3.3.1793, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 81, S. 46. 51 Vgl. Schultz: »Unsere Lieb aber ist außerkohren«, S. 39. 52 Gräflich Laubachisches Archiv Laubach, Sign. GSLA B-Ruber, XII, 49. 53 Speyer, 25.9.1784, PLB/ LBZ, Sign. Autogr. 159/ 11, auch bei Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«, Nr. 149, S. 268. 54 26.10.1798, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 154, S. 77. 55 Prößler: Friedrich Ludwig Christian zu Solms-Laubach, S. 4. 56 Speyer, 23.5.1786, PLB/ LBZ, Sign. Autogr. 159/ 26. 57 Prößler: Friedrich Ludwig Christian zu Solms-Laubach, S. 5. 58 17.4.1791, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 71, S. 38. Religionsideen und der so herabgesetzten königlichen Regierungsart in Vergleich mit der Republik, mit welcher sie aufwachsen, haben mögen.« 50 Andererseits hat sie aber auch Aphorismen von Mirabeau übersetzt, Auszüge aus seinen Briefen genommen und aus ihnen die Enkelin Bettina Brentano einen Gedenkspruch wählen lassen. 51 Zur Erziehung des jungen Erbgrafen gibt sie konkrete Ratschläge. Schon 1784 hält sie dem Fünfzehnjährigen vor Augen, was seine Aufgabe sein wird, nämlich »zum würdigen Herrn - Führer - und Vater Ihrer Untertanen [zu] werden« und damit zum »Lohn für die treue Mutterliebe […] das Glück Ihres Landes [zu …] werden.« 52 So empfiehlt sie der Gräfin und vor allem ihrem Sohn Lektüre über die Pflichten eines Regenten wie die gerade 1784 erschienenen Principes de Morale des Gabriel Bonnot de Mably, eines Philosophen aus dem Umkreis der Enzyklopädisten und Bruder Condorcets, der u.a. die Gleichheit der Menschen und einen humanitären Kommunismus vertrat, ohne dabei das monarchistische Prinzip aufzugeben. Vermutlich hat La Roche die Sprengkraft in diesen Texten noch nicht erfasst, aber »man kann ja nichts so gerad zu brauchen wie es steht, sondern muß es auf seine Umstände anpassen.« 53 Offenbar berichtet die Gräfin, zu deren Lieblingsschriften Ciceros De officiis [in Garvens Übersetzung] gehört 54 , über ihren Sohn auch dadurch, dass sie Briefe von ihm beilegt. Das Erziehungskonzept der Gräfin setzte auf Liebe und gütiges Zureden, was bis etwa zum 14. Lebensjahr funktionierte. 55 Darauf antwortet La Roche begeistert: »[…] aus Ihren Lehren wird ein neu Geschlecht aus neuen Laubach erstehen. 56 In seiner weiteren Entwicklung aber entfernte er sich von seiner empfindsamen Mutter. »Er sah« - nach Urteil seines Biographen - »zu deutlich die Gefahren des um jeden Preis Gutseinwollens. Friedrichs Stärke lag in der Tätigkeit, im Handeln nach Grundsätzen und Pflichten.« 57 Zum Missvergnügen seiner Mutter wird Friedrich von Wien unvorhergesehen vorzeitig für majorenn erklärt. Das verleidet dieser Laubach. Am 17. April 1791 fragt ihre Briefpartnerin an: »Gewiß, geliebte Familienmutter, bin ich entfernt, Familiensachen hören zu wollen, aber setzten Sie mich in den Stand, diesen Ideen zu begegnen und sie zu berichtigen.« 58 Offenbar gab <?page no="276"?> 276 Jürgen Vorderstemann 59 Schreibetisch, Bd. 1, S. 56-59. 60 Isenburg: Um 1800, S. 95. 61 Brief vom 23.8.1785, ebd., S. 41. 62 Vgl. die von Bastian herausgegebenen Briefe La Roches an Sophie zu Solms-Rödelheim- Assenheim. 63 29.12.1788, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 44, S. 34. es doch Grenzen der Mitteilsamkeit, wenn das Landesinteresse berührt wurde. In der Differenz über die Volljährigkeit deutet sich aber die Lösung des Sohnes von der Mutter an. Im Briefverkehr mit La Roche tritt statt seiner immer mehr Graf Volrat, der auch selbst dichtete, Gräfin Elise schwärmerisch angehangen hatte und die Tochter Sophie heiratete, in den Vordergrund. Er war außerdem in Marburger Studentenjahren ein enger Freund von La Roches Lieblingssohn Franz gewesen, hatte ein Gedicht auf seinen Tod geschrieben 59 und 1796 gar seinen dritten Sohn nach ihm benannt, 60 was die engen Bande noch verstärkte. Wie sehr Volrat in der Tochter die Mutter wiederzufinden suchte, zeigt ein Brief an sie aus dem Jahre 1785, 61 in dem er Elisens Eigenschaften aufzählt, in denen sich die 14-jährige, seine spätere Ehefrau, noch vervollkommnen müsse: »Wißbegierde, männlicher Sinn, spekulativer Geist, Ekel vor Ziererei, Schmähsucht und Prüderie, Herzensgüte und tätiges Mitleid und das Vorziehen des Guten vor dem Angenehmen.« Diese Aufzählung wirft einmal von anderer Seite ein Licht auf die Eigenschaften der Gräfin und ist umso interessanter, als diese in dem umfangreichen Briefwechsel selbst eher blass bleibt und nur als Projektionsfläche für ein tugendhaftes Fürstinnenideal erscheint. Sophie von La Roche ist 1793 und öfter in Assenheim gewesen; der persönliche Kontakt zu dem jungen Ehepaar war damit intensiver und lebensnäher als zur Gräfin selbst. 62 Einem Brief an Elise fügte sie ein eigenes Gedicht an das junge Paar an: Graf Volrath! Gräfin Sophie! Wohlsein, Glück und edle Freude Schmücke mit der Ehre Glanz Eurer Tugend Feierkleide und der Liebe Myrthenkranz. 63 Auf die junge Sophie sucht sie noch erzieherisch einzuwirken: Fritz Jacobi sagte mir einst - : Sophie! Der Wille des menschen ist das mächtigste Hebewerk, in der gantzen Natur - und Diderot sagte un cœur noble, et rempli de bonne volonté est une force inepuisable de Lumiere nun legen Sie die hand der wahrheit ohne zu weit getriebene bescheidenheit auf Ihr Hertz - und sagen - ob Sie nicht deutlich fühlen - Ja ich kann - so wie ich will - und ob nicht Ihre augen mit heitren glüklichen bliken zum Himmel erhoben - <?page no="277"?> 277 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 64 Offenbach 24.6.1795, in: La Roche: Briefe an Sophie Gräfin zu Solms-Rödelheim und Assenheim, S. 286. 65 18.9.1794, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 104, S. 56. 66 O.D. 1794, ebd., Nr. 106, S. 58. 67 10.10.1797, ebd., Nr. 139, S. 72. 68 Eine Kostprobe in Form einer Prosa-Erzählung findet sich bei Isenburg: Um 1800, S. 32-37. Im Gräflich Laubachischen Archiv hat sich davon kein Zeugnis erhalten. Kampf erwähnt in seinem Vorwort (S. 13) Titel von kleineren Aufsätzen, mit denen sie ihren Freundeskreis erfreute. 69 29.12.1788, ebd., Nr. 44, S. 34. 70 22.10.1806, ebd., Nr. 319 S. 104. Ihre schritte leichter Schwebender sind: und ob Sie mit wahrheit etwas gegen meine gedanken sagen können -. 64 Volrat erhält über Briefe an Gräfin Elise auch immer wieder Lektürevorschläge: 1794 kann sie ihm Jacobis Woldemar nicht dringend genug ans Herz legen, sie wiederholt dies noch in weiteren Briefen: »Der gern über eigene Köpfe nachdenkende Graf Volrat soll Fritz Jacobis ›Woldemar‹ lesen […], besonders weil viel von Erziehung darin ist«, und er soll den Roman mit Jung-Stillings »Heimweh« vergleichen. 65 Auch als literarischer Gutachter und Ratgeber in Fragen der Zeit wird er später einbezogen. »Das Urtheil von Ihnen, von Graf Volrath würde mir sehr nützlich sein.« 66 1797 möchte sie gern Politisches mit ihm diskutieren: Ich weiß nicht, wo ich den Herrn Grafen von Assenheim zu suchen habe, aber ich möchte ihn gar zu gern über die Revolution in Weimar sprechen, wo Goethe, Bertuch, Wieland und Herder über ein paar emigrierte Familien eifersüchtig wurden und Weimar zu quittieren wünschten, weil der Hof diese Unglücklichen aufnahm und sie mit Achtung behandelte. 67 Die Literatur und der literarische Zirkel machen einen wichtigen Teil der Briefinhalte aus, der ja schließlich durch Pomona seinen Anfang genommen hatte. Die Gräfin selbst hat schriftstellerisch dilettiert, aber nichts veröffentlicht. 68 Sie war von Anfang an für Sophie von La Roche eine Art Testleserin oder Lektorin, der sie ihre Schriften zuschickte, bald schon vor der Veröffentlichung, z.B. »Hier etliche Blätter von meinem neueren Gekritzel« mit der Frage: »Soll ich den Tadel über Schiller stehen lassen? « 69 Die Gräfin bekam Berichte über den Fortgang der Pomona und späterer Werke, auch Exemplare von Neuerscheinungen. Noch bei La Roches letzten Werken wird die Gräfin um Rat gebeten, schon weil wegen der Zeitumstände und zeitweiser Entfremdung Wieland ausfällt. Zum Konzept von Melusinens Sommerabende befragt sie sie: »Darf ich um Ihre Ideen, gnädigste Frau, zu Bernardin de Saint-Pierre fragen? Ich bin in ängstigem Zweifel deswegen […].« 70 Ihre Buchempfehlungen entsprechen weitgehend denen in Mein Schreibetisch, in <?page no="278"?> 278 Jürgen Vorderstemann 71 Vgl. Seifert: ›Sentimentale Sandsäckchen‹, S. 167-199. 72 10.10.1797, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 139, S. 72. 73 14.3.1800, ebd., Nr. 182, S. 86-87. 74 17.4.1791, ebd., Nr. 71, S. 38. 75 21.5.1802, ebd., Nr. 268, S. 99. bunter Mischung vom Journal London und Paris bis zu wissenschaftlichen Werken und schöner Literatur. Doch nicht nur Bücher - auch Neuigkeiten von und zu Besuchern aus der literarischen Szene (Knebel, Bonstetten, Wielands Schwiegersohn Geßner) werden weitergereicht. Ihre briefliche Schilderung der Reise nach Weimar ist in ihrem Kontrast zu den Berichten der Weimarer interessant, die ja nicht nur positiv waren. 