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Augustin - 33 Wanderwege durch sein Werk

0429
2009
978-3-7720-5313-9
978-3-7720-8313-6
A. Francke Verlag 
Thomas Halter

Als einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen der christlichen Spätantike hat Agustin das abendländische Denken wesentlich geprägt. Viele seiner theologischen Schriften sind erhalten, seine "Confessiones" gehören zu den einflussreichsten autobiographischen Texten der Weltliteratur. Diese sparsam kommentierte, zweisprachige Textsammlung will Augustin möglichst unvoreingenommen hörbar machen. Die ausgewählten Texte entstammen allen augustinischen Schriften, sind also nicht, wie es häufig geschieht, schwergewichtig aus den berühmtesten Werken geholt. So ist weniger eine erbauliche Blütenlese entstanden als vielmehr ein recht welthaltiges Lesebuch, welches Augustin häufiger ohne Bischofsmütze als im vollen Ornat zeigt.

<?page no="0"?> THOMAS HALTER Augustin - 33 Wanderwege durch sein Werk A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BAS EL <?page no="1"?> Thomas Halter Augustin - 33 Wanderwege durch sein Werk <?page no="3"?> Thomas Halter Augustin - 33 Wanderwege durch sein Werk A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Fra Angelico ( 1455), Kopf des Heiligen Augustinus, Florenz, Kloster S. Marco, Kapitelsaal: akg-images/ Electa © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen ISBN 978-3-7720-8285-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Abkürzungsverzeichnis der zitierten Schriften Augustins . . . . . . . . . . . . . . 9 Annäherung und Begegnung W 1 Der Innenseher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Augustins Lebensgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 W 2 Kleines Selbstporträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Der Blick auf Schwächere W 3 Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 W 4 Menschenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 W 5 Fremdling ‹Kind› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 W 6 Im Bund mit der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 W 7 Inquisition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 W 8 Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Leben unter christlichen Idealen W 9 Seelenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 W 10 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 W 12 Der Prediger und sein Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 W 13 Klosterleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 <?page no="6"?> Inhalt 6 Vielfältig bedrohtes Dasein W 14 Kindersterblichkeit und Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 W 15 Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 W 16 Grösse und Elend des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 W 17 Spätzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 W 18 Circumcellionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 W 19 Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Nachdenken über Sprache W 20 Verständigung als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 W 22 Ein unbotmässiger Bibelvers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Die Bürde der Körperlichkeit W 23 Tempel oder Gefängnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 W 24 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kreisen um Gott W 25 Das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 W 26 Teil und Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 W 27 Christus als rhetorische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 W 28 Gottes Existenz beweisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 W 30 Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Ernste Spiele W 31 Wesen und Würde der Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 W 32 153 Fische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 W 33 Naturbetrachtung zwischen Physik und Metaphysik . . . . . . . . . . 311 Hilfsmittel zur Beschäftigung mit Augustin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 <?page no="7"?> 7 Vorwort Wer andern Wanderlustigen Vorschläge macht, gibt in erster Linie seiner eigenen Lust nach: Wandervorschläge haben immer subjektiven Charakter. Der Autor eines Wanderführers liebt die vorgeschlagenen Wege, er liebt auch die Aussichtspunkte, weiss aber, dass es seine eigenen sind. Wer sich auf einen Wandervorschlag einlässt, darf Angaben erwarten zu Marschzeit, Steigung und Gefälle oder zu lohnenden Umwegen. So gehört zu jedem hier ausgewählten Text der Hinweis auf seinen exakten Standort im Gesamtwerk und seine (oft indirekt errechnete, teils nur grob abschätzbare) Entstehungszeit. Damit kann sich der Leser den Zugang eröffnen zum weiteren Umfeld, aus dem der betreffende Gedanke bei Augustin erwachsen sein dürfte. Der Verfasser eines Wanderführers hat Vor-Gänger. So wird er ab und zu an Orten stehen bleiben, wo schon andere, Grössere, verweilt haben, etwa an Stellen, die, seit anderthalb Jahrtausenden unübertroffen, noch immer bestürzend wahr oder ganz einfach «schön» sind. Eine «Blütenlese der tiefsten Gedanken des Heiligen Augustinus» ist daraus dennoch nicht entstanden, auch kein «Augustinus-Brevier» mit Goldschnitt; eher ein ziemlich weltliches Lesebuch, das Augustin häufiger ohne Bischofsmütze als im vollen Ornat sichtbar macht. Das Porträt eines Menschen entsteht ja auch nicht allein aus Goldplättchen, vielmehr aus ganz verschieden farbigen Mosaiksteinen. Das Buch verdankt sein Entstehen dem leichtfertigen Unternehmen, alle Schriften Augustins, von den frühesten Zeugnissen bis zu den spätesten, chronologisch getreu und in Augustins eigener Sprache durchzulesen. Augustin selber hatte das einst dem Interessierten geraten (retract. 1 prol. 3), und Augustins Biograph, Possidius, hatte davor zumindest nicht gewarnt (vita Aug. 18,9). Doch der erfrischende Spaziergang an der Quelle wandelte sich recht bald zu einem staubigen Marsch an träge fliessendem Gewässer und endlich zur bleiernen Pflicht, einen Ozean auszutrinken. Denn es galt, auch vor wenig erfreulichen, ja abstossend unheiligen Aspekten dieses überwältigend grossen Heiligen der Christenheit die Augen nicht zu verschliessen. So führen nun einzelne Wanderungen auch durch schwere Schatten. Fast ausnahmslos wird hier Augustin durch Augustin, allein durch seine eigenen Worte vorgestellt. Das soll aber nicht vergessen machen, dass Augustin von einem kaum übersehbaren Strom paganer Überlieferung getragen wird: Platonische, vor allem neuplatonische (Porphyrios, Plotin) Einflüsse, aber auch (über Cicero) peripatetische, stoische und skeptische Einwirkungen sind nach- <?page no="8"?> Vorwort 8 weisbar. Dieses Wissen mit dem jüdisch-christlichen Fundus verbunden zu haben, ist keine geringe Leistung. Warum eine zweisprachige Ausgabe? Warum das Lateinische mitschleppen? - Augustin ist ein gewiegter Sprachkünstler. Kein Übersetzer kann abbilden, was da in Klängen und Rhythmen vollendet gesagt ist. Ihm bleibt nur, dem Leser stumm auch die ursprüngliche Text-Fassung darzureichen, im Wissen, dass (wie Possidius 31,9 schreibt) diejenigen viel mehr profitierten, die Augustin «persönlich in der Kirche hören und sehen konnten». - Endlich gilt: «Oft kommt ein Übersetzer vom Weg ab und, wenn er nicht ganz gelehrt ist, täuscht er sich über den Sinn, den der Autor in seine Worte gelegt hat» (doctr. christ. 1,13,19). Dann hilft die Ausgangssprache klären. Zur Übersetzung: - Natürlich steht unsere Zeit mit ihrem Hang, selbst noch dem einfachen Satz das Schlagwort vorzuziehen, dem Stil-Ideal einer sprachlichen Hochkultur einigermassen ratlos gegenüber. Doch durfte Augustin nicht verraten werden. Die Übersetzung versucht daher, den Satzbauten Augustins und ihren Motiv-Folgen möglichst nahe zu bleiben; sie zielt auf gute Lesbarkeit, nicht auf maximale Flüssigkeit. Das Buch will erzählen und zum Lesen ermuntern. Es gleicht somit nicht einem modernen, perfekten Spiegel, der alle Aspekte von Augustins Denken entsprechend ihrem relativen Gewicht wiedergäbe. Es bescheidet sich damit, einen Augustin-Spiegel der antiken Machart, aus unvollkommen geglätteter Bronze anzubieten. <?page no="9"?> 9 Zitiert wird aus folgenden Schriften Augustins adult. coniug. de adulterinis coniugiis Ehebrecherische Verbindungen adv. Iud. adversus Iudaeos Gegen die Juden anim. de anima et eius origine Die Seele und ihr Ursprung beat. vit. de beata vita Das glückliche Leben bon. coniug. de bono coniugali Das Gut der Ehe c. acad. contra academicos Gegen die Akademiker c. Adim. contra Adimantum Gegen Adimantus c. adv. leg. contra adversarium legis et prophetarum Gegen einen Gegner des Gesetzes und der Propheten c. Arian. contra sermonem Arianorum Gegen eine Schrift der Arianer c. Cresc. contra Cresconium grammaticum partis Donati Gegen den Grammatiker Cresconius von der Sekte des Donatus c. epist. fund. contra epistulam Manichaei, quam vocant fundamenti Gegen den sogenannten Grundlagen-Brief des Manichäers c. Faust. contra Faustum Manichaeum Gegen den Manichäer Faustus c. Iulian. contra Iulianum Aeclanensem episcopum Pelagianum Gegen den pelagianischen Bischof Julian von Aeclanum c. Iulian. op. imperf. opus imperfectum contra Iulianum Aeclanensem Unvollendetes Werk gegen Julian von Aeclanum c. mend. contra mendacium ad Consentium An Consentius über die Lüge c. Parm. contra epistulam Parmeniani Donatistarum episcopi Gegen den Brief des Donatisten-Bischofs Parmenianus c. Petil. contra litteras Petiliani Donatistae Gegen den Brief des Donatisten Petilianus catech. rud. de catechizandis rudibus Der Unterricht für Taufbewerber civ. de civitate dei Die Gottesstadt conf. confessiones Bekenntnisse cons. evang. de consensu evangelistarum Die Übereinstimmung der Evangelisten corrept. de correptione et gratia Zurechtweisung und Gnade cur. mort. de cura pro mortuis gerenda <?page no="10"?> Abkürzungsverzeichnis 10 Die Sorge um die Toten de serm. dom. de sermone domini in monte Die Bergpredigt des Herrn discipl. de disciplina christiana Die christliche Unterweisung divers. quaest. de diversis quaestionibus LXXXIII 83 verschiedene Fragen doctr. christ. de doctrina christiana Die christliche Lehre enchir. enchiridion vel ad Laurentium de fide, spe et caritate Handbuch oder Glaube, Hoffnung und Liebe, an Laurentius epist. epistula Brief epist. Divj. epistulae collectionis a Divjak repertae Briefe aus der von Divjak entdeckten Sammlung fid. et op. de fide et operibus Der Glaube und die Werke fid. et symb. de fide et symbolo Der Glaube und das Bekenntnis gen. ad litt. de genesi ad litteram Auslegung der Genesis, nach dem Wortsinn gen. ad litt. imperf. de genesi ad litteram imperfectus liber Unvollendetes Buch über die Genesis, nach dem Wortsinn gen. c. Manich. de genesi contra Manichaeos Auslegung der Genesis, gegen die Manichäer gest. Pelag. de gestis Pelagii Die Prozessakten des Pelagius grat. de gratia et libero arbitrio Gnade und freier Wille haer. de haeresibus ad Quodvultdeum Die Häresien, an Quodvultdeus immort. de immortalitate animae Die Unsterblichkeit der Seele in epist. Ioh. in epistulam Iohannis ad Parthos tractatus Auslegung zum Brief des Johannes an die Parther in evang. Ioh. in Iohannis evangelium tractatus Auslegung zum Johannes-Evangelium in Gal. expositio epistulae ad Galatas Auslegung des Galaterbriefs in psalm. in psalmos enarrationes Erläuterungen zu den Psalmen in Rom. expositio quarundam propositionum ex epistula apostoli ad Romanos Auslegung zu einigen Themen des Römerbriefs des Apostels in Rom. imperf. epistulae ad Romanos inchoata expositio Unvollendete Auslegung des Römerbriefs lib. arb. de libero arbitrio Der freie Wille <?page no="11"?> Abkürzungsverzeichnis 11 mag. de magistro Der Lehrer mor. eccl. de moribus ecclesiae catholicae Leben und Lehre der katholischen Kirche mus. de musica Die Musik nat. bon. de natura boni Das Wesen des Guten nat. et grat. de natura et gratia Natur und Gnade nupt. et concup. de nuptiis et concupiscentia Ehe und Begehrlichkeit op. monach. de opere monachorum Die Arbeit der Mönche ord. de ordine Die Ordnung pat. de patientia Die Geduld pecc. mer. de peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum Folgen und Vergebung der Sünden und Die Kindertaufe pecc. orig. de peccato originali Die Erbsünde persev. de dono perseverantiae Das Geschenk der Beharrlichkeit praed. sanct. de praedestinatione sanctorum Die Vorherbestimmung der Heiligen quaest. hept. quaestiones in heptateuchum Fragen zum Heptateuch quant. anim. de animae quantitate Die Grösse der Seele retract. retractationes Berichtigungen serm. sermones Predigten Simpl. ad Simplicianum An Simplician soliloq. soliloquia Selbstgespräche spir. et litt. de spiritu et littera Geist und Buchstabe symb. de symbolo sermo ad catechumenos Das Glaubensbekenntnis, an die Taufbewerber trin. de trinitate Die Dreieinigkeit <?page no="12"?> Abkürzungsverzeichnis 12 urb. exc. de excidio urbis Romae Der Untergang der Stadt Rom util. cred. de utilitate credendi Der Nutzen des Glaubens vera relig. de vera religione Die wahre Religion virg. de sancta virginitate Die heilige Jungfräulichkeit Abkürzungen ohne Punkt verweisen auf Bücher der Bibel Gen Das erste Buch Mose. Genesis Lev Das dritte Buch Mose. Leviticus Mt Das Evangelium nach Matthäus Joh Das Evangelium nach Johannes Rm Der Brief an die Römer 1 Kor Der erste Brief an die Korinther <?page no="13"?> 13 Annäherung und Begegnung W 1 Der Innenseher noli foras ire! geh nicht nach aussen! vera relig. 202 (389-391) plerumque, cum diuscule attenderimus quaeque luminaria et deinde oculos clauserimus, quasi versantur in conspectu quidam lucidi colores varie sese commutantes et minus minusque fulgentes, donec omnino desistant. Oftmals, wenn wir während längerer Zeit auf irgendwelche Lichtquellen geschaut haben und danach die Augen schliessen, verweilen gleichsam im inneren Blick noch gewisse helle Eindrücke, die sich dann in unterschiedlicher Weise verändern und zunehmend weniger stark leuchten, bis sie vollständig verschwinden. quas intellegendum est reliquias esse formae illius, quae facta erat in sensu, cum corpus lucidum videretur, paulatimque et quodam modo gradatim deficiendo variari. Man muss dieses Phänomen so verstehen, dass es sich um Restteilchen jener Form handelt, die sich auf der Ebene des Sehsinns gebildet hatte, als man auf das helle Objekt schaute, und dass sie sich nun beim allmählichen Vergehen gleichsam stufenweise verändern. nam et insertarum fenestrarum cancelli, si eos forte intuebamur, saepe in illis apparuere coloribus, ut manifestum sit hanc affectionem nostro sensui ex ea re, quae videbatur, impressam. Denn auch die Gitter von Fenstern in der Mauer sind mir, wenn ich etwa auf sie geschaut hatte, <nachher bei geschlossenen Augen> oft in jener <wechselnden> Tönung wieder erschienen. Offensichtlich ist dieses Etwas unserem Sehsinn vom angeschauten Gegenstand aufgeprägt worden. <?page no="14"?> Annäherung und Begegnung 14 erat ergo etiam, cum videremus, et illa erat clarior et expressior, sed multum coniuncta cum specie rei eius, quae cernebatur, ut discerni omnino non posset. trin. 11,2,4 (399-419) Dieser Ein-Druck bestand also bereits, als wir hinschauten, nur war er heller und schärfer umrissen, allerdings ganz eng verbunden mit der Form des Gegenstandes, den man erblickte, sodass man beides gar nicht hätte scheiden können. Augustin - am Schreibpult, in Gedanken versunken. Er guckt nicht etwa aus dem Fenster, auch schaut er nicht durch das Fenster, ebensowenig betrachtet er die Gitterstäbe am Fenster; vielmehr ist sein Blick beim Suchen nach der Lösung eines Problems auf die helle Stelle in der Wand gefallen und dort hängen geblieben. Ganz natürlicherweise, um sein Problem noch tiefer zu fassen, schliesst er die Augen und sieht nun - nicht nichts, sondern das Nachbild des vorhin unwillkürlich Gesehenen. Wenn Augustin von ‹varie commutari, sich in unterschiedlicher Weise verändern› spricht, beschreibt er die Veränderung der hellen Teile des Nachbilds gegen das Dunkle hin und umgekehrt des Dunklen gegen das Helle, sodass sich am Ende beides vollständig ausgleicht und das Bild als ganzes verschwindet. Erst jetzt sieht unser inneres Auge nichts mehr: Die Sehnerven haben sich vom langdauernden Reiz erholt und sind wieder alle in gleichem Mass aufnahmebereit. (Was Augustin nicht erwähnt, ist der Umstand, dass helle Teile des Sehbildes im Nachbild dunkel erscheinen und umgekehrt.) Das Nachbild ergibt sich unwillkürlich nach längerem reglosen Augen-Offenhalten, und dieses ist hier eine Folge von «Geistesabwesenheit», was ja intensive Gedanken-Gegenwart meint: Abwesenheit des Geistes von den umgebenden Objekten, Anwesenheit im Subjekt. Die Beschreibung des Nachbild-Phänomens, nach Augustins Worten ein häufiges Erlebnis («plerumque, sehr oft; saepe, oft»), zeichnet ihn als Menschen, der von seinen Gedanken gerne fortgetragen wird, sodass er für Äusseres bei offenen Augen blind werden kann. So kennt Augustin das von Sokrates überlieferte plötzliche Stehenbleiben in der Öffentlichkeit wie auch das «blinde» Spazierengehen: <?page no="15"?> W 1 Der Innenseher 15 plerumque se <anima> vehementi cogitationis intentione avertit ab omnibus <organis>, ut prae oculis patentibus recteque valentibus multa posita nesciat et, si maior intentio est, dum ambulabat, repente subsistat, avertens utique imperandi nutum a ministerio motionis, qua pedes agebantur. si autem non tanta est cogitationis intentio, ut figat ambulantem loco, sed tamen tanta est, ut partem illam cerebri mediam nuntiantem corporis motus non vacet advertere, obliviscitur aliquando et unde veniat et quo eat, et transit inprudens villam, quo tendebat. gen. ad litt. 7,20,26 (401-414) Nicht selten wendet sich <der Geist>, weil er sich mit aller Kraft auf einen Gedanken konzentriert, von allen <sinnlichen Hilfsmitteln> ab, sodass er vieles, was vor seinen (durchaus offenen und gesunden! ) Augen liegt, nicht mehr wahrnimmt und dass er, wenn die Konzentration noch zunimmt, im Gehen plötzlich anhält und die Lenkkraft, von der die Füsse gesteuert wurden, vollständig vom Dienst an der Bewegung abruft. Ist hingegen die Konzentration auf den Gedanken nicht hoch genug, einen im Gehen auf der Stelle festzuheften, aber doch so, dass sie ausreicht, jenen mittleren Gehirnteil, der die Körperbewegungen meldet, auszuschalten, vergisst man bisweilen das Woher und das Wohin und geht, ohne es zu merken, an dem Anwesen vorbei, wohin man wollte. ita et ambulantes intenta in aliud voluntate nesciunt, qua transierint. quod si non vidissent, non ambulassent aut maiore intentione palpando ambulassent, praesertim, si per incognita pergerent; sed, quia facile ambulaverunt, utique viderunt. trin. 11,8,15 (399-419) In gleicher Weise wissen Spaziergänger, wenn sich ihr Wille auf anderes <als, was sie antreffen,> konzentriert, nicht, woran sie vorübergegangen sind. Doch, wenn sie dabei die Augen nicht offen gehalten hätten, so wäre der Gang nicht möglich gewesen, oder sie wären den Weg mit erhöhter Umsicht nur unter Tasten gegangen, vor allem über unbekannte Wege. Da sie aber ohne Schwierigkeiten gegangen sind, haben sie es sichtlich mit offenen Augen getan. Darf man also bei einem Augustin keine Landschafts-Beschreibungen erwarten? et alius altitudinem montis alicuius libenter intuetur et eo gaudet aspectu, alius campi planitiem, alius convexa vallium, alius nemorum viriditatem, alius mobilem aequalitatem maris, alius haec omnia vel quaedam horum simul plura confert ad laetitiam videndi. lib. arb. 2,107 (391-395) Und einer betrachtet mit Vorliebe die Höhe irgendeines Berges und hat an dessen Anblick seine Freude, ein anderer führt die Fläche der Ebene an, wenn es um die Freude des Sehens geht, ein anderer die Tiefe von Tälern, ein anderer das Grün lichter Wälder, ein anderer das bewegliche Gleichmass des Meeres, ein anderer all das zusammen oder auch mehrere der genannten Dinge zugleich. <?page no="16"?> Annäherung und Begegnung 16 Lässt sich schablonenhafter von Landschaft sprechen? Der Berg ist hoch, die Ebene ist eben, das Tal tief, Wälder sind grün und das Meer ewig unruhig … et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum - et relinquunt se ipsos! nec mirantur, quod, haec omnia cum dicerem, non ea videbam oculis, nec tamen dicerem, nisi montes et fluctus et flumina et sidera, quae vidi, et oceanum, quem credidi, intus in memoria mea viderem spatiis tam ingentibus, quasi foris viderem. conf. 10,8,15 (397-401) Und Menschen gehen hin und bewundern die Höhen von Bergen und das grenzenlose Wogen des Meeres und das gewaltig breite Niedergleiten von Flüssen und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne - und verlassen dabei sich selbst! Und staunen nicht darüber, dass ich eben, als ich all das nannte, es nicht mit den Augen habe sehen müssen. Und doch könnte ich es nicht nennen, wenn ich Berge, Meereswogen, Flüsse und Sterne (die ich selber schon gesehen habe) und den Ozean (an dessen Existenz ich nur glaube) nicht in meinem Gedächtnis «sehen» könnte - in so riesigen Räumen, als sähe ich sie ausserhalb meiner. Wieder begegnen wir einem augustinischen Interesse für eine Art von innerem Sehen, und wieder begegnen uns Schablonen: Berge sind hoch, die Meeresfluten endlos, und die Ströme fliessen, und auf diese Schablonen folgen zwei erst recht schemenhafte «Landschafts»-Daten: der sagenhafte Ringfluss Oceanus und die konkret ebensowenig erlebbaren, allein rechnerisch erfassbaren Kreisbahnen der Sterne. - Aber, wird man mit Recht einwenden, Schriftsteller der Antike waren noch nie französische Impressionisten! Gewiss; Augustins Unvertrautheit mit der ihn umgebenden «Natur» war bei ihm aber Programm: Aussensehen als solches soll wenig Gewicht haben; es kann nicht Ziel sein: «melius, quod interius; besser ist, was innen ist! » Daher nicht nur die schematischen Aussenwelt-Evokationen; daher vor allem die Anklage «et relinquunt se ipsos, und verlassen dabei sich selbst» - Worte, die fast tausend Jahre später noch Petrarca tief getroffen und aus der eben neu entdeckten Landschaft des Mont Ventoux vertrieben haben. Recht ausgerichtetes Sehen ist Ergründen der Innerlichkeit, ist Innensehen. «noli foras ire! » - Einen Berg allerdings darf man ruhig besteigen; nur heisst er nicht Olymp, nicht Ventoux: «Such nicht in der Ferne! Ich sage dir: Ersteige den <wahren> Berg und sieh das Ziel: der Berg heisst Christus! noli ire longe! ecce dico tibi: ascende in montem et vide finem: Christus mons est! » (in epist. Ioh. 10,5). * Eines freilich - die Ausnahme könnte die Regel bestätigen! - scheint auch dem sinnenden Spaziergänger Augustin in seiner Küstenstadt nicht entgangen zu sein, das Meer: <?page no="17"?> W 1 Der Innenseher 17 (…) in ipsius quoque maris tam grandi spectaculo, cum sese diversis coloribus velut vestibus induit et aliquando viride (atque hoc multis modis), aliquando purpureum, aliquando caeruleum est. civ. 22,24 (vor 427) <Die Schönheit der Schöpfung bewährt sich in zahllosen Bereichen> (…) und auch am grossartigen Schauspiel des Meeres, wenn es verschiedenartige Farben wie Gewänder anzieht und bisweilen grün (und dies in vielerlei Tönen), dann wieder violett, und manchmal schwarzblau erscheint. Dazu ist festzuhalten: Augustins ‹purpureum, aliquando caeruleum, violett, manchmal schwarzblau› findet sich bereits bei dem vielbewunderten Cicero (ac. 2,105), und zwar in der gleichen Abfolge der Farben: ‹mare (…) purpureum (…) modo caeruleum›. Und dieses Doppelmotiv taucht zB bei Augustins älterem Zeitgenossen Basilius dem Grossen (330-379; Hexaem. 4,6) ebenfalls auf, innerhalb einer Lobpreisung der Schöpfung (wie bei Augustin) und wiederum in der gleichen Farbenfolge ‹violett - dunkelblau›: . Sollten wir also bei Augustin weniger auf eigenes Erleben als vielmehr auf eine Bildungs- Reminiszenz schliessen? Lesen wir Augustins Meer-Text noch um einen Satz weiter; es ist der Schlusssatz: quam porro delectabiliter spectatur etiam quandocumque turbatur, et fit inde maior suavitas, quia sic demulcet intuentem, ut non iactet et quatiat navigantem. civ. 22,24 Mit wieviel Vergnügen endlich betrachtet man <das Meer> gerade auch, wenn es aufgewühlt wird; ja, es begeistert noch mehr dadurch, dass es den Betrachter gefangen nimmt, ohne ihn - wie den Schiffer zur See - hin und her zu werfen und zu zerschmettern. Das Motiv der Hochstimmung dessen, der aus schützender Warte ungebändigte Naturkräfte erlebt, begegnet bereits bei Sophokles (496-406; frg. 579 N), dann, teilweise zitiert und eigenständig ausgebaut, bei Cicero (106-43; Att. 2,7,4), weiter bei Lukrez (98-55; 2,1-4) und Horaz (65-8vC; epist. 1,11,8-10), einer ganzen Reihe von Vorbild-Autoren also. Der Schluss scheint recht nahe zu liegen: Sogar an Stellen, wo der Augustinleser auf unmittelbare Autopsie schliessen möchte, kann ihm ein Augustin begegnen, der ihm nicht als Augenzeuge, sondern ganz eigentlich als - erinnernder! - «Schrift-Zeuge» entgegentritt. * Den geborgten oder schematischen Aussenwelt-Evokationen entspricht Augustins Desinteresse an wissenschaftlichen Fragen, die seine weitere Umwelt betreffen. Sie stellen sich beispielsweise bei der Behandlung des Schöpfungsberichts: <?page no="18"?> Annäherung und Begegnung 18 quaeri etiam solet, quae forma et figura caeli esse credenda sit secundum scripturas nostras. multi enim multum disputant de his rebus, quas maiore prudentia nostri auctores omiserunt ad beatam vitam non profuturas discentibus et occupantes, quod peius est, multum pretiosa et rebus salubribus inpendenda temporum spatia. quid enim ad me pertinet, utrum caelum sicut sphaera undique concludat terram in media mundi mole libratam, an eam ex una parte desuper velut discus operiat? gen. ad litt. 2,9,20 p.45f (401-414) Oft wird auch die Frage gestellt, unter was für einer Form und Gestalt man sich entsprechend den Heiligen Schriften den Himmel vorzustellen habe. Viele widmen diesem Problem ja ausführliche Erörterungen; unsere Denker allerdings haben es aus tieferer Einsicht beiseite gelassen. Wer nämlich auf dem Weg zum glückseligen Leben ist, kann keinen Gewinn daraus ziehen, und, was schlimmer ist, es verschlingt immer wieder kostbare Zeit, die für Zuträglicheres verwendet werden sollte. Denn, was ändert es für mich, ob der Himmel wie eine Kugel die Erde (die sich dann im Mittelpunkt des Weltganzen im Gleichgewicht hielte) rings umschliesse, oder ob er sie von einer einzigen Seite, von oben her, wie eine Scheibe bedecke? multas autem stellas vel aequales soli vel etiam maiores audent dicere, sed longius positas parvas videri. et nobis quidem potest fortasse sufficere, quoquo modo se ista res habeat, artifice Deo condita sidera. gen. ad litt. 2,16,33 p.58 (401-414) Sie haben die Kühnheit, zu behaupten, es gebe noch viele Sterne, die gleich gross seien wie die Sonne oder sogar grösser; doch seien sie weiter entfernt und schienen daher klein zu sein. Wie immer sich dieses Problem verhalte, uns jedenfalls kann, meine ich, genügen, dass die Gestirne vom Künstler Gott erschaffen sind. Nach der Form des Himmels zu fragen, wäre Zeitverschwendung; die Frage nach der Glückseligkeit wiegt um vieles schwerer. Wir sehen den Himmel voller Sterne; darunter sind grosse und kleine, und es kann ruhig unerörtert bleiben, ob nur für unsere Augen; zentral ist allein das Bewusstsein, dass alle Sterne Schöpfungen Gottes sind. - Um nichts besser als dem Himmel oder den Sternen ergeht es dem armen Mond: duae sunt de luna opiniones probabiles. harum autem quae vera sit, aut non omnino aut difficillime arbitror posse hominem scire. Bezüglich des Mondes existieren zwei wahrscheinliche Ansichten. Welche von beiden zutrifft, kann ein Mensch, denke ich, entweder überhaupt nicht oder nur sehr schwer erfahren. <?page no="19"?> W 1 Der Innenseher 19 cum enim quaeritur, unde lumen habeat, alii dicunt suum habere, sed globum eius dimidium lucere, dimidium autem obscurum esse; dum autem movetur in circulo suo, eamdem partem, qua lucet, paulatim ad terras converti, ut videri a nobis possit, et ideo prius quasi corniculatam apparere. Wenn man nämlich fragt, woher der Mond sein Licht habe, antworten die einen, er besitze eigenes, doch leuchte nur die eine Hälfte der Kugel, die andere sei dunkel. Während er sich nun in seiner Kreisbahn bewegt, wende sich die Seite, mit welcher er leuchtet, allmählich der Erde zu, sodass er von uns gesehen werden kann, und eben deshalb erscheine er zuerst mit Hörnern. nam et, si facias pilam ex dimidia parte candidam et ex dimidia obscuram, si eam partem, quae obscura est, ante oculos habeas, nihil candoris vides, et cum coeperis illam candidam partem ad oculos convertere, si paulatim facias, primo cornua candoris videbis, deinde paulatim crescit, donec (…). Denn auch, wenn du eine Kugel machst, deren eine Hälfte hell, die andere dunkel ist, siehst du, solange du jene Seite, die dunkel ist, vor Augen hast, nichts Helles, und wenn du die andere, helle Seite deinen Augen zudrehst und dies langsam, langsam machst, wirst du zuerst die helle Hörnerform sehen; dann nimmt die Helle allmählich zu, bis (…). alii autem dicunt non habere lunam lumen proprium, sed a sole illustrari; sed, quando cum illo est, eam partem ad nos habere, qua non illustratur, et ideo nihil in ea lucis videri; cum autem incipit ab illo recedere, illustrari ab ea etiam parte, quam habet ad terram, et necessario incipere a cornibus, donec fiat quinta decima contra solem. Die andern aber sagen, der Mond habe gar kein eigenes Licht, vielmehr werde er von der Sonne beschienen. Doch wenn er in ihrer Nähe sei, sei uns jene Seite zugekehrt, auf der er nicht beschienen wird, und deswegen sehe man an ihm nichts Helles; wenn er sich aber von der Sonne zu entfernen beginne, werde auch die Seite beschienen, die er der Erde zugekehrt hält, und dieser Prozess beginne notwendig zuerst bei der Hörnerform - bis am 15. Tag der Mond der Sonne gegenüber stehe. tunc enim sole occidente oritur, ut, quisquis occidentem solem observaverit, cum eum coeperit non videre, conversus ad orientem lunam surgere videat. (…). Dann nämlich geht er bei Sonnenuntergang auf, und so kann jeder, der die Sonne bei ihrem Untergang beobachtet und sich in dem Moment, wo er die Sonne nicht mehr sieht, nach Osten umwendet, den Mond aufgehen sehen. (…) Und, als werfe sich Augustin seinen Gang zum Mond als Irrweg vor, stellt er resolut die rechte Ordnung wieder her: <?page no="20"?> Annäherung und Begegnung 20 quaelibet ergo duarum istarum opinionum vera sit, congruenter accipitur allegorice luna Ecclesia. Psalm 11,2: im Dunkel; Augustin liest in obscura luna. in psalm. 10,3 (394-395) Welche von beiden Ansichten immer die wahre sei -: man stimmt in der Auffassung überein, <an dieser Bibelstelle> sei der Mond ein Sinnbild für die Katholische Kirche. > O’Daly 131ff Augustins Lebensgang Zahlen und Stationen 354 (13. November) Geburt in Thagaste, Nordafrika 370 Studium der Rhetorik in Karthago 372 Geburt des Sohnes Adeodatus 373 Lehrer der Grammatik in Thagaste 375 Lehrer der Rhetorik in Karthago 383 Lehrer der Rhetorik in Rom 384 Professor der Rhetorik am Kaiserhof in Mailand 386 Konversion; Aufgabe des Lehramts 387 (Osternacht) Taufe durch Bischof Ambrosius von Mailand 387/ 388 Rückkehr über Rom und Karthago nach Thagaste seit 388 Auseinandersetzung mit den Manichäern 391 Priesterweihe in Hippo Regius 396 Bischof in Hippo Regius seit 394 Auseinandersetzung mit den Donatisten 410 Die Westgoten unter Alarich erobern und plündern Rom seit 411 Auseinandersetzung mit Pelagius seit 418 Kampf gegen den Pelagianer Julian von Aeclanum 429 Die Vandalen unter Geiserich fallen in Nordafrika ein 430 (28. August) Augustin stirbt im belagerten Hippo Regius <?page no="21"?> W 1 Der Innenseher 21 Zoom auf das Jahr 391 Der über siebzigjährige Augustin blickt zurück auf ein dramatisches Ereignis im Januar 391 in der Stadt Hippo Regius, einer Küstenstadt der römischen Provinz Africa proconsularis: ego, quem deo propitio videtis episcopum vestrum, iuvenis veni ad istam civitatem. multi vestri noverunt. quaerebam, ubi constituerem monasterium et viverem cum fratribus meis. Ich, den ihr, weil Gott mir wohlwollte, als euren Bischof vor euch seht, kam einst als junger Mann in diese Stadt. Viele von euch wissen es. Ich suchte damals einen Ort, wo ich ein Kloster einrichten und mit meinen Mitbrüdern leben könnte. Nach mehrjährigem Aufenthalt in Italien - als Rhetorik-Lehrer, dann, nach seiner Konversion zum Christentum der katholischen Kirche, als Verfasser philosophisch-theologischer Schriften - war Augustin in sein Geburtsland zurückgekehrt. spem quippe omnem saeculi reliqueram et, quod potuissem, esse nolui. non quaesivi tamen, quod sum. (…) ab eis, qui diligunt saeculum, secrevi me; sed eis, qui praesunt populis, non me coaequavi. nec in convivio domini mei superiorem locum elegi, sed inferiorem, abiectum. Et placuit ILLI dicere mihi: ascende sursum! Lk 14,10 Alles Hoffen auf die Welt hatte ich hinter mir gelassen und lehnte ab, was ich in ihr hätte sein können. Was ich jetzt bin, habe ich allerdings auch nicht gesucht. (…) Von denen, die die Welt lieben, trennte ich mich; den Regierenden achtete ich mich nicht gleich; auch suchte ich mir am Tisch meines Herrn keinen Vorzugsplatz, sondern einen gegen das Tischende hin, einen gering geachteten. Und es gefiel IHM , zu mir zu sagen: Rücke weiter hinauf! Mönchische Lebensformen hatte Augustin in Italien kennen gelernt. Die Gründung eines Klosters in Africa sollte ihm die ersehnte Ruhe für seine Studien ermöglichen. usque adeo autem timebam episcopatum, ut, quoniam coeperat esse iam alicuius momenti inter dei servos fama mea, in quo loco sciebam non esse episcopum, non illo accederem. cavebam hoc et gemebam, quantum poteram, ut in loco humili salvarer, non in alto periclitarer. Vor einem Bischofsamt aber fürchtete ich mich derart, dass ich - da mein Name unter den Dienern Gottes schon einiges Gewicht bekommen hatte - keinen Ort aufsuchte, von dem ich wusste, dass es dort noch keinen Bischof gebe. Ich versuchte mich dagegen vorzusehen und betete unter Seufzen, soviel ich konnte, dass ich heil an einem geringen Platz bleiben dürfte, nicht an einem hohen gefährdet wäre. <?page no="22"?> Annäherung und Begegnung 22 Ein Bischofsamt würde neben der Verpflichtung zur Predigt auch weltliche Aufgaben, zB Vermittlung und Schlichtung bei Rechtsstreitigkeiten, mit sich bringen. sed, ut dixi, domino servus contradicere non debet. veni ad istam civitatem propter videndum amicum, quem putabam me lucrari posse deo, ut nobiscum esset in monasterio - quasi securus, quia locus habebat episcopum. Aber, wie gesagt, dem Herrn soll ein Diener nicht widersprechen. Ich kam in diese Stadt, um einen Freund zu besuchen, den ich für Gott glaubte gewinnen zu können, sodass er mit uns in einem Kloster leben würde - und ich fühlte mich praktisch sicher, weil dieser Ort ja schon einen Bischof hatte. Zwar besass Hippo Regius tatsächlich einen Bischof; doch er war griechischsprachig … apprehensus presbyter factus sum et per hunc gradum ad episcopatum perveni. non adtuli aliquid; non veni ad hanc ecclesiam nisi cum his indumentis, quibus illo tempore vestiebar. et, quia hoc disponebam, esse in monasterio cum fratribus, cognito instituto et voluntate mea beatae memoriae senex Valerius dedit mihi hortum illum, in quo est nunc monasterium. serm. 355,2 (425-426) Man packte mich, ich wurde zum Presbyter gemacht, und über diese Stufe bin ich zum Bischofsamt gelangt. Ich brachte nichts mit; ich kam in diese Kirche und besass keine andern Kleider als, die ich damals grad trug. Und, weil ich eigentlich vorhatte, mit Glaubensbrüdern in einem Kloster zu leben, schenkte mir der greise <Bischof> Valerius seligen Angedenkens, als er von meinem Vorhaben und Bestreben erfuhr, jenes Grundstück, auf dem heute das Kloster steht. … und so besass die Gemeinde, was sie gesucht hatte, einen lateinisch predigenden Hirten neben dem Bischof. - Bereits wenige Jahre später, noch vor dem Tod seines Vorgängers, trat Augustin das Bischofsamt an. <?page no="23"?> W 2 Kleines Selbstporträt 23 W 2 Kleines Selbstporträt Stolz - und Demut magnum est de honoribus et laudibus hominum non laetari, sed et omnem inanem pompam praecidere et, si quid inde necessarium retinetur, id totum ad utilitatem honorantium salutemque conferre. non enim frustra dictum est: deus confringet ossa hominibus placere volentium. (…) vgl. Psalm 52,7 Gewaltig schwer ist es, sich über Ehrbezeigungen und Lobeserhebungen der Menschen nicht zu freuen, sondern all den leeren Pomp zu unterbinden und, wenn man etwas davon beibehält, weil es unausweichlich ist, dies ganz zu Nutzen und Heil derer zu verwenden, die einen ehren. Steht ja doch nicht umsonst geschrieben: Gott wird die Knochen derer, die den Menschen zu gefallen suchen, zermalmen. (…) praesumo de robore animi tui; itaque ista, quae tecum confero, mihi dico; dignaris tamen, credo, mecum considerare, quam sint gravia, quam difficilia. Ich setze voraus, dass deine Seele stark ist; so sage ich das, was ich mit dir austausche, zu mir selber. Dennoch bist du, glaube ich, bereit, mit mir zusammen zu bedenken, wie drückend, wie schwer das ist. Adressat dieser Briefzeilen ist der von Augustin hoch verehrte Bischof von Karthago, Aurelius. non enim huius hostis vires sentit, nisi qui ei bellum indixerit, quia, etsi cuiquam facile est laude carere, dum denegatur, difficile est ea non delectari, cum offertur. Nur der nämlich spürt die Gewalt dieses Feindes, der ihm den Krieg erklärt hat; denn, mag es einem auch leicht fallen, auf Lob zu verzichten, solang es einem verwehrt wird, ist es doch schwierig, sich daran nicht zu freuen, wenn es einem gespendet wird. <?page no="24"?> Annäherung und Begegnung 24 et tamen tanta mentis in deum debet esse suspensio, ut, si non merito laudemur, corrigamus eos, quos possumus, ne arbitrentur aut in nobis esse, quod non est, aut nostrum esse, quod dei est (…). si autem merito laudamur propter deum, gratulemur eis, quibus placet verum bonum, non tamen nobis, quia placemus hominibus, sed, si coram deo tales sumus, quales esse nos credunt, et non tribuitur nobis, sed deo, cuius dona sunt omnia, quae vere meritoque laudantur. Und doch muss die Seele Gott so unbedingt anhangen, dass wir, wenn wir unverdient gelobt werden, nach Möglichkeit alle zurechtweisen, damit sie nicht meinen, dass in uns stecke, was nicht drinsteckt, oder, unser sei, was doch Gottes ist (…). Werden wir aber mit Recht wegen Gott gelobt, wollen wir den Leuten Glück wünschen, dass ihnen ein wirkliches Gut gefällt, nicht aber uns, dass wir den Menschen gefallen, vielmehr, wenn wir vor Gott so sind, wie die Leute glauben, dass wir sind, und es nicht uns, sondern Gott zugemessen wird, der doch alle Gaben schenkt, die wahrhaft und verdientermassen gelobt werden. haec mihi ipse canto cotidie vel potius ILLE , cuius salutaria praecepta sunt, quaecumque sive in divinis lectionibus inveniuntur sive, quae intrinsecus animo suggeruntur. et tamen vehementer cum adversario dimicans saepe ab eo vulnera accipio, cum delectationem oblatae laudis mihi auferre non possum. epist. 22,8 (391-393) Das singe ich mir jeden Tag vor, oder vielmehr ER , von dem alle heilsamen Lehren kommen, ob sie sich nun in den heiligen Schriften finden oder drinnen unserem Herzen dargeboten werden. Und doch, so heftig ich mit diesem Gegner kämpfe, ich stecke von ihm immer wieder Wunden ein; denn ich bin nicht imstande, Freude über empfangenes Lob aus meinem Innern zu reissen. Zwanzig Jahre verstreichen. - Sie lassen das freimütige Bekennen der eigenen, brennenden Schwäche in den Hintergrund treten zugunsten der unbedingten Empfehlung der höchsten christlichen Stärke - gerichtet an einen jungen Griechen mit Interessen für die klassische, die «heidnische» Literatur: nec aliam tibi ad capessendam et obtinendam veritatem viam munias quam, quae munita est ab illo, qui gressuum nostrorum tamquam deus vidit infirmitatem. ea est autem prima humilitas, secunda humilitas, tertia humilitas, et, quotiens interrogares, hoc dicerem. Und bahne dir keinen andern Weg, die Wahrheit zu ergreifen und an ihr festzuhalten, als den, der von dem gebahnt worden ist, der - als Gottheit - die mangelhafte Festigkeit unserer Schritte erkannt hat. Dieser Weg heisst zuerst Demut, dann Demut, und endlich Demut, und, fragtest du noch so oft, ich sagte eben das. <?page no="25"?> W 2 Kleines Selbstporträt 25 non quo alia non sint praecepta, quae dicantur; sed, nisi humilitas omnia, quaecumque bene facimus, et praecesserit et comitata et consecuta fuerit, et proposita, quam intueamur, et adposita, cui adhaereamus, et inposita, qua reprimamur, iam nobis de aliquo bono facto gaudentibus totum extorquet de manu superbia. epist. 118,22 (410) Nicht etwa, dass es keine andern Leitgedanken gäbe, die man nennen könnte; doch, wenn nicht Demut jedem Rechttun vorausgegangen, zur Seite gegangen und hinterher gegangen ist, als Ziel, darauf zu schauen, als Stütze, ihr anzuhangen, und als Auflage, masszuhalten, so entwindet, während wir uns noch über eine gute Tat freuen, sie unsern Händen vollständig der Stolz. Zeit seines Lebens hat Augustin Selbstüberhebung für seine grösste Gefährdung gehalten. tota enim causa mortalitatis nostrae, tota causa infirmitatis nostrae, tota causa omnium cruciatuum nostrorum, omnium difficultatum, omnium aerumnarum in isto saeculo, quas patitur genus humanum, non est nisi superbia. serm. Dolbeau 21,11 (403-404) Erste Ursache unserer Sterblichkeit, eigentliche Ursache unserer Schwachheit, tiefste Ursache all unserer Qualen, aller Schwierigkeiten, aller Drangsale, die das Menschengeschlecht in dieser Welt leidet, ist einzig und allein Selbstüberhebung, Hochmut, Stolz. Augustin vertritt diesen Gedanken mit heisser, anfechtbarer Ausschliesslichkeit; er hat aber einen Bürgen für dessen Richtigkeit in der (heute apokryphen) Spruchsammlung des Jesus Sirach (10,15): initium omnis peccati superbia, Wurzel jeglicher Sünde ist der Hochmut, ein Vers, der sich bei Augustin, gleichmässig über das Gesamtwerk gestreut, nicht weniger als 26 mal zitiert findet. Liesse sich beantworten, weshalb wahrhaft demütig zu leben derart schwierig ist? - «Demut selber, ihrer bewusst, ist nicht mehr demütig, sondern wird sogleich zum Stolz der Demut.» (Jaspers 357) Armut vos exhortor, fratres mei, si aliquid vultis clericis dare, sciatis, quia non debetis quasi vitia eorum fovere contra me. omnibus offerte, quod vultis offerre de voluntate vestra. quod commune erit, distribuetur unicuique, sicut cuique opus erit. gazophylacium adtendite, et omnes habebimus. valde me delectat, si ipsum fuerit praesepe nostrum, ut nos simus iumenta dei, vos ager dei. Ich ermahne euch, liebe Brüder: Wenn ihr den Geistlichen etwas spenden wollt, wisset, dass ihr nicht, gegen meinen Willen, deren Schwächen nähren dürft. Allen schenket, was ihr aus freiem Willen schenken wollt. Was allen gehört, wird einem jeden gemäss seinen Bedürfnissen zugeteilt werden. Denkt an die Kloster-Kasse, und alle werden wir mit besitzen. Es gefällt mir sehr, wenn sie unsere Krippe sein wird, sodass wir Gottes Jochtiere sind, ihr Gottes Pflanzfeld. <?page no="26"?> Annäherung und Begegnung 26 nemo det birrum, lineam tunicam, nisi in commune. de communi accipiet, qui accipiet. mihi ipsi, cum sciam commune velle habere, quidquid habeo, nolo talia offerat sanctitas vestra, quibus ego solus quasi decentius utar. Niemand stifte einen Kapuzenmantel oder eine linnene Tunika, es sei denn zum Gemeinbesitz. Aus Gemeinbesitz wird empfangen, wer etwas empfängt. Da ich gelernt habe, alles, was ich habe, mit andern gemeinsam haben zu wollen, wünsche ich nicht, dass mir eure Heiligkeit Dinge spende, die allein ich, weil es sich so besonders schicke, gebrauchen soll. offertur mihi, verbi gratia, birrus pretiosus. forte decet episcopum, quamvis non deceat Augustinum, id est, hominem pauperem, de pauperibus natum. (…) non decet. talem debeo habere, qualem possim, si non habuerit, fratri meo dare - qualem potest habere presbyter, qualem potest habere decenter diaconus et subdiaconus, talem volo accipere, quia in commune accipio. Geschenkt wird mir beispielsweise ein teurer Kapuzenmantel. Möglich, dass er sich an einem Bischof gut macht, aber nicht an Augustinus, das heisst: einem armen Mann, von armen Eltern geboren. (…) Das schickt sich nicht. Einen Mantel muss ich haben, den ich einem Mitbruder, wenn der keinen hat, abgeben kann - den ein Presbyter tragen kann, den ein Diakon oder ein Subdiakon mit Anstand tragen kann. So einen möchte ich entgegennehmen, weil ich ihn dann zum Gemeinbesitz entgegennehme. si quis meliorem dederit, vendo, quia et facere soleo, ut, quando non potest vestis esse communis, pretium vestis possit esse commune. vendo et erogo pauperibus. Wenn einer einen besseren stiftet, verkaufe ich ihn; das tue ich wirklich üblicherweise, damit, wenn schon nicht das Kleid gemeinsamer Besitz sein kann, es doch der Erlös aus dem Kleid sein kann. Ich verkaufe es und gebe den Erlös den Armen. si hoc eum delectat, ut ego habeam, talem det, de qua non erubescam. fateor enim vobis, de pretiosa veste erubesco, quia non decet hanc professionem, non decet hanc admonitionem, non decet haec membra, non decet hos canos. serm. 356,13 (426) Wenn es jemanden glücklich macht, dass ich ein Stück persönlich bekomme, spende er ein solches, ob dem ich nicht erröten muss. Ich muss euch nämlich gestehen: ob einem kostbaren Kleid erröte ich, weil es nicht passt zu meinem Armuts-Bekenntnis, nicht passt zu meinen mahnenden Worten, nicht passt zu meiner Gestalt, nicht passt zu meinem weissen Haar. Von dem lebenslang geübten Grundsatz des Gemeinbesitzes hat Augustin einmal eine bewegende Ausnahme gemacht: <?page no="27"?> W 2 Kleines Selbstporträt 27 accepi, quod de iustis et piis laboribus manuum tuarum me accipere voluisti, ne te gravius contristarem quam potius consolandam viderem, praesertim, quia hoc ipsum tuum non parvum deputasti esse solacium, si eam, quam germano tuo sancto dei ministro feceras tunicam, ego induerer, cum iam a terra morientium recedens nullis rebus corruptibilibus indigeret. (…) missam abs te tunicam accepi et, quando haec ad te scripsi, ea me vestire iam coeperam. epist. 263,1 (395-430) Empfangen habe ich, wovon du gewünscht hast, dass ich es entgegennehme, eine Frucht der redlichen und frommen Bemühungen deiner Hände. <Ich hab es getan,> damit ich dich nicht tiefer betrübe, vielmehr mir bewusst mache, dass du Tröstung brauchest, vor allem, weil du dir eben dies als nicht geringen Trost gedacht hattest, wenn ich die Tunika, die du für deinen Bruder und ehrwürdigen Diener Gottes gewoben hattest, anziehen würde, da er auf dem Weg aus dem Land der Sterbenden keiner vergänglichen Dinge mehr bedürfe. (…) Die du mir geschickt hast, die Tunika, habe ich also entgegengenommen, und jetzt, wo ich dir dies schreibe, trage ich sie zum ersten Mal. Wahrhaftigkeit ego proinde fateor me ex eorum numero esse conari, qui proficiendo scribunt et scribendo proficiunt. unde, si aliquid vel incautius vel indoctius a me positum est, quod non solum ab aliis, qui videre id possunt, merito reprehendatur, verum etiam a me ipso, quia et ego saltem postea videre debeo, si proficio, nec mirandum est nec dolendum, sed potius ignoscendum atque gratulandum - non, quia erratum est, sed, quia inprobatum. Deshalb bekenne ich, dass ich zu denen zu gehören suche, deren inneres Fortschreiten sie zum Schreiben führt und deren Schreiben sie zu weiteren Fortschritten führt. Und daher muss es keinen wundern oder schmerzen, wenn etwas von mir eher unvorsichtig oder nicht besonders gelehrt hingesetzt worden ist, was nicht nur von andern, die es erkennen können, mit Recht getadelt wird, sondern erst recht von mir selber, weil auch ich es zumindest nachträglich erkennen muss, wenn ich Fortschritte mache; man soll eher Nachsicht üben, ja dafür dankbar sein - nicht, weil das Richtige verfehlt, sondern, weil das Unrichtige missbilligt worden ist. <?page no="28"?> Annäherung und Begegnung 28 nam nimis perverse se ipsum amat, qui et alios vult errare, ut error suus lateat. quanto enim melius et utilius, ut, ubi ipse erravit, alii non errent, quorum admonitu errore careat; quod si noluerit, saltem comites erroris non habeat. Denn der liebt sich übermässig in verkehrter Weise, der wünscht, dass auch die andern irren, damit sein eigener Irrtum verborgen bleibe. Wieviel besser und nützlicher ist es doch, dass da, wo einer geirrt hat, andere nicht ebenfalls irren, dank deren Fingerzeig er einen Fehler vermeiden kann, und, wenn er dies nicht schätzt, möge er doch wenigstens im Irrtum nicht noch Gefährten haben. si enim mihi deus (quod volo) praestiterit, ut omnium librorum meorum quaecumque mihi rectissime displicent, opere aliquo ad hoc ipsum instituto colligam atque demonstrem, tunc videbunt homines, quam non sim acceptor personae meae. epist. 143,2 (411-412) Jedenfalls, wenn Gott (wie ich es mir wünsche) mir gewähren sollte, dass ich all das in all meinen Büchern, was mir mit vollem Recht missfällt, in einem eigens zu diesem Zweck angelegten Werk sammeln und kenntlich machen kann, dann werden die Leute erkennen, wie wenig ich auf meine Person Rücksicht nehme. Augustins Wunsch nach Selbstkorrektur ging zum guten Teil in Erfüllung: 15 Jahre später schreibt er seine «Wieder-Bearbeitungen», re-tractationes. si quis ergo legit librum meum, iudicet me: si rationabile dixi, sequatur non me, sed rationem ipsam; si hoc probavi testimonio evidentissimo atque divino, sequatur non me, sed scripturam divinam. si autem aliquid, quod ego recte dixi, reprehendere voluerit, non recte facit; sed plus irascor tali laudatori meo, qui librum meum tamquam canonicum accipit, quam ei, qui in libro meo etiam non reprehendenda reprehendit. serm. Dolbeau 10,15 (397-418) Wenn also einer eines meiner Bücher liest, bilde er sich von mir ein Urteil: Habe ich vernünftig argumentiert, folge er jedoch nicht mir, sondern der Vernunft; habe ich den Beweis mit einem schlagenden, göttlichen Zeugnis geführt, folge er nicht mir, sondern der göttlichen Schrift. Will er dagegen etwas, das ich zutreffend gesagt habe, tadeln, tut er nicht gut daran; doch zürne ich einem, der in seinem Lob so weit geht, dass er ein Buch von mir wie ein kanonisches auffasst, mehr als dem, der an meinem Buch noch zu tadeln findet, was keinen Tadel verdient. <?page no="29"?> W 2 Kleines Selbstporträt 29 Selbstzweifel Anstelle vieler Belege - weitere unter W 9 Seelenführung: Gefährdung - nur dieses eine, erstaunliche Eingeständnis aus den letzten Lebensjahren: illud etiam, quod scriptum est, ex multiloquio non effugies peccatum, terret me plurimum. (…) istam sententiam scripturae sanctae propterea timeo, quia de tam multis disputationibus meis sine dubio multa colligi possunt, quae, si non falsa, at certe videantur sive etiam convincantur non necessaria. Sprüche 10,19 retract. 1 prol. 2 (426-427) Auch wegen des bekannten Bibelworts, wo viel geredet wird, bleibt Verfehlung nicht aus, ist mir angst und bang. (…) Diesen Spruch der Heiligen Schrift fürchte ich deshalb, weil aus meinen gar vielen Abhandlungen ohne Zweifel vieles beigebracht werden kann, was, wenn nicht falsch, so doch dem Anschein nach oder sogar mit unwiderlegbarer Gewissheit unnötig ist. «non necessaria, unnötig»: dieses Wort verrät eine imponierende Distanz zu der eigenen - unbestreitbar gewaltigen - Leistung. Als würde Augustin dies heute sprechen! > Trapè <?page no="31"?> 31 Der Blick auf Schwächere W 3 Juden vacatio nostra a malis operibus, vacatio illorum a bonis operibus est. Wenn wir Sonntag feiern, meiden wir alle schlechten Werke; wenn jene Sabbat halten, meiden sie alle guten Werke. in psalm. 91,2 (412) Die folgenden, aggressiven und anmassenden Worte gegen die Juden entstammen dem Johannes-Evangelium (8,44f), und der sie spricht, ist Christus selber! Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt tun, was er begehrt. Der war ein Mörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit; denn Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er lügt, redet er aus dem Eigenen; denn ein Lügner ist er und der Vater der Lüge. Weil ich aber die Wahrheit sage … Und aus der Apostelgeschichte wird der Leser entlassen (28,26f) mit dem Wort: Das Herz dieses Volkes ist verstockt, und ihre Ohren sind schwerhörig geworden, und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen. Die Folgerung scheint unausweichlich: Juden sind Mörder, Lügner und dreimal blind. Im Jahr 388 brennt in einer Stadt in Syrien ein vom Bischof aufgehetzter Christen-Mob die Synagoge nieder. Der Kaiser befiehlt die Bestrafung der Brandstifter und auferlegt dem Bischof die Finanzierung des Neubaus der Synagoge. Dies sucht Ambrosius von Mailand - erfolgreich! - zu verhindern, indem er dem katholischen Kaiser unter vielem anderen vor Augen führt, wie sich Juden verhalten würden, falls denn tatsächlich Christen bestraft werden sollten. Die völlig unglaubwürdige Groteske lautet: <?page no="32"?> Der Blick auf Schwächere 32 quos non recognoscant, ut catenatorum ordines innumeros spectent de christiano populo, ut captiva videant colla plebis fidelis, ut condantur in tenebras dei servuli, ut feriantur securibus, dentur ignibus, tradantur metallis, ne poena cito transeat? Ambr. epist. 40,19 (388) Wen <unter der christlichen Bevölkerung> sollen sie nicht <als Brandstifter> «wieder erkennen»? Denn so können sie zahllose Reihen aus dem Christenvolk in Ketten betrachten, das gläubige Volk in Halseisen erleben und die Gottesdiener in Kerkerfinsternis weggesperrt, mit Beilen geköpft, lebendig verbrannt, in Bergwerke überstellt, damit die Strafe nicht allzu rasch vorübergehe. Die Juden zielen auf den Tod möglichst vieler, wenn auch unschuldiger Christen. Juden sind Verleumder, Sadisten, Mörder, die sich, um zu morden, der staatlichen Gewalt bedienen. - Dieses Zerrbild mit seinen offensichtlich biblischen Wurzeln entwirft Ambrosius, der für Augustin in vielen Belangen zum Vorbild geworden und Vorbild geblieben ist. * Tun wir den Schritt nach Nordafrika, so begegnet uns in Augustins Judenpredigt der gleiche Gifthauch gereizter Unversöhnlichkeit: ite nunc, o Israelitae secundum carnem, non secundum spiritum! ite nunc et adhuc contradicite apertissimae veritati, et, cum auditis, venite, ascendamus in montem domini et in domum dei Iacob, dicite «nos sumus! », ut caeci offendatis in montem, ubi collisa facie peius perdatis frontem. Nur los, ihr Israeliten im Fleisch, nicht aber im Geist! Kommt nur und widersprecht auch jetzt noch der vollkommen offenkundigen Wahrheit, und, wenn ihr hört, kommt, lasset uns hinauf ziehen zum Berge des Herrn, zu dem Hause des Gottes Jakobs, dann sagt, «hier sind wir gemeint! », und stosst euch so in Blindheit an dem Berge des Herrn, wo ihr, das Antlitz zerquetscht, in noch schlimmerer Weise eure Schamlosigkeit loswerdet. <?page no="33"?> W 3 Juden 33 si vere vultis dicere, «nos sumus! », ibi hoc dicite, ubi auditis, ab iniquitatibus populi mei ductus est ad mortem. de Christo enim dictum est, quem vos in parentibus vestris duxistis ad mortem. (…) si vere vultis dicere «nos sumus! », tunc dicite, quando auditis, incrassa cor populi huius et aures eorum oppila et oculos eorum grava. tunc dicite «nos sumus», quando auditis, tota die expandi manus meas ad populum non credentem et contradicentem. tunc dicite «nos sumus! », quando auditis excaecentur oculi eorum, ne videant, et dorsa eorum semper incurva. Jesaias 2,3. 53,8. 6,10. 65,2 Psalm 69,24 adv. Iud. 7,10 (429) Wenn ihr wirklich sagen wollt «damit sind wir gemeint! », so sagt es da, wo ihr hört, ob der Sünde meines Volkes ward er zum Tode geschleppt. Von Christus nämlich ist das gesagt, den ihr in euren Vätern umgebracht habt. (…) Wenn ihr wirklich sagen wollt, «hier sind wir gemeint! », so sagt es dann, wenn ihr hört, verstocke das Herz dieses Volkes, mache taub seine Ohren und schwer seine Augen. Dann sagt «hier sind wir gemeint! », wenn ihr hört, ich streckte meine Hände allezeit aus nach einem ungläubigen, widerspenstigen Volke. Dann sagt, «hier sind wir gemeint! », wenn ihr hört, ihre Augen mögen dunkel werden, dass sie nicht sehen, und ihre Rücken beuge immerfort nieder. Spricht so die Abgeklärtheit des Alters? Augustin zählt 75 Jahre! Nicht nur das Neue Testament, offensichtlich auch das Alte bietet im Überfluss Aussagen, die sich bequem als Geschosse gegen die Juden verwenden lassen. Aus der Technik der Anhäufung verspricht sich der Polemiker Augustin erhöhte Wirkung, beweist damit aber nur die Kärglichkeit seiner Argumentation. Die Anwürfe halten sich an die Tradition: Blindheit, Christus-Mörder, prekäres Verhältnis zur Wahrheit. - Lässt sich die Heftigkeit des Christen erklären? Ist er bedroht? Besiegte - und doch unbesiegt si hanc Ierusalem intellexerimus: omnes, qui illic inhabitabant, bellis et eversione ipsius civitatis exclusi sunt. modo quaeris Iudaeum in civitate Ierusalem, et non invenis. in psalm. 124,3 (396-415) Wenn wir uns das irdische Jerusalem vorstellen: Alle ehemaligen Einwohner sind aufgrund von Kriegen und der Zerstörung der Stadt ausgetrieben worden. Heutzutage suchst du in der Stadt Jerusalem den Juden, und du findest nicht einen. <?page no="34"?> Der Blick auf Schwächere 34 nec destiterunt esse, quod erant; id est: gens ista non ita cessit in iura Romanorum, ut amiserit formam Iudaeorum; sed ita subdita Romanis est, ut etiam leges suas teneat, quae leges sunt dei. in psalm. 58, serm. 2,2 (413-415) Und doch haben sie nicht aufgehört zu sein, was sie waren; das heisst: Dieses Volk hat den römischen Satzungen nicht bis zu dem Grad stattgegeben, dass es das eigentümliche Gepräge von Juden verloren hätte; vielmehr ist es den Römern nur soweit unterworfen, dass es auch seine eigenen Gesetze aufrecht erhalten kann, welche die Gesetze Gottes sind. victa est <gens Iudaeorum> a Romanis; certe deleta civitas eorum; non admittuntur ad civitatem suam Iudaei - et tamen Iudaei sunt. (…) quis iam cognoscit gentes in imperio Romano? (…) omnes Romani facti sunt, et omnes Romani dicuntur. Iudaei tamen manent cum signo, nec sic victi sunt, ut a victoribus absorberentur. in psalm. 58, serm. 1,21 (413-415) Das Volk der Juden wurde von den Römern besiegt; ihre Stadt wurde vollkommen zerstört; Juden haben keinen Zutritt zu ihrer Stadt - und dennoch haben sie als Juden überlebt. (…) Wer kennt noch die einzelnen Völker im Imperium Romanum? (…) Alle sind zu Römern geworden, und alle nennen sie sich Römer. Die Juden aber bleiben dennoch Juden mit ihrem <Kains->Zeichen, und, dass sie besiegt wurden, hat nicht dazu geführt, dass sie von ihren Besiegern assimiliert worden wären. … und nichts gefährdet Sieger wie Besiegte mehr als ein unvollständiger Sieg. ‹Israel›? - das Gegenteil! quomodo illi non sunt veri Iudaei, sic nec verus Israel. in psalm. 75,2 (404-412) So wie <die Juden> nicht die wahren Juden sind <weil sie Christus nicht erkannt haben>, so bilden sie auch nicht das wahre Israel. quid est enim ‹Israel›? interpretatio nominis eius dicta est iam et saepe dicatur. forte enim, etsi recens dicta est, excidit. (…) Israel ‹videns deum› interpretatur; immo diligentius discusso verbo sic interpretatur Israel: ‹est; videns deum›; utrumque: ‹est› - ‹videns deum›. quia homo in se non ‹est›; mutatur enim et vertitur, si non participet eius, qui est idipsum. in psalm. 121,8 (406-415) Denn was heisst ‹Israel›? Die Übersetzung dieses Namens habe ich auch schon erwähnt, doch soll sie immer wieder genannt werden. Vielleicht ist sie <euch> nämlich, auch wenn erst kürzlich erwähnt, entfallen. (…) Israel heisst ‹wer Gott sieht›. Wenn ich das Wort noch genauer auseinandernehme, heisst Israel: ‹wer ist; wer Gott sieht›, also beides: ‹wer ist› wie auch ‹wer Gott sieht›. Denn der Mensch ‹ist› in sich genommen nicht; verändert er sich doch und geht zugrunde, wenn er nicht an dem teilnimmt, der dieses Sein selber ist. <?page no="35"?> W 3 Juden 35 Die - nicht zutreffende - Etymologie kommt Augustin natürlich gelegen: Wirkliches ‹Gott-Sehen› können die zu Blinden gestempelten Juden nun gerade nicht für sich beanspruchen: illi ambulantem dominum Iesum in terra facientemque miracula, caecos illuminantem, surdis aures aperientem, mutorum ora solventem, paralyticorum membra stringentem, super mare ambulantem, ventis imperantem et fluctibus, mortuos suscitantem, tanta signa facientem viderunt - et vix inde pauci crediderunt. in evang. Ioh. 16,3 (414-417) Sie haben den Herrn Jesus gesehen, wie er auf Erden wandelte und Wunder tat, Blinde sehend machte, Tauben die Ohren öffnete, Stummen die Zunge löste, Gelähmten die Glieder kräftigte, auf dem Meer wandelte, den Winden gebot und den Wellen, Tote auferweckte, so viele Zeichen vollbrachte, vor ihren Augen - und kaum einer hat darum an ihn geglaubt! homo manifestus, deus occultus. videbant indumentum et contemnebant indutum; contemnebant, quia nesciebant; nesciebant, quia non videbant; non videbant, quia caeci erant; caeci erant, quia non credebant. kleidende Hülle: Leib in evang. Ioh. 37,1 (414-417) Als Mensch mit Händen zu greifen, als Gott verdeckt und verborgen. Sie sahen die kleidende Hülle und achteten wenig des darein Gehüllten. Gering achteten sie, weil sie nicht verstanden; nicht verstanden sie, weil sie nicht sahen; nicht sahen sie, weil sie blind waren; blind waren sie, weil sie nicht glaubten. Sind Juden Menschen? (…) eradicati dispersique per terras; quandoquidem ubique non desunt (…). civ. 18,46 (424-425) (…) mitsamt der Wurzel ausgerissen und dann zerstreut; es gibt ja keine Stelle mehr, wo es sie nicht gibt (…). «ubique non desunt», wörtlich: «überall fehlen sie nicht», das heisst: nirgends gibt es sie nicht, oder: überall kommen sie vor -: ist von Ameisen die Rede oder von Viren? <?page no="36"?