71 Über Goethe sagt sie: »Goethe habe ich gesehen und seine Verwandlung angestaunt«, und sie zitiert eine ursprünglich auf David Hume gemünzte Äußerung: »Cet homme a mis tout son esprit dans ces [sic! ] livres«. Wieland, über dessen Landleben in Oßmanstedt sie sich literarisch so schwärmerisch geäußert hat, wird im Brief realistischer betrachtet und tut ihr leid, weil er sich finanziell übernommen hat. 72 Skeptische Urteile fällt sie auch über andere Literaten ihres Bekanntenkreises: Mendelssohns Tochter (Dorothea Veit, später Schlegel) habe seinen Geist geerbt, verschwende aber sein Geld, 73 Therese Forster bezeichnet sie als »merkwürdiges Geschöpf«. 74 Kritisch würdigt sie die ›Wandelbarkeit‹ literarischer Freunde: Über Fritz Jacobi, Graf Friedrich Leopold von Stolberg und den Theologen Georg Heinrich Nicolovius schreibt sie: »Wenn man nun vermuten sollte, die Ideen dieser Männer sind wandelbar wie ihre Personen, so wird [man] ganz anderen Blick auf das Fach werfen, wo ihre Werke stehen, als der war, als man sie sich anschaffte.« 75 Dass ihre literarischen Freunde im Laufe der Zeit ihre Ansichten ändern, sieht sie als Inkonstanz an. Sie selber ist überzeugt, ihren einmal erworbenen Ansichten ihr Leben lang treu zu bleiben. Besonders bemerkenswert ist ein Bericht über letzte Briefe, die Moses Mendelssohn an Freunde des 1784 aus Indien zurückgekehrten und ihr bekannten Gouverneurs Warren Hastings schrieb: Sie müssen das letzte lesen, was Mendelson schrieb - […] - Ihr Herz wird bey der beschreibung seiner krankheit und seines todes schmelzen - mir ist er traurig weil man einen freund den ich als höchst rechtschaffenen geistvollen Mann schätze anklagt - Er habe den Schatten von Lessing beleidigt - und Mendelson um Lessing zu retten habe seine Kräfte überspant, und so verstöhrt, daß Er starb - nun denken Sie, sich die Lage. des angeklagten, zwischen diesen zwey todten ich möchte nie gelebt haben, wenn Mendelson mich so darstellte wie es in diesen blättern geschieht, mit so viel Größe, und so viel Sanftheit - möchte nie gelebt haben, wenn Mendelsons freunde sagten - dein unrecht hat unsern geliebten getödtet - aber durch diese anklage wird der gute <?page no="279"?> 279 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 76 Speyer 24.3.1786, PLB/ LBZ, Sign. Autogr. 159/ 23. Vgl. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 1785. 77 21.8.1791, Stadtarch. Offenbach, Nr. 74. 78 16.2.1794, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 95, S. 51. 79 24.11.1788, ebd., Nr. 41, S. 32. 80 9.9.1788, ebd., Nr. 38, S. 32. 81 Sternheim, S. 37. 82 29.12.1788, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 44, S. 33. 83 22.10.1799, ebd., Nr. 176, S. 85. 84 31.7.1806, ebd., Nr. 307, S. 103; vgl. auch Nr. 308 vom 6.8.1806, S. 103. Lavater gerettet von welchem Sie mir schrieben, dass er zu Mendelsons tod beytrug in dem Er ihn an die desorganisation glauben und darinn arbeiten machte - darüber wünschte [ich] was mehr zu wissen -. 76 Mendelssohn hatte Lessing gegen Jacobis Vorwurf verteidigt, er sei Spinozist, und war wenige Tage nach der Vollendung seiner Schrift gestorben. Lavater hatte eine Kontroverse mit Mendelssohn bezüglich der Überlegenheit der christlichen Religion gehabt, zu der er ihn bekehren wollte, während dieser auf Toleranz zwischen den Religionen bestand. Auch diese Auseinandersetzung von 1771 hatte ihn gesundheitlich sehr mitgenommen. Dass ihren Freunden daraus ein Vorwurf entstehen könnte, stört La Roches Harmoniebedürfnis. Für literarische Fehden hat sie gar nichts übrig: »nächstens soll ein kleiner angrif auf Frau von der Recke, durch die Frau des Darmstädter Oberhofpredigers [Johann August Starck, J.V.] erscheinen - der Himel bewahre mich ewig, vor solchem gebrauch meiner feder, ich will lieber Romanschreiberinn bleiben«. 77 Zwar spricht Sophie von La Roche 1793 von der »Reihe Trauerjahre«, die sie in Speyer zum Schreiben ihrer Pomona geführt habe, 78 doch die wirklichen Trauerjahre traten erst in Offenbach ein, als sie erst ihren Mann, dann die Tochter Maximiliane und den Sohn Franz verlor. Der Tod des Gatten 1788 gab zwar seiner Frau die »teuer erkaufte Freiheit 79 , nach meinem Charakter zu leben, wie bisher nur mit meiner Feder geschehen konnte« 80 - hier nimmt sie eine Formulierung aus dem Fräulein von Sternheim auf: »in Umständen zu sein, worin man nach seinem eigenen Charakter und Neigungen leben kann«. 81 Doch diese wird beeinträchtigt durch materielle Verschlechterung ihrer Umstände. 1788 schreibt sie: »Jetzt sehe ich von der dornenvollen Höhe von 58 Jahren rückwärts viele Stücke verwelkter und zertretener Blumen […]«, nimmt jedoch weiterhin alles als gottgegeben: »Nichts ohne Zulassung von oben, nicht ohne weise, gütige Absicht«. 82 Todesmeldungen von Freunden werden ihr zum Memento mori. Johann Georg Schlossers Tod 1799 betrachtet sie als »böse Vorbedeutung für alles«. 83 Besonders verstört sie der Freitod der Günderode. »O edle, weise Fürstin Elise! Was moralische Verkehrtheit, was für Jammer auf dieser Erde! » 84 Mercks Selbstmord 1791 <?page no="280"?> 280 Jürgen Vorderstemann 85 20.7.1791, ebd., Nr. 73, S. 39. 86 Frankreich, S. 371. 87 21.6.1791, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 72, S. 38-39. 88 17.4.1791, ebd., Nr. 71, S. 38. 89 15.10.1792, ebd., Nr. 77, S. 41. 90 Dez. o.D. [1792], ebd., Nr. 78, S. 43. 91 O.D. [1793], ebd., Nr. 79, S. 43. 92 3.3.1793, ebd., Nr. 81, S. 46. dagegen nimmt sie sehr nüchtern auf und denkt an ihre eigenen finanziellen Interessen, weil sie deshalb unangenehme Arbeit wegen einer mit ihm geplanten Neuauflage der Pomona hat. 85 Ihr Optimismus, dass auch alle Prüfungen letztlich zum Guten führen, wird durch die Erfahrungen der Begleitumstände und Folgen der Französischen Revolution, deren Keim sie bei ihrem Paris-Besuch in der eisigen Atmosphäre um die Kutsche der Marie Antoinette hatte wahrnehmen können, 86 auf die Probe gestellt. Die aufgeklärte Monarchie Friedrichs des Großen und Josephs II. hatte sie bewundert. Doch mit der Französischen Revolution änderte sich die Welt. Was Goethe in Valmy erlebte, erlebte sie in Mainz: »Ich war in Mainz, wohnte bei Demokraten […]. Es bereitet sich eine Szene in unserm Deutschland, und ich muß bei dem Betragen der Höfe denken, die Vorsicht will Änderung haben […].« 87 In Mainz empfiehlt sie einer Bekannten, solle man nicht über Religion reden, 88 und 1792 fragt sie, »wieviel unser Jahrhundert durch seine bereicherte Aufklärung gewonnen und wo der moralische Gewinst liegt.« 89 Zu dieser Zeit übernimmt sie von Edward Gibbon aus seinem Werk The Decline and Fall of the Roman Empire sein zyklisches Weltbild. An Lektüre empfiehlt sie Neckers Sur le pouvoir exemptif dans les grands etats (1792) und von Jean Louis de Lolme Sur la constitution de l’Angleterre ou Etat du Gouvernement anglais (1797). Es ist bezeichnend, dass beide Autoren Schweizer sind. England und die Schweiz waren für sie seit langem vorbildhaft, beide Länder hat sie bereist und ihre Eindrücke literarisch verarbeitet. Einen ganzen Winter lang hat sie dann vergleichend die Verfassungen dieser beiden Länder und dazu die französische gelesen: »Mit Anfang des Frühjahrs las ich die Schweizer Naturgeschichte [von Johann Jacob Scheuchzer, J.V.] und holte mir neue Kräfte, die Abänderungen der moralischen Welt zu tragen.« 90 Die politische Realität drängt sich in den Briefwechsel mit Gewalt herein. Die Hinrichtung Marie Antoinettes entsetzt sie: »Man kann das Wort Demokraten nicht nennen hören, ohne zu schaudern.« 91 Über Georg Forster äußert sie sich tief enttäuscht: »Auch, es ist nur zu wahr, daß Deutschlands Unglück in der Klasse seiner gelehrten Söhne entstand.« 92 Über Neckers Reformbestrebungen vor Ausbruch der Revolution prägt sie das Bonmot: »Dünkt sie nicht, daß Lavater Recht hat, Handschrift ist charakteristisch. Necker hat <?page no="281"?> 281 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 93 13.6.1797, ebd., Nr. 135, S. 71. 94 Maurer bezeichnet sie - mit Vorsicht - als Reformkonservative. Maurer: Sophie von La Roche und die französische Revolution, S. 151. 95 Resignation, S. 31. 96 30.7.1795 an Sophie zu Solms-Rödelheim-Assenheim, in: La Roche: Briefe an Sophie Gräfin zu Solms-Rödelheim und Assenheim, S. 287. 97 3.6.1793, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 83, S. 47. 98 14.1.1788, PLB/ RLB, Sign. Autogr. H 88/ 2: 2; 13.2.1788, in: La Roche: Briefe an Sophie Gräfin zu Solms-Rödelheim und Assenheim, S. 285. 99 30.8.1795, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 85, S. 48. 100 2.4.1794, ebd., Nr. 98 S. 52. immer vortrefflich gedacht, aber alles ging schief, wie die Linien seines Briefes …«. 93 Sie hatte auf Besserung durch Reformen gehofft. 94 »Der reine, edle Wunsch des guten Königs Ludwig XVI. und seines treuen Ministers Nekker - die Last des Volkes zu erleichtern - […] -, dieser Wunsch […] ist ganz vergessen.« 95 Ihr positives Bild Neckers ist deutlich von der persönlicher Bekanntschaft mit ihm auf ihrer Schweizer Reise geprägt. Auch bei dem ihr in Frankreich als so vorbildlich vorgeführten Erziehungsmodell der Madame de Genlis wird sie desillusioniert: Der General Valence errichtet in Hamburg mit hülfe seiner Schwieger Mad.[ame] de Genlis - eine buchdrukerey und buchhandlung - während seine Frau in Paris, als Maitresse des du Bois d’Anglas lebt - wes wegen man sagte die erste werke, welche in seinem verlag erscheinen würden sey, beschreibung seiner feldzüge - und les amours de sa femme - welche eine Tochter der Mad.[ame] de Genlis ist - was für eine wirkung, der so ausgewälten und rafinirten ertziehung. 96 Im Verlauf der Kriege, über deren Wechselfälle und Auswirkung auf sie selbst und ihr Umfeld ausführlich berichtet wird, äußert sich La Roche immer nationaler. Sie spricht gar von Franzosenungeziefer. 97 Nichtsdestoweniger ermahnt sie Gräfin Sophie, das Studium der französischen Sprache nicht zu vernachlässigen, 98 denn die kulturelle Tradition ist ihr wichtig. Als Ziel der Revolutionäre fürchtet sie dagegen eine allgemeine Nivellierung: In 25 Jahren auf der ganzen Erde keinen König, Fürst, Großen oder Reichen zu haben, alle Kinder der Erde im gleichen Genuß und Besitz ihrer Gaben. Mich dünkt, es müßte sein, auf den hohen Grad der Kultur und Witzes mußte dieser Grad Unsinn folgen. Arme, unselige Philosophie. 99 Einen Großteil der Schuld an dieser Entwicklung sieht sie, in Frankreich wie in Deutschland, bei den Intellektuellen: »[…] soviel Anbau des Geistes und der Künste weiter, und was zeigt sich in Taten? Eitles, schönes Geschwätz, Bosheit, Laster und Verbrechen aller Art.« 100 Doch in Laubach, wo fern von <?page no="282"?> 282 Jürgen Vorderstemann 101 9.5.1794, ebd., Nr. 99, S. 53. 102 14.2.1795, ebd., Nr. 110, S. 58-59. 103 17.4.1795, ebd., Nr. 113, S. 59-60. 104 1.6.1795, ebd., Nr. 116, S. 60. Am 24.6. wiederholt sie diese Aufforderung in einem Brief an Sophie zu Solms-Assenheim (Briefe an Sophie Gräfin zu Solms-Rödelheim und Assenheim, S. 286). 105 14.3.1800, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 182, S. 87. 106 14.12.1803, ebd., Nr. 228, S. 96. den Zentren der Politik die Familie beisammen ist, findet sie einen Ruhepunkt: »Denn wie schön ist nun Laubach für Leib und Seele moralischer Wesen.« 101 Der »sonderbare Friede« von Basel 1795 enttäuscht sie: Nachgerade glaube ich, es war eine Änderung beschlossen und dazu Franzosen als Werkzeug bestimmt, weil sie die aktivsten aller europäischen Nationen sind und den allgemeinen Umsturz am schnellsten bewirken konnten. […] Das Ende dieses Jahrhunderts ist voll moralischen Auskehrichts aller Art … 102 - O, was ist aus Deutschland geworden seit Friedrich, der große Einzige, begraben wurde! Wie froh bin ich, eine alte Frau zu sein, aber doch zu König Friedrichs Zeiten gelebt zu haben […]. 103 Sie steht mit Neckers Tochter Madame de Staël, die engagiert Opposition gegen Napoleon betreibt, in Verbindung. Im Juni 1795 schickt La Roche der Gräfin Solms »das einzige Exemplar in Deutschland« von deren Reflexions sur la paix (1795), wohl ein Vorab-Exemplar, denn die Auflage wurde von der Autorin wieder zurückgezogen und erschien erst 1796. Der Tenor dieses Werkes ist, dass die Leidenschaften das Haupthindernis allen individuellen und politischen Glücks sind, und die Autorin entwickelt die Idee, dass es möglich sein müsse, nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung anhand von Statistiken menschliches Verhalten und Leidenschaften vorauszusagen und daran die Regierung zu orientieren. La Roche rechnet damit, dass das Buch gefallen werde, und bittet auch, Graf Volrats Ideen dazu zu erfahren. 104 Im Frühjahr 1800 berichtet sie, dass Madame de Staël den eloquenten Politiker und Napoleongegner Camille Jordan nach Paris zurückberufen habe, und dieser habe ihre Aufträge an sie mitgenommen. 105 Von der Aufführung von Neckers Tochter in Deutschland aber ist sie 1803 konsterniert: »Es ist doch ein großer Unterschied zwischen Erstaunen und Bewundern. Gott, was für einen Gebrauch macht diese Frau von Geist, Gold, Gesundheit und Unabhängigkeit.« 106 Die Napoleonbegeisterung vieler Zeitgenossen teilt sie nicht, kann sogar über ihn lachen: »Man sagte mir gestern, der neue Kaiser nenne sich schon Napoleonmagne, weil er das Reich von Charlemagne herstellen wolle. Hätte <?page no="283"?> 283 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 107 31.5.1804, ebd., Nr. 245, S. 98. 108 4.2.1801, ebd., Nr. 190, S. 89. 109 4.3.1801, ebd., Nr. 192, S. 90. 110 17.7.1798, ebd., Nr. 151, S. 77. Näheres zum Rastatter Kongress bei Prößler: Friedrich Ludwig Christian zu Solms-Laubach, S. 32-45. 111 6.3.1799, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 167, S. 80. 112 Schon im Jahre der Erstausgabe London 1763 erschien bei Weidmann in Leipzig eine deutsche Übersetzung. ich doch die Alten nicht gelesen, welche sagten, ihre Götter lachten über die Mühe und Begebenheiten der Sterblichen.« 107 Die Unterwürfigkeit der deutschen Fürsten dem Usurpator gegenüber empört sie. Als der Erbprinz von Isenburg mit einer kostbaren »Papiertasche«, einem Portefeuille, als Geschenk für Napoleon nach Paris reist, schreibt sie: Gott, vergebe den deutschen Fürsten, welche, um das Haus Österreich klein zu machen, andere Fürsten in die Lage bringen, solche Schritte für die besten zu achten und im Moniteur von Paris als Bonapartes Schutz genießender deutscher Prinz [zu, J.V.] stehen. 108 Die Zukunft der deutschen geistlichen Territorien beurteilt sie nach dem Frieden von Lunéville, der Frankreich ein Mitspracherecht bei der Neuordnung des Reiches eingeräumt hatte und die Säkularisationen vorbereitete, skeptisch und erinnert sich einer früheren Äußerung ihres Mentors Friedrich von Stadions: »Die geistlichen Stifter und Länder sind die Sparpfennige unserer großen weltlichen Fürsten, die sie bei der nächsten Gelegenheit angreifen und teilen werden.« 109 Die jungen Grafen treten in diesen Jahren nur indirekt auf, in politischen Rollen, von denen La Roche lobend reden hört. Ganz wohl ist ihr aber dabei nicht: »Vergeben Sie, aber es war mir leid, [Friedrich, J.V.] Solms-Laubach […] in Rastatt zu wissen«, wo die Erbprinzessin von Baden »als der klare Beweis von Verwirrung des reinen edlen Menschen und deutschen Geistes Feste für die Unterhandelnden gibt«. 110 Die Besorgnisse der Gräfin gegenüber der Konferenz, auf der Graf Friedrich die Interessen des Wetterauer Grafendirektoriums vertritt, teilt sie. Gräfin Elise mag nichts Politisches mehr lesen 111 und zitiert das Rezept aus den Letters der Lady Mary Wortley Montagu, 112 in gewissen Zeiten solle man eher Romane als Geschichten des Tages lesen. Im Jahr 1806 häufen sich die Sorgen und mancherlei Gerüchte um die Neuordnung der deutschen Länder und das Schicksal der Grafschaft, die ja dann auch an Hessen-Darmstadt fiel: »[…] ich habe in Baßlers Lexicon die Geschichte des Hauses Solms aufgesucht, ach was für eine Zerstörung des <?page no="284"?> 284 Jürgen Vorderstemann 113 30.8.1806, Stadtarch. Offenbach, Nr. 313. Gemeint ist vermutlich Jakob Christoph Iselins, üblicherweise als ›Basler Lexikon‹ zitiertes Neu vermehrtes historisch und geographisches Lexikon (3. Aufl. 1742-1744). 114 6.11.1783, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 6. 115 18.3.1784, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 9. 116 23.5.1786, LBZ/ PLB, Sign. Autogr. 159/ 26. 117 Ebd. - Johann Aloys Blumauers Freymaurergedichte erschienen Wien 1786, der Bezug ist also ganz aktuell. Sophie von La Roche bekam sie vermutlich über Joseph von Retzer in Wien, der Mitglied derselben Loge wie Blumauer war. Mit Retzers Hilfe hatte Sophie von La Roche schon 1783 die Eloge Joseph II. nahe bei Speier veröffentlicht. Retzer wie Blumauer gehörten zu den von Joseph II. zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in aufklärerischem Sinne eingesetzten Zensoren. Vgl. Reinalter: Die praktische Aufklärung und der Josephinismus, S. 174. 118 11.6.1794, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 100, S. 54. 119 22.10.1800, ebd., Nr. 186, S. 89. 120 30.3.1797, ebd., Nr. 134, S. 70. 121 9.7.1806, ebd., Nr. 306, S. 102. verdienten Guten! « 113 Sie selbst hat durch die Revolution und ihre Folgen ihr Vermögen, die Gräfin Solms-Laubach ihr Land verloren. 1783 lebt Sophie von La Roche noch in der Gewissheit, »daß es mehr gute als böse Menschen giebt«, 114 und geht von einem gütigen Schöpfergott aus. Die göttliche Vorsicht führt die gefühlvolle Seele, in jedem Kummer und in jeder Verirrung ist der Finger Gottes zu sehen. 