> Der Blick auf Schwächere 36 Tatsächlich werden die Juden auf beschämende Weise aus der Gesellschaft der Menschen ausgegliedert, und dies mithilfe der «Sprachwissenschaft»: epistolam sic exorsus est: Paulus, servus Iesu Christi, vocatus apostolus, segregatus in evangelium dei. breviter in duobus verbis ecclesiae dignitatem a synagogae vetustate discernit: ecclesia quippe ex vocatione appellata est, synagoga vero ex congregatione. convocari enim magis hominibus congruit, congregari autem magis pecoribus. Rm 1,1 in Rom. imperf. 2 (394-395) ähnlich: in psalm. 77,3 (415) Paulus hat den Brief folgendermassen begonnen: Paulus, Knecht Iesu Christi, berufen zum Apostel, <von der Herde> abgesondert zur Verkündigung des Evangeliums Gottes. - Er scheidet ganz knapp, in zwei Wörtern, die Würde der Ecclesia, der christlichen Kirche, von der Synagoge des Alten Testaments: ecclesia ist bekanntlich nach dem griechischen Wort für ‹herausrufen, aufrufen› gebildet, synagoga dagegen nach dem griechischen Wort für ‹zusammentreiben, zusammenscharen›. Zusammengerufen zu werden passt in der Tat besser für Menschen, zusammengetrieben zu werden dagegen besser für Vieh. So hat denn das ungläubige wie auch das gläubige Volk die passende Behausung gefunden: das gläubige eine Basilika für Menschen, das ungläubige - seine Schafhürde. Der Zynismus triumphiert. Christus-Mörder Augustin wägt die Schuld der Juden gegen jene des Pilatus: itane obduruistis, falsi Israelitae? itane omnem sensum nimia malitia perdidistis, ut ideo vos a sanguine innocentis impollutos esse credatis, quia eum fundendum alteri tradidistis? (…) si non eum voluistis occidi, si non insidiati estis, si non vobis tradendum pecunia comparastis, si non comprehendistis, vinxistis, adduxistis, si non occidendum manibus obtulistis, vocibus poposcistis -, non eum a vobis interfectum esse iactate! in evang. Ioh. 114,4 (418) Seid ihr derart verhärtet, ihr falschen Israeliten? Habt ihr vor lauter Bosheit allen Verstand verloren, dass ihr glaubt, ihr hättet euch deshalb nicht mit dem Blut eines Unschuldigen besudelt, weil ihr, es zu vergiessen, einem andern überlassen habt? (…) Wenn ihr nicht den Wunsch hattet, dass er getötet werde, wenn ihr nicht heimlich Vorkehrungen getroffen habt, wenn ihr nicht mit Geld zuwege gebracht habt, dass er euch überliefert werde, wenn ihr ihn nicht gefangen genommen, gefesselt, hergeführt, ihn nicht mit eigenen Händen zum Tode überantwortet habt, seinen Tod nicht mit eurem Schreien gefordert habt -, dann verbreitet überall, er sei nicht von euch getötet worden! <?page no="37"?> W 3 Juden 37 si voluntates, si insidias, si operam, si traditionem, postremo si extorquentes clamores eorum cogitemus, magis utique Iudaei crucifixerunt Iesum. in evang. Ioh. 118,1 (418) Wenn wir uns ihre Absichten, ihre heimlichen Vorbereitungen, ihre Bemühung, die Auslieferung, endlich ihr erpresserisches Geschrei bewusst machen, haben in weit höherem Grade die Juden Jesus ans Kreuz geschlagen. vos, o Iudaei, occidistis. unde occidistis? gladio linguae! in psalm. 63,4 (395-409) Ihr, ihr Juden, habt ihn getötet. Wie habt ihr ihn getötet? Durch das Schwert eurer Zunge! Auf dem Weg zum Pogrom Mit ganz besonderer Verve «interpretiert» Augustin in Psalm 109 die Verse 6 bis 15, eine Kette von 19 Verfluchungen. Er deutet die Verse (die einen Einzelnen verwünschen) zuerst auf Judas hin; dann prüft und findet er - «soweit der Herr hilft, quantum dominus adiuvat» -, dass diese Flüche sich genauso auf alle Juden, auf die Juden als Volk anwenden lassen. Er versieht jede Verfluchung mit einem kurzen Kommentar: diabolus stet a dextris eius. - quemadmodum in Iuda, sic in isto populo intellegendum est; qui repulso a se Christo factus est subditus diabolo. (…) Der Teufel stehe zu seiner Rechten. - So wie auf Judas, so ist das auf dieses Volk hin zu verstehen; denn es hat Christus von sich gestossen und ist dem Teufel untertan. (…) cum iudicatur, exeat condemnatus. - quia in nequitia et in infidelitate persistens thesaurizat sibi iram in die irae et revelationis iusti iudicii dei. (…) Kommt er vor Gericht, gehe er als Verurteilter hervor. - Denn, weil es in Nichtswürdigkeit und Unglauben verharrt, versammelt es den Zorn Gottes am Tag des Zorns und der Offenbarung von Gottes gerechtem Gericht. (…) et oratio eius fiat in peccatum, - quia non fit per mediatorem dei et hominum, hominem Iesum Christum. (…) Und sein Gebet gerate zu Sünde, - weil es seinen Weg nicht über den Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Jesus Christus nimmt. (…) fiant filii eius orphani; - de quibus dicitur: filii autem regni ibunt in tenebras exteriores. facti sunt autem orphani amisso ipso regno. (…) Seine Kinder sollen zu Waisen werden; - denn von ihnen heisst es: die Söhne des Reichs dagegen werden in die Finsternis, die draussen ist, hinausgestossen werden. (…) Zu Waisen aber sind sie nach dem Verlust ihres Landes geworden. (…) <?page no="38"?> Der Blick auf Schwächere 38 et uxor eius vidua. - uxor regni plebs intellegi potest, cui reges subditae dominantur. (…) Und sein Weib eine Witwe. - Als Weib des Landes kann man das gewöhnliche Volk verstehen, über welches Könige herrschen. (…) eiciantur de habitationibus suis. - ita factum est. Sie sollen aus ihren Wohnstätten hinausgeworfen werden. - So ist es geschehen. non sit illi adiutor. - quis adiutor est ei, cui Christus non est? (…) Keiner soll ihm helfen. - Wer hilft denn dem, dem Christus nicht hilft? (…) fiant nati eius in interitum. - utique in interitum sempiternum. Sein Nachwuchs falle der Vernichtung anheim. - Auf jeden Fall der Vernichtung für immer. fiant contra dominum semper. - iniquitas et peccatum eorum, id est, ut a conspectu domini non aboleantur, deo in aeternum vindicante. (…) Psalm 109,6. 7. 9; Matth. 8,12; Psalm 109,9. 10. 12. 13. 15 in psalm. 108,18 (418-420) Sie seien immer gegenüber dem Herrn, - ihre Ungerechtigkeit und ihre Sünde. Gemeint ist: Sie sollen aus dem Gesichtskreis des Herrn nicht fortgeschafft werden; denn Gott wird sie in Ewigkeit strafen. (…) Sein Nachwuchs falle der Vernichtung anheim. Augustin fügt bei: Auf jeden Fall der Vernichtung für immer. - Augustin weiss: Gott wird sie in Ewigkeit strafen. - Sie sollen aus ihren Wohnstätten hinausgeworfen werden: Einzige, harmlose Beifügung: So ist es geschehen. Gefährlich klein jedoch ist der Schritt zu ‹So soll es wieder geschehen›. Entsprechend oft ist er in den letzten anderthalb Jahrtausenden auch getan worden. - Die Psalmen-Auslegung ist - soweit wie eben der Herr geholfen hat! - zum Leitfaden für ein Pogrom verkommen. Die Juden als Diener bei den Christen Wozu hat denn Gott dieses anstössige Volk überhaupt am Leben gelassen, es «nicht ausgelöscht, nicht vollständig von der Erde getilgt, non occidit, hoc est, de terris non penitus perdidit» (serm. 201,3)? videtis certe populum Iudaeorum avulsum a sedibus suis per omnes fere terras disseminatum. in psalm. 77,22 <deus> disseminavit epist. 232,3 (vor 410? ) Ihr seht gewiss, dass das Volk der Juden aus seiner Heimat losgerissen und über nahezu alle Länder ausgesät worden ist. <?page no="39"?> W 3 Juden 39 Was sollte aus dieser «Aussaat» aufgehen? - Wer eine Antwort sucht, dem kommt ein Wort Gottes zuhilfe: Als Rebekka kurz vor ihrer Niederkunft mit Esau und Jakob Gott befragt, erhält sie (Gen 25,23) zur Antwort: Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zwei Stämme werden sich aus deinem Schosse scheiden; ein Stamm wird dem andern überlegen sein, und der ältere wird dem jüngern dienen. - Auf dem letzten Satz Gottes baut Augustin seine Überlegungen auf: maior enim filius ipse est maior populus reprobatus; minor populus dilectus. maior serviet minori modo impletum est. modo, fratres, nobis serviunt Iudaei; tamquam capsarii nostri sunt; studentibus nobis codices portant. (…) quando agimus cum paganis et ostendimus hoc evenire modo in ecclesia Christi, quod ante praedictum est de nomine Christi, de capite et corpore Christi, ne putent nos finxisse illas praedictiones et ex his rebus, quae acciderunt, quasi futurae essent, nos conscripsisse, proferimus codices Iudaeorum. nempe Iudaei inimici nostri sunt; de chartis inimici convincitur adversarius. - omnia ergo dominus distribuit; omnia pro salute nostra ordinavit. in psalm. 40,14 (400-411) Der ältere Sohn, das ist das ältere, von Gott verworfene Volk <der Juden>; der jüngere ist das geliebte Volk <der Christen>. Der Ältere wird dem Jüngern dienen: das hat sich inzwischen erfüllt. Heute, meine Brüder, sind die Juden unsere Diener; sie sind sozusagen unsere Buch-Bewahrer; sie tragen uns, wenn wir uns um die heiligen Texte bemühen, die Schriften hinterher. (…) Wenn wir mit Heiden reden und ihnen klarmachen, dass heute in der Kirche Christi das in Erfüllung geht, was einst bezüglich des Namens Christi und bezüglich des Hauptes und Leibes Christi prophezeit worden ist, und dabei vermeiden wollen, dass sie denken, wir hätten jene Prophezeiungen nur erfunden und aufgrund späterer Geschehnisse nachträglich wie Prophezeiungen verfasst -, dann weisen wir ihnen die Texte der Juden vor. Gewiss: mit den Juden sind wir verfeindet; doch aus den Texten des Feindes lässt sich der Gegner unwiderlegbar <von der Wahrheit unserer Position> überzeugen. - Alles hat der Herr somit richtig zugeteilt; alles hat er zu unserem Heil geregelt. Kurzfassung des Gedankens: de inimicis nostris alios confundimus inimicos. in psalm. 58,1,22 (413-415) Mithilfe unserer Gegner erledigen wir die sonstigen Gegner. <?page no="40"?> Der Blick auf Schwächere 40 Augustin hat sein Bild von den Juden als Sklaven der Christen-Familie geliebt: codicem portat Iudaeus, unde credat christianus. librarii nostri facti sunt, quomodo solent servi post dominos codices ferre, ut illi portando deficiant, illi legendo proficiant. in psalm. 56,9 (395-411) Der Jude trägt das Buch, woraus der Christ seinen Glauben baut. Sie sind zu unsern Schrift-Trägern geworden, ähnlich den Sklaven, die den Herren gewöhnlich ihre Bücher hinterher tragen. So werden die einen vom Tragen schlaff, die andern vom Lesen kräftig! Fromm überlegt: Der Christ profitiert, und der Jude nimmt Schaden. - Das Bild gibt noch andere Implikationen frei: quomodo servi, quando eunt in auditorium domini ipsorum, portant post illos codices et foris sedent, sic (…). serm. 5,5 (408-419) So wie die Sklaven ihren Herren, wenn diese zur Schule gehen, die Bücher hinterher tragen und draussen sitzen bleiben, so (…). «N UR FÜR C HRISTEN » steht an der Tür zum Hörsaal geschrieben. Die Juden sind die Ausgestossenen und bleiben, was man ihnen trefflich zum Vorwurf machen kann, glaubensmässige Analphabeten. - Und doch müsste die Christenheit den Juden dankbar sein: <Iudaeis> propter hoc testimonium toto orbe dispersis Christi usquequaque crevit ecclesia. civ. 18,47 (424-425) Weil die Juden um dieses Zeugnisses willen auf der ganzen Welt zerstreut worden sind, ist die Kirche Christi allüberall gross geworden. Im kalten Licht unbezweifelter Überlegenheit sieht die Rollenverteilung zwischen Juden und Christen so aus: ipsi habent codices, de quibus prophetatus est Christus, et nos tenemus Christum. in psalm. 58, serm. 1,22 (413-415) Sie besitzen Bücher, aus denen Christus geweissagt worden ist, und wir besitzen (! ) Christus. <?page no="41"?> W 3 Juden 41 Meilensteine Augustin kann die Härte gegenüber den Juden mildern, indem er den gleichen Gedanken in das Bild vom Meilenstein fasst, der das Ziel nennt, selber aber keinen Schritt dorthin tut: aliis demonstrato vitae fonte ipsi sunt mortui siccitate. facti sunt eis tamquam lapides ad milliaria: viatoribus ambulantibus aliquid ostenderunt; sed ipsi stolidi atque immobiles remanserunt. magi quaerebant, ut invenirent; Herodes quaerebat, ut perderet. Iudaei civitatem nascentis legebant, tempus venientis non intellegebant. serm. 199,1,2 (? ) Andern haben sie den Quell des Lebens bezeichnet, selber sind sie tot vor lauter Dürre. Sie sind für jene wie Meilensteine: Den Reisenden haben sie am Weg Wesentliches kundgetan; doch selber sind sie töricht und regungslos zurückgeblieben. Die drei Weisen fragten nach ihm, um ihn zu finden; Herodes zog Erkundigungen ein, um ihn zu töten; die Juden konnten den Namen seiner Geburtsstadt nachlesen; doch, dass die Zeit seiner Ankunft da sei, erkannten sie nicht. similes fabris arcae Noe, aliis, ubi evaderent, praestiterunt, et ipsi diluvio perierunt. serm. 373,4 (? ) Sie gleichen jenen Zimmerleuten an der Arche Noah, die andern ermöglichten zu entkommen, selber aber in der Sintflut umkamen. Solche Worte scheinen zwischen Anklage und Klage zu schweben. Sie sind selten. > Blumenkranz; Schreckenberg <?page no="42"?> Der Blick auf Schwächere 42 W 4 Menschenhandel quamquam fieri possit, ut maiore pretio valeat equus quam servus allerdings kann es durchaus vorkommen, dass ein Pferd teurer ist als ein Sklave de serm. dom. 1,19,59 (394) Der Hinweis auf diese Einschätzung von Menschen, die man als Marktware einkauft, kehrt in Augustins Schriften mehrfach wieder. sunt enim apud nos, hoc est, in Africa, barbarae innumerabiles gentes, in quibus nondum esse praedicatum evangelium ex iis, qui ducuntur inde captivi et Romanorum servitiis iam miscentur, cotidie nobis addiscere in promptu est. epist. 199,12,46 (418-420) Bei uns, ich meine, hier in Afrika, gibt es nämlich zahllose fremde Stämme, bei denen das Evangelium noch nicht verkündet worden ist - wie wir tagtäglich mit Leichtigkeit erfahren können von Menschen, die von hier als Gefangene verschifft und sogleich unter die Sklavenscharen der Römer gemischt werden. Theoretisches servum autem hominem homini vel iniquitas vel adversitas fecit. (…) primos servos, quibus hoc nomen in Latina lingua inditum est, bella fecerunt. qui enim homo ab homine superatus iure belli posset occidi, quia servatus est, servus est appellatus. (…) Dass ein Mensch einem andern Menschen dienen muss, hat sündhaftes Verhalten oder Unglück zuwege gebracht. (…) Dass erstmals Menschen in lateinischer Sprache die Bezeichnung servi (Sklaven) erhielten, haben Kriege bewirkt. Denn ein Krieger, der von einem andern überwältigt worden war und daher nach Kriegsrecht hätte getötet werden können, wurde, weil er <vor dem Tod> bewahrt (servatus) worden war, servus (Sklave) genannt. (…) <?page no="43"?> W 4 Menschenhandel 43 est etiam ordo naturalis in hominibus, ut serviant feminae viris et filii parentibus, quia et illic haec iustitia est, ut infirmior ratio serviat fortiori. haec igitur in dominationibus et servitutibus clara iustitia est, ut, qui excellunt ratione, excellant dominatione. quod cum in hoc saeculo per iniquitatem hominum perturbatur vel per naturarum carnalium diversitatem, ferunt iusti temporalem perversitatem in fine habituri ordinatissimam et sempiternam felicitatem. quaest. hept. 1,153 (419) Es herrscht unter den Menschen auch als natürliche Einrichtung, dass Frauen ihren Männern und Kinder ihren Eltern dienen (serviant), weil auch da Gerechtigkeit darin besteht, dass die schwächere Einsicht der stärkeren diene. Wenn es um Befehlen und Gehorchen geht, ist es offensichtlich gerecht, dass, wer vor andern Einsicht hat, vor andern herrschen soll. Wenn aber hier auf Erden diese Gesetzmässigkeit umgestossen wird, weil Menschen ungerecht oder als körperliche Wesen ganz verschieden sind, so nehmen die Gerechten diese zeitlich beschränkte Verkehrung hin, im Gedanken an die am Ende wunderbar geordnete und ewigdauernde Glückseligkeit. Die etymologische Rückführung von servus ‹Sklave› auf servare ‹vor dem Tod bewahren› statt auf servire, ‹Knecht sein, dienen› vermag jedes Gewissen zu beruhigen - erst recht in Verbindung mit dem Hinweis auf die «natürliche» Hierarchie in der Familie. Und falls sich der «Gerechte» unter den Unterdrückten, das heisst, ein christlicher Sklave von Ungerechtigkeit umgeben vorfinden sollte, tröstet ihn unfehlbar sein Glaube: Er versteht seine Leiden als Prüfung Gottes und hofft auf den ewigen Lohn. condicio quippe servitutis iure intellegitur inposita peccatori. proinde nusquam scripturarum legimus servum, antequam hoc vocabulo Noe iustus peccatum filii vindicaret. nomen itaque istud culpa meruit, non natura. (…) prima ergo servitutis causa peccatum est, ut homo homini condicionis vinculo subderetur. quod non fit nisi deo iudicante, apud quem non est iniquitas. Noah: Gen 9,24f civ. 19,15 (vor 427) Es ist einleuchtend, dass der Status eines Sklaven (Knechts, Dieners) mit Recht dem Menschen als einem Sünder auferlegt worden ist. Deshalb lesen wir nirgends in den Schriften von einem Sklaven (Knecht, Diener), bevor Noah, der Gerechte, mit diesem Wort das Vergehen seines Sohnes strafte. Verschuldung <des Menschen> also, nicht sein ursprüngliches Wesen, hat sich diese Bezeichnung zugezogen. (…) Erstursache der Sklaverei ist also die Sünde, in deren Folge ein Mensch einem andern Menschen aus einem Zwang seiner Lebenslage unterworfen wurde. Und zwar geschieht das nur nach der Entscheidung Gottes, bei dem keine Ungerechtigkeit ist. Sklaverei gehört zum verderbten Wesen des Menschen. Man mag sie bedauern, muss sie aber als eine von Gott gewollte, folglich gerechte Bestrafung des Menschen für seinen Sündenfall verstehen und anerkennen. - So untermauert Augustin die Aufforderungen an die Sklaven, gehorsam stillzuhalten, die sich in <?page no="44"?> Der Blick auf Schwächere 44 den Paulinischen Briefen finden: 1 Kor 7,20ff oder Eph 6,5ff: Ihr Sklaven, seid euren leiblichen Herren gehorsam mit Furcht und Zittern, in Aufrichtigkeit eures Herzens … - Gemeinsam ist praktisch allen Kirchenvätern, des Westens wie des Ostens, dass sie die Sklaverei als Institution nicht in Frage stellen. Gerechtfertigt finden sie sich in Christus selber; auch er habe bei seinem Wirken keine soziale Revolution angestrebt: non fecit de servis liberos, sed de malis servis bonos servos. in psalm. 124,7 (392-420) Er hat nicht aus Sklaven Freie gemacht, sondern aus schlechten Sklaven gute Sklaven. Wirklichkeit homines, qui suscipiunt fugitivos, quaerunt ab eis, a quo fugerint, et, quem servum invenerint alicuius domini minus potentis, tamquam sine ullo timore suscipiunt, dicentes in corde suo: non habet iste talem dominum, a quo possit investigari. cum autem audierint dominum potentem, aut non suscipiunt aut cum magno timore suscipiunt, quia et homo potens falli potest. in psalm. 138,10 (411-415) Leute, die flüchtige Sklaven aufnehmen, fragen sie, wem sie entlaufen seien, und wenn sich herausstellt, dass einer einem wenig einflussreichen Herrn entlaufen ist, gewähren sie die Bitte um Aufnahme ohne jede Angst, da sie sich sagen: Der hat nicht einen Herrn, der ihn aufspüren kann. Wenn sie aber von einem Herrn hören, den sie für mächtig halten, nehmen sie den Bittsteller entweder gar nicht auf, oder dann unter grosser Angst - in der Überlegung, schliesslich könne selbst ein Mächtiger hintergangen werden. Das folgende schreibt Augustin seinem wohl engsten Freund und Mitbischof Alypius, der sich gegenwärtig in diplomatischer Mission in Italien aufhält, um am kaiserlichen Hof Probleme Nordafrikas anzusprechen. Mitleid und Empörung führen Augustin die Hand: tanta est eorum, qui vulgo mangones vocantur, in Africa multitudo, ut eam ex magna parte humano genere exhauriant transferendo, quos mercantur in provincias transmarinas, et paene omnes liberos! nam vix pauci reperiuntur a parentibus venditi, quos tamen non, ut leges Romanae sinunt, ad operas viginti quinque annorum emunt isti, sed prorsus sic emunt ut servos et vendunt trans mare ut servos. (…) Leute, die man allgemein Mangonen nennt, sind in Afrika derart häufig, dass sie dieses Land zu grossen Teilen entvölkern, indem sie seine Menschen exportieren. Diese verkaufen sie in die Provinzen jenseits des Meeres - dabei sind fast alle eigentlich Freie! Denn man findet nur ganz wenige, die von ihren Eltern tatsächlich verkauft worden sind. Doch auch die kaufen diese Händler nicht, wie es die römischen Gesetze erlauben, für eine Dienstzeit von 25 Jahren, sondern genau so wie Sklaven, und sie verkaufen sie jenseits des Meeres auch als Sklaven. (…) <?page no="45"?> W 4 Menschenhandel 45 ita, ut gregatim ululantes habitu terribili vel militari vel barbaro agrestia quaedam loca, in quibus pauci sunt homines, perhibeantur invadere et, quos istis mercatoribus vendant, violenter abducere. omitto, quod nuperrime nobis fama nuntiaverat, in quadam villula per huiusmodi aggressiones occisis viris feminas et pueros, ut venderentur, abreptos. (…) Es heisst, dass Banden unter Geheul und in Schrecken erregendem Aufzug oder verkleidet als Soldaten oder Barbaren geeignete Gehöfte überfallen, wo es nur wenige Menschen gibt, und diese unter Gewaltanwendung verschleppen, um sie diesen Händlern zu verkaufen. Ich übergehe, dass wir ganz kürzlich Kunde davon erhalten haben, dass auf einem kleinen Bauernhof bei einem solchen Überfall alle Männer umgebracht und Frauen und Kinder zum Verkauf fortgeschleppt worden sind. (…) verum ego ipse cum inter illos, cum ex illa miserabili captivitate per nostram ecclesiam liberarentur, a quadam puella quaererem, quomodo fuerit mangonibus vendita, raptam se dixit fuisse de domo parentum suorum. deinde quaesivi, utrum ibi sola fuisset inventa. respondit praesentibus suis parentibus et fratribus factum. aderat et frater eius, qui venerat ad eam recipiendam, et, quia illa parva erat, ipse nobis, quomodo factum esset, aperuit. nocte enim dixit huiusmodi irruisse praedones, a quibus magis se, quomodo poterant, occultarent, quam eis resistere auderent barbaros esse credentes. mercatores autem si non essent, illa non fierent. (…) Als ich persönlich, nachdem unsere Kirche sie aus ihrer bejammernswerten Gefangenschaft befreit hatte, unter den Betroffenen ein Mädchen fragte, unter welchen Umständen es den Mangonen verkauft worden sei, sagte es, es sei aus dem Haus seiner Eltern geraubt worden. Ich fragte es dann, ob es allein auf dem Hof gewesen sei. Es antwortete, seine Eltern und Brüder seien auch da gewesen. <Bei unserem Gespräch> war auch sein Bruder zugegen, der gekommen war, sein Schwesterchen heimzuholen, und weil es noch klein war, erklärte er uns, wie es geschehen war. Bei Nacht seien solche Räuber eingedrungen, vor denen sie sich möglichst zu verstecken trachteten, ihnen nicht zu widerstehen wagten, wahrscheinlich Barbaren. Im übrigen, wenn es keine Sklaven-Aufkäufer gäbe, würden solche Dinge nicht passieren. (…) quarum autem potestatum vel quorum officiorum cura lex ista, vel, si qua alia de hac re lata fuerit, habere possit executionem, ut Africa suis non amplius evacuetur indigenis nec gregatim et catervatim, perpetuo quasi fluvio, tanta hominum multitudo utriusque sexus peius quam captivitate barbarica amittat propriam libertatem, ipsorum est providere. (…) Die Behörden oder Funktionäre, die sich um dieses oder ein anderes diesbezügliches Gesetz kümmern und ihm Nachachtung verschaffen können, sollten Vorsorge treffen, dass Afrika nicht weiter seiner ursprünglichen Bevölkerung beraubt wird und dass nicht derart viele Menschen beiderlei Geschlechts herden- und scharenweise in einem Strom ohne Unterlass durch ein Schicksal, das schlimmer ist als Gefangenschaft bei Barbaren, ihre Freiheit verlieren. (…) <?page no="46"?> Der Blick auf Schwächere 46 «ipsorum est providere, sollten Vorsorge treffen» wird im Original unendlich vorsichtig bis zum Schluss aufgespart! - «si qua alia de hac re <lex>, oder ein anderes diesbezügliches Gesetz»: Die Kirche ist im Dilemma: Weil der Staat gegen Menschenhändler mit praktisch tödlichen Strafen vorgeht (bleibestückte Peitschen), wagt die Kirche die Schuldigen kaum aufzugreifen und dem Staat zu übergeben und zielt daher auf mildere Regelungen. his vero negotiatoribus - non quorumcumque animalium, sed hominum, nec quorumcumque barbarorum, sed provincialium Romanorum - usque quaque dispersis, ut in eorum manus pretia pollicentium vel violenter rapti vel insidiis decepti ubicumque et undecumque ducantur, pro libertate Romana - non dicam communi, sed ipsa propria - quis resistit? Wer denn widersetzt sich diesen Leuten, die ihre Geschäfte nicht etwa mit Tieren, sondern mit Menschen machen, und nicht mit irgendwelchen Barbaren, sondern mit Römern aus den Provinzen des Reichs - diesen Leuten, die allüberall auftauchen, damit grausam Verschleppte oder tückisch Betrogene überall und von überall her in die Hände von Leuten geschleust werden, die einen schönen Gewinn versprechen - wer, sage ich, widersteht ihnen um der römischen Freiheit willen; ich meine nicht die Freiheit als Gemeingut, sondern, die dem Menschen wesenhaft eignet? immo vero satis dici non potest, quam multi in eundem nefarium quaestum mira caecitate cupiditatis et nescio qua huius velut morbi contagione defluxerint. Man kann gar nicht deutlich genug sagen, wieviele sich auf eben dieses ruchlose Gewerbe eingelassen haben, weil ihre Geldgier sie unvorstellbar blind macht und sie davon wie von einer Krankheit irgendwie befallen sind. quis credit inventam esse mulierem, et hoc apud nos apud Hipponem, quae Giddabenses feminas velut lignorum emendorum causa seducere, includere, affligere soleret et vendere? quis credat ecclesiae nostrae colonum satis idoneum uxorem suam eandemque matrem filiorum suorum nulla culpa eius offensum solo excitatum fervore huius pestilentiae vendidisse? (…) Wer würde schon glauben, dass, wie man herausbekommen hat, eine Frau - und dies bei uns hier in Hippo - jeweils Frauen aus Giddaba unter dem Vorwand, sie brauche Brennholz, an sich zog, einsperrte, misshandelte und dann verkaufte! Wer würde glauben, dass ein Bauer, Glied unserer Kirche und recht wohlhabend, seine Ehefrau, und das heisst, die Mutter seiner Kinder, ohne dass ihn irgendwelche Schuld ihrerseits gekränkt hätte, allein weil ihn diese Seuche fiebrig ergriffen hatte, verkauft hat? (…) <?page no="47"?> W 4 Menschenhandel 47 ante quattuor fere menses quam ista scriberem, de diversis terris et maxime de Numidia congregati a Galatis mercatoribus - hi enim vel soli vel maxime his quaestibus inhianter incumbunt -, ut a litore Hipponiensi transportarentur, adducti sunt. non defuit fidelis morem nostrum in elemosynis huiusmodi sciens, qui hoc nuntiaret ecclesiae. continuo partim de navi, in qua fuerant impositi, partim de reducto loco, ubi occultati fuerant imponendi, a nostris me quidem absente centum ferme et viginti homines liberati sunt, in quibus vix quinque aut sex inventi sunt a parentibus venditi (…). epist. Divj. 10,2,1ff (427-428) Vor etwa vier Monaten wurden Menschen aus verschiedenen Regionen, hauptsächlich aber aus Numidien, von Galater Händlern - die betreiben dieses Geschäft nämlich als einzige oder doch vor allen andern, und zwar mit gierigem Eifer - zusammengezogen und sollten von der Küste von Hippo aus deportiert werden. Doch fand sich ein Gläubiger, der wusste, was wir bei solchen Gelegenheiten der Barmherzigkeit zu tun pflegen, und machte der Kirche Meldung. Sogleich wurden teils vom Schiff, in welches sie bereits verfrachtet waren, teils von einem entlegenen Ort, wo sie versteckt lagen, um <nach und nach> verschifft zu werden, von unsern Leuten - ich allerdings war nicht dabei - etwa 120 Menschen befreit, unter welchen kaum fünf oder sechs waren, die von ihren Eltern auch wirklich verkauft worden waren (…). Augustin sieht all diese Greuel, und doch hält er offensichtlich an der Vorstellung fest, Sklaven seien notwendig. (Dass mehrfach die grosse Anzahl der Verschleppten beklagt wird, stimmt nachdenklich.) Man fühlt sich versucht, die obige Bemerkung, «ich allerdings war nicht dabei», im Sinne einer Entschuldigung für ein möglicherweise nicht sanktioniertes Eingreifen der Kirche zu deuten. Eine Welt ohne Sklaven hat im Osten des Römischen Reichs der Kirchenvater Johannes Chrysostomos (344-407), Patriarch von Konstantinopel, zu denken gewagt: Er sieht die Reichen, von Bediensteten umschwärmt, über Plätze und Strassen wallen und hebt streng und geistreich den Finger: Wären Sklaven tatsächlich notwendig, hätte Gott gewiss, als er Adam schuf, gleich noch einen Sklaven dazu geschaffen (1. Kor. 40,5). > Corcoran; Kontoulis; Klein; Rist, Thought 210ff <?page no="48"?> Der Blick auf Schwächere 48 W 5 Fremdling ‹Kind› qui enim non suscipiuntur, exponuntur; qui suscipiuntur, nutriuntur. Kinder, die man nicht anerkennt, setzt man aus; die man anerkennt, zieht man auf. in psalm. 45,11 (404-412) An dieser Stelle kommt das Kind unter dem schmerzhaften, durchaus irdischen Aspekt zur Sprache, dass es an die Starken, die «Grossen» ausgeliefert ist. Weiter unten wird vom Kind insofern die Rede sein, als Augustin es im Glaubens-Zusammenhang von Heil und Schuld gedacht hat. quis autem non exhorreat et mori eligat, si ei proponatur aut mors perpetienda aut rursus infantia? civ. 21,14 (vor 427) Wer würde sich nicht mit Schaudern erinnern und es vorziehen, zu sterben, wenn ihm vorgeschlagen würde, entweder den Tod oder noch einmal eine Kindheit durchstehen zu müssen? ! Kindsein ist ein Müssen, und es ist schlimmer als Sterbenmüssen. Das Wort fällt im Rückblick auf die Schulzeit. Es verrät nicht einfach nur Augustins hohe Verletzlichkeit, sondern vor allem einen Abgrund der Fremdheit zwischen Kindern und Erwachsenen. quid itaque dicendum est de infantis mente ita adhuc parvuli et in tam magna demersi rerum ignorantia, ut illius mentis tenebras mens hominis, quae aliquid novit, exhorreat? an etiam ipsa se nosse credenda est? sed intenta nimis in eas res, quas per corporis sensus tanto maiore quanto noviore coepit delectatione sentire, non ignorare se potest; sed cogitare se non potest. trin. 14,5,7 (399-419) Was soll man also sagen vom Sinn und Verstand des Kindes, wenn es noch so klein und in eine derart tiefe Unkenntnis der Wirklichkeit getaucht ist, dass vor dessen nächtiger Blindheit der Geist eines Menschen mit Einsicht erschauern muss? Oder soll man annehmen, dass auch ein kindlicher Geist sich kennt? Übermässig in Anspruch genommen von all den Dingen, die er durch seine Sinne mit umso grösserem Entzücken kennenzulernen unternimmt, je unvertrauter sie sind, kann er sich selber eigentlich nicht unbekannt sein; sich selber aber zum Gegenstand seines Denkens machen kann er nicht. <?page no="49"?> W 5 Fremdling ‹Kind› 49 Welch befremdlicher Blick auf das Kind! Exakt gesehen und beschrieben wird, wie es dem entdeckenden Spiel hingegeben ist. Diese Hingabe wird nun aber zum Mangel erklärt: Solches Tun lockt den jungen Menschen auf einen Holzweg, der alle Selbsterkenntnis verunmöglicht! Deshalb «erschauert» der Betrachter angesichts des ins Spiel versunkenen Kindes, weil es - so Augustin - statt in sich, in anderes versunken ist. Das Kind macht es also «falsch». So muss es stets zurechtgewiesen werden. Nur wenig ist nicht strafwürdig. Vielleicht das Schneiden von harmlosen Pfeilen aus Schilfrohr (in psalm. 56,13)? Strafwürdig ist natürlich auch das - heute hochangesehene - Spiel mit irgendwelcher Knetmasse, zu jener Zeit also mit Sand und Erde, mit «Dreck»: sicut enim pueris insensatis ad lutum ludentibus et manus inquinantibus paedagogus, cum venit, severus lutum de manu excutit, codicem porrigit, ita (…). tamen pueri evadunt ab oculis paedagogi et redeunt ad lutum furtim et, quando inveniuntur, abscondunt manus, ne videantur. serm. 62,12,18 (399) Wenn die Buben, töricht, wie sie eben sind, mit Dreck spielen und dabei die Hände verunreinigen, schlägt ihnen der Pädagoge, wenn er dazukommt, streng den Schmutz aus den Händen und hält ihnen das Schulbuch hin; grade so (…). Doch die Buben entziehen sich den Augen des Pädagogen, kehren heimlich zu ihrem Dreck zurück und, wenn man sie entdeckt, verstecken sie die Hände hinterm Rücken, damit man sie nicht sehe. Dasselbe Bild kehrt (serm. Dolbeau 6,14 [403-404]) wie ein Kehrreim wieder bei einem Vergleich von Leuten, die vorchristlichen Vergnügungen nachtrauern, mit Buben, die beim ungehörigen Spiel (male [! ] ludentibus) vom Lehrer überrascht werden, der ihnen trotz ihres Geplärrs ihre Kugeln aus Dreck (pilas luteas) aus den Händen schlägt. delectabat ludere et vindicabatur in nos. conf. 1,9,15 (397-401) Wir vergnügten uns am Spiel, und man bestrafte uns dafür. Ein knappes et kann gerade noch verhindern, dass Spielen und Bestraftwerden in eins fallen! - Wenn mit Recht so vieles strafwürdig ist, hat, wer bestraft wird, dafür noch dankbar zu sein: fratres mei, si recusaret quisquam puer colaphis aut flagellis caedi a patre suo, quomodo diceretur superbus, desperatus, ingratus paternae disciplinae! in evang. Ioh. 7,7 (414-417) Meine Mitbrüder, wenn ein Knabe dagegen protestierte, von seinem Vater mit Fausthieben oder Peitschen geschlagen zu werden -: wie hiesse man ihn anmaßend, nichtswürdig und undankbar gegen die väterliche Zurechtweisung! <?page no="50"?> Der Blick auf Schwächere 50 Bei der Praxis des Strafens weiss Augustin Gott auf seiner Seite (aus dem Schlusswort der Predigt): amat deus disciplinam. perversa autem et falsa innocentia est habenas laxare peccatis. valde inutiliter, valde perniciose sentit filius patris lenitatem, ut postea dei sentiat severitatem - et hoc non solus, sed cum dissoluto patre suo. vgl. Hebr 12,6f in psalm. 50,24 (411-413) Gott liebt die Zucht. Es wäre eine verkehrte und fehlgehende Toleranz, den Sünden die Zügel schiessen zu lassen. Sehr zu seinem Nachteil, sehr zu seinem Verderben erfährt der Sohn des Vaters Milde, sodass er nachträglich Gottes Strenge erfahren muss - und zwar nicht allein, sondern zusammen mit seinem pflichtvergessenen Vater. Unverdächtig ist das Kind, wenn es sich so verhält wie die Erwachsenen: pueri, fratres, unde sibi emant nescio quid, simul inveniunt nummos, et ponunt in thesaurario et non aperiunt nisi postea -: numquid, quia non vident, quod colligunt, ideo perdiderunt? in psalm. 48, serm. 1,12 (410-412) Liebe Mitbrüder, wenn Kinder Münzen finden, sich etwas daraus zu kaufen, legen sie sie in eine Sparbüchse und öffnen sie erst später. Kann man denn da sagen, sie hätten diese Münzen verloren, weil sie, was sie sammeln, einstweilen nicht sehen? Wie sehen die Kinder im Himmel aus? parvuli, qui moriuntur, parvuli resurrecturi sunt? (…) credibilius tamen accipitur et probabilius et rationabilius plenas aetates resurrecturas, ut reddatur munere, quod accessurum erat tempore. serm. 242,3,4f (400-412) Werden Kinder, die ganz jung sterben, als kleine Kinder auferstehen? (…) Eher glaubhaft jedoch und eher wahrscheinlich und auch der Vernunft eher gemäss ist es, anzunehmen, dass sie als vollkräftige Erwachsene auferstehen werden, sodass ihnen geschenkweise verliehen wird, was durch die Zeit dazugekommen wäre. Eine trotz ihrer Abgründigkeit erwartbare Spekulation! Kinder sind nicht himmelstauglich; sie müssen vor ihrem Einzug ins ewige Leben «vervollständigt» werden. Das rührende Noch-ganz-Sein, das kleine Kinder ausstrahlen (und sie eigentlich ganz besonders zum Himmel befähigen sollte), wird nicht gesehen. Es trifft sogar das Gegenteil zu: <?page no="51"?> W 5 Fremdling ‹Kind› 51 annon videmus, etiam cum articulatae vocis qualiacumque signa edere coeperint atque ad initium fandi transire ab infantia, adhuc eos talia sentire ac dicere, in quibus si remansissent annisque accedentibus tales esse persisterent, nullus eos, vel fatuus nimium, fatuos esse dubitaret? epist. 187,7,25 (417) Wir sehen doch, dass kleine Kinder auch dann, wenn sie irgendwelche Zeichen von verständlicher Äusserung von sich zu geben beginnen und von Sprachunfähigkeit zum Anfang des Sprechens übergehen, noch immer Dinge in sich tragen und sagen, dass, wenn sie auf diesem Stand verblieben und trotz zunehmenden Jahren dabei verharrten, niemand - und wärs ein ausgemachter Tölpel - Zweifel hegte, das seien Tölpel. Augustin behauptet hier nicht, kleine Kinder seien Tölpel, und seine Aussage, die Verbindung von frühkindlichem Lallen und Erwachsenenalter würde auf Schwachsinn schliessen lassen, ist natürlich richtig. Was erschreckt, ist die Tatsache, dass sich bei Augustin angesichts kleiner Kinder überhaupt die Assoziation ‹Schwachsinn› einstellt. Sie zeigt, dass er an die kleinkindliche Ausdrucksfähigkeit nicht den Massstab ‹Bereits-so-viel! › anlegt, sondern den entgegengesetzten, ‹Noch-immer-so-wenig! › - was das Kind grundlegend abwertet. Angesichts des (auch in der Zeit angelegten) dominanten Mängel-Bewusstseins bei der Sicht auf das Kind wirkt Augustins Illustration des Paulus-Worts (1 Thess 2,7), er sei bei den Thessalonichern aufgetreten, wie eine stillende Mutter ihre Kinder hegt, wie eine Geste der Versöhnung: videmus enim et nutrices et matres descendere ad parvulos, et, si norunt latina verba dicere, decurtant illa et quassant quodammodo linguam suam, ut possint de lingua diserta fieri blandimenta puerilia, quia, si sic dicant, non audit infans, sed nec proficit infans. et, disertus aliquis pater si sit tantus orator, ut lingua illius fora concrepent et tribunalia concutiantur, si habeat parvulum filium, cum ad domum redierit, seponit forensem eloquentiam, quo adscenderat, et lingua puerili descendit ad parvulum. in evang. Ioh. 7,23 (414-417) Wir sehen doch Ammen und Mütter zu ihren Kleinen hinabsteigen: Wenn sie Latein können, verstümmeln sie die Wörter und zerstossen gleichsam ihre Sprache, damit aus der Erwachsenen-Rede kindliche Kose-Silben werden. Denn, wenn sie richtig sprechen, fasst es das Kind nicht auf und macht keine Fortschritte. Und wenn ein Vater als Redner derart gewandt ist, dass von seinem Wort Plätze erdröhnen und gerichtliche Verfahren durcheinander geraten -: wenn der ein kleines Kind hat, legt er nach seiner Heimkehr die fürs Forum bestimmte Redekunst, zu welcher er emporgestiegen war, beiseite und steigt in Kindersprache zu seinem Kleinen hinab. <?page no="52"?> Der Blick auf Schwächere 52 W 6 Im Bund mit der Gewalt Die «Lösung» der Donatistenfrage Das Problem der Abspaltung eines donatistischen Zweigs von der katholischen Kirche Nordafrikas geht auf Diokletians Christenverfolgung (303-305) zurück, ist also zu Augustins Zeit im Land tief eingewurzelt. Vermutlich hatten sich mit dem kirchlichen Zwist soziale Spannungen unentwirrbar vermischt, da sich die Donatisten, um den Kampf auch mit brachialen Mitteln führen zu können, gern der Masse der besitzlosen Wanderarbeiter, circumcelliones, bedienten. Nachdem im Jahr 403 ein umsichtig vorbereitetes Gesprächs-Angebot der Katholiken von den Donatisten schroff zurückgewiesen worden war und es weiterhin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen war, beschloss ein Konzil im Juni 404 in Carthago, Ravenna anzurufen. Die Kaiser antworteten mit dem Edikt von 405 (Cod. Theod. 16,5,38), das, gegen Manichäer und Donatisten gerichtet, die gewaltsame Wiederherstellung der Einheit als katholische Kirche verlangte. - Man darf Augustin glauben, dass er, der Redegewandte unter den Bischöfen, ursprünglich beabsichtigte, allein mit dem Wort zu einem Erfolg zu gelangen: nam mea primitus sententia non erat nisi neminem ad unitatem Christi esse cogendum, verbo esse agendum, disputatione pugnandum, ratione vincendum, ne fictos catholicos haberemus, quos apertos haereticos noveramus. sed haec opinio mea (…) superabatur. epist. 93,17 (407-408) Denn meine ursprüngliche Meinung ging dahin, niemand sei zur Einheit Christi zu zwingen; allein mit dem Wort solle man vorgehen, in Streitgesprächen kämpfen, mit Argumenten der Vernunft siegen, damit wir nicht am Ende Scheinkatholiken hätten statt <wie bisher> offen bekennende und bekannte Häretiker. Doch meine Meinung unterlag. Nachdem nun die weltliche Macht eingegriffen hatte, fühlte Augustin sich gedrungen, diesen Eingriff zu legitimieren. So ist er - beispielsweise im Brief 93 an Vincentius (einen Jugendfreund, der den Donatisten nahestand) - zu einem frühen Theoretiker der Inquisition geworden. Mit was für Argumenten lässt sich Gewaltanwendung rechtfertigen? Es genüge eine Auswahl. si enim quisquam inimicum suum periculosis febribus phreneticum factum currere videret in praeceps, nonne tunc potius malum pro malo redderet, si eum sic ire permitteret, quam si corripiendum ligandumque curaret? epist. 93,2 Wenn nämlich einer sähe, wie sein Feind, von einem gefährlichen Fieber wahnsinnig geworden, auf einen Abgrund zuliefe, würde er da nicht eher Böses mit Bösem vergelten, wenn er ihn so hineinrennen liesse und nicht veranlasste, dass er gepackt und gebunden wird? <?page no="53"?> W 6 Im Bund mit der Gewalt 53 Der Versuch einer Bekehrung ist zwar mit Gewalt verbunden, aber insofern moralisch gut, als er Böses mit Gutem vergilt. (Wer definiert, was böse, was gut ist? ) ‹at enim quibusdam ista non prosunt.› - numquid ideo neglegenda est medicina, quia nonnullorum est insanabilis pestilentia? tu non attendis nisi eos, qui ita duri sunt, ut nec istam recipiant disciplinam. de talibus enim scriptum est: frustra flagellavi filios vestros; disciplinam non receperunt. puto tamen, quia dilectione, non odio flagellati sunt. Jer 2,30 epist. 93,3 ‹Aber bei gewissen richten diese Massnahmen nichts aus.› - Soll man denn ein Medikament schon deshalb absetzen, weil die Seuche bei gewissen Leuten unheilbar ist? Du betrachtest eben nur die, welche derart dickschädelig sind, dass auch diese Lektion nicht anschlägt. Von solchen ist ja geschrieben: Umsonst habe ich eure Söhne gegeisselt; sie haben nicht Zucht angenommen. Ich meine aber, dass sie immerhin mit Liebe, nicht mit Hass gegeisselt worden sind. Wer an einer Bekehrung teilnimmt, versteht es, mit Liebe zu geisseln! non omnis, qui parcit, amicus est, nec omnis, qui verberat, inimicus est. meliora sunt vulnera amici quam voluntaria oscula inimici. melius est cum severitate diligere quam cum lenitate decipere. (…) quis nos potest amplius amare quam deus? et tamen nos non solum docere suaviter, verum etiam salubriter terrere non cessat. Sprüche 27,6 epist. 93,4 Nicht jeder, der Schonung walten lässt, ist ein Freund, und nicht jeder, der die Rute braucht, ein Feind. Besser ist es, Wunden vom Freund zu empfangen als die absichtsvollen Küsse des Feindes. Besser ist es, mit Strenge zu lieben, als in Sanftheit zu täuschen. (…) Wer kann uns mehr lieben als Gott? Und doch belehrt er uns nicht nur in Sanftheit, sondern jagt uns auch immer wieder einen heilsamen Schrecken ein. Wer kraftvoll bekehrt, hat ein hochwillkommenes Vorbild: Gott und sein wiederholt ungnädiges Tun. - Bekehrung bedeutet Schmerzen und Schrecken. temperata severitas et magis mansuetudo servatur, ut cohercitione exiliorum atque damnorum admoneantur considerare, quid quare patiantur, et discant praeponere rumoribus et calumniis hominum scripturas, quas legunt. (…) sacrificia paganorum. et certe longe ibi poena severior constituta est; illius quippe impietatis capitale supplicium est. epist. 93,10 Die Strenge hält sich in Grenzen, und man lässt eher Milde walten, damit mittels der Zwangsmassnahmen von Verbannung und Vermögensverlust den Betroffenen bedeutet werde, sie sollten erwägen, was und warum sie leiden, und so lernen, den Gerüchten und Verleumdungen der Leute die Heiligen Schriften vorzuziehen, die doch auch sie lesen. (…) heidnische Opfer zu begehen. Natürlich steht darauf eine bei weitem schwerere Strafe; denn diese Gottlosigkeit wird mit dem Tode bestraft. <?page no="54"?> Der Blick auf Schwächere 54 Vermögensverlust und Exil sind bestbewährte Zucht-Instrumente. Der Hinweis auf die Todesstrafe für «Heiden» soll die Strafen für renitente Donatisten verharmlosen. Man lässt ihnen ja das Leben! Die eigentlichen Grundpfeiler der Rechtfertigung entnimmt der christliche Inquisitor der Bibel: si semper esset laudabile persecutionem pati, sufficeret domino dicere: beati, qui persecutionem patiuntur, nec adderet: propter iustitiam. item, si semper esset culpabile persecutionem facere, non scriptum esset in sanctis libris: detrahentem proximo suo occulte, hunc persequebar. aliquando ergo et, qui eam patitur, iniustus est, et, qui eam facit, iustus est. Mt 5,10 Psalm 101,5 epist. 93,8 Wenn es in jedem Fall lobenswert wäre, verfolgt zu werden, würde es dem Herrn genug sein zu sagen: Selig sind, die Verfolgung leiden, und er würde nicht hinzufügen: um der Gerechtigkeit willen. Genauso, wenn es in jedem Fall tadelnswert wäre, andere zu verfolgen, stünde nicht in den heiligen Büchern: Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den habe ICH verfolgt. Manchmal ist somit ungerecht, wer Verfolgung erleidet, und, wer verfolgt, gerecht. Der Beleg aus den Psalmen sticht natürlich nur, wenn man, mit Augustin, in der Figur des Psalmen-Sprechers Christus verstanden haben will. eripe te, frater, dum in hac carne vivis, ab ira, quae ventura est pertinacibus et superbis. (…) non est tamen potestas nisi a deo; qui autem resistit potestati, dei ordinationi resistit; principes enim non sunt timori bono operi, sed malo. vis autem non timere potestatem, bonum fac, et habebis laudem ex illa. Rm 13,1-3 epist. 93,20 Reiss dich heraus, Bruder, solang du noch im Leibe lebst, heraus aus dem Zorn, der über die Hartnäckigen und Hochmütigen hereinbrechen wird. (…) Es gibt keine Obrigkeit, ausser von Gott. Somit widersteht der, welcher sich der Obrigkeit widersetzt, der Anordnung Gottes. Denn die Regierenden sind ein Gegenstand der Furcht nicht für den, der Gutes tut, sondern für den Bösen. Willst du dich aber vor der Obrigkeit nicht fürchten, dann tue das Gute, und du wirst Lob von ihr haben. Es gibt keine Obrigkeit ausser von Gott - es scheint, dass keine andere Bibelstelle mehr persönliche Tragödien bewirkt hat und immer noch bewirkt. Die Regierungsgläubigkeit des Apostels Paulus ist eine Frucht von Konsequenz und Naivität zugleich. - Die verheerendste Langzeitwirkung hat jedoch ein ganz kurzes Wort, der Befehl des «Hausherrn» im Gleichnis vom Hochzeitsmahl: <?page no="55"?> W 6 Im Bund mit der Gewalt 55 putas neminem debere cogi ad iustitiam, cum legas patrem familias dixisse servis: quoscumque inveneritis, cogite intrare! Lk 14,23 (griechisch: ) epist. 93,5 Du meinst, man dürfe niemanden zur Gerechtigkeit zwingen, und doch liest du, der Hausherr habe zu den Knechten gesagt: Wen immer ihr antrefft, zwingt ihn einzutreten! Welcher bedrängte katholische Bischof Nordafrikas liesse sich diese goldene Rechtfertigung entgehen? Er wird sich allerdings hüten, die entsprechende Erzählung bei Matthäus nachzuschlagen, wo es heisst: «vocate ad nuptias / rufet sie zur Hochzeit» (Mt 22,9: ). Das eine Wort cogite, zwingt aber wird treulich seinen unheiligen Dienst tun und über viele Jahrhunderte strahlen. - Am Ziel der Aktion lässt sich das Erreichte überblicken: non illos aut illos homines, sed multas civitates videmus fuisse Donatistas, nunc esse catholicas, detestari vehementer diabolicam separationem, diligere ardenter unitatem. quae tamen timoris huius (qui tibi displicet) occasionibus catholicae factae sunt per leges imperatorum. epist. 93,16 Nicht vereinzelte Menschen nur, sondern, wie wir sehen, zahlreiche ehemals donatistische Städte, die jetzt katholisch geworden sind, verabscheuen die teuflische Spaltung mit Heftigkeit und lieben feurig die Einheit. Und diese <Gemeinden> sind anlässlich der aktuellen Einschüchterungs- Kampagne (die dir missfällt) auf dem Weg über die kaiserlichen Gesetze katholisch geworden. Zu der kalten Nacktheit, mit welcher der Erfolg auf seinen Grund, staatliche Gewaltanwendung, zurückgeführt wird, kontrastiert die heisse Konvertiten- Sprache zur Zeichnung der heimgekehrten Donatisten: Sie verabscheuen «mit Heftigkeit» und lieben «feurig». <?page no="56"?> Der Blick auf Schwächere 56 Ein hintergründiges, grausames Spiel mit den neugewonnenen Katholiken spielt Augustin da, wo er sie auf ihr bisheriges, ach so verfehltes Leben zurückschauen lässt: quam multi nihil interesse credentes, in qua quisque parte christianus sit, ideo permanebant in parte Donati, quia ibi nati erant et eos inde discedere atque ad catholicam transire nemo cogebat. his omnibus harum legum terror (quibus promulgandis reges domino serviunt in timore) ita profuit, ut nunc alii dicant: iam hoc volebamus, sed deo gratias, qui nobis occasionem praebuit iam iamque faciendi (…). alii dicant: hoc esse verum iam sciebamus, sed nescio qua consuetudine tenebamur; gratias domino, qui vincula nostra disrupit et nos ad pacis vinculum transtulit. (…) gratias domino, qui neglegentiam nostram stimulo terroris excussit (…). gratias domino, qui trepidationem nostram flagello abstulit. (…) gratias domino, qui nos a divisione collegit et hoc uni deo congruere, ut in unitate colatur, ostendit. epist. 93,17f Wie viele glaubten, es sei unwichtig, auf welcher Seite einer Christ sei, und so verblieben sie auf donatistischer Seite, da sie dort geboren waren und sie niemand zwang, von dort Abschied zu nehmen und auf die katholische Seite herüber zu wechseln. All denen hat der Schreck vor den Gesetzen (mit deren Verkündigung die Herrscher dem Herrn in Furcht dienen) derart genützt, dass heute die einen etwa sagen: Schon lang wollten wir das; Gott sei Dank, dass er uns eine Gelegenheit geboten hat, es endlich zu tun (…). Andere mögen sagen: Dass das wahr sei, wussten wir längst, doch hielt uns eine undefinierbare Gewohnheit zurück; Dank sei dem Herrn, dass er unsere Fesseln zerrissen und uns in die Bande des Friedens herübergeholt hat. (…) Dank sei dem Herrn, dass er uns unsere Nachlässigkeit mit dem Stachel des Schreckens ausgetrieben hat. (…) Dank sei dem Herrn, dass er uns das Zögern mithilfe der Peitsche genommen hat. (…) Dank sei dem Herrn, dass er uns aus dem Schisma zu sich geholt und uns offenbar gemacht hat, dass dem einen Gott zukomme, in Einheit verehrt zu werden. Ringsum hochzufriedene Neu-Katholiken! Ihre Herzen überquellen von Dankbarkeit. - Warum Augustin die Bekehrten so auffällig danken lässt, können drei Sätze aus einer Predigt noch vor der «Lösung» der Donatistenfrage klären: utinam ergo milites Christi essent et non milites diaboli, a quibus plus timetur ‹deo laudes! › quam fremitus leonis! hi etiam insultare nobis audent, quia fratres, cum vident homines, ‹deo gratias› dicunt. (…) vos ‹deo gratias› nostrum ridetis; ‹deo laudes› vestrum plorant homines! in psalm. 132,6 (vor 405 / 407-415) Wären es doch Soldaten Christi und nicht Soldaten des Teufels, deren ‹Gott zum Lob! › man mehr fürchtet als das Brüllen des Löwen! Diese Leute wagen es noch, uns zu verhöhnen, weil unsere Brüder ‹Gott zum Dank› / ‹Gott sei Dank› sagen, wenn sie andern Menschen begegnen. (…) Ihr lacht über unser ‹Gott zum Dank›; über euer ‹Gott zum Lob› jammern unsere Leute. <?page no="57"?> W 6 Im Bund mit der Gewalt 57 Mit ‹Soldaten des Teufels› sind die Circumcellionen gemeint, die gewalttätigen Helfer der Donatisten. ‹deo laudes› dient ihnen wie den Donatisten als Devise, Gruss-Formel und Kampf-Schrei in einem (vgl. c. Petil. 2,146; epist. 108,14.18; serm. Guelf. 28,6); ‹deo gratias› dagegen sprechen und verehren die Katholiken Nordafrikas: Mit diesem Wort hatte ihr Heiliger, der Märtyrer Cyprian, das Todesurteil empfangen. - Was tut nun Augustin, wenn er die konvertierten Donatisten in Bedauern und Dankbarkeit Rückschau halten lässt? Er nimmt ihnen das erwartbare ‹deo laudes› aus dem Mund, ersetzt es zunächst durch das katholische ‹deo gratias› und zwingt sie daraufhin, indem er die Wortfolge umdreht, das verabscheute ‹gratias› als Erstwort, gleichsam als die endlich gefundene richtige Melodie auszusprechen. - Und damit dokumentiert der Rhetoriker auf dem Feld der Sprache die - illusionäre! - Endgültigkeit des katholischen Sieges. * Es verwundert nicht, dass die Donatisten - angesichts noch gesteigerter staatlicher Verfolgung in den Jahren nach 411 (vgl. Cod. Theod. 16,5,52 vom Jahr 415) - mit Selbstmord drohten bzw. vielfach Selbstmord begingen. Augustins Stellungnahme dazu könnte kaum erkältender sein: ubi suis caedibus nos vastare non possunt, suo nos exitio terrere se credunt, aut suam laetitiam quaerentes de mortibus nostris aut nostram tristitiam de mortibus suis. sed non debet tot tantorumque populorum salutem furiosus error hominum impedire paucorum! (…) quoniam deus occulta satis dispositione sed tamen iusta nonnullos eorum poenis praedestinavit extremis, procul dubio melius incomparabili numerositate plurimis ab illa pestifera divisione et dispersione redintegratis atque collectis quidam suis ignibus pereunt, quam pariter universi sempiternis ignibus gehennarum merito sacrilegae dissensionis ardebunt. epist. 204,1f (418-419) Wo sie uns schon nicht durch ihr Morden zu vernichten vermögen, meinen sie uns doch durch Selbstmord schrecken zu können. Entweder suchen sie so ihre Wonne aus unserem Tod zu gewinnen oder unser Leid aus ihrem Tod. Aber der wahnwitzige Irrtum von wenigen Leuten darf doch so vielen grossen Völkern das Seelenheil nicht verbauen! (…) Gott hat in durchaus verborgener, aber dennoch gerechter Verfügung eine gewisse Anzahl von ihnen zur äussersten Strafe vorherbestimmt, und daher ist es ohne Zweifel besser, dass einige, nachdem immerhin eine unvergleichlich grössere Anzahl aus dieser verderblichen Abspaltung und Zerstreuung wiedergewonnen und <zu uns> versammelt ist, in selbst gelegtem Feuer ums Leben kommen, als dass infolge der frevlerischen Spaltung alle zusammen ebenfalls in den ewigen Flammen der Hölle brennen. Als wäre der selbstgewählte leibliche Feuertod der standhaften Schismatiker Indiz und Vorspiel des von Gott für sie beschlossenen, nie endenden Todes im Höllenfeuer. > Markus; Tengström <?page no="58"?> Der Blick auf Schwächere 58 W 7 Inquisition Akte einer Pathologie Die nur teilweise erhaltene Predigt Augustins feiert die Wiederbegegnung mit einem treu katholischen Publikum. Das Thema des Streits mit nichtkatholischen Christen liegt in der Luft. bonum plane fratres habitantes in unum. omnes concedunt quia bonum; non omnes capiunt, quod iucundum. quaere a quovis, licet sit adhuc haereticus aut iam frontem exhibeat, mentem tegat; quaere, interroga fastidientem, recusantem, manus servientis et cibare volentis aegritudinem repellentem. tamen tene, quaere ab illo: bonum est unitas? Psalm 133,1 serm. Dolbeau 27,5 (407? ) Gut ist es wahrhaftig, wenn Brüder beieinander wohnen. Alle geben zu, dass das gut ist; doch nicht alle erfassen, dass es auch Freude macht. Frag, wen du willst, sei das ein Häretiker oder einer, der zwar äusserlich mitmacht, aber verbirgt, was er denkt; befrag ihn, zieh ihn ins Verhör, auch wenn er seinen Widerwillen, seine Ablehnung kundtut und Hilfe zurückweist, falls man ihm einen Dienst erweisen und Speise gegen seine Krankheit reichen will. Bleib dabei, frag ihn: Ist Einheit etwas Gutes? Das Psalmenzitat von den Brüdern, die beieinander wohnen, zeichnet ein Idyll, dem auch Augustin als Klostergründer lange angehangen hat. Es scheint sehr wichtig, von allen Seiten bestätigt zu hören, dass solches Zusammenwohnen gut und erfreulich sei. - Dann kühlt sich die Frage nach dem brüderlichen Beisammensein ab zu dem harten, kirchenpolitisch virulenten Begriff der Einheit. Es geht um das Verhältnis von Katholiken (im folgenden: ‹ich›) und Donatisten (‹du› oder ‹er›). si potest, dicat: malum est. prorsus non parco, interrogo: bonum est unitas? respondet: bonum. velit nolit, hoc respondet: bonum est unitas. - an taces? Wenn er es fertig bringt, mag er sagen: <Einheit> ist etwas Schlechtes. Doch ich verschone ihn nicht und frage wieder: Ist Einheit etwas Gutes? Da antwortet er: etwas Gutes. Ob er will oder nicht, er muss das antworten: Einheit ist etwas Gutes. - Oder schweigst du? Angst hat den Donatisten rasch einlenken lassen. - Oder ist er nicht aufrichtig und überdeckt mit seiner Aussage nur, was er, um sich zu retten, verschweigt? <?page no="59"?> W 7 Inquisition 59 etsi taces, utique ideo taces, quia non potes dicere: non bonum. dicere bonum non permittit iniquitas, sed negare bonum non sinit veritas. Auch wenn du schweigst, schweigst du gewiss deswegen, weil du nicht sagen kannst: Einheit ist nichts Gutes. Zu sagen, sie ist etwas Gutes, verbietet dir deine Voreingenommenheit; aber Wahrheit erlaubt nicht zu leugnen, dass sie etwas Gutes sei. Voreingenommenheit ist quasi naturgesetzlich ein Wesenszug des Gegners. Da seine Motive unbekannt sind, kann man sie zu seinem Nachteil erfinden. tamen insto, ut extorqueam vocem; non desinam, non recedam: non me carebis, nisi aliquid dixeris. Dennoch setze ich ihm hart zu, ihm eine Aussage zu entwinden. Ich lasse nicht locker, ich weiche vom Ziel nicht ab: Du wirst mich erst los, wenn du etwas Entscheidendes gesagt hast. extorquere: eigentlich ‹herausdrehen›. Hier soll aus einem Menschen eine Aussage ‹herausgedreht› werden. (Was hinter dem Wort lauert, bedarf keiner Belege.) inveni tandem aliquando aures tuas. si te non teneo diligentem, teneo vel timentem. dic, responde mihi! facile est, quod peto, breve est, quod interrogo: bonum est unitas? Immerhin habe ich bereits erreicht, dass du auf meine Worte hörst. Wenn ich dich nicht festhalten kann, dass du mich liebst, halte ich dich eben gepackt, dass du mich fürchtest. Sag aus, antworte mir! Leicht ist ja, was ich von dir will; kurz ist, was ich dich frage: Ist Einheit etwas Gutes? Nie fehlt der Hohn, die schreckliche Schein-Anbiederung des Quälers an den Gequälten: Sieh, ich komme dir weit entgegen; eine Silbe genügt! Überfallartige «Freundlichkeit» bricht den Widerstand des Gequälten. quid faciat? nullo pacto dicturus est: non est bonum. ergo vel, ut careat me, dicturus est: bonum. Was soll er tun? Auf keine Art und Weise kann er sagen: <Einheit> ist nichts Gutes. Also wird er, um mich nur loszuwerden, sagen: Sie ist etwas Gutes. Die Loslösung des Gequälten erfolgt, wie stets, um den Preis der Selbstaufgabe. - Und damit bricht beim Quäler die Liebe aus: et ego respondeo: quod laudas, si possessio est, tene mecum; si indumentum est, vestire mecum; si panis est, ede mecum. Und ich antworte: Was du lobend gutheisst [die Einheit] - wenn sie Hab und Gut bedeutet, besitz es mit mir, wenn Gewand, kleide dich mit mir, wenn Brot, iss mit mir. <?page no="60"?> Der Blick auf Schwächere 60 Zu früh hat der Quäler Grösse vorgetäuscht: Im Gequälten kehren Lebenskräfte zurück. Kann er ein Stück seiner Würde zurückgewinnen? bonum est, inquit, non nego; sed, quia ad illam cogor, ideo illam nolo. <Einheit>, sagt er, ist etwas Gutes, ich will es ferner nicht abstreiten; aber, weil ich zu ihr hin gezwungen werde, lehne ich sie ab. ergo bonum est; sed, quare cogeris ad bonum, ideo non vis bonum? quasi vero ego molestus essem in cogendo, si tu esses avidus in petendo! si bonum est, et non vis, ideo cogo. Aha! sie ist etwas Gutes; doch weil du zum Guten gezwungen wirst, lehnst du das Gute ab? Als ob ich dir mit Zwang lästig fiele, wenn du Eifer zeigtest, das Gute zu ergreifen! Wenn sie etwas Gutes ist, und du lehnst es ab, muss ich dich doch zwingen! Schuld an der Tortur ist, wie immer, der Gequälte. - Nun ist der Moment gekommen, dem Gequälten zur richtigen Einsicht in seine Psyche zu verhelfen, ihm die Diagnose zu stellen: quod enim bonum fateris, non veritate non vis, sed infirmitate. infirmo servio. aeger es, minister tuus sum. Wenn du gestehst, Einheit sei etwas Gutes, und du sie ablehnst, lehnst du sie nicht in Wahrheit ab, sondern aus Schwachheit. Dem Schwachen aber bin ich bereit zu dienen: Du bist krank, ich bin dein Pfleger. Der Quäler überfliesst in Liebe. - So wird er zum Retter vor der Hölle, dem zweiten Tod: cibum offero, escam, quam laudas, accipe! (…) sume frater, accipe, frater; accipe aliquid, ne moriaris! (…) Ich biete dir Speise an, eine Kost, die du magst; nimm! (…) Nimm, Bruder, nimm, Bruder; nimm etwas, damit du nicht sterbest! (…) Zum Schluss etwas Balsam für den Quäler: Selbstrechtfertigung: molestus sum, cum ingero; sed impius, si detraxero. Gewiss, ich falle dir zur Last, wenn ich dir <die Arznei> eingiesse; ich wäre aber ohne Liebe, würde ich sie dir vorenthalten. ecce, inquit, accipio. Ich schlucke sie ja schon, sagt er. Welch ein jämmerlicher Sieg! - Was liegt eigentlich vor? Während Augustin predigt, schiessen in seinem Geist Bilder von (gelesenen oder selbst erlebten) Bekehrungen und Bekehrungs-Versuchen (auch an Märtyrern) zu einem modellhaften Ablauf einer solchen Szene zusammen, Bilder einer Erpressung, die Phase für Phase mit vollkommener Unmittelbarkeit Sprache wird. - Warum drängen <?page no="61"?> W 7 Inquisition 61 diese Bilder im Rahmen einer Predigt zur Sprache? Drückt sich darin eine seelische Last aus, die Augustin nicht mehr los wird? Ist es vielmehr magische Anziehung? Ist es gar eine unbewusste Anleitung? Oder zeugt das Stück ganz einfach für die hasserfüllte Grundstimmung jener Jahre staatlichen Zwangs gegenüber den Donatisten Nordafrikas? Wohin die Predigt noch geführt hätte, bleibt offen; sichtbar ist nur, dass das Ich die mütterlich sorgende katholische Kirche vertritt - «mater» ecclesia! <?page no="62"?