115 In der Schöpfung und im harmonischen Zusammenleben der Menschen sieht sie Gottes Willen verwirklicht, und was dem noch nicht entspricht, führt über Prüfungen dorthin. Man kann das einen religiösen Fortschrittsglauben nennen. Als Protestantin empfiehlt sie Bibellektüre - aber »keine Theologen«. 116 Blumauers Freymaurergedichte und das Glaubensbekenntnis darin gefallen ihr, sie findet Gellerts »würdige Gefühle« in ihnen. 117 Dem Katholizismus steht sie sehr negativ gegenüber, auch aufgrund persönlicher Erfahrungen. Dass die Fürstin Gallitzin ihre Tochter ins Kloster stecken will 118 und Friedrich Leopold von Stolberg zum Katholizimus bekehrt hat, 119 ärgert sie, und sie bedauert 1797, 120 dass Frankreich andere Prioritäten hat als Rom zu erobern. 1806 hört sie das kuriose Gerücht, dass Karl Theodor von Dalberg Papst werden und an der Vereinigung der drei christlichen Unionen arbeiten solle. Sie bemerkt: »Nach der Art, wie die meisten leben, dünkt es mich nicht schwer.« 121 Ihre persönlichen Erfahrungen mit engstirnigem Konfessionalismus lassen sie zu solch sarkastischem Urteil kommen. Ihr wirkliches religiöses Gefühl legt sie 1795 ausführlich dar: Die Wunder von Natur und Kunst fachen in ihr die Verehrung des Himmels und die Stärke ihrer moralischen Empfindung an. <?page no="285"?> 285 Die Briefe Sophie von La Roches an Elisabeth zu Solms-Laubach 122 25.6.1795, ebd., Nr. 118, S. 62. 123 20.9.1795, ebd., Nr. 121, S. 64. 124 Sie nennt ihn nicht namentlich. Clemens brach in diesem Jahr sein Studium der Kameralwissenschaften in Halle ab, widmete sich aber an seinem neuen Studienort weniger der Medizin als der Literatur. Außerdem betrachtete die Großmutter seine allzu intensive Beziehung zur 13-jährigen Schwester Bettina mit Argwohn. Vgl. Schultz: »Unsere Lieb aber ist außerkohren«, S. 460. 125 O. D. 1798, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 144, S. 74. Diese Auffassung wiederholt sie im Brief vom 31.1.1798, ebd., Nr. 145, S. 74-75 und vom 31.7.1806, ebd., Nr. 307, S. 103. In Reise nach Weimar und Schönebeck im Jahr 1799 (S. 162-163) setzt sie ihre Auffassung eines Kreislaufs gegen Lessings Auffassung einer fortschreitenden Erziehung des Menschengeschlechts zum Wahren und Guten. Vergeben Sie, wenn dies heidnisch klingen sollte, ich kann aber unmöglich weder moralische noch materielle Gegenstände aus dem allgemeinen Gesichtspunkt betrachten. Alles, was ich lieben, was mich glücklich machen soll, muß mir in edler Gestalt erscheinen. Ich habe Verehrung für den Staub unserer Erde, weil der Allmächtige den Staub würdig erachtete, seine Schöpferkraft an ihn zu verwenden. Aber so demütig bewundernd stehe ich nicht vor dem, was Menschen tun und machen. 122 Mit dem Kriegsende erhoffte sie eine Rückkehr zu Gottesfurcht, Weisheit und Edelmut. »Und das muß wohl auch geschehen, wenn nicht alles, was ich gelehrt wurde, trüglich war von der Übereinstimmung der physischen und moralischen Welt.« 123 Auch 1798, in einer Phase besonderer Anspannung durch Krankheit, die Arbeit am Roman Erscheinungen am See Oneida und durch den starrsinnigen Enkel Clemens Brentano 124 , sind ihr ihre bisherigen Lebensgrundlagen fraglich: »Beinahe werden mir meine Bücher weniger wert als sie mein ganzes Leben mir waren. Nur eine Grille hatte wert: Ich wollte, eh der Abend meines Lebens sich in Nacht verliert, noch die Menschheitsgeschichte neu lesen.« Dazu zieht sie August Ludwig Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie (1772) heran. »Da erschien mir neu die Idee« - die fortan ihr Glaubensbekenntnis wird: Als Gott diese Welt und ihren Geschöpfen das Dasein gab, goß er wirkende Kräfte in alle, gab ihnen ewige Gesetze, welche nun seit Jahrtausenden die physische Welt in Kreislauf halten. […] Denn es ist nicht mehr, mehr Masse des Lichts, nicht mehr gährender Stoff der Empfindungen in der Welt, als ehemals. Sie zeigen sich nur in anderer Gestalt […]. 125 Diese Überlegung findet ihre Entsprechung im 1. Hauptsatz der Thermodynamik, wonach in geschlossenen Systemen die Gesamtenergie erhalten bleibt. Der Ausgangspunkt dieser Theorie wurde allerdings erst 1824 formuliert. Das Aufsteigen und Erlöschen der Reiche und Kulturen, der antiken wie jetzt Deutschlands ist also »nichts als ewiges Wirken der gegebenen Kräfte«, in die <?page no="286"?> 286 Jürgen Vorderstemann 126 Sternheim, S. 271. 127 Schreibetisch, Bd. 2, S. 387. 128 3.2.1807, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 332, S. 106. 129 Nenon (Autorschaft und Frauenbildung, S. 207-209) sieht das Lebensresumé La Roches eher stoisch geprägt. Vgl. auch Nenons Beitrag: Über das Glück, im vorliegenden Band. 130 30.12.1796, in: La Roche: Briefe an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, Nr. 131, S. 68-69. man sich fatalistisch schicken muss. Der Gedanke eines Kreislaufs beschäftigte sie schon zu Zeiten des Sternheim-Romans. Dort ist er Teil der Geschichtsbetrachtung als Magistra vitae in der Erkenntnis, »daß Tugend und Laster beständig einen Kreislauf durch das ganze menschliche Geschlecht gemacht haben«. 126 In Mein Schreibetisch zitiert sie im Zusammenhang ihres Referats über Schlözer den Gedanken eines Kreislaufs im selben Sinne, 127 in der freieren Korrespondenz bekommt dieser Gedanke den fatalistischen Zug. In ihrer Gegenwart findet sie nichts Positives mehr, doch in ihrem vorletzten Brief schreibt sie: »Gott wird das Gute und die Wahrheit bewahren für kommende Geschlechter, wir wollen indessen gut sein und in den kleinen Zirkeln Gutes tun, soviel uns möglich ist.« 128 Das ist Hoffnung und Resignation zugleich. 129 So endet in bekenntnishaftem Ton ein Briefwechsel, der bei aller Alltäglichkeit ein Dokument empfindsamer Freundschaft in der Zeitenwende um 1800 ist, in der die Reste der noch vorhandenen Ständehierarchie zwar überwunden scheinen, sich aber noch nicht völlig aufgelöst haben. Gerade in der ins Heilige überhöhten Verehrung der drei Generationen Solms fand Sophie von La Roche Trost in den Drangsalen des Zeitgeschehens und ein Idealbild einer vergehenden Epoche, von der sie sich nicht lösen konnte. Es ist nicht zu übersehen, dass die übermäßige Verehrung der Gräfin Elise sich aus ihren eigenen, schon in jungen Jahren im Sternheim-Roman formulierten Idealen nährt, dass sie ihre Korrespondentin als eine Vitalisierung ihrer literarischen Heldin betrachtet und sie mit vielen ihrer Attribute ausstattet. Einige ähnliche äußere Lebensumstände der Romangestalt und der Gräfin Elise erleichtern das. So kontrastiert ihr einfaches Leben auf dem Lande mit dem oft kritisierten Offenbacher Hofleben. Ein Brief vom Jahresende 1796 spricht die Rückwärtsgewandtheit La Roches und den Zweifel aus, sich in den Nebeln der Zukunft »ruhig an Glauben des Guten und die Hoffnung« halten zu können: Gewiß, geliebte Fürstin, Sie vergeben mir um der Wahrheit willen, daß eingewurzelte Ideen [sich] nicht ändern, daß ich in einer Art phantastischem Traumbild meinen Brief anfange, um zu sagen, daß die seligen Tage, in welchen ich der Fürstin Elise ihre überfließende Güte und Geist kennenlernte, einen der schönsten Teile meines zurückgelegten Lebens bezeichnen. 130 <?page no="287"?> 1 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 5.6.1793, Freies Deutsches Hochstift (nachfolgend mit der Sigle FDH), Sign. 6491. 2 Sensch: Johann Friedrich Christian Petersen, S. 129-134, hier S. 129-130. Das Freie Deutsche Hochstift, Frankfurt am Main, erhielt das Briefkonvolut im Januar 1939 aus den Händen einer Brentano-Nachfahrin. Die Gegenbriefe müssen weiterhin als verschollen gelten. Die Edition der Briefe durch Patricia Sensch ist in Vorbereitung. 3 Bräuning-Oktavio: Georg Wilhelm Petersen, Sp. 474-526; Franz: Flucht vor der Revolution, S. 317-331, hier S. 325. Auch Robert Seidel hat es in seiner tiefgehenden Analyse des Darmstädter Literaturbetriebs unter der Regentschaft Ludwigs IX. bei dem Zusatz bewenden lassen müssen, dass man über den Prinzenerzieher und sein Wirken nichts Genaueres wisse. Seidel: Literarische Kommunikation, S. 401. 4 Pfarrer Adolf Petersen, Großneffe der Brüder, verfasste eine Familienchronik, die überwiegend kurze, auf mündlicher Überlieferung basierende Lebensläufe der sechs Brüder und drei Schwestern enthält. (Petersen: Chronik, Teil 1-2). Sie konnten durch Archiv- Patricia Sensch »mich schmerzt dießer riß in der schönen Kette der 6 verdienstvollen Brüder«. 1 Sophie von La Roche und die Familie Petersen Die Neuidentifizierung eines Brieffreundes und Intimus der alternden Sophie von La Roche ist das überraschende Ergebnis einer kritischen Betrachtung ihrer 194 Briefe aus den Jahren 1788 bis 1806, die sich im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main befinden. 2 Sie sind an den »Geheimen Rath Petersen in Darmstadt« gerichtet. Gemeint ist Johann Friedrich Christian Petersen (1753-1827), Prinzenerzieher am Hof von Hessen-Darmstadt und nicht - wie man seit der archivalischen Behandlung des Konvoluts annahm - sein Bruder, der Hofprediger Georg Wilhelm Petersen (1744-1816). Zwar sind beide Brüder den Spezialisten der Landesgeschichte bekannt, doch richtete sich das Augenmerk stets auf den Theologen Georg Wilhelm Petersen als bedeutenden Neologen der Aufklärung. 3 Erst die korrekte Zuordnung der La Roche-Briefe eröffnet den Zugang zu Johann Friedrich Christian Petersen und seinen zahlreichen Geschwistern, mit denen die Schriftstellerin ebenfalls in mehr oder weniger enger Verbindung stand, und erlaubt weitergehende Schlüsse. Die Familie Petersen bildet demnach ein neues Kapitel in der Biographie der Schriftstellerin. 4 <?page no="288"?> 288 Patricia Sensch funde in Berlin, Darmstadt, Gotha, Stuttgart, Öttingen-Wallerstein und Zweibrücken ergänzt werden. 5 Ebd., Teil 1, S. 1-8. Siehe auch: Bräuning-Oktavio: Georg Wilhelm Petersen, Sp. 474-475. 6 Ebd. 7 Vogelsang: Matrikel des Herzog-Wolfgang-Gymnasiums, Nr. 540, 549. 8 Petersen: Chronik, Teil 1, S. 6-7. 9 Ebd., Teil 2, S. 6. Einen den Prinzenerzieher charakterisierenden Satz findet sich bei Butte: Blick in die Hessen-Darmstädtischen Lande, S. 261. »Petersen der jüngere, Geh. Rath, ein feiner und besonders geschmackvoller Kenner der Wissenschaften, um die er sich in der Das Elternhaus Die Geschwister - drei Schwestern und sechs Brüder - entstammten einem protestantischen Pfarrhaus, fruchtbarer Nährboden für viele deutsche Geistesgrößen des 17. und 18. Jahrhunderts. Weitere günstige Umstände traten hinzu, so dass aus einer Familie eine ganze Riege bedeutender Köpfe erwachsen sollte. Dazu zählt zum einen die angesehene Stellung und die kosmopolitische Bildung ihres Vaters, Hofprediger Georg Petersen (1708-1783), den Herzog Christian IV. von Pfalz-Zweibrücken 1740 in seine Dienste nahm. 5 Zeitweise versah er auch das Amt des Superintendenten am Hof der Herzoginwitwe Caroline in Bergzabern. Sie war die Mutter der »Großen Landgräfin« Caroline Henriette von Hessen-Darmstadt, die ihm ebenfalls ihr Vertrauen schenkte. 6 Förderlich war zweifellos auch die außergewöhnlich gründliche Schulbildung am fürstlichen Gymnasium in Zweibrücken, das nachweislich vier der Knaben nach der Bergzaberner Lateinschule besuchten. 7 Georg Petersen und seine Frau Euphrosyna Regina, eine geborene von der Lith, Tochter des Ansbacher Stadtpfarrers, ermöglichten allen sechs Söhnen unter großen persönlichen Entbehrungen eine akademische Ausbildung. Euphrosyna - sie wird als eine grundgütige Frau geschildert - war eine Tante von Goethes ›Urfreund‹ Karl Ludwig von Knebel. 8 Alle Brüder wurden beruflich im Südwesten Deutschlands tätig, wobei der jeweilige Standort und die dort vorherrschende Konfession im Zusammenspiel mit Lebensalter und Temperament der Männer verschiedene geistige und politische Orientierungen zur Folge hatten. Der Prinzenerzieher Johann Friedrich Christian Petersen, Briefpartner Sophie von La Roches Von dem Prinzenerzieher Johann Friedrich Christian Petersen (1753-1827) ist kein Portrait erhalten. Aus Sophie von La Roches Briefen an ihn und einigen wenigen Archivunterlagen lässt sich das Bild eines beleibten, glatzköpfigen Mannes mit Brille und grünem Augenschirm rekonstruieren. 9 Der <?page no="289"?> 289 Sophie von La Roche und die Familie Petersen ihm einst bis zu dessen Volljährigkeit anvertrauten Erziehung unsers bereits mehr wie hoffnungsvollen Erbprinzen Verdienste erwarb, von denen sich, oder muß mich Alles täuschen das Vaterland einst tausendfältige Früchte zu versprechen hat, denn gründliche Kenntnisse wie dieser haben gewiß der teutschen Prinzen wenige.« 10 La Roche an J. F. Chr. Petersen, 7.11.1798, FDH, Sig. 6530; Petersen: Chronik, Teil 2, S. 7. 11 Du Thil: Denkwürdigkeiten, S. 337. 12 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 30.6.1796, FDH, Sign. 6510. 13 Hess. Staatsarch. Darmstadt, Sign. D 12 37/ 18. 14 Petersen unterrichtete auch zeitweise dessen jüngere Brüder. 15 Hess. Staatsarch. Darmstadt, Sign. D 12 37/ 18. 16 Vogelsang: Matrikel des Herzog-Wolfgang-Gymnasiums, Nr. 549. hochgebildete Junggeselle Petersen liebte gute Speisen, Bordeauxwein und den Tabak. Seine literarischen Arbeiten kleinen Formats - erwähnt sind Charakterstudien und Epigramme - ließ er nicht drucken. 10 In seinen Lebenserinnerungen charakterisiert der hessen-darmstädtische Staatsminister Karl Freiherr von Du Thil den reiferen Petersen als typischen Stubengelehrten. »[…] er liebte die Bequemlichkeit, er haßte frühes Aufstehen und blieb bis zu später Stunde, wo die Notwendigkeit sich zu kleiden eintrat in seiner Morgensauce. Körperliche Bewegung und frische Luft waren ihm nicht Bedürfnisse.« 11 Waren die spitzen Bemerkungen dieses Höflings ein Beispiel für die Ungerechtigkeiten, über die sich Petersen bei Sophie von La Roche oftmals beklagte? 12 Im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt befindet sich der Bericht seiner Obduktion vom 8. Dezember 1827, der sein Phlegma in ein anderes Licht rückt. 13 Eine nicht ausgeheilte Tuberkulose hatte bei ihm - vermutlich 1792 - zu einer Hirnhautentzündung geführt. Die zurückgebliebenen Verwachsungen verursachten Petersen lebenslang Kopfschmerzen, die kaum durch Wasserkuren in Ems und Wiesbaden zu lindern waren. Seine verantwortungsvolle Aufgabe, den zukünftigen Landesherrn und zeitweise auch dessen Brüder zu unterrichten und seinen Charakter zu prägen, muss er trotz seiner angegriffenen Gesundheit mit Hingebung erfüllt haben. 14 Entsprechend huldvoll lauten die Beförderungsschreiben des Vaters und Landesfürsten Ludwig X., der ihm 1796 eine lebenslange Rente anweisen ließ und ihn 1803 zum Geheimrat beförderte. Seine Erhöhung in den Adelsstand 1809 und die Verleihung des Großen Adlerordens waren selten vergebene Ehrenbezeichnungen. 15 Aus Petersens Jugendzeit sind nur die wichtigsten Stationen seiner Ausbildung in Erfahrung zu bringen. Sein Name findet sich in der Matrikel des Zweibrücker Gymnasiums verzeichnet. 16 1774 begann er das Studium der Rechte in Tübingen, 1778 wechselte er für ein letztes Sommersemester nach Erlangen. Im Herbst des Jahres ging er als Gesandtschaftssekretär nach Wien, vermutlich im Dienst des Markgrafen von Ansbach. Unbestimmt bleibt, zu welchem Zeitpunkt er den Ruf als Lehrer an <?page no="290"?> 290 Patricia Sensch 17 Ebd., Nr. 340. 18 Guhde: Gottlieb Konrad Pfeffel, S. 27. Die Tatsache, dass J. F. Chr. Petersen in den Publikationen über Pfeffels Militärschule als Lehrer nirgends erwähnt wird, steht möglicherweise mit dem Brandverlust des Schularchivs im Zusammenhang. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Pfeffel und Petersen belegen die im Freien Deutschen Hochstift bewahrten elf Briefe des Institutsgründers an seinen ehemaligen Angestellten. (Sign. 6415- 6425). Auch hier wurde bei der archivalischen Behandlung irrtümlich Georg Wilhelm Petersen als Empfänger angegeben. 19 Hess. Staatsarch. Darmstadt, Petersens Briefe an Prinz Louis, Sign. D 12 37/ 18; Prinz Louis Briefe an Petersen, Sign. D 4 713/ 6. 20 Engel: Fürstenspiegel, S. 50. 21 Prinz Louis an J.F.Chr. Petersen, 18.3.1796, Hess. Staatsarch. Darmstadt, Sign. D 4 713/ 6. 22 Die Gestalt des Großherzogs Ludwigs II. ist bisher von der geschichtswissenschaftlichen Forschung sehr wenig beachtet worden. Siehe Steiner: Ludwig II., S. 1-10. die École Militaire nach Colmar erhielt, der in ganz Europa bekannten Erziehungsanstalt für protestantische Knaben. Sein Zweibrücker Schulfreund Franz Lerse 17 spielte hierbei vielleicht den Vermittler, denn er stand dort als Direktor dem Gründer Gottlieb Konrad Pfeffel zur Seite. 18 Petersens Arbeit als Pädagoge musste in Hinblick auf die internationale Schülerschar anspruchsvoll und reich an Erfahrungen gewesen sein. Er schien seine Aufgabe hervorragend zu meistern, und so konnte Pfeffel ihn schon 1782 dem hessischen Fürstenhaus als Erzieher des zukünftigen Erbprinzen Ludwig (1777-1848), genannt Louis, vorschlagen. Die im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt erhaltenen Briefe von Lehrer und Zögling bezeugen, dass zwischen ihnen ein enges Vertrauensverhältnis bestand. 19 Petersen entsprach dem Ideal des Fürstenfreundes, wie ihn der Popularphilosoph Johann Jakob Engel in seinem Fürstenspiegel von 1798 propagierte. 20 Dieser unterstützt den jungen Souverän nicht aus Vaterlandsliebe, sondern aus persönlicher Anhänglichkeit und wacht über dessen Tugend. »[…] hätten wir uns doch nie getrennt« 21 , schreibt ihm der Prinz treuherzig im März 1796 aus seinem Studienort Leipzig, wohin ihn der kranke Petersen nicht begleiten konnte. Zurück von seiner Kavaliersreise, betraute Louis seinen Erzieher mit den komplizierten Umschreibungen seiner Schulden und ähnlichen hochprivaten Angelegenheiten. Ihre enge Verbundenheit blieb durch die Jahre bestehen. Jeden Morgen verließ der alte Petersen seine Wohnung in der Ludwigstraße und begab sich zum ›Petit Déjeuner‹ ins Palais des Erbprinzen am Luisenplatz. Er starb am 7. Dezember 1827 an den Folgen eines Sturzes. Drei Jahre später trat Prinz Louis als Großherzog Ludwig II. die Nachfolge seines Vaters an. 22 Die Bekanntschaft des jungen Pädagogen hatte Sophie von La Roche vermutlich durch ihren Freund Pfeffel gemacht. Denkbar ist auch, dass sie ihn im Haus seines Bruders, des Speyerer Rechtskonsulenten Karl Ludwig <?page no="291"?