> Der Blick auf Schwächere 62 W 8 Folter Folter, die primitivste und zugleich billigste, weil enorm zeitsparende Methode des Staates, in jeder Strafsache zu einem Schuldigen zu kommen, ist zu Augustins Zeit weit verbreitet und akzeptiert, wie lange schon vor seiner Zeit und lange nach ihr. - Die Aussicht, gefoltert zu werden, ist angesichts der damaligen Praktiken beinah gleich der Aussicht, mit dem Tod bestraft zu werden: in ipsis vel ex ipsis tormentis plerumque moriuntur noch während sie gefoltert werden oder nachdem sie gefoltert worden sind sterben sie sehr oft civ. 19,6 contremiscis, conturbaris, pallescis, ad ecclesiam curris, episcopum videre desideras, ad pedes eius volutaris. quaerit, quare. libera me, inquis. quid agitur? ecce ille mihi calumniatur. et quid tibi facturus est? domine, concutior; domine, in carcerem mittor; miserere mei, libera me! - ecce quomodo timetur carcer. serm. 161,4,4 (? ) Du erbebst, verlierst die Fassung, erbleichst, eilst zur Kirche, verlangst den Bischof zu sprechen, windest dich zu seinen Füssen. Er fragt dich nach dem Grund. «Rette mich! » sagst du. Worum handelt es sich denn? «Der dort führt eine erlogene Anklage gegen mich! » Und was kann er dir antun? «Herr, man sucht mich zu erpressen; Herr, man wirft mich ins Gefängnis. Hab Erbarmen mit mir! Rette mich! » - So gross ist die Angst vor dem Gefängnis. Über Stufen in die Tiefe: interest, quali custodia quisque recipiatur ad iudicem postea producendus; nam et receptiones in custodia pro meritis causarum adhibentur: alios iubentur custodire lictores, humanum et mite officium atque civile; alii traduntur optionibus; alii mittuntur in carcerem, et in ipso carcere non omnes, sed pro meritis graviorum causarum in ima carceris contruduntur. in evang. Ioh. 49,9 (414-417) Es kommt sehr darauf an, in was für eine Haft-Stufe einer eingebracht wird, um später dem Richter vorgeführt zu werden; denn die Haft-Orte werden je nach Schwere des Falls gewählt: Die einen stehen unter Bewachung von Liktoren: ein menschlicher und milder Status und ausgesprochen schonungsvoll. Andere werden den Gefängnis-Gehilfen übergeben; wieder andere wirft man in den Kerker. Und auch da werden nicht alle, vielmehr nur die besonders schweren Fälle, in das unterste Gelass des Kerkers gestossen. <?page no="63"?> W 8 Folter 63 quid enim carnifice tetrius? quid illo animo truculentius atque dirius? at inter ipsas leges locum necessarium tenet et in bene moderatae civitatis ordinem inseritur estque suo animo nocens, ordine autem alieno poena nocentium. ord. 2,4,12 (386) Was ist abscheulicher als ein Folterer/ Henker? Was furchtbarer oder grauenvoller als dessen Denken und Fühlen? Und doch: im Rahmen der Gesetze hat er einen notwendigen Platz inne und lässt sich einreihen in die Ordnung eines gut geführten Staatswesens. Bedenkt man seine Gemütsart: reiner Unheilstifter; eingebunden aber in die Ordnung, die nicht er bestimmt: Strafinstanz gegen Unheilstifter. Der junge Augustin hält die Institution der Folter - allerdings innerhalb des staatlichen Rahmens - für notwendig. Sie ist ein unumgänglicher Teil einer guten Ordnung. (Denkt nur der junge Augustin so? ) Der Angeklagte wird dem Richter vorgeführt (es genüge ein einziger Text! ): saepissime flagellis et quibusque verberibus, ungulis quoque et ignibus agitur, ut eruatur ore confessio. et aliquando prius cedunt membra tormentis, ut corporis compago solvatur, quam doloribus animus, ut secretum facinoris propaletur. instant carnifices, crebrescunt omnia genera tormentorum. sed frustra laniando aperiuntur viscera, cum clauditur negando conscientia. serm. Denis 9,3 (397) Sehr oft wird die Untersuchung mit Geisseln und Schlägen von jeder Sorte, mit Krallen auch und mit Feuerbränden vorangetrieben, um aus dem Mund ein Geständnis zutage zu fördern. Und dann und wann geben die Glieder den Foltermassnahmen schon nach und löst sich das Körper-Gefüge schon auseinander, bevor der Geist, von Qualen überwältigt, das Geheimnis der Untat offenbart. Dann setzen die Schinderknechte dem Opfer zu: Es vervielfältigen sich alle Arten von Foltertechniken. Doch umsonst werden die Eingeweide zerfetzt und offengelegt, während das Schuldbewusstsein im Nein sich verschliesst. Ein ebenso abgründiger Text: si bene audisti, si recte audisti, si in audiendo te iustus fuisti, si tuae mentis tribunal ascendisti, si te ipsum ante te ipsum in eculeum cordis suspensisti, si graves tortores adhibuisti timoris, bene audisti, si sic audisti, et procul dubio paenitendo peccatum punisti. serm. 13,7 (412-418) Wenn du dich zweckmässig verhört hast, wenn du dich regelgerecht verhört hast, wenn du beim Selbstverhör unparteiisch gewesen bist, wenn du den Richterstuhl deines Gewissens bestiegen hast, wenn du dich selbst vor dir selbst am Foltergestell deines Herzens hochgezogen hast, wenn du die unerbittlichen Folterknechte der Angst hast mitwirken lassen, dann hast du dich zweckmässig verhört, wenn du dich so verhört hast -, und hast ohne Zweifel in Reue deine Sünde bestraft. <?page no="64"?> Der Blick auf Schwächere 64 Diese Zeilen lassen die Alltäglichkeit und die Selbstverständlichkeit der Welt der Folter durchscheinen: Augustin empfindet vor dieser Welt offensichtlich derart wenig Grauen, dass er sie - und dies im positiven Sinn! - ohne zu erschauern auf seelisches Geschehen übertragen kann. Der Text zeugt im übrigen von einer schuld- und demutseligen Auffassung des Christentums. causa ipsa tibi respondeat. latro est: perfert pro latrocinio suo poenas. torquetur et, quod verum scit esse in conscientia sua, non confitetur. quid dicemus: magna patientia? immo dicamus: detestanda duritia. serm. Dolbeau 15,7 (404-412) Es antworte dir ein konkreter Fall: Da ist ein Dieb. Er erträgt im ganzen Ausmass die Strafe für seinen Diebstahl. Er wird gefoltert und gesteht dennoch nicht, wovon er im Herzen weiss, dass es wahr ist. Was werden wir da sagen: gewaltige Fähigkeit im Dulden? Nein doch, viel eher wollen wir sagen: verabscheuenswerte Härte. Was bewegt den Autor, als den wahrscheinlichsten - nein: sogar als den wahrscheinlichen - Fall zu setzen, der Gefasste sei auch tatsächlich der Dieb? Und weiter, anzunehmen, Folter werde Wahrheit zeitigen? - Von Folter spricht Augustin ohne Zeichen der Abneigung als von einem förderlichen Mittel der Wahrheitsfindung. Bonifati, id est Fati, hereditatem suscipere nolui: non misericordia, sed timore. naviculariam nolui esse ecclesiam Christi. multi sunt quidem, qui etiam de navibus acquirunt. tamen una temptatio si esset, si iret navis et naufragaret: homines ad tormenta daturi eramus, ut de submersione navis secundum consuetudinem quaereretur et torquerentur a iudice, qui essent de fluctibus liberati? Ich war dagegen, die Erbschaft des Bonifatius, unseres «Fatius», anzunehmen, nicht aus Mitleid <wie beim vorher besprochenen Fall>, sondern aus Angst: Ich wollte nicht, dass die Kirche Christi Besitzerin einer Reederei würde. Es gibt zwar viele, die mit Schiffen Geld machen. Doch wenn es kritisch würde, ein Schiff auf See wäre und sänke -: sollten wir da die geretteten Seeleute zur Folter freigeben, damit man bezüglich des Schiffbruchs die übliche Untersuchung anstellen und also der Richter die Überlebenden foltern könnte? sed nos eos daremus? nullo pacto enim hoc facere deceret ecclesiam. onus ergo fiscale persolveret? sed unde persolveret? enthecam nobis habere non licet. non est episcopi reservare aurum et revocare a se mendicantis manum. (…) serm. 355,5 (425-426) Wir würden sie doch den Behörden nicht übergeben! Im höchsten Masse ungehörig wäre das für unsere Kirche. Sollte sie die Steuer zahlen? Aber woraus? Eine Finanz- Reserve dürfen wir nicht anlegen; denn ein Bischof wird nicht Gold zur Seite legen und die Hand des Bettlers von sich wegscheuchen. (…) <?page no="65"?> W 8 Folter 65 Augustin ist nicht bereit, Urheber von Folterungen zu werden, obschon er weiss, dass dies durchaus im Interesse und Rahmen des Staates geschähe, der die Transport-Gesellschaften, für die Ernährung der grossen Städte lebenswichtig, scharf überwachte: War da ein Schiffbruch vielleicht simuliert worden? Vom Irrsinn des Folterns: quid: ipsa iudicia hominum de hominibus, quae civitatibus in quantalibet pace manentibus deesse non possunt, qualia putamus esse, quam misera, quam dolenda? quando quidem hi iudicant, qui conscientias eorum, de quibus iudicant, cernere nequeunt. unde saepe coguntur tormentis innocentium testium ad alienam causam pertinentem quaerere veritatem. Weiter: die Urteile, welche Menschen über andere Menschen fällen, was auch bei Staaten in tiefem Frieden nicht fehlen darf -: von welcher Art müssen wir sie uns vorstellen; wie sehr bringen sie uns Elend und Kummer! Sind da doch Menschen Richter, die das Innere derer, über die sie richten, nicht erkennen können! Daher sehen sie sich oft gezwungen, durch Folterung unschuldiger Zeugen, demnach in einer Sache, die diese gar nicht betrifft, nach Wahrheit zu suchen. quid, cum in sua causa quisque torquetur et, cum quaeritur, utrum sit nocens, cruciatur et innocens luit pro incerto scelere certissimas poenas, non quia illud commisisse detegitur, sed, quia non commisisse nescitur? ac per hoc ignorantia iudicis plerumque est calamitas innocentis. Und was erst, wenn einer in eigener Sache gequält und, indem er gefragt wird, ob er sich schuldig bekenne, gefoltert wird und, obschon unschuldig, für das Verbrechen eines Unbekannten schrecklich bekannte Qualen leidet - nicht etwa, weil aufgedeckt wird, dass er es begangen hat, sondern, weil man nicht weiss, dass er es nicht begangen hat! Und so ist die Unwissenheit des Richters sehr oft das Verderben des Unschuldigen. et, quod est intolerabilius magisque plangendum rigandumque, si fieri possit, fontibus lacrimarum: cum propterea iudex torqueat accusatum, ne occidat nesciens innocentem, fit per ignorantiae miseriam, ut et tortum et innocentem occidat, quem, ne innocentem occideret, torserat. Und - was besonders unerträglich und beklagenswert ist und worüber man, wenn es möglich wäre, Ströme von Tränen weinen müsste -: Wenn ein Richter den Angeklagten deswegen foltern lässt, damit er nicht etwa aus Unwissen einen Unschuldigen umbringe, kommt es in dieser Not des Nichtwissens vor, dass er einen Unschuldigen foltert und umbringt, den er doch hatte foltern lassen, damit er nicht einen Unschuldigen umbringe. <?page no="66"?> Der Blick auf Schwächere 66 si enim (…) elegerit ex hac vita fugere quam diutius illa sustinere tormenta, quod non commisit, commisisse se dicit. quo damnato et occiso, utrum nocentem an innocentem iudex occiderit, adhuc nescit, quem, ne innocentem nesciens occideret, torsit. ac per hoc innocentem et, ut sciret, torsit et, dum nesciret, occidit. civ. 19,6 (vor 427) Denn wenn der Gefolterte (…) beschliesst, lieber aus diesem Leben zu fliehen, als noch länger diese Qualen zu ertragen, so sagt er aus, er habe begangen, was er nicht begangen hat. Wenn er dann verurteilt und hingerichtet ist, weiss der Richter noch immer nicht, ob er einen Schuldigen oder einen Unschuldigen umgebracht hat -, und hat ihn doch foltern lassen, damit er nicht etwa aus Unwissen einen Unschuldigen umbringe. Und so hat er einen Unschuldigen, um zum Wissen zu kommen, gefoltert und, weil er im Nichtwissen stecken blieb, umgebracht. Musste Augustin so alt werden, um das in aller Deutlichkeit zu erkennen? - Nein! doch, es in solcher Deutlichkeit zu sagen! - Naturgemäss dominieren sanftere Töne, wenn er sich an die politischen Behörden wendet: Einsprache Augustin ersucht einen Mitbischof, dem Vertreter der Staatsmacht ein Bittschreiben zu übergeben, nachdem seine eigene Vermittlung hintertrieben worden ist: (…) id utique existimans, quod per dies ipsos possemus fortasse causam eius amica disceptatione finire. iam vero cum illo officiali profectus ductus est; sed metus est, ne forte ad consularis perductus officium mali aliquid patiatur. habet enim causam cum homine pecuniosissimo -, quamvis iudicis integritas fama clarissima praedicetur. ne quid tamen apud officium pecunia praevaleat, peto Sanctitatem tuam, domine dilectissime et venerabilis frater, ut honorabili nobisque carissimo consulari digneris tradere litteras meas et has ei legere. epist. 115 (400) (…) weil ich durchaus der Ansicht war, dass es in diesen Tagen vielleicht gelingen könnte, seine Rechtssache in freundschaftlicher Erörterung zu regeln. Nun aber wurde er in Begleitung jenes Amtsdieners weggeführt, und man fürchtet, er könnte vielleicht nach seiner Überführung zum Statthalter-Amt ein Ungemach leiden. Er hat nämlich eine Streitsache mit einem schwerreichen Mann -, die Unbestechlichkeit des Richters ist zwar in aller Munde… Dennoch: damit bei dem Beamten nicht etwa das Geld den Ausschlag gibt, bitte ich deine Heiligkeit, geliebtester Herr und verehrenswürdiger Bruder, du mögest dem ehrenwerten und von uns ganz besonders geliebten Statthalter meinen Brief übergeben und ihn ihm vorlesen. <?page no="67"?> W 8 Folter 67 Adressat des nächsten Briefes ist der Prokonsul Apringius. Er ist Christ, was ihm die unnachsichtige Ausübung seiner Strafgewalt erschwert, dagegen Augustin den Zugang zu seinem «Sohn» erleichtert. Es geht um Übergriffe von Donatisten und deren gewalttätigem Arm, den Circumcellionen, gegen Katholiken: confessi sunt, quod scilicet unum eorum exceptum insidiis trucidaverint, alterum e domo raptum oculo effosso digitoque amputato truncaverint. haec cum comperissem illos fuisse confessos ideoque minime dubitarem sub iura tuae securis esse venturos, has ad tuam nobilitatem litteras acceleravi, quibus deprecor (…), ut eis paria non retribuantur. (…) epist. 134,2 (411-412) Sie haben gestanden, dass sie einen von ihnen aus dem Hinterhalt überfielen und töteten, einen andern aus seinem Haus zerrten und verstümmelten, indem sie ihm ein Auge ausstachen und einen Finger abschlugen. Als ich erfuhr, dass sie solches gestanden hatten, und daher nicht daran zweifeln kann, dass sie sich vor deiner Machtvollkommenheit werden verantworten müssen, so richte ich an deine Vortrefflichkeit diesen dringlichen Brief, in welchem ich inständig darum bitte (…), dass ihnen nicht dasselbe wiedervergolten werde. (…) In der gleichen Sache und im selben Sinn wendet sich Augustin auch an den Bruder von Apringius, Marcellinus, den Abgesandten des Kaisers zur Schlichtung der Spannungen zwischen Katholiken und Donatisten: nolumus tamen passiones servorum dei quasi vice talionis paribus suppliciis vindicari. (…) noli perdere paternam diligentiam, quam in ipsa inquisitione servasti, quando tantorum scelerum confessionem non extendente eculeo, non sulcantibus ungulis, non urentibus flammis, sed virgarum verberibus eruisti. qui modus cohercitionis et a magistris artium liberalium et ab ipsis parentibus et saepe etiam in iudiciis solet ab episcopis adhiberi. noli ergo atrocius vindicare, quod lenius invenisti. epist. 133,2 (411-412) Dennoch wollen wir nicht, dass, was die Diener Gottes gelitten haben, nach Art der Wiedervergeltung, mit gleichen Strafen gerächt werde. Lass deine väterliche Sorglichkeit nicht fahren, die du bei der gerichtlichen Untersuchung hast walten lassen, als du das Geständnis von so schrecklichen Verbrechen nicht durch Ausspannen am Foltergestell, nicht mit aufpflügenden Krallen, nicht mit Feuerbränden, sondern nur mit Auspeitschung hervorgeholt hast. Dieser Art der Züchtigung bedienen sich ja gewöhnlich die Lehrer der Freien Künste und ebenso die Eltern und oft bei der Rechtsfindung auch die Bischöfe. Strafe also nicht besonders schrecklich, was du besonders milde herausbekommen hast. <?page no="68"?> Der Blick auf Schwächere 68 Es sind nicht in erster Linie Mitleidsregungen, die zu solchen Fürsprachen zugunsten Angeklagter oder Verurteilter führen; die Kirche hat dafür einen triftigen Grund, ihre Vorstellung vom zweiten Tod, der Verurteilung am Jüngsten Tag: ideo quippe, quantum facultas datur, pro peccatis omnibus intercedimus, quia «omnia peccata videntur veniabiliora, cum is, qui reus est, correctionem promittit». (…) morum porro corrigendorum nullus alius quam in hac vita locus est; nam post hanc quisque id habebit, quod in hac sibimet conquisierit. ideo compellimur humani generis caritate intervenire pro reis, ne istam vitam sic finiant per supplicium, ut ea finita non possint finire supplicium. epist. 153,1,2f (413-414) Eben deshalb erheben wir, soweit uns die Möglichkeit gegeben wird, bei allen Vergehen Einsprache; denn <wie du selbst schreibst> «alle Sünden erscheinen eher verzeihlich, wenn der Schuldige Besserung verspricht». (…) Weiter gibt es keine andere Gelegenheit, den Lebenswandel zu bessern als im diesseitigen Leben. Denn danach wird jeder das haben, was er sich hier erworben hat. Daher fühlen wir uns von der Liebe zum Menschengeschlecht aufgerufen, für Schuldige Fürbitte einzulegen, damit sie das Erdenleben nicht durch Todesstrafe beenden müssen, sodass sie danach die Strafe in Ewigkeit nicht abtragen können. Strafen sicut enim iudex in homine odit furtum, sed non odit, quod datur ad metallum (…), ita deus, quod ex consparsione impiorum facit vasa perditionis, non odit, quod facit, id est, opus ordinationis suae in poena debita pereuntibus, in qua occasionem salutis illi, quorum miseretur, inveniunt. vgl. Rm 9,20f Simpl. 1,2,18 (396-398) So wie der Richter an einem Menschen den Umstand hasst, dass er gestohlen hat, nicht aber, dass er dafür zu Zwangsarbeit ins Bergwerk überstellt wird (…), ebenso gilt von Gott: Wenn er aus der Knet-Masse der Gottlosen Gefässe zur Vernichtung herstellt, hasst er nicht, was er tut, nämlich, Ordnung herzustellen bei denen, die gerechterweise zugrunde gehen - wodurch ja diejenigen, deren er sich erbarmt, eine Gelegenheit zum Heil finden. Was in einem Text zum Vergleich herangezogen wird, hat je den Status des Selbstverständlichen. (X ist weiss ‹wie Schnee› - dessen Weisse gilt als selbstverständlich.) Zum Vergleich dient hier das Verhalten des Richters. Seine Entscheidung, für Diebstahl Zwangsarbeit zu verhängen, erscheint somit Augustin als selbstverständlich - vollends legitimiert dadurch, dass, wie er lehrt, Gott selber so handle - zum Heil der Frommen! - Bergwerks-Sträflinge wurden geschoren, gebrandmarkt, militärisch bewacht und arbeiteten in Ketten; Heimkehr aus diesem «Totenhaus» höchstens als Ruine. <?page no="69"?> W 8 Folter 69 Der folgende Text, der den Grundsatz erläutert, dass nicht die Strafe, sondern der Anlass einen Märtyrer macht (martyres non facit poena, sed causa [in psalm. 34, serm. 2,13]), zeigt in einem Crescendo des Grauens die Abstufung von Strafen: alioquin, si, quisquis ab imperatore vel a iudicibus ab eo missis poenas luit, continuo martyr est, omnes carceres martyribus pleni sunt, omnes catenae iudiciariae martyres trahunt, in omnibus metallis martyres aerumnosi sunt, in omnes insulas martyres deportantur, in omnibus poenalibus locis iuridico gladio martyres feriuntur; omnes ad bestias martyres subriguntur aut iussionibus iudicum vivi ignibus concremantur. c. Parm. 1,8,13 (400) Andernfalls, wenn jeder, der eine Strafe abbüsst, welche der Kaiser oder die von ihm gesandten Richter verhängt haben, automatisch ein Märtyrer ist, dann sind sämtliche Gefängnisse voller Märtyrer; alle vom Richter verordneten Ketten zerren in dem Fall Märtyrer hinter sich her; in allen Bergwerken schuften sich dann Märtyrer ab; auf alle Verbannten-Inseln deportiert man Märtyrer; an allen Hinrichtungsstätten werden Märtyrer vom Richtschwert getroffen; Märtyrer sind dann alle, die man wilden Tieren vorwirft oder gemäss richterlichem Befehl auf Scheiterhaufen bei lebendigem Leib verbrennt. Die Strafe Christi: ubi dolores acerrimi exagitant, cruciatus vocatur, a cruce nominatus. pendentes enim in ligno crucifixi clavis ad lignum pedibus manibusque confixi producta morte necabantur. non enim crucifigi hoc erat occidi; sed diu vivebatur in cruce, non, quia longior vita eligebatur, sed, quia mors ipsa protendebatur, ne dolor citius finiretur. (…) modo in poenis reorum non est apud Romanos: ubi enim domini crux honorata est, putatum est, quod et reus honoraretur, si crucifigeretur. in evang. Ioh. 36,4 (414-417) Da, wo ungewöhnlich peinigende Schmerzen einen umtreiben, spricht man von Kreuzigung, was nach dem Wort ‹Kreuz› gebildet ist. Einst nämlich nagelte man zur Kreuzigung Verurteilte mit Füssen und Händen aufs Holz, hängte sie am Stamm auf und liess sie allmählichen Todes sterben. Denn gekreuzigt zu werden hiess nicht einfach, umgebracht zu werden; vielmehr lebte man am Kreuz noch lange weiter - nicht, weil man ein längeres Leben erwählt hatte, sondern, weil der Todes-Zeitpunkt möglichst hinausgezögert wurde, damit die Qual nicht allzu rasch ein Ende finde. (…) Heute gibt es bei den Römern im Katalog der Strafen für Beklagte die Kreuzigung nicht mehr; seit nämlich das Kreuz des Herrn Gegenstand der Verehrung wurde, kam man zur Ansicht, der Verurteilte würde ja geehrt, wenn er ans Kreuz geschlagen würde. <?page no="70"?> Der Blick auf Schwächere 70 Kreuzigung (einst von Konstantin abgeschafft) will dennoch nicht verschwinden; vermutlich wenig später schreibt Augustin - wieder das Crescendo des Grauens - über lobenswerte Geduld: si quis (…), ne Christum neget, patitur tribulationes, angustias, famem, nuditatem, persecutionem, pericula, carceres, vincula, tormenta, gladium vel flammas vel bestias vel ipsam crucem (…). pat. 26,23 (417-418) Wenn einer (…), um Christus nicht zu verleugnen, Not leidet, Drangsal, Hunger, Nacktheit, Verfolgung, Gefahren, Gefängnis, Fesseln und Folter, endlich Schwert oder Feuer oder wilde Tiere oder sogar Kreuzigung (…). <?page no="71"?> 71 Leben unter christlichen Idealen W 9 Seelenführung Gefährdung, Bescheidung, Stress und Terror carissimo filio Marcellino Augustinus episcopus, servus Christi servorumque Christi, in domino salutem. pecc. mer. 3 praef. (411-412) Den hochgeschätzten Sohn Marcellinus grüsst im H ERRN Augustinus, Bischof, Diener Christi und Diener SEINER Diener. praepositi sumus, et servi sumus. praesumus, sed, si prosumus. serm. Guelf. 32,3 (410-412) Ich bin Vorgesetzter, und ich bin Diener. Ich bin über andere gesetzt, doch nur, wofern ich dienlich bin. episcopus-servus servorum / praepositi-servi / praesumus-si prosumus: Augustins Auftrag birgt eine ausserordentliche Spannung zwischen Hoch und Niedrig. Wie kommt er damit zurande? Gefährdung feliciores sunt, qui audiunt, quam, qui loquuntur. qui enim discit, humilis est; qui autem docet, laborat, ut non sit superbus, ne male placendi affectus irrepat; ne deo displiceat, qui vult placere hominibus. magnus tremor est in docente, fratres mei, magnus tremor est noster in his vocibus nostris. credite cordi nostro, quod videre non potestis. scit ipse, qui mitescat nobis, qui propitius sit nobis, cum quanto sub illo tremore ad vos loquimur. in psalm. 50,13 (411-413) Glücklicher sind, die hören dürfen, als, die sprechen müssen. Wer nämlich lernt, ist demütig; wer aber lehrt, muss sich bemühen, nicht hochmütig zu sein, damit nicht das Bedürfnis sich einschleicht, in unguter Weise zu gefallen; damit nicht, der den Menschen gefallen will, Gott missfalle. Heftiges Zittern ist im Lehrenden, meine lieben Brüder; heftiges Zittern ist jetzt in mir, wo ich zu euch spreche. Glaubt es meinem Herzen, da ihr es nicht sehen könnt. Es weiss es nur ER , der mir milde gestimmt, der mir gewogen sein möge, unter wie heftigem Zittern ich in seinem Angesicht zu euch spreche. <?page no="72"?> Leben unter christlichen Idealen 72 Tiefer Ernst sieht die doppelte Gefährdung, gegenüber Gott eine sachliche, gegenüber den Lernenden vor allem eine moralische. - Feinste Selbstbeobachtung sagt das gleiche so: tutius enim veritas auditur quam praedicatur, quoniam, cum auditur, humilitas custoditur; cum autem praedicatur, vix non subrepit cuivis hominum quantulacumque iactantia. in evang. Ioh. 57,2 (418) Gefahrloser ist es, die Wahrheit zu hören, als, sie zu predigen; denn, wenn man sie hört, bewahrt man Demut; wenn man sie aber predigt, schleicht sich - bei Jedem! - ein wenn auch noch so geringes Hochgefühl nur unter Mühen nicht ein. Inhaltliche Zweifel am eigenen Tun fehlen nicht: Sie können unvermutet und wie ein Schluchzen hochkommen: catechumenis dico: (…) eligite vobis in ecclesia dei, quos imitemini! - si non inveneritis, heu mihi, deus meus! (…) per tot annos tot homines sine causa baptizavimus, si non ibi sunt, qui servent, quod acceperunt; qui custodiant, quod audierunt. - absit a me, ut hoc credam! melius non vobis essem episcopus, si hoc ita est. sed spero esse; credo esse. - inde est autem misera conditio mea, quia plerumque cogor adulteros nosse, castos nosse non possum. in occulto est, unde gaudeam; in publico est, unde torquear. serm. 392,6 (? ) Zu den Taufanwärtern sage ich: (…) Wählt euch jemanden aus der Gemeinde Gottes als Vorbild! - Wenn ihr keinen findet, weh mir, mein Gott! (…) Über so viele Jahre hin hätte ich dann so viele Menschen grundlos getauft, wenn es unter ihnen nicht welche gibt, die bewahren können, was sie empfangen, die behüten können, was sie gehört haben. - Fern sei mir, dass ich dies glauben muss! Besser wäre ich dann nicht euer Bischof, wenn es so ist. Doch ich hoffe, es gebe <solche Gemeindeglieder>; ich will glauben, es gibt sie. - Von da her stammt meine elende Verfassung, dass ich mich gezwungenermassen so oft mit Ehebrechern auseinandersetzen muss, mit Anständigen jedoch diese Möglichkeit nicht habe. Unauffällig ist, worüber ich mich freuen kann; auffällig die Quelle meiner Qual. <?page no="73"?> W 9 Seelenführung 73 ego officium meum impleo: fructum vestrum quaero. de bonis operibus vestris gaudium volo habere, non pecuniam. non enim, qui bene vivit, divitem me facit, et tamen bene vivat, et facit. divitiae meae non nisi spes vestra in Christo. gaudium meum, solatium meum et respiramentum periculorum meorum in his temptationibus nullum est nisi bona vita vestra. obsecro vos, si obliti estis vestri, miseremini mei! serm. 232,8 (400-413) Ich erfülle meine Pflicht: ich habe euren Gewinn vor Augen. Aus euren guten Werken will ich meine Genugtuung schöpfen, nicht materielle Güter. Denn, wer recht lebt, macht mich nicht reich, und dennoch: er lebe recht, und er erreicht dies. Mein Reichtum liegt allein in meiner Hoffnung für euch auf Christus. Meine Freude, mein Trost und Aufatmen von meinen Gefährdungen in den Versuchungen hienieden liegt allein in eurem rechten Leben. Ich flehe euch an: Solltet ihr euer vergessen haben, so erbarmt euch wenigstens meiner! Aus solchen Texten spricht ein erstaunliches Mass an Selbstunsicherheit. Wie muss es erst tönen, wenn Augustin tatsächlich einen Fehler begangen hat, wenn ihm tatsächlich ein Missgriff unterlaufen ist? Dies ist einmal geschehen. Der Brief ist an Papst Coelestin gerichtet: me sane, quod confitendum est beatitudini tuae, in isto utrorumque periculo tantus timor et maeror excruciat, ut ab officio cogitem gerendi episcopatus abscedere et me lamentis errori meo convenientibus dedere -, si per eum, cuius episcopatui per inprudentiam suffragatus sum, vastari ecclesiam dei et, quod ipse deus avertat, etiam cum vastantis perditione perire conspexero. beide Seiten: des ungeeigneten Bischofs wie seiner Gemeinde epist. 209,10 (422-423) Mich quält wahrlich - ich will es Deiner Seligkeit gestehen - angesichts der Gefahr für beide Seiten solche Angst und Betrübnis, dass ich beabsichtige, von meiner Bischofs- Verpflichtung zurückzutreten und mich Klagen hinzugeben, die meinem Irrtum angemessen sind -, falls ich erkenne, dass durch ihn, dessen Wahl zum Bischof ich unklug befürwortet habe, die Kirche Gottes zerrüttet wird und dass sie, was Gott abwende, zusammen mit dem Sturz ihres Verheerers zugrunde geht. Weltuntergangs-Stimmung! <?page no="74"?> Leben unter christlichen Idealen 74 Bescheidung utcumque me dicentem, fratres, accipite cum venia, obsecro vos, magis intuentes, quid coner, quam, quid explicem. novi, quae loquar, et, quis loquar: divina - hominibus - homo! serm. 8,17 (411-415) Wie immer ich mich auszudrücken suche, meine Brüder, vernehmt mich mit Nachsicht; ich bitte euch inständig darum. Schaut mehr darauf, was ich unternehme, als was ich entfalten kann. Ich weiss, was ich in Sprache fassen soll, und bin mir bewusst, wer ich bin, der ich es zu sagen suche: Göttliches - für Menschen - als ein Mensch! ego, fratres, qui suscepi loqui vobis, cogitandus sum a vobis: qui susceperim et quae susceperim. suscepi enim tractanda divina homo, spiritalia carnalis, aeterna mortalis. in evang. Ioh. 18,1 (414-417) Ihr müsst euch, meine Brüder, bewusst sein, wer ich bin, der ich zu euch zu sprechen unternommen habe: wer es ist und was es ist. Unternommen habe ich nämlich, zu handeln von Göttlichem als Mensch, von Geistlichem als Fleischlicher, von Ewigem als Sterblicher. Es wäre reines Übelwollen, wollte man in solchen Aussagen nur Rhetorik oder Taktik sehen. - Jeden Verdacht auf Formelhaftes lässt folgende Fassung des selben Gedankens hinter sich: ego, quoniam ille seminat, quid sum? vix cophinus seminantis: ipse in me ponere dignatur, quod vobis spargat. discipl. 1,1 (? ) Ich selber - weil ER denn Sämann ist - was bin ich? Nur das Säe-Tuch des Sämanns: E R geruht in mich zu füllen, was ER über euch ausstreuen will. Das Bedürfnis, das intellektuelle Ungleichgewicht zu dämpfen, hat oft Ausdruck gesucht. Kühn der Versuch des jungen Augustin, seinen Zuhörern ebenfalls «Apostel»-Funktion zuzuerkennen: putatis, quia nos soli stantes hic annuntiamus Christum, et vos non annuntiatis? unde ad nos veniunt, christiani volentes esse, quos numquam vidimus, quos non novimus, quibus numquam praedicavimus? an forte crediderunt nullo annuntiante? in psalm. 96,10 (396-404) Meint ihr, dass ich hier allein es bin, der Christus verkündet, ihr aber nicht? Warum kommen Leute zu mir mit dem Wunsch, als Christen zu leben, Leute, die ich niemals gesehen habe, die ich nicht kenne, denen ich niemals gepredigt habe? Sind die etwa zum Glauben gekommen, weil ihn niemand ihnen verkündet hat? <?page no="75"?> W 9 Seelenführung 75 Augustin hebt die Gemeinde bewusst auf seine Höhe und gewinnt dadurch ihre Zuneigung umso sicherer. - Dasselbe erreicht auch das umgekehrte Verfahren, Angleichung des Sprechers an seine Zuhörer: quod ego erogo vobis, non est meum. quod manducatis, manduco; unde vivitis, vivo. commune habemus in caelo cellarium; inde enim venit verbum dei. serm. 95,1 (? ) Was ich euch austeile, ist nicht mein. Was ihr esst, das esse auch ich; woraus ihr lebt, daraus lebe auch ich. Zusammen haben wir eine Vorratskammer im Himmel; von da her kommt Gottes Wort. quaeris ergo, cum audis ‹deus est Christus›, qualis deus Christus? audi mecum! non, inquam, me audi, sed mecum. in hac enim schola omnes sumus condiscipuli; caelum est cathedra magistri nostri. Katheder: vgl. Is 66,1 serm. 261,2 (397-418) Wenn du hörst, ‹Christus ist Gott›, fragst du also, was für ein Gott denn Christus sei. Höre es mit mir zusammen an! Nicht mich höre an, sage ich, sondern: mit mir zusammen höre es an. Denn in dieser Schule sind wir allesamt Mitschüler; das Katheder unseres Meisters, das ist der Himmel. <?page no="76"?> Leben unter christlichen Idealen 76 Eines seiner schönsten Worte der Bescheidung entwickelt Augustin in ablehnender Anlehnung an eine Stelle im Werk des früher viel bewunderten und später viel verleugneten Cicero: Romani maximus auctor Tullius eloquii nullum umquam verbum, inquit de quodam, quod revocare vellet, emisit. quae quidem laus, quamvis praeclarissima videatur, tamen credibilior est de nimium fatuo quam de sapiente perfecto. nam et illi, quos vulgo moriones vocant, quanto magis a sensu communi dissonant magisque absurdi et insulsi sunt, tanto magis nullum verbum emittunt, quod revocare velint; quia dicti mali vel stulti vel incommodi paenitere utique cordatorum est. sed, si in bonam partem accipiatur, ut quempiam talem fuisse credamus, qui, cum sapienter omnia loqueretur, nullum umquam verbum, quod revocare vellet, emisit, hoc potius de hominibus dei, qui spiritu sancto acti locuti sunt, quam de illo, quem sic Cicero laudat, saluberrima pietate credendum est. ab hac ego excellentia tam longe absum, ut, si nullum verbum, quod revocare vellem, protulero, fatuo sim quam sapienti similior. Romani…: Lucan. 7,62f nullum…: Cic. frg. inc. I 11 Mueller epist. 143,3 (411-412) Der grosse Meister römischer Rede, Tullius, sagt von jemandem: Nie hat er ein Wort geäussert, das er hätte zurücknehmen wollen. Dieses Lob mag zwar einzigartig scheinen, ist aber doch eher glaubhaft, wenn es sich auf einen ausgemachten Dummkopf als auf einen vollendeten Weisen bezieht. Denn gerade die, welche man allgemein Toren nennt, äussern, je weiter sie von normalem Denken abweichen und je mehr ihnen Sinn und Verstand abgeht, umso mehr nur Worte, die sie nicht zurücknehmen wollen. Denn, sich zu ärgern über ein schiefes oder törichtes oder unpassendes Wort, kennzeichnet ganz besonders den Verständigen. Doch, wenn wir den Ausspruch gutwillig in Ciceros Sinn auffassen, dass wir also glauben, es habe einmal so einen Menschen gegeben, der, weil er alles immer klug und verständig sagte, nie ein Wort sprach, das er hätte zurücknehmen wollen, dann muss man dies in förderlicher Frömmigkeit doch eher von den Männern Gottes glauben, die vom heiligen Geist geleitet gesprochen haben, als von dem, den Cicero in dieser Weise lobt. Von solcher Vollkommenheit bin ich jedenfalls derart weit entfernt, dass ich, wollte ich nur Worte sprechen, die ich nicht zurückzunehmen brauchte, einem Dummkopf ähnlicher wäre als einem Weisen. <?page no="77"?> W 9 Seelenführung 77 Stress multa mihi legenda misisti, Consenti frater carissime; multa mihi legenda misisti. quibus rescripta dum praeparo et aliis atque aliis magis urgentibus occupationibus distrahor, emensus est annus atque in eas me detrusit angustias, ut quomodocumque rescriberem, ne arridente iam tempore navigandi perlatorem remeare cupientem diutius detinerem. c. mend. 1,1 (420) Umfängliche Lektüre hast du mir zugeschickt, lieber Bruder Consentius; umfängliche Lektüre hast du mir zugeschickt. Während ich Antwort-Texte vorbereitete, von andern Beschäftigungen dringenderer Art aber wieder und wieder davon weggerufen wurde, ist ein Jahr vergangen und hat mich nun in eine derartige Klemme getrieben, dass ich auf jeden Fall eine Antwort verfassen muss, um deinen Boten, der angesichts des gegenwärtig günstigen Reisewetters seine Rückfahrt anzutreten begehrt, nicht länger hinzuhalten. Der Briefbote müsste offenbar - nach erst einem Jahr! - den Rückweg (auf die Balearen-Insel Menorca) noch nicht unbedingt antreten; doch lädt das Wetter förmlich dazu ein. Zeit, so scheint es, wird hier «in grossen Bissen» genossen. Die ausladende Doppelung des ersten Satzes scheint diesen Befund zu bestätigen: Augustin blättert, während er ihn diktiert, die überreiche Post des Consentius gleichsam noch einmal gemächlich durch. Genaueres Hinsehen lässt aber erkennen, dass zwar nicht für den Boten, aber für Augustin das genaue Gegenteil gilt. Ein ganzes Jahr ist verstrichen, weil er ein Jahr lang ununterbrochen von einer Aufgabe zur andern gehetzt worden ist. Schonungslos stuft Augustin was er von Consentius empfangen hat, als wenig dringlich ein: weniger dringlich als alle Anfragen eines ganzen Jahres! Und der erste Doppelsatz erscheint nun (erst recht mit seiner auffälligen Betonung der Quantität statt der Qualität) in einem ganz andern Licht. - Mit geistvoll heiterem Ernst kann Augustin sich für eine verspätete Antwort entschuldigen, etwa gegenüber dem von ihm hoch geschätzten Marcellinus. Dabei begründet Augustin die Hintansetzung der Antwort mit - Marcellins grosser Glaubensstärke: caritas enim, quae tamquam nutrix fovet filios suos, non ordine amandi, sed ordine subveniendi infirmiores fortioribus anteponit, quos tales vult esse, quales iam illi sunt, quos non contemnendo, sed de his confidendo interim praeterit. epist. 139,3 (411-412) Die Liebe nämlich, die ihre Kinder wie eine Amme umhegt, tut das nicht nach dem Grad ihrer Liebe zu ihnen, sondern nach dem von deren Hilfsbedürftigkeit, und so zieht sie den stärkeren die schwächeren vor, die sie ebenso kräftig wünscht, wie die andern schon sind, und so übergeht sie sie einstweilen, nicht weil sie sie nicht achtete, sondern weil sie darauf vertraut, dass sie noch durchhalten können. <?page no="78"?> Leben unter christlichen Idealen 78 Augustin hat keine Schonzeit gekannt: Bereits in den ersten Jahren seiner Kirchen-Verpflichtung erlebt und erleidet er seine alltägliche Wirklichkeit als eine hektische Folge von Zeit-Tropfen: ad longam quidem epistulam conscribendam magis mihi otium quam facultas defit occupatissimo scilicet ecclesiasticis curis, a quibus pauculae temporum stillae vix recreant vel cogitantem aliquid vel ea, quae magis urgent et mihi videntur pluribus profutura, dictantem vel reficientem corporis vires nostrae necessarias servituti. epist. 261,1 (397-418) Dir ausführlich zu schreiben, dazu fehlt mir mehr die freie Zeit als die Befähigung; bin ich doch über und über beschäftigt mit kirchlichen Obliegenheiten, und höchstens ganz wenige Tropfen Zeit erlauben mir, über etwas nachzudenken, oder das, was besonders drängt und, wie mir scheint, einem grösseren Kreis von Nutzen ist, zu diktieren, oder neue Kräfte zu sammeln, die für meinen Dienst notwendig sind. Das Bild der Wasseruhr verfolgt ihn: sed, mi frater, et tu credo, quod noveris, quanta sint in manibus meis, quibus ob diversas curas, quas nostrae servitutis necessitas habet, vix mihi paucissimae guttae temporis stillantur; quas aliis rebus si inpendero, contra officium meum mihi facere videor. (…) omnes carissimi et familiarissimi mei (…) rem facient officii sui, si non solum alia mihi scribenda ipsi non inponant, verum etiam ceteros quanta possunt auctoritate et sancta benignitate prohibeant. epist. 110,5f (398-399) Doch auch du, lieber Bruder, weisst, glaube ich, wie Grosses in meinen Händen liegt, für welches mir wegen der verschiedenartigen Obliegenheiten, die der Zwang meines Dienstes mit sich bringt, höchstens ganz, ganz wenige Tropfen Zeit zufallen, und wenn ich diese für andere Dinge verwende, so dünkt mich schon, ich verstosse gegen meine Pflicht. (…) Alle meine engsten Brüder (…) werden ihre Pflicht tun, wenn sie nicht nur selber mir keine andern Themen aufbürden, sondern erst recht mit vollem Gewicht und ernster Milde alle andern davon abhalten. quibus ut non continuo responderem, in alia atque alia diversarum occupationum tempestate direptus sum. unde nunc stillam vacantis temporis nactus respondere aliquid malui quam (…). epist. 180,1 (416) Darauf konnte ich, hin und her geworfen im Sturm bald dieser, bald jener Verpflichtung, nicht sogleich antworten. Jetzt aber, wo ich zum Glück einen Tropfen freie Zeit aufgefangen habe, will ich dir lieber eine Antwort geben als (…). Während das Bild der Zeit-Tropfen dank seiner Wiederholung Augustin noch einige Distanz zum Besprochenen erlaubt, tönt eine andere, im Werk alleinstehende Umschreibung seiner Daseinsbedingung alarmierend: er sei «überflutet von Geschäften und eingeschnürt und eingemauert von wuchtigen Massen anderer Obliegenheiten» (epist. 187,1,2: occupatissimo aliarumque curarum <?page no="79"?> W 9 Seelenführung 79 molibus vallato et obstricto). - Wie sieht denn der Albtraum aus, an dem Augustin beinahe erstickt? Meisterhaftes Stenogramm des bischöflichen Alltags: corripiendi sunt inquieti, pusillanimes consolandi, infirmi suscipiendi, contradicentes redarguendi, insidiantes cavendi, imperiti docendi, desidiosi excitandi, contentiosi cohibendi, superbientes reprimendi, desperantes erigendi, litigantes pacandi, inopes adiuvandi, oppressi liberandi, boni approbandi, mali tolerandi, omnes amandi. serm. 340,3 (? ) unecht? Unruhige Geister muss man zur Ordnung rufen, Verzagten Mut zusprechen, der Schwachen sich annehmen, Widersprechende vom Gegenteil überzeugen, vor Heimtückischen auf der Hut sein, Unwissende belehren, Bequeme aufrütteln, Streitsüchtige in die Schranken weisen, Überhebliche mässigen, Hoffnungslose aufrichten, Prozessierende zum Frieden bringen, Mittellosen weiterhelfen, Verhaftete befreien, Guten Beifall zollen, Böse ertragen, alle lieben. «…alle lieben»: Was ernst gemeint ist, wird als Schlussglied dieser Reihe zum unfreiwilligen Hohn. - Der nicht selten undankbare «diplomatische» Brückenschlag zwischen den Bereichen Kirche und Staat kostet den Bischof Augustin oft unerträglich viel Kraft: saepe de nobis dicitur: «quare it ad illam potestatem? » et «quid quaerit episcopus cum illa potestate? » et tamen omnes nostis, quia vestrae necessitates nos cogunt venire, quo nolumus. observare, ante ostium stare, intrantibus dignis et indignis exspectare, nuntiari, vix aliquando admitti, ferre humilitates, rogare, aliquando impetrare, aliquando tristes abscedere. quis vellet haec pati, nisi cogeremur? dimittamur; non illa patiamur; nemo nos cogat! serm. 302,17 (400) Oft wird über mich gesagt: «Warum geht er auf jenes Amt? » und «Was fädelt der Bischof mit jenem Beamten ein? » Und doch wisst ihr alle, dass es eure Bedrängnisse sind, die mich zwingen zu gehen, wohin ich nicht will: Respekt bekunden - vor dem Tor stehen bleiben - warten, während Würdige und weniger Würdige eintreten - sich melden lassen - mit knapper Not endlich vorgelassen werden - Demütigungen hinnehmen - bitten - hie und da Gehör finden - manchmal niedergeschlagen wieder weggehen -: wer wollte das ertragen, es sei denn, unter Zwang! Entlasst mich daraus; ich will es nicht mehr tragen; keiner zwinge mich mehr dazu! Übergewissenhaft sieht Augustin in seinen vielen Verpflichtungen ebensoviele Gelegenheiten, etwas falsch zu machen - wofür es sich zu entschuldigen gilt: diversarum ergo curarum aestibus ac difficultatibus conturbatus si quem forte non, ut poscebat, audivi, Wenn ich - vom Schwall verschiedenartiger Obliegenheiten und Schwierigkeiten ganz irre gemacht - jemanden vielleicht nicht, wie er es verlangte, anhörte, <?page no="80"?> Leben unter christlichen Idealen 80 si quem tristius, quam opus erat, aspexi, wenn ich einen ärgerlicher als nötig anblickte, si in quem verbum durius, quam oportebat, emisi, wenn ich an jemanden ein Wort richtete, das härter war als nötig, si quem corde contribulatum et opis indigum responsione incongrua conturbavi, wenn ich jemanden, der in seinem Herzen bedrückt und der Hilfe bedürftig war, mit einer unangemessenen Antwort verstörte, si quem pauperem mihi forte in aliud intento importunius instantem vel praetermisi vel distuli vel etiam nutu aspero contristavi, wenn ich einen Armen, weil er mir, der ich grad auf anderes konzentriert war, zu recht ungelegener Zeit zusetzte, überging oder vertröstete oder auch mit einem barschen Wink betrübte, si cui de me falsi aliquid tamquam homini de homine suspicanti iusto acerbius indignatus sum, wenn ich mich über jemanden, weil er, als Mensch, von einem Menschen, von mir etwas Unzutreffendes argwöhnte, bitterer als recht entrüstete, si quis in sua conscientia non agnovit, quod de illo humanitus suspicatus sum -, wenn <umgekehrt> einer in seinem Gewissen nicht anerkennen konnte, was ich allzu menschlich von ihm argwöhnte -, vos, quibus pro his atque huiusmodi offensis esse me fateor debitorem, simul me vestrum credite dilectorem. serm. 383,3 (? ) so glaubet mir, der ich gestehe, für diese und ähnliche Kränkungen euer Schuldner zu sein, dass ihr mir lieb und teuer seid. (Und wieder ist Liebe befehlsgemäss das letzte Wort.) - Sehnsüchtig umreisst Augustin das Ideal eines ausgeglichenen mönchischen Lebens: multo mallem per singulos dies certis horis, quantum in bene moderatis monasteriis constitutum est, aliquid manibus operari et ceteras horas habere ad legendum et orandum aut aliquid de divinis litteris agendum liberas. op. monach. 29,37 (400-401) Viel lieber möchte ich Tag für Tag zu bestimmten Stunden (so wie es in gut geleiteten Klöstern üblich ist) mit meinen Händen eine Arbeit verrichten und dafür über alle andern Stunden frei verfügen können, zu Lektüre und Gebet oder zu einer Arbeit an Texten der Bibel. Doch solche Bedingungen haben sich bei Augustin erst vier Jahre vor seinem Tod eingestellt. <?page no="81"?> W 9 Seelenführung 81 Terror (…) ut, quando ei aliquid dixeris, propter bonam vitam, propter spem vitae aeternae et propter timorem ignis aeterni, apud se subsannet aut, si talis est, ut audeat coram te, os torqueat et dicat: «quis huc inde reversus est? dicunt sibi homines, quod volunt.» - et christianus est! in psalm. 134,18 (411-414) Wenn man ihm etwas sagt hinsichtlich eines anständigen Lebens, der Hoffnung aufs ewige Leben und der Angst vor dem ewigen Feuer, lacht er bei sich selbst nur darüber, oder, wenn er es vor dir wagt, schneidet er eine Grimasse und sagt: «Wer ist denn von dort hieher zurückgekommen? Die Leute glauben doch, was sie wollen! » - Und so einer ist Christ! Kann Augustin tiefer gekränkt werden? Die Antwort eines hochsensiblen Menschen müsste lauten: Rückzug in die Studierklause! quid mihi est oneri esse hominibus? accepi, quomodo vivam. vivam, quomodo iussus sum, quomodo praeceptus sum. adsignem, quod accepi! de aliis reddere rationem quo mihi? evangelium me terret! - nam ad istam securitatem otiosissimam nemo me vinceret; nihil est melius, nihil dulcius quam divinum scrutari nullo strepente thesaurum. dulce est, bonum est. praedicare autem arguere, corripere, aedificare, pro unoquoque satagere: magnum onus, magnum pondus, magnus labor. quis non refugiet istum laborem? sed terret evangelium. serm. 339,4 (395-400) Wozu den Menschen zur Last fallen? Hab ich doch begriffen, wie ich leben soll. So werde ich eben leben, wie ich geheissen bin, wie mir vorgeschrieben ist. Ich besiegle doch, was ich empfangen habe! Wozu über andere Menschen Rechenschaft ablegen? Doch mich schreckt das Evangelium! - Ginge es um intensivstes Studium, frei von äusseren Verpflichtungen: keiner könnte mich schlagen. Nichts wäre besser, nichts anziehender als fern vom Lärm das göttliche Schatzhaus zu durchforschen. Anziehend wäre es, gut wäre es! Verkünden aber, das heisst: anderes für falsch erklären, zur Ordnung rufen, Aufbau-Arbeit leisten, sich für einen jeden abquälen: eine Riesenlast, ein Riesengewicht, ein Riesenwerk. Wer wird nicht fliehen vor solch einer Mühsal? Doch mich schreckt das Evangelium! Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium allen, die erschaffen sind! Diese Last etwa ist in Wahrheit unendlich schwer. Wer würde angesichts dieser Aufgabe (Mk 16,15) nicht verzagen? Oder, worauf Augustin hier anspielt, das Gleichnis (Lk 19,11ff) von den anvertrauten Pfunden, mit denen es zu wuchern gilt. So «schreckt» das Evangelium. - Wer nun aber in Schrecken versetzt worden ist, versetzt - beinah unausweichlich - andere in Schrecken! Das kann äußerst subtil geschehen: <?page no="82"?> Leben unter christlichen Idealen 82 vide, quid ait: qui credit in eum, non iudicatur; qui autem non credit… quid dicturum speras, nisi ‹iudicatur›? - iam, inquit, iudicatus est. Joh 3,18 in evang. Ioh. 12,12 (414-417) Sieh, was er sagt: Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt… was erwartest du, dass er sagen werde, wenn nicht: ‹der wird gerichtet›? - er sagt aber: der ist bereits gerichtet. Oder es kann gnadenlos hart geschehen: ignis in conspectu eius ardebit. non erit iste ignis sicut focus tuus. quo tamen si manum mittere cogaris, facies, quidquid voluerit, qui hoc minatur: si tibi dicat ‹scribe contra caput patris tui, scribe contra capita filiorum tuorum; nam, si non feceris, manum tuam mitto in focum tuum›, facies, ne ardeat manus tua, ne ardeat ad tempus membrum tuum, non semper in dolore futurum. - minatur ergo inimicus tam leve malum, facis malum. minatur deus aeternum malum, et non facis bonum? Psalm 49,3 in psalm. 49,7 (400-412) Feuer wird vor seinem Angesicht brennen. Dieses Feuer wird nicht <harmlos> sein wie dein Herdfeuer. Zwar, wenn einer dich zwingen will, deine Hand da hineinzustecken, wirst du doch tun, was immer der will, der dich damit bedroht. Wenn er zu dir sagt: ‹Unterschreibe dieses Zeugnis gegen deinen Vater, unterschreibe dieses Zeugnis gegen deine Söhne; denn wenn du es nicht tust, stecke ich deine Hand hier ins Feuer›, dann wirst du unterschreiben, damit deine Hand nicht verbrennt, damit nicht eine zeitlang eines deiner Glieder brenne, auch wenn es nicht für immer schmerzen wird. - Dein Feind bedroht dich also mit einem flüchtigen Übel, und du tust das Böse. Gott bedroht dich mit dem ewigen Übel, und du tust nicht <einmal> das Gute? nescio quo autem modo, cum ignis nominatur in die iudicii futurus, omnes contemnunt, et, flammas foci timentes, flammam gehennae pro nihilo ducunt. quae est ista duritia, quae tanta perversitas cordis! serm. 362,9,9 (410-411) Wenn man das Feuer am Tag des Jüngsten Gerichts zur Sprache bringt, bleiben alle - ich weiss nicht, warum - kalt, und bei aller Angst vor den Flammen im eigenen Herd achten sie die Flammen in der Hölle für nichts. Was ist das für eine Verhärtung, was für eine Verkehrtheit des Herzens! Natürlich liegt nicht Perversion vor. Der Priester hat nur unzählige Stunden meditativer Autosuggestion seinen Hörern «voraus». Ihm wird rein Sprachliches Realität; ihnen bleibt Sprachliches Sprachliches! <?page no="83"?> W 9 Seelenführung 83 fratres, nimis timidus esse volo. melius est enim non vobis dare securitatem malam. non dabo, quod non accipio. timens terreo. securos vos facerem, si securus fierem. ego ignem aeternum timeo. in psalm. 80,20 (403-411) Liebe Brüder, ich will meine Angst einmal deutlich herauskehren. Besser ist es ja, euch nicht in ungute Sorglosigkeit zu versetzen. Ich werde nicht weitergeben, was ich nicht empfange. Ich habe Angst: also schaffe ich Schrecken. In Sorglosigkeit würde ich euch versetzen, wenn ich sorglos wäre. Ich habe Angst vor dem ewigen Feuer! ne tardes converti ad deum neque differas de die in diem. subito enim veniet ira eius et in tempore vindictae disperdet te. - numquid ego hoc scripsi? numquid ego delere illud possum? si delevero, timeo deleri. tacere illud possum: timeo tacere; praedicare cogor. territus terreo. timete mecum, ut gaudeatis mecum! Jesus Sirach 5,7 serm. 40,5 (395-400) Zögere nicht, dich zu Gott zu bekehren, und verschiebe es nicht von Tag zu Tag. Denn plötzlich wird sein Zorn ausbrechen, und zur Zeit der Rache wird er dich vernichten. - Habe vielleicht ich das geschrieben? Kann ich das vielleicht tilgen? Wenn ich es tilge, fürchte ich getilgt zu werden. Ich könnte es verschweigen: Ich fürchte mich, es zu verschweigen; ich werde gezwungen, es zu verkünden. In Schrecken versetzt, muss ich in Schrecken versetzen. Fürchtet euch zusammen mit mir, damit ihr einst mit mir zusammen euch freuet! timens terreo; territus terreo (und ähnlich mehrfach): Muss christliche Seelensammlung und Seelenführung unter Terror erfolgen? Unter doppeltem Leiden: des Priesters und seiner Gemeinde! - Ein letzter Text mag zeigen, unter welchen Peitschenhieben seines Gottes Augustin sich durch seine Pflichten zwängt: revocabo errantem, requiram perditam. velis nolis id agam. et si me inquirentem lanient vepres silvarum, per omnia angusta me coartabo; omnes sepes excutiam; quantum mihi virium terrens dominus donat, omnia peragrabo. revocabo errantem, requiram pereuntem. serm. 46,14 (408-411) Ich werde <das Schaf> zurückrufen, wenn es irre gehen will; ich werde es suchen, wenn es verloren gegangen ist. Wohl oder übel werde ich das tun. Und wenn mich beim Suchen die Dornen des Gestrüpps zerfleischen, werde ich mich dennoch durch alle Engnisse zwängen. Alle Verzäunungen werde ich durchstöbern. Soviel Kraft wie mir der Herr, Quell meines Schreckens, schenkt: alles werde ich durchdringen. Zurückrufen werde ich, was irre gehen will, und suchen, was verloren gehen will. Der letzte Satz ist fast identisch mit dem ersten Satz. Der Suchgang Augustins nach Verlorenen und Irrenden verläuft also auf einer Linie, die in sich zurückkehrt. Jahrzehntelanges Kreisen! Immer Gestrüpp, immer Dornen, immer Qual - und immer Schrecken. «Frohe Botschaft»? <?page no="84"?> Leben unter christlichen Idealen 84 W 10 Liebe margarita pretiosa caritas kostbare Perle Liebe in epist. Ioh. 5,7 Zum Phänomen der Liebe, dem Zentrum der christlichen Botschaft, hat sich Augustin unzählige Male geäussert. Das Motiv hat lateinisch drei verschiedene Gewänder: amor, caritas und dilectio. Diese Bezeichnungen werden oft nicht gegeneinander abgegrenzt; Augustin kann sie sogar, gestützt auf den Sprachgebrauch der Bibel, ausdrücklich zu Synonymen erklären: civ. 14,7. - Hier folgt eine karge Auswahl von Texten. Weitere finden sich da und dort in andere Themen verwoben. Zur Theorie der Liebe intus agite vobiscum, ut desideretis diem iudicii. aliter non probatur perfecta caritas, nisi, cum coeperit ille dies desiderari. vgl. 1 Joh 4,17 in epist. Ioh. 9,2 (407-416) Haltet es bei euch so, dass ihr euch nach dem Tag des Jüngsten Gerichts sehnt. Anders nämlich lässt sich die Liebe eines Menschen nicht prüfen und für vollkommen befinden als dadurch, dass er mehr und mehr diesen gefürchteten Tag herbeiwünscht. Befremdliche Empfehlung! Spricht hier ein eingefleischter Masochist zu angehenden Masochisten? nescio quo enim inexplicabili modo, quisquis se ipsum, non deum amat, non se amat, et quisquis deum, non se ipsum amat, ipse se amat! qui enim non potest vivere de se, moritur utique amando se; non ergo se amat, qui, ne vivat, se amat. cum vero ille diligitur, de quo vivitur, non se diligendo magis diligit, qui propterea non se diligit, ut eum diligat, de quo vivit. in evang. Ioh. 123,5 (418) In irgendwie unerfindlicher Weise liebt, wer sich selber liebt und nicht Gott, nicht sich selbst, und, wer Gott liebt und nicht sich selber, der liebt sich selbst! Wer nämlich nicht aus sich selber leben kann, stirbt jedenfalls, indem er sich liebt; also liebt sich nicht, wer sich mit dem Ergebnis, dass er stirbt, liebt. Hingegen, wenn einer den liebt, aus dem man lebt, so liebt er, indem er nicht sich liebt, <sich> mehr; denn er liebt deshalb nicht sich, damit er den lieben kann, aus dem er lebt. <?page no="85"?> W 10 Liebe 85 Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3. Mose 19,18): Selbstliebe, Mass der Nächstenliebe, ist nur legitim unter der Bedingung, dass wir Gott lieben; ja, von Selbstliebe darf paradoxerweise nur gesprochen werden, wenn sie ihren Platz ohne Rest der Gottesliebe abgetreten hat! Wahre Selbstliebe ist nichts anderes als Gottesliebe. - Von da her fällt etwas Licht auf den ersten Text: Sehnsucht(! ) nach dem Tag des Gerichts impliziert rückhaltloses liebendes Einverständnis mit Gott als dem fraglos gerechten Richter. Wer das zustande brächte, besässe Liebe von höchster Reinheit. So wie für Augustin im zweiten Text Selbstliebe Gottesliebe ist, so ist ihm im ersten Text Liebe unausgesprochen Gottesliebe. Das Liebesgebot des Alten Testaments spricht vom Nächsten, den es zu lieben gelte. Wie sehen hier die Bedingungen aus? neque enim vera dilectione diligeremus invicem, nisi diligentes deum. diligit enim unusquisque proximum tamquam seipsum, si diligit deum. in evang. Ioh. 87,1 (418) Wir würden ja einander nicht mit wahrer Liebe lieben, wenn wir nicht Gott liebten. Es liebt ein jeder seinen Nächsten wie sich selbst, wenn er Gott liebt. So wie die Selbstliebe notwendig an der Gottesliebe hängt, so tut es die Nächstenliebe. Liebe zu Gott ist Voraussetzung auch für rechte Nächstenliebe. - Ein konkretes Beispiel: ein Sohn, ein Vater, ihr Gott: est inhumanum non amare in homine, quod homo est, sed amare, quod filius est. hoc est enim non in eo amare illud, quod ad deum pertinet, sed amare illud, quod ad se pertinet. vera relig. 248 (389-391) Es wäre horizontlos, an einem Menschen nicht zu lieben, was er als Mensch ist, und vielmehr zu lieben, was er als Sohn ist. Denn das hiesse, an ihm nicht zu lieben, was sich auf Gott bezieht, sondern das zu lieben, was sich auf einen selbst bezieht. Will ein Vater seinen Sohn in der richtigen Weise lieben, darf er Gott nicht aus dem Spiel lassen. Das täte er, wenn er in seinem Sohn allein seinen Sohn sähe; das wäre falsch verwirklichte Selbstliebe in erweiterter Form. Ihn richtig zu lieben, heisst vielmehr, in ihm das Geschöpf Gottes zu lieben. Woher aber nimmt der Mensch die Kraft, nicht nur: zu lieben, sondern: in jeder Liebe, damit es wahre Liebe sei, Gott zu lieben? <?page no="86"?> Leben unter christlichen Idealen 86 ipse enim pater, inquit, amat vos, quia vos me amastis. - ideo amat ille, quia nos amamus, an potius, quia ille amat, ideo nos amamus? ex epistola sua evangelista idem ipse respondeat: nos diligimus, inquit, quia prior ipse dilexit nos. hinc ergo factum est, ut diligeremus, quia dilecti sumus. prorsus donum dei est diligere deum. ipse, ut diligeretur, dedit, qui non dilectus dilexit. displicentes amati sumus, ut esset in nobis, unde placeremus. (…) amorem itaque nostrum pium, quo colimus deum, fecit deus. Joh 16,27; 1 Joh 4,10 in evang. Ioh. 102,5 (418) Denn er selbst, der Vater, sagt Christus, liebt euch, weil ihr mich geliebt habt. - Liebt Gott uns deshalb, weil wir lieben, oder lieben wir nicht viel eher, weil er uns liebt? - Der selbe Evangelist antworte aus seinem Brief heraus: Wir lieben, schreibt er, weil zuerst er selbst uns geliebt hat. So wurde es möglich, dass wir lieben konnten: weil wir geliebt wurden. Ein Geschenk Gottes ist es, dass wir Gott lieben können. Er hat selber gegeben, dass er geliebt werden könne: ohne geliebt zu sein, hat er geliebt! Obschon wir ihm nicht gefallen konnten, sind wir geliebt worden: es sollte in uns etwas sein, aufgrund dessen wir gefallen könnten. (…) Und so hat er unsere vertrauende Liebe bewirkt, mit der wir Gott verehren. unde autem diligeremus, nisi prius diligeremur? in evang. Ioh. 82,2 (418) Wie könnten wir lieben, wenn wir nicht zuvor geliebt würden? Gott ist Liebes-Quell. Des Menschen Liebe ist in jedem Fall Wieder-Liebe, ein «redamare». Denn Gottes Liebe zum Menschen geht, als notwendiger Kraftstrom, der Liebe des Menschen zu Gott vorauf. Die Liebe des Menschen zu Gott ihrerseits geht der Liebe des Menschen zum Nächsten vorauf, weil erst die Liebe zu Gott dessen Wirkkraft im Mitmenschen lieben lehrt, im Nächsten also die Menschenliebe Gottes erlebt, erkennt und anerkennt. - Gott vermittelt der Liebe des Menschen auch ihre Dynamik: ille enim veraciter amat amicum, qui deum amat in amico, aut, quia est in illo, aut, ut sit in illo. serm. 336,2 (? ) Der liebt seinen Freund wahrhaft, der im Freund Gott liebt, sei es, dass Gott im Freund ist, oder, damit Gott in ihm sein möge. «oder damit Gott in ihm sein möge»: Nächstenliebe heisst also nicht nur (wie bisher), im Nächsten Gott zu lieben; Nächstenliebe heisst auch, im Nächsten Gott in der rechten Weise einzupflanzen. <?page no="87"?> W 10 Liebe 87 quos poteritis, rapite ad deum. inimicus est? rapiatur ad deum. filius est, uxor est, servus est? rapiatur ad deum. peregrinus est? rapiatur ad deum. inimicus est! rapiatur ad deum. rape, rape inimicum! rapiendo non erit inimicus; sic proficiatur. - sic caritas nutriatur, ut nutrita perficiatur. serm. 90,10 (411-420) Wen ihr könnt, reisst mit euch fort zu Gott! Ist es dein Feind? Reiss ihn zu Gott! Ist es dein Sohn, deine Gattin, ist es dein Sklave? Reiss ihn mit zu Gott. Ist es ein Fremder? Reiss ihn zu Gott. Es ist dein Feind! Reiss ihn mit dir fort zu Gott. Reisse, reiss auch den Feind mit! So wird er nicht mehr dein Feind sein, wird Fortschritte machen. - In dieser Weise soll Liebe genährt, genährt und so vollendet werden. Der missionarische Zug liegt im Wesen der Liebe; denn «Liebe kann gar nicht müssig sein, ipsa dilectio vacare non potest» (in psalm. 31, enarr. 2,5); also: Gehet hin in alle Welt… (Mk 16,15). Wesen und Werke der Liebe: Texte zum Zweimal-Lesen Auch und gerade «körperliche» Liebe ist geistig überformt: amat aliquis lascivus et impudicus pulcherrimam feminam. movet quidem corporis pulchritudo, sed intus quaeritur amoris vicissitudo. si enim audiat, quod illa oderit eum, nonne omnis ille aestus et impetus circa membra pulchra frigescit et ab eo, quod intenderat, quodammodo resilit, avertitur, offenditur? odisse etiam ipse incipit, quod amabat. numquid forma mutata est? nonne ibi sunt omnia, quae illexerant? ibi sunt, et tamen ardebat in eo, quod videbat, et de corde exigebat, quod non videbat. - si vero cognoscat, quia vicissim amatur, quomodo vehementius inardescit! videt illa illum, videt ille illam, amorem nemo videt, et tamen ipse amatur, qui non videtur. serm. 34,4 (418) Ein Bursche ohne Hemmungen und Scham liebt eine bildschöne Frau. Den Reiz übt zwar die Schönheit ihres Leibes aus; doch innerlich sucht seine Liebe ihre Erwiderung. Wenn der Bursche nämlich hört, dass die Frau ihn widerwärtig findet, wird doch all sein drängendes Verlangen nach ihren schönen Gliedern erkalten und von seinem Ziel gleichsam zurückprallen, sich abwenden, sich beleidigt fühlen. Auch ihm wird nun widerwärtig, was er liebte. Ist die schöne Gestalt etwa hässlich geworden? Ist nicht vielmehr alles, was Anziehung ausgeübt hatte, noch da? Durchaus! und dennoch: Entflammt hatte ihn zwar, was er sah, doch von ihrem Herzen forderte er, was er nicht sah. - Sollte er dagegen erfahren, dass sie ihn wiederliebt, wie entbrennt er da erst recht heftig! Sie sieht ihn, er sieht sie, die Liebe sieht niemand, und dennoch wird eben sie geliebt, die keiner sieht. Wie einem ungeübten Publikum einen reinen Begriff wie ‹Liebe› anschaulich nahebringen? <?page no="88"?> Leben unter christlichen Idealen 88 qualem faciem habet dilectio? qualem formam habet? qualem staturam habet? quales pedes habet? quales manus habet? nemo potest dicere. habet tamen pedes; nam ipsi ducunt ad ecclesiam. habet manus; nam ipsae pauperi porrigunt. habet oculos; nam inde intellegitur ille, qui eget: beatus, inquit, qui intellegit super egenum et pauperem. habet aures, de quibus dicit dominus: qui habet aures audiendi, audiat. - non sunt membra distincta per locos; sed intellectu totum simul videt, qui habet caritatem. Psalm 11,2; Lk 8,8 in epist. Ioh. 7,10 (407-416) Wie sieht die Liebe aus? Was hat sie für ein Gepräge? Was hat sie für eine Gestalt? Was hat sie für Füsse? Was hat sie für Hände? - Keiner kann es sagen. Und doch hat sie Füsse; denn eben sie leiten zur Kirche. Sie hat Hände; denn sie spenden dem Armen. Sie hat Augen; denn mit ihnen erkennt man den Bedürftigen. Sie sagt: Selig, der sich des Bedürftigen und Armen annimmt. Sie hat Ohren, von denen der Herr sagt: Der Ohren hat, zu hören, der höre. - Es sind nicht Glieder an je unterschiedlichem Platz; vielmehr sieht, wer Liebe besitzt, in seinem Wahrnehmen das Ganze auf einmal. Meine Last ist leicht… Christi sarcina adeo levis est, ut levet: non cum illa vel ab illa premeris, sed sine illa non surges. talem tibi puta istam sarcinam, qualis est avibus sarcina alarum: alarum sarcinas si aves habuerint, sublevantur; si detractae fuerint, in terra remanebunt. (…) una ala est diliges dominum deum tuum ex toto corde tuo et ex tota anima tua et ex tota mente tua. sed noli ad unam alam remanere; nam, si unam habere te putas, nec ipsam habes. diliges proximum tuum tanquam te. nam, si fratrem, quem vides, non diligis, deum, quem non vides, quomodo potes diligere? Mt 11,30; Mt 22,37.39 serm. 68,12f (425-430) Die Last, die uns Christus auferlegt, ist derart leicht, dass sie uns leichter macht! Du wirst mit ihr oder von ihr nicht beschwert werden; vielmehr kannst du dich ohne sie nicht erheben! Stell dir diese Last so vor wie bei den Vögeln die «Last» ihrer Flügel. Wenn die Vögel ihre Flügellasten tragen, können sie auffliegen; wenn sie ihnen entfernt werden, müssen sie am Boden bleiben. (…) Der eine Flügel der Last Christi heisst: Liebe den Herrn, deinen Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte. Aber begnüge dich nicht mit diesem einen Flügel; wenn du nämlich meinst, du besitzest den einen, hast du nicht einmal den! Also: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Denn, wenn du deinen Bruder, den du doch siehst, nicht lieben kannst, wie könntest du dann Gott, den du nicht sehen kannst, lieben? Der letzte Satz referiert einen Gedanken aus dem ersten Brief des Johannes (1 Joh 4,20). Die Umkehrung ist ebenso bedenkenswert: Leichter lässt sich lieben, was nicht konkret wird. (Nur: ist es dann «Liebe»? ) <?page no="89"?> W 10 Liebe 89 Von der magischen Verwandlungskraft der Liebe: tantum enim valet animi compatientis affectus, ut, cum illi afficiuntur nobis loquentibus et nos illis discentibus, habitemus in invicem, atque ita et illi, quae audiunt, quasi loquantur in nobis, et nos in illis discamus quodammodo, quae docemus. nonne accidere hoc solet, cum loca quaedam ampla et pulchra, vel urbium vel agrorum, quae iam nos saepe videndo sine aliqua voluptate praeteribamus, ostendimus eis, qui antea numquam viderant, ut nostra delectatio in eorum novitatis delectatione renovetur? et tanto magis, quanto sunt amiciores, quia per amoris vinculum in quantum in illis sumus, in tantum et nobis nova fiunt, quae vetera fuerunt. catech. rud. 12,1f (399-400) So grosse Macht hat das Empfinden eines miterlebenden Herzens, dass - wenn sich <unsere Taufanwärter> an unsern Worten begeistern und wir uns an ihren Erkenntnis- Fortschritten - wir «ineinander wohnen»: Was sie von uns hören, sprechen sie gleichsam in uns, und wir lernen gewissermassen in ihnen, was wir sie lehren. Erleben wir nicht immer wieder, dass - wenn wir eine weite und schöne städtische oder ländliche Gegend, an der wir aus langer Gewohnheit nur noch ohne jede Freude-Empfindung vorübergingen, andern Leuten zeigen, die sie bisher nie gesehen haben - dass also unsere Freude in der Freude dieser Menschen wieder auflebt? Und dies umso mehr, je näher wir ihnen stehen; denn dank dem Band der Liebe wird, inwieweit wir in ihnen sind, insoweit auch für uns, was alt geworden war, neu. Muss es denn immer Gott sein, worauf sich unsere Liebe richten soll? quare ergo non amem, quod deus fecit? (…) non te prohibet deus amare ista; sed non diligere ad beatitudinem, sed approbare et laudare, ut ames creatorem. quemadmodum, fratres, si sponsus faceret sponsae suae anulum et illa acceptum anulum plus diligeret quam sponsum, qui illi fecit anulum, nonne in ipso dono sponsi adultera anima deprehenderetur, quamvis hoc amaret, quod dedit sponsus? certe hoc amaret, quod dedit sponsus; tamen, si diceret ‹sufficit mihi anulus iste, iam illius faciem nolo videre›, qualis esset! in epist. Ioh. 2,11 (407-416) Warum sollte ich denn nicht das lieben, was Gott geschaffen hat? (…) Gott hindert dich nicht daran, das zu lieben; nur sollst du es nicht lieben mit dem Ziel, daran glücklich zu werden, sondern es vielmehr als gut anerkennen und loben, damit deine Liebe für den Schöpfer frei bleibt. Nehmt, meine Brüder, ein Beispiel: Wenn ein Bräutigam seiner Braut einen Ring anfertigen liesse, sie den Ring ansteckte und den nun höher schätzte als ihren Bräutigam, der den Ring hat machen lassen - würde ihre Seele da nicht als Ehebrecherin erfunden werden, obgleich sie das liebte, was ihr der Bräutigam gegeben hat? Gewiss, sie würde das lieben, was ihr der Bräutigam gegeben; dennoch, wenn sie sagte, ‹ich habe genug an diesem Ring; sein Gesicht brauche ich nicht mehr zu sehen›, was wäre das für eine Braut! Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die grösste aber unter ihnen ist die Liebe. - Ist dieses wohl berühmteste Paulus-Wort eigentlich wahr? - Augustin gibt seine Antwort, indem er die Zuhörer an einer Paradies-Vision teilnehmen lässt: <?page no="90"?> Leben unter christlichen Idealen 90 cum viderimus, non dicetur iam fides. videbis enim, non credes. item ipsa spes: cum fuerit res, iam non speras. quod enim videt quis, quid sperat? ecce, cum pervenerimus, finitur fides, finitur spes. caritas quid? fides vertitur in speciem, spes vertitur in rem. iam species erit et res, non fides et spes. caritas quid? numquid potest ipsa finiri? si enim iam inflammabatur in id, quod non videbatur, utique, cum viderit, amplius inflammabitur. bene ergo dictum est: maior autem horum caritas, quoniam fidei species succedit, spei res succedit, caritati nulla res succedit. ipsa crescit, ipsa augetur, ipsa illa contemplatione perficitur. Röm 8,24; 1 Kor 13,13 serm. ed. Lambot 4 Wenn wir einst zum Schauen gekommen sind, wird man von Glauben nicht mehr sprechen können. Denn du wirst schauen, nicht glauben. Dasselbe gilt für die Hoffnung: Wenn Wirklichkeit sein wird, brauchst du nicht mehr auf sie zu hoffen. Was einer nämlich sieht, was erhofft er es noch? Also: Wenn wir einst hingelangt sind, kommt das Glauben zu seinem Ende, kommt das Hoffen zu seinem Ende. Und was wird mit der Liebe sein? Glauben wandelt sich zum Schauen, Hoffen wandelt sich zu Wirklichkeit. Nun wird Schauen sein und Wirklichkeit, nicht mehr Glauben und Hoffen. Und was mit der Liebe? Sie kann doch nicht aufhören! Denn, wenn sie je bereits entflammt wurde auf das hin, was noch nicht geschaut werden konnte, wird sie gewiss, wenn sie schauen wird, noch mehr entflammt werden. Zutreffend ist also gesagt: Die grösste aber unter ihnen ist die Liebe, weil ja an die Stelle des Glaubens das Schauen tritt, an die Stelle der Hoffnung deren Verwirklichung, doch nichts anderes an die Stelle der Liebe. Denn sie wächst, sie wird weit, sie eben kommt in der ersehnten Schau zur Vollendung. > Ahrendt <?page no="91"?> W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein 91 W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein omne cor omni cordi clausum est. Jedes Herz ist jedem Herzen verschlossen. in psalm. 55,9 (411-413) omnis quippe homo est omni homini proximus. Jeder Mensch ist ja einem jeden Menschen der nächste. in psalm. 118, serm. 8,2 (419-422) Unser zwischenmenschlicher Standort oszilliert offenbar zwischen einem goldenen Anspruch und der ehernen Wirklichkeit. Gibt es Gründe für dieses Schwanken? Blindheit quis enim homo iudicat de homine? temerariis iudiciis plena sunt omnia! - de quo desperaverimus, subito convertitur et fit optimus. de quo multum praesumpserimus, subito deficit et fit pessimus. nec timor noster certus est, nec amor noster certus est. - quid sit hodie quisque homo, vix novit ipse homo. tamen utcumque ipse, quid hodie; quid autem cras, nec ipse. serm. 46,27 (408-414) Wer denn darf sich - da er doch nur Mensch ist - ein Urteil über einen andern Menschen erlauben? Von vorschnellen Urteilen aber wimmelt die Welt! - Für wen wir all unsere Hoffnung aufgegeben haben, der wandelt sich unversehens und wird ausnehmend wertvoll. Auf wen wir kühne Hoffnungen gesetzt hatten, der fällt zurück und wird geradezu untauglich. Weder kann unsere Befürchtung feststehen, noch kann unsere Zuneigung feststehen. - Was man heute sei: kaum weiss man es selber. Dennoch: mag einer immerhin wissen, was er heute sei; was aber morgen, weiss er nicht. Immer wieder hat Augustin diese Klage angestimmt. Offensichtlich spiegeln sich darin eigene Erfahrungen und Erlebnisse in der Welt klösterlichen Zusammenlebens: <?page no="92"?> Leben unter christlichen Idealen 92 per has autem humanorum cordium tenebras res multum miranda et multum dolenda contingit, ut eum nonnumquam, quem iniustum putamus - et tamen iustus est, et iustitiam in eo nescientes diligimus! -, devitemus, aversemur, a nostro prohibeamus accessu, communem cum illo vitam victumque habere nolimus eumque etiam, si disciplinae imponendae necessitas cogit, sive, ne aliis noceat, sive, ut fiat ipse correctior, asperitate salubri persequamur et hominem bonum tamquam malum affligamus - quem nescientes amamus. in evang. Ioh. 90,2f (418) Aufgrund dieser Blindheit des menschlichen Herzens ergibt sich eine höchst verwunderliche und höchst beklagenswerte Tatsache, dass wir nämlich nicht selten einem Menschen, den wir für ungerecht halten - und dabei ist er gerecht, und die Gerechtigkeit, die, von uns unbemerkt, in ihm steckt, lieben wir ja! -, aus dem Weg gehen, uns von ihm abwenden, ihm eine Annäherung verwehren, nicht wünschen, mit ihm Leben und Tisch zu teilen, und sogar, wenn wir mit Strenge eingreifen müssen, ihn mit vermeintlich heilsamer Härte verfolgen, damit er nicht andern schade, oder damit er selbst sich bessere, und so den Trefflichen, als wäre er verderbt, demütigen - und ihn doch, ohne es zu ahnen, lieben. Die «Blindheit des menschlichen Herzens» sieht nicht nichts, sondern gleichsam eine Hälfte: possunt quippe homines videre, quod agimus; cuius autem rei contemplatione agamus, occultum est. et ideo datur suspicionibus locus, ut audeat homo iudicare de occultis hominum - et falsa plerumque, et, si vera, tamen incognita temere suspicari. (…) hoc enim proclivius homo suspicatur in alio, quod sentit in seipso. in psalm. 118, serm. 12,4 (419-422) Die andern Menschen können zwar sehen, was wir tun; doch, aus was für Überlegungen wir es tun, ist ihnen verborgen. Und so ergibt sich Raum für Vermutungen, sodass der Mensch bezüglich des in seinen Mitmenschen Verborgenen ein Urteil wagt - ein falsches meistenteils und, wenn es einmal wahr ist, dennoch eine blinde Spekulation über Unbekanntes. (…) Mit besonderer Bereitwilligkeit vermutet er im andern, was er bei sich selbst erlebt. So ergibt sich das Paradox, dass der Mensch angesichts seiner Unkenntnis des Motivs einer Handlung sich für berechtigt hält, dieses, meist in seinem Sinn verfärbt, zu erfinden. - Nicht allein der Grund einer Handlung lässt sich willkürlich ergänzen, sondern auch ihr Ziel: <?page no="93"?> W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein 93 (…) cum libenter alterius opprobrium nonnisi aemulatio suspicetur, dum bonum opus reprehendi non potest, quia se asserit, quod apertum est, et, quo fine fiat, reprehenditur, quia non se exserit, quod occultum est. atque ita male suspicari eum libet, cui libet, non videndo, quod latet, et invidendo, quod eminet. in psalm. 118, serm. 12,5 (419-422) Missgunst vermutet mit Vorliebe am Mitmenschen einen Makel. Denn, weil sie ein gutes Werk nicht tadeln kann (da sich behaupten kann, was offen daliegt), tadelt sie, zu welchem Ziel es geschieht, da sich nicht zeigt, was noch verborgen ist. Und so kann, wem es gefällt, Gefallen haben an bösen Verdächtigungen, da er nicht sieht, was noch verborgen ist, und neidisch sieht, was schon hervortritt. Aus diesem Dunst von Blindheit und Bosheit gibt es einen Ausweg: Wir müssen vom Mitmenschen bewusst gross denken: deinde etiam illud cogitandum nullum esse hominem, qui non possit habere aliquod bonum, quod tu nondum habes, etiam si lateat, in quo sine dubio possit te esse superior. (…) non hoc ita debemus existimare, ut nos existimare fingamus; sed vere existimemus posse esse aliquid occultum in alio, quo nobis superior sit, etiam si bonum nostrum, quo illo videmur superiores esse, non sit occultum. divers. quaest. 71,5 (388-397) Weiter muss man auch folgendes bedenken: dass kein Mensch existiert, der nicht irgendeinen Vorzug an sich haben kann, den du noch nicht besitzest, auch wenn verborgen ist, worin er dir ohne Zweifel überlegen sein kann. (…) Dies dürfen wir nicht etwa in der Weise glauben, dass wir es nur zu glauben vorgeben; vielmehr müssen wir aufrichtig daran glauben, dass im andern irgend etwas verborgen sein kann, worin er uns übertrifft - selbst wenn unser eigener Vorzug, worin wir ihn zu übertreffen scheinen, nicht verborgen ist. Naiv-jugendlicher Optimismus? - Kaum; denn kurz darauf lesen wir, was wie ein Widerruf klingt: saepe autem illa, quae bona sunt, prius apparent. in quibus etiam temerarium benivolentiae iudicium cavendum est, ne, cum totum bonum putaveris, ea, quae postea mala apparuerint, securum et imparatum te inveniant et gravius offendant, ut eum, quem temere dilexeras, acerbius oderis, quod nefas est. divers. quaest. 71,6 (388-397) Oft aber zeigt sich, was <an einem Menschen> gut ist, früher als das andere. Hierbei muss man sich vor einem vorschnell wohlwollenden Urteil hüten, damit, wenn man alles für gut hält, das, was sich später als schlecht erweist, einen nicht arglos und unvorbereitet findet und einen dann besonders heftig verletzt, sodass man den, dem man unbesonnen mit Liebe begegnet war, umso herber hasst - was unrecht wäre. Offensichtlich hat es Augustin nicht am richtigen Mass und an der Fähigkeit gefehlt, zum Mitmenschen die je sinnvolle Distanz zu halten. Illusionslos stellt er fest: <?page no="94"?> Leben unter christlichen Idealen 94 quis enim vivat in hac terra non habens inimicum? serm. 56,10,14 (410-412) Wer kann denn auf dieser Erde leben ohne einen Menschen, der ihm feindlich gegenübersteht? Solcher Realismus darf aber nicht in Hass abgleiten: qui odit fratrem suum, ambulat, exit, intrat, procedit - nullis catenis oneratus, nullo carcere inclusus; reatu tamen ligatus est. noli illum putare sine carcere esse: carcer eius cor eius est. serm. 211,2 (410-415) Wer seinen Bruder hasst, der geht umher, geht aus, geht ein, tritt auf - von keinen Ketten beschwert, in keinen Kerker eingesperrt, und doch von Schuld gebunden. Glaub nicht, er sei ohne Kerker: sein Karzer ist sein Herz! carcer eius / cor eius: peitschendes Wort-«Spiel»! dicis mihi: ‹quid est odisse? et quid mali est, quia odit homo inimicum suum? › - odisti fratrem tuum! sed, si odium contemnis, audi, quod non attendis: qui odit fratrem suum, homicida est. - qui odit, homicida est. (…) non venenum parasti; non ad percutiendum inimicum cum gladio processisti; non ministrum sceleris praeparasti, non locum, non tempus; postremo ipsum scelus non fecisti. tantum odisti - et prius te quam illum occidisti! 1 Joh 3,15 serm. 49,7 (418) Du sagst zu mir: «Was ist das schon: Hassen! Was soll daran schlecht sein, dass ein Mensch seinen Feind hasst? » - Du hassest deinen Bruder! Wenn du aber den Hass auf die leichte Schulter nimmst, nimm wenigstens dieses Wort schwer: Wer seinen Bruder hasst, ist ein Mörder. - Wer hasst, ist ein Mörder. (…) Du hast nicht Gift bereitet; bist nicht mit dem Schwert ausgezogen, den Feind zu erschlagen; hast nicht einen Helfershelfer für dein Verbrechen gedungen, nicht den Ort bestimmt und nicht die Zeit; hast überhaupt das Verbrechen gar nicht begangen; hast nur gehasst - und hast, noch vor ihm, schon dich gemordet! Augustins suggestive Formulierung, die Assonanz odisti - occidisti, «beweist» akustisch, dass im Hass eigentlich schon ein Mord, der Mord an der eigenen Seele enthalten ist. - Es gibt einen Ausweg: schmal, schwierig, doch salomonisch: inter haec scandala unum est remedium, ne male sentias de fratre tuo: humiliter esto, quod vis eum esse, et non putabis eum esse, quod non es! in psalm. 30, enarr. 2, serm. 2,7 (411-415) Inmitten der Plagen hier auf Erden gibt es nur ein einziges Heilmittel, nicht schlecht von deinem Mitmenschen zu denken: Sei in aller Demut, wie du wünschest, dass er sei, und du wirst nicht denken, er sei, was du nicht bist! <?page no="95"?> W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein 95 Mitmensch sein Augustin wird nicht müde, die echten Formen wahrer Mitmenschlichkeit zu rühmen: alius habet pecuniam. pascat pauperem, vestiat nudum, aedificet ecclesiam; operetur de pecunia, quidquid boni potest. alius habet consilium. regat proximum, pellat tenebras dubitationis luce pietatis. alius habet doctrinam. eroget de cellario domini, ministret conservis cibaria, confortet fideles, revocet errantes, quaerat perditos; quantum potest, faciat. est, quod sibi erogent etiam pauperes: alius claudo pedes accommodet, alius caeco suos oculos duces praebeat; alius visitet infirmum, alius sepeliat mortuum. sunt ista in omnibus, ut prorsus difficile inveniatur aliquis, qui non habeat, unde aliquid alteri praestet. serm. 91,7,9 (nach 400) Einer hat viel Geld. Er speise den Armen, kleide den Nackten, baue eine Kirche; er wirke aus seinem Vermögen, was immer an Gutem er wirken kann. Ein anderer hat überlegene Einsicht. Er leite seinen Nächsten und vertreibe die Düsternis des Zweifels mit dem Licht gläubigen Vertrauens. Wieder einer besitzt das rechte Wissen. Er schöpfe aus der Vorratskammer des H ERRN , liefere den andern Dienern die nährenden Mittel, stärke die Glaubenden, rufe die Irrenden auf den rechten Weg zurück und suche die Verlorenen; er tue, soviel er nur kann. Auch die Armen haben Möglichkeiten, einander wohlzutun: Einer helfe mit seinen gesunden Füssen dem Lahmen aus; ein anderer mache seine Augen dem Blinden zum Führer; wieder einer besuche den Kranken; ein anderer beerdige den Toten. Solche Möglichkeiten stehen bei allen; so ist es wahrhaft schwierig, einen zu finden, der nicht irgendein Vermögen hat, einem andern einen Dienst zu erweisen. aliquando et dives invenitur pauper, et a paupere praestatur illi aliquid: venit nescio quis ad flumen, tanto delicatior, quanto ditior. transire non potest: si nudatis membris transiret, frigesceret, aegrotaret, moreretur. accedit pauper, exercitatior corpore. traicit divitem; eleemosynam facit in divitem! - ergo nolite eos tantum putare pauperes, qui non habent pecuniam. in quo quisque pauper est, ibi illum vide! quia forte tu in eo dives es, in quo ille pauper est, et habes, unde accommodes. in psalm. 125,13 (405-415) Manchmal wird ein Reicher für arm befunden, und ein Armer kann ihm einen Dienst erweisen: Es kommt einer ans Flussufer, je reicher, umso verzärtelter. Er kann nicht hinüber: müsste er mit nackten Gliedern hindurchwaten, bekäme er kalt, würde krank, könnte sterben. Da erscheint ein Armer, körperlich ganz abgehärtet. Er trägt den Reichen hinüber; er spendet also dem Reichen ein Almosen! - Ihr dürft daher nicht denken, dass arm nur die seien, die kein Geld haben. Worin einer arm ist, darauf lerne bei ihm schauen! Denn vielleicht bist du in dem Punkt reich, in welchem der andere arm ist, und du kannst ihm dienlich sein. <?page no="96"?> Leben unter christlichen Idealen 96 Ein scheinbares Nichts kann genügen, Mitmensch zu sein: seminate, quantum potestis. - sed parum habes, unde facias. habes voluntatem? quomodo nihil esset, quod habes, si non adesset bona voluntas, sic et, quia non habes, noli esse tristis, si est tibi bona voluntas. quid enim seminas? misericordiam. et quid metes? pacem. numquid autem dixerunt angeli ‹pax in terra divitibus hominibus›? sed, pax in terra hominibus bonae voluntatis. Lc 2,14 in psalm. 125,11 (405-415) Säet, soviel ihr vermögt! - Du wendest ein, du habest zu wenig, es zu tun. Hast du guten Willen? So wie nichts wäre, was du hast, wenn du nicht den guten Willen hättest, so betrübe dich nicht, dass du nichts hast, wenn du den guten Willen hast. Was denn säst du? Mitleid. Und was wirst du ernten? Frieden. Haben die Engel etwa damals gesungen: Friede auf Erden den reichen Menschen? Nein, Friede auf Erden den Menschen guten Willens. Nicht nur aus sozialen Gründen fällt es dem Prediger leicht, fürs Almosen-Geben zu werben: ponis in manu pauperis, recipis de manu DIVITIS . (…) vides, quia, quibus das, in terra ambulant. quod das, in caelum portant et, cum portaverint ad caelum, non, quod das, hoc recipis. pro terrenis enim caelestia accepturus es, pro mortalibus immortalia, pro temporalibus sempiterna. (…) das, quod hic linquas; accipis, quod numquam perdas! serm. Lambot 5 (? ) Du legst ein Almosen in die Hand des Armen und erhältst aus der Hand des R EICHEN zurück. (…) Du siehst, dass die, denen du gibst, auf Erden wandeln. Deine Spende tragen sie in den Himmel, und wenn sie sie in den Himmel getragen haben, erhältst du nicht etwa nur sie zurück. Denn anstelle des Irdischen wirst du Himmlisches empfangen, statt des Sterblichen Unsterbliches, statt des Zeitlichen Ewiges. (…) Du gibst, was du ohnehin hier zurücklassen musst; du empfängst, was du niemals verlieren kannst! Almosen erobern also den Himmel - eine Position, die in Nordafrika prominent von Cyprian von Carthago († 258 als Märtyrer) vertreten worden war. Dieser Glaube an die Kraft der guten Werke mag erstaunen angesichts Gal 2,16 Denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtgesprochen werden, oder Rm 3,23f Alle haben ja gesündigt und ermangeln der Ehre vor Gott und werden gerechtgesprochen ohne Verdienst durch seine Gnade mittelst der Erlösung, die in Christus Jesus ist. - Der Glaube an gute Werke findet seinen wohl deutlichsten Ausdruck im Buch Tobias: eleemosyna liberat a morte. Tob 4,11 und Spr 10,2 serm. ed. Mai 128,5 (? ) Das Almosen errettet vom Tode. Unter ‹Tod› ist «secunda mors, der zweite Tod», zu verstehen, die Verwerfung der Seele am Tag des Jüngsten Gerichts. - Als hochwirksam fürs Seelenheil (weil <?page no="97"?> W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein 97 ökonomisch einschneidend spürbar) dürfte die Gemeinde der Gläubigen jenes «Almosen» eingeschätzt haben, das nicht für irgendwelche Bettler, sondern für die Kirche bestimmt war: unius filii tui serva locum domino tuo! quod enim dabis domino tuo, et tibi proderit et filiis tuis. quod autem male servas filiis tuis, et tibi oberit et filiis. dabis autem portionem unam, quam unius filii deputasti. deputa te unum amplius genuisse. (…) puto, fratres, quia parva et facilis cogitatio est: putare patrem filiorum habere unum filium amplius et comparare talia praedia, quae possideas in aeternum et ipse et filii tui. serm. 86,11,13f (? ) Reserviere den Platz eines Nachkommen für deinen H ERRN ! Denn was du deinem H ERRN schenken wirst, wird dir wie auch deinen Kindern nützen. Was du dagegen in unguter Art für deine Kinder zurückbehältst, wird dir wie auch den Kindern schaden. Mach also vielmehr einen Teil, den du als Teil eines Kindes vorgesehen hast, <dem H ERRN > zum Geschenk. Rechne, du habest ein Kind mehr gezeugt. (…) Ich denke, meine Brüder, dies setzt nur eine geringe und einfache Überlegung voraus: anzunehmen, der Vater der Kinder habe eines mehr, und das entsprechende Gut bereitzustellen - zum ewigen Besitztum für dich wie auch deine Kinder. Vorher weist der Prediger auf die hohe Kindersterblichkeit hin. Ein früh verstorbenes Kind sei nun aber nicht einfach nicht mehr vorhanden; es sei vielmehr bei Christus. Also gelte es, auch diesem Kind sein Erbteil bereitzuhalten. Beim Erbgang vertritt dann die Kirche das vorverstorbene Kind. <?page no="98"?> Leben unter christlichen Idealen 98 Kleine Kasuistik der Mitmenschlichkeit Hat Augustin, beredter Anwalt der Nächstenliebe, seinen hartnäckigen Gegenspieler Pelagius geliebt? Pelagium, quem credimus, ut ab alio distingueretur, qui Pelagius Terenti dicitur, Brittonem fuisse cognominatum, quod ut servum dei dilexeris, novimus; nunc autem quem ad modum diligas, ignoramus. nam et nos non solum dileximus, verum etiam diligimus eum; sed aliter nunc diligimus, aliter aliquando dileximus: tunc enim, quia nobis rectae fidei videbatur, nunc autem, ut ab his, quae inimica et adversa gratiae dei sentire dicitur, illius misericordia liberetur. nam cum hoc de illo aliquamdiu fama iactaret, non utique facile credendum fuit: solet quippe fama mentiri. sed propius, ut crederemus, accessit, quod librum quendam eius ea prorsus persuadere molientem, quae gratiam dei (…) de fidelium cordibus creditam deleant, legimus. epist. 186,1 (417) <Alypius und ich> wissen, dass du den Pelagius - der, wie wir glauben, mit dem Beinamen ‹der Brite› belegt worden war, damit er von einem andern Pelagius, dem Sohn des Terentius, unterschieden werden konnte - als einen Diener Gottes geliebt hast. In welcher Art du ihn aber heute liebst, ist uns unbekannt. Auch wir haben ihn ja nicht nur geliebt, wir lieben ihn noch immer. Allerdings lieben wir ihn heute anders, als wir ihn einst geliebt haben; damals nämlich, weil uns schien, er habe den rechten Glauben, heute dagegen, damit er von seinen der Gnade Gottes feindlichen, ihr zuwider laufenden Ansichten, die er hegen soll, durch die Barmherzigkeit Gottes befreit werde. Als nämlich über ihn eine zeitlang ein entsprechendes Gerücht umging, konnte man daran schwerlich glauben: Gerüchte lügen ja gewöhnlich. Doch nahmen wir es ernster, glaubten endlich daran, weil wir ein Buch von Pelagius zu lesen bekamen, das einen tatsächlich von etwas zu überzeugen sucht, das geeignet ist, den Glauben an Gottes Gnade (…) aus den Herzen der Gläubigen zu tilgen. «Pelagius, der, wie wir glauben»: ein Name, der das Individuum halt nur ungenügend definiert - «in welcher Art du ihn heute liebst»: suggeriert, dass auch der Adressat schwankend geworden sein sollte - «weil uns schien, er sei rechtgläubig»: schien! - sowohl «er habe den rechten Glauben» wie auch «damit er von seinen Ansichten befreit werde» ignorieren im Gegner den Menschen (den es, als Geschöpf Gottes, auch gemäss Augustin in jedem Fall zu lieben gilt) - «wir lieben ihn, damit»: zweckfreie Liebe? - Was wird durch das sechsmalige ‹Lieben› zugedeckt? Soll ein Herr sich bei seinem Diener für einen Fehler entschuldigen? <?page no="99"?> W 11 Von der Schwierigkeit, Mitmensch zu sein 99 aliquando dominus homo peccat in servum suum. (…) durum videtur, ut hoc etiam iubeam, hoc praecipiam, ut, si forte dominus peccat in servum suum iniuste litigando, iniuste caedendo, dicat ille: ‹ignosce mihi, da mihi veniam.› non, quia non debet facere, sed, ne ille incipiat superbire. quid ergo? ante oculos dei paeniteat eum, ante oculos dei puniat cor suum et, si non potest servo dicere, quia non oportet, ‹da mihi veniam›, blande illum alloquatur. blanda enim appellatio veniae est postulatio. serm. 211,4 (410-415) Manchmal sündigt ein Herr - auch nur ein Mensch - gegen seinen Diener. (…) Es erscheint allzu hart, wenn ich jetzt wünsche und anrate, dass, wenn der Herr sich gegen seinen Diener versündigt - indem er etwa in ungerechter Weise mit ihm streitet oder ihn ungerecht schlägt -, er zum Diener sagen soll: «Sieh es mir nach, vergib mir! » <Meine obige Forderung wäre zu hart> - nicht, weil er es nicht tun soll, sondern <im Gedanken>, der Diener könnte überheblich werden. Was also tun? Im Angesicht Gottes soll es dem Herrn leid tun, im Angesicht Gottes strafe er sein Herz und, wenn er zum Diener, da es nicht angezeigt wäre, nicht sagen kann: «Verzeih mir! », soll er ihm freundlich zureden. Freundlich mit ihm reden ist wie um Verzeihung ersuchen. Armer Diener! Sein Herr ist ein moralischer Zwerg, und die Kirche biegt Wörter zurecht. Sollen wir die Todesstrafe gutheissen oder ablehnen? duo enim nomina sunt: homo et peccator. hominem deus fecit, peccatorem se ipse homo fecit. pereat, quod fecit homo; liberetur, quod fecit deus. noli ergo usque ad mortem, ne, cum persequeris peccatum, perdas hominem. noli usque ad mortem, ut, si quem paeniteat, homo non necetur, ut sit, quem paeniteat. homo non necetur, ut sit, qui emendetur. hanc in corde retinens homo in homines dilectionem esto iudex terrae. et ama terrere, sed dilige! serm. 13,8 (412-418) Um zwei Worte geht es: um ‹Mensch› und ‹Sünder›. Den Menschen hat Gott geschaffen; zum Sünder hat sich der Mensch selber gemacht. Zugrunde gehe, was der Mensch gemacht hat; gerettet werde, was Gott geschaffen hat! Geh also nicht bis zum Tod, damit du, wenn du den Fehltritt verfolgst, nicht den Menschen vernichtest. Geh nicht bis zum Tod, damit, wenn jemand bereuen soll, nicht der Mensch getötet werde - sodass noch einer da ist, der bereuen kann. Der Mensch soll nicht getötet werden, damit noch einer da sei, der sich bessern kann. Wenn du als Mensch in deinem Herzen an der Liebe zu den Mitmenschen festhältst, magst du im Irdischen Richter sein. Liebe es, Schrecken zu verbreiten; doch vergiss dabei nicht die Liebe! Wohltuend die Eindeutigkeit der Stellungnahme gegen staatliche Brutalität; beängstigend dagegen der Schlusssatz: Das bengalische Licht des Wortzaubers blendet den Blick für das psychisch Mögliche und tötet so die Glaubwürdigkeit. - Das nächste Beispiel braucht einen Vorspann: <?page no="100"?> Leben unter christlichen Idealen 100 semel ergo breve praeceptum tibi praecipitur: dilige et, quod vis, fac! sive taceas, dilectione taceas; sive clames, dilectione clames; sive emendes, dilectione emendes; sive parcas, dilectione parcas. radix sit intus dilectionis; non potest de ista radice nisi bonum existere. in epist. Ioh. 7,8 (407-416) Ein für allemal wird dir folgende bündige Regel verordnet: Liebe, und, was du dann willst, das tu! Ob du schweigst, schweig aus Liebe; ob du dich laut äusserst, äussere dich aus Liebe. Ob du strafst, strafe aus Liebe; ob du es unterlässt, unterlass es aus Liebe. Drinnen in dir sei die Wurzel der Liebe; aus dieser Wurzel kann nur Gutes entspringen. Das Rezept für richtiges Handeln, gerade auch fürs Strafen, scheint also gefunden. quid dicam de vindicando vel non vindicando? quandoquidem hoc totum ad eorum salutem proficere volumus, in quos vindicandum aut non vindicandum esse arbitramur. quis etiam sit vindicandi modus, non solum pro qualitate vel quantitate culparum, verum etiam pro quibusdam viribus animorum: quid quisque sufferat, quid recuset; ne non solum non proficiat, sed etiam deficiat -: quam profundum et latebrosum est! inpendentem quoque vindictam metuentes, quae ab hominibus metuitur, nescio, utrum plures correcti sunt, quam in deterius abierunt. quid, cum saepe accidit, ut, si in quemquam vindicaveris, ipse pereat, si inultum reliqueris, alter pereat? ego in his cotidie peccare me fateor. (…) quis in his omnibus tremor, mi Pauline, sancte homo dei! quis tremor, quae tenebrae! epist. 95,3 (408-409) Was soll ich sagen über das Dilemma, zu strafen oder nicht zu strafen? Natürlich wünschen wir, dass das im gesamten zum Wohl derer anschlage, die wir glauben strafen oder eben nicht strafen zu sollen. Nicht nur, welches das richtige Strafmass sei im Verhältnis zu Art und Schwere der Verfehlungen, sondern auch im Hinblick auf die seelische Tragkraft der Betroffenen: was einer hinnehme, was einer von sich weise; dann die Befürchtung, dass er dabei nicht nur nicht gewinnt, sondern erst noch Schaden erleidet -: wie bodenlos und dunkel ist das! Weiter weiss ich nicht, ob in der Angst vor einer von Menschen drohenden Strafe wirklich mehr Straffällige gebessert worden als noch mehr auf Abwege geraten sind. Und was - eine häufige Erfahrung -, dass einer Schaden nimmt, wenn man ihn bestraft, wenn man ihn dagegen straflos lässt, ein anderer Schaden nimmt? Ich jedenfalls gestehe, dass ich auf diesem Gebiet täglich Fehler mache. (…) Wie sehr hat man in all diesen Dingen zu zittern, mein lieber Paulinus, ehrwürdiger Gottesmann! Wie muss man zittern; wie ist das finster! Wo es nicht mehr um eine lapidare Entscheidung wie ‹Leben oder Tod› geht, versagen auch bündige Regeln, versagt sogar das hochberühmte «dilige et, quod vis, fac». Nicht versagt, sondern gewonnen hat Augustin mit dem Eingeständnis seiner Ratlosigkeit. Wie schwierig bleibt es, Mitmensch zu sein! - doch wohl deshalb, weil «jedes Herz jedem Herzen verschlossen ist: omne cor omni cordi clausum est». Tief einsamer Augustin! <?page no="101"?> W 12 Der Prediger und sein Publikum 101 W 12 Der Prediger und sein Publikum ego sedens loquor vos stando laboratis ich sitze hier und rede und ihr quält euch weil ihr stehen müsst serm. 355,2 (425-426) In jüngern Tagen bricht Augustin, in Erinnerung an seine überseeische Erfahrung, eine Lanze für mehr Bequemlichkeit in der Kirche: saepe etiam fit, ut, qui primo libenter audiebat, vel audiendo vel stando fatigatus, non iam laudans, sed oscitans labia diducat et se abire velle etiam invitus ostendat. (…) longeque consultius in quibusdam ecclesiis transmarinis non solum antistites sedentes loquuntur ad populum, sed ipsi etiam populo sedilia subiacent (…) et ipsum dominum nostrum, cui assistunt angeli, sedens mulier audiebat! Anspielung auf Maria, die Schwester Marthas: Lk 10,39 catech. rud. 19,5ff (399-400) Oft kommt es auch vor, dass, wer zu Beginn gerne zuhörte, müde wird, sei es vom Zuhören oder vom Stehen, und den Mund nicht mehr zum Ausdruck des Beifalls öffnet, sondern weil er gähnen muss, und so unbeabsichtigt kundtut, dass er gerne heimginge. (…) Es zeugt von erheblich mehr Umsicht, wenn in etlichen Kirchen jenseits des Meeres nicht nur die Bischöfe im Sitzen zum Volk sprechen, sondern auch dem Volk Sitzgelegenheiten zur Verfügung stehen. (…) Schliesslich hat selbst unserem Herrn, um den sich doch die Engel scharen, eine <einfache> Frau sitzend zugehört! Jahre später sind die Reform-Hoffnungen verflogen: tecum est forte columna, iuxta quam stas, et, cum fatigatus fueris, incumbis in eam. in psalm. 49,18 (400-412) Vielleicht findet sich bei dir eine Säule; du stehst ganz dicht daneben und, wenn du müde geworden bist, lehnst du dich daran. Augustin macht sich kein Gewissen aus seinem stundenlangen Reden; hat er doch ein Vorbild in Gestalt des Paulus, der (Apg 20,7ff) bis Mitternacht predigt, dadurch den Todessturz eines übermüdeten, in einer Fensteröffnung sitzenden Jünglings auslöst und nach dessen erfolgreicher Wiederbelebung bis zum Morgengrauen weiterspricht. - Ein Lächeln, mit feinem Lob verbunden, kann versöhnen: Nach einer Märtyrer-Predigt blickt Augustin zurück: <?page no="102"?> Leben unter christlichen Idealen 102 longo sermone etiam nos tenere vestram patientiam non debemus. novimus, quia patienter audistis et diu stando et audiendo tamquam martyri compassi estis. serm. 274,1 (410-412) Auch ich darf eure Geduld nicht mit einer langen Predigt besetzt halten. Ich weiss, dass ihr geduldig zugehört habt und im langen Stehen und Aufpassen auch wie Märtyrer gelitten habt. Lächelnde Listen helfen nicht immer - vielleicht aber Flehen und Beschwörung: unus versus restat! peto sine taedio sit, quod dicturus sum. adtendite rem necessariam, fratres mei, adtendite, percipite, auferte vobiscum, et non sit inane semen dei in cordibus vestris. in psalm. 84,15 (400-411) Nur ein einziger Psalmvers ist übrig! Bitte lasst euch, was ich noch sagen will, nicht verdriessen! Gebt acht auf den unentbehrlichen Gedanken, liebe Brüder, gebt acht, erfasst ihn gut, tragt ihn mit nach Hause, und Gottes Same bleibe nicht taub in euren Herzen! Letzter Ausweg im Kampf gegen Überforderung und Übermüdung des Publikums: ein ernster Hinweis auf die höchste Instanz: intendat paululum caritas vestra adhuc modicum, quod restat. obsecro vos, ut excutiatis fatigationem. aderit I LLE , qui vobis usque ad hanc horam vires dedit. in psalm. 49,29 (400-412) Möge Eure Liebe die Aufmerksamkeit ein bisschen noch auf das Wenige richten, was folgt. Ich flehe euch an: schüttelt eure Müdigkeit ab! Beistehen wird DER , welcher euch bis zur jetzigen Stunde die Kräfte geschenkt hat. Nicht durchzuhalten, hiesse da, Gottes Kraft zu verleugnen! - Ein Lichtblick für das Publikum: eine Ankündigung folgender Art: psalmus, fratres, cum cantaretur, audistis, brevis est nec obscurus. quasi securitatem dederim, ne laborem timeatis. in psalm. 99,1 (403-412) Der heutige Psalm, liebe Brüder - als er gesungen wurde, habt ihr es wahrgenommen - ist kurz und nicht schwerverständlich. Ich kann euch so ziemlich versichern: Strapazen müsst ihr nicht befürchten. Dass der Prediger seinem Versprechen selber nicht ganz traut, verrät «quasi, so ziemlich». Er weiss: sein Feuer könnte ihn weit aufs Meer hinaustragen. Und nicht überraschend sind Augustins nächste Worte: videamus tamen adtentius et quanto liberius, tanto diligentius, quid sibi velint ea ipsa, quae aperte sonant. Schauen wir immerhin besonders aufmerksam hin - umso achtsamer, je weniger wir unter Druck sind -, was eben das bedeutet, was so leicht verständlich klingt. Und dann spricht Augustin während etwa einer Stunde. - Wenn sich eine Entschuldigung für eine allzu lang geratene Psalmen-Auslegung eigentlich nicht mehr <?page no="103"?> W 12 Der Prediger und sein Publikum 103 umgehen lässt, heisst das noch nicht, dass Augustin diese Last selber übernimmt: es gibt andere Schultern: intendite, ut simus in nomine Christi fortes christiani: iam modicum est, quod restat in psalmo, non fatigemur. quomodo enim fortis poterit esse in faciendo, qui deficit in audiendo? in psalm. 93,24 (407-414) Seid aufmerksam! Seien wir in Christi Namen tüchtige Christen! Es ist nicht mehr viel übrig im Psalm; so wollen wir der Müdigkeit nicht nachgeben. Wie nämlich wird einer im Verwirklichen tüchtig sein können, wenn er schon beim Hören nicht durchhält? Diese bittere Mahnung fällt etwa 30 Minuten vor Schluss. Nun ein paar Sätze aus den letzten Minuten: forte onerosa fuit vobis longitudo sermonis, quamquam in ista alacritate studii vestri non hoc appareat. sed, etsi ita est, ignoscite: primo, quia iussus feci; nam dominus deus noster per eos mihi fratres iussit, in quibus habitat. (…) in psalm. 93,30 (407-414) Vielleicht ist euch die Länge meiner Predigt beschwerlich geworden; zwar zeigt sich dies bei eurer lebhaften Teilnahme nicht. Wenn es doch so sein sollte, verzeiht! - erstens, weil ich auf fremden Wunsch gesprochen habe; denn der Herr, unser Gott, hat mich durch die Brüder, in denen er wohnt, so zu tun geheissen. (…) Der Rückbezug auf Gott mag befremden. Unverfrorenheit? - Der deutlichste Fall: psalmum nobis brevem paraveramus, quem mandaveramus cantari a lectore; sed ad horam, quantum videtur, perturbatus alterum pro altero legit. maluimus nos in errore lectoris sequi voluntatem dei, quam nostram in nostro proposito. si ergo vos in eius prolixitate aliquamdiu tenuerimus, nobis non imputetis, sed credatis deum nos non infructuose laborare voluisse. in psalm. 138,1 (nicht vor 410? ) Ich hatte einen kurzen Psalm präpariert und ihn dem Vorleser zum Gesang aufgetragen. Doch eben hat er, wie es scheint, in der Verwirrung, statt des gemeinten einen andern vorgelesen. Ich habe nun lieber den Willen Gottes im Irrtum des Vorlesers befolgen wollen als meinen eigenen in meinem Vorhaben. Wenn ich also, weil dieser Psalm sehr viel zu besprechen gibt, euch ziemlich lang in Beschlag nehmen werde, so rechnet es nicht mir an, sondern seid überzeugt, dass Gott wünschte, dass ich mich nicht fruchtlos mühe. Der direkte Bezug der eigenen Person auf Gott lässt vermutlich weniger einen Schluss auf Augustins Selbstwertgefühl als auf seine Achtsamkeit zu, die selbst noch in einer banalen Verwechslung das Walten des Höchsten zu erkennen bereit ist. - Selbstverständlich war das Kirchenvolk während derart langer Lehr-Vorträge nicht immer brav bei der heiligen Sache und ging oft menschlichere Wege. Eben ist das Stichwort ‹Goliath› gefallen; wer im Publikum kennt ihn? Nicht alle, sondern nur … <?page no="104"?> Leben unter christlichen Idealen 104 qui rudes non sunt in scripturis divinis, qui amant frequentare istam scholam, (…), qui non intra istos parietes domus suae curam gerunt et domesticis fabulis delectantur, ut ideo conveniant, ut inveniant, cum quibus loquantur nugatoria. serm. 32,2 (403) die, welche in den Heiligen Schriften keine Neulinge mehr sind, die diesen Ort der Lehre gerne und fleissig besuchen, (…), die in diesen Wänden nicht bei ihren häuslichen Geschäften sind oder sich mit Privat-Unterhaltung sosehr vergnügen, dass sie nur herkommen, um Bekannte zu treffen, mit denen sie gehaltloses Zeug austauschen können. Ähnliche Ausbrüche der Frustration sind eher selten. Weit überwiegen die Momente, wo Augustin seine Zuhörer für ihre Aufmerksamkeit und ihr aktives Mitgehen lobt; solet enim motu suo significare, utrum intellexerit, cognoscendi avida multitudo. doctr. christ. 4,10,25 (426-427) die Menge ist nämlich erpicht darauf, unterrichtet zu werden, und zeigt daher gerne durch eigene Bewegung an, ob sie begriffen hat. et breviter audistis et cito intellexistis. corda vestra non vidi; sed testes cordis voces audivi. serm. 164,2,3 (411) Kurze Zeit habt ihr zugehört und schon habt ihr begriffen. In euer Herz habe ich zwar nicht sehen können; doch als Zeugen des Herzens habe ich eure Stimmen vernommen. Unruhe im Publikum gilt es rasch aufzunehmen und geschickt zu handhaben. Ein schwieriger Satz, Juristensprache, löst Verwirrung aus: pignus enim quando datur, cum datum fuerit, propter quod pignus datum est, pignus auferetur. - iam multos vestrum intellexisse non dubito; video enim. sed ex collocutione, qua loquimini ad alterum, sentio eos, qui intellexerunt, velle exponere iis, qui nondum intellexerunt. ergo planius aliquanto dicam, ut ad omnes perveniat: accipis (…). serm. 23,8 (410-415) Wenn man nämlich ein Pfand hinterlegt hat, kann man es wieder auslösen, wenn man das, um dessentwillen man das Pfand hinterlegt hat, zurückerstattet hat. - [Unruhe] - Gewiss haben schon viele von euch begriffen; ich sehe es wohl. Doch daraus, dass ihr euch mit dem Nachbarn austauscht, entnehme ich, dass die, welche begriffen haben, den andern, die noch nicht begriffen haben, den Sachverhalt darzulegen suchen. Ich will ihn also um einiges verständlicher formulieren, damit er alle erreicht: Du erhältst (…). Ein glücklicher Moment: nicht der Prediger zieht die Gemeinde, vielmehr zieht die Gemeinde den Prediger mit sich: <?page no="105"?> W 12 Der Prediger und sein Publikum 105 ipse dicat: potestatem habeo ponendi animam meam… - nondum dixi, quod promisi; ponendi dixi. sed iam clamastis, quia praevolatis! eruditi quippe in schola magistri caelestis, tamquam lectiones intente audientes, pie reddentes, quid sequatur, non ignoratis. potestatem, inquit, habeo ponendi animam meam, et potestatem habeo iterum sumendi eam. Joh 10,18 serm. 52,4,13 (410-420) In seinen eigenen Worten: Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, - [Jubel] - Noch habe ich nicht gesagt, was ich habe hoffen lassen; hinzugeben habe ich gesagt. Doch schon habt ihr applaudiert, weil ihr vorausfliegt! Da ihr eben in der Schule des himmlischen Meisters unterwiesen seid, die Bibelstellen aufmerksam aufnehmt und getreu wieder hersagen könnt, wisst ihr natürlich, was folgt. Ich habe Macht, sagt er, mein Leben hinzugeben, und habe Macht, es wieder zu nehmen. Der Anlass zum Jubel ist natürlich, es wieder zu nehmen, Christi Garantie eines ewigen Lebens. - Ein anderes Mal nimmt Augustin das lebhafte «Vorausfliegen» zum Anlass für eine Mikro-Theorie des Lehrens und Lernens: Der Lehrende kann im Lernenden nur aktualisieren, was in diesem dank dem «inneren Lehrer Christus» (in epist. Ioh. 3,13) schon bereitliegt; andernfalls könnte kein Lernender je sagen: Ja, so ist es! video, quia clamando praevenitis. quid enim dicturus sum, scitis; clamando praevenitis. et hoc unde habetis, nisi, quia docuit, ad quem credendo venistis? hoc ergo dicit: - audite, quod nostis; non doceo, sed commemoro praedicando; immo nec doceo, quia nostis, nec commemoro, quia meministis. sed simul dicamus, quod nobiscum tenetis. - hoc dominus dicit: (…) Psalm 2,11f serm. 131,5 (417) Ich sehe, dass ihr, indem ihr Beifall klatscht, mir zuvorkommt. Was ich sagen will, wisst ihr nämlich schon. Durch euren Beifall kommt ihr mir zuvor. Und woher habt ihr das, wenn nicht davon, dass ER euch gelehrt hat, zu dem ihr im Glauben gekommen seid? Das folgende also sagt er: - Hört, was ihr schon wisst! Nicht etwa belehre ich euch, vielmehr erinnere ich euch durch mein Predigen. Doch nein: ich belehre euch nicht, weil ihr ja wisst; und ich erinnere euch nicht einmal, weil ihr es ja in euch schon besitzt. Zusammen also wollen wir es sagen, was ihr mit mir bewahrt! - Folgendes sagt der Herr: (…) Nicht immer hat das Publikum Anlass, freudig zuzustimmen; auch Zerknirschung wird wahrnehmbar: <?page no="106"?> Leben unter christlichen Idealen 106 nominavit homicidas: non expavistis. nominavit fornicatores: audivi, quia pectora tutudistis. ego audivi, ego audivi; ego vidi et, quod non vidi in cubilibus vestris, vidi in sonitu, vidi in pectoribus vestris, quando tutudistis pectora vestra. eicite inde peccatum! nam pectora tundere et haec eadem facere nihil est aliud quam peccata pavimentare. fratres mei, filii mei, estote casti, amate castitatem, amplectimini castitatem, diligite munditiam. (…) sufficiant vobis uxores vestrae, quia sufficere vos vultis uxoribus vestris. vgl. discipl. 11,12 audivi, audivi, gemuistis, mortem timetis. vgl. Gal 5,19-21 serm. 332,4 (410-412) <Der Apostel Paulus> hat Mörder erwähnt: Das hat euch nicht erschreckt. Er hat Ehebrecher erwähnt: Da hab ich gehört, dass ihr euch an die Brust schluget. Ich hab es gehört, ich hab’s gehört; ich hab es gesehen und, was ich in euren Schlafzimmern nicht gesehen habe, hab ich im Klang gesehen, gesehen an eurer Brust, als ihr euch vorhin an die Brust schluget. Werft diese Sünde aus eurem Innern hinaus! Denn, sich an die Brust zu schlagen und doch dasselbe weiterhin zu tun, ist nichts anderes als, seine Sünden zu befestigen. Meine Brüder, meine Söhne, seid keusch, liebet die Keuschheit, umarmt die Keuschheit, liebet die Reinheit! (…) Lasst euch an euren Frauen genug sein; denn ihr wollt ja auch, dass ihr ihnen genug seid. Eine ernste Mahnung richtet Augustin regelmässig an seine Zuhörer, wenn es um den sozialen Zusammenhalt geht; dabei steht auch Augustins eigener Ruf auf dem Spiel: date ergo pauperibus; rogo, moneo, praecipio, iubeo. quidquid vultis, date pauperibus. (…) ex quo hic sumus euntes ad ecclesiam et redeuntes, pauperes interpellant nos et dicunt, ut dicamus vobis, ut aliquid accipiant a vobis. nos monuerunt loqui vobis, et cum se vident non accipere a vobis, inaniter nos arbitrantur laborare in vobis. (…) audistis; laudastis, deo gratias. (…) tamen, fratres mei, istae laudes vestrae folia sunt arborum: fructus quaeritur! serm. 61,13 (412-416) Gebt also den Armen; ich bitte, mahne, gebiete, befehle es euch. Gebt den Armen, was ihr mögt. (…) Seit ich in der Kirche hier ein und aus gehe, bestürmen mich Arme und sagen, ich soll mit euch reden, damit sie von euch etwas bekommen. Sie haben mich aufgefordert, mit euch zu reden, und wenn sie sehen, dass sie von euch nichts bekommen, denken sie, mein Bemühen bei euch habe halt kein Gewicht. (…) Ihr habt es gehört und habt applaudiert, Gott sei Dank. (…) Dennoch, liebe Brüder, euer Beifall gleicht Blättern von Bäumen: Jetzt sind Früchte gefragt! Ganz selten sind Augenblicke, wo der Prediger einem leid tut, etwa wenn er nur mit Mühe sich Gehör verschaffen kann, oder wenn er, beschwingt von seiner Vorfreude, vom bevorstehenden langen Morgen spricht - Anlass gelinden Schreckens im Publikum: <?page no="107"?> W 12 Der Prediger und sein Publikum 107 hoc si non intellegatur, periculosissime auditur. ideo, sollicitus, ne male homines intellegendo pereant, suscepi haec verba apostoli, adiuvante domino, exponere vestrae caritati. vacat nobis: matutina coepimus; hora prandii non urget. serm. 128,6 (412-416) Wenn man diese Bibelstelle hört und nicht versteht, geht man ein beträchtliches Risiko ein. Deshalb habe ich, in Sorge, dass man sie falsch verstehen und so das Seelenheil verlieren möchte, es übernommen, diese Worte des Apostels mit Hilfe des Herrn Eurer Liebe auszulegen. Wir haben ja viel Zeit: Früh morgens haben wir begonnen, und die Mittagsstunde droht noch nicht. duplicem mundus aciem producit contra milites Christi … advertite, fratres! duplicem, dixi, aciem producit mundus contra milites Christi. serm. 276,2 (? ) Mit einer zweifachen Schlachtlinie rückt die Welt gegen die Soldaten Christi aus… Hört mir zu, Brüder! Mit einer zweifachen Schlachtlinie, sagte ich eben, rückt die Welt gegen die Soldaten Christi aus. Augustin wiederholt einen ganzen Satz wörtlich. Seine Stimme ist im Lärm untergegangen. - Einmalig ist die Massregelung des Volkes, nachdem es sich eigensinnig, ja aufmüpfig gebärdet hat: quando petitis, si videtur, conceditur vobis; si non videtur, a petitione convertite vos ad obtemperationem; in iram tamen, in convicium, in lacessionem eorum, qui vobis in Christo cum tanta sollicitudine serviunt, si erumpere volueritis, iam hoc venenum est, si tamen non ipsa mors est. nolite, fratres, rogamus vos, obsecramus vos; discernatis ecclesiam dei a theatris. serm. Dolbeau 2,23 (404) Wenn uns, was ihr verlangt, einleuchtet, wird es euch zugestanden; wenn es nicht einleuchtet, müsst ihr euch vom Verlangen weg zum Gehorchen wenden. Wenn ihr aber in Zorn, in Schmähung, in Verletzung derer ausbrecht, die euch in Christus mit so viel sorglichem Eifer dienen, dann ist das ein Gift, wenn nicht gar euer Tod. Nur das nicht, meine Brüder, ich bitte euch, ich flehe euch an; unterscheidet das Haus Gottes vom Theater! Das Reizwort ‹Theater› ist gefallen. Augustin führt einen aufreibenden Kampf gegen die tief verwurzelte Freude des Volks an den althergebrachten römischen Vergnügungen, von der Posse über das Theater und den Zirkus zu den Gladiatorenspielen und Tierhetzen: quantis turbis implentur ecclesiae, stipantur parietes, pressuris se urgent, prope se suffocant multitudine. rursus ab eis ipsis, si munus est, curritur ad amphitheatrum. in psalm. 39,10 (405-415) Was für Menschenmassen füllen die Kirchen! Sie sprengen beinah die Wände. Die Leute drücken und drängen sich, so zahlreich, dass sie einander fast ersticken. Und umgekehrt, wenn Gratis-Spiele gegeben werden, rennen die gleichen Leute ins Amphitheater! <?page no="108"?> Leben unter christlichen Idealen 108 Bitterkeit zeichnet das Bild; auch er hat einst «dort gesessen und getobt» (in psalm. 147,7). - Indem Augustin seinen Christen die innere Gespaltenheit in solchen Situationen vor Augen führt, hofft er ihre Hemmungen zu verstärken: qui si forte in ipso circo aliqua ex causa expavescant, continuo se signant - et stant illic, portantes in fronte, unde abscederent, si hoc in corde portarent! deprecanda est misericordia dei, ut donet intellectum ad ista damnanda. in psalm. 50,1 (411-413) Wenn dann diese Leute zufällig im Zirkus aus irgendeinem Anlass erschrecken, bekreuzigen sie sich sogleich - und bleiben dort! - und tragen doch auf der Stirn, was sie dazu brächte, sich zu entfernen, wenn sie es im Herzen trügen! Gott müsste man um Mitleid anflehen, dass er ihnen die Einsicht gebe, solche Dinge zu verurteilen. Auf der Suche nach einem Heilmittel gegen solche Seelen-Verschmutzung greift Augustin, offenbar noch ziemlich jung, zum absoluten Verbot: «sed delectat auriga, delectat venator, delectat scenicus! » (…) audeo prohibere spectacula? audeo prohibere, audeo plane; dat mihi fiduciam locus hic et, qui me constituit in isto loco. potuit sanctus martyr saevientes sustinere paganos; ego non audeam audientes instruere christianos? ego metuam tacitas offensiones, cum ille contempserit apertos furores? «dieser Ort»: Kultstätte des Märtyrers Cyprian serm. Denis 14,2 (400-401) «Aber Wagenrennen fesseln doch; Kämpfe mit wilden Tieren sind interessant, und Possen ergötzlich! » (…) Soll ich es wagen, die Teilnahme an solchen Schauspielen zu verbieten? Ich wage es, wage es tatsächlich. Den Mut dazu gibt mir dieser Ort hier und, der mir diesen Ort zugewiesen hat. Der heilige Märtyrer hatte die Kraft, wütenden Heiden standzuhalten; ich sollte nicht wagen, Christen, die auf mich hören, anzuleiten? Sollte ich Angst haben vor unausgesprochenem Ärger und Unmut, während er Äusserungen unverhohlener Wut gering geschätzt hat? Viel zuviele Worte, und verstimmend der heisse Eifer! Gibt es keine andern Waffen im Kampf mit der Konkurrenz? - Mit Gelassenheit löst Augustin das Problem in einem ausgesprochen heiklen Fall: einer «Seeschlacht»-Veranstaltung: etiam in crastinum diem invitamus caritatem vestram. cras illi habent, ut audivimus, mare in theatro. nos habeamus portum in Christo. in psalm. 80,23 (403-411) Auch für den morgigen Tag laden wir Eure Liebe zum Besuch. Die andern haben morgen, wie ich höre, im Theater das Meer. Wir, meine ich, in Christus den Hafen. Wozu denn Meere? - Der Mensch braucht einen Hafen! <?page no="109"?> W 12 Der Prediger und sein Publikum 109 Die schärfste Verurteilung der Liebhaber von derartigen Spielen konzentriert sich in einem einzigen Wort: dies muneris multos hinc ventilavit. serm. 51,1,1 (417-418) Dass heute Spiele gegeben werden, hat viele von hier fortgeworfelt. Diese Vielen gehören zur Spreu, die (gemäss Mt 3,12 und Lk 3,17) am Jüngsten Tag, wenn die Spreu vom Weizen geschieden wird, in «unauslöschliches Feuer» geworfen wird. * So streng Augustin auch urteilen kann und urteilt - er besitzt durchaus die Überlegenheit, sein Predigen, sein Reden aus dem immer gleichen Buch, zu relativieren; er kennt ein zweites: das grosse, zu jener Zeit noch unverlierbare Buch: est quidam magnus liber ipsa species creaturae. superiorem et inferiorem contuere, attende, lege! non deus, unde eum cognosceres, de atramento litteras fecit: ante oculos tuos posuit haec ipsa, quae fecit! quid quaeris maiorem vocem? obere / untere: Himmel und Erde Tinte: vgl. 2 Kor 3,3 serm. 68,6 (425-430) Es gibt ein Buch, ein gewaltiges: die schöne Gestalt der Schöpfung. Die obere wie die untere fasse ins Auge, merke auf sie, lies drin! Nicht hat Gott, damit du ihn erkennest, mit Tinte Buchstaben niedergeschrieben: Dir vor Augen hat er eben das gesetzt, was er geschaffen hat! Was fragst du nach einer deutlicheren Stimme? (Es dürfte nahe liegen, Augustins Vorstellung vom grossen Buch der erschaffenen Welt mit drei Bibelstellen zu verbinden: Angesichts des zürnenden Gottes wird sich der Himmel «zusammenrollen wie eine Schriftrolle»: Is 34,4; ähnlich Offb 6,14. Der herrliche Gott dagegen «spannt den Himmel aus wie ein Zeltdach»: Psalm 104,2.) Der Mensch tritt als Prediger hinter die Schöpfung zurück; denn Gott übernimmt als Schöpfer das Predigen. Ja, die Schöpfung tritt hinter den Schöpfer zurück; denn alles Predigen wird - einst - paradiesische Strahlung sein: ibi omnes iusti et sancti; qui fruuntur verbo dei, sine lectione, sine litteris. quod enim nobis per paginas scriptum est, per faciem dei illi cernunt. - qualis patria! magna patria! et miseri sunt peregrini ab illa patria! in psalm. 119,6 (407-412) Dort sind alle gerecht und heilig. Sie laben sich an Gottes Wort - ohne Lesung, ohne Schrift! Denn, was uns mittels Buchseiten aufgeschrieben ist, lesen jene erkennend am A n t l i t z G o t t e s ab. - Was für ein Vaterland! Hohes Vaterland! Und elend, die fern wandern von jenem Vaterland! >Lawless; Trautmann <?page no="110"?> Leben unter christlichen Idealen 110 W 13 Klosterleben inter apicem superbiae et voraginem desidiae zwischen dem Gipfel des Hochmuts und dem Abgrund des Müssiggangs epist. 48,2 ego, qui haec scribo, perfectionem, de qua dominus locutus est, quando ait diviti adolescenti, vade, vende omnia, quae habes, et da pauperibus, et habebis thesaurum in caelo, et veni: sequere me, vehementer adamavi et, non meis viribus, sed gratia ipsius adiuvante, sic feci. neque enim, quia dives non fui, ideo minus mihi inputabitur; nam neque ipsi apostoli, qui priores hoc fecerunt, divites fuerunt. Ich, der ich dies niederschreibe, habe einst zu der Vollkommenheit - von welcher der Herr sprach, als er zum reichen Jüngling sagte, geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm: folge mir nach - eine tiefe Liebe gefasst und habe, nicht mit meinen eigenen Kräften, sondern, weil seine Gnade mir half, diese Aufforderung befolgt. Und, dass ich nicht reich war, wird mein Verdienst nicht schmälern; waren doch auch die Apostel selber, die es zuerst taten, nicht reich. sed totum mundum dimittit, qui et illud, quod habet, et, quod optat habere, dimittit. quantum autem in hac perfectionis via profecerim, magis quidem novi ego quam quisquam alius homo, sed magis deus quam ego. Freilich: wer sich von allem, was er besitzt, trennt und ebenso von allem, was er je zu besitzen erwartet, der trennt sich von der ganzen Welt. Wie weit ich auf diesem Weg vorangekommen bin, weiss ich zwar besser als irgendein anderer Mensch, Gott aber besser als ich. et ad hoc propositum, quantis possum viribus, alios exhortor et in nomine domini habeo consortes, quibus hoc per meum ministerium persuasum est, sic tamen, ut praecipue sana doctrina teneatur nec eos, qui ista non faciunt, vana contumacia iudicemus. Mt 19,21 epist. 157,4,39 (414-415) Und ich ermutige andere nach Kräften, dasselbe Ideal anzustreben, und ich habe Gefährten im Namen des Herrn, die mein Dienst dazu vermocht hat, dieses Ziel zu verfolgen, und zwar so, dass es vor allem gilt, die unverfälschte Lehre festzuhalten, doch über jene, die das nicht tun, nicht eitel und eigensinnig Richter zu sein. Wohltuend unideologisch das Eingeständnis zum Verlust all dessen, was einer besitzt - gemessen an der orthodoxen, aber erkältend harten Abfertigung: <?page no="111"?> W 13 Klosterleben 111 «amiserunt omnia quae habebant.» numquid fidem? numquid pietatem? numquid interioris hominis bona? civ. 1,10 (413-414) «Sie haben <bei der Plünderung Roms> alles, was sie besassen, verloren.» Etwa auch den Glauben? Etwa auch die Frömmigkeit? Etwa auch die Güter des inneren Menschen? Augustin konnte die Formen klösterlichen Zusammenlebens, die er begründete - seine Schwester leitete ein Frauenkloster - nach Vorbildern gemeinschaftlicher Weltabgeschiedenheit gestalten, die sich im Laufe der voraufgehenden zwei Jahrhunderte im Osten aus dem ägyptischen Anachoretentum entwickelt hatten. Selber gesehen (vidi ego: mor. eccl. 1,70) hatte er solche Gemeinschaften in Mailand und Rom: quis non illos miretur et praedicet, qui, contemptis atque desertis mundi huius illecebris, in communem vitam sanctissimam et castissimam congregati, simul aetatem agunt, viventes in orationibus, in lectionibus, in disputationibus, Wer sollte die nicht bewundern und preisen, welche die Verlockungen der hiesigen Welt verachten und fahren lassen, sich zu einem gemeinschaftlichen Leben in tiefster Gottgefälligkeit und unbedingter Enthaltsamkeit zusammenfinden und ihr zeitliches Dasein gemeinsam in Gebeten, Lesungen und Gesprächen verbringen? nulla superbia tumidi, nulla pervicacia turbulenti, nulla invidentia lividi, sed modesti, verecundi, placati concordissimam vitam et intentissimam in deum, gratissimum munus ipsi offerunt, a quo ista posse meruerunt. nemo quicquam possidet proprium; nemo cuiquam onerosus est. Sie blähen sich nicht in Hochmut; sie stiften nicht Unruhe in Eigensinn und kennen keinen blassen Neid. Vielmehr bringen sie Gott, von dem sie ihre Vorzüge erlangt haben, in Bescheidenheit, Rücksichtnahme und Verträglichkeit als hochwillkommene Gabe ein ausnehmend einträchtiges und allein auf Gott ausgerichtetes Leben dar. Keiner besitzt irgend etwas zu eigen; keiner fällt irgend einem andern zur Last. operantur manibus ea, quibus et corpus pasci possit et a deo mens impediri non possit. (…) quicquid necessario victui redundat - nam redundat plurimum ex operibus manuum et epularum restrictione -, tanta cura egentibus distribuitur, quanta non ab ipsis, qui distribuunt, comparatum est. Eigenhändig verrichten sie Arbeiten, woraus ihr Leib genährt, ihr Denken aber nicht von Gott abgelenkt werden kann. (…) Was immer über den unmittelbaren Lebensunterhalt hinausgeht - denn sehr vieles ist zuviel aus ihrer Hände Werk und angesichts ihrer kargen Kost -, das wird den Bedürftigen mit noch mehr Umsicht verteilt, als es von denen, die austeilen, gepflanzt und geerntet worden ist. <?page no="112"?