> 291 Sophie von La Roche und die Familie Petersen 23 Vorderstemann: ›Meine liebe grüne Stube‹, S. 15-43, hier S. 23. 24 Über den Kreis der ›Empfindsamen‹ in Darmstadt siehe Seidel: Literarische Kommunikation, S. 561-626. 25 Wilhelm von Humboldt: Tagebücher, Bd. 1, S. 38. 26 La Roche an J. F. Chr. Petersen, 31.5.1792, FDH, Sign. 6468. Der literaturwissenschaftlichen Forschung war diese zweite Auflage bisher unbekannt. 27 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 8.8.1800, FDH, Sign. 6550. 28 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 9.2.1797, FDH, Sign. 6513. 29 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 2.10.1798, FDH, Sign. 6527. 30 »Von Sophie von La Roche. an Herrn G. R. P. in D.« 31 La Roche an J. F. Chr. Petersen, 2.4.1795, FDH, Sign. 6501. Adolph Petersen, antraf. 23 Als sie zum Ende des Jahres 1786 nach Offenbach umsiedelte, kam es ihr sicherlich gelegen, neben dem ihr seit 1771 bekannten Johann Heinrich Merck einen weiteren Verbindungsmann am Darmstädter Hof zu haben. In den Siebziger Jahren war ihr dort die ›Große Landgräfin‹ Caroline Henriette 24 mit Leutseligkeit begegnet, nun war es deren Schwiegertochter Luise von Hessen-Darmstadt, die mit Vorliebe ihre Werke las. 25 Der Prinzenerzieher konnte bei der beruflichen Etablierung von Sophie von La Roches jüngstem Sohn Franz Wilhelm und zahlreichen anderen Personen seinen Einfluss geltend machen. Er kümmerte sich um den Vertrieb von Sophie von La Roches Werken am Hof und half, einen Käufer für eine zweite Auflage der Pomona zu finden. 26 Eine der stärksten Fasern »zu den banden der sympathetischen gesinnungen« 27 der Briefpartner war ihr selten unterbrochener Gedankenaustausch über Politik, Kunst und Literatur. Als Kenner der Antike vermittelte Petersen ihr griechische und römische Autoren. Sophie von La Roche wiederum beriet Petersen in Erziehungsproblemen, wenn ihn »der ärger über Fürstenkinder« 28 deprimierte. Sie sandte ihm aufheiternde Lektüre und Teile ihrer Manuskripte zur Korrektur. Petersen nahm die fünfstündige Kutschfahrt nach Offenbach zu allen Jahreszeiten auf sich, um im Lesekabinett seiner Offenbacher Freundin im ersten Stock zu sitzen. Die in ihrem Werk Mein Schreibetisch von 1799 beschriebene Eingangssituation entsprach demnach den Gepflogenheiten der Freunde. »[…] die geschichte meines Schreibtisches ist in Ihrem Schatten entstanden - und soll unter seinem schuz existiren« 29 - so kommentiert sie die diskret abgekürzte Widmung an ihn auf der Titelseite des Buches. 30 Mehrfach schlägt sie ihm vor, als Frühpensionär mit seinen Büchern nach Offenbach zu ziehen oder gemeinsam die lang ersehnte Reise nach Italien zu unternehmen. 31 Die besondere Wertschätzung Petersens bezeugt ihr Brief vom 12. Februar 1798, in dem sie ihn als geistigen Mentor neben ihren Lehrer und späteren Verlobten Giovanni Lodovico Bianconi (1717-1781) stellt: [V]ergeben Sie meine Erinnerung an meinen ersten Freund - ach, ich muß an ihn denken - wenn ich den Beweiß sehe daß Er mich auf guten Weg führte, <?page no="292"?> 292 Patricia Sensch 32 La Roche an J. F. Chr. Petersen, 12.2.1798, FDH, Sign. 6521. 33 Diese Tatsache mag der Verwechslung der beiden Petersen-Brüder Vorschub geleistet haben. Petersen: Chronik, Teil 2, S. 1-5. 34 Bräuning-Oktavio: Petersens Kampf, Sp. 482; Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, S. 122-140. 35 Krüger: Starck im Licht der Briefe Petersens, S. 260-270, hier S. 266. weil ich da Ihrer Freundschaft würdig ward - sagen Sie sich, so dankbar sie sich an den Geliebten erinnert - eben so an den Freund ihrer alten Tage. 32 Der Hofprediger Georg Wilhelm Petersen Georg Wilhelm Petersen, der älteste der Brüder, geboren 1744, verließ mit neunzehn Jahren das Zweibrücker »Bipontinum« als gefeierter Primus. Nach dem Studium der Philosophie und Theologie in Tübingen und Göttingen erhielt er 1770 (also schon zwölf Jahre vor seinem jüngeren Bruder) den Ruf als Erzieher an den Hof von Darmstadt. 33 Er unterrichtete zeitweilig die beiden jüngeren Brüder des damaligen Erbprinzen, die Prinzen Christian und Friedrich (es sind dies die Onkel des obengenannten Prinzen Louis). Die Laufbahn seiner geistlichen Ämter begann 1775 mit seiner Berufung zum Hofdiakon, zehn Jahre darauf wurde er zum Zweiten Hofprediger ernannt, 1803 zum Kirchen- und Schulrat und 1806 zum Superintendentur-Vikar. Georg Wilhelm Petersen, von Gestalt groß und hager, trug vornehmlich graue Kleidung - bei Hof hatte er den Spitznamen »Kranich« in Anspielung auf einen zahmen Vogel in den Schlossanlagen. Auch er blieb unverheiratet und lebte in strenger Zurückgezogenheit im Glockenbau über dem Küchentrakt des Schlosses. Enge Freundschaft verband ihn mit dem Kriegsrat Johann Heinrich Merck. Beide verfassten sie Rezensionen für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Petersen trat in seinen anonymen Publikationen vehement für die Freiheit der Presse ein, er lehnte die Lehre von der Erbsünde, dem Satan und der Verdammnis ab und verwünschte den Religionshass. 34 Sein Kampf galt den aufklärungsfeindlichen, orthodoxen Kräften in den protestantischen, wie in den katholischen Kirchenleitungen. Merck allein wusste, dass Georg Wilhelm seine radikaltheologischen Ansichten auch in Artikeln für die Allgemeine Deutsche Bibliothek kundtat und dem Herausgeber Friedrich Nicolai viele Jahre hindurch detaillierte Berichte über bedenkliche Entwicklungen am Darmstädter Hof schickte. 35 Ein Grund, warum der Hofprediger in größter Heimlichkeit agierte, war die unmittelbare Nähe seines größten Widersachers, des Oberhofpredigers Johann August Starck (1741-1816), dem er zeitweilig unterstand. Über diese schillernde Gestalt kann hier nur so viel gesagt werden, dass er - ebenfalls anonym - seine <?page no="293"?> 293 Sophie von La Roche und die Familie Petersen 36 Hippchen: Zwischen Verschwörung und Verbot, S. 130. 37 Mortier: Diderot in Deutschland, S. 40. 38 La Roche an G. W. Petersen, 29.10.1801, FDH, Sign. 6560. 39 La Roche an J. F. Chr. Petersen, 14.1.1791, FDH, Sign. 6443. 40 Allgemeine Deutsche Bibliothek, 1792, 108. Bd., S. 241-244. 41 Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, S. 137. 42 Neue allgemeine Deutsche Bibliothek, 1796, 25. Bd., S. 338-340. 43 Ebd., 1796, 27. Bd., S. 206. 44 Ebd., 54. Bd., S. 234-238. 45 Petersen: Chronik, Teil 2, S. 5-7. aufklärungsfeindlichen Publikationen in der in Gießen verlegten Zeitschrift Eudämonia drucken ließ, die als Sprachrohr der ›Gegenaufklärer« galt. 36 Die Residenz der Landgrafschaft und ihre Universitätsstadt Gießen zählten - wie Wien, München und Berlin - zu den »entscheidenden Kampforten« 37 der Aufklärungsdebatte, in die viele Intellektuelle des Reichs involviert waren. Georg Wilhelm Petersen konnte zeitlebens sein Incognito wahren und starb 1816 als hochgeschätzter Gelehrter. Sophie von La Roche pflegte auch mit dem Hofprediger freundschaftlichen Umgang, dem sie des öfteren Grüße und Lektüren aus Offenbach durch den Prinzenerzieher übermitteln ließ. Bisher fand sich lediglich ein einziger an ihn gerichteter Brief. 38 Die Rolle des Intimus der Schriftstellerin hat er abtreten müssen, es bleibt ihm die ihres Rezensenten. In dem Brief an den Prinzenerzieher vom 14. Januar 1791 bittet Sophie von La Roche, der Hofprediger möge ihre Briefe über Mannheim besprechen. 39 Im 108. Band der Allgemeinen Deutschen Bibliothek 40 erschien eine Rezension, deren lange, verschachtelte Sätze von Bräuning-Oktavio in einem anderen Zusammenhang als Petersens Stilmerkmal bezeichnet wurde. 41 An Hand dieses Textes kann man Georg Wilhelm Petersen auch die Rezensionen anderer Werke La Roches, Schönes Bild der Resignation, 42 Briefe an Lina als Mutter 43 und Mein Schreibetisch 44 im selbem Periodikum zuschreiben. Der Arzt Philipp Heinrich Gerhard Petersen Ein dritter Bruder, der Arzt Philipp Heinrich Gerhard Petersen (1749-1794), zählt zu der Gruppe der loyalen, geduldigen Fürstendiener. Er absolvierte das Studium der Medizin in Göttingen und Straßburg und kehrte daraufhin zu den alten Eltern in die Pfalz zurück. 45 Die Zweibrückische Beamtenkartei verzeichnet seinen schnellen Aufstieg vom Assistenzarzt in Kusel bis zum Leibmedikus der herzoglichen Residenz Karlsberg innerhalb von zehn <?page no="294"?> 294 Patricia Sensch 46 Freundliche Auskunft des Stadtarchivs Zweibrücken vom 16.7.2007 an die Verfasserin. 