> Leben unter christlichen Idealen 112 nullo modo namque satagunt, ut haec sibi abundent, sed omni modo agunt, ut non apud se remaneat, quod abundaverit - usque adeo, ut oneratas etiam naves in ea loca mittant, quae inopes incolunt. mor. eccl. 1,67 (388-390) Sie sind nämlich in keiner Weise darauf aus, mehr, als genug ist, zu behalten; vielmehr sind sie in jeder Weise darauf bedacht, dass, was zuviel ist, nicht bei ihnen bleibe. Das geht soweit, dass sie sogar vollbeladene Schiffe in Gegenden schicken, wo Hunger herrscht. Welch ein jugendlich naives Gemälde einer idealen Welt! - Frauen, die sich von der Welt abgewandt haben, führen natürlich ein ebenso heiligmässiges Dasein… (…) habitaculis segregatae ac remotae a viris, quam longissime decet. pia tantum illis caritate iunguntur et imitatione virtutis. ad quas iuvenum nullus accessus est, neque ipsorum quamvis gravissimorum et probatissimorum senum nisi usque ad vestibulum, necessaria praebendi, quibus indigent, gratia. lanificio namque corpus exercent atque sustentant vestesque ipsas fratribus tradunt, ab his invicem, quod victui opus est, praesumentes. mor. eccl. 1,68 (388-390) (…) in Behausungen, die so weit, wie es sich schickt, von den Männern getrennt und weitab liegen. Nahe sind sie ihnen nur bezüglich frommer Liebe und, weil auch sie tugendhaften Wandel üben. Zu ihnen hat kein jüngerer Mann Zutritt, und selbst absolut gesetzte und ganz zuverlässige Alte nur bis zur Pforte im Vorhof, und nur, um etwas Dringendes, wessen sie bedürfen, hindurchzureichen. Sie bestreiten nämlich ihren Unterhalt mit fleissigem Spinnen und Weben und liefern den Klosterbrüdern die Kleider, und dafür bekommen sie von ihnen, was sie zum Essen brauchen. * Das Ideal war hoch; die es anstrebten, waren allerdings Menschen: «magni viri, sancti! quotidie in hymnis, in orationibus, in laudibus dei! inde vivunt! cum lectione illis res est. laborant manibus suis! inde se transigunt; non avare aliquid petunt! quidquid eis infertur a piis fratribus, cum sufficientia et cum caritate utuntur. nemo sibi usurpat aliquid, quod alter non habeat. omnes se diligunt, omnes invicem se sustinent.» «Grosse Männer, Heilige! Tag für Tag in Hymnen, in Gebeten, in Lobpreisungen Gottes! Davon leben sie! Die Lesung ist ihnen wichtig. Arbeit verrichten sie eigenhändig! Davon bringen sie sich durch; fordern nicht immer noch mehr! Was von frommen Brüdern beigetragen wird, verwenden sie in Genügsamkeit und Liebe. Keiner beansprucht für sich, was der andere nicht auch hat. Alle lieben einander, alle ertragen einander.» <?page no="113"?> W 13 Klosterleben 113 laudasti, laudasti! qui nescit, quid interius agatur, qui nescit, quomodo illo vento intrante etiam naves se in portu collidunt, intrat quasi securitatem sperans, neminem, quem toleret, habiturus. invenit ibi fratres malos, qui mali inveniri non possent, nisi admitterentur (et necesse est, ut primo tolerentur, ne forte corrigantur; nec excludi facile possunt, nisi prius fuerint tolerati) - et fit ipse intolerandae impatientiae! in psalm. 99,12 (403-412) Ein Lob, ein grosses Lob hast du ausgesprochen! Doch, wer nicht weiss, was drinnen sich abspielt, wer nicht weiss, wie beim Hereinbrechen des erwähnten Windes auch in einem Hafen die Schiffe aufeinander prallen, der tritt ein und erwartet sich ein recht sorgenfreies Leben und keinen, den er zu ertragen haben wird. Da findet er denn schlechte Mitbrüder, die man als solche nicht erkennen könnte, würde man sie nicht zulassen (und notwendig muss man sie zuerst ertragen, ob sie sich vielleicht nicht bessern, und ausschliessen kann man sie nicht leicht, wenn man sie nicht vorher ertragen hat) - und ihn überkommt endlich selber ein unerträgliches Unvermögen, andere zu ertragen! Kaum lässt sich - glanzvoll stilisiert! - düsterer malen, wie der verderbliche Strudel menschlicher Überforderung auch den Letzten erfasst. Kann ein Blick über die Klostermauern hinaus von diesem Albtraum im Kloster- Innenraum befreien? Er trifft auf Wandermönche, eine fast modisch zu nennende Zeiterscheinung: tam multos hypocritas sub habitu monachorum usquequaque dispersit, circumeuntes provincias, nusquam missos, nusquam fixos, nusquam stantes, nusquam sedentes. So viele Heuchler unter Mönchsgewand hat <der Teufel> überall ausgestreut, Leute, die in den Provinzen herumziehen, ohne das Ziel einer Sendung, ohne festen Wohnort, nirgends verweilend, nirgends sich niederlassend. alii membra martyrum (si tamen martyrum) venditant; alii fimbrias et phylacteria sua magnificant. alii parentes vel consanguineos suos in illa vel in illa regione se audisse vivere et ad eos pergere mentiuntur. et omnes petunt, omnes exigunt aut sumptus lucrosae egestatis aut simulatae pretium sanctitatis, Zu Quasten und Gebetsriemen als Zeichen besonderer Frömmigkeit vgl. Mt 23,5 und Num. 15,38ff; Deut. 22,12 Die einen bieten Körperteile von Märtyrern (oder vorgeblichen Märtyrern) feil; andere preisen ihre Kleider-Quasten und Gebets- Riemen. Wieder andere lügen daher, ihre Eltern oder Verwandten lebten, wie sie gehört hätten, in der oder jener Gegend; zu ihnen seien sie nun auf der Reise. Und all diese erbitten, nein, fordern die Deckung der Kosten ihrer gewinnträchtigen Armut bzw. den Lohn für ihre gespielte Heiligkeit. <?page no="114"?> Leben unter christlichen Idealen 114 cum interea in malis factis suis ubicumque deprehensi fuerint vel quoquo modo innotuerint, sub generali nomine monachorum vestrum propositum blasphematur, tam bonum, tam sanctum, quod in Christi nomine cupimus, sicut per alias terras, sic per totam Africam pullulare. op. monach. 28,36 (400-401) Wenn sie dann irgendwo bei ihren üblen Schlichen ertappt oder auf irgendeine Weise einschlägig bekanntgeworden sind, zieht die Bevölkerung unter dem Begriff ‹Mönch› euer Vorhaben in den Schmutz, das doch so vornehm, so ehrwürdig ist und dem wir in Christi Namen, wie über andere Länder hin, so auch über ganz Afrika weiteste Verbreitung wünschen. Kehren wir in die schützenden Klostermauern zurück und fragen nach Gründen der internen Spannungen, so werfen schon wenige Worte aus einer Reihe von Verhaltensmassregeln für ein Frauenkloster helles Licht auf eine der Ursachen: nec erigant cervicem, quia sociantur eis, ad quas foris accedere non audebant. epist. 211,6 (397-430) Und sie sollen ihren Nacken nicht steifhalten, weil sie <im Kloster> mit Damen zusammen leben, denen sie sich draussen in der Welt nicht einmal zu nähern gewagt hätten. Der Eintritt ins Kloster macht gleich, gleich nämlich vor Gott, und also auch gleich mit den andern Gliedern der Gemeinschaft. So unternimmt die Institution Kloster in kühner Weise eine Relativierung der Standesunterschiede, als Ziel deren Ausgleich. Im einzelnen Mitglied dürfte sich daraus eine gewisse Destabilisierung der Selbstauffassung, der Verlust eines selbstverständlichen Stand-Ortes ergeben haben. - Auf Männerseite sieht das Bild ganz ähnlich aus: nunc autem veniunt plerumque ad hanc professionem servitutis dei et ex condicione servili vel etiam liberti vel propter hoc a dominis liberati sive liberandi et ex vita rusticana et ex opificum exercitatione et plebeio labore - tanto utique felicius, quanto fortius educati. (…) Heute aber wählen dieses Bekenntnis zum Dienst an Gott oft Menschen aus dem Sklavenstand, schon länger Freigelassene oder Leute, die mit diesem Ziel von ihren Herren eben freigelassen worden sind oder noch freigelassen werden, dann auch Menschen aus dem Bauern- und dem Handwerkerstand und aus ganz einfachen Bereichen - was in jedem Fall umso günstiger ist, je härter sie das Leben geformt hat. (…) <?page no="115"?> W 13 Klosterleben 115 neque enim adparet, utrum ex proposito servitutis dei venerint, an vitam inopem et laboriosam fugientes vacui pasci atque vestiri voluerint - et insuper honorari ab eis, a quibus contemni conterique consueverant. op. monach. 22,25 (400-401) Aber es wird nicht klar, ob sie diesen Dienst an Gott aus innerem Entschluss gewählt haben, oder weil es sie danach verlangt hat, einem Leben in Armut und Mühsal zu entfliehen und, selber frei von Pflichten, genährt und gekleidet zu werden - und erst noch sich Ehre erweisen zu lassen von Leuten, die sie bisher immer verachtet und mit Geringschätzung behandelt haben. * Die christliche Gemeinschaft kennt einen grossen Helfer. Bei ihm darf sie bei allen Problemen einkehren, indem sie betet: semel abluimur baptismate, cotidie abluimur oratione. symb. 7,15 (? ) Ein erstes Mal werden wir gewaschen: in der Taufe; täglich waschen wir uns: im Gebet. Ein weiteres, ebenso lapidares Bild für das Wesen des Gebets erwächst aus der alten Vorstellung des menschlichen Lebens als Seefahrt: qui baptizantur et exeunt, sine debito ascendunt, sine debito pergunt. qui autem baptizantur et tenentur in hac vita, de fragilitate mortali contrahunt aliquid, unde, etsi non naufragatur, tamen oportet, ut sentinetur, quia, si non sentinatur, paulatim ingreditur, unde tota navis mergatur. et ob hoc orare sentinare est. serm. 56,7,11 (410-412) Wer getauft wird und dann stirbt, steigt ohne Schuld auf, wandert ohne Schuld weiter. Wer aber getauft wird und weiter im irdischen Leben erhalten wird, zieht sich aufgrund der Hinfälligkeit, die jedem Sterblichen anhängt, einige Schuld zu, in deren Folge er, auch wenn er nicht Schiffbruch leidet, dennoch das eingedrungene Wasser ausschöpfen muss. Denn, wenn er es nicht tut, sickert immer mehr ein, sodass er mitsamt dem Schiff untergeht. Und daher gilt: Beten ist Wasserschöpfen. Wer aber verstünde dieses Schwierigste, recht zu beten? - An dieser Stelle genüge als Andeutung der Gebets-Inhalte das kürzest mögliche Zeugnis, Augustins Fassung des wahrhaft christlichen Gebets, in drei Worten. Er setzt es vor den dunklen Hintergrund der alttestamentlichen Beziehung Gottes zu den Menschen: <?page no="116"?> Leben unter christlichen Idealen 116 lege operum dicit deus: fac, quod iubeo! lege fidei dicitur deo: da, quod iubes! spir. et litt. 13,22 (412) Gemäss dem Gesetz der Werke spricht Gott: Tu, was ich befehle! Unter dem Gesetz vertrauenden Glaubens darf man zu Gott sagen: Gib, was du befiehlst! Billig? Bequem? - Vielmehr fast unerreichbar! Denn Voraussetzung zu diesem Gebet wäre grenzenloses und bedingungsloses Vertrauen auf Gottes Gutsein und Gottes Gnade: Er befiehlt nur das Rechte, und er schenkt die Fähigkeit, dieses Rechte auch zu tun. - Wenn aber das Herz des Betens müde wird? nonne aliquando ipsa oratio nostra sic tepida est vel potius frigida et pene nulla, immo omnino interdum ita nulla, ut neque hoc in nobis cum dolore advertamus? quia, si vel hoc dolemus, iam oramus. Simpl. 1,2,21 (396-398) Ist unser Beten bisweilen nicht derart lau oder vielmehr kalt und beinah kein Beten mehr, ja manchmal überhaupt derart nichtig, dass wir uns dessen nicht einmal mehr schmerzlich bewusst werden? Denn, wenn wir uns nur schon darüber betrüben, beten wir bereits. Woher die Lauheit, das Erkalten? Warum hat das Herz resigniert? vere enim, fratres mei, dicam tamquam homo in hominibus et ex hominibus: ferat quisque cor suum et intueatur se sine adulatione et sine palpatione. nihil est enim stultius quam, ut se ipsum quisque palpet atque seducat. Aufrichtig gesprochen, liebe Mitbrüder, ich will es als Mensch unter Menschen und als Sohn von Menschen sagen: Ein jeder möge sein Herz vornehmen und sich, ohne sich zu schmeicheln oder schönzutun, betrachten. Denn nichts ist törichter als, dass man sich streichelt und so irreführt. adtendat ergo et videat, quanta aguntur in corde humano, quemadmodum ipsae plerumque orationes impediantur vanis cogitationibus, ita, ut vix stet cor ad deum suum - et vult se tenere, ut stet, et quodammodo fugit a se nec invenit cancellos, quibus se includat, aut obices quosdam, quibus retineat avolationes suas et vagos quosdam motus et stet iucundari a deo suo. (…) Es sei also jeder aufmerksam und achte bewusst darauf - so Vieles geht ja im Herz eines Menschen vor -, wie gerade die Gebete oft durch unwesentliche Gedanken behindert werden, in dem Masse, dass das Herz nur mit Mühe vor seinem Gott stillzustehen vermag - und es möchte sich im Zaum halten, vor ihm stillstehen, und doch flieht es sozusagen von sich selber weg und trifft dabei nicht auf die Gitter, innerhalb welcher es sich einschliessen, und nicht auf die Riegel, mit deren Hilfe es das häufige Ausfliegen und die schweifenden Regungen unterbinden und in Ruhe seine Freude von Gott empfangen könnte. (…) <?page no="117"?> W 13 Klosterleben 117 quis enim est, fratres mei, homo, cum quo si coeperit amicus eius colloqui, et voluerit ille respondere collocutioni eius et viderit eum averti a se et aliud loqui ad alium, qui hoc ferat? (…) Gibt es denn jemanden, meine Mitbrüder, der, wenn sein Freund ein Gespräch mit ihm begonnen hat, und er ihm auf dessen Worte etwas entgegnen will, dann aber sieht, dass der sich von ihm abwendet und mit einem andern von etwas anderem spricht - gibt es, frage ich, einen Menschen, der sich das gefallen liesse? (…) et tolerat deus tot corda precantium et diversas res cogitantium? omitto dicere et noxias, omitto dicere aliquando perversas et inimicas deo; ipsas superfluas cogitare iniuria est eius, cum quo loqui coeperas. oratio tua locutio est ad deum! in psalm. 85,7 (401-415) Und Gott lässt sich soviele Herzen gefallen, die beim Beten ganz andere Dinge im Kopf haben? Ich will nicht sagen, schädliche Dinge, auch nicht, manchmal böse und Gott verhasste; schon nur überflüssige zu denken, ist eine Beleidigung für den, mit dem du zu sprechen begonnen hast. Dein Gebet ist ein Reden mit Gott! * Weniger erwartbar wären wohl Schwierigkeiten und Widerstand im materiellen Bereich, gegen Handarbeit. Der Bibel ist nun aber einiges «Hilfreiche» dagegen zu entnehmen, so Christi Aufforderung in der Bergpredigt (Mt 6,26. 28): Sehet die Vögel des Himmels an! Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? - Folgerung: Gott wird somit erst recht für die Menschen sorgen! - Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht und spinnen nicht…! - Lässt sich schlagender beweisen, dass, wer Gott wahrhaft vertraut, keine Handarbeit leisten muss, ja, keine leisten darf! - Das wirkt sich jeden Tag aus: bei Bart- und Haartracht. Unter Hinweis auf Paulus, der (1 Kor 11,14) lange Haare als Schande für einen Mann bezeichnet hatte, antwortet Augustin mit Ärger und Spott: hoc quo pertinet, quaeso, tam aperte contra apostoli praecepta comari? an ita vacandum est, ut nec tonsores operentur? an quia evangelicas volucres imitari se dicunt, quasi depilari timent, ne volare non possint? op. monach. 31,39 (400-401) Wohin soll das denn eigentlich noch führen, derart offenkundig gegen die Vorschriften des Apostels seine Haare wachsen zu lassen? Muss man jedes Tätigsein so streng meiden, dass sogar die Friseure arbeitslos werden? Oder fürchten sie, weil sie angeblich den Vögeln des Evangeliums nacheifern, Federn zu verlieren und fluguntüchtig zu werden? <?page no="118"?> Leben unter christlichen Idealen 118 Bei wesentlicheren Fragen argumentiert Augustin ernst, sachlich und schlagend: quid enim agant, qui operari corporaliter nolunt, cui rei vacent, scire desidero. orationibus, inquiunt, et psalmis et lectioni et verbo dei. sancta plane vita et Christi suavitate laudabilis; sed si ab his avocandi non sumus, nec manducandum est nec ipsae escae cotidie praeparandae, ut possint adponi et adsumi. op. monach. 17,20 (400-401) Ich möchte gern wissen, was die, die körperliche Arbeit ablehnen, denn treiben, wofür sie die freie Zeit denn einsetzen. Fürs Gebet, sagen sie, und für die Psalmen und für die Lesung und für das Wort Gottes. Ein Leben, rundum ehrwürdig und glücklich zu preisen mit Christus als einzigem Anziehungspunkt. Doch, wenn wir uns von diesen Beschäftigungen nicht sollen ablenken lassen, darf man auch nicht essen, und man darf nicht Tag für Tag Speisen zubereiten, damit man sie auftischen und verzehren kann. si autem alicui sermo erogandus est et ita occupat, ut manibus operari non vacet, numquid hoc omnes in monasterio possunt venientibus ad se ex alio genere vitae fratribus vel divinas lectiones exponere vel de aliquibus quaestionibus salubriter disputare? quando ergo non omnes possunt, cur sub hoc obtentu omnes vacare volunt? quamquam, etsi omnes possent, vicissitudine facere deberent, non solum, ne ceteri a necessariis operibus occuparentur, sed etiam, quia sufficit, ut audientibus pluribus unus loquatur. op. monach. 18,21 (400-401) Wenn einer sich auf eine Predigt vorbereiten muss und dies ihn derart in Anspruch nimmt, dass er für Handarbeit keine Zeit hat -: haben denn alle in einem Kloster die Fähigkeit, Leuten, die aus einer andern Lebensweise kommen, Vorträge über geistliche Themen zu halten oder beliebige Probleme heilbringend darzulegen? Wenn also nicht alle diese Fähigkeit besitzen, warum wollen dann alle unter diesem Vorwand dafür frei verfügbar sein? Indessen, selbst wenn alle dazu befähigt wären, müssten sie es nacheinander tun - nicht nur, damit nicht auch alle andern von den dringenden körperlichen Arbeiten abgehalten würden, sondern auch, weil es genügt, dass vor einer Mehrzahl von Hörern einer spricht. Man versteht das eingangs zitierte Wort (das sich an eine auswärtige, etwas träge gewordene Mönchsgemeinde richtet): inter apicem superbiae et voraginem desidiae iter nostrum temperare debemus. epist. 48,2 (398? ) Zwischen dem Gipfel des Hochmuts und dem Abgrund des Müssiggangs müssen wir unsern Weg mit Umsicht und Klugheit wählen. «Kleider machen Leute.» Dürfen sie das auch im Kloster? Wir fragen bei den Nonnen nach: <?page no="119"?> W 13 Klosterleben 119 vestes vestras in uno loco habete, sub una custode vel duabus vel, quot sufficere potuerint ad eas excutiendas, ne tinea laedantur. et sicut pascimini ex uno cellario, sic induamini ex uno vestiario, et, si fieri potest, non ad vos pertineat, quid vobis induendum pro temporis congruentia proferatur, utrum hoc recipiat unaquaeque vestrum, quod deposuerat, an aliud, quod alia habuerat, dum tamen unicuique, quod opus est, non negetur. epist. 211,12 (397-430) Eure Kleider bewahrt alle am selben Ort auf, unter der Aufsicht von einer oder zwei Hüterinnen, soviele eben genug sind, um sie durch Schütteln zu lüften, damit sie nicht von Ungeziefer Schaden leiden. Und so wie ihr euch alle aus der selben Speisekammer ernährt, so sollt ihr euch auch alle aus der gleichen Gewänderkammer kleiden. Und sorgt euch wenn möglich nicht darum, was euch entsprechend der Jahreszeit zum Anziehen herausgegeben wird, auch nicht, ob eine jede von euch das wieder erhält, was sie abgelegt hatte, oder ein anderes Stück, das eine andere getragen hatte - wofern nur einer jeden, was sie nötig hat, nicht verweigert wird. Ein Wort zur äusseren - und inneren! - Hygiene: indumenta vestra secundum arbitrium praepositae laventur sive a vobis, sive a fullonibus, ne interiores animae sordes contrahat mundae vestis nimius appetitus. Eure Kleider sollen gemäss dem Ermessen der Oberin gewaschen werden, von euch selber - oder von den Walkern, damit allzu grosse Lust auf ein sauberes Kleid nicht etwa eurer Seele innere Beschmutzung zuziehe. lavacrum etiam corporum ususque balnearum non sit assiduus, sed eo, quo solet, intervallo temporis tribuatur, hoc est, semel in mense. Das Waschen auch eures Leibes und die Benutzung des Bades sollen nicht allzu häufig stattfinden, vielmehr nur im üblichen Intervall zugestanden werden, das heisst, einmal monatlich. cuius autem infirmitatis necessitas cogit lavandum corpus, non longius differatur; fiat sine murmure de consilio medici, ita, ut, etiam si nolit, iubente praeposita faciat, quod faciendum est pro salute. Sollte aber Krankheit ein Bad erfordern, darf man es nicht hinausschieben; es geschehe ohne Murren nach dem Rat des Arztes, so, dass die Kranke auch dann, wenn sie sich weigert, auf Befehl der Oberin tun muss, was zu ihrer Gesundung zu geschehen hat. si autem velit et forte non expedit, suae cupiditati non oboediatur; aliquando enim, etiamsi noceat, prodesse creditur, quod delectat. (…) nec eant ad balneas sive, quocumque ire necesse fuerit, minus quam tres. epist. 211,13 (397-430) Wenn die Kranke aber selber darauf Lust hat und es vielleicht gar nicht hilft, darf ihrem Begehren nicht stattgegeben werden; denn manchmal glaubt man - einfach weil man etwas gern hätte -, es nütze, auch wenn es schadet. (…) Und ins Bad oder, wohin immer ein Gang nötig ist, sollen nie weniger als drei zusammen gehen. <?page no="120"?> Leben unter christlichen Idealen 120 Beides: Badebefehl trotz Widerwillen wie auch Badeverbot trotz eigenem Bedürfnis, dient dem gleichen heilig-unheiligen Ziel: dem Brechen des Willens. * Da Menschen aus allen Schichten, nicht zuletzt auch Hochgestellte, klösterlichen Gemeinschaften beitraten, fehlte es nicht an den materiellen Voraussetzungen zur langfristigen Sicherung dieser Gründungen: nobiles et divites et excelsi huius saeculi quoniam cum timore audiunt: beatus, qui intellegit super egenum et pauperem, adtendunt res suas, villas suas et omnes superfluas copias, quibus videntur excelsi, et praebent illas servis dei: dant agros, dant hortos, aedificant ecclesias, monasteria. Psalm 41,2 in psalm. 103, serm. 3,16 (403-412) Da Adelige und Reiche und Würdenträger dieser Welt mit Besorgnis hören: Wohl dem, der sich des Schwachen annimmt; <zur bösen Zeit wird der Herr ihn erretten>, werden sich ihres Besitzes, ihrer Landgüter und ihres ganzen Überflusses, was sie als gross erscheinen lässt, bewusst und spenden sie den Dienern Gottes: Sie schenken Grundstücke, schenken Gartenanlagen, errichten Kirchen und Klöster. Die folgenden beiden Texte verdanken wir Misshelligkeiten und Verdächtigungen innerhalb der katholischen Gemeinde: Sind einige dieser «Besitzlosen» im Kloster in Wirklichkeit nicht reiche Leute? Der greise Augustin sieht sich zum Eingreifen gezwungen: ipse ullam pecuniam non habet, quam suam dicere possit aut audeat. xenodochium aedificandum modo videtis aedificatum. ego illi iniunxi, ego iussi. obtemperavit mihi libentissime et, sicut videtis, operatus est - quomodo meo iussu etiam basilicam ad octo martyres fabricavit, de his, quae per vos deus donat. coepit enim de pecunia, quae data erat ecclesiae propter xenodochium, et, cum coepisset aedificare, ut sunt religiosi desiderantes opera sua in caelo scribi, adiuverunt, prout quisque voluit, et fabricavit. serm. 356,10 (426) Persönlich hat <der Presbyter Leporius> kein Vermögen, von dem er zu sagen vermöchte oder wagte, es sei seins. Das Gästehaus, das errichtet werden musste, seht ihr eben jetzt fertiggestellt. Ich selber hatte es ihm aufgetragen; ich selber hatte es befohlen. Er gehorchte mir mit grösster Freude, und, wie ihr seht, ist er nicht untätig geblieben - so wie er auf mein Geheiss auch die Basilika zu den acht Märtyrern erbaut hat: aus den Spenden, die uns Gott durch euch schenkt. Den Bau begonnen hat er nämlich mit dem Geld, das fürs Gästehaus der Kirche gespendet worden war, und, sowie er angefangen hatte, halfen andere, soweit ein jeder es wünschte, mit - wie eben Gottesfürchtige sind: sie sehnen sich danach, dass ihre Werke im Himmel angeschrieben werden -, und so hat er den Bau vollendet. <?page no="121"?> W 13 Klosterleben 121 emerat de ipsa pecunia xenodochii quamdam domum in Carraria, quam sibi existimabat propter lapides profuturam; sed lapides eius domus fabricae necessarii non fuerunt, quoniam aliunde provisi sunt. domus ergo ipsa sic remansit; pensionem praestat, sed ecclesiae, non presbytero. nemo amplius dicet: in domum presbyteri, ad domum presbyteri, ante domum presbyteri. ecce ubi est domus presbyteri: ubi est domus mea, ibi est domus eius; alibi non habet domum, sed ubique habet deum. serm. 356,10 (426) Er hatte aus dem Geld fürs Gästehaus auch ein Haus im Quartier Carraria gekauft, das ihm, wie er dachte, wegen der Steine dienlich sein würde. Doch dann waren die Steine dieses Hauses für den Bau nicht notwendig, da sie bekanntlich aus anderer Quelle beschafft wurden. Das Haus ist also im ursprünglichen Zustand verblieben; es wirft Gewinn ab - allerdings für die Kirche, nicht für den Presbyter. Niemand soll künftig sagen: ‹ins Haus des Presbyters›, ‹beim Haus des Presbyters›, ‹vor dem Haus des Presbyters›. Seht her, wo das Haus des Prebyters ist: da, wo mein Haus ist, da ist auch sein Haus; anderswo hat er kein Haus, überall aber hat er Gott. Die Abwehr bewegt sich notwendigerweise zuerst auf der gleichen Ebene wie die Anklage: auf der materiellen. Wie kurz der Streit um Häuser aus Steinen greift, lehrt dann in einer energischen Vertikal-Bewegung (Hinweis und Verweis zugleich! ) der letzte Satz - dessen Schlüssigkeit durch die Assonanz do(m)um ~ deum gleichsam bewiesen wird. - Mag Augustin hier vor seinem Publikum wie vor sich selbst siegreich geblieben sein -: er sieht die ungeheure moralische Gefährdung des Menschen in der künstlichen Welt des Klosters sehr klar: Am Ende eines langen, tief depressiv gestimmten Briefs hält er schonungslos fest: simpliciter fateor caritati vestrae coram domino deo nostro, qui testis est super animam meam, ex quo deo servire coepi: quomodo difficile sum expertus meliores quam, qui in monasteriis profecerunt, ita non sum expertus peiores quam, qui in monasteriis ceciderunt. epist. 78,9 (401-403) Ich will Eurer Liebe im Angesicht des Herrn, unseres Gottes - Zeuge meiner Seele, seit ich ihm zu dienen begann - ganz offen gestehen: So wie ich kaum je bessere Menschen erlebt habe als, die in Klöstern innerlich wuchsen, so habe ich nicht schlimmere erlebt als, die in Klöstern innerlich zerbrachen. > Lawless; Markus; Verheijen; Zumkeller <?page no="123"?> 123 Vielfältig bedrohtes Dasein W 14 Kindersterblichkeit und Erbsünde nemo habet de suo nisi mendacium et peccatum der Mensch hat aus Eigenem bloss Lüge und Sünde in evang. Ioh. 5,1 (414-417) Augustins Zeit erlebt das Sterben kleiner Kinder in einer Häufigkeit, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Und den Neugeborenen droht nicht nur der leibliche Tod: quid dicam, quod parvulus aliquando, antequam illi per ministerium baptizantis succurri possit, exspirat? plerumque enim festinantibus parentibus et paratis ministris, ut baptismus parvulo detur, deo tamen nolente non datur, qui eum paululum in hac vita non tenuit, ut daretur. persev. 12,31 (428-429) Was soll ich dazu sagen, dass ein kleines Kind manchmal stirbt, bevor man ihm durch den Dienst eines Taufenden beistehen kann? Meistens beeilen sich die Eltern, und die Priester halten sich bereit, dem Kleinen die Taufe zu spenden. Doch, wenn Gott dies nicht will, kann sie nicht gespendet werden, da er das Kind dieses kurze Weilchen nicht hier im Leben erhalten wollte, dass dies geschehe. Die ängstliche Eile der Beteiligten ist gerechtfertigt; denn, stirbt das Kind noch vor der Taufe, so scheidet es befleckt von seinem Anteil an der Sünde Adams, befleckt von der «Erbsünde, originale peccatum; reatus originis» (epist. 194,34; 27), aus dem Diesseits und tritt deshalb seine Strafe, die Verdammnis des ewigen Todes an. - In ein Bild gefasst, gilt für alle Neugeborenen: in ramo adhuc nihil commiserunt; sed in radice perierunt. serm. 115,4 (412-413) An den Zweigen haben sie noch nichts verbrochen; doch an der Wurzel sind sie bereits verloren. «an der Wurzel»? - Mit schonungsloser Klarheit sagt es Augustin seit Jahren: <?page no="124"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 124 ex Adam Adam (…). quisquis nascitur, Adam nascitur: damnatus de damnato. in psalm. 132,10 (vor 405) Aus Adam wird nur wieder ein Adam geboren (…). Jeder, der geboren wird, wird als Adam geboren: als Verurteilter vom Verurteilten. Auch im Säugling lebt eben nicht nur sein gutes, gottgeschaffenes Wesen (natura); da ist auch sein Gebrechen (vitium), und… horum itaque duorum, quae in parvulo esse diximus, unum adscribitur deo, alterum diabolo. nupt. et concup. 2,49 (419-421) …von diesen beiden, die, wie gesagt, im Säugling stecken, muss man das eine Gott zuschreiben, das andere dem Teufel. Die Verteidigung dieser quälenden Vorstellung als Glaubenswahrheit - an sich schon eine kaum lösbare Aufgabe - wird dem Kirchenlehrer Augustin dadurch noch erschwert, dass nach 410 in Afrika unter den Flüchtlingen aus Italien eine Gestalt auftaucht, die sich grundsätzlich gegen die Annahme einer Erbsünde stemmt: Pelagius, ein mönchisch lebender Laie aus Britannien, der bisher in Rom bei den Prominenten der christlichen Gesellschaft hohes Ansehen genossen hatte. Augustin referiert dessen (wie er sie in epist. 176,4 nennt) «höchst schädliche Irrlehre»: nec parvulos indigere gratia salvatoris, qua per eius baptismum a perditione liberentur - eo, quod nullum ex Adam contagium damnationis traxerint. epist. 178,1 (416) Und die kleinen Kinder hätten die Gnade des Erlösers nicht nötig, kraft welcher sie durch Taufe auf seinen Namen von der Verwerfung befreit würden - deshalb, weil sie sich keine Ansteckung von Adam her zugezogen hätten, die sie in die Verdammnis führt. Seine Gegenargumente (hier immer beschränkt auf die Kleinkinder) bringt Augustin in erster Linie aus der Bibel vor: si non baptizentur, inter eos, qui non credunt, erunt ac per hoc nec vitam habebunt, sed ira dei manet super eos - quoniam, qui non credit filio, non habebit vitam, sed ira dei manet super eum. Joh 3,36 pecc. mer. 3,2,3 (411-412) Werden sie nicht getauft, so werden sie zu der Zahl derer gehören, die nicht glauben, und somit werden sie das <ewige> Leben nicht besitzen; vielmehr bleibt der Zorn Gottes über ihnen - da bekanntlich, wer dem Sohn nicht glaubt, das Leben nicht besitzen wird; vielmehr bleibt der Zorn Gottes über ihm. <?page no="125"?> W 14 Kindersterblichkeit und Erbsünde 125 si autem, quod habet Veritas, ideo baptizatur, ut sit cum Christo, profecto non baptizatus non est cum Christo, et, quia non est cum Christo, adversus Christum est. neque enim eius tam manifestam debemus aut possumus infirmare vel inmutare sententiam. vgl. Mt 12,30 pecc. mer. 1,28,55 (411-412) Wenn aber das Kind, was die W AHRHEIT bestätigt, deswegen getauft wird, damit es mit Christus sei, dann ist es, wenn es nicht getauft wird, nicht mit Christus, und, weil es nicht mit Christus ist, ist es gegen Christus. Schliesslich dürfen noch können wir einen derart klaren Ausspruch, den ER selber getan hat, weder ausser Kraft setzen noch auch abändern. Schwingt im Schluss-Satz ein leises, entschuldigendes Bedauern über diese unmenschlich konsequente, wahrhaft tödliche Härte mit? - Wer sich nicht überzeugen lässt, wird aufgefordert, an die Theorie der Erbsünde immerhin zu glauben: unde fit consequens, ut, quoniam nihil agitur aliud, cum parvuli baptizantur, nisi, ut incorporentur ecclesiae, id est, Christi corpori membrisque socientur, manifestum sit eos ad damnationem, nisi hoc eis conlatum fuerit, pertinere. non autem damnari possent, si peccatum utique non haberent. hoc quia illa aetas nullum in vita propria contrahere potuit, restat intellegere - vel, si hoc nondum possumus, saltem credere - trahere parvulos originale peccatum. pecc. mer. 3,4,7 (411-412) Da bei der Taufe der kleinen Kinder ja nichts anderes vor sich geht als deren Einverleibung in die Kirche, das heisst, deren Vereinigung mit Christi Leib und Gliedern, folgt daraus, dass die Kleinen, wenn ihnen dieser Dienst nicht erwiesen wird, ganz offensichtlich der Verdammnis angehören. Sie könnten aber nicht der Verdammnis überantwortet werden, wenn sie überhaupt keine Schuld trügen. Da dieses frühe Alter nun aber während des eigenen Lebens sich noch keine Eigenschuld zuziehen konnte, bleibt uns nur, einzusehen - oder, wenn wir das noch nicht fertigbringen, wenigstens zu glauben -, dass kleine Kinder eine Erb- Schuld mit sich schleppen. Während der ihm noch geschenkten zwanzig Schaffensjahre hat sich Augustin mit dem Pelagianismus auseinandergesetzt bzw. herumgeschlagen, um (u.a.) die Existenz von Sünde bereits im Säugling wahrscheinlich zu machen. So hebt er sehr gerne die Schwachheit, die Krankheiten oder Geburtsschäden, allgemein das Elend der kleinen Kinder ins Bewusstsein, nach seinem Dafürhalten lauter Indizien erbsündlicher Belastung. Zur Argumentation auf der Ebene der Heiligen Schriften tritt damit, gleichsam auf tieferer Ebene, «medizinische» Beobachtung, wobei Mitleid hörbar wird - nicht ganz zweckfreies Mitleid: <?page no="126"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 126 respondete, quo merito tanta innocentia nonnunquam caeca, nonnunquam surda nascatur! (…) quis autem nesciat, quos vulgo moriones vocant, natura ita fatuos, ut quibusdam eorum paene sensus pecorum conferatur? et non vultis fateri genus humanum ex initio, quo deseruit deum, trahere damnatae originis noxam his omnibus dignissimam poenis - nisi, ubi parcit ratione dispositionis occultae inscrutabilis sapientia conditoris. c. Iulian. 3,4,10 (421-422) Gebt Antwort! Warum kommt soviel Unschuld manchmal blind, manchmal taub zur Welt? (…) Wer wüsste nicht, dass gewisse Menschen, die man gewöhnlich Trottel nennt, in ihrem Wesen derart stumpfsinnig sind, dass man einigen von ihnen nur mit Mühe tierische Empfindung zusprechen kann! Und ihr wollt nicht zugeben, dass das Menschengeschlecht von seinem Anfang her, als es abtrünnig wurde von Gott, den Schaden eines verworfenen Ursprungs mit sich schleppt, der all diese Strafen sehr wohl verdient - ausser da, wo kraft einer verborgenen Verfügung die unerforschliche Weisheit des Schöpfers Schonung walten lässt. quamquam, etiam ipsa tanta carnis infirmitas nescio quid, quantum arbitror, poenale demonstrat. pecc. mer. 1,37,68 (411-412) Indessen weist auch so umfassende körperliche Schwäche auf etwas - wie mich dünkt - wie Strafe hin. Aufschlussreiche Wortfolge: «nescio quid - quantum arbitror - poenale / irgendetwas - soviel ich meine - wie Strafe»: Das Hinauszögern des dritten Elements durch den Einschub wirkt mildernd und verschärfend zugleich: Nach reiflicher Überlegung beharrt Augustin eben doch auf ‹Strafe›. - Dem Menschen bleibt nichts anderes als bedingungslose Demut und ein eherner Glaube an Gottes Gerechtigkeit: iste infans, de fidelibus coniugatis ortus, laetitia parentum susceptus, matris vel nutricis somnolentia suffocatus, fit exsors et expers suorum fidei. ille infans de sacrilego stupro nascitur, crudeli timore matris exponitur, alienorum misericordi pietate colligitur, eorum christiana sollicitudine baptizatur, fit aeterni consors et particeps regni! (…) Dieses Kind - es stammt von gläubigen Eheleuten; seine Eltern haben es mit Freuden empfangen - wurde, da seine Mutter oder die Amme vom Schlaf übermannt wurde, unter ihr erstickt und wird so vom Glauben der Seinen, an dem es nun nicht teilnimmt, ausgeschlossen. Ein anderes Kind wird aus einer frevlerischen Ausschweifung geboren, von seiner Mutter in Herzlosigkeit und Angst ausgesetzt, von fremden Leuten aus Mitleid und Güte aufgelesen, aus christlicher Sorge zur Taufe getragen und erhält so Anteil am ewigen Königreich! (…) <?page no="127"?> W 14 Kindersterblichkeit und Erbsünde 127 nec de inscrutabilibus iudiciis eius audeant iudicare, cur in una eademque causa super alium veniat misericordia eius, super alium maneat ira eius. epist. 194,7,32 (418) Doch man darf nicht wagen, über SEINE unerforschlichen Richtsprüche zu urteilen, warum, obwohl in beiden Fällen Schuld vorliegt, über das eine Kind SEIN Erbarmen kommt, über dem andern SEIN Zorn bestehen bleibt. cur istum potius quam illum damnet aut liberet, nos qui sumus, qui respondeamus deo? numquid dicit figmentum ei, qui se finxit: quare sic me fecisti? Röm. 9,20 c. Iulian. 4,8,46 (421-422) Warum ER das eine eher als das andere verurteile bzw. freispreche -: wer sind wir, dass wir Gott sollten erwidern dürfen? Sagt etwa das Gebilde zu seinem Bildner: Warum hast du mich gerade so gemacht? Je knapper, abstrakter und formelhafter dieser Glaubensinhalt in Worte gefasst wird, umso härter, bitterer - und noch schwerer erträglich! - wirkt die Aussage: Hier ein sehr spätes Zeugnis: sine ullis bonis meritis datur eis regnum, quibus datur, et sine ullis malis meritis non datur eis, quibus non datur. persev. 12,29 (428-429) Ohne irgendein gutes Verdienst wird denen das Reich Gottes gegeben, denen es gegeben wird, und ohne böses Verdienst wird es denen nicht gegeben, denen es nicht gegeben wird. Augustins Glaube an die Strafe der Ungetauften im Jenseits kennt kaum Erschütterungen. Gibt es doch für die Eltern der unglückseligen Kinder einen «Trost»: potest proinde recte dici parvulos sine baptismo de corpore exeuntes in damnatione omnium mitissima futuros. pecc. mer. 1,16,21 (411-412) Man darf demnach mit Recht die Ansicht vertreten, dass die kleinen Kinder, die ohne Taufe ihren Leib verlassen, sich in der allersanftesten Verdammnis befinden werden. ‹allersanfteste Verdammnis›: welch eine gewalttätige Wortverbindung! Man muss von Zynismus sprechen. - In einem Brief an Paulinus von Nola (der persönlich Pelagius ehemals nicht fern stand): aliquando fatebuntur parvulos non baptizatos vitam habere non posse ac per hoc, quamlibet tolerabilius omnibus, qui etiam propria peccata committunt, tamen aeterna morte multari. epist. 186,8,29 (417) Einst werden <die Pelagianer> zugeben, dass die kleinen Kinder, wenn sie ungetauft gestorben sind, das <ewige> Leben nicht besitzen können, und dass sie deshalb, zwar auf erträglichere Weise als alle, die zusätzlich eigene Sünden begehen, aber dennoch mit ewigem Tod bestraft werden. <?page no="128"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 128 Noch einmal, was wie Hohn tönt: quis dubitaverit parvulos non baptizatos, qui solum habent originale peccatum nec ullis propriis aggravantur, in damnatione omnium levissima futuros? c. Iulian. 5,11,44 (421-422) Wer wird daran zweifeln, dass kleine Kinder, die nicht getauft worden sind, die nur die Erbsünde in sich tragen und nicht zusätzlich von eigenen Sünden belastet sind, sich in der allerleichtesten Verdammnis befinden werden? Aus dem andern «Lager», von pelagianischer Seite, hört Augustin über viele Jahre hin Worte, die ihm eine entlastende, weniger durch Ideologie gefesselte Sicht auf die ungetauft verstorbenen Kleinen nahe legen (Worte von Iulianus v. Aeclanum): «si nullum est sine voluntate peccatum, si nulla voluntas, ubi non est explicata libertas, si non est libertas, ubi non est facultas per rationem electionis -: quo monstro peccatum in infantibus invenitur, qui rationis usum non habent, igitur nec eligendi facultatem ac per hoc nec voluntatem atque, his irrefutabiliter concessis, nec aliquod omnino peccatum? » Iulianus ap. Aug. c. Iulian. op. imp. 1,48 (429-430) «Wenn und so wahr es ohne einen Willen keine Versündigung geben kann, und wenn keinen Willen, wo keine entfaltete Freiheit ist, und wenn es keine Freiheit gibt, wo es keine Fähigkeit gibt, vernünftig zu wählen -: aufgrund von was für einer Ungeheuerlichkeit lässt sich dann in Kleinkindern eine Sünde finden? Kennen sie doch noch keinen Vernunft-Gebrauch, also auch keine Fähigkeit, eine Wahl zu treffen, und dadurch auch keinen Willen und, da man all das unwiderlegbar zugegeben hat, auch ganz gewiss nicht irgendwelche Sünde! » Augustin hört solche Botschaften wohl, doch hat er sie, eingemauert in seine Erbsünden-Gnaden-Lehre, über alle Jahre hin beharrlich zurückgewiesen. - «Das menschlich Einfache ist ihm fremd. An seine Stelle tritt das übermenschlich oder unmenschlich Grossartige. Er versäumt das menschlich Mögliche um des menschlich Unmöglichen willen.» > Lamberigts; End-Zitat: Jaspers 389 <?page no="129"?> W 15 Medizin 129 W 15 Medizin fallitur medicus aliquando… quare fallitur? quia non hoc curat, quod fecit. der Arzt irrt hie und da… warum dies? weil er nicht behandelt, was er selber erschaffen hat. in psalm. 102,5 (403-412) Glücklich der Patient, dessen Übel mit einer angemessenen Diät oder mit Pflastern, Salben, Honig, Abführmitteln, Essig, Wasser, Wein, auch mit Taubenmist oder Krokodilkot (als Augensalbe) besiegt werden kann. Der Blick verdüstert sich, wenn es um chirurgische Eingriffe geht: quotus enim quisque repperitur, qui ferrum eorum aut ignem non ligatus expertus sit, cum et illi rariores sint, qui volentes ligati fuerint. plures enim resistentes et mori se malle clamantes quam illo curari modo vix lingua ipsa eorum relicta libera omnibus membris constrinxerunt, neque ad suum neque ad reluctantis, sed ad ipsius artis arbitrium, quorum tamen vocibus conviciisque dolentium nec commovetur curantis animus nec quiescit manus. in Gal. 56,15f (394-395) Wie wenige lassen sich finden, die einen Versuch mit dem ärztlichen Messer oder Feuer bestanden haben, ohne festgebunden zu sein? Allerdings sind auch die höchst selten, die sich freiwillig haben binden lassen. Denn die grosse Zahl derer, die Widerstand leisten und schreien, sie wollten lieber sterben, als auf solche Weise behandelt zu werden, haben die Ärzte schon immer an allen Gliedern festgezurrt, wobei sie knapp noch die Zunge frei liessen. Sie handeln dabei nicht nach dem eigenen Gutdünken noch nach dem Willen des widerstrebenden Patienten, sondern allein nach dem Spruch der ärztlichen Kunst. Daher lässt sich der Arzt vom Schreien und Lästern der Gepeinigten nicht erweichen, noch ruht seine Hand von ihrer Pflicht. Das Fehlen von Schmerzmitteln - Anwendung von Opium bleibt fraglich - bewog viele, den Chirurgen erst dann aufzusuchen, wenn als einzige Alternative der Tod vor Augen stand. <?page no="130"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 130 iam vero de ipso corpore tot existunt morborum mala, ut nec libris medicorum cuncta conprehensa sint; in quorum pluribus ac paene omnibus etiam ipsa adiumenta et medicamenta tormenta sunt, ut homines a poenarum exitio poenali eruantur auxilio. civ. 22,22 (vor 427) Und am menschlichen Körper erst kommen derart viele Krankheiten vor, dass nicht einmal in den Handbüchern der Mediziner alle enthalten sind. Und bei der Mehrzahl, ja fast bei allen sind die Medikamente gegen diese Qualen ihrerseits eine Qual. So kann sich der Mensch aus dem Verderben seiner Leiden nur mithilfe von neuen Leiden retten. medici cum vident secandam urendamque putredinem, saepe adversus multas lacrimas misericorditer obsurdescunt. epist. 104,2,7 (409) Wenn die Ärzte zur Einsicht gekommen sind, dass eine Fäulnis ausgeschnitten und ausgebrannt werden muss, sind sie oft auch gegenüber vielen Tränen mitleidig taub. Wundbrand als Folge eines Eingriffs war sehr häufig und äusserst gefürchtet. (…) sicut medici alligant fracturas. aliquando enim - intellegat et hoc caritas vestra, et notum est eis, qui animadverterunt vel a medicis audierunt - aliquando prave et distorte firmata, ut corrigant medici, frangunt et faciunt vulnus novum, quia mala erat sanitas prava. in psalm. 146,7 (403-412) (…) so wie die Ärzte Knochenbrüche einschienen. Manchmal nämlich - Eure Liebe möge sich das bewusst machen; bekannt ist es denen, die es schon bemerkt oder von Ärzten gehört haben - manchmal also brechen die Ärzte zur Korrektur Knochen, die krumm und verdreht zusammengewachsen sind, wieder und verursachen eine neue Verletzung; denn missgebildet gesund zu werden wäre untauglich gewesen. non, quando nobis dolet caput, curramus ad praecantatores, ad sortilegos et remedia vanitatis! fratres mei, non vos plangam? quotidie invenio ista, et quid faciam? nondum persuadeo christianis in Christo spem esse ponendam? in evang. Ioh. 7,7 (414-417) Wenn wir Kopfschmerzen haben, wollen wir unsere Zuflucht doch nicht zu Sprüche- Zauberern, Wahrsagern und irgendwelchen nichtigen Mittelchen nehmen. Liebe Brüder, sollte ich euch nicht laut beklagen? Tagtäglich treffe ich auf solche Vorkommnisse, und wie soll ich mich dazu stellen? Ist es mir noch nicht gelungen, euch davon zu überzeugen, dass Christen ihre Hoffnung allein auf Christus setzen sollen? Kopf-Operationen - Trepanation; Aufsägen des Schädelknochens - werden in der medizinischen Literatur ausführlich beschrieben. Sie konnten erfolgreich sein: archäologische Funde zeigen, dass Patienten mit Glück jahrelang überlebten. <?page no="131"?> W 15 Medizin 131 cum caput tibi dolet, laudamus, si euangelium ad caput tibi posueris, et non ad ligaturam cucurreris. ad hoc enim perducta est infirmitas hominum, et ita plangendi sunt homines, qui currunt ad ligaturas, ut gaudeamus, quando videmus hominem in lecto suo constitutum iactari febribus et doloribus nec alicubi spem posuisse, nisi, ut sibi euangelium ad caput poneret; non, quia ad hoc factum est, sed, quia praelatum est euangelium ligaturis. si ergo ad caput ponitur, ut quiescat dolor capitis, ad cor non ponitur, ut sanetur a peccatis? fiat ergo! quid fiat? ponatur ad cor, sanetur cor. bonum est, bonum, ut de salute corporis non satagas, nisi, ut a deo illam petas. si scit tibi prodesse, dabit illam; si non tibi dederit, non proderat habere illam. (…) quam multis obest sanitas! latro, qui procedit ad faucem occidere hominem, quanto illi melius erat, ut aegrotaret! in evang. Ioh. 7,12 (414-417) Ich bin damit einverstanden, dass du, wenn der Kopf schmerzt, die Bibel an den Kopf legst, wenn du dir also nicht eilends ein Amulett besorgst. Soweit allerdings ist es mit der Schwachheit der Menschen gekommen, und sosehr sind die Menschen zu beklagen, die zu Amuletten greifen, dass ich froh bin, wenn ich jemanden im Bett antreffe, der sich zwar in Fieber und Schmerzen hin und herwälzt und dennoch auf nichts anderes seine Hoffnung gesetzt hat als, sich seine Bibel an den Kopf zu legen -, froh bin ich nicht sosehr, weil er es zu diesem Zweck getan hat, sondern, weil er den Amuletten die Bibel vorgezogen hat. - Wenn sie also, damit der Schmerz aufhöre, neben den Kopf gelegt wird, warum legen wir sie dann nicht ans Herz, damit es von den Sünden geheilt werde? Es geschehe also! Was denn? Legen wir die Bibel ans Herz; geheilt werde unser Herz! Gut ist es, gut, sich nicht Sorgen um unsere körperliche Gesundheit zu machen, es sei denn, wir erbitten sie von Gott. Wenn er weiss, dass sie dir nützt, wird er sie dir schenken; wenn er sie dir nicht schenkt, war sie eben für dich nicht von Nutzen! (…) Für wie viele ist körperliche Gesundheit schädlich! Ein Räuber zum Beispiel, der sich in den Hohlweg schleicht, einen Menschen zu ermorden -: wieviel besser wäre ihm, er läge krank zuhaus! Sehr schwere Unfälle konnten dazu führen, dass der Arzt unfreiwillig tiefe Einsichten ins Körperinnere erhielt. Sezierung von Leichen, seit dem dritten Jahrhundert vor Christus vor allem in Alexandrien üblich, erlaubten, die Kenntnisse systematisch zu erweitern. <?page no="132"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 132 tres tamquam ventriculi cerebri demonstrantur: unus anterior ad faciem, a quo sensus omnis; alter posterior ad cervicem, a quo motus omnis; tertius inter utrumque, in quo memoriam vigere demonstrant, ne, cum sensum sequitur motus, non conectat homo, quod faciendum est, si fuerit, quod fecit, oblitus. gen. ad litt. 7,18,24 (401-414) Es lässt sich zeigen, dass das Hirn gleichsam drei Bäuchlein hat: Eines liegt vorn, gegen das Gesicht zu; von ihm gehen alle Sinnesempfindungen aus. Das zweite liegt hinten, zum Nacken hin; von ihm geht jede Bewegung aus. Das dritte liegt zwischen den beiden genannten, und in ihm lebt, wie man wahrscheinlich macht, das Gedächtnis. Es verhütet, dass, immer wenn auf eine <neue> Empfindung eine <neue> Bewegung folgt, man die Rückverbindung nicht herstellen kann von dem, was zu tun ist, zu dem, was man getan hat -, wenn man dies nämlich schon vergessen haben sollte. Drei Bäuchlein: Stirn-, Hinterhaupt-, Scheitel-Lappen? Die Funktionen sind ihnen rein spekulativ zugeordnet. etsi medicorum diligentia nonnulla crudelis, quos anatomicos appellant, laniavit corpora mortuorum, sive etiam inter manus secantis perscrutantisque morientium atque in carnibus humanis satis inhumane abdita cuncta rimata est, ut, quid et quo modo quibus locis curandum esset, addisceret, (…). civ. 22,24 (vor 427) Zwar hat die eifrige Gründlichkeit der Ärzte, die man Anatomen nennt, immer wieder grausam den Leib von Toten zerfleischt oder gar den Leib von Patienten, die unter den Händen des Arztes, während er sezierte und forschte, starben -, und sie hat im Fleisch von Menschen recht unmenschlich die verstecktesten Winkel durchstöbert, um in Erfahrung zu bringen, was und wie und wo zu behandeln sei, (…). Vivisektionen an Menschen, die zum Tod verurteilt worden waren, werden mit den Namen der Anatomen Herophilos und Erasistratos (um 290 bzw. 250 vC, in Alexandria) verbunden und sind nicht ganz unwahrscheinlich. Nicht bezweifelt werden Vivisektionen an Affen, Ziegen oder Schweinen. <?page no="133"?> W 15 Medizin 133 erat apud nos Acatius quidam honesto apud suos ortus loco. clausis oculis natum se esse dicebat; sed, quia intus sani palpebris cohaerentibus non patebant, medicum eos ferro aperire voluisse neque hoc permisisse religiosam matrem suam, sed id effecisse imposito ex eucharistia cataplasmate, cum iam puer quinque fere aut amplius esset annorum, unde hoc se satis meminisse narrabat. c. Iulian. op. imperf. 3,162 (429-430) Bei uns lebte ein gewisser Acatius, ein Mann aus der Oberschicht seines Stamms. Er sagte aus, er sei mit verschlossenen Augen geboren worden. Weil sie nun, innen zwar gesund, hinter den zusammengewachsenen Lidern sich nicht aufschlagen liessen, habe der Arzt sie mit einer eisernen Klinge eröffnen wollen; seine Mutter aber habe aus Frömmigkeit dies nicht zugelassen, vielmehr dasselbe erreicht, indem sie ihm einen breiigen Umschlag aus Abendmahls- Brot aufgelegt habe. Damals sei er etwa fünfjährig oder mehr gewesen und könne sich deshalb, erzählte er, recht gut daran erinnern. Die Bereitschaft des Arztes zu einer Augenlider-Öffnung ist glaubhaft. Celsus (frühe Kaiserzeit) bezeugt sogar die Star-Operation. interroga medicos, et dicant tibi, quam multis, ubi possunt, opitulentur, ne vitia corporibus innata permaneant vel etiam natos necent; nam quidam, sicut alii oribus, ita clausis inferioribus meatibus oriuntur, quae utique vitia, si maneant, non eos sinunt vivere. c. Iulian. op. imperf. 3,162 (429-430) Frage die Ärzte, und sie können dir sagen, wie Vielen sie nach Möglichkeit Hilfe leisten, damit ihnen angeborene Fehler nicht fortbestehen oder sie sogar gleich nach der Geburt das Leben kosten. Denn einige werden, so wie andere mit verschlossenem Mund, so mit verwachsenen unteren Ausgängen geboren, Mängel, die ein Überleben auf die Dauer nicht erlauben. in eadem Carthagine Innocentia, religiosissima femina (…) in mamilla cancrum habebat, rem, sicut medici dicunt, nullis medicamentis sanabilem. aut ergo praecidi solet et a corpore separari membrum, ubi nascitur, aut, ut aliquanto diutius homo vivat, tamen inde morte quamlibet tardius adfutura, secundum Hippocratis, ut ferunt, sententiam omnis est omittenda curatio. civ. 22,8 (vor 427) Ebenfalls in Karthago lebte Innocentia, eine ausserordentlich fromme Frau (…). Sie hatte Brustkrebs, ein Leiden, das nach Aussage der Ärzte auf kein Medikament anspricht. Daher schneidet man gewöhnlich die Stelle, wovon der Krebs ausgeht, vom Körper weg, oder man unterlässt - wozu Hippokrates geraten haben soll - jede Behandlung, sodass die Patientin zwar noch eine gewisse Zeit lebt, dann aber der Tod sich dennoch einstellt. Innocentia entgeht der Operation; denn Gott gibt ihr in einem Traum den Weg zur Genesung ein: Am Osterfest soll die erste ihr begegnende Neugetaufte die kranke Stelle mit dem Kreuz zeichnen: «Die Heilung erfolgte sofort, confestim sanitas consecuta est.» <?page no="134"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 134 scrupulosissime quidem inter doctissimos quaeri ac disputari potest - quod, utrum ab homine inveniri possit, ignoro -, quando incipiat homo in utero vivere, utrum sit quaedam vita et occulta, quae nondum motibus viventis appareat. nam negare vixisse puerperia, quae propterea membratim exsecantur et eiciuntur ex uteris praegnantium, ne matres quoque, si mortua ibi relinquantur, occidant, impudentia nimia videtur. enchir. 23,86 (421-422) Höchst gelehrte Männer können freilich die Frage stellen und mit höchster Gewissenhaftigkeit erörtern - ob der Mensch dies herausfinden kann, weiss ich allerdings nicht -, wann der Mensch im Mutterleib zu leben beginne; ob nicht schon irgendeine Art von Leben unspürbar existiere, das sich noch nicht durch Bewegungen als Leben manifestiert. Denn geradewegs zu bestreiten, dass das Kind vorher gelebt habe, das Glied für Glied aus dem Leib von Schwangeren herausgeschnitten und ausgeworfen wird, damit nicht auch die Mutter sterbe, falls die tote Frucht in ihrem Körper verbleibt, scheint mir bare Unverschämtheit. Augustin stellt sich die Frage nach einem Leben im Mutterleib nicht aus medizinischen Gründen: Werden auch abgestorbene Embryonen auferstehen? Er bejaht die Frage; denn, was einmal gelebt hat, kann auferstehen. - Glücklicherweise riefen nicht alle Leiden nach einem ärztlichen Eingriff; auch «Selbstheilung» kam vor: quomodo, qui manducat ore corporis uvas acerbas, obrigescunt et obstupescunt dentes eius, et minus idoneus fit ad manducandum panem, et remanet illi laudare, quod videt, et manducare non posse (…). quid faciunt illi, quibus obstupuerunt dentes? temperant se aliquantum ab uvis acerbis, et redeunt dentes ad stabilitatem suam, et incumbunt pani. in psalm. 48, serm. 2,8 (410-412) Es ist gerade so, wie wenn einer unreife Trauben im Mund zerbeisst: Seine Zähne werden steif und starr, und er ist nicht mehr fähig, Brot zu essen, und bei Tisch bleibt ihm nur, was er vor sich liegen sieht, zu loben; essen aber kann er es nicht (…). Was tun die, denen die Zähne erstarrt sind? Sie nehmen sich einige Zeit in Acht vor unreifen Trauben, und die Zähne finden wieder zu ihrer alten Tüchtigkeit zurück und werfen sich wieder auf Brot. > Edelstein; Flashar; Geroulanos; Müri <?page no="135"?> W 16 Grösse und Elend des Menschen 135 W 16 Grösse und Elend des Menschen Trotz der oft fehlenden oder ungesicherten Datierungen und bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber jeder Auswahl von Texten (wenn auch aus einer riesigen Belegreihe) lässt sich am Textbestand eine Tendenz Augustins ablesen, in jüngeren Jahren dem Motiv der Grösse des Menschen mehr Raum zu geben als dem Elend, während er in seiner späteren Schaffenszeit einen scharfen Blick für das Dunkle am Menschsein entwickelt. Eine solche Perspektiven-Drehung mag einerseits als Alterungs-Vorgang natürlich erscheinen und daher erwartbar sein; anderseits könnte sie erst recht als naheliegend verstanden werden, wenn man sich die jeweilige «Hauptarbeit» des Denkers und Polemikers Augustin bewusst macht: Während er sich in den Jahren nach seiner Taufe absetzt gegen die Zwei- Prinzipien-Lehre der Manichäer (das Böse ist gleich stark wie das Gute; der Mensch ist der Spielball beider), akzentuiert Augustin die Überlegenheit des Guten: das Böse ist kein Prinzip, vielmehr ein Mangel an dem einen Prinzip des Guten. In seinen letzten zwei Lebens-Jahrzehnten dagegen, während des sich zunehmend verschärfenden Kampfes gegen die optimistischen Lehren des Pelagius (der Mensch kann seiner Schwächen aus eigener Kraft Herr werden; er hat Gottes Gnade nur subsidiär nötig; es gibt keine Erbsünde), sieht sich Augustin veranlasst, Schwachheit und Ausgeliefertsein des Menschen, sein unbedingtes Angewiesensein auf Gottes Gnade und seine Gnadenmittel (Taufe) zu betonen. Wichtig scheint jedoch (was sich auch anhand der vorgeführten Belege zeigt), dass Augustin selbstverständlich weder früh blind für das Prekäre menschlicher Existenz noch später blind für das Ermutigende gewesen ist. <?page no="136"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 136 Elend des Menschen Mit Leichtigkeit kann Augustin deutlich machen, dass die Erdenwelt nicht der Ort der Glückseligkeit ist: status quoque corporis atque motus, cum decentes et congruentes sunt, inter naturae prima numerantur; sed quid, si aliqua mala valetudo membra tremore concutiat? quid, si usque ad ponendas in terra manus dorsi spina curvetur et hominem quodam modo quadrupedem faciat? nonne omnem statuendi corporis et movendi speciem decusque pervertet? civ. 19,4 (vor 427) Zu den vorzüglichen Gütern der Natur zählen doch auch Haltung und Bewegung des Körpers, wenn sie anmutig und harmonisch sind. Was aber, wenn irgendeine Krankheit die Glieder in ständigem Zittern durchschüttelt? Was, wenn sich die Wirbelsäule so stark krümmt, dass der Betroffene die Hände auf dem Boden abstützt und so gewissermassen zum Vierfüssler wird? Muss das nicht alle Schönheit und Anmut von Haltung und Bewegung ins Gegenteil verkehren? Nicht nur körperlich, erst recht seelisch kann der Mensch mit schweren Mängeln behaftet sein: (…) insana gaudia, discordiae, lites, bella, insidiae, iracundiae, inimicitiae, fallacia, adulatio, fraus, furtum, rapina, perfidia, superbia, ambitio, invidentia, homicidia, parricidia, crudelitas, saevitia, nequitia, luxuria, petulantia, inpudentia, inpudicitia, fornicationes, adulteria, incesta et contra naturam utriusque sexus tot stupra atque inmunditiae, quas turpe est etiam dicere, sacrilegia, haereses, blasphemiae, periuria, oppressiones innocentium, calumniae, circumventiones, praevaricationes, falsa testimonia, iniqua iudicia, violentiae, latrocinia (…). civ. 22,22 (vor 427) (…) wahnwitzige Freude, Zwietracht, Prozesse, Kriege, Hinterlist, Zornesausbrüche, Feindschaften, Betrügerei, Kriecherei, Übervorteilung, Diebstahl, Raub, Wortbruch, Hochmut, Ehrsucht, Missgunst, Totschlag, Morde an Verwandten, Grausamkeit, Wildheit, Nichtsnutzigkeit, Schwelgerei, Frechheit, Schamlosigkeit, Unzucht, Hurerei, Ehebruch, Blutschande, widernatürlicher Umgang und Schmutz bei beiden Geschlechtern, wovon auch nur zu sprechen einen beschämt, Frevel, Ketzerei, Gotteslästerung, Meineid, Unterdrückung Unschuldiger, Verleumdung, Umgarnung, Pflichtverletzung, falsches Zeugnis, ungerechte Urteile, Gewalttätigkeiten, Strassenraub (…). Darf ein gläubiger Christ überhaupt das Düstere unserer Existenz mit derart unbestechlichem Blick erfassen? - Ja! denn Christus war noch radikaler: <?page no="137"?> W 16 Grösse und Elend des Menschen 137 ista vita mortalis, in qua nunc sumus, ex illius vitae comparatione mors esse convincitur. (…) ideo dominus illi diviti, qui ei dixerat: magister bone, quid faciam, ut vitam aeternam consequar? respondit: si vis venire ad vitam, serva mandata. (…) quia ille de consequenda vita aeterna quaesiverat, non ait dominus: ‹si vis venire ad vitam aeternam…›, sed: si vis, inquit, venire ad vitam, serva mandata. videlicet hoc intellegi volens, quoniam, quae vita aeterna non est, nec vita dicenda est. Mt 19,16f serm. 346,1 (? ) Es lässt sich unwiderlegbar zeigen, dass unser sterbliches Leben, in dem wir uns jetzt aufhalten, im Vergleich mit dem jenseitigen Leben Tod ist. (…) Deshalb hat der Herr jenem Reichen, der ihn fragte: Guter Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erlange? geantwortet: Wenn du zum Leben gelangen willst, so halte die Gebote. (…) Jener hatte danach gefragt, wie das ewige Leben zu erlangen sei, und darauf sagte der Herr nicht etwa: ‹Wenn du zum ewigen Leben gelangen willst…›, sondern vielmehr: Wenn du zum Leben gelangen willst, halte die Gebote. Offensichtlich wollte er deutlich erkennen lassen, dass ein Leben, das nicht das ewige Leben ist, nicht einmal als Leben bezeichnet werden kann. Augustin hat diese Deutung der Stelle mehr als einmal vertreten. Noch eine weitere Bibelstelle verbindet Augustin gerne mit dem Phänomen der unvollkommenen Menschenwelt; es ist seine Lieblingsstelle aus der Weisheit Salomos. Auf sie zielt das Folgende: quid dicam de his, qui daemonum patiuntur incursus? ubi habent absconditam vel obrutam intellegentiam suam, quando secundum suam voluntatem et anima eorum et corpore malignus utitur spiritus? et quis confidit hoc malum in hac vita evenire non posse sapienti? deinde perceptio veritatis in hac carne qualis aut quanta est, quando, sicut legimus in veraci libro sapientiae, corpus corruptibile adgravat animam et deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem? Sap 9,15 civ. 19,4 (vor 427) Was soll ich von denen sagen, die unter dem Ansturm von Dämonen zu leiden haben? Wo ist ihr Erkenntnisvermögen verborgen oder zugeschüttet, wenn ein böser Geist sich ihrer Seele und ihres Körpers nach Gutdünken bedient? Und wer kann garantieren, dass dieses Übel im hiesigen Leben nicht auch dem Weisen zustossen kann? Und weiter: welcher Art bzw. wie wenig umfassend ist das Begreifen der Wahrheit, solange wir in unserem Leib leben, da wir doch in dem Buch der Weisheit, einem Quell der Wahrheit, lesen: Der vergängliche Leib belastet die Seele, und die irdische Wohnstatt drückt den vielsinnenden Geist nieder? Auch in einem seit Menschengedenken wiederkehrenden Erlebnis findet sich düstere Weltsicht bestätigt: <?page no="138"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 138 quis enim non hic plorat in via ista mala, quando ipse infans inde incipit? utique infans, quando nascitur, de angustiis uteri in huius mundi latitudinem funditur, de tenebris procedit ad lucem, et tamen, de tenebris veniens ad lucem, plorare potest, ridere non potest! serm. 31,4 (vor 405) Wer denn hat hier auf unserer leidvollen Bahn nicht zu weinen? Macht doch der Säugling den Anfang eben damit. Das Kind wird bei seiner Geburt doch aus der Enge des mütterlichen Schosses in die Weite dieser Welt entlassen, geht aus der Dunkelheit ans Licht hervor - und dennoch: obwohl es aus der Finsternis ans Licht tritt, kann es nur weinen; lachen kann es nicht! Könnte der Mensch nicht daraus Trost schöpfen, dass er, als ein soziales Wesen, immer schon in eine Gemeinschaft eingebettet ist? dicitis ‹molesta tempora, gravia tempora, misera tempora sunt›. vivite bene, et mutatis tempora vivendo bene! tempora mutatis et non habetis, unde murmuretis. Ihr sagt mir: «Beschwerliche Zeiten, drückende Zeiten, elende Zeiten sind das.» Lebet, wie man soll, und ihr verändert die Zeiten, indem ihr lebt, wie man soll! Ihr verändert die Zeiten und habt dann keinen Grund mehr, zu murren. quid sunt enim tempora, fratres mei? spatia et volumina saeculorum. ortus est sol; peractis horis duodecim ex alia mundi parte occidit; alia die mane ortus iterum occidit. numera, quoties: ipsa sunt tempora. quem laesit solis ortus? quem laesit occasus solis? - ergo neminem laesit tempus. Denn, was sind ‹Zeiten›, meine Brüder? Weite Maße und Umläufe von vielen Jahren. Die Sonne ist aufgegangen; nach zwölf Stunden geht sie auf der andern Seite der Welt unter; anderntags morgens geht sie auf, dann wieder unter. Kannst zählen, wie oft: eben das sind Zeiten. Wen hat der Sonnenaufgang verletzt? Wen hat der Sonnenuntergang verletzt? Also: niemanden hat die Zeit verletzt. qui laeduntur, homines sunt; a quibus laeduntur, homines sunt! o magnus dolor: homines laeduntur, homines spoliantur, homines opprimuntur - a quibus? non a leonibus, non a colubris, non a scorpionibus, sed ab hominibus! serm. 311,8,8 (401-405) Wer verletzt wird, das sind Menschen. Von wem sie verletzt werden, das sind Menschen! Ach, furchtbarer Schmerz: Menschen werden verletzt, Menschen werden ausgeplündert, Menschen werden unterdrückt - von wem? Nicht von Löwen, nicht von Schlangen, nicht von Skorpionen, sondern von Menschen! quando homo potest non contristari? inimicum patitur ex amico. quae maior miseria in genere humano? in psalm. 49,22 (400-412) Wann hätte der Mensch Anlass, nicht betrübt zu sein? Er muss sogar erleben, wie aus einem Freund ein Feind wird. Gibt es ein grösseres Elend im Menschengeschlecht? <?page no="139"?> W 16 Grösse und Elend des Menschen 139 Tägliche Erfahrung ist die Hinfälligkeit und grundlegende Gefährdung des Menschen. Nur zwei Stimmen: quis enim non aegrotat in hac vita? quis non languorem longum trahit? nasci hic in corpore mortali incipere aegrotare est. quotidianis medicamentis fulciuntur indigentiae nostrae; quotidiana medicamenta sunt refectiones omnium indigentiarum. fames nonne te occideret, nisi medicamentum eius apponeres? sitis nonne te perimeret, nisi eam tu bibendo - non penitus exstingueres, sed differres? reditura est! in psalm. 102,6 (403-412) Wer ist denn nicht krank in diesem Leben? Wer schleppt nicht ein Dauerleiden mit sich? In dieser Welt geboren zu werden, in einem sterblichen Körper, heisst doch, in den Stand der Krankheit zu treten. Tag für Tag kämpfen wir mit Medikamenten gegen unsere Mängel. Unser ständiges Ausbessern all der Mangel-Empfindungen, das ist doch tägliche Medizin: Würde dich etwa der Hunger nicht umbringen, wenn du ihm nicht ein ‹Medikament› vorsetztest? Würde der Durst dich nicht erledigen, wenn du ihn nicht durch Trinken - nicht etwa: ganz löschtest, sondern ein bisschen noch von dir wegschöbest? Achtung: er kommt wieder! sed longe est, inquis, iudicium! - primo, quis tibi dixit, quia longe est dies iudicii? numquid, si longe est dies iudicii, longe est dies tuus? unde scis, quando est? nonne multi sani dormierunt et obduruerunt? nonne casus nostros nobiscum in hac carne portamus? nonne fragiliores sumus, quam si vitrei essemus? vitrum enim, etsi fragile est, tamen, servatum diu, durat, et invenis calices ab avis et proavis, in quibus bibunt nepotes et pronepotes. tanta fragilitas custodita facta est annosa; nos autem homines et sub tantis casibus quotidianis fragiles ambulamus et, si casus ipsi repentini non acciderint, diu tamen vivere non valemus. serm. 17,7 (? ) «Aber das Jüngste Gericht ist noch ferne! » sagst du. - Zum ersten: Wer hat dir gesagt, dass der Tag des Gerichts fern ist? Und, falls der Tag des Gerichts noch fern ist -: ist vielleicht dein eigener Tag auch noch fern? Woher weisst du, wann der kommt? Sind nicht Viele ganz gesund zu Bett gegangen und steif geworden? Tragen wir in unserer Leiblichkeit nicht viele Wege zum Tod mit uns? Sind wir nicht zerbrechlicher, als wenn wir aus Glas wären? Denn Glas kann, so zerbrechlich es ist, dennoch dauern, wenn man sorgsam mit ihm umgeht, und man kann Becher finden aus den Zeiten von Grossvater und Urgrossvater, aus denen Enkel und Urenkel noch trinken. Soviel Zerbrechlichkeit hat, weil behütet, Generationen überdauert; wir Menschen aber wandeln, angesichts soviel tagtäglicher Todesgefahren, zerbrechlich dahin, und unsere Kraft reicht, auch wenn keine überraschenden Schläge eintreten, dennoch nicht zu wahrhaft langem Leben. <?page no="140"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 140 Wiederkehrender Stossseufzer des Predigers Augustin: Die Menschen sind ihrer Aufgabe, den Wert der «Welt» richtig einzuschätzen, nicht gewachsen: quid faciamus? quid agamus? quid dicamus? quos comminationis aculeos, quos exhortationis ignes admoveamus cordibus duris et pigris et terreni stuporis glacie congelatis, ut torporem mundi aliquando decutiant et in aeterna inardescant? serm. 302,2 (400) Was sollen wir tun, was beginnen, was sagen? Welche Stacheln der Drohung, welche Feuerbrände von Mahnungen angesichts solch harter, träger und vom Eis erdenschwerer Starre gefrorener Herzen herbeiholen, damit sie das dumpfe Anstaunen dieser Welt endlich abschütteln und für das Ewige entbrennen? ! Und - was seine Erniedrigung besiegelt - der Mensch hängt an eben diesem Dasein in der Welt: turbatur mundus, et amatur mundus! quid, si tranquillus esset mundus? formoso quomodo haereres, qui sic amplecteris foedum? ! flores eius quomodo colligeres, qui ab spinis non revocas manum? non vis relinquere mundum; relinquit te mundus, et sequeris mundum! serm. 38,11 (? ) Die Welt ist Verwirrung und Unordnung, und doch wird die Welt geliebt! Was, wenn die Welt erst ruhig und friedlich wäre? Wie würdest du an einer schönen Welt kleben, wenn du sie schon umarmst, da sie hässlich ist! Wie würdest du ihre Blumen aufsammeln, wo du deine Hand nicht einmal von ihren Dornen zurückziehen magst! Du bist nicht willens, die Welt zu verlassen; dabei verlässt dich die Welt, und du rennst dieser Welt noch nach! <?page no="141"?> W 16 Grösse und Elend des Menschen 141 Grösse des Menschen an vero ita quis caecus est mente, ut non cernat, quanto terris ornamento sit genus humanum, etiam cum a paucis recte laudabiliterque vivatur? gen. ad litt. 9,9,14 (401-414) Oder ist jemand etwa so mit Blindheit geschlagen, dass er nicht erkennen kann, welch eine Zierde für die Erde das Menschengeschlecht ist - sogar wenn nur wenige ihr Leben richtig und lobenswert führen? (Woher nähmen wir heute den Mut zu einer derart stolzen Aussage? ) Augustin sieht sogar da, wo nicht «lobenswert» gelebt wird, die Grösse des Menschen: quid enim tam magnum in domo est quam homo? et quid tam abiectum et infimum quam cloaca domus? servus tamen in tali peccato detectus, ut mundandae cloacae dignus habeatur, ornat eam etiam turpitudine sua. lib. arb. 3,96 (391-395) Was ist so ansehnlich in einem Haus wie der Mensch? Und was so verächtlich und niedrig wie die Kloake des Hauses? Und doch: ein Sklave, der bei einer derart schweren Verfehlung betroffen worden ist, dass man ihn gerechterweise zur Reinigung der Kloake bestimmt, ziert dieselbe - selbst noch in seiner Schmach. pannosa quippe vestis damnati servi multo est inferior veste bene meriti et in honore magno apud dominum constituti. sed ipse servus melior est qualibet veste pretiosa, quia homo est. lib. arb. 3,118 (391-395) Das zerlumpte Kleid eines verurteilten Sklaven ist viel weniger wert als das Gewand eines Dieners, der dank seiner Verdienste beim Herrn in hohen Ehren steht. Aber jener Sklave ist wertvoller als jedes noch so kostbare Gewand - weil er ein Mensch ist. habemus (…) ipsum esse cum lignis et lapidibus, vivere cum arboribus, sentire cum bestiis, intellegere cum angelis. serm. 43,4 (? ) Wir haben (…) das Dasein mit Holz und Stein gemein, das Leben mit den Bäumen, die Sinnesempfindung mit den Tieren, die Erkenntnis mit den Engeln. «mit den Engeln»: Der Mensch scheint also im Irdischen nicht vollkommen aufzugehen. <?page no="142"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 142 si deus veniens voce propria loqueretur nobis (…) et diceret homini: «peccare vis? pecca; fac, quidquid te delectat; quidquid amaveris in terra, tuum fiat; cui fueris iratus, intereat; quem rapere volueris, rapiatur; quem caedere, caedatur; quem damnare, damnetur; quem possidere, possideas. nemo tibi resistat; nemo tibi dicat ‹quid facis? › nemo ‹noli facere! › nemo ‹quare fecisti? › abundent tibi omnia ista terrena, quae concupisti; et vive in illis, non usque ad tempus, sed semper! faciem tantum meam numquam videbis.» - fratres mei, unde ingemuistis? in psalm. 127,9 (405-411) Käme Gott und würde zu uns mit seiner eigenen Stimme reden (…) und sagen: «Willst du sündigen? Sündige nur; mach, was immer dir Spass bereitet! Woran immer auf Erden du Gefallen findest, das werde dein eigen. Wem du zürnst, der komme um. Wen du entführen willst, werde entführt. Wen du niedermachen willst, werde niedergemacht. Wen du verurteilt sehen willst, werde verurteilt. Wen du besitzen willst, den mögest du besitzen. Keiner soll imstande sein, sich dir zu widersetzen. Keiner soll zu dir sagen: ‹Was tust du da? › Keiner: ‹Tu’s nicht! › Keiner: ‹Weshalb hast du das getan? › All das hier auf Erden, wonach dein Begehren ging, stehe dir in reicher Fülle zu Gebote. Und - lebe vergnügt in all dem, nicht etwa nur auf Zeit, sondern für immer! Allerdings, mein Angesicht sollst du niemals schauen.» - Liebe Brüder, warum habt ihr eben gestöhnt? Der Text spiegelt unmittelbar, dass sich Augustin so gut wie seine Hörer ein Leben ohne Unendlichkeits-Dimension nicht oder doch nur als ein immerwährendes Unglücklichsein vorstellen können. Unendlichkeits-Bezogenheit heisst für sie Gott-Bezogenheit. Und erst von daher darf auf Grösse des Menschen reflektiert werden … …nam et nos aliquod bonum ab illo sumus, qui fecit omnia bona valde, in quibus fecit et nos. vgl. Gen 1,31 gen. ad litt. 4,16,27 (401-414) …denn auch wir sind ein Gut von ihm her, der alles sehr gut geschaffen hat, und darunter hat er auch uns geschaffen. Mit dieser Bibelstelle also legitimiert sich, wer gross vom Menschen denkt. necesse est enim, ut aliter quam oportet humana aestimet, qui divina contemnit, nec hominem recte diligere noverit, quisquis eum non diligit, qui hominem fecit. epist. 258,2 (387-395) Wer dem Bereich des Göttlichen keine Beachtung schenkt, schätzt zwangsläufig den Bereich des Menschlichen anders ein, als es sich gebührt, und, wer den nicht achtet, der den Menschen erschaffen hat, wird den Menschen nicht angemessen hoch zu achten wissen. <?page no="143"?> W 16 Grösse und Elend des Menschen 143 Kühn wagt Augustin einen «Beweis» dafür, dass der Mensch auf ewiges Leben hin angelegt ist: si ad nos adtendamus, quid sumus? si ad illum, deus est, omnipotens est. non est facturus angelum ex homine, qui fecit hominem ex nihilo? aut vero pro minimo habet deus hominem, propter quem mori voluit unicum suum? (…) quid tibi promisit deus, o homo mortalis? quia victurus es in aeternum! non credis? crede! crede! plus est iam, quod fecit, quam, quod promisit. (…) incredibilius est, quod mortuus est aeternus, quam, ut in aeternum vivat mortalis. iam, quod incredibilius est, tenemus. (…) induit se, ubi pro te moreretur; induet te, ubi cum illo vivas. der ewig ist: Christus in psalm. 148,8 (395-411) Wenn wir den Blick auf uns richten, was sind wir? Wenn auf ihn -: er ist Gott; er ist der Allmächtige. Kann er nicht einen Engel aus einem Menschen machen, er, der den Menschen aus nichts erschaffen hat? Oder erachtet Gott den Menschen etwa für ganz unerheblich, wenn er bestimmte, dass um seinetwillen sein einziger Sohn sterben müsse? (…) Was hat dir Gott versprochen, du sterblicher Mensch? Dass du leben wirst in Ewigkeit! Glaubst du dies nicht? Glaub’ es, glaube es! Hat er doch bereits mehr verwirklicht als, was er versprochen hat. (…) Weniger glaublich ist nämlich, dass, der ewig ist, gestorben ist, als, dass ein Sterblicher zum ewigen Leben kommt. Bereits halten wir also in Händen, was weniger glaublich ist. (…) Er hat sich gewandet, um da für dich zu sterben; er wird dich gewanden, damit du dort mit ihm lebest. Den Menschen tief zu werten, verbietet - neben dem Opfertod Christi - vor allem auch das Motiv der Gott-Ebenbildlichkeit (Gen 1,26f): nolite vos abicere et desperare de vobis. homines estis: ad imaginem dei facti estis. in psalm. 32, enarr. 2, serm. 1,4 (403) Werfet euch nicht weg und verzweifelt nicht an euch! Ihr seid ja Menschen: nach dem Bilde Gottes seid ihr geschaffen. Doch was meint solche Ebenbildlichkeit? vos autem, fratres, considerate vos homines factos ad imaginem et similitudinem dei. imago dei intus est, non est in corpore. non est in auribus istis, quas videtis, et oculis et naribus et palato et manibus et pedibus; sed est facta tamen: ubi est intellectus, ubi est mens, ubi ratio investigandae veritatis, ubi est fides, ubi est spes vestra, ubi caritas vestra, ibi habet deus imaginem suam. in psalm. 48, serm. 2,11 (410-412) Ihr aber, liebe Brüder, bedenket, dass ihr als Menschen nach Gottes Bild und Ähnlichkeit geschaffen seid. Dieses ‹Bild Gottes› findet sich innen; es ist nicht am Körper ablesbar. Es findet sich nicht an den Ohren, die ihr sehen könnt, nicht in Augen und Nase und Gaumen, nicht in Händen und Füssen. Dennoch ist es da: Wo Einsicht ist, wo Gesinnung ist, wo das Vermögen, die Wahrheit zu finden, wo der Glaube ist, wo eure Hoffnung ist, wo eure Liebe - da hat Gott sein Ebenbild. <?page no="144"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 144 iamne igitur ascendendum est qualibuscumque intentionis viribus ad illam summam et altissimam essentiam, cuius impar imago est humana mens - sed tamen imago? trin. 10,12,19 (399-419) Sollen wir also jetzt, im Vertrauen auf all unsere Kräfte der Achtsamkeit, emporsteigen zu jener erhabensten und obersten Wesenheit, deren nicht ebenbürtiges Abbild der menschliche Geist ist - unvollkommen, aber immerhin Abbild? «tamen imago, immerhin Abbild»: Augustin hat mehrfach Grösse und Wert des Menschen verteidigt, indem er auf diesem Dennoch/ Immerhin beharrte (z.B. trin. 9,2,2 attamen imagine). Er verkehrt sogar einmal (trin 14,4,6) die tief pessimistische Aussage des Psalmendichters in ihr Gegenteil zugunsten seines geliebten Gedankens. Ein Ausspruch Christi verhilft dem Prediger dazu, den verhältnismässig schwer fassbaren ‹Abbild›-Gedanken näher an sein Publikum heranzutragen: moneta dei sumus; nummus a thesauro oberravimus. errore detritum est, quod in nobis fuerat impressum. venit, qui reformet, quia ipse formaverat. quaerit et ipse nummum suum - sicut Caesar nummum suum. ideo ait: reddite Caesari, quae Caesaris sunt, et deo, quae dei sunt. Caesari nummos, deo vos ipsos! Mt 22,21 in evang. Ioh. 40,9 (414-417) Wir sind eine von Gott geprägte Münze. Als Geld sind wir aus dem Schatzhaus in die Welt gegangen. Beim Gang von Hand zu Hand ist abgeschliffen worden, was uns aufgeprägt war. Gekommen ist, der es neu prägen kann; hatte er es doch einst selber geprägt. Auch er sucht seine Münze - so wie der Kaiser die seine. Deshalb sagt er: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Dem Kaiser Münzen, Gott aber - euch selbst! si Caesar quaerit in nummo imaginem suam, deus non quaerit in homine imaginem suam? in psalm. 94,2 (405-412) Wenn der Kaiser in der Münze sein Bildnis sucht, sucht da Gott nicht im Menschen das seine? <?page no="145"?> W 16 Grösse und Elend des Menschen 145 sicut enim in nummo imago imperatoris aliter est et aliter in filio (nam imago et imago est, sed aliter impressa est in nummo; aliter habetur in filio, aliter in solido aureo imago imperatoris), sic et tu nummus dei es, ex hoc melior, quia cum intellectu et cum quadam vita nummus dei es, ut scias etiam, cuius imaginem geras et ad cuius imaginem factus sis. nam nummus nescit se habere imaginem regis. serm. 9,9 (? ) So nämlich, wie sich auf einer Münze das Bildnis des Kaisers in anderer Weise findet als in dessen Sohn (denn beide zwar sind Abbilder, doch anders ist das Gepräge auf einer Münze; anders tritt einem das Bild des Kaisers im Sohn entgegen als auf einem Goldstück), so bist du eine Münze Gottes - allerdings deswegen wertvoller als das Goldstück, weil du eine Münze Gottes mit Erkenntniskraft und Leben bist, sodass du dir zudem bewusst bist, wessen Abbild du trägst und nach wessen Bilde du geschaffen bist. Denn das Geldstück weiss nicht, dass es das Bild des Herrschers trägt. Hohe Feier des Schöpfers und des Geschöpfs: quid praeclarius angelo in creaturis? quid extremius vermiculo in creaturis? per quem factus est angelus, per ipsum factus est et vermiculus. sed angelus dignus caelo, vermiculus terra. qui creavit, ipse disposuit. si poneret vermiculum in caelo, reprehenderes; si vellet angelos nasci de putrescentibus carnibus, reprehenderes; et tamen prope hoc facit deus, et non est reprehendendus. nam omnes homines de carne nascentes quid sunt nisi vermes? et de vermibus angelos facit! in evang. Ioh. 1,13 (414-417) Was ist herrlicher unter den Geschöpfen als ein Engel? Was ist niedriger unter den Geschöpfen als ein Wurm? Von wem der Engel geschaffen ist, von dem ist auch der Wurm geschaffen. Allein, dem Engel ziemt der Himmel, dem Wurm das Erdreich. Der beide geschaffen, hat es so bestimmt. - Setzte er den Wurm in den Himmel, würde man’s tadeln; wünschte er die Geburt der Engel aus fauligem Fleisch, würde man’s tadeln. Und doch: beinah das tut Gott! Und er ist nicht zu tadeln. Denn alle Menschen in ihrer Geburt aus dem Fleisch, was sind sie, wenn nicht Würmer? Und aus solchen macht er Engel! <?page no="146"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 146 W 17 Spätzeit iam in ipso fine saeculi sumus jetzt befinden wir uns am Ende der Zeiten serm. Guelf. 28,7 (410) Es scheint ein altes Vorrecht der Verkünder unbeweisbarer Lehren zu sein, ihre stets zuwenig gläubigen Mitmenschen durch Drohungen dahin zu bringen, sich ihnen anzuschliessen. Beliebt ist die Drohung, dass das Ende der Welt nahe, dass es somit höchste Zeit sei, sich zu bekehren. Allbekannt in der christlichen Tradition ist der (von Jesus aufgenommene) Ruf von Johannes dem Täufer: paenitentiam agite: appropinquavit enim regnum caelorum. Mt 3,2 (Mt 4,17) Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Besonders wirksam sind solche Mahnungen, wenn sie, wie in der späteren Kaiserzeit, in eine Epoche von schwachem Selbst- und Weltvertrauen hineingesprochen werden. Ihren Ausdruck findet diese Spätzeit-Stimmung etwa bei dem von Augustin hoch verehrten Karthager Bischof Cyprian (Mitte 3. Jh.). Er glaubt zB feststellen zu können, dass die Jahreszeiten aus den Fugen sind, dass sich die Marmorbrüche bedenklich erschöpfen, dass unter Tage die metallführenden Adern täglich unergiebiger werden und moralischer Niedergang den Umgang zwischen den Menschen beherrsche (ad Demetrianum 3,2). - In resoluter Weise nutzt Augustin die allgemeine Klage für sein Ziel, den Hörern die Hinfälligkeit von irdischem Besitz und die Beständigkeit eines «Schatzes im Himmel» vor Augen zu führen: non surgitur, non proceditur, nisi, ut una voce dicatur ab omnibus: vae nobis; ruit mundus! - si ruit, quare non migras? si tibi architectus diceret ruituram domum tuam, nonne prius migrares quam murmurares? instructor mundi tibi dicit ruiturum mundum. non est, cui contradicas! serm. 60,6 (397) Man kann ja morgens nicht aufstehen, kann nicht ausser Hauses gehen, ohne dass aus aller Munde die Klage ertönt: Weh uns, die Welt stürzt zusammen! - Wenn sie zusammenstürzt, warum ziehst du dann nicht um? Wenn dir ein Architekt sagte, dein Haus stehe kurz vor dem Einsturz, würdest du da nicht eher ausziehen, als darüber zu murren? Der diese Welt eingerichtet hat, sagt dir, sie werde einstürzen. Ihm solltest du nicht widersprechen! <?page no="147"?> W 17 Spätzeit 147 Die Nichtchristen im römischen Reich finden den Schuldigen mit Leichtigkeit - aber auch den Verteidiger desselben: ex quo venit Christus, ista tempora patimur; ex quo sunt christiani, in omnibus deficit mundus. - o aeger insipiens! non, quia medicus venit, gravior facta est aegritudo tua, sed ideo medicus venit, quia gravior futura erat aegritudo tua. praevidit illam, non fecit; venit autem, ut consoletur te et vere sis sanus. serm. Dolbeau 5,15 (403-404) Seit der Christus gekommen ist, müssen wir uns solche Zustände gefallen lassen; seit es Christen gibt, krankt die Welt in allen Dingen. - Du unverständiger Patient! Nicht weil der Arzt gekommen ist, hat sich deine Krankheit verschlimmert; vielmehr ist der Arzt gekommen, weil man erwarten musste, dass deine Krankheit schlimmer würde. Er hat die Krankheit vorhergesehen, nicht bewirkt, und zwar ist er gekommen, dich zu trösten und wahrhaft zu heilen. Die düstere Stimmung verfestigt sich als Folge der Eroberung Roms durch Alarichs Westgoten im Sommer 410: horrenda nobis nuntiata sunt: strages factae, incendia, rapinae, interfectiones, excruciationes hominum. verum est: multa audivimus, omnia gemuimus, saepe flevimus. urb. exc. 2,3 (410) Schreckliches ist uns gemeldet worden: Verwüstungen sind geschehen, Brände, Plünderungen, Tötungen, Quälereien an Menschen. Wahr ist es: viel haben wir gehört, über alles gestöhnt, oft geweint. miraris, quia deficit mundus? mirare, quia senuit mundus. homo est: nascitur, crescit, senescit. querelae multae in senecta: tussis, pituita, lippitudo, anxietudo, lassitudo inest. ergo senuit homo; querelis plenus est. senuit mundus; pressuris plenus est. serm. 81,8 (410-411) Wunderst du dich, dass die Welt sich neigt? Wundere dich eher, dass sie so alt geworden ist! Wie beim Menschen: er wird geboren, wächst heran, und wird zum Greis. Zum Alter gehören viele Beschwerden: Husten, Schnupfen, triefende Augen, Mutlosigkeit, Mattigkeit. So ist der Mensch alt geworden; immer Anlass zu Klagen. - Nun ist die Welt eben alt geworden; überall Drangsal und Not! Scharfsinnig und scharfzüngig der Zusatz: parum tibi praestitit deus, quia in senectute mundi misit tibi Christum, ut tunc te reficiat, quando cuncta deficiunt? serm. 81,8 (Fortsetzung) Hat Gott dir etwa zu wenig gewährt, dass er dir, wo die Welt altersschwach ist, nur Christus geschickt hat, um dich eben jetzt, wo alles einbricht (deficiunt), zu erbauen (reficiat)? <?page no="148"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 148 Hat Augustin die pessimistische Zeitstimmung nur als Steigbügel benutzt? Hat er sie selber gar nicht geteilt? - Sie nicht ernst zu nehmen, hätte ihm schon der Sprachgebrauch des Neuen wie des Alten Testaments verboten, die beide das Motiv der novissima tempora, der letzten Zeiten, oder der novissimi dies, der letzten Tage kennen: erit in novissimis diebus, dicit dominus, effundam de spiritu meo super omnem carnem - et cetera. iam tunc ergo erant dies novissimi; quanto magis nunc, etiamsi tantum dierum remansit usque in finem, quantum ad hunc diem a domini ascensione transactum est, vel aliquid sive minus restet sive amplius. Es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da werde ich ausgiessen von meinem Geist über alles Fleisch - und so weiter. Schon damals also war die Rede von den letzten Tagen, um wieviel mehr heute, selbst wenn noch so viele Tage verblieben sind bis zum Ende, wie seit der Auferstehung des Herrn bis zum heutigen Tag vergangen sind, oder etwas weniger oder auch mehr. quod profecto nescimus, quia non est nostrum scire tempora vel momenta, quae pater posuit in sua potestate, cum tamen sciamus in novissimis temporibus, in novissimis diebus, in novissima hora nos agere - sicut apostoli, sed multo magis, qui fuerunt post illos ante nos, et multo magis nos, et magis quam nos, qui erunt post nos, donec ad illos veniatur, qui erunt, si dici potest, novissimorum novissimi atque ad ipsum omnino novissimum, quam vult intellegi dominus, ubi dicit: et resuscitabo eum in novissimo die. qui quam longe absit, comprehendi non potest. Apg 2,17 zitiert Joel 2,28ff und Jesaias Endzeit- Vision: Jes 2,2; Joh 6,40 epist. 199,8,23f (419) Wie viele es sind, ist uns ganz unzugänglich; denn uns gebührt es nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater nach seiner eignen Macht festgesetzt hat. Zwar wissen wir, dass wir in den letzten Zeiten, in den letzten Tagen, in der letzten Stunde leben - wie die Apostel, aber viel mehr die, welche nach ihnen und vor uns lebten, und viel mehr wir, und noch viel mehr als wir, die nach uns kommen werden, bis man zu denen gelangt, die sozusagen die letzten der letzten sein werden, und zu jenem allerletzten, den der Herr verstanden wissen will, wo er sagt: Und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage. Wie weit weg dieser Tag noch sei, kann man nicht erkennen. Entzieht ein solcher Text dem Droh-Motiv der letzten Tage durch dessen inflationären Gebrauch nicht unbeabsichtigt seine Glaubwürdigkeit? Offenbar wird ja seit Jahr und Tag damit Macht-Politik betrieben! - Natürlicherweise besteht, im Kampf mit andern Bekenntnissen, ein Bedürfnis, die Glaubwürdigkeit biblischer Aussagen zu untermauern. Das probate Hilfsmittel besteht in der Darlegung der wunderbar zahlreichen Übereinstimmungen von Weissagungen im Alten Testament und deren Erfüllung im Neuen, oder im Hinweis auf Prophezeiungen der Bibel, die sich im Heute bewahrheiten: <?page no="149"?> W 17 Spätzeit 149 qui promisit, verax est. (…) Christum suum promisit et dedit; resurrectionem eius promisit et dedit; evangelium eius promisit et dedit; ecclesiam suam toto orbe diffundendam promisit et dedit; tribulationes ipsas et aggeres calamitatum in rebus humanis praedixit et ostendit. (…) implentur, quae promissa sunt; implentur, quae praedicta sunt. serm. 38,10 (? ) Der es versprochen hat, ist wahrhaftig. (…) Seinen Gesalbten hat er versprochen und gegeben; Christi Auferstehung hat er versprochen und gegeben; sein Evangelium hat er versprochen und gegeben; seine Kirche, mit der Weisung ihrer Verbreitung in der ganzen Welt, hat er versprochen und gegeben; auch die Nöte und das Unheil, das sich in der Menschenwelt türmt, hat er vorhergesagt und nun Wirklichkeit werden lassen. (…) Es erfüllt sich, was versprochen; es erfüllt sich, was vorhergesagt ist. Zwar ist sich Augustin bewusst, dass Jahrhunderte zwischen den zwei heiligen Büchern liegen; dennoch erscheint ihre «Engführung» legitim, unter der als zutreffend angenommenen Voraussetzung, dass die Quelle für beide die gleiche, nämlich Gottes direkte Inspiration sei. psalmi isti, quos cantamus, antequam dominus noster Iesus Christus natus esset ex virgine Maria, spiritu dei dictante dicti et conscripti sunt. (…) et quomodo sunt in scripturis, sic ea videmus impleri per totum orbem terrarum. (…) hoc ergo totum, quod videtis ante oculos vestros fieri, scriptum est ante immensa volumina annorum. (…) in psalm. 62,1 (412-418) Die Psalmen, die wir hier singen, sind, bevor unser Herr Jesus Christus von der Jungfrau Maria geboren wurde, nach dem Diktat von Gottes Geist <nach>gesprochen und aufgeschrieben worden. (…) Und wie es in den Schriften steht, so sehen wir es sich über die ganze Erde hin erfüllen. (…) Dies alles also, was ihr vor euren Augen ablaufen seht, wurde vor unermesslich vielen Jahres-Umläufen aufgeschrieben. (…) Und Augustin wägt das bereits Erfüllte gegen das noch Ausstehende: modicum, quod restat, venturum esse credamus, quando iam videmus tanta, quae tunc futura erant, modo compleri. stultus est enim, qui non vult credere pauca, quae restant, cum videat tam multa impleta esse. in psalm. 62,1 Von dem Wenigen, das noch bleibt, wollen wir überzeugt sein, dass es eintrifft, da wir ja sehen, dass das Viele, das damals in der Zukunft lag, sich heute erfüllt. Töricht wäre ja, wer das Wenige, das noch aussteht, nicht glauben wollte, da er doch so Vieles erfüllt sieht. Nicht nur dumm wäre, wer es nicht glaubt: modo iam non est laudabile credere, sed damnabile non credere. serm. Dolbeau 25,20 (403-404) Heute ist es schon nicht mehr löblich, es nur zu glauben; es ist vielmehr verdammenswert, es nicht zu glauben. <?page no="150"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 150 Nur Weniges wartet noch auf seine Erfüllung; davon ist Augustin tief überzeugt: multo utique plus peractum est, quam restat peragendum. in psalm. 30,2,1,8 (411? ) Viel mehr jedenfalls ist schon durchlebt, als zu durchleben noch bleibt. pauci dies remanent quodam modo. sic enim dicendum est, quod remanet, in comparatione transactorum saeculorum. serm. 170,9 (417) Nur wenige Tage bleiben noch, gewissermassen. So muss man ja, im Vergleich mit den durchlaufenen Zeiten, den Rest bezeichnen. Da die letzten Tage, übereinstimmend und glaubwürdig vom Alten wie vom Neuen Testament in Aussicht gestellt, zu dem Wenigen gehören, das noch aussteht, so sind sie nicht einfach Teil des irgendeinmal Erwartbaren; sie sind wahrhaftig bedrohlich nahe herbeigekommen. - Wie nahe? de salvatoris adventu, qui expectatur in fine, tempora dinumerare non audeo, nec aliquem prophetam de hac re numerum annorum existimo praefinisse, sed illud potius praevalere, quod ipse dominus ait: nemo potest cognoscere tempora, quae pater posuit in sua potestate. - quod enim alio loco ait: de die autem et hora nemo scit, sunt, qui sic accipiunt, ut putent se posse tempora computare; diem vero tantummodo ipsum et horam neminem scire. (…) Apg 1,7; Mt 24,36 und Mk 13,32 epist. 197,1f (418-420) Die Zeitspanne, <die uns noch> von der Rückkunft des Heilands <trennt>, die am Ende erwartet wird, wage ich nicht zu berechnen. Auch meine ich, dass kein Prophet in dieser Sache die Anzahl Jahre voraus schon bestimmt hat, vielmehr, dass jenes Wort, das der Herr selbst gesagt hat, besonders wichtig ist: Keiner kann die Zeiten erfahren, die der Vater nach seiner eignen Macht festgesetzt hat. - Seine Aussage an einer andern Stelle: über jenen Tag aber und jene Stunde weiss niemand Bescheid, fassen gewisse Leute so auf, dass sie glauben, die Zeitspanne könnten sie errechnen; bloss den betreffenden Tag und die Stunde kenne niemand. (…) Diese unhaltbar spitzfindige Interpretation des zweitgenannten Bibeltextes widerlegt Augustin schlüssig mit dem Hinweis auf tempora im ersten Zitat, das eben nicht ‹Tag› oder ‹Stunde› bedeuten kann, und mit dem Hinweis auf den griechischen Wortlaut. - Allerdings scheint es auch Augustin schwer zu fallen, sich mit der blanken Unkenntnis der fraglichen Zeitspanne zu begnügen; kennt er doch einen terminus, ante quem non: <?page no="151"?> W 17 Spätzeit 151 opportunitas vero illius temporis profecto non erit, antequam praedicetur evangelium in universo orbe (…). apertissima enim de hac re legitur sententia salvatoris dicentis: et praedicabitur hoc evangelium regni in universo orbe in testimonium omnibus gentibus, et tunc veniet finis. ‹tunc veniet› quid est nisi ‹ante non veniet›? quanto post ergo veniat, incertum nobis est; ante tamen non esse venturum dubitare utique non debemus. si ergo susciperent hunc laborem dei servi, ut peragrato orbe terrarum quantum possent, colligerent, quod remansit gentium, ubi nondum est evangelium praedicatum, hinc advertere utcumque possemus, quantum hoc tempus longe sit a saeculi fine. (…) Mt 24,14 epist. 197,4 Jedenfalls wird für jenes Geschehen der rechte Zeitpunkt nicht eintreten, bevor auf dem ganzen Erdkreis das Evangelium (…) gepredigt werden wird. Man kann nämlich in dieser Sache eine vollkommen klare Aussage des Heilands lesen; er sagt: Und dieses Evangelium vom Reiche wird auf dem ganzen Erdkreis gepredigt werden allen Völkern zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen. ‹dann wird es kommen› ist doch gleichviel wie ‹vorher wird es nicht kommen›. Wieviel später es kommt, ist für uns allerdings ungewiss; daran aber, dass es vorher nicht kommen wird, darf es absolut keinen Zweifel geben. Wenn somit die Diener Gottes diese Aufgabe übernähmen, durch Erwandern der ganzen Welt möglichst viele Restvölker, denen das Evangelium noch nicht gepredigt worden ist, <in der katholischen Kirche> zu versammeln, dann könnten wir, so gut es geht, erkennen, wie weit unsere Zeit noch vom Welten-Ende entfernt ist. (…) Dann weist Augustin auf die erheblichen topographischen Schwierigkeiten einer erfolgreichen, vollendeten Evangelisierung hin. Allerdings verhülfe auch sie noch nicht zu einem sauberen rechnerischen Durchbruch: si iam nobis certissime renuntiatum fuisset in omnibus gentibus evangelium praedicari, nec sic possemus dicere, quantum temporis remaneret in fine; Auch wenn uns bereits gemeldet worden wäre, nun werde bei allen Völkern das Evangelium gepredigt, könnten wir noch immer nicht sagen, wieviel Zeit bis zum Ende noch bleibt; sed magis magisque iam propinquare merito diceremus - nisi quis forte respondeat tanta celeritate praedicato evangelio Romanas gentes et plerasque barbaras occupatas atque ita nonnullas non paulatim, sed subito ad fidem Christi fuisse conversas, ut non sit incredibile paucis annis - etsi non vitae nostrae (qui iam senuimus), certe iuvenum, qui venturi sunt, ad senectam - universas omnino residuas gentes evangelio posse compleri. aber wir könnten mit Recht sagen, es komme näher und näher - es sei denn, jemand halte etwa dagegen, durch Predigt des Evangeliums seien derart schnell die Völker Roms und die meisten unterworfenen Barbarenstämme, manche nicht etwa nach und nach, sondern augenblicklich zum Glauben an Christus bekehrt worden, sodass es nicht unglaublich wäre, dass in wenigen Jahren - wenn auch noch nicht zu unserer Lebzeit (wir stehen ja schon im Greisenalter), sicher aber bis die Jungen, die nach uns kommen, alt geworden sind - ausnahmslos alle noch übrigen Völker evangelisiert werden könnten. <?page no="152"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 152 sed, si ita erit, facilius, cum factum fuerit, probari experiendo quam legendo, antequam fiat, inveniri potest. (…) epist. 197,4 Doch, falls es so kommt, wird man leichter, nachdem es geschehen ist, aufgrund eigenen Erlebens dem zustimmen können, als dass man auf Wörter gestützt im voraus schon den Zeitraum ermitteln kann. (…) Oder hält Gott doch eine Möglichkeit genauerer Erkenntnis bereit? si quid autem pro meritis potioribus sanctae humilitati cordis tui dominus melius revelavit sive revelaverit, peto nobiscum communicare digneris et haec nostra rescripta sic accipere tamquam hominis; qui mallem quidem eorum, quae a me inquisisti, habere scientiam quam ignorantiam. sed, quia id nondum potui, magis eligo cautam ignorantiam confiteri quam falsam scientiam profiteri. epist. 197,5 Doch, wenn der Herr, angesichts grösserer Verdienste, der heiligen Demut deines Herzens etwas Schlüssigeres enthüllt hat oder noch enthüllt, so bitte ich, du mögest uns davon mitzuteilen geruhen und meine Antwort hier in dem Bewusstsein auffassen, dass ich ein Mensch bin: Zwar möchte ich, bezüglich dessen, worüber du mich befragt hast, lieber ein Wissen besitzen als Unwissenheit. Aber, weil ich noch nicht soweit bin, ziehe ich es vor, Unwissenheit, doch mit Umsicht gepaart, zuzugeben, als ein Wissen, doch von Unwahrheit begleitet, vorzugeben. So verschränkt der grosse Stilist am Briefschluss sein nimmermüdes Interesse (oder: seine Neugier trotz allem) mit vollendeter Höflichkeit. * <?page no="153"?> W 17 Spätzeit 153 Und wie haben die Menschen, denen die Botschaft der letzten Tage gepredigt wurde, reagiert? - Besonders dramatisch, wenn zusätzlich eine überirdische Macht im Spiel zu sein schien: nonne ante paucos annos, sub Arcadio imperatore, Constantinopoli - audiunt, quod dico, nonnulli forsitan, qui noverunt et sunt in hoc populo, qui et illic praesentes fuerunt - volens deus terrere civitatem et terrendo emendare, terrendo convertere, terrendo mundare, terrendo mutare, servo cuidam suo fideli, viro, ut dicitur, militari, venit in revelatione et dixit ei civitatem hanc venturo de caelo igne perituram, eumque admonuit, ut episcopo diceret. Es geschah doch erst vor wenigen Jahren in Konstantinopel, unter Kaiser Arcadius - meiner Erzählung hören vielleicht einige hier in der Menge zu, die schon im Bilde sind, die es gar miterlebt haben - vor wenigen Jahren also wollte Gott die Stadt in Schrecken versetzen und sie durch Schrekken bessern, durch Schrecken sie zur Umkehr bewegen, durch Schrecken sie reinigen, durch Schrecken sie ändern, und offenbarte sich deshalb einem seiner Gläubigen, einem erfahrenen Kriegsmann, wie man berichtet, und kündigte ihm an, dass besagte Stadt durch einen Feuerregen vom Himmel untergehen solle, und trug ihm auf, dies dem Bischof zu melden. dictum est; non contempsit episcopus; allocutus est populum. conversa est civitas in luctum paenitentiae, quemadmodum quondam illa antiqua Ninive. tamen, ne putarent homines illum, qui dixerat, vel falsitate deceptum vel fallacia decepisse, venit dies, quem deus fuerat comminatus. Die Meldung erging; der Bischof erkannte deren Gewicht und wandte sich ans Volk. Die ganze Stadt legte Trauerkleidung an und tat Busse, wie einst in alter Zeit das berühmte Ninive. Damit aber die Leute nicht meinten, der es gemeldet hatte, sei einem falschen Schein erlegen oder habe sie trügerisch nur irremachen wollen, kam tatsächlich der Tag, den Gott drohend genannt hatte. intentis omnibus et exitum cum timore magno expectantibus noctis initio tenebrante iam mundo visa est ignea nubes ab oriente, primo parva, deinde paulatim, ut accedebat super civitatem, ita crescebat, donec totae urbi ingens timor terribiliter immineret. videbatur horrenda flamma de caelo pendere, nec odor sulphuris deerat. In gespannter Erwartung und grosser Angst harrten alle seinem Ende entgegen; da sah man - es war beim Einnachten, und die Welt hüllte sich schon in die ersten Schatten - wie eine feurige Wolke sich von Osten her näherte: zuerst klein, wuchs sie, wie sie sich über die Stadt schob, allmählich mehr und mehr an, bis sie endlich, ein ungeheurer Schrecken, drohend über der ganzen Stadt lag. Man sah schauerlich das Feuer vom Himmel hangen, und es roch auch nach Schwefel. <?page no="154"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 154 omnes ad ecclesiam confugiebant; non capiebat multitudinem locus. baptismum extorquebat quisque, a quo poterat. non solum in ecclesia, sed etiam per domos, per vicos ac plateas salus sacramenti exigebatur, ut fugeretur ira, non praesens utique, sed futura. Alle suchten in der Kirche Schutz zu finden; doch der Raum fasste die Menge nicht. Ein jeder suchte, von wem er nur konnte, die Taufe zu erzwingen. Nicht allein in der Kirche, auch durch Häuser, Quartiere und Gassen hin drängte man nach dem rettenden Sakrament, um dem Zorn zu entfliehen - nicht etwa dem gegenwärtig drohenden, sondern dem künftigen. tamen, post magnam illam tribulationem, ubi deus exhibuit fidem servi sui et revelationem servi sui, coepit nubes, ut creverat, minui paulatimque consumpta est. Doch endlich, nach dieser grossen Drangsal, als Gott den Glauben seines Dieners und die Verkündung an ihn als wahr erwiesen hatte, begann die Wolke, so wie sie gewachsen war, abzunehmen, und langsam löste sie sich ganz auf. populus, securus paululum effectus, iterum audivit omnino esse migrandum, quod civitas esset proximo sabbato peritura. Nur während kurzer Zeit fühlte sich das Volk frei von Besorgnis; da erfuhr es, diesmal müsse man endgültig aus der Stadt auswandern, weil sie am nächsten Sabbattag vernichtet werde. migravit cum imperatore civitas tota; nemo in domo remansit; nemo domum clausit. longe recedens a moenibus et dulcia tecta respiciens, relictis carissimis sedibus voce miserabili vale fecit. Zusammen mit dem Kaiser zog die gesamte Bürgerschaft aus; keiner blieb zu Hause zurück; niemand verriegelte sein Haus. Sie rückten von den Stadtmauern weit ab und riefen beim Blick auf ihre geliebten Wohnstätten mit jammervoller Stimme ihrer teuren Heimat den Abschiedsgruss zu. et aliquot milibus tanta illa multitudo progressa uno tamen in loco fundendis ad dominum precibus congregata, magnum fumum subito vidit et vocem magnam emisit ad dominum. Noch einige Meilen zog die riesige Menge weiter, strömte dann aber an einem bestimmten Platz zusammen, um zum Herrn zu beten -, da sah sie plötzlich einen grossen Rauch und flehte mit lauter Stimme zum Herrn. <?page no="155"?> W 17 Spätzeit 155 tandemque, tranquillitate conspecta, misit, qui renuntiarent. sollicita quae praedicta fuerat hora transacta et renuntiantibus, quod salva universa moenia et tecta consisterent, omnes cum ingenti gratulatione redierunt. nemo de domo sua quidquam perdidit, patentem omnis homo, sicut dimisit, invenit. Arcadius: *377; Augustus 383; Herrscher über das Ostreich 395; †408 - «erst vor wenigen Jahren»: Man denkt an Geschehnisse im Jahr 396 u/ o 398. urb. exc. 6,7 (410) Und endlich, als man sah, dass alles ruhig blieb, schickte sie Kundschafter aus. Als die prophezeite Stunde der Bangnis verstrichen war und die Kundschafter meldeten, Stadtmauern und Häuser seien heil und stünden noch, kehrten alle unter riesigem Jubel und Dank zurück. Niemand vermisste irgendetwas aus seinem Haus; jeder fand es, obwohl er es doch offen gelassen hatte, so, wie er es verlassen hatte. terrae motus magni de orientalibus nuntiantur. nonnullae magnae repentinis conlapsae sunt civitates. territi apud Hierosolimam, qui inerant, Iudaei, pagani, catechumini, omnes sunt baptizati. dicuntur fortasse baptizati septem millia hominum. signum Christi in vestibus Iudaeorum baptizatorum apparuit. Gewaltige Erdbeben werden aus dem Osten gemeldet. Einige grosse Städte sind auf einen Schlag in sich zusammengesunken. In Schrecken gerieten in Jerusalem alle Bewohner, Juden, Heiden, Taufanwärter, und alle liessen sich taufen! Man spricht davon, es seien etwa siebentausend Menschen gewesen. Auf den Kleidern von Juden konnte man das Zeichen Christi bemerken! relatu fratrum fidelium constantissimo ista nuntiantur. Auf diese Meldungen ist Verlass, da sie von gläubigen Mitbrüdern vollkommen übereinstimmend berichtet werden. Sitifensis etiam civitas gravissimo terrae motu concussa est, ut omnes forte quinque diebus in agris manerent, et ibi baptizata dicuntur fere duo millia hominum. Auch die Stadt Sitifis ist von einem derart schweren Beben erschüttert worden, dass alle Überlebenden während etwa fünf Tagen auf freiem Feld ausharrten, und da sollen an die zweitausend Menschen getauft worden sein. undique deus terret, quia non vult invenire, quod damnet. (…) convertatur quisque ad deum et mutet vitam! Datierung der Ereignisse: 419? - Sitifis: ca 200 km wsw von Hippo Regius serm. 19,6 (419) Ringsum sät Gott Entsetzen, weil er <am Weltende> nichts finden will, was er verdammen muss. (…) Es bekehre sich ein jeder zu Gott und ändere sein Leben! Gottes Terror gedeutet als Zeichen seiner Gnade! Vom Terror in die Gnade rettet den Menschen allein die Flucht in die Taufe. - Wieviele Jahrhunderte, spätzeitlich geprägt, haben den gleichen Fluchtweg gewählt! > Maier <?page no="156"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 156 W 18 Circumcellionen cuidam presbytero nostro linguam exsecuerunt einem unserer Priester haben sie die Zunge herausgeschnitten serm. 359,8 (411-412) Circumcellionen (die Bezeichnung ist nicht erschöpfend gedeutet) waren wenig romanisierte, ungebundene Landarbeiter, die sich für Saison-Arbeiten verdingten. Zur Zeit Augustins wurden sie von der puristischen Kirchen-Abspaltung der Donatisten für den gewalttätigen Kampf gegen die katholische Kirche rekrutiert. (Augustin scheidet oft kaum zwischen circumcelliones und donatistae.) - Ein sozialrevolutionäres Element kann nicht ausgeschlossen werden; dies zeigt ein Rückblick auf die Mitte des vierten Jahrhunderts: quis non dominus servum suum timere compulsus est, si ad illorum patrocinium confugisset? quis eversori minari saltem audebat aut auctori? quis consumptorem apothecarum, quis quemlibet poterat exigere debitorem auxilium eorum defensionemque poscentem? timore fustium et incendiorum mortisque praesentis pessimorum servorum, ut liberi abscederent, tabulae frangebantur. extorta debitoribus chirographa reddebantur. quicumque dura illorum verba contempserant, durioribus verberibus, quod iubebant, facere cogebantur. innocentium, qui eos offenderant, domus aut deponebantur ad solum aut ignibus cremabantur. quidam patresfamilias honesto loco nati et generoso cultu educati vix vivi post eorum caedes ablati sunt vel vincti ad molam et eam in gyrum ducere, tamquam iumenta contemptibilia, verbere adacti sunt. epist. 185,4,15 (416-417) Wer war als Herr nicht gezwungen, seinen eigenen Diener zu fürchten, wenn der sich unter die Protektion <der Donatisten> geflüchtet hatte? Wer hätte einem Unruhestifter oder einem Aufwiegler schon nur zu drohen gewagt? Wer hätte es vermocht, einen, der die Speicher leerfrass, wer, irgend einen Schuldner zur Rede zu stellen, wenn er deren Hilfe und Verteidigung in Anspruch nahm? Unter der Angst vor Schlägen, Brandstiftung und sofortigem Tod wurden die Beleg-Tafeln der schlimmsten Sklaven zerbrochen, sodass sie als Freie von dannen ziehen konnten. Schuldanerkennungen wurden den Gläubigern entwunden und den Schuldnern zurückgegeben. Wer deren harte Worte nicht achtete, wurde durch härtere Schläge gezwungen zu tun, was sie befahlen. Die Häuser von unbescholteten Leuten wurden bei einer Kränkung dem Boden gleichgemacht oder niedergebrannt. Etliche Familienväter, hochgeborene und hochgebildete, wurden nach mörderischen Anschlägen mit knapper Not lebend weggetragen oder in Fesseln zur Mühle getrieben und wie verächtliches Vieh unter Schlägen zum Drehen der Mühlsteine gezwungen. <?page no="157"?> W 18 Circumcellionen 157 Dass die staatliche Gewalt eingreifen musste, verhalf den Circumcellionen allerdings zu willkommenen «Märtyrern». In die Enge getrieben, suchten auch zu Augustins Zeit viele freiwillig den Tod, etwa durch Sturz von einem Fels oder durch Feuer. - Aus einem Schreiben an einen donatistischen Bischof: vos dicitis pati persecutionem, et nos ab armatis vestris fustibus et ferro concidimur. vos dicitis pati persecutionem, et nostrae domus ab armatis vestris compilando vastantur. vos dicitis pati persecutionem, et nostri oculi ab armatis vestris calce et aceto extinguntur. insuper, etiam si quas mortes sibi ultro ingerunt, nobis volunt esse invidiosas, vobis gloriosas. quod nobis faciunt, sibi non inputant et, quod sibi faciunt, nobis inputant. vivunt ut latrones, moriuntur ut circumcelliones, honorantur ut martyres - et tamen nec latrones aliquando audivimus eos, quos depraedati sunt, excaecasse: occisos auferunt luci, non vivis auferunt lucem. epist. 88,8 (406-411) Ihr sagt, ihr leidet Verfolgung, und wir werden von euren Bewaffneten mit Knüppeln und Eisen zusammengeschlagen. Ihr sagt, ihr leidet Verfolgung, und unsere Häuser werden von euren Bewaffneten geplündert und verwüstet. Ihr sagt, ihr leidet Verfolgung, und unsere Augen werden von euren Bewaffneten mit ungelöschtem Kalk und Essig zerstört. Überdies, auch wenn sie sich freiwillig den Tod geben, soll dies uns als Schuld zugerechnet werden, euch aber als rühmenswerte Tat. Was sie uns antun, legen sie nicht sich zur Last, was sie sich antun, dagegen uns. Sie leben wie Banditen, sterben wie Circumcellionen und werden verehrt wie Märtyrer - und doch habe ich nie gehört, dass Banditen die, welche sie ausgeplündert hatten, noch blendeten: Sie bringen sie um und rauben ihnen das Himmelslicht, nicht rauben sie Lebenden das Augenlicht. Augustin war auch persönlich betroffen: nobis ipsis accidit, ut in quodam bivio falleremur et non iremus per eum locum, ubi opperiens transitum nostrum donatistarum manus armata subsederat, atque ita factum est, ut eo, quo tendebamus, per devium circuitum veniremus cognitisque insidiis illorum nos gratularemur errasse atque inde gratias ageremus deo. enchir. 5,17 (421-422) Mir selber geschah es <auf einer Reise>, dass ich an einer Verzweigung den falschen Weg nahm und nicht an der Stelle vorüberkam, wo eine bewaffnete Donatisten-Bande in einem Hinterhalt mein Vorbeikommen erwartete, und so kam es, dass ich über einen Umweg an mein Ziel gelangte. Nachdem ich von dem Hinterhalt erfahren hatte, wünschte ich mir Glück, dass ich mich geirrt hatte, und dankte Gott dafür. Was Augustin damit erspart blieb, lässt sich aus der folgenden Episode entnehmen. Bischof Maximian, ursprünglich Donatist und zum Katholizismus übergetreten, hatte den Hass der Schläger natürlich wie kein anderer auf sich gezogen: <?page no="158"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 158 Maximianus episcopus catholicus Bagaiensis dicta inter partes iudiciaria sententia basilicam fundi Calvianensis evicerat, quam vestri inlicite aliquando usurpaverant. hanc cum iure perspicuo retineret, in ea ipsa sub altari, quo confugerat, eodem supra se fracto eiusque lignis aliisque fustibus, ferro etiam crudeliter caesus totum illum locum sanguine obplevit. Maximian, der katholische Bischof von Bagai, hatte aufgrund eines Schiedsspruchs die Basilica auf dem calvianischen Territorium wiedererlangt, die die Euren unerlaubterweise einst für sich beansprucht hatten. Obwohl er also die Basilica nach dem eindeutigen Richterspruch wieder innehatte, <wurde er von Donatisten> im Kirchenraum <angegriffen>. Er flüchtete unter den Altar; doch sie zertrümmerten diesen über ihm und schlugen mit den Altar-Brettern und andern Knüppeln, auch mit Eisenstangen grausam auf ihn ein. Mit seinem Blut befleckte er den ganzen Raum. acceperat autem et grande vulnus in inguine, unde cruore largius effluente continuo moreretur, nisi maior eorum crudelitas per occultam dei misericordiam profuisset. nam, cum membris ex ea parte nudatis semivivus insuper pronus traheretur, exundantes venas latenter pulvis obstrusit. inde nostrorum manibus cum ferretur, rursus illis inruentibus violenter extortus est graviusque mulcatus et de excelsa turri noctu praecipitatus subter cinere stercoris molliter iacebat exceptus, sensu amisso vix extremum spiritum tenens. Er hatte auch eine grosse Wunde in der Leistengegend erhalten, woran er, da das Blut in Strömen herausschoss, in kurzer Zeit gestorben wäre, wenn nicht dank Gottes verborgener Barmherzigkeit die entfesselte Grausamkeit seiner Gegner sich vorteilhaft ausgewirkt hätte. Denn, als er, halbtot, nackt an jener Stelle, bäuchlings über den Boden geschleift wurde, verstopfte unmerklich Staub die überströmenden Adern. - Wie die Unsern ihn von dort wegtragen wollten, stürzten sich die Gegner erneut auf ihn. Er wurde seinen Leuten gewaltsam entrissen, noch schlimmer misshandelt und - es war schon Nacht - hoch von einem Turm herabgeworfen; doch wurde er unten durch einen Haufen von Mist sanft aufgefangen. Hier lag er bewusstlos und atmete kaum noch. <?page no="159"?> W 18 Circumcellionen 159 ibi eum transiens quidam pauper invenit, cum ventris exonerandi causa ad eum devertisset locum. agnovit autem, cum pavidus suam coniugem adcerseret, quam procul verecundia dimoverat, lucernam ferentem. tunc eum ambo pervexerunt domum, vel miserando vel aliquid etiam lucelli sperando, cum, sive vivus seu mortuus, collectus tamen nostris ostenderetur. quid plura? mirabili curatione sanatus est; vivit. c. Cresc. 3, 43,47 (405-406) Ebenda kam ein Armer vorüber und, indem er auf den Mist zusteuerte, um sich an diesem Örtchen zu erleichtern, stiess er auf ihn. Allerdings erkannte er ihn erst, als er, vor Schreck zitternd, seine Frau, welche ein Schamgefühl von dem Ort ferngehalten hatte, herbeirief; denn sie hatte ein Licht bei sich. Darauf brachten ihn die beiden nach Hause, sei es aus Mitleid, oder weil sie sich einen kleinen Gewinn erhofften, wenn sie den Unsern zeigen könnten, dass sie ihn, lebend oder tot, immerhin aufgelesen hatten. Wozu mehr Worte? Wie durch ein Wunder wurde er geheilt. Er lebt. Wie soll sich die katholische Kirche verhalten? - Der folgende Brief richtet sich an Marcellinus, kaiserlichen Beamten und Schiedsrichter im Religionsgespräch mit den Donatisten von 411: comperi auditos et plurimos eorum de homicidio, quod in Restitutum, catholicum presbyterum, commiserunt, et de caede Innocentii, alterius catholici presbyteri, atque de oculo eius effosso et de digito praeciso fuisse confessos. (…) nolumus tamen passiones servorum dei quasi vice talionis, paribus suppliciis vindicari. epist. 133,1 (411-412) Ich habe vernommen, dass eine ganze Anzahl von ihnen in Sachen Mord an dem katholischen Priester Restitutus verhört worden ist, und auch in Sachen Misshandlung des andern katholischen Priesters, Innocentius -, und dass sie gestanden haben, ihm ein Auge ausgerissen und einen Finger zertrümmert zu haben. (…) Dennoch wollen wir nicht, dass, was die Diener Gottes gelitten haben, nach Art der Wiedervergeltung mit den gleichen Strafen gerächt werde. Augustin plädiert für Milde; denn er fürchtet mit Recht, dass die Leiden, welche Katholiken für ihren Glauben auf sich genommen haben, dadurch entwertet würden. (Daher auch die Hemmung vor der Kreuzigung: Christi Leiden würde beschmutzt.) - Für Mörder nicht Todesstrafe, sondern Milde: worin besteht die Lösung? An den Statthalter von Nordafrika (Bruder von Marcellinus) in der selben Sache: illi scelere immani membra de corpore vivo avulserunt; tu opere misericordi effice, ut illa, quae nefandis operibus exercebant, alicui utili operi integra eorum membra deserviant. epist. 134,4 (411-412) Sie haben - schreckliches Verbrechen - einem lebenden Leib Glieder ausgerissen; du bewirke - Tat des Mitleids -, dass deren Glieder, die sie für ihre ruchlosen Taten missbrauchten, unversehrt und ganz für irgendein nützliches Werk dienen. Statt der Todesstrafe Zwangsarbeit, etwa im Bergwerk, für den Rest des «Lebens». > Tengström <?page no="160"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 160 W 19 Der Tod utinam ergo esset cogitatio de morte! sed, cum efferuntur mortui, cogitatur mors et dicitur: «vae misero! talis fuit; heri ambulabat», aut: «ante septem dies illum vidi; illud atque illud mecum locutus est. nihil est homo.» Liesse man sich doch ernsthaft auf den Tod ein! Doch, nur solange die Beerdigung dauert, verliert man einen Gedanken an den Tod und sagt: «Ach, der Arme! War derart bei Kräften! Noch gestern auf den Beinen! » Oder: «Keine acht Tage her, habe ich ihn getroffen; da hat er das und das mit mir besprochen. Ein Nichts ist doch der Mensch! » murmurant ista; sed forte, cum mortuus plangitur, cum funus curatur, cum exsequiae praeparantur, cum effertur, cum itur, cum sepelitur, viget iste sermo. sepulto autem mortuo etiam talis cogitatio sepelitur. Dergleichen sagen sie halblaut; aber solche Worte regen sich eben nur, während der Tote beklagt, die Leiche geschmückt, die Feier vorbereitet wird, während man ihn hinausträgt, seiner Leiche folgt, ihn beerdigt. Ist der Tote aber begraben, begräbt man auch solche Gedanken. redeunt illae curae mortiferae: obliviscitur, quem deduxerit; de successione cogitat decessurus; reditur ad fraudes, (…). serm. 361,5,5 (410-411) Zurück kehren die bekannten Geschäfte, die die Seele töten: Man vergisst, wem man eben das letzte Geleit gegeben hat, denkt darüber nach, den frei gewordenen Platz einzunehmen, und wird doch schon bald selber Platz machen - und kehrt zurück zu den alten Gaunereien (…). Allgegenwart ita haec scripsi, tamquam venerationis tuae scripta sumpserim et rescripta persolverim incolumis (…). nam, cum aliud fama iactasset (sicut mihi supradictus frater rettulit), tamquam de homine credidisti. quid enim tam credibile est quam, cum dicitur mortuus esse mortalis, quod procul dubio cuilibet in carne viventi quandoque venturum est? sed, cum ab aliis recentioribus nuntiis me vivere audisset atque (…). epist. Divj. 6,1 (420-421) Ich schreibe dies, wie wenn ich einen Brief von Deiner Ehrwürdigkeit bekommen hätte und jetzt eine Antwort schriebe; ich bin nämlich wohl behalten und gesund (…). Denn, da (wie mir obgenannter Bruder mitgeteilt hat) etwas anderes als Gerücht umlief, glaubtest du, es sei mir etwas Menschliches zugestossen. Gibt es denn Glaubwürdigeres als die Nachricht, ein Sterblicher sei gestorben - was eben auf einen jeden, solang er noch im Leibe lebt, irgendeinmal zukommen wird? Doch, da er von andern, später eintreffenden Boten hörte, ich lebe noch und (…). <?page no="161"?> W 19 Der Tod 161 Nachricht zu erhalten vom eigenen Gestorbensein - kein unwahrscheinliches, vielmehr ein naheliegendes Erlebnis in einer Welt tiefer Lebenserwartung und erschwerter Kommunikation. (Vor Augustin las schon Cicero von seinem eigenen Tod: Cael. Cic. fam. 8,1,5.) de transverso una febricula aufert hominem. serm. 19,6 (419) Ein einziges Fieberchen kann einen ganz unvermutet dahinraffen. Den elegantesten Ausdruck hat das Bewusstsein der engen Verflochtenheit von Leben und Tod in den Confessiones gefunden: nescio, unde venerim huc, in istam - dico vitam mortalem an mortem vitalem? nescio. conf. 1,6,7 (397-401) Ich weiss nicht, woher ich hieher gekommen bin, in dieses - soll ich es Leben mit Sterben oder Sterben mit Leben nennen? Ich weiss es nicht. Die fraglose Überlegenheit des Todes über das Leben wird oft vergegenwärtigt. Hier eine Fassung (vor Publikum mit eher unsicheren Lateinkenntnissen? ) in Augustins genialer Kindersprache: cetera nostra et bona et mala incerta sunt; sola mors certa est. quid est, quod dico? conceptus est puer. forte nascitur, forte aborsum fit. ita incertum est. forte crescit, forte non crescit; forte senescit, forte non senescit; forte dives erit, forte pauper; forte honoratus, forte humiliatus; forte habebit filios, forte non habebit; forte ducet uxorem, forte non ducet - et, quidquid aliud nominaveris in bonis. Alles, was zu unserem Leben gehört, das Gute wie das Böse, ist ungewiss; allein der Tod ist gewiss. Wie meine ich das? Ein Kind ist empfangen worden. Vielleicht wird es geboren, vielleicht führt es zu einer Fehlgeburt. Es ist ganz ungewiss. Vielleicht wird es gross; vielleicht wird es nicht gross. Vielleicht wird es alt, vielleicht nicht alt. Vielleicht wird es reich sein, vielleicht arm. Vielleicht wird es Ehren geniessen, vielleicht Verachtung erleben. Vielleicht bekommt es Kinder, vielleicht bekommt es keine. Vielleicht wird es heiraten, vielleicht nicht heiraten - und, was immer du sonst noch anführen magst unter dem Guten. <?page no="162"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 162 respice et ad mala: forte aegrotat, forte non aegrotat; forte a serpente percutitur, forte non percutitur; forte a bestia devoratur, forte non devoratur - et respice ad omnia mala: ubique est ‹forte erit, forte non erit›. numquid potes dicere: forte moritur, forte non moritur? Wirf nun auch einen Blick auf das Böse! Vielleicht hat es unter Krankheiten zu leiden, vielleicht nicht. Vielleicht wird es von einer Schlange gebissen, vielleicht wird es nicht gebissen. Vielleicht wird es von einem wilden Tier gefressen, vielleicht wird es nicht gefressen - und bedenke alle Möglichkeiten von Bösem: Überall gilt ‹vielleicht…, vielleicht nicht…›. Aber man kann doch nicht sagen: Vielleicht stirbt es, vielleicht stirbt es nicht! quomodo medici, quando inspexerint valetudinem et mortiferam esse cognoverint, hoc pronuntiant: «moritur, inde non evadit», ex quo nascitur homo, dicendum est: «non evadit! » serm. 97,3 (? ) So, wie die Ärzte, wenn sie eine Krankheit untersucht und erkannt haben, dass sie zum Tode führt, sagen: «Er stirbt; er kommt nicht davon», so muss man von dem Zeitpunkt an, wo ein Mensch geboren wird, sagen: «Er kommt nicht davon! » Wer sündigt, erntet Tod. de ira dei enim mortales sumus. in psalm. 84,7 (400-411) Weil wir Gott erzürnt haben, müssen wir sterben. stipendium peccati mors est. Rm 6,23; vgl. Rm 8,10 Der Sünde Sold ist Tod. Was wäre unser Schicksal, wenn wir Gott nicht erzürnt hätten? - Augustin: Gott wollte ursprünglich «den ersten Menschen zu gegebener Zeit, nach Zeugung von Kindern, ohne den Tod dazwischen zu schieben, zu Besserem hinüberführen: sine interpositione mortis ad meliora perducere» (enchir. 28,104); der Mensch aber missbrauchte im Ungehorsam seinen freien Willen, ass die verbotene Frucht (Gen 2,17. 3,3) und holte sich damit den Tod. - Rhetorisch einprägsame Fassungen helfen Augustin, diese düstere Botschaft eingängiger erscheinen zu lassen: moritur nolens, quia peccavit volens. serm. Guelf. 31,1 (410-412) Der Mensch muss sterben; das geschieht gegen seinen Willen. Denn er hat sich versündigt, und das geschah mit seinem Willen. <?page no="163"?> W 19 Der Tod 163 cum (…) eaque sit poena in morte corporis, ut, quia spiritus volens deseruit deum, deserat corpus invitus, (…). trin. 4,13,16 (399-419) Am körperlichen Tod besteht die Strafe darin, dass der Geist, da er sich mit Willen von Gott getrennt hat, sich vom Körper gegen seinen Willen trennen muss. Sünde soll Tod ausgelöst haben. - Gilt nicht das Gegenteil, dass Sterbenmüssen Sünde nach sich zieht: Der Mensch weiss sich endlich; dieses Bewusstsein lässt ihn seine Endlichkeit möglichst ausweiten, einseitig nutzen, macht ihn selbstbezogen, ungerecht, eben «sündig»? Dagegen Augustin kategorisch: peccato enim morimur, non morte peccamus. pecc. mer. 3,11,20 (411-412) Weil wir gesündigt haben, müssen wir sterben; es ist nicht das Sterbenmüssen, das uns sündigen lässt. Was lebt, erntet Tod! Von seiten der Pelagianer sieht sich Augustin mit einer These konfrontiert, die seine enge Sicht wohltuend sprengt (er spricht zum Gegner): tu naturae dicis, ego peccati dico esse mortem corporis. serm. 299,11 (418) Du behauptest, der körperliche Tod gehöre einfach zum Lebewesen als solchem; ich behaupte, dass er mit der Sünde zu tun hat. Augustin kämpft geschickt für seine Position: <?page no="164"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 164 si mors poenalis non est, quae a corpore animam separat, cur eam timet natura (…)? quid causae est, ut infans, ubi paululum ab infantia progredi coeperit, iam formidet occidi? cur non ita, ut in somnum, sensus est proclivis in mortem? cur magni habentur, qui mortem non metuunt, hique tam rari sunt? (…) utquid Petro dictum est de ipso glorioso fine: alter te cinget et feret, quo tu non vis? - si ergo frustra mors timetur, ipse timor eius est poena; si autem anima separari a corpore naturaliter non vult, ipsa mors poena est. Joh 21,18 c. Iulian. op. imperf. 