47 Mannlich: Rokoko und Revolution, S. 212. 48 Lebensbeschreibung von Friederika Baldinger, von ihr selbst verfaßt. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von Sophie, Wittwe von La Roche. Offenbach: Ulrich Weiss und Carl Ludwig Brede, 1791. 49 Petersen: Chronik, Teil 2, S. 9-26. 50 Karl Ludwig Petersens Aufzeichnungen über seine Tätigkeit als Legationsrat in Wien im Thüringischen Staatsarchiv Gotha (Geheimes Archiv) sind vom Zerfall bedroht. (Sign. U. U. VII/ 3.). Petersen war Mitglied des Illuminatenbundes, der bis 1793 unter dem Schutz Herzogs Ernst II. von Gotha stand. Jahren. 46 Petersens Dienstherr Karl II. August von Pfalz-Zweibrücken (1776- 1793) entsprach dem Typ des launischen, bauwütigen Alleinherrschers, der - laut Hofmaler Johann Christian von Mannlich - schlecht oder gar nicht zahlte. 47 Im Juli 1793 ließen die Französischen Revolutionstruppen den Karlsberg in Flammen aufgehen, Städte und Dörfer wurden verwüstet. Vielleicht steht der Tod des fünfundvierzigjährigen Arztes im Jahr 1794 in Zusammenhang mit diesen Elendsjahren, die über seine Heimat hereinbrachen. Seine Ehe mit der Tochter eines Zweibrücker Kammerrats, blieb kinderlos. Ein persönlicher Kontakt zwischen Philipp Heinrich Gerhard Petersen und Sophie von La Roche ist nicht nachzuweisen, dennoch lässt sich eine Verbindung zwischen beiden Personen ziehen. Petersen schrieb unter anderem Artikel für das Neue[…] Magazin für Aerzte, das in Leipzig erschien. Herausgeber dieser Zeitschrift, die der medizinischen Fortbildung diente, war der Marburger Mediziner Ernst Gottfried Baldinger (1738-1804). Auf seinen Wunsch veröffentlichte Sophie von La Roche 1791 die Lebensbeschreibung seiner verstorbenen Frau Dorothea Friederika, geb. Gutbier (1739-1786). 48 Der Rechtskonsulent Karl Ludwig Adolph Petersen Der zweitälteste Sohn, Karl Ludwig Adolph Petersen (1746-1827), studierte Rechtwissenschaften in Nancy, Tübingen, Halle und Jena. 49 Seine Ansbacher Verwandtschaft vermittelte ihn an den Hof von Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha. Als dessen Gesandter am Wiener Kaiserhof erhielt er Einblicke in die Reichspolitik. 50 1777 quittierte er den Dienst, um die Tätigkeit eines Rechtskonsulenten der Reichsstadt Speyer zu übernehmen. Den Einmarsch der Französischen Revolutionstruppen im Jahr 1792 begrüßte er nicht aus jugendlichem Enthusiasmus, Petersen war zu diesem Zeitpunkt bereits sechsundvierzig Jahre alt. Vielmehr sah er aufgrund einer langen administrativen und politischen Erfahrung, dass sich nunmehr eine Chance zu der unumgänglichen administrativen Neuordnung des vom katholischen <?page no="295"?> 295 Sophie von La Roche und die Familie Petersen 51 Stanjura: Revolutionäre Reden, S. 111. 52 Im gleichen Jahr starb seine Frau, Juliane Petersen, geb. Retzer. Petersen heiratete 1798 Friederike Hermanny, Tochter eines Salinenbesitzers aus Kreuznach. 53 Wegen einer verdienstvollen Mission im Bayerischen Erbfolgekrieg (1778-1779) erhielt Karl Ludwig Petersen ab 1818 eine Pension von König Maximilian I. von Bayern. Siehe Petersen: Chronik, Teil 1, S. 25. 54 Vorderstemann: ›Meine liebe grüne Stube‹, S. 15-43, hier S. 23. 55 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 18.4.1793, FDH, Sign. 6481. 56 Ebd. Klerus ausgepressten Gebiets bot. Von den Besatzern provisorisch als ›Maire‹ von Speyer eingesetzt, hatte er indes in der unverändert reichsständisch gesonnenen Bevölkerung wenig Rückhalt. 51 Nach der Rückeroberung der linksrheinischen Gebiete durch die alliierten Truppen folgte er dem französischen Oberbefehlshaber General Custine nach Straßburg, wo er 1793 als gemäßigter Jakobiner ins Gefängnis geriet. Nach seiner Entlassung im März 1794 kehrte er mit seiner Frau und vier Kindern in die abermals französisch gewordene Pfalz zurück. 52 Seine Fachkompetenz und außergewöhnlichen Führungsqualitäten ließen ihn in der Beamtenhierarchie bis zum Unterpräfekten des Département Montonnerre (Donnersbergkreis) aufsteigen. Auch wurde er als dessen Vertreter in der Gesetzgebenden Körperschaft (›corps legislatif‹) in Paris gewählt. Seinen Lebensabend verbrachte er im Haus seines Sohnes im bayrischen Landau. 53 Mit Karl Ludwig Adolph Petersen war Sophie von La Roche seit den Speyerer Jahre (ab 1780) befreundet. 54 Sie wurde Patin seiner zweiten Tochter, die ihren Namen trägt. In den dramatischen Monaten der Mainzer Republik bemühte sie sich trotz widriger Postverhältnisse, die Korrespondenz mit Petersen aufrecht zu erhalten. Da sie von seiner moralischen Integrität genauso überzeugt sein musste wie von seinen geistigen Fähigkeiten, erschien ihr sein politisches Engagement als frankophiler Republikaner um so unverständlicher. Aus diesem Dilemma rettete sie sich, indem sie ihn als »halb verirrten« 55 definierte, an den sie mit Bedauern und Besorgnis dachte. Sie nahm ihn gegenüber Angriffen aus ihrem Bekanntenkreis in Schutz und betonte, »das es der Herr bruder sehr gut mit der Stadt Speyer meinte«. 56 In dankbarer Erinnerung an die gemeinsam verlebten Jahre hält sie am Freundschaftsbund mit Karl Ludwig Adolph Petersen fest. Der Bibliothekar Johann Wilhelm Petersen Der fünfte Sohn des Zweibrücker Hofpredigers, Johann Wilhelm (1758- 1815), erhielt auf Empfehlung seines Landesherrn, des Herzogs von Pfalz- <?page no="296"?> 296 Patricia Sensch 57 Petersen: Chronik, Teil 2, S. 7-18. 58 Hartmann: Schillers Jugendfreunde, S. 186-213; Buchwald: Wilhelm Petersen, S. 187-195. 59 Über die Protektion Schillers durch das Netzwerk der Illuminaten siehe Schings: Die Illuminaten in Stuttgart, S. 49-87, hier S. 74. 60 »Ach dein Wundergedächtnis, Dein Scherz, dein geistiger Reichtum, Dein sokratischer Ton sind auf immer dahin! «, heißt es in Friedrich Haugs Elegie auf Petersen Tod. Zit. n. Petersen: Chronik, Teil 2, S. 17. 61 Schon Anfang 1797 schien sein Ruf als rebellischer Untertan durch Wohlverhalten wiederhergestellt sein, da er zu den Bibliothekaren zählte, die der Herzog am 22.1.1797 als Zensoren der im Land verlegten Literatur bestimmte. Siehe Paul: Quellen und Studien, S. 705. 62 [Johann Wilhelm Petersen: ] Geschichte der deutschen National=Neigung zum Trunke. Leipzig: Haug 1782. Zweibrücken, einen Platz in der Hohen Karlsschule bei Stuttgart. 57 Als enger Freund seines Mitschülers Friedrich Schiller hat er von allen Brüdern den größten Bekanntheitsgrad für die Nachwelt erlangt. 58 Nach Abschluss der Schule 1779 entschied er sich für die Bibliothekslaufbahn, die er als Unterbibliothekar der herzoglichen öffentlichen Bibliothek begann. Zusammen mit seinem ehemaligen Lehrer Friedrich Abel (1751-1829) fungierte er als Kritiker in der Entstehungsphase von Schillers Räubern. 1782 begleitete er Schiller zur Uraufführung des Stücks nach Mannheim. 59 Im selben Jahr trat er offiziell dem Geheimbund der Illuminaten bei, der in Stuttgart ab 1783 unter Abels Leitung stand. Als 1790 unter dem Eindruck der Französischen Revolution die Umwandlung der geheimbündlerischen Vereinigungen in politische Clubs stattfand, war die Aufmerksamkeit der Aufsichtsbehörde schon geraume Zeit auf den zum Bibliothekar und Professor für Heraldik und Diplomatik aufgestiegenene Petersen gerichtet, der aufrührerische Reden in Gasthäusern führte. Sein provozierender Auftritt in betrunkenem Zustand gegenüber der nächtlichen Wachpatrouille im Juli 1794 hatte Verhaftung und Amtsenthebung zur Folge. Als der württembergische Herzog Ludwig Eugen zum Ende 1795 starb, erhielt Petersen von dessen Nachfolger sein Bibliotheksamt nur mit der Auflage zurück, sich jeglicher politischer Äußerung zu enthalten. Offensichtlich konnte und wollte man auf das »Wundergedächtnis« 60 des Polyhistors nicht verzichten. 61 Neben Publikationen in Zeitschriften gingen nur wenige seiner literarischen Arbeiten in den Druck. Aus dem Jahr 1782 stammt die mit kuriosen Zitaten gespickte Geschichte der deutschen National=Neigung zum Trunke ohne Angabe des Verfassers. 62 Petersen spricht hier mit Begeisterung in eigener Sache, denn der abendliche Wirtshausbesuch ersetzte dem Junggesellen lebenslang die Familie. Im Folgejahr erschien - ebenfalls anonym - sein am meisten beachtetes Werk: Angeregt durch die Lektüre von Goethes <?page no="297"?> 297 Sophie von La Roche und die Familie Petersen 63 [Johann Wilhelm Petersen, Übers., Hrsg.: ] Die Gedichte Ossians neuverteutschet. Tübingen: Herrbrant 1782. 64 Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Kollektaneen Cod. Hist. Q. 257. 65 Zit. in Petersen: Chronik, Teil 2, S. 16. 66 Schweizer Erinnerungen, S. 500. 67 Schreibetisch, Bd. 2, S. 409-411. 68 Schmidt: ›Homer des Nordens‹, Bd. 3, S. 464-465. 69 Petersen: Chronik, Teil 2, S. 18-19. Werther, verfasste er die erste vollständige, kommentierte Prosaübersetzung der Ossian-Gedichte von James MacPherson. 