2,186 (429-430) Wenn der Tod, der die Seele vom Körper scheidet, nicht Strafcharakter hat, warum fürchtet man ihn dann aus dem innersten Wesen heraus (…)? Was ist der Grund dafür, dass das kleine Kind, sobald es auch nur ein wenig dem Säuglingsalter zu entwachsen beginnt, bereits grosse Angst hat, getötet zu werden? Warum hat es nicht, so gut wie zum Schlaf, eine innere Neigung zum Tod? Warum gelten die als gross, die den Tod nicht fürchten, und warum sind solche Menschen derart selten? (…) Wozu das Wort an Petrus bezüglich seines ruhmvollen Endes: Ein anderer wird dich gürten und dahin führen, wohin du nicht willst? - Falls man den Tod grundlos fürchtet, so ist eben diese Todesfurcht schon Strafe; wenn es aber gegen den natürlichen Willen der Seele ist, sich vom Körper zu trennen, dann ist der Tod selber eben Strafe. Sowohl als Vorstellung wie als Ereignis wäre der Tod also Strafe. - Aber beweist der Blick auf das Kleinkind, auf den Menschen in seiner absolut schuldlosen Lebensphase, nicht die gegnerische These, dass Lebewesen als solche eben auch «Sterbewesen» sind, noch vor jeder Versündigung, dass also der Tod tief ursprünglich mit dem Leben verknüpft ist? - Zwar bedauert Augustin seine Antwort zutiefst, verteidigt sie aber unerbittlich: Schon der Säugling ist eben Träger der Erbsünde, also strafwürdig! mirum est enim, quemadmodum rerum, quas habet, amissionem etiam inexpertam natura devitet. quis enim pecora docuit devitationem mortis nisi sensus vitae? gen. ad litt. 8,16,34 (401-414) Es ist erstaunlich, wie das Lebewesen den Verlust von etwas ihm Zugehörigen zu vermeiden sucht, auch wenn es einen solchen zuvor noch nicht erlebt hat. Wer hat das Vieh gelehrt, dem Tod auszuweichen, wenn nicht eine innere Neigung zum Leben? Damit gesteht Augustin die Angst vor dem Tod und damit die Unfreiwilligkeit des Sterbens auch nichtmenschlichen, also auch nichtsündigen Lebewesen zu. Ist der Tod somit nicht nur «der Sünde Sold»? <?page no="165"?> W 19 Der Tod 165 animalia omnia (…) ab inmensis draconibus usque ad exiguos vermiculos -: nonne se esse velle atque ob hoc interitum fugere omnibus, quibus possunt, motibus indicant? quid? arbusta omnesque frutices, quibus nullus est sensus ad vitandam manifesta motione perniciem -: nonne, ut in auras tutum cacuminis germen emittant, aliud terrae radicis adfigunt, quo alimentum trahant atque ita suum quodam modo esse conservent? ipsa postremo corpora, quibus non solum sensus, sed nec ulla saltem seminalis est vita, ita tamen vel exiliunt in superna vel in ima descendunt vel librantur in mediis, ut essentiam suam, ubi secundum naturam possunt esse, custodiant. civ. 11,27 (vor 420) Sämtliche Tiere (…) von den riesigen Drachen bis zu den schwachen Würmchen - zeigen sie nicht mit allen ihnen möglichen Bewegungen an, dass sie dasein und daher dem Tod entfliehen wollen? Und die Bäume und all die Büsche, die kein Mittel kennen, durch eine wahrnehmbare Bewegung einem Verderben auszuweichen - treiben sie nicht, damit sie gefahrlos den Spross ihres Wipfels in die Lüfte aussenden können, einen andern Spross, die Wurzel, in die Erde, um so Nahrung daraus zu ziehen und in der Weise ihr Dasein möglichst zu sichern? Endlich sogar jene Körper, die nicht nur keine Sinneswerkzeuge, sondern nicht einmal irgendeine Lebenskraft zur Fortzeugung besitzen, strecken sich doch derart sei es in die Höhe oder senken sich in die Tiefe oder halten schwebend die Mitte, dass sie ihr Dasein da, wo sie sich ihrem Wesen gemäss aufhalten können, bewahren. Vor dem Tod flieht nicht nur der Mensch; vor ihm flieht auch alles Lebendige ausser und neben ihm, ja selbst, was nicht zu mehr fähig ist als, rein passiv dazusein. - Ist entweder Sterben doch nicht nur Sündenstrafe, oder, sind Schafe und Ziegen, Büsche und Felsen etwa doch sündig? - Augustins raffinierte Problemlösung: si animalia, quae ita creata sunt, ut suo quaeque tempore moriantur, mortem fugiunt, diligunt vitam, quanto magis homo, qui sic fuerat creatus, ut, si vivere sine peccato voluisset, sine termino viveret? serm. 172,1,1 (? ) Wenn Lebewesen, die mit der Bestimmung geschaffen sind, dass ein jedes zu seiner Zeit stirbt, dem Tod zu entfliehen suchen und das Leben lieben - um wieviel mehr der Mensch, der mit der Bestimmung geschaffen worden war, dass er, hätte er ohne Sünde leben wollen, ohne Ende hätte leben können? Menschliches und Aussermenschliches sind entfernte Verwandte, insofern für beide das Sterben ein bitteres Müssen, für den Menschen nur unendlich viel bitterer ist; denn das Aussermenschliche verliert im Sterben ein zeitlich beschränktes, der Mensch dagegen ein ewiges Leben. Die beiden sind Gegensätze, insofern der Mensch sein Sterben selber verschuldet hat, während alles Aussermenschliche am eigenen Sterben schuldlos ist. - Falsch wäre es allerdings, etwa die Tiere nun um ihr weniger bitteres, weil sündeloses Sterben zu beneiden; Gott hat einen wunderbaren Ausgleich geschaffen: <?page no="166"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 166 bestias vero absit ut opinemur poenae damnationis obnoxias; quas iustum est, ut miseriae sint expertes, quae nec beatitudinis possunt esse participes. pecc. orig. 2,46 (418) Ferne sei, dass wir meinen, die Tiere unterstünden der Strafe für eine Verschuldung; vielmehr ist es gerecht, dass sie von diesem Elend ausgenommen sind, da sie ja auch am Glücklichsein nicht teilnehmen können. Der Tod ohne Tod Der Gläubige kennt einen Inbegriff der Angst …: quamvis ergo multae mortes inveniantur in scripturis, duae tamen sunt praecipuae: prima et secunda. prima est, quam peccando intulit primus homo; secunda est, quam iudicando illaturus est secundus homo. Erster M.: Adam; Zweiter M.: Christus c. Iulian. op. imperf. 6,31 (429-430) Zwar findet man in der Heiligen Schrift viele Tode; zwei aber verdienen besondere Beachtung: der Erste und der Zweite. Der Erste ist der Tod, den der Erste Mensch im Sündenfall <der Menschheit> bereitet hat; der Zweite ist der Tod, den uns der Zweite Mensch im Jüngsten Gericht bereiten kann. illa est enim gravior et omnium malorum pessima, quae non fit separatione animae et corporis, sed in aeternam poenam potius utriusque complexu. ibi e contrario non erunt homines ante mortem atque post mortem, sed semper in morte; ac per hoc numquam viventes, numquam mortui, sed sine fine morientes. numquam enim erit homini peius in morte quam, ubi erit mors ipsa sine morte. civ. 13,11 (vor 420) Jener Tod wiegt besonders schwer und ist von allen Übeln das schlimmste, welcher nicht durch eine Trennung von Seele und Körper zustande kommt, sondern vielmehr durch Verkettung beider zu immerwährender Strafe. Da werden die Menschen, anders als beim Ersten Tod, nicht vor dem Tod oder nach dem Tod stehen, sondern immer im Tod; und deshalb werden sie nie lebend, nie tot sein, sondern werden ohne Ende sterben. Niemals wird es für den Menschen im Tode schlimmer bestellt sein als da, wo der Tod selbst ohne Tod sein wird. Der Tod des Todes … und er kennt einen Inbegriff der Hoffnung: sicut nemo nisi per Adam vergit in mortem, ita nemo nisi per Christum surgit in vitam. c. Iulian. op. imperf. 2,197 (429-430) So wie sich niemand zum Tode neigt, es sei denn durch Adam, so ersteht niemand zum Leben, es sei denn durch Christus. <?page no="167"?> W 19 Der Tod 167 in morte Christi mors mortua est. quia VITA mortua occidit mortem, plenitudo vitae deglutivit mortem. in evang. Ioh. 12,11 (414-417) Im Tod Christi ist der Tod zu Tode gekommen. Weil das L EBEN im Tod den Tod erschlagen hat, hat die Fülle des Lebens den Tod verschlungen. Vor den Toren zur Ewigkeit tempus autem, quod inter hominis mortem et ultimam resurrectionem interpositum est, animas abditis receptaculis continet, sicut unaquaeque digna est, vel requie vel aerumna, pro eo, quod sortita est in carne, cum viveret. enchir. 29,109 (421-422) Die Zeit aber zwischen dem Tod des Menschen und dem Endpunkt der Auferstehung hält die Seelen je nachdem, ob sie Erholung oder Mühsal verdienen, an verborgenen Sammelorten fest - entsprechend ihrem Los im körperlichen Leben. fatendum est nescire quidem mortuos, quid hic agatur, sed, dum hic agitur; postea vero audire ab eis, qui hinc ad eos moriendo pergunt, non quidem omnia, sed, quae sinuntur indicare, qui sinuntur etiam ista meminisse, et quae illos, quibus haec indicant, oportet audire. cur. mort. 15,18 (421-424) Man muss zugeben, dass die Toten nicht wissen, was hier auf Erden geschieht, wenigstens solange nicht, als es geschieht, dass sie aber später von denen, die von hier nach ihrem Tod zu ihnen fortgehen, davon hören, zwar nicht alles, aber was denen, welche das noch in Erinnerung behalten dürfen, mitzuteilen gestattet ist, und nur, was für die Empfänger zu vernehmen erspriesslich ist. Eine gewisse Vorausnahme des Jüngsten Gerichts mittels Einweisung in bestimmte Sammelorte mag erstaunen, ebenso das ins einzelne gehende Wissen über die Informationsströme dahin. Selbstmord - Selbstmord? nemo est enim, qui non se ipsum, ut nihil aliud dicam, vel non vescendo possit occidere. enchir. 28,106 (421-422) Jeder kann nämlich, indem er etwa - um nichts anderes zu nennen - die Nahrungsaufnahme verweigert, sich selbst töten. Was hochmodern klingt, hat eine dunkle Tönung: Der Mensch - immerhin «habitaculum dei, Wohnstatt Gottes» (doctr. christ. 3,23,91) - hat sich die Möglichkeit des Selbstmordes durch den Missbrauch seines freien Willens im Paradies eingehandelt, ein Schlangen-Geschenk. Hochmodern allerdings ist der Blick auf das Phänomen des Selbstmordes in einer relativ frühen Schrift, wo Augustin nach Grund und Ziel desselben fragt: <?page no="168"?> Vielfältig bedrohtes Dasein 168 nemo mihi videtur, cum se ipsum necat aut quolibet modo emori cupit, habere in sensu, quod post mortem non sit futurus, tametsi aliquantum hoc in opinione habeat. (…) Mir scheint, dass niemand, wenn er sich selbst tötet oder wie immer zu sterben wünscht, in sich das instinktive Vorgefühl hegt, dass er nach dem Tod nicht mehr existieren werde, selbst wenn er sich diese Vorstellung ein Stück weit auf der Ebene seines Meinens gebildet hat. (…) posse autem fieri, ut aliud sit in opinione, aliud in sensu, vel ex hoc cognoscere facile est, quod plerumque aliud faciendum esse credimus et aliud facere delectat. (…) Dass es vorkommen kann, dass, was wir meinen, sich nicht mit dem deckt, was wir fühlen, kann man leicht daraus entnehmen, dass wir sehr oft glauben, wir müssten etwas anderes tun als, was uns Freude macht. (…) cum ergo quisque credens, quod post mortem non erit, intolerabilibus tamen molestiis ad totam cupiditatem mortis impellitur et decernit atque arripit mortem, in opinione habet errorem omnimodae defectionis, in sensu autem naturale desiderium quietis. Wenn also jemand in der Überzeugung, er werde nach dem Tod nicht mehr existieren, von unerträglichen Beschwerden dahin getrieben wird, sich nur noch den Tod zu wünschen, sich für ihn entscheidet und ihn an sich reisst, so hegt er auf der Ebene seines Meinens zwar die irrige Ansicht, er werde völlig dahinschwinden; auf der Ebene des instinktiven Empfindens aber hat er eine natürliche Sehnsucht nach Ruhe. quod autem quietum est, non est nihil, immo etiam magis est quam id, quod inquietum est. inquietudo enim variat adfectiones, ut altera alteram perimat; quies autem habet constantiam, in qua maxime intellegitur, quod dicitur ‹est›. Was nun aber ruhig ist, ist nicht einfach nichts; es existiert sogar in höherem Grade als das, was unruhig ist: Unruhig-Sein lässt nämlich <zB> Gemüts-Stimmungen abwechseln, sodass die eine die andere je ganz zerstört; die Ruhe aber besitzt Beständigkeit, und an ihr vor allem erkennt man das, wovon man sagt: ‹es ist›. omnis itaque ille adpetitus in voluntate mortis non, ut, qui moritur, non sit, sed, ut requiescat, intenditur. Dieses ganze Verlangen, das sich in einem Willen zum Tode zeigt, zielt also nicht darauf ab, dass, wer stirbt, nicht mehr existierte, sondern, dass er zur Ruhe komme. ita, cum errore credat non se futurum, natura tamen quietus esse, hoc est, magis esse desiderat. lib. arb. 3,79ff (391-395) Obwohl <der Selbstmörder>, weil ihn das Meinen täuscht, glaubt, er werde nach dem Tod nicht mehr existieren, sehnt er sich somit auf der Ebene instinktiven Empfindens danach, ruhig zu sein, das heisst aber: in höherem Masse zu existieren. <?page no="169"?> W 19 Der Tod 169 Sollte Augustin gegen Ende des zitierten Textes suggerieren wollen, je mehr Ruhe sich an einem Wesen finde, umso mehr an Sein finde sich in ihm, so gilt mit mehr Recht das Umgekehrte: Nicht ‹je ruhiger, umso höhergradig seiend›, sondern ‹je höhergradig seiend, umso ruhiger› - ablesbar etwa an Augustins Gott, der gewiss nicht Inbegriff reiner Ruhe und daher reinen Seins wäre, sondern Inbegriff reinen Seins ist und daher reiner Ruhe und Unveränderlichkeit. - Mag der Abschnitt aus de libero arbitrio eine erstaunliche Bereitschaft zur Einfühlung in den Selbstmörder zeigen - er darf dennoch nicht als Zeugnis dafür gedeutet werden, Augustin habe den Selbstmord je gebilligt: hoc dicimus, hoc asserimus, hoc modis omnibus adprobamus, neminem spontaneam mortem sibi inferre debere velut fugiendo molestias temporales (…), neminem propter aliena peccata (…), neminem propter sua peccata praeterita (…), neminem velut desiderio vitae melioris (…). civ. 1,26 (413-414) Das sage ich, das halte ich klar fest, das will ich auf jede Weise einleuchtend machen, dass niemand sich freiwillig den Tod zufügen darf, etwa, weil er zeitlichen Beschwerden entfliehen will (…), niemand wegen fremder Sünden (…), niemand wegen einstiger eigener Sünden (…), niemand auch aus Sehnsucht nach einem besseren Leben (…). > Girard <?page no="171"?> 171 Nachdenken über Sprache W 20 Verständigung als Problem Was geht vor, wenn ein Mensch redet? - Augustin, einst Professor der Redekunst, heute aber junger Presbyter, der am Konzil von Hippo die Eröffnungs-Predigt halten darf, antwortet: Sprechen als Unterliegen quid enim aliud molimur nisi animum ipsum nostrum, si fieri potest, cognoscendum et perspiciendum animo auditoris inferre? (…) id facimus conantes et verbis et ipso sono vocis et vultu et gestu corporis, tot scilicet machinamentis id, quod intus est, demonstrare cupientes, quia tale aliquid proferre non possumus. et ideo non potest loquentis animus penitus innotescere. fid. et symb. 3,4 (393) Was wollen wir anderes erreichen als, unser wahres Inneres wenn möglich ins Innere des Zuhörers hineinzutragen, damit er es kennen lerne und ganz deutlich sehe. (…) Das suchen wir zu bewerkstelligen mit Worten, mit der Intonation, mit Gesichtsausdruck und Körpergebärden, bemühen uns also mit einer ganzen Reihe von Hilfsmitteln, das, was innen ist, kenntlich zu machen; denn, was es genau ist, können wir nicht mitteilen. Und darum kann das Innerste des Sprechers sich unmöglich ganz offenbaren. Der Blick auf die Vielzahl der Instrumente, die ein Sprecher gleichzeitig wählt, um sein Ungenügen zu besiegen, macht ihm seine Niederlage erst richtig bewusst. - Ausführlich und mit bewundernswerter Umsicht nimmt Augustin wenige Jahre später zu dem Problem Stellung: <?page no="172"?> Nachdenken über Sprache 172 et mihi prope semper sermo meus displicet. melioris enim avidus sum, quo saepe fruor interius, antequam eum explicare verbis sonantibus coepero. quod ubi minus, quam mihi motus est, evaluero, contristor linguam meam cordi meo non potuisse sufficere. Auch mir missfällt meine Ausdrucksweise fast immer. Ich suche nämlich leidenschaftlich nach einer besseren, die ich innerlich oft besitze, bevor ich die Darlegung in klingenden Worten beginne. Wenn ich den Gedanken (die Idee) weniger gut, als ich es in mir spüre, darzustellen vermocht habe, betrübe ich mich darüber, dass meine Ausdrucksfähigkeit meinem Herzen nicht hat genügen können. totum enim, quod intelligo, volo, ut, qui me audit, intelligat, et sentio me non ita loqui, ut hoc efficiam; Denn ich wünsche, dass mein Zuhörer alles, was ich sehe, erfasse, und doch merke ich, dass ich nicht so spreche, dass mir dies gelingt. maxime quia ille intellectus quasi rapida coruscatione perfundit animum, illa autem locutio tarda et longa est longeque dissimilis, et, dum ista volvitur, iam se ille in secreta sua condidit. Das kommt vor allem daher, dass die Vorstellung (die Idee) gleichsam in reissend schnellem Aufblitzen mein Inneres überströmt, die mündliche Darlegung aber langsam ist, nur schrittweise vorankommt und ihr bei weitem nicht gleicht und, während die mündliche Formulierung sich noch entrollt, die Vorstellung (die Idee) sich bereits wieder in ihre Abgeschiedenheit entzogen hat. tamen, quia vestigia quaedam miro modo impressit memoriae, perdurant illa cum syllabarum morulis, atque ex eisdem vestigiis sonantia signa peragimus, quae lingua dicitur, Weil nun aber die Idee auf wunderbare Weise dem Gedächtnis gewisse Spuren aufgeprägt hat, dauern immerhin diese noch während der Zeit, da wir sprechen, und aus eben diesen Spuren entwickeln wir klingende Zeichen, was man Sprache nennt, vel latina vel graeca vel hebraea vel alia quaelibet, sive cogitentur haec signa sive etiam voce proferantur, sei das die lateinische oder die griechische oder die hebräische oder irgendeine andere, <unwichtig,> ob diese Zeichen bloss gedacht oder ob sie hörbar vorgetragen werden, cum illa vestigia nec latina nec graeca vel hebraea nec cuiusque alterius gentis sint propria, sed ita efficiantur in animo ut vultus in corpore. während dagegen die Spuren weder lateinisch noch griechisch noch hebräisch noch irgendeinem andern Volk eigentümlich sind, sondern sich im Innern so ausformen, wie am Körper ein Gesichtsausdruck. <?page no="173"?> W 20 Verständigung als Problem 173 aliter enim latine ira dicitur, aliter graece, aliter atque aliter aliarum diversitate linguarum. non autem latinus aut graecus est vultus irati. non itaque omnes gentes intellegunt, cum quisque dicit ‹iratus sum›, sed Latini tantum. at, si affectus excandescentis animi exeat in faciem vultumque faciat, omnes sentiunt, qui intuentur, iratum. Anders nämlich wird die Erscheinung des Zorns lateinisch in Worte gefasst als griechisch, anders und wieder anders in den verschiedenen andern Sprachen; der Gesichtsausdruck eines Zornigen aber ist weder lateinisch noch griechisch. Daher verstehen es nicht alle Völker, wenn einer sagt «iratus sum» [ich bin zornig], sondern nur, die Latein verstehen; doch, wenn die Regung eines sich ergrimmenden Gemüts sich auf dem Gesicht malt und den Gesichtsausdruck bildet, erkennen alle, die hinblicken, dass da einer zornig sei. sed neque ita licet educere et quasi exporrigere in sensum audientium per sonum vocis illa vestigia, quae imprimit intellectus memoriae, sicut apertus et manifestus est vultus. illa enim sunt intus in animo, iste foris in corpore. Nun aber ist es nicht möglich, jene Spuren, die die Idee dem Gedächtnis aufprägt, in derselben unmittelbaren Weise herauszustellen und gleichsam der Wahrnehmung der Zuhörer über den Klang darzubieten, wie ein Gesichtsaudruck sich offen und handgreiflich darstellt. Denn die Spuren befinden sich im Innern, der Gesichtsausdruck draussen am Körper. quapropter coniciendum est, quantum distet sonus oris nostri ab illo ictu intellegentiae, quando ne ipsi quidem impressioni memoriae similis est. catech. rud. 2,2ff (399-400) Daher lässt sich ermessen, wie weit unser gesprochenes Wort hinter dem Aufblitzen der Idee zurückbleibt, da ja das gesprochene Wort nicht einmal dem Spuren-Eindruck im Gedächtnis entspricht. Vom Blitz-Erlebnis bis zur Aussage findet somit ein unvermeidlicher Substanz- Verlust in zwei Schritten statt: Quell- Stufe Stich, Blitz, Einschlag, Vorstellung, Idee Augenblicks- Geschehen sprachlos (bildartig, schaubar) in der «Abgeschiedenheit» Gefühlsregung des Zorns Brücken- Stufe Spuren, Ein-Druck während kurzer Zeit dauernd vorsprachlich im Gedächtnis Gesichts- Ausdruck Entfaltungs- Stufe Klang- Zeichen, gesprochenes Wort, mündliche Darlegung beliebig lang dauernd, schrittweise erfolgend einzelsprachlich lateinisch, griechisch, hebräisch,… auf der Zunge als körperlicher Sprech- Prozess «ich bin zornig» zugleich aber auch Gesichts- Ausdruck <?page no="174"?> Nachdenken über Sprache 174 Das Bewusstsein der Verluste ist mit Sorge verbunden, das Blitz-Erlebnis mit einer Freude-Empfindung: magis nos delectat et tenet, quod in silentio mente cernimus, nec inde volumus avocari ad verborum longe disparem strepitum. catech. rud. 10,4 (399-400) Mehr zieht uns an und hält uns fest, was wir in der Stille rein geistig wahrnehmen, und am liebsten liessen wir uns nicht von dieser Schau wegrufen zu dem bei weitem nicht entsprechenden Gelärm der Wörter. curam gerimus, quemadmodum longis et perplexis amfractibus procedat ex ore carnis, quod celerrimo haustu mentis imbibitur. catech. rud. 10,9 (399-400) Es bekümmert uns, wie etwas nur über lange und verschlungene Krümmungen aus unserem leiblichen Mund hervorgehen kann, was in einem blitzraschen Geistes- Schluck getrunken wird. Sprechen als Strafe Dass Augustin seine Überzeugung von der Unzulänglichkeit der Sprache aus einer Glaubens-Position geschöpft hat, zeigt ein frühes Zeugnis: Augustin kommentiert den zweiten Schöpfungsbericht des Alten Testaments; hier ein Abschnitt aus den ersten Seiten dieses Kommentars. Die abenteuerlichen Deutungs-Sprünge mögen befremdlich wirken, dürfen aber nicht irremachen; sie gehören zur allegorischen Deutungs-Kunst, die Augustin durch sein Vorbild Ambrosius kennen gelernt hatte und die ihm erst eigentlich den Zugang zum Alten Testament ermöglicht hat. Der Gedankengang gleicht einem lockeren Flechtwerk. quod addidit, antequam esset super terram, intellegitur: antequam anima peccaret. terrenis enim cupiditatibus sordidata tamquam super terram nata vel super terram esse recte dicitur. ideoque addidit nondum enim pluerat deus super terram, quia et nunc viride agri deus facit, sed pluendo super terram, id est: facit animas revirescere per verbum suum, sed de nubibus eas irrigat, id est, de scripturis prophetarum et apostolorum. Was dann folgt, bevor sie auf der Erde war, meint: bevor die Seele sündigte. Da sie nämlich von irdischen Begierden beschmutzt ist, kann man mit Recht sagen, sie sei gewissermaßen auf der Erde geboren, oder, sie sei auf der Erde. Und so folgt: Noch hatte Gott nicht über die Erde geregnet. Denn auch heute wirkt Gott das Grün des Feldes, doch so, dass er auf die Erde regnen lässt, das heisst: er lässt die Seelen durch sein Wort wieder grünen, und zwar bewässert er sie aus Wolken, ich meine damit, aus den Schriften der Propheten und Apostel. <?page no="175"?> W 20 Verständigung als Problem 175 recte autem appellantur nubes, quia verba ista, quae sonant et percusso aere transeunt, addita etiam obscuritate allegoriarum quasi aliqua caligine obducta velut nubes fiunt, quae, dum tractando exprimuntur, bene intellegentibus tamquam imber veritatis infunditur. Ihre Schriften kann man mit Recht Wolken nennen, weil solche Worte (die erklingen, die Luft durchdringen und vorübergehen) zusammen mit der Dunkelheit bildhafter Ausdrücke als einer Art von Nebel-Überzug, gleichsam eine Wolke ergeben, welche sich, während die Worte behandelt und erklärt werden, über die, welche sie richtig auffassen, wie ein Wahrheits-Regen ergiesst. Der Weg zur Wahrheit gleicht einem Kampf mit Nebel, der sich, im Verstehensfall, als imber (eigentlich «Platzregen») über den Forschenden ergiesst. - Soviel zu den Erkenntnis-Bedingungen im Heute, nach der Versündigung des Menschen. Und nun die Bedingungen vor dem Sündenfall: sed hoc nondum erat, antequam anima peccaret, id est, antequam viride agri esset super terram; nondum enim pluerat deus super terram nec erat homo, qui operaretur in ea. laboranti enim homini in terra imber de nubibus est necessarius, de quibus nubibus iam dictum est. Doch, noch ging <Wahrheits-Erkenntnis> nicht so vor sich, bevor die Seele sündigte, bevor also das Grün des Feldes auf der Erde war; denn Gott hatte noch nicht über die Erde geregnet, und da war kein Mensch, auf ihr zu arbeiten. (Will der Mensch auf dem Feld etwas wirken, ist ihm ja Regen aus den Wolken, von denen schon die Rede war, notwendig.) post peccatum autem homo laborare coepit in terra et necessarias habere illas nubes; ante peccatum vero, cum viride agri et pabulum fecisset deus, quo nomine invisibilem creaturam significari diximus, irrigabat eam fonte interiore, loquens in intellectu eius, ut non extrinsecus verba exciperet tamquam de supradictis nubibus pluviam, sed fonte suo, hoc est, de intimis suis manante veritate satiaretur. Gen 2,5 gen. c. Manich. 2,5 (388-390) Nach dem Sündenfall begann der Mensch mit der Feldarbeit und hatte die Wolken nötig; vorher dagegen, als Gott das Grün des Feldes und das Futter gemacht hatte (ein Ausdruck, mit dem, wie gesagt, die unsichtbare Kreatur [die Seele] bezeichnet wird), da bewässerte er diese aus dem innerlichen Quell: Er sprach <unmittelbar> im Erkenntnisorgan der Kreatur, so dass sie nicht Wörter über eine äussere Bahn (so wie den Regen aus obgenannten Wolken) zu empfangen hatte, sondern aus eigener Quelle gesättigt wurde: aus Wahrheit, die ihr von zuinnerst zuströmte. Noch oft wird Augustin Gründe suchen und finden, weswegen heute die Sprache, nicht nur der Bibel, dem Erkenntniswilligen Widerstand entgegensetzt: Es handelt sich eben um Erkenntnis über Umwege, über geschriebene oder gesprochene Wörter. Vor der Versündigung des Menschen gab es ein unsprachliches, ganz «zuinnerst» ablaufendes Verstehen, ein umwegfreies Kommunizieren ganz ohne Wörter. <?page no="176"?> Nachdenken über Sprache 176 Der Mensch, so heisst es gewöhnlich, ist mit der Sprache begabt worden. Ist er nicht eher mit der Sprache bestraft worden? Sprechen ist Sprechen-Müssen! Fromme Illusion Daher also kann Kommunizieren - Wortemachen wie Worteverstehen - nicht mehr sein als ein linkischer, unbeholfener Versuch, an dem ja doch immer schon der sündige (für strafwürdig erklärte! ) Mensch teilnimmt! «…und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns» (Joh 1,14): Für den Prediger stellt sich das Problem, ob sich diese tragende Säule christlichen Glaubens überhaupt vermitteln lässt. nemo ergo credat dei filium conversum et commutatum esse in hominis filium; sed potius credamus et non consumpta divina et perfecte assumpta humana substantia, manentem dei filium, factum hominis filium. neque enim, quia dictum est, deus erat verbum et verbum caro factum est, sic verbum caro factum est, ut esse desineret deus. serm. 187,3 (vor 411) Es glaube niemand, der Sohn Gottes habe sich verwandelt und verändert in den Sohn des Menschen. Vielmehr wollen wir glauben, er habe einerseits keine Minderung oder gar Tilgung seines Gott-Wesens erfahren, andererseits in vollkommener Weise das Mensch- Wesen in sich aufgenommen, sei also Gottes Sohn geblieben und so Menschensohn geworden. Denn, dass gesagt ist, Gott war das Wort und das Wort ward Fleisch, heisst nicht, das Wort sei in der Weise Fleisch geworden, dass es aufhörte, Gott zu sein. Will Augustin diese mystische «Tatsache» erläutern und tut er es, was naheliegt, anhand des Hervorgehens von menschlichen Worten, so gerät er auf brüchiges Eis. Denn er muss die Vorstellung nähren, unser Gedanke, jenes Vorsprachliche, ille intellectus, unterliege bei seinem sprachlichen Ausdruck keiner Wesensänderung, erst recht keinem Verlust, sondern bleibe bei der Lautwerdung unberührt erhalten: cum loquimur, ut id, quod animo gerimus, in audientis animum per aures carneas inlabatur, fit sonus verbum, quod corde gestamus, et locutio vocatur, nec tamen in eundem sonum cogitatio nostra convertitur, sed, apud se manens integra, formam vocis, qua se insinuet auribus, sine aliqua labe suae mutationis adsumit. - ita verbum dei non commutatum caro tamen factum est, ut habitaret in nobis. doctr. christ. 1,13,12 (396-397) Wenn wir uns der Sprache bedienen, um das, was wir im Innern hegen, ins Innere des Zuhörers übers leibliche Ohr einsinken zu lassen, so wird das Wort, das wir im Herzen tragen, zum Klang, und man nennt das ‹Reden›. Aber unser Gedanke wird dennoch nicht etwa in diesen Klang verwandelt, vielmehr bleibt er intakt bei sich und nimmt nur die Gestalt der Stimme, in welcher er zu den Ohren dringt, ohne irgendwelche Abstriche einer Wesensänderung an. - Ebenso ist das Wort Gottes, ohne verändert worden zu sein, dennoch Fleisch geworden, damit es unter uns wohne. <?page no="177"?> W 20 Verständigung als Problem 177 «Wort, verbum»: Die eigentlich ganz unpassende Bezeichnung von Vorsprachlichem als ‹Wort› suggeriert Identität des Nichtidentischen. Der Kirchenlehrer Augustin verleugnet damit den Phänomenologen in sich, der vor Jahren schon (393) vor versammelten Bischöfen das Gegenteil gepredigt hat und es, wie oben (catech. rud. 2,2) gezeigt, weiterhin vertreten wird. - Mithilfe von Bildern sucht er die schwache Position zu stützen. Ein Lieblings-Bild: cum intellectus inest cordi meo et volo, ut insit etiam cordi tuo, quaero, qua ad te transeat, quasi vehiculum sonum, et assumo sonum et quasi impono intellectum et profero. serm. 28,5 (397) Wohnt eine Vorstellung (Idee) in meinem Herzen und möchte ich, dass sie auch in deinem Herzen wohne, dann suche ich ein Mittel, wie sie zu dir hinüber gelangen könnte, und ich wähle - sozusagen als Fahrzeug - einen Klang: Ich nehme den Klang, setze gleichsam meine Vorstellung hinein und schicke sie los. quoniam invisibile est verbum, quod corde concepi, trahere ad te non possum, provideo illi quasi vehiculum sonum. ecce verbum latet, sonus patet; impono latentem super patentem et pervenio ad audientem, ac sic verbum exit a me, venit ad te. serm. Denis 2,2 (? ) Da ich das Wort, das ich im Herzen empfangen habe, nicht zu dir hinüberziehen kann, besorge ich ihm gleichsam als Fahrzeug den Klang. Sieh, das Wort hält sich im Unzugänglichen, der Klang ist offen zugänglich. Das Unzugängliche setze ich aufs Zugängliche und gelange zum Hörer, und so geht das Wort von mir aus und kommt zu dir. Ein anderes Bild lehnt sich an Psalm 19 an: tamquam sponsus procedens de thalamo, wie ein Bräutigam hervorgehend aus der Kammer: …sicut verbum, quod corde gestamus, fit vox, cum id ore proferimus. non tamen illud in hanc commutatur, sed illo integro ista, in qua procedat, assumitur, ut et intus maneat, quod intellegatur, et foris sonet, quod audiatur. hoc idem tamen profertur in sono, quod ante sonuerat in silentio. … so wie das Wort, welches wir im Herzen hegen, Stimme wird, wenn wir es aussprechen. Doch es verwandelt sich nicht in die Stimme; vielmehr nimmt es, selber unversehrt, Stimme an, in der es hervorgehen kann, sodass drinnen bleibt, was erkannt, und draussen klingt, was gehört werden kann. Eben dieses Wort aber wird in Klangform hervorgebracht, das vorher in Schweigen «geklungen» hatte. <?page no="178"?> Nachdenken über Sprache 178 atque ita verbum, cum fit vox, non mutatur in vocem, sed manens in mentis luce et assumpta carnis voce procedit ad audientem et non deserit cogitantem - non, cum ipsa vox in silentio cogitatur, quae vel graecae est vel latinae vel linguae alterius cuiuslibet, sed, cum ante omnem linguarum diversitatem res ipsa, quae dicenda est, adhuc in cubili cordis quodam modo nuda est intellegenti, quae, ut inde procedat, loquentis voce vestitur. serm. 187,3 (vor 411) Und so wandelt sich das Wort, wenn es gesprochen wird, nicht in Stimme um, sondern bleibt im Licht des Geistes, nimmt fleischliche Stimme an und geht so zum Hörer hervor und verlässt doch den nicht, der es im Gedanken noch hegt - nicht etwa, indem dessen klangliche Gestalt im Stillen bedacht wird (welche griechisch oder lateinisch oder irgendeiner andern Sprache zugehörig wäre); vielmehr findet sich, noch vor jeder Differenzierung in eine der verschiedenen Sprachen, das, was ausgesagt werden soll, im Schlafzimmer des Herzens gleichsam noch unbekleidet dem Vorstellenden vor und, um daraus hervorgehen zu können, bekleidet es sich mit der Stimme des Redenden. Was tatsächlich nicht trennbar ist - da sich, wie Augustin weiss, die Idee und deren «Aggregatszustand» gegenseitig beeinflussen -, lässt sich der Vorstellung des Hörers in figürlicher Form (die nackte Gestalt / ihr Kleid) getrennt, augenscheinlich ohne Verlust trennbar darreichen. Zudem findet dieses Bild den Hörer umso leichter illusionsbereit, als ihm das berühmte Psalmen-Wort bekannt ist, also scheinbar keiner Prüfung seiner Legitimität an dieser Stelle bedarf. Das Dogma der Menschwerdung Christi ohne Verlust seiner Gottheit, ein Wunder, löst einen Blick auf das Wesen der Sprache aus, der seinerseits an ein Wunder möchte glauben machen. Gliche es doch einem Wunder, wenn rein Geschautes, Vorsprachliches, unbeschadet Sprache werden und unbeschadet verstanden werden könnte. Augustin hatte die Vorstellung von der Unzulänglichkeit der Sprache aus dem Sündenfall, einer Glaubensposition, begründet; und es bedurfte charakteristischerweise wieder einer Glaubensposition, um diese Vorstellung gelegentlich zu verdrängen: der Menschwerdung Christi ohne Verlust seiner Gottheit. Adam, der «Kranke», musste eine kranke Sprache sprechen; Christus, der «Arzt», konnte den Kranken und seine Sprache heilen. <?page no="179"?> W 20 Verständigung als Problem 179 Die beiden Vorstellungen vom Wesen der Sprache gehen als vollgültige Stränge nebeneinander her. So heisst es etwa, wo betont wird, dass Gottes Erscheinungen im Alten Testament natürlich nicht dessen wahres Wesen sichtbar gemacht hätten, wieder in aller wünschbaren Deutlichkeit: sicut enim sonus, quo auditur sententia in silentio intellegentiae constituta, non est hoc, quod ipsa, ita (…). civ. 10,13 (417) So wie die Lautgestalt, in der uns ein Gedanke zu Gehör kommt - der ja in der Lautlosigkeit des Denkens sein wahres Wesen hat -, nicht das ist, was der Gedanke selber, so (…). * Zu seinem unbefriedigenden Doppel-Gebrauch von «Wort, verbum» - einmal für das ertönende Wort, dann wieder für Vorsprachliches, «innen Leuchtendes» - hat Augustin, vermutlich kurz vor 420, legitimierend Stellung bezogen (wir verdeutlichen den Gedanken durch Indizes): proinde verbum, quod foris sonat, signum est verbi, quod intus lucet, cui magis verbi competit nomen. nam illud, quod profertur carnis ore, vox verbi est, verbumque et ipsum dicitur propter illud, a quo, ut foris appareret, assumptum est. «eher»: aufgrund des johanneischen Gebrauchs trin. 15,20 (399-419) Somit ist das Wort², welches aussen ertönt, ein Zeichen für das Wort 1 , welches innen leuchtet, dem eigentlich die Bezeichnung ‹Wort› eher zusteht. Denn jenes Wort², das von unserem leiblichen Mund ausgeht, ist Wort-Klang, heisst aber auch selber ‹Wort› dank dem Wort 1 , von dem es², damit es 1 erscheinen kann, beigezogen worden ist. Sprechen vom Unendlichen dixit - et facti sumus; sed nos eum dicere non possumus. E R «sprach» - und wir wurden geschaffen; doch wir können IHN nicht «sprechen». in psalm. 99,6 (403-412) Dieses Eingeständnis macht einer der grössten Sprach-Meister seiner Zeit, und nicht nur seiner Zeit. Doch, wie könnte es anders sein, da er es mit einem übergewaltigen «Gegenstand» zu tun hat! - Stellen wir eine ganz bescheidene Frage: Was heisst ‹gut›? Und lassen wir Augustin antworten: <?page no="180"?> Nachdenken über Sprache 180 …quia bonus est dominus. (…) ille bono suo bonus est, non aliunde participato bono. (…) vultis audire, quam singulariter ille sit bonus? dominus interrogatus dixit: nemo bonus nisi unus deus. hanc singularitatem bonitatis eius et praeterire breviter nolo et commendare congrue non sufficio. metuo, ne, si hinc cito transiero, ego ingratus inveniar; item metuo, ne, hoc cum explicandum suscepero, sub tanta laudis dominicae sarcina defatiger. sic tamen, fratres, accipite me et laudantem et non sufficientem, ut, etiamsi non impletur illius laudis explicatio, acceptetur laudatoris devotio. adprobet me ipse voluisse; ignoscat non implevisse. Psalm 135,3 Mt 19,17 in psalm. 134,3 (403-412) …denn der Herr ist gut. (…) E R ist gut kraft eigenen Gutseins, nicht dank fremdem Gutsein, an dem er nur teilnähme. (…) Wollt ihr hören, in welch einzigartiger Weise er gut ist? Auf eine Frage antwortete Christus: Niemand ist gut als allein Gott. Diese Einzigartigkeit seines Gutseins möchte ich einerseits nicht kurz nur streifen, anderseits bin ich nicht mächtig, sie angemessen zu preisen. Ich fürchte undankbar erfunden zu werden, wenn ich rasch daran vorübergehe; doch ebenso fürchte ich, unter der lastenden Aufgabe des Gotteslobs beinah erdrückt zu werden, wenn ich eine ausführliche Darlegung unternehme. Dennoch, meine Mitbrüder: gebt euch so mit mir zufrieden: Ich will ihn lobpreisen, doch der Aufgabe dabei erliegen. Auch wenn die Entfaltung seines Lobes nicht wirklich eingelöst wird, so wird doch die Hingabe des Lobpreisenden angenommen werden. Er anerkenne, dass ich gewollt habe, und verzeihe, dass ich es nicht erreicht habe. (Und es folgt eine grossartig schweifende Lobpreisung.) Lässt sich etwas Einfacheres denken als ‹gut›? Doch wie sollte menschliche Endlichkeit das Gutsein des Unendlichen in Worte fassen, mit Worten umfangen können? - Daher verursacht jeder Vermittler des Gehalts der Heiligen Schrift bei seiner Vermittlung notwendig einen Gehalts-Verlust: sequitur hodierna evangelica lectio, quam ex ordine pertractemus - non pro eius dignitate, sed pro viribus nostris, quia et vos non pro inundantis fontis largitate, sed pro vestro modulo capitis, et nos non tantum dicimus in aures vestras, quantum ipse fons manat, sed, quantum capere possumus, quod in vestros sensus traiciamus. in evang. Ioh. 22,1 (414-417) Es folgt die Lesung des Evangeliums für den heutigen Tag; wir wollen sie nach der Regel behandeln - allerdings nicht gemäss ihrer Würde, sondern nach dem Mass unserer Kräfte. Denn einerseits fasst ihr den Gehalt nicht entsprechend dem überfliessenden Strömen der Quelle, sondern nach eurem Mass, und anderseits kann ich selber nicht soviel in eure Ohren giessen, wie die Quelle selber strömend gibt, sondern nur, soviel ich zu erfassen vermag, es in eure Sinne hinüberzuführen. <?page no="181"?> W 20 Verständigung als Problem 181 Sogar ein doppelter Verlust also tritt beim Hinüber-Leiten der heiligen Quelle zur Hörerschaft ein: Was der Priester vom Quell-Strom zu sich ableitet, ist bloss ein Bächlein, und was der Hörer davon auffängt, nur noch ein Rinnsal. - Ja, genauer besehen, muss sogar von einem dreifachen Verlust gesprochen werden; denn der zu erklärende Sachverhalt ist bereits im Augenblick, da des Predigers Worte fallen, nicht nur einfach, sondern doppelt beschädigt, wie die folgende, hoch verdichtete Formel zeigt: quomodo potui, dixi: et quomodo possum, video, et quomodo video, dicere non possum. in psalm. 35,14 (393-413) So, wie ich eben konnte, habe ich gesprochen: so, wie ich eben kann, schaue ich es, und so, wie ich es schaue, kann ich es nicht sagen. Dieses Los teilt Augustin - was ihn entlastet - mit Grösseren: qui loquitur, dicit, quod potest. nam dicere, ut est, quis potest? audeo dicere, fratres mei: forsitan nec ipse Iohannes dixit, ut est, sed et ipse, ut potuit; quia de deo homo dixit, et quidem inspiratus a deo, sed tamen homo. quia inspiratus, dixit aliquid; si non inspiratus esset, dixisset nihil; quia vero homo inspiratus, non totum, quod est, dixit, sed, quod potuit homo, dixit. in evang. Ioh. 1,1 (414-417) Wer redet, sagt, was er zu sagen vermag. Denn sagen, wie es ist - wer kann das? Ich wage zu behaupten, meine Mitbrüder, vielleicht hat nicht einmal Johannes gesagt, wie es ist, sondern auch er nur, wie er es vermochte. Denn von Gott spricht er als Mensch - als von Gott erleuchteter, gewiss, aber doch als Mensch. Weil er erleuchtet war, sagte er etwas, und zwar Bedeutsames; wäre er nicht erleuchtet gewesen, hätte er nichts gesagt. Als erleuchteter Mensch hat er nicht alles, was ist, gesagt, vielmehr nur, was er als Mensch vermochte. («hätte er nichts gesagt» meint nicht Wortlosigkeit, sondern Wertlosigkeit der Aussage.) Angesichts dieses offenbaren Unvermögens, das alle menschlichen Vermittler des Heiligen trifft, lässt sich wenigstens in vollendeter Form von diesem Unvermögen reden: Augustin rettet sich in ein doppeltes Paradox, eine doppelte, hochvernünftige Unvernünftigkeit: quis autem hoc totum, quod non dicendo dicere conatus sum et dicendo non dicere - quis hoc possit serenissima et sincerissima mente contueri? epist. 232,5 (vor 410? ) Wer aber könnte all das, was ich, indem ich es nicht sagte, <dennoch> zu sagen versuchte und, indem ich es sagte, nicht <etwa> zu sagen versuchte - wer, sage ich, könnte das mit ganz klarem, nichts verfälschendem Sinn betrachten? <?page no="182"?> Nachdenken über Sprache 182 Königlich! - Gefährlich radikal mutet folgende Äusserung an: potest ergo reddi ratio, quare ita dictum sit; non tamen potest aliquid de deo digne dici; quod ideo iam indignum est, quia potuit dici. c. Adim. 13,2 (393) Darüber, warum es so gesagt worden ist, kann man Rechenschaft ablegen; nicht aber kann man von Gott irgendetwas unter Wahrung seiner Würde sagen; denn es wäre schon deshalb seiner unwürdig, weil es gesagt werden konnte. Wenn dem so ist: wie rechtfertigt sich Augustins Riesenwerk? multis modis dicitur, quod, quidquid dictum fuerit, non dicetur. serm. 142,9 (? ) Auf mancherlei Weise sucht man auszusprechen, was sich - was nur immer man gesagt haben wird - nicht wird aussprechen lassen. Augustins Tun ist also eine von Gottes-Begeisterung getragene Sisyphos-Arbeit im Reich der Sprache. - Dabei gibt es zwei ermutigende Helfer; der eine ist die Sprache der Bibel selbst: quid enim convenientius de deo dicitur - quantum inter homines dici potest - quam, cum ita ponitur: dixit; factum est; placuit - ita, ut in eo, quod dixit, imperium eius intellegatur; in eo, quod factum est, potentia; in eo, quod placuit, benignitas? gen. ad litt. imperf. 5,22 (393-394) Was lässt sich angemessener von Gott sagen - soweit es unter Menschen in Sprache gefasst werden kann - als, wenn es so gefasst wird: er sprach; es geschah; es gefiel - in dem Sinn, dass unter ‹er sprach› seine uneingeschränkte Herrschaft verstanden wird, unter ‹es geschah› seine Wirkkraft, und unter ‹es gefiel› seine reiche Güte? Das meint: Vom Unfassbaren ist in den Bibeltexten die Rede in überraschend zugänglicher, betont einfacher Sprache, die aber Wege vorbereitet zu einem geistigeren, höheren Verständnis. - Der zweite Helfer ist Christus: Christus talem se fecit nascendo et patiendo, ut possent de illo homines loqui. quia de homine homo facile loquitur. in psalm. 119,2 (406-415) Christus hat durch Geburt und Leiden bewirkt, dass die Menschen befähigt wurden, von ihm zu sprechen. Denn vom Menschen spricht der Mensch ohne Mühe. Dass die Gottheit Menschengestalt angenommen hat, legitimiert nun doch menschliches Reden von Gott. - Aber wie kommt Verstehen zustande? <?page no="183"?> W 20 Verständigung als Problem 183 quid facio ego modo, cum loquor? strepitum verborum ingero auribus vestris. nisi ergo revelet ILLE , qui intus est: quid dico aut quid loquor? in evang. Ioh. 26,7 (414-417) Was leiste ich jetzt, da ich rede? Ich giesse ein Wörter-Geräusch in eure Ohren. Daher, wenn ER , der in euch wohnt, nicht offenbarend den Schleier wegzieht, was richten dann meine Worte aus? wozu rede ich dann noch? Ein Gott - und nur ein Gott - kann die verhängnisvolle menschliche Gebundenheit an die Wörter-Sprache überwinden. Augustins sprachliche Demut ist einer seiner schönsten Wesenszüge. > Duchrow; Kahnert; Mayer; Pintaric; Pollmann; Ripanti; Rist, Thought 23ff; Schindler; Trautmann <?page no="184"?> Nachdenken über Sprache 184 W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung Deutung eines Textes - das ist für den rhetorisch hochgebildeten Augustin gleichsam seine Leibspeise. Nicht selten stellt sich die Empfindung ein, Augustin wäre eigentlich in der Lage, fast jeden Text in fast jeder Richtung zu deuten. Doch dass es sich bei den Büchern der Bibel um besonders erhabene Vorlagen handelt, legt dem Interpreten gewisse Zügel an. (Augustin weiss sich auch in einer Tradition: Tyconius, ein etwas älterer Zeitgenosse, hat spürbaren Einfluss auf Augustin ausgeübt.) - Wir nennen einige Voraussetzungen regelgerechter Deutung: Ehrfurcht vor dem Text quid, ipsa divina eloquia domini nonne palpantur potius quam tractantur a nobis, dum in multo pluribus quaerimus potius, quid sentiendum sit, quam definitum aliquid fixumque sentimus? et ea cautio cum sollicitudinis plena sit, multo melior est tamen quam temeritas adfirmandi. epist. 95,4 (408-409) Ist es denn nicht so, dass wir die göttlichen Aussprüche des Herrn mehr nur sanft anrühren als wirklich behandeln und erfassen können, insofern wir bei einer grossen Mehrheit von Texten eher nur fragen können, wie sie wohl aufzufassen seien, als dass wir zu einer klar umrissenen und verlässlichen Deutung vorstossen? Und doch ist diese Zurückhaltung, obschon sie viel Unbefriedigendes an sich hat, viel besser, als wenn wir kühn behaupteten, wir hätten den Sinn gefunden. Zur Interpretationskunst gehört es daher bisweilen, die Bedeutung eines Textes nur erahnbar zu machen, nicht derb zuzupacken: domine, tu mihi lavas pedes? - quid est ‹tu›? quid est ‹mihi›? cogitanda sunt potius quam dicenda, ne forte, quod ex his verbis aliquatenus dignum concipit anima, non explicet lingua. Joh 13,6 in evang. Ioh. 56,1 (418) Herr, willst Du mir die Füsse waschen? - Was birgt ‹Du›? Was birgt ‹mir›? Denkend wägen soll man das eher, als dass man es sagen darf, damit nicht etwa, was die Seele an einigermassen Würdigem aus diesen Worten erfassen kann, die Zunge sich ausserstande erweise, es zu entfalten. <?page no="185"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 185 Rechtgläubigkeit quando nos, inquirentes scripturas, sentimus aliquid, quod scriptor forte non sensit, non tamen hoc sentire debemus, quod abhorreat a regula fidei, a regula veritatis, a regula pietatis. serm. 7,3 (397-412) Mögen wir auch, wenn wir die Schriften studieren, einmal einen Sinn finden, an den der Autor vielleicht nicht gedacht hat, so dürfen wir doch an keinem Sinn festhalten, der gegen die Regeln unseres Glaubens, der Wahrheit oder der Frömmigkeit verstösst. Durch dieses Prinzip wird selbstverständlich ein sachlicher, einigermassen objektiver Blick auf den Bibeltext verunmöglicht. Unvoreingenommenheit ist unwillkommen, die rechte Voreingenommenheit hingegen erwünscht. - Schwierig und oft recht kompliziert wird daher der Umgang mit ganz und gar unheiligen Aussagen in der Bibel: perfecto odio oderam illos. - quid est ‹perfecto odio›? oderam in eis iniquitates eorum, diligebam conditionem tuam. hoc est perfecto odio odisse, ut nec propter vitia homines oderis, nec vitia propter homines diligas. nam ecce vide, quid adiungat: inimici facti sunt mihi. non iam tantum dei, sed suos inimicos ostendit. quomodo ergo in eis implebit et, quod ipse dixit: nonne eos, qui oderunt te, odio habui, et, quod dominus praecepit: diligite inimicos vestros? quomodo implebit hoc, nisi illo perfecto odio, ut hoc in eis oderit, quod iniqui sunt, hoc diligat, quod homines sunt? Psalm 139,22. 139,21. Mt 5,44 in psalm. 138,28 (411-415) Ich hasste sie mit vollendetem Hass. - Was heisst ‹mit vollendetem Hass›? Ich hasste an ihnen ihre ungerechten Taten und ich liebte das von DIR geschaffene Wesen. Mit vollendetem Hass zu hassen meint also, weder wegen der Fehler den Menschen zu hassen, noch die Fehler um des Menschen willen zu lieben. Denn sieh, was der Verfasser anfügt: Sie sind mir zu Feinden geworden. Hier weist er nicht mehr nur auf die Feinde Gottes, sondern auf seine eigenen hin. Wie also kann er an ihnen beides erfüllen: sowohl (was er selber gesagt hat) Habe ich denn nicht, die Dich hassen, gehasst? wie auch (was Gott befohlen hat) Liebet eure Feinde! ? Wie kann er dies verwirklichen, wenn nicht eben durch «vollendeten Hass», dadurch, dass er das in ihnen hasst, dass sie ungerecht sind, und das liebt, dass sie Menschen sind? Mit vollendetem Hass meint der Psalmendichter natürlich ungebremsten, aller Skrupeln ledigen Hass. Es ist schwer vorstellbar, dass Augustin an seine eigene Deutung glaubt. Die Interpretation trägt mit ihren Wiederholungen Züge von Autosuggestion. Die regula pietatis zwingt ihn zum Missverstehen. - Der Evangelist Johannes lässt Jesus in dessen Abschiedsgebet sagen: <?page no="186"?> Nachdenken über Sprache 186 haec est enim, inquit, vita aeterna, ut cognoscant te unum verum deum et, quem misisti, Iesum Christum. - subaudis ‹et ipsum unum verum deum›; quia pater et filius unus verus deus - ut iste sit sensus: ‹te et, quem misisti, Iesum Christum cognoscant unum verum deum›. Joh 17,3 in psalm. 85,21 (405-416) Das nämlich ist das ewige Leben, dass sie Dich erkennen als allein wahren Gott und, den Du gesandt hast, Jesus Christus. - Zu ergänzen ist: ‹auch ihn als allein wahren Gott›; denn Vater und Sohn sind der eine wahre Gott. Somit ist dies die Bedeutung: ‹dass sie Dich und, den Du gesandt hast, Jesus Christus, als den allein wahren Gott erkennen.› Hat sich Jesus versprochen, oder hat sich Johannes seinerzeit verschrieben? Keines von beiden; aber die regula fidei verlangt, dass der Bibeltext gemäss dem Konzil von Nizäa (325: der Sohn mit dem Vater gleich wesentlich) verstanden werde! Sprachen-Kenntnis in ipsis autem interpretationibus Itala ceteris praeferatur; nam est verborum tenacior cum perspicuitate sententiae. et latinis quibuslibet emendandis graeci adhibeantur, in quibus septuaginta interpretum, quod ad vetus testamentum attinet, excellit auctoritas. doctr. christ. 2,15,22 (396-397) Bei den Übersetzungen aber muss man die Itala allen andern vorziehen; denn sie hält sich genauer an den originalen Wortlaut und ist erst noch klarer, wenn wir nach dem Sinn fragen. Und bei der Überprüfung aller lateinischen Fassungen sind die griechischen beizuziehen, unter welchen, soweit es ums Alte Testament geht, das Gewicht der siebzig Übersetzer am grössten ist. «Itala»: frühe lateinische Übersetzungen aus NT wie AT. - «siebzig Übersetzer»: Sie sollen gemäss der Legende je einzeln das AT aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt und beim endlichen Vergleich ihrer Fassungen festgestellt haben, dass wunderbarerweise siebzigmal exakt derselbe Wortlaut zustandegekommen war. Daher ihr Gewicht. (Augustin kann einigermassen Griechisch, Hebräisch gar nicht.) <?page no="187"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 187 Gespür für den Sinn Der gute Interpret weiss, dass Wörter nicht Herren, sondern Diener des Sinns sind - nach dem Grundsatz (2 Kor 3,6): littera occidit; spiritus autem vivificat, der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. per huiusmodi evangelistarum locutiones varias, sed non contrarias rem plane utilissimam discimus et pernecessariam: nihil in cuiusque verbis nos debere inspicere nisi voluntatem, cui debent verba servire, nec mentiri quemquam, si aliis verbis dixerit, quid ille voluerit, cuius verba non dicit, ne miseri aucupes vocum apicibus quodammodo litterarum putent ligandam esse veritatem, cum utique non in verbis tantum, sed etiam in ceteris omnibus signis animorum non sit nisi ipse animus inquirendus. cons. evang. 2,28,67 (400) Aus solchen zwar verschiedenen, jedoch einander nicht widersprechenden Ausdrucksweisen der Evangelisten lernen wir etwas wahrhaft Nützliches und Notwendiges: Auf nichts dürfen wir bei der jeweiligen Formulierung achten als auf den Sinn, dem die Wörter zu dienen haben, und keiner lügt, wenn er in andern Worten berichtet, was jener sagen wollte, dessen Worte er nicht wiedergibt. Glauben wir doch nicht, wie kleinliche Vogelsteller, mit den geschriebenen Zeichen der Wörter lasse sich die Wahrheit gewissermassen festbinden! Vielmehr müssen wir in jedem Fall, nicht nur bei sprachlichen, sondern auch bei allen andern Äusserungen des Inneren, allein nach dem Sinn fragen. Oberstes, freilich unerreichbares Ziel des Verstehens wäre es, den Sinn, die «Sache» hinter den Wörtern, gleichsam vorsprachlich, ohne die leidigen Wörter, erfassen zu können (vgl. Nachdenken über Sprache: Sprache als Strafe) - so wie Gott sie denkt: ne putemus quasi consecratis sonis ita muniri veritatem, tamquam deus nobis, quemadmodum ipsam rem, sic verba, quae propter illam sunt dicenda, commendet, cum potius ita res, quae dicenda est, sermonibus, per quos dicenda est, praeferatur, ut istos omnino quaerere non deberemus, si eam sine his nosse possemus - sicut illam novit deus et in ipso angeli eius. cons. evang. 2,66,128 (400) Wir sollten nicht glauben, die Wahrheit lasse sich mit geheiligten Tönen gleichsam einmauern -, wie wenn Gott uns, so wie die Sache, ebenso auch die Wörter, die wir zu deren Ausdruck benötigen, übergäbe. Vielmehr müssen wir die Sache, die ausgedrückt werden soll, so sehr der Formulierung, durch die sie auszudrücken ist, vorziehen, dass wir überhaupt nicht mehr danach fragen wollten, wenn es uns möglich wäre, die Sache auch ohne die Formulierung zu kennen - so wie Gott sie kennt, und in ihm seine Engel. * <?page no="188"?> Nachdenken über Sprache 188 Einige Thesen zum Wesen von Bibeltexten: Bibeltexte sind nie amoralisch servabitur ergo in locutionibus figuratis regula huiusmodi, ut tam diu versetur diligenti consideratione, quod legitur, donec ad regnum caritatis interpretatio perducatur. si autem hoc iam proprie sonat, nulla putetur figurata locutio. si praeceptiva locutio est aut flagitium aut facinus vetans aut utilitatem aut beneficientiam iubens, non est figurata. si autem flagitium aut facinus videtur iubere aut utilitatem aut beneficientiam vetare, figurata est. doctr. christ. 3,15,23f (396-397) Man wird sich also bezüglich bildlicher Ausdrücke an folgende Regel halten: Der Text soll in sorgfältiger Betrachtung so lange bewegt werden, bis seine Deutung ins Reich der Liebe übergeführt werden kann. Wenn die Formulierung schon wörtlich genommen danach klingt, ist nicht an eine bildhaft gemeinte Aussage zu denken. Handelt es sich um einen Lehrtext, der etwa Schändlichkeit oder Übeltat verbietet und zu Nützlichsein und Wohltun auffordert, ist der Text nicht bildlich gemeint. Scheint er hingegen zu einer Schändlichkeit oder einer Übeltat aufzufordern und Nützlichsein oder Wohltun zu verbieten, handelt es sich um eine bildlich gemeinte Aussage. … ein entwaffnend einfacher Freipass zu fragwürdigen Moralisierungen mithilfe der allegorischen Deutung. de bisso et purpura vestimenta sibi. - vestimenta fecit et sibi. non enim decebat matronam tanti viri vel nudam incedere vel pannosam. fecit de bisso et purpura vestimenta sibi: ‹de bisso› candida confessione; ‹de purpura› gloriosa passione. huius bissum, cum oramus, agnoscimus; huius purpuras in martyribus mane laudavimus. Sprüche 31,22 serm. 37,18 (410-413) Aus Batist und Purpur machte sie Kleider für sich. - Kleider machte sie also auch für sich. Es wäre ja für die Gattin eines derart vornehmen Mannes nicht anständig gewesen, schlecht gekleidet einherzugehen oder in Lumpen. Sie machte aus Batist und Purpur Kleider für sich. ‹aus Batist›, das heisst: in lauterem Bekennen; ‹aus Purpur›, das ist: in ruhmreichem Dulden. - Auf ihren Batist besinnen wir uns immer, wenn wir beten; ihren Purpur haben wir heute morgen gepriesen, als wir der Märtyrer gedachten. Augustin verfährt exakt nach seiner Regel ‹proprie - figurate, wörtlich - bildlich›: Luxus darf nicht wörtlich gemeint sein. - Zugunsten der Aufhellung einer Gestalt kann Augustin den expliziten Willen der Schrift verleugnen: <?page no="189"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 189 venit cum dolo. - nam ille doloso homini benedictionem non confirmaret, cui debebatur iusta maledictio. non ergo erat verus ille dolus, maxime, quia non est mentitus dicendo: ego sum filius tuus maior Esau. iam enim pactus erat ille cum fratre suo, et vendiderat primogenita sua. hoc se dixit habere patri, quod emerat a fratre; quod ille perdiderat, in istum transierat. Gen 27,35. 27,24 serm. 4,23 (410-419) Jakob kam zum Vater und bediente sich einer List. - Einem listereichen Menschen hätte jener den Segen nicht gegeben; vielmehr wäre er ihm eine gerechte Verwünschung schuldig gewesen. Also war das keine wirkliche List, vor allem auch, weil er ja nicht log bei den Worten: Ich bin dein älterer Sohn Esau. Denn der hatte mit seinem jüngeren Bruder bereits den Vertrag geschlossen und sein Erstgeburtsrecht verkauft. Eben diesen Besitz, den er vom Bruder erkauft hatte, kleidete Jakob gegenüber seinem Vater in Worte. Was Esau hergegeben hatte, war in Jakob übergegangen. Ich bin dein älterer Sohn…: soviel mag mit einiger juristischen Spitzfindigkeit hingehen; aber gewiss nicht: …Esau. Dieser Name wechselte den Besitzer ja nicht. Ein bewährtes Instrument im Kampf für eine unbedingt moralische Integrität der biblischen Autoren und Inhalte besteht darin, dass (gestützt etwa auf Lk 24,44) das Alte Testament konsequent und daher oft gewaltsam auf Christus und das Neue Testament hin «umverstanden» wird - nach dem mehrfach formulierten Grundsatz: novum in vetere est figuratum et vetus in novo est revelatum. c. adv. leg. 1,17,35 (419-420) Das Neue Testament ist im Alten vorhergebildet da, und das Alte ist entschleiert im Neuen. modo ergo tota intentio nostra est, quando psalmum audimus, quando prophetam, quando legem, quae omnia, antequam veniret in carne dominus noster Iesus Christus, conscripta sunt, Christum ibi videre, Christum ibi intellegere. in psalm. 98,1 (410-411) Wenn wir einen Psalm hören oder einen Text aus den Propheten oder aus dem Gesetz - Texte, die alle vor der leiblichen Ankunft unseres Herrn Jesus Christus verfasst wurden -, muss all unser Trachten darauf gerichtet sein, Christus darin zu sehen, Christus darin zu erkennen. lege libros omnes propheticos non intellecto Christo: quid tam insipidum et fatuum invenies? intellege ibi Christum: non solum sapit, quod legis, sed etiam inebriat! in evang. Ioh. 9,3 (414-417) Lies alle prophetischen Bücher und lass dabei jeden Gedanken an Christus beiseite: was kannst du Faderes und Einfältigeres finden? Erkenne darin Christus: nicht nur schmackhaft wird, was du liesest, nein, es berauscht dich sogar! <?page no="190"?> Nachdenken über Sprache 190 Der unbedingte Bezug des AT auf Christus treibt zuweilen erstaunliche Blüten: Es gilt, einen Psalm Davids, ein Gebet mit Verwünschungen gegen seine Feinde, «umzuverstehen», unter anderem die Zeile Ich dagegen hüllte mich ins Bussgewand, als sie krank waren. Wen meint Ich? evangelio perspecto et diligentissime perscrutato non invenimus dominum in aliqua passione et tribulatione sua induisse se cilicio. (…) sed tamen in his omnibus, fratres, si aliquantulum pia curiositate levemus velum et interiora huius scripturae oculo cordis intento rimemur, invenimus et hoc fecisse dominum. ‹cilicium› fortasse appellat carnis suae mortalitatem. vgl. Psalm 35,13 in psalm. 34, serm. 2,3 (412-415) Obwohl wir das Evangelium eingehend prüften und überaus sorgfältig durchforschten, haben wir keine Stelle gefunden, wo der Herr in irgendeiner Leidenszeit oder Bedrängnis sich mit einem härenen Bussgewand bekleidet hat. (…) Und dennoch, meine Brüder, finden wir in all den Situationen, wenn wir ein ganz klein wenig in frommer Neugier den Schleier heben und aufmerksam mit dem Auge unseres Herzens in die Ritzen des Innern dieser Schrift leuchten, dass der Herr auch dies getan hat: ‹Bussgewand› nennt er vielleicht seine leibliche Sterblichkeit. Das «Auge des Herzens» hat eben seine eigene Sicht. Es darf sogar für einen Augenblick der sonst verpönten Neugierde nachgeben. Es weiss auch höchste Sorgfalt mit Gewalttätigkeit zu verbinden. Dabei kann die Distanz zum Wahrscheinlichen unerträglich werden: (…) Selmon. - sed quem montem intellegere debemus montem dei, montem uberem, montem incaseatum, nisi eumdem dominum Christum (…)? ipse est mons incaseatus, propter parvulos gratia tamquam lacte nutriendos (…); et ipsum lac, unde fit caseus, miro modo significat gratiam: manat quippe ex abundantia viscerum maternorum (…). montes illos incaseatos dominus iste, mons incaseatus, inhabitabit usque in finem (…). Psalm 68,15f in psalm. 67,22f (415) (…) Selmon. - Aber, welchen Berg sollen wir erkennen in dem Berg Gottes, dem reichhaltigen Berg, dem käsereichen Berg, wenn nicht eben unsern Herrn Christus? (…) Er ist der käsereiche Berg, weil er in seiner Gnade, die noch klein sind, gleichsam mit Milch nährt (…). Und die Milch, woraus ja der Käse hergestellt wird, bedeutet wunderbarerweise Gnade: Sie fliesst ja aus dem überströmenden Reichtum mütterlichen Schosses. (…) Dieser unser Herr wird, selber käsereicher Berg, die genannten käsereichen Berge bis zum Ende bewohnen. <?page no="191"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 191 Bibeltexte sprechen wahr und widersprechen sich bzw. einander nie Daran hält Augustin fest auch angesichts der Spannung zwischen Joh 1,18 (niemand hat Gott jemals gesehen) und Mt 18,10 (ihre Engel schauen allezeit das Angesicht meines Vaters): qua igitur regula intellegentiae ista veluti contraria et repugnantia non esse contraria nec repugnare probabimus? neque enim fieri ullo modo potest, ut haec scripturarum auctoritas aliqua ex parte mentiatur. epist. 