63 Sein umfangreicher handschriftlicher Nachlass besteht aus Abhandlungen zur deutschen Literatur, Geschichte und Kulturgeschichte und einem nach Fachgebieten gebündelten »Catalogue raisonné«. Diese lebenslang gesammelten Lesefrüchte stellen sein eigentliches Lebenswerk dar. 64 Johann Wilhelm Petersen starb 1815, von der großen Schar seiner Freunde betrauert. »Durch seinen Geist, durch Rechtlichkeit wert und als heitrer Genosse, war er Gelehrten sogar selbst eine Bibliothek.« schrieb der Epigrammatiker Friedrich Haug (1761-1829) in seinem Nachruf. 65 Als Sophie von La Roche 1792 aus der Schweiz kommend in Stuttgart Station machte, traf sie Johann Wilhelm Petersen in seiner Wohnung am Karolinenplatz nicht an. 66 Es ist anzunehmen, dass ihr Besuch dem bekannten Übersetzer des Ossian galt. In ihrem Werk Mein Schreibetisch gibt sie in deutscher Sprache eine Passage aus dem melancholischen Schlussgesang des Ossian wieder, ohne den Übersetzer zu nennen. 67 Die jüngst erschienene Neuausgabe deutscher Übersetzungen erleichtert des Nachweis, dass sie aus Johann Wilhelm Petersens Übersetzung des Berrathon-Gesangs zitiert. 68 Mit Bedacht wählte Sophie von La Roche eine Episode, in der dramatische Szenen dicht aufeinander folgen: die Schlacht, der tödliche Zweikampf und das Ende der unglücklich liebenden Fürstentochter Ninathoma. Der anschließende Klagegesang ist durchtränkt von der »Wonne der Wehmut« (joy of grief), die Literaten und das Lesepublikum nachhaltig beeindruckte. Die zu Beginn geschilderte Auffindung der ausgesetzten Fürstentochter Ninathoma könnte in dem nicht betitelten Kupferstich des Leipziger Künstlers Christian Schule dargestellt sein, der den zweiten Band des »Schreibetischs« auf der linken Titelseite schmückt. In diesem Falle wäre dort neben der angeführten Widmung an den Darmstädter Freund noch ein weiterer Petersen im Spiel. Der Regierungsrat Ludwig Petersen Über das Leben von Ludwig Petersen, der um 1759 als jüngstes Kind des Zweibrücker Hofpredigers geboren wurde, ist nur wenig bekannt. 69 Die <?page no="298"?> 298 Patricia Sensch 70 Petersen harrte jedoch vor Ort aus und drohte, Gehalt und Führungszeugnis einzuklagen. In seinen eingereichten »Pro memoriae« übte er offene Kritik an Landesherrn und Regime. Erst vier Monate später kam es zu einer Einigung. Fürstlich Wallersteinsches Archiv in Harburg, Personalakte. 71 La Roche an J. F. Chr. Petersen, 16.2.[1798], FDH, Sign. 6608. Der Familienchronist hingegen vermutet, dass er in den Revolutionswirren ums Leben kam (Petersen: Chronik, Teil 2, S. 19). 72 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 4.11.1793, FDH, Sign. 6500. 73 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 3.6.1793, FDH, Sign. 6490. Matrikel der Göttinger Georg-August-Universität weist ihn zum Wintersemester 1772 als Studenten der Rechtswissenschaften aus. 1781 erhielt er durch Vermittlung der Ansbacher Verwandtschaft einen Posten im Fürstentum Öttingen-Wallerstein. Ein Blick in seine Personalakte, die sich im Fürstlichen Archiv auf der Harburg befindet, bestätigt die Vermutung des Chronisten, dass dem zum Regierungsrat avancierten Petersen sein zwölftes Dienstjahr im Duodez-Fürstentum sauer wurde. Fürst Ernst Kraft von Öttingen-Wallerstein hatte ihn am 27. März 1793 nach einem heftigen Wortwechsel über die mutmaßlich jakobinisch gesinnten Personen seiner Entourage fristlos entlassen. 70 Vieles spricht für eine enge (illuminatische? ) Verbindung des renitenten Petersen mit seinen gleichgesinnten Brüdern in Speyer und Stuttgart. Dass der Rat selbst den Stuttgarter Behörden als politischer Feuerkopf bekannt war, erklärt sich durch die dynastische Verbindung der Fürstenhäuser: 1789 schloss der Fürst seine zweite Ehe mit einer Württembergischen Prinzessin. An beiden süddeutschen Höfen hatte der Name ›Petersen‹ einen gänzlich anderen Klang als in den Residenzen Darmstadt oder Zweibrücken. Der Aufbruch in die Freiheit endete für Ludwig Petersen allem Anschein nach tragisch: seine Spur verliert sich in der Schweiz, später taucht er noch einmal in England auf. 71 Auch wenn Sophie von La Roche den Wallensteiner Regierungsrat nicht persönlich gekannt hatte, bewies ihre eilfertige Hilfsbereitschaft, dass auch das Geschick des »entfernsten« 72 der Brüder sie berührte. Der Speyerer Petersen hatte ihr geschrieben, dass der Wallensteiner Rat darauf drängte, das Fürstentum zu verlassen. Es bleibt ungeklärt, ob er sie auch über dessen politische Couleur informierte. Routiniert im Spinnen von Beziehungsfäden, unterbreitete Sophie von La Roche dem Prinzenerzieher immer wieder neue Vorschläge, wie dem jüngsten Bruder zu helfen wäre. Ihr letztes Angebot, ein Posten in der Isenburgischen Regierung, hatte allerdings einen Haken. Ihr Nachbar Hofrat Wrede, der bei der Vergabe der Stelle federführend war, wollte im Gegenzug seine älteste Tochter verheiratet sehen. »[…] ob etwa der H-bruder wie es oft der fall ist, und auch Sie [! ] in eine solche Idee eingehen würden - » 73 fragt Sophie von La Roche vorsichtig an, obwohl sie inzwischen seine Bedenken hinsichtlich eines weiteren demokratisch gesinnten Bruders <?page no="299"?> 299 Sophie von La Roche und die Familie Petersen 74 Petersen: Chronik, Teil 2, S. 19-21. 75 Ebd., S. 22. 76 Ebd. 77 La Roche an J.F.Chr. Petersen, 5.6.1793, FDH, Sign. 6491. 78 La Roches Briefe an J.F. Chr. Petersen sind für eine differenzierte Betrachtung ihrer politischen Einstellung sehr aufschlussreich. Ich verweise auf meine Briefedition, die sich in Vorbereitung befindet. (neben dem Speyerer ›Maire‹ Karl Ludwig Petersen) in seinem Umkreis kannte. Petersen scheint ihr Ansinnen rundweg abgelehnt zu haben. Die drei Schwestern Petersen Das Leben der drei Petersen-Schwestern verlief glanzlos, wenn nicht gar traurig. Es ist fraglich, ob Geld für ihre Aussteuer vorhanden war, da für die Ausbildung der Söhne Schulden gemacht wurden. Ihre Lebensdaten sind nicht zu ermitteln. Die älteste, Caroline, heiratete 1783 Pfarrer Heß aus Böchingen an der Weinstraße. Aus der Ehe gingen ein Sohn und drei Töchter hervor. 74 Die mittlere, Henriette Juliane, blieb zwei Jahre an der Seite ihrer 1783 verwitweten Mutter und starb wenige Monate nach deren Tod im Jahr 1785. 75 Die jüngste der Schwestern, Christiane, blieb ebenfalls unverheiratet. Finanziell unterstützt von den Darmstädter Brüdern, lebte sie als Pensionsgast in diversen Offenbacher Haushalten. Sophie von La Roche umgab die körperlich und nervlich labile Christiane mit mütterlicher Fürsorge und hielt den Prinzenerzieher über deren Gesundheitszustand auf dem Laufenden. Sie starb 1798 in Offenbach. 76 Schlussbemerkung Der Name ›Petersen‹ konnte Sophie von La Roche als ein Gütezeichen für scharfen Intellekt und außergewöhnliche Kenntnisse bürgen. Ihre Kontakte auf geistiger, wie auch menschlicher Ebene zu den sechs Brüdern brachten sie in ihrem letzten Lebensabschnitt mit den zentralen Problemen ihrer Zeit in Berührung und mussten notwendigerweise ihr Bewusstsein erweitern, da sich in dieser außergewöhnlichen Familie die disparaten Positionen aufgeklärter Intellektueller in den Umbruchsjahren vor und nach der Französischen Revolution geradezu modellhaft repräsentierten: Anpassung, verdeckte Aktivität, offene Rebellion, Lagerwechsel, Aufbruch ins Exil. Drei regierungstreuen Fürstendienern standen drei jakobinisch gesinnte Demokraten gegenüber. Es kam zu einem »riß in der schönen Kette der 6 verdienstvollen Brüder«, 77 wie sie bedauernd feststellen musste. 78 <?page no="300"?> 300 Patricia Sensch Dass Johann Friedrich Christian Petersen Sophie von La Roche von allen Brüdern am nächsten stand, gründete in dem fruchtbaren Austausch und harmonischen Einvernehmen in literarischen, pädagogischen und politischen Themen, vielleicht aber auch darin, dass der sanftmütige Pädagoge ihrem oft formulierten Tugendideal in seinem Denken und Handeln vollendet entsprach. <?page no="301"?> Bibliographie Abbt, Thomas: Vom Tode für das Vaterland. Berlin: Nicolai 1761. Abel, Günter: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin 1978. Adam, Wolfgang: Die Schweizer Reisen der Sophie von La Roche. In: Hellmut Thomke u.a. (Hrsg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770-1830. Amsterdam 1994, S. 33-55. 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Da er sich als Glied einer Reihe „wiederholter Spiegelungen“ in Einklang wußte mit Dichtern der Vergangenheit, mit Dante, Petrarca oder Hafis und ihren ähnlichen Geschicken, offenbarte er sich im Sinne des von ihm gerühmten Analogiedenkens. Zudem gab er vielfältige Hinweise auf Geheimes, größere und kleinere „Schlüssel“, „das Rätsel zu lösen“. Solch ein Schlüssel, die Dichtung Trilogie der Leidenschaft, öffnet Wege rückwärts und vorwärts durch das Werk. Eva Hoffmann Goethe aus Goethe gedeutet 2009, 656 Seiten, geb. €[D] 98,00/ SFr 165,00 ISBN 978-3-7720-8339-6