147,5,14 (413) Nach welcher Erkenntnis-Regel also können wir beweisen, dass diese scheinbar einander entgegengesetzten und widerstrebenden Aussagen einander nicht entgegengesetzt noch auch widerstrebend sind? Denn es ist doch auf keine Weise möglich, dass die Autorität der Schriften in irgendeiner Hinsicht lügt! Das zur Formel geronnene Credo lautet etwa ‹multa diversa, nulla adversa›, oder ‹multa varia, nulla contraria›. Es ist die notwendige Folge der Vorstellung, dass sämtliche Bibeltexte einer einzigen, sich stets gleichbleibenden, weil göttlichen Quelle entstammen. - So sucht Augustin auch Mt 5,16 (leuchten sollen eure Werke vor den Menschen) mit Mt 6,4 (damit dein Almosen im Verborgenen sei) zu versöhnen: uterque scripturae locus ita temperandus est, ut ostendantur divina praecepta adversa sibi esse non posse. nam ista, quae videtur pugna in verbis, pacem intellectoris inquirit. habeat quisque cum dei verbo in corde concordiam, et scripturae nulla discordia est. serm. 149,10,11 (400-412) Diese zwei Stellen der Schrift müssen in der Weise aufeinanderhin betrachtet werden, dass offensichtlich wird, dass Weisungen, die von Gott ausgehen, einander keinesfalls widersprechen können. Denn das, was auf der Ebene der Wörter ein Kampf zu sein scheint, verlangt nach der Fähigkeit des Interpreten, Frieden zu halten, Frieden zu schaffen. Es halte ein jeder in seinem Herzen mit Gottes Wort Eintracht, und es gibt in der Schrift keine Zwietracht! Eine gefährlichere Anleitung zur Deutung von Texten lässt sich kaum denken! - Sollen wir, nach einem Psalmenwort, unsern Gott fürchten, oder sollen wir ihn, nach einem Christuswort, lieben? Ein hochsuggestives Bild erzwingt unsere Zustimmung zur Versöhnung beider Positionen: <?page no="192"?> Nachdenken über Sprache 192 initium sapientiae timor domini. - timor quasi locum praeparat caritati. cum autem coeperit caritas habitare, pellitur timor, qui ei praeparavit locum. quantum enim illa crescit, ille decrescit et, quantum illa fit interior, timor pellitur foras. maior caritas, minor timor; minor caritas, maior timor. si autem nullus timor, non est, qua intret caritas. sicut videmus per setam introduci linum, quando aliquid suitur, seta prius intrat; sed, nisi exeat, non succedit linum. sic timor primo occupat mentem; non autem ibi remanet timor, quia ideo intravit, ut introduceret caritatem. Psalm 111,10 vgl. 1 Joh 4,18 in epist. Ioh. 9,4 (407-416) Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn. - Die Furcht bereitet der Liebe gleichsam die Wohnung. Wenn nun die Liebe einmal da zu wohnen begonnen hat, wird die Furcht, die ihr den Platz bereitet hat, vertrieben. Je mehr jene nämlich wächst, umso mehr nimmt diese ab, und je mehr sich jene im Innern wohlfühlt, umso mehr wird diese ausgetrieben. Grösser die Liebe: kleiner die Furcht; kleiner die Liebe: grösser die Furcht. Wenn aber gar keine Furcht in uns wohnt, gibt es keine Stelle, durch welche die Liebe eintreten könnte. So sehen wir, wenn etwas genäht wird, wie die Nadel den Faden einführt: Zuerst dringt die Nadel in den Stoff ein; aber, wenn sie nicht wieder austritt, kann der Faden ihre Stelle nicht einnehmen. Ebenso besetzt zuerst die Furcht unsere Seele; doch bleibt sie da nicht drin; denn sie ist eingetreten, um die Liebe da einzuführen. Weshalb wendet sich Maria Magdalena vor dem leeren Grab Christi gleich zweimal um, einmal zu Christus und das andere Mal - ebenfalls? ista mulier, quae iam fuerat conversa retrorsum, ut videret Iesum, quando eum putavit esse hortulanum et cum illo utique loquebatur, quomodo rursus conversa dicitur, ut ei diceret: Rabboni, nisi, quia tunc conversa corpore, quod non erat, putavit, nunc corde conversa, quod erat, agnovit! Joh 20,14.16 in evang. Ioh. 121,2 (418) Diese Frau hatte sich doch schon umgewendet, sodass sie Jesus sah, und glaubte, es sei der Gärtner, und hatte mit ihm jedenfalls schon gesprochen. Wie kann von ihr gesagt werden, sie habe sich noch einmal umgewendet und zu ihm Meister gesagt? Doch deshalb, weil sie damals, als sie sich das erste Mal umwandte, es nur körperlich tat und daher glaubte, was nicht zutraf, jetzt aber, beim zweiten Mal, sich in ihrem Herzen wandte und daher die Wahrheit erkannte! <?page no="193"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 193 Bibeltexte sind nie ohne Bedeutung Nach dem Sündenfall; Abendspaziergang Gottes: et audierunt vocem domini Dei ambulantis in paradiso ad vesperam. - ea quippe hora tales iam convenerat visitari, qui defecerant a luce veritatis. Gen 3,8 gen. ad litt. 11,33,43 (401-414) Und sie hörten die Stimme Gottes, der zur Abendzeit im Paradies wandelte. - Das eben war die richtige Zeit, um Wesen zu besuchen, die sich vom Licht der Wahrheit losgesagt hatten. Sollte auch dies mehr sein als eine Selbstverständlichkeit, dass Judas Ischarioth, als er das letzte Abend-Mahl verliess, in die Nacht hinaustrat? cum ergo accepisset ille buccellam, exiit continuo. erat autem nox. et ipse, qui exivit, erat nox. cum ergo exisset ‹nox›, ait Iesus: nunc clarificatus est filius hominis. dies ergo diei eructavit verbum, id est, Christus discipulis fidelibus, ut audirent eum et amarent sequendo. et nox nocti annuntiavit scientiam, id est, Iudas Iudaeis infidelibus, ut venirent ad eum et apprehenderent persequendo. Joh. 13,30f in evang. Ioh. 62,6 (418) Als jener den Bissen empfangen hatte, ging er sogleich hinaus. Und es war Nacht. - Nacht war aber auch der, welcher hinausging! Als nun ‹die Nacht› hinausgegangen war, sagte Jesus: Jetzt ist der Sohn des Menschen verklärt. - Der Tag also kündete das Wort dem Tag, das heisst, Christus seinen gläubigen Jüngern, sie sollten auf ihn hören und ihn durch ihre Nachfolge lieben. Und die Nacht kündete ihr Wissen der Nacht, das heisst Judas den ungläubigen Juden, sie sollten kommen, ihm nachgehen und ihn fassen. Unter Zuhilfenahme von Psalm 19,3 (Ein Tag sagt es dem andern, und eine Nacht tut es der andern kund) entsteht eine unnachahmlich grossgedachte Deutung. Der Allwissende - fragt! ? quando enim dixit deus Adam, ubi es? , non, ubi esset, ignorabat, sed superbum increpabat, et, ubi tunc esset, id est, ad quam miseriam pervenisset, non scire cupiebat, sed interrogando increpans admonebat. Gen 3,9 in psalm. 118, serm. 9,1 (419-422? ) Als Gott rief, Adam, wo bist du? , wusste Gott natürlich sehr wohl, wo Adam sei. Er schalt ihn vielmehr für seine Überhebung; und, wo Adam sich jetzt befinde, das heisst, bis zu welchem Grad an Elend er herabgekommen sei, wollte Gott nicht erfahren, sondern stellte es ihm mit dieser Frage tadelnd vor Augen. <?page no="194"?> Nachdenken über Sprache 194 Einmal hat es Augustin unternommen, sich der Hypothese tatsächlich bedeutungsloser Teile zu stellen und von dieser Position aus - natürlich - für die Bedeutung selbst dieser Teile zu plädieren: non sane omnia, quae gesta narrantur, aliquid etiam significare putanda sunt; sed propter illa, quae aliquid significant, etiam ea, quae nihil significant, adtexuntur. solo enim vomere terra proscinditur; sed, ut hoc fieri possit, etiam cetera aratri membra sunt necessaria. et soli nervi in citharis atque huius modi vasis musicis aptantur ad cantum; sed, ut aptari possint, insunt et cetera in compagibus organorum, quae non percutiuntur a canentibus; sed ea, quae percussa resonant, his conectuntur. ita in prophetica historia dicuntur et aliqua, quae nihil significant, sed quibus adhaereant, quae significant, et quodam modo religentur. civ. 16,2 (nach 419) Wir sollten nicht denken, dass ausnahmslos jedes Geschehnis, von dem berichtet wird, auch etwas bedeutet. Vielmehr werden um jener Stellen willen, die etwas bedeuten, auch die eingewoben, welche nichts bedeuten. Der Acker wird ja doch allein mit der Pflugschar aufgerissen; damit das geschehen kann, sind aber auch alle andern Teile des Pfluges notwendig. Und allein die Saiten werden bei der Kithara und ähnlichen Musikinstrumenten zur Begleitung des Gesangs angeschlagen; doch, damit dies geschehen kann, sind auch die andern Teile ins Gesamtgefüge des Instruments verbaut, die von den Sängern nicht angeschlagen werden; was angeschlagen widerklingt, muss aber mit diesen Teilen verbunden sein. Ebenso fallen in den Erzählungen der Propheten auch Worte, die nichts bedeuten, welchen aber die Bedeutung tragenden Teile anhangen und gleichsam an sie geknüpft sind. Lässt sich eine geschicktere Apologie denken? - Die Bibel kann auch bedeutsam schweigen: (…) quidam pauper nomine Lazarus. tacuit nomen divitis et dixit nomen pauperis. cuius nomen ventilabatur, ipsius tacuit deus. de cuius nomine silebatur, ipsum dixit deus. Lk 16,20 serm. ed. Denis 23,4 (? ) (…) ein Armer, namens Lazarus. Der Evangelist hat den Namen des Reichen verschwiegen und den Namen des Armen überliefert: Wessen Name in aller Munde war, eben dessen Namen hat Gott übergangen; wessen Namen keiner kannte, eben den hat Gott ausgesprochen. <?page no="195"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 195 Bibeltexte bergen oft mehr als eine einzige Bedeutung Je nach Beschaffenheit der Umgebung hilft ein Buchstabe ein je wieder anderes Wort bilden (serm. 32,6). Genau so ist ein Wort je nach Beschaffenheit seiner Umgebung offen für eine je wieder andere Bedeutung: quid est aqua? spiritus. numquid semper aqua spiritum significat? non semper; sed quibusdam locis spiritum significat, quibusdam locis baptismum significat, quibusdam locis populos significat, quibusdam locis consilium significat. in epist. Ioh. 6,11 (407-416) Was meint ‹Wasser›? Es meint ‹Geist›! Aber meint ‹Wasser› denn immer ‹Geist›? Nein, nicht immer! Vielmehr bedeutet es an gewissen Stellen ‹Geist›, an einigen ‹Taufe›, an gewissen Stellen ‹Völker›, und wieder an andern meint es ‹Einsicht›. Kann ein bestimmtes Wort Verschiedenes bedeuten, so können verschiedene Wörter Eines bedeuten: si vere lapis esset Christus, leo non esset et, si leo esset, agnus non esset. ideo et leo et agnus et lapis et vitulus et, si quid huiusmodi, quia nec lapis nec leo nec agnus nec vitulus, sed salvator omnium Iesus Christus. istae enim similitudines sunt, non proprietates. in psalm. 90, serm. 1,6 (408-412) Wenn Christus in Wirklichkeit Stein wäre, wäre er nicht Löwe, und wenn er in Wirklichkeit Löwe wäre, wäre er nicht Lamm. Somit gilt: Er ist Löwe und Lamm und Stein und Rind und, was immer von solcher Art, deswegen, weil er weder Stein noch Löwe noch Lamm noch Rind, sondern unser aller Retter Jesus Christus ist. All diese Namen sind gleichnishafte Bezeichnungen für ihn; sie meinen nicht sein konkretes Sosein. Die Selbstfixierung auf Mehrdeutigkeit, an sich dem Gegenteil vorzuziehen, führt Augustin jedoch an die Grenzen seiner Kräfte: partim sermocinando in populis, partim dictando exposui donante domino, sicut potui. psalmum vero centesimum octavum decimum non tam propter eius notissimam longitudinem quam propter eius profunditatem paucis cognoscibilem differebam. (…) quia, quotiescumque inde cogitare tentavi, semper vires nostrae intentionis excessit. Teils habe ich die Psalmen in Predigten vor dem Volk, teils in Diktaten, so gut ich es konnte, mit Gottes Hilfe ausgelegt. Den 118. Psalm allerdings habe ich immer vor mir hergeschoben, nicht sosehr wegen seiner berühmt-berüchtigten Länge als wegen seiner nur Wenigen erkennbaren Tiefe. (…) Jedesmal nämlich, wenn ich ihn zu durchdenken versuchte, überstieg er die Kräfte meiner Konzentrationsfähigkeit. <?page no="196"?> Nachdenken über Sprache 196 quanto enim videtur apertior, tanto mihi profundior videri solet, ita, ut etiam, quam sit profundus, demonstrare non possem. aliorum quippe, qui difficile intelleguntur, etiamsi in obscuritate sensus latet, ipsa tamen apparet obscuritas; huius autem nec ipsa, quoniam talem praebet superficiem, ut lectorem atque auditorem, non expositorem necessarium habere credatur. in psalm. 118, prooem. (419-422? ) Denn je zugänglicher er zu sein scheint, umso tiefer erscheint er mir immer wieder - bis zu dem Grade, dass ich nicht einmal sichtbar machen konnte, wie tief er sei. Bei andern, die auch schwer zu verstehen sind, wird, auch wenn der Sinn im Dunkeln bleibt, immerhin sichtbar, dass sie schwer verständlich sind. Beim 118. aber zeigt sich nicht einmal dies, da er eine so glatte Oberfläche bietet, dass man glauben möchte, hier brauche es nur Leser und Hörer, nicht aber einen Erklärer. Wozu hat denn Gott derart schwierig zu knackende Nüsse ausgestreut? in omni quippe copia scripturarum sanctarum pascimur apertis, exercemur obscuris; illic fames pellitur, hic fastidium. serm. 71,7,11 (417-420) All der Reichtum der Heiligen Schriften nährt uns, wo der Sinn leicht zugänglich, offen daliegt; er übt und stählt uns, wo der Sinn schwerer zugänglich, dunkel ist. Im Offenen wird unser Hunger vertrieben, im Dunkeln Übersättigung. … eine häufig wiederkehrende Doppel-Formel. - Die Empfindung der Verdecktheit vieler Aussagen führt Augustin zu einer Meditation des Schleier-Motivs: non propterea abscondit, ut neget, sed, ut absconditis excitet desiderium. haec est utilitas secreti. honora in eo, quod nondum intellegis, et tanto magis honora, quanto plura vela cernis. quanto enim quisque honoratior est, tanto plura vela pendent in domo eius. vela faciunt honorem secreti. sed honorantibus levantur vela. serm. 51,4,5 (417-418) Nicht deshalb verbirgt die Schrift die tiefere Bedeutung vor uns, um sie uns zu versagen, sondern, um unser Verlangen danach zu wecken. Das ist Nutzen und Ziel des Geheimnisses. Ehre darin, was du noch nicht verstehst, und ehre es umso mehr, je mehr Schleier du entdeckst. Je höher einer in Ehren steht, umso mehr Schleier hangen doch in seinem Haus. Schleier mehren die Ehre des Geheimnisses. Denen aber, die es ehren, heben sich die Schleier! Gelegentlich hat Augustin sein Prinzip der Mehrdeutigkeit biblischer Inhalte durchbrochen; dabei kann es zu eigentlichen Gleichungs-Reihen kommen: <?page no="197"?> W 21 Theorie und Praxis der Bibel-Auslegung 197 sanavit fluxum sanguinis, sanavit leprosum, sanavit paralyticum. omnes isti sunt morbi animae. clodum et caecum; nam claudicat omnis, qui non recte ambulat in via vitae, et caecus est, qui non credit deo, et fluxum sanguinis luxuriosus patitur, et maculas leprae omnis varius et mendax. serm. ed. Mai 25,2 (? ) Er heilte den Blutfluss, er heilte den Leprakranken, er heilte den Paralytiker; all das sind Krankheiten der Seele. Auch Lahme und Blinde <kann man hinzuzählen>. Denn es hinkt jeder, der auf dem Lebensweg nicht gerade wandelt, und blind ist, wer nicht gottgläubig ist, und am Blutfluss leidet, wer ausschweifend lebt, und Leprageschwüre trägt jeder haltlose und lügnerische Mensch. mare rubrum significat baptismum; Moyses ductor per mare rubrum significat Christum; populus transiens significat fideles; mors Aegyptiorum significat abolitionem peccatorum. in evang. Ioh. 45,9 (414-417) Das Rote Meer bedeutet Taufe; Moses, der Führer durchs Rote Meer, bedeutet Christus; das Volk, welches hindurchgeht, bedeutet die Gläubigen; der Tod der Ägypter bedeutet Vergebung der Sünden. Die Deutung von Bibeltexten ist grundsätzlich nie abgeschlossen quid, inquam, mihi obest, si aliud ego sensero, quam sensit alius eum sensisse, qui scripsit? omnes quidem, qui legimus, nitimur hoc indagare atque comprehendere, quod voluit ille, quem legimus, et, cum eum veridicum credimus, nihil, quod falsum esse vel novimus vel putamus, audemus eum existimare dixisse. Was ist es mir schon im Wege, wenn ich eine andere Bedeutung finde, als ein anderer gedacht hat, dass der Autor des Textes gemeint habe? Alle, die wir die Heiligen Schriften lesen, bemühen uns natürlich, das aufzuspüren und zu erfassen, was der, den wir lesen, gemeint haben muss, und wenn wir festen Glaubens sind, dass dieser eine Wahrheit geschrieben hat, wagen wir nicht zu denken, er habe etwas geschrieben, wovon wir wissen oder annehmen müssen, es sei falsch. dum ergo quisque conatur id sentire in scripturis sanctis, quod in eis sensit ille, qui scripsit, quid mali est, si hoc sentiat, quod tu, lux omnium veridicarum mentium, ostendis verum esse, etiamsi non hoc sensit ille, quem legit, cum et ille verum, nec tamen hoc senserit? conf. 12,18,27 (397-401) Darum, wenn nur ein jeder versucht, den Sinn in den Heiligen Schriften zu finden, den jener, der sie aufgeschrieben hat, gemeint hat, was ist dann schlecht daran, wenn er eine Bedeutung hineinlegt, von der D U , Licht aller der Wahrheit verpflichteten Geister, zeigst, dass auch sie wahr ist - auch wenn der ferne Autor nicht das meinte, wiewohl auch eine Wahrheit, nur nicht genau diese? …ein hochmoderner Standpunkt, der der Bibel die Dignität eines Kunstwerks zubilligt. - Auf dieser grossartig offenen Hermeneutik, der es nur um das Zutage- <?page no="198"?> Nachdenken über Sprache 198 fördern von Wahrheit(en) geht, ruht das analoge, ebenso souveräne Ideal eigenen Schreibens: vellem quippe, si tunc ego essem Moyses (…) et mihi abs te Geneseos liber scribendus adiungeretur, talem mihi eloquendi facultatem dari et eum texendi sermonis modum, ut neque illi, qui nondum queunt intellegere, quemadmodum creat deus, tamquam excedentia vires suas dicta recusarent, et illi, qui hoc iam possunt, in quamlibet veram sententiam cogitando venissent, eam non praetermissam in paucis verbis tui famuli reperirent, et, si alius aliam vidisset in luce veritatis, nec ipsa in eisdem verbis intellegenda deesset. conf. 12,26,36 (397-401) Wäre ich damals Moses gewesen (…) und wäre mir von D IR aufgetragen worden, das Buch der Genesis zu schreiben, hätte ich wahrlich gewünscht, dass mir ein derartiges Sprachvermögen und eine solche Webekunst der Darstellung gegeben würde, dass die einen, die noch nicht verstehen können, wie Gott schafft, meine Worte nicht als ihre Kräfte übersteigend zurückweisen müssten, und dass jene, welche dies schon verstehen können, auch nicht eine wahre Bedeutung, auf die sie durch Nachdenken gekommen wären, in den wenigen Worten Deines Dieners beiseitegelassen fänden, und dass, wenn noch ein anderer im Lichte der Wahrheit wieder eine andere Bedeutung sähe, auch sie noch in denselben Worten sich mitverstehen liesse. ego certe, quod intrepidus de meo corde pronuntio, si ad culmen auctoritatis aliquid scriberem, sic mallem scribere, ut, quod veri quisque de his rebus capere posset, mea verba resonarent, quam ut unam veram sententiam ad hoc apertius ponerem, ut excluderem ceteras. conf. 12,31,42 (397-401) Ich jedenfalls erkläre ohne Zögern und aus tiefster Überzeugung: Wenn ich etwas im höchsten Grade Gültiges schreiben müsste, so wollte ich lieber so schreiben, dass, was immer einer an Wahrem von diesem Gegenstand erfassen könnte, in meinen Worten aufklänge, als dass ich eine einzige Bedeutung überdeutlich herausstellte mit dem Ziel, alle andern auszuschliessen. Texte geradezu herrscherlichen Blicks! - Wer mag über eine derart kühne Position rechtfertigend seine schützende Hand halten? Augustin findet sie: in seinem Gott: ille quippe auctor in eisdem verbis, quae intellegere volumus, et ipsam sententiam forsitan vidit, et certe dei spiritus, qui per eum haec operatus est, etiam ipsam occursuram lectori vel auditori sine dubitatione praevidit, immo, ut occurreret, quia et ipsa est veritate subnixa, providit. doctr. christ. 3,27,38 (396-397) Vielleicht hat ja der ferne Verfasser in eben den Worten, die wir verstehen wollen, auch noch diesen Sinn gesehen, und mit Sicherheit hat Gottes Geist, der durch ihn dies wirkte, vorhergesehen, dass einst auch dieser Sinn dem Leser oder Hörer entgegentreten könne; ja er hat sogar dafür gesorgt, dass er ihm begegne, weil ja auch dieser Sinn sich auf die Wahrheit stützen kann! > Pollmann <?page no="199"?> W 22 Ein unbotmässiger Bibelvers 199 W 22 Ein unbotmässiger Bibelvers deus vult omnes homines salvos fieri Gott will, dass alle Menschen gerettet werden 1 Tim 2,4 Der Verfasser des Ersten Timotheus-Briefs stützt die unbeschwerte Überzeugung des Pelagius und seiner Anhänger, dass alle Menschen Zugang zur Seligkeit haben. Augustins eigene Gnadenlehre, aus dem Römer-Brief entwickelt, besagt jedoch, dass Gott, wem er will, zu Hilfe kommt, und, wen er will, im Stich lässt (quaest. Simpl. 1,2,17 u.ö.). Will Augustin seine Gnadenlehre retten, so muss er das ärgerliche Wort im Timotheus-Brief kunstvoll zurechtbiegen. Wir geben fünf Versuche wieder. I quo modo dicitur omnes homines eam (sc. gratiam) fuisse accepturos, si non illi, quibus non datur, eam sua voluntate respuerent, quoniam deus vult omnes homines salvos fieri, Unhaltbar ist die Behauptung, alle Menschen würden einst die Gnade empfangen, wenn die, denen sie nicht geschenkt wird, den Empfang der Gnade nur nicht aus eigenem Entschluss zurückwiesen! Es heisse ja doch: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden. cum multis non detur parvulis et sine illa plerique moriantur, qui non habent contrariam voluntatem, et aliquando cupientibus festinantibusque parentibus, ministris quoque volentibus ac paratis, deo nolente non detur, cum repente, antequam detur, expirat, pro quo, ut acciperet, currebatur? 1 Tim 2,4 epist. 217,19 (nach 416) <Unhaltbar>; denn vielen Kleinkindern wird die Gnade verwehrt, und so sterben sie in grosser Zahl, ohne sie empfangen zu haben, und haben doch <noch> keinen widerstrebenden Willen. Und manchmal bemühen sich die Eltern und eilen <zur Kirche>, und die Priester sind willens und bereit <zur Taufe>; doch Gott will es nicht; denn kurz bevor <die Gnade> gespendet werden kann, stirbt das Kind, für das man sich beeilt hatte, damit es sie empfange. Augustin glaubt leichtes Spiel zu haben, indem er seinen Gegner mit der Wirklichkeit des alltäglichen Kleinkindersterbens konfrontiert. Allerdings trifft sein Argument den Gegner nur, wenn dieser, wie eben Augustin, in selbstgewählter Starrheit die Überzeugung hochhält, ungetaufte Kinder seien, als ungetaufte, jeder Gnadenmöglichkeit bar und stürzten nun nach dem ersten in den zweiten, den <?page no="200"?> Nachdenken über Sprache 200 ewigen Tod. Pelagius dagegen (grat. Christ. 2,23) traut seinem Gott zu, dass er das Säuglingsproblem auf elastische Weise lösen kann, und hält fast alles offen: «sine baptismo parvuli morientes quo non eant, scio; quo eant, nescio: wohin die Kleinen ohne Taufe bei ihrem Tod nicht gehen, das weiss ich; wohin sie gehen, weiss ich nicht». (Er «weiss», dass sie nicht in den ewigen Tod gehen.) - Wieder Augustin: unde manifestum est eos, qui huic resistunt tam perspicuae veritati, non intellegere omnino, qua locutione sit dictum, quod omnes homines vult deus salvos fieri, cum tam multi salvi non fiant, non quia ipsi, sed quia deus non vult, quod sine ulla caligine manifestatur in parvulis. Daraus erhellt, dass diejenigen, die sich dieser so offensichtlichen Wahrheit widersetzen, überhaupt nicht verstehen, wie das Wort, Gott will, dass alle Menschen gerettet werden, zu verstehen ist, wenn doch so viele nicht selig werden, nicht etwa, weil sie selber, sondern weil Gott nicht will -, was sich ohne jedes Dunkel an den Kleinkindern zeigt. sed sicut illud, quod dictum est: omnes in Christo vivificabuntur, cum tam multi aeterna morte puniantur, ideo dictum est, quia omnes, quicumque vitam aeternam percipiunt, non percipiunt nisi in Christo, ita, quod dictum est: omnes homines vult deus salvos fieri, cum tam multos nolit salvos fieri, ideo dictum est, quia omnes, qui salvi fiunt, nisi ipso volente non fiunt. 1 Kor. 15,22 epist. 217,19 (Fortsetzung) Gerade so, meine ich, wie jenes andere Wort, alle werden in Christus lebendig gemacht werden (obwohl so viele mit ewigem Tod bestraft werden), deswegen gesagt ist, weil alle, die das ewige Leben empfangen, es nur in Christus empfangen, eben so ist das Wort, Gott will, dass alle Menschen selig werden (obschon er von so vielen nicht will, dass sie selig werden), deswegen gesagt, weil alle, die selig werden, es nur werden, weil Gott es will. Gott will, dass alle Menschen selig werden, sei also, pelagianisch-wortwörtlich-natürlich verstanden, schlicht unwahr. Es sei hingegen wahr, wenn das Wort alle vorausnehmend-einschränkend gedeutet werde, nämlich als ‹alle zur Rettung Vorgesehenen›, ‹alle potentiell Seligen› - womit wenig Überraschendes ausgesagt scheint: ‹Alle, von denen Gott will, dass sie selig werden, werden selig.› Was wie eine Banalität tönt, ist eine Kürzestfassung von Augustins gnadenloser Gnadenlehre. Als Stütze seiner Umdeutung der Timotheus-Stelle dient Augustin eine Stelle ähnlichen Inhalts aus dem Ersten Korintherbrief: alle werden in Christus lebendig gemacht werden. Dabei seien mit alle ganz analog einschränkend ‹alle, die das ewige Leben empfangen›, ‹alle potentiell Seligen› gemeint. - Das mag so lange wahr scheinen, als in unzutreffender Weise das Wort Christus den Hauptakzent trägt: alle werden in Christus lebendig gemacht. Vor allem aber ist es nur so lange wahr, als man nicht sehen will, dass das Korinther-Zitat Teil eines grösseren Gebildes ist: <?page no="201"?> W 22 Ein unbotmässiger Bibelvers 201 Denn wie in Adam alle sterben, so auch werden in Christus alle lebendig gemacht werden. Der reine Parallelismus verbietet jede Differenzierung der beiden alle: So wie das erste alle ‹alle ohne Ausnahme› meint, genau so meint das zweite alle ‹alle ohne Ausnahme›. Augustins Beweis trägt nicht. - Nachgiebig und hartnäckig zugleich der Schluss: et, si quo alio modo illa verba apostolica intellegi possunt, ut tamen huic apertissimae veritati, in qua videmus tam multos volentibus hominibus sed deo nolente salvos non fieri, contraria esse non possint. epist. 217,19 (Fortsetzung) Und, falls diese Worte des Apostels sich in irgendeiner andern Weise interpretieren lassen, so darf doch die Interpretation der absolut offenkundigen Wahrheit nicht widersprechen, in deren Licht wir sehen, dass so viele Menschen, obschon sie es wollen, nicht selig werden, weil Gott es nicht will. Ein paar Jahre später, im Kampf gegen den zähen und hochbegabten Pelagianer Julian: II sed ponis apostolicum testimonium et ab eo dicis pulsantibus aperiri, qui omnes homines vult salvos fieri et in agnitionem veritatis venire: ut videlicet intellegamus, docentibus vobis, ideo non omnes salvos fieri et in agnitionem veritatis venire, quia ipsi nolunt petere, cum deus velit dare (…). 1 Tim 2,4 c. Iulian. 4,42 (421-422) Du bringst ein Zeugnis des Apostels vor und behauptest, wer klopfe, dem werde aufgetan, von dem nämlich, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Nach eurer Lehre sollen wir das so verstehen: nur deswegen würden nicht alle selig und kämen nicht zur Erkenntnis der Wahrheit, weil sie selber nicht darum bitten wollen, obwohl Gott doch geben wolle (…). Wieder heisst der Vorwurf, unter alle Menschen verstünden die Pelagianer wahrheitswidrig ‹alle ohne Ausnahme›. Und Augustin folgt der gleichen Argumentations-Linie wie im 217. Brief: Er zieht eine Stelle ähnlichen Inhalts, diesmal aus dem Römerbrief, zur Stützung seiner eigenen These heran: cur ergo non sic accipimus, quod dictum est, qui omnes vult homines salvos fieri et in agnitionem veritatis venire, quomodo et illud accipimus, quod idem dixit apostolus, per unius iustificationem in omnes homines ad iustificationem vitae? Rm 5,18 c. Iulian. 4,42 Warum also fassen wir das Wort, der will, dass alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, nicht so auf wie das andere Wort desselben Apostels: Durch eines Einzigen Rechtfertigung für alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens? <?page no="202"?> Nachdenken über Sprache 202 Darauf basierend schlägt Augustin vor, alle im Sinn von ‹viele› zu verstehen: omnes (…) pro ‹multis› (4,44), keine gute Lösung; denn, fällt etwas mehr Licht auf den zuhilfe geholten Text, folgt eine Ernüchterung: Genau wie im 217. Brief hat Augustin eine zweiteilige vergleichende Periode nicht ganz absichtslos verstümmelt. Der ganze Satz lautet: Wie es durch eines Einzigen Übertretung für alle Menschen zur Verurteilung kam, so auch durch eines Einzigen gerechte Tat für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben gibt. Wie im 217. Brief verbietet sich eine Differenzierung der beiden alle, und da das erste alle ‹alle ohne Ausnahme› meint (denn alle müssen sterben), so tut es auch das zweite. - Das Problem des Widerspruchs von Bibelvers und Gnadenlehre bleibt weiter bestehen. Der Kampf um die Gnadenlehre geht weiter: III Augustin kommt vom Problem der Allmacht Gottes her. Tun wir ihr Abbruch - wie gegnerische Stimmen wollen -, wenn wir - wie Augustin will - denken, Gott mache nicht jeden Menschen selig? Die Frage wird verneint: Gottes Souveränität tritt nur umso deutlicher hervor, wenn er jedesmal nach freiem Ermessen entscheiden kann. cum audimus et in sacris litteris legimus, quod velit omnes homines salvos fieri, quamvis certum sit nobis non omnes homines salvos fieri, non tamen ideo debemus omnipotentis dei voluntati aliquid derogare, sed ita intellegere, quod scriptum est, qui omnes homines vult salvos fieri, tanquam diceretur nullum hominem fieri salvum nisi quem fieri ipse voluerit; non quod nullus sit hominum nisi quem salvum fieri velit, sed quod nullus fiat nisi quem velit; et ideo sit rogandus, ut velit, quia necesse est fieri, si voluerit. (…) sic enim intellegimus et, quod in evangelio scriptum est, qui illuminat omnem hominem venientem <in mundum>, non quia nullus est hominum, qui non illuminetur, sed quia nisi ab ipso nullus illuminatur. vgl. Joh 1,9 enchir. 103 (421-422) Wenn wir hören und in den heiligen Schriften lesen, dass Gott will, dass alle Menschen selig werden - obwohl für uns feststeht, dass nicht alle Menschen selig werden -, müssen wir dem Willen des allmächtigen Gottes deswegen nichts absprechen. Vielmehr müssen wir das Wort Er will, dass alle Menschen selig werden, so verstehen, wie wenn gesagt würde, selig würden nur Menschen, von denen er wolle, dass sie selig werden. Nicht in dem Sinn, dass es keinen unter den Menschen gebe, von dem Gott nicht wollte, dass er selig werde, sondern, dass keiner selig wird, es sei denn, Gott wolle ihn selig; und daher müsse man ihn um sein Wollen bitten; denn, wenn Gott es will, wird einer notwendig selig. (…) So nämlich verstehen wir auch das Wort im Evangelium: Er erleuchtet jeden Menschen, der <in die Welt> kommt -: nicht, dass es unter den Menschen keinen gebe, der nicht erleuchtet würde, sondern, dass keiner erleuchtet wird, es sei denn durch ihn. <?page no="203"?> W 22 Ein unbotmässiger Bibelvers 203 Diese zweimalige, runde Formulierung seines Credo zementiert, was Augustin bisher vertreten hat. Neu ist die Anregung, Gott um sein Wollen zu bitten. - Wieder verwendet Augustin zugunsten seiner Lehre die Technik der Einschränkung; wieder zieht er eine Parallele bei, die keine ist beziehungsweise die optimistische, pelagianische Position stützt; denn der Autor der Botschaft vom wahren Licht, d.h. von Christus, er erleuchtet jeden Menschen, denkt nicht entfernt an ein engherzig abwägendes Eingrenzen des Erleuchtungs-Willens Christi. Als sei Augustin von seiner Lösung doch nicht überzeugt, bietet er - eingeleitet durch «aut certe, oder doch wenigstens» - unverzüglich noch ein halbes Entgegenkommen an. Dabei bringt er das Kunststück fertig, alle sowohl als ‹alle› wie auch als ‹nicht alle› zu verstehen: IV aut certe sic dictum est, qui omnes homines vult salvos fieri, non quod nullus hominum esset, quem salvum fieri nollet (…), sed ut omnes homines omne genus hominum intellegamus per quascumque differentias distributos: Zumindest wahlweise ist das Wort Er will, dass alle Menschen selig werden, auch so gemeint: Nicht, dass es keinen unter den Menschen gebe, den er nicht gerettet sehen wollte (…), sondern so, dass wir unter alle Menschen eine Allheit verstehen sollen, die als Menschengeschlecht sich ganz unterschiedlich gliedert: Der Begriff der Gliederung, den Augustin nun beizieht, muss, gemessen an der Ausführlichkeit der nun folgenden Darstellung von Gegliedertheit, grosses Gewicht haben: reges privatos, nobiles ignobiles, sublimes humiles, doctos indoctos, integri corporis debiles, ingeniosos tardicordes fatuos, divites pauperes mediocres, mares feminas, infantes pueros adulescentes iuvenes seniores senes, in linguis omnibus, in moribus omnibus, in artibus omnibus, in professionibus omnibus, in voluntatum et conscientiarum varietate innumerabili constitutos, et si quid aliud differentiarum est in hominibus. enchir. 103 (Fortsetzung) Könige und Privatleute, Menschen von hoher und von niedriger Abkunft, Hochgestellte und Niedrige, Gebildete und Ungebildete, Gesunde und Gebrechliche, Scharfsinnige, Schwerfällige und Dummköpfe, Reiche, Arme und Mittlere, Männer und Frauen, Säuglinge, schon ältere Kinder, Jugendliche, Vollkräftige, Ältere und Alte - <all diese> angestammt in allen Sprachgruppen, in allen Lebensweisen, allen Fertigkeiten, allen Berufen, in zahllosen Abwandlungen der Willens- und Bewusstseins- Regungen, und wenn es unter Menschen noch weitere Verschiedenheiten gibt. Jetzt ist gleichsam der Teppich ausgerollt für den Auftritt Gottes, der sich nun aus dieser vielgegliederten Menschheit bedient: <?page no="204"?> Nachdenken über Sprache 204 quid est enim eorum, unde non deus per unigenitum suum dominum nostrum per omnes gentes salvos homines fieri velit et ideo faciat, quia omnipotens velle inaniter non potest, quodcumque voluerit? (…) Denn, was lässt sich denken, woraus Gott nicht durch seinen Eingeborenen, unsern Herrn, über alle Völker hin Menschen selig machen will und deshalb macht, weil er in seiner Allmacht gar nicht erfolglos wollen kann, was immer er will? (…) Gott will also nicht etwa ‹alle Völker› selig machen; er tut es vielmehr «über alle Völker hin», aus jeder Gruppe Einzelne erwählend: aus allen, aber nicht alle. V Noch im höchsten Alter hat das Thema Augustin keine Ruhe gelassen. Ausgangspunkt ist die Aussendung der 70 Jünger (Lk 10,5f): Wo ihr in ein Haus eintretet, da sprechet zuerst: Friede diesem Haus! Und wenn dort ein Sohn des Friedens ist, wird euer Friedensgruss auf ihm ruhen; wenn aber nicht, wird er zu euch zurückkehren. ad nos ergo, qui nescimus, quisnam sit filius pacis aut non sit, pertinet nullum exceptum facere nullumque discernere, sed velle omnes salvos fieri, quibus praedicamus hanc pacem. neque enim metuendum est, ne perdamus eam, si ille, cui praedicamus, non est filius pacis ignorantibus nobis; ad nos enim revertetur, id est, nobis proderit ista praedicatio, non et illi; si autem super eum pax praedicata requieverit, et nobis et illi. Da wir nicht wissen, wer ein Sohn des Friedens ist und wer nicht, ist es unsere Aufgabe, keine Ausnahmen zu machen, keine Unterscheidungen zu treffen, vielmehr in uns den Willen zu hegen, dass alle selig werden, denen wir diesen Frieden predigen. Dabei braucht man nicht zu befürchten, dass wir den Frieden verlieren, wenn der, dem wir ihn predigen, kein Sohn des Friedens ist und wir es nicht wissen. Der Friede wird nämlich zu uns zurückkehren, das heisst: solches Predigen wird uns förderlich sein, nicht ihm. Wenn aber über ihm der Friede, den wir predigen, zur Ruhe gekommen ist, wird es uns wie ihm förderlich sein. <?page no="205"?> W 22 Ein unbotmässiger Bibelvers 205 quia ergo nos, qui salvi futuri sint, nescientes, omnes, quibus praedicamus hanc pacem, salvos fieri velle deus iubet, et ipse hoc in nobis operatur diffundendo istam caritatem in cordibus nostris per spiritum sanctum qui datus est nobis, potest etiam sic intelligi, quod omnes homines vult deus salvos fieri, quoniam nos facit velle - sicut misit spiritum filii sui clamantem abba, pater, id est, nos clamare facientem. Gal 4,6 corrept. 46f (426-427) Da also Gott uns, die wir nicht wissen, wer einst selig wird, befiehlt zu wollen, dass alle, denen wir diesen Frieden predigen, einst selig werden, und da er diesen Willen in uns wirkt, indem er die Liebe in unsern Herzen ausgiesst durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist, so kann man das Wort, Gott will, dass alle Menschen selig werden, auch so verstehen: Gott wirkt in uns den Willen <dass alle Menschen selig werden> - so wie es heisst: er hat den Geist seines Sohnes gesandt, der da ruft: Abba, Vater! -, wobei ruft bedeutet: ‹er wirkt in uns das Rufen›. der Geist des Sohnes ruft - das heisse: ‹der Geist des Sohnes wirkt in uns das Rufen›; analog dazu: Gott will - das sei zu deuten als: ‹Gott wirkt in uns den Willen›. Ob diese gleichsam faktitive Denkform (sie begegnet mehrfach im Gesamtwerk) legitim sei oder nicht: entscheidend und revolutionär ist, dass an die Stelle Gottes die menschlichen Verkünder Gottes getreten sind. Ihnen ist befohlen zu wollen, dass alle Menschen selig werden. Der Befehl ist auszuführen unter dem Hinweis auf die Hilfe Gottes. Wollen, dass alle Menschen selig werden: allein dem Menschen offenbar ist solches zuzumuten, dank seiner Ausstattung mit Nichtwissen: Es ist ihm zuzumuten als Illusion, ja im Bewusstsein der Illusion! Nicht Gott darf solches zugemutet werden - und jener Satz im Timotheus-Brief darf nicht bedeuten, was er bedeutet. So ist aus einer zuversichtlichen Aussage zum versöhnlichen Verhältnis Gottes zu den Menschen auf dem Weg über mehrere vergebliche, zwanghafte Umdeutungs-Anläufe beim alten Augustin eine strenge bischöfliche Anweisung zum Verhalten des Klerus gegenüber dem Kirchenvolk geworden. <?page no="207"?> 207 Die Bürde der Körperlichkeit W 23 Tempel oder Gefängnis? Prolog: Ist auch die Seele ein Körper? Auf die Unwahrscheinlichkeit des Zusammenseins von Leib und Seele hat Augustin mehrfach hingewiesen; hier ein spätes Zeugnis: si enim animae tantummodo essemus, id est, sine ullo corpore spiritus, et in caelo habitantes terrena animalia nesciremus nobisque futurum esse diceretur, ut terrenis corporibus animandis quodam vinculo mirabili necteremur, nonne multo fortius argumentaremur id credere recusantes et diceremus naturam non pati, ut res incorporea ligamento corporeo vinciretur? civ. 22,4 (vor 427) Wenn wir rein nur Seelen wären, also Geister ohne jeden Körper, und als Bewohner des Himmels nicht wüssten von irdischen Wesen, und uns gesagt würde, dass wir einst durch ein ganz wunderbares Band mit irdischen Körpern verknüpft werden sollten, sie zu beseelen -: würden wir da nicht recht tapfer Beweise dagegen anführen, den Glauben daran verweigern und sagen, die Natur lasse es nicht zu, dass Unkörperliches durch ein körperliches Band gefesselt werde? «Und doch», fährt Augustin fort, «ist die Welt erfüllt von Seelen, welche je irdische Glieder beleben, die ihnen auf verwunderliche Weise verwoben und verflochten sind.» Und er staunt und lehrt den Leser staunen. - Weiss denn einer, weshalb diese Verflechtung überhaupt möglich ist? Sind die beiden vielleicht nur sprachlich zwei verschiedene «Dinge», der Sache nach aber eines, nämlich Körper? An der Hand Plotins (enn. 4,7) geht Augustin dieser Frage nach: si corpus est omnis substantia vel essentia vel, si quid aptius nuncupatur id, quod aliquo modo est in se ipso, corpus est anima. Versteht man unter ‹Körper› eine jede Substanz oder Wesenheit oder, wie immer man es angemessener bezeichnen mag, was auf irgendeine Weise in sich selbst Bestand hat, dann ist die Seele ein Körper. <?page no="208"?> Die Bürde der Körperlichkeit 208 item, si eam solam incorpoream placet appellare naturam, quae summe incommutabilis et ubique tota est, corpus est anima, quoniam tale aliquid ipsa non est. Ebenso gilt: wenn man unter ‹Seele› das einzige Wesen verstehen will, das vollkommen unveränderlich ist und sich überall als Ganzes vorfindet, auch dann ist die Seele ein Körper; denn so etwas ist sie nicht. porro, si corpus non est nisi, quod per loci spatium aliqua longitudine, latitudine, altitudine ita sistitur vel movetur, ut maiore sui parte maiorem locum occupet et breviore breviorem minusque sit in parte quam in toto, non est corpus anima. epist. 166,4 (415) Weiter, wenn ‹Körper› nur ist, was sich räumlich in Länge, Breite, Höhe so hält oder bewegt, dass es je mit einem grösseren Teil einen grösseren Raum einnimmt und mit einem kleineren einen kleineren, und dass es im Teil geringer ist als im Ganzen, dann ist die Seele kein Körper. Teils allzu weit gefasste, teils stark einschränkende Definitionen von ‹Körper› und ‹Seele› erlauben es Augustin, die Hypothese der Körperlichkeit der Seele ohne Gefährdung seiner eigenen, gegenteiligen Überzeugung zuzulassen. Damit ist er frei für die vorurteilslose Darlegung einer fundamentalen Differenz der Seele zum Körper: per totum quippe corpus, quod animat, non locali diffusione, sed quadam vitali intentione porrigitur; Denn <die Seele> reicht je über die Ganzheit des Körpers hin / in die Ganzheit des Körpers hinein, den sie belebt, und zwar nicht mittels räumlicher Ausbreitung, sondern sozusagen aufgrund einer Leben vermittelnden Spannkraft. nam per omnes eius particulas tota simul adest, nec minor in minoribus et in maioribus maior, sed alicubi intentius, alicubi remissius et in omnibus tota et in singulis tota est. Denn über alle Teile des Körpers hin / in alle Teile des Körpers hinein ist sie als ganze zugleich gegenwärtig, nicht kleiner in kleineren Teilen und in grösseren grösser, sondern <höchstens> da vielleicht drängender, dort gelassener, aber in allen Teilen als ganze wie auch in einzelnen als ganze. neque enim aliter, quod in corpore etiam non toto sentit, tamen tota sentit; Denn was sie empfindet, wenn etwas nicht den ganzen Körper betrifft, empfindet sie nicht anders [= etwa nur mit einem Teil ihrer selbst], sondern als ganze. <?page no="209"?> W 23 Tempel oder Gefängnis? 209 nam cum exiguo puncto in carne viva aliquid tangitur, quamvis locus ille non solum totius corporis non sit, sed vix in corpore videatur, animam tamen totam non latet neque id, quod sentitur, per corporis cuncta discurrit, sed ibi tantum sentitur, ubi fit. Wenn nämlich etwas am lebendigen Fleisch durch einen leisen Stich berührt wird - mag auch diese Stelle nicht nur nicht den ganzen Körper, sondern ihn beinahe gar nicht betreffen -, so nimmt es die Seele dennoch als ganze wahr, und doch wird die Berührung nicht überall am/ im Körper empfunden, sondern nur da, wo sie stattfindet. unde ergo ad totam mox pervenit, quod non in toto fit, nisi, quia et ibi tota est, ubi fit, nec, ut tota ibi sit, cetera deserit? vivunt enim et illa ea praesente, ubi nihil tale factum est. (…) epist. 166,4 (Fortsetzung) Warum denn gelangt, was nicht am/ im ganzen Körper geschieht, sofort zur Seele in ihrer Gesamtheit, wenn nicht deswegen, weil die Seele auch da als ganze anwesend ist, wo <die lokale Berührung> stattfindet, und weil sie, um als ganze da anwesend zu sein, die andern Körperteile gar nicht zu verlassen braucht? Dank ihrer Gegenwart leben ja auch jene Körperstellen, wo nichts Ähnliches vor sich gegangen ist. (…) Damit kann Augustin der Seele ihren spezifischen Platz zuweisen: quapropter, si anima corpus esse dicenda est, non est certe corpus, quale terrenum est nec quale humidum aut aerium aut aetherium. omnia quippe talia maiora sunt in maioribus locis et minora in minoribus, et nihil eorum in aliqua sui parte totum adest, sed, ut sunt partes locorum, ita occupantur partibus corporum. Daraus folgt: Wenn man die Seele als Körper bezeichnen soll, so ist sie gewiss nicht Körper, wie es Erde ist oder Wasser oder Luft oder Äther. Diese <Elemente> sind ja alle grösser in grösseren Räumen und kleiner in kleineren, und keines von ihnen ist in einem Teil seiner selbst als ganzes gegenwärtig; vielmehr nehmen Teile von Körpern je entsprechend Teile von Räumen ein. unde intellegitur anima, sive corpus sive incorporea dicenda sit, propriam quandam habere naturam omnibus his mundanae molis elementis excellentiore substantia creatam. epist. 166,4 Daraus erhellt, dass die Seele, nenne man sie nun einen Körper oder unkörperlich, ein bestimmtes Eigen-Wesen besitzt, das aus einer Substanz geschaffen ist, die alle uns bekannten Elemente der Welt-Masse übertrifft. Dass die Sprache Körper und Seele auseinanderhält, ist nach Augustin also legitim: Während der Körper, als Körper, stets stückweise («da» oder «dort») von einem Vorgang betroffen ist, ist die Seele, «vitalis intentio, lebenvermittelnde Spannkraft oder Ausrichtung auf…», ein stets als Ganzes aktives Empfinden, wunderbarerweise überall gegenwärtig und gleichzeitig in jeder Körperfaser spürbar. Jeder beliebige Impuls kann jede beliebige Region des Körpers betreffen <?page no="210"?> Die Bürde der Körperlichkeit 210 und findet die Empfindungs-Fähigkeit immer schon anwesend, im ganzen Umfang gewährleistet, das Empfinden aktiv. Körper und Seele leben in einer «unaussprechlichen Durchdringung, ineffabilis permixtio» (gen. ad litt. 3,16,25). Volksnah farbig-konkret skizziert Augustin in einer Predigt den gleichen Gedanken. Dabei kommt er zu unserer anfänglichen Überraschung ganz ohne den Mitspieler ‹Seele› aus: si alicui membro corporis molestiarum aliquid accidat, quae membra suum auxilium denegabunt? quid tam extremum videtur in homine quam pes? et in ipso pede quid tam extremum quam planta? et in ipsa planta quid tam extremum quam ipsa cutis, unde terra calcatur? ita tamen hoc extremum universi corporis compage detinetur, ut, si in ipso loco spina calcetur, ad auxilium spinae eruendae omnia membra concurrant: continuo complicantur poplites, curvatur spina (…), sedetur, ut spina eruatur; iam sedere, ut hoc fiat, totius corporis est. quam exiguus locus in molestia est! tantillus locus est, quantum spina pungere potuit, et tamen illius extremi et exigui loci molestia a toto corpore non relinquitur: cetera membra nihil dolent, et in illo uno loco omnia dolent. serm. Denis 19,4 (? ) Wenn einem Körperteil etwas Unliebsames zustösst - welcher andere Teil wird ihm da seine Hilfe versagen? Was dünkt einen am Menschen weiter abliegend als der Fuss? Und was ist am Fuss weiter abliegend als die Sohle? Und was an der Sohle weiter abliegend als die Haut, mit der man auf dem Boden auftritt? Und doch wird dies weitest Abliegende vom Verbund des ganzen Körpers derart gehalten, dass, wenn man damit auf einen Dorn tritt, alle andern Körperteile zu Hilfe eilen, den Dorn auszuziehen: Sogleich knicken die Kniegelenke ein, krümmt sich das Rückgrat (…), setzt man sich, den Dorn auszuziehen. Daran, dass man sich zu dem Zweck setzt, ist vollends der ganze Körper beteiligt. Wie klein ist die Stelle mit Beschwerden! Eine winzige Stelle nur hat der Dorn stechen können, und doch lässt der ganze Körper das Problem jener weitest abliegenden und kleinen Stelle nicht ausser Acht: Alle andern Körperteile schmerzt es überhaupt nicht, und in jenem einen Teil schmerzt es alle. Nirgends ‹Seele›, nirgends ihre Allgegenwärtigkeit und ihre Ganzheitlichkeit? Im Gegenteil: Dem streng eingehaltenen Blick von aussen kann sich Seelisches eben nur indirekt zeigen: als körperliche Bewegung. Der ganze Körper beteiligt sich; alle Körperteile eilen zu Hilfe und bestätigen so die Allgegenwart der sie antreibenden Seele. Augustins Lieblings-Beweis für die These ununterbrochener Gegenwart der ganzen Seele ist kurz, eigentlich eine sprachpsychologische Beobachtung: qui te in turba calcat, pedem tuum premit; linguae autem nihil facit. quid sibi ergo vult, quod lingua clamat: «calcas me! »? serm. 361,14. (410-411; ähnlich: in psalm. 30,2,1,3. 140,3. serm. 137,2 u.a.) Wer dir im Gedränge auf den Fuss tritt, verletzt deinen Fuss; der Zunge tut er nichts. Warum also schreit dann die Zunge: «Du trittst mich! »? <?page no="211"?> W 23 Tempel oder Gefängnis? 211 Wir reagieren nicht mit: «Du tust dem Fuss weh! », sondern mit dem Ausruf: «Du tust mir weh! » - ‹mir›: Wir sind spontan mit der ganzen Seele beim schmerzenden Teil-Geschehen. - Ist auch die Seele ein Körper? - Augustin bleibt beim Nein. Wert und Unwert des Körpers In Augustins Äusserungen zum Problemkreis ‹Körper und Seele› deutet sich eine Entwicklungslinie im Sinn eines «Wert-Zuwachses» für den Körper an. Wir ordnen die folgenden Texte nach ihrer mutmasslichen Entstehungszeit. quis, inquam, dubitaverit nihil esse aliud hominis optimum quam eam partem animi, cui dominanti obtemperare convenit cetera, quaeque in homine sunt? haec autem (…) mens aut ratio dici potest. c. acad. 1,5 (386-387) Wer, sage ich, könnte daran zweifeln, dass nichts anderes am Menschen das Beste ist als der Teil der Seele, dessen Oberherrschaft alles andere, was immer im/ am Menschen ist, zu gehorchen gebührt? Dies aber kann man (…) als Verstand oder Vernunft bezeichnen. Die Freundes-Runde um Augustin erklärt mit jugendlicher Ausschliesslichkeit diejenige Kraft der Seele, die nach herkömmlich antiker Auffassung am ehesten wahrheitsfähig ist, zur Herrscherin über alles andere. Zu den Dienern dieser Herrscherin zählt selbstverständlich auch der Körper. - Der Kreis diskutiert weiter: Genügt es zum Erreichen des Glücks, nach Wahrheit unermüdlich zu suchen, oder ist vollkommene Wahrheits-Erkenntnis der einzige Zugang? qui ad finem (…) non pervenit, fateor, quod perfectus non sit. veritatem autem illam solum deum nosse arbitror, aut forte hominis animam, cum hoc corpus, hoc est, tenebrosum carcerem, dereliquerit. hominis autem finis est perfecte quaerere veritatem. c. acad. 1,9 Wer (…) das Ziel <der vollen Erkenntnis> nicht erreicht hat, ist zugegebenermassen nicht vollkommen. Doch glaube ich, dass allein Gott jene Wahrheit kennt - oder vielleicht die Seele des Menschen, wenn sie den irdischen Körper, dieses finstere G e f ä n g n i s , verlassen hat. Es bleibt aber des Menschen Ziel, die Wahrheit in vollkommener Weise zu suchen. «tenebrosum carcerem, das finstere Gefängnis» unserer Seele, eine alt ererbte Prägung, wenn es gilt, den Wert des Körpers in Frage zu stellen. - Der Hochwertung des Rationalen antwortet eine Tiefwertung des Leiblichen. Etwa zehn Jahre danach: In einem Hymnus auf die Vorzüglichkeit der Schöpfung schweift Augustins Blick über alle Lebewesen, darunter die allergeringsten: <?page no="212"?> Die Bürde der Körperlichkeit 212 verumtamen adtendite et date mihi unum quamlibet abiectissimum animal, cuius anima oderit carnem suam, ac non potius nutriat et foveat eam motuque vitali vegetet et regat et quodam modo administret pro sui generis exiguitate quoddam universum suum ad incolumitatem tuendam sibi conciliatum. vgl. Eph 5,29 c. Faust. 21,5 (397-398) Betrachtet sie also und zeigt mir nur ein einziges Lebewesen, und sei es noch so unbedeutend und belanglos, dessen Seele seinen Leib hasst und ihn nicht vielmehr nährt und hegt und ihn mit lebensvoller Bewegung im Dasein erhält und ihn lenkt und ihn, entsprechend der Kleinheit seiner Art, in gewisser Weise als ihre eigene Welt verwaltet, da ihr ja zugemessen ist, dessen Unversehrtheit zu bewahren. Unausgesprochener Zwischengedanke: <Und es ist nicht unmöglich, von diesen Lebewesen aus eine Brücke zum Menschen zu schlagen: > quod enim rationalis anima castigat corpus suum et servituti subicit, ne inmoderato adpetitu terreno inpediatur perceptio sapientiae, etiam sic utique diligit carnem suam, quam sibi ad oboediendum legitime subdit atque ordinat. c. Faust. 21,5 (Fortsetzung) Denn wenn unsere Seele, die mit Vernunft beschenkt ist, den ihr zugehörigen Leib zügelt und zum Dienst unterordnet, damit er nicht in unmässigem Verlangen nach dem Irdischen trachtet und so ein Auffangen der Weisheit behindert, so liebt sie doch eben dadurch ihr Fleisch und unterwirft es sich mit Recht zum Gehorsam und weist ihm so den richtigen Platz zu. Augustin wagt eine Anwendung des Pauluswortes Niemand hat je sein eigen Fleisch gehasst auf die Tierwelt; er zitiert es bis zum Satzende: sondern er nährt und hegt es. Bei Tieren ist Nähren und Hegen das eigentliche Daseins-Ziel. Des Menschen liebende(! ) Zuwendung zum Körper ist nicht etwa inexistent, sie ist nur komplizierter, da sie höher greift: Es ist eine strenge Liebe: sie soll erziehen, formen, aus dem Körper ein Gefäss bilden, fähig zum Auffangen von Weisheit. - Halten wir noch fest, dass Augustin bezüglich des Paulus-Worts auf den Menschen bezogen nicht von Nicht-Hassen, sondern von Lieben spricht: die Seele «diligit carnem suam, liebt ihr Fleisch». Wieder um ungefähr ein Jahrzehnt später: aus einer «Kapuziner-Predigt»: <adulter> non dicat in corde suo, peccata carnis non curat deus. nescitis, inquit apostolus, quia templum dei estis et spiritus dei habitat in vobis? quisquis templum dei violaverit, disperdet illum deus. nemo se fallat. <Wer die Ehe bricht,> sage nicht in seinem Herzen: ‹Gott kümmert sich nicht um Sünden des Fleisches.› Wisst ihr nicht, sagt der Apostel, dass ihr ein Tempel Gottes seid, und dass in euch der Geist Gottes wohnt? Jeden, der den Tempel Gottes verletzt hat, wird Gott verderben. Niemand lasse sich täuschen. <?page no="213"?> W 23 Tempel oder Gefängnis? 213 sed forte ait aliquis, templum dei animus meus est, non corpus meum. adiecit etiam testimonium; omnis caro fenum, et omnis claritas carnis ut flos feni. infelix interpretatio! punienda cogitatio! (…) Doch vielleicht sagt einer: ‹Gottes Tempel, das ist mein Geist, nicht mein Körper›. Er hat vielleicht auch einen Beleg dafür: Alles Fleisch ist Gras und alle fleischliche Herrlichkeit wie die Blume des Grases. Unheilvolle Auslegung! Strafwürdiges Denken! (…) vis nosse apertam etiam inde sententiam? nescitis, inquit idem apostolus, quia corpora vestra templum in vobis est spiritus sancti, quem habetis a deo? contemnebas corporale peccatum; contemnis, quod peccas in templum? ipsum corpus tuum templum in te est spiritus dei. iam vide, quid facias de templo dei. Willst du einen deutlichen Bescheid? Wisst ihr nicht, sagt der gleiche Apostel, dass euer K ö r p e r ein T e m p e l des heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt? Du hast körperliche Sünde gering geachtet; achtest du auch gering, dass du dich gegen einen Tempel versündigst? Dein Körper ist ein Tempel von Gottes Geist in dir. Nun sieh zu, was du mit dem Tempel Gottes machst. si eligeres in ecclesia facere adulterium intra istos parietes, quid te esset sceleratius? modo autem tu ipse es templum dei. templum intras, templum exis, templum in domo tua manes, templum surgis. vide, quid agas, vide, ne offendas templi habitatorem, ne deserat te, et in ruinam vertaris. 1 Kor 3,16f. 1 Pt 1,24; 1 Kor 6,19f serm. 82,13 (408-409) Wenn du dich entschiedest, in der Kirche Ehebruch zu begehen, innerhalb dieser Mauern, was könnte frevelhafter sein als du? Nun aber bist du selbst ein Tempel Gottes. Du bist Tempel, trittst du ein; du bist Tempel, trittst du heraus; Tempel, ruhst du im Haus; Tempel, stehst du auf. Sieh zu, was du treibst; sieh zu, dass du den Tempelbewohner nicht kränkest, dass er dich nicht aufgibt und du zerschmettert werdest. In den Achtzigerjahren, nach seiner Abkehr vom weltlichen Leben, lag es Augustin nahe, dem Körper, von dessen Forderungen er sich eben losgemacht hatte, zu misstrauen, ihn als Gut zurückzuweisen; war er doch nur Hindernis auf dem Pfad der Seele zu Gott. Mit zunehmender Reife und Bibel-Vertrautheit mildert sich diese Position. So geht Augustin den Weg von dem (als Selbstverständlichkeit vertretenen) Bild des Körpers als Gefängnis der Seele zu dem (mit Nachdruck vertretenen) Bild des Körpers als Wohnstatt Gottes. <?page no="214"?> Die Bürde der Körperlichkeit 214 Epilog: Der Körper jenseits des Todes resurget igitur corpus secundum christianam fidem, quae fallere non potest. Der Körper wird also auferstehen, gemäss dem christlichen Glauben, der nicht in die Irre führen kann. quod cui videtur incredibile, qualis nunc sit caro, adtendit; qualis autem futura sit, non considerat. quia illo tempore inmutationis angelicae non iam caro erit et sanguis, sed tantum corpus. (…) Wem dies aber unglaubhaft erscheint, der schaut nur darauf, wie das Fleisch heute beschaffen ist; wie es jedoch einst sein wird, bedenkt er nicht. Denn zu jener Zeit der Verwandlung in engelartige Wesen wird es nicht mehr Fleisch und Blut geben, sondern allein Körper. (…) omnis enim caro etiam corpus est; non autem omne corpus etiam caro est. (…) in caelestibus vero nulla caro, sed corpora simplicia et lucida, quae appellat apostolus spiritalia; nonnulli autem vocant aetherea. (… ) vgl. 1 Kor 15,44 fid. et symb. 24 (393) Alles Fleisch nämlich ist auch Körper; doch nicht jeder Körper ist auch Fleisch. (…) Im Himmel aber wird kein Fleisch sein; vielmehr werden es einfache, strahlende Körper sein. Der Apostel nennt sie geistige Körper; gewisse sagen ätherische. (…) Es leuchtet ein, dass der Körper nur als veredelte Substanz auferstehen wird. - Diese frühe, körperskeptische Position sucht Augustin durch chemisch-physikalische Überlegungen zu stützen: in qualem naturam quisquis hanc carnem converti posse non credit, gradibus ducendus est ad fidem: Wer nicht glaubt, dass unser Körper in eine derartige Beschaffenheit verwandelt werden kann, muss schrittweise zum Glauben geführt werden: si enim ab eo quaeras, utrum terra in aquam possit converti, propter vicinitatem non ei videtur incredibile. rursus si quaeras, utrum aqua possit in aerem, neque hoc absurdum esse respondet; vicina enim sunt sibi. et de aere si quaeras, utrum in aethereum corpus, id est, in caeleste possit mutari, iam ipsa vicinitas persuadet. fid. et symb. 24 Wenn man ihn fragt, ob Erde sich in Wasser verändern kann, erscheint ihm dies wegen der Verwandtschaft der beiden ja nicht unglaubhaft. Und wenn man ihn fragt, ob Wasser sich in Luft wandeln könne, antwortet er, dies sei nicht abwegig; sind einander doch beide verwandt. Und fragt man, ob Luft sich in aetherischen, das heisst, in himmlischen Stoff wandeln könne, überzeugt ihn endlich auch diese Verwandtschaft. <?page no="215"?> W 23 Tempel oder Gefängnis? 215 Und damit hat man den Ungläubigen eingefangen: quod ergo per hos gradus fieri posse concedit, ut terra in corpus aethereum convertatur, cur non accedente dei voluntate, qua corpus humanum super aquas potuit ambulare, celerrime id fieri posse, quemadmodum dictum est, in ictu oculi, sine ullis talibus gradibus credit - sicut plerumque fumus in flammam mira celeritate convertitur? 1 Kor 15,52 fid. et symb. 24 (Fortsetzung) Wenn nun einer zugibt, auf dem Weg über diese Stufen sei es möglich, dass Erde sich in ätherischen Stoff wandle, warum sollte der, wenn Gottes Wille hinzukommt, kraft dessen ein menschlicher Körper auf den Wassern wandeln konnte, nicht glauben, diese Veränderung könne blitzschnell und ohne solche Schritte vonstatten gehen, wie es heisst: in einem Augenblick - so wie Rauch sich oft in wunderbarer Schnelligkeit in Feuer verwandelt? Dass der «geistige Körper, corpus spiritale» nicht ein anderer, neuer Körper sein werde, sondern der «zum Besseren» veränderte eigene, legt Augustin mit einem überaus feinen Argument nahe: vestimenta Christi in monte non sunt posita et alia sumpta, sed ipsa, quae fuerant, in melius clarificata sunt. Mt 17,2; Mk 9,3 c. Faust. 11,3 (397-398) Auf dem Berg wurden Christi Kleider nicht etwa abgelegt und andere angezogen; vielmehr wurden eben die, die er trug, zum Besseren verklärt. Diese Lehre vom verklärten Körper korrigiert Augustin 30 Jahre später, anlässlich der Revision seiner Werke, zugunsten einer radikalen, letztmöglichen Aufwertung des irdischen Körpers - wiederum im Blick auf Christus: in hoc libro, cum de resurrectione carnis ageretur, «resurget», inquam, «corpus secundum christianam fidem (…): non iam caro erit et sanguis, sed tantum corpus» et cetera, (…). In jenem Buch sage ich in Zusammenhang mit der Auferstehung des Körpers: «Der Körper wird gemäss christlichem Glauben auferstehen (…): Es wird nicht mehr Fleisch geben noch Blut, sondern allein Körper», und so weiter (…). quisquis ea sic accipit, ut existimet ita corpus terrenum, quale nunc habemus, in corpus caeleste resurrectione mutari, ut nec membra ista nec carnis sit futura substantia, procul dubio corrigendus est, Wer dies so auffasst, dass er denkt, der irdische Körper, wie wir ihn jetzt haben, werde in der Auferstehung so in einen himmlischen Körper verwandelt, dass weder unsere Glieder noch der fleischliche Stoff erhalten bleiben, der muss sich zweifellos korrigieren lassen, <?page no="216"?> Die Bürde der Körperlichkeit 216 commonitus de corpore domini, qui post resurrectionem in eisdem membris non solum conspiciendus oculis, verum etiam manibus tangendus apparuit carnemque se habere etiam sermone firmavit dicens: palpate et videte; quia spiritus ossa et carnem non habet, sicut me videtis habere. vgl. fid. et symb. 24; Lk 24,39 retract. 1,17 (426-427) im Gedanken an den Körper des Herrn, der nach seiner Auferstehung <den Jüngern> in den gleichen Gliedern erschien und nicht nur mit den Augen erblickt, sondern sogar mit den Händen berührt werden konnte, und der den Besitz seines irdischen Körpers noch mit eigenen Worten bekräftigte: Rühret mich an und sehet; denn ein Geist hat nicht Bein und Fleisch, wie ihr seht, dass ich es habe. Im Verlauf von Augustins Schaffensjahrzehnten erfährt der lebende Körper, wie erinnerlich, einen deutlichen «Wertzuwachs». In ähnlichem Sinn verschiebt sich Augustins Einschätzung des Körpers nach dem Leben: Der irdische, nicht veredelte Körper ist «paradiesfähig» geworden. > Burt 49ff; Hölscher; O’Daly 21ff <?page no="217"?> W 24 Sexualität 217 W 24 Sexualität Die folgenden Zeugnisse dürften manchen Leser überraschen, verwirren oder erschrecken; denn das tradierte Bild von Augustin, jenem grossen Heiligen des christlichen Glaubens, scheint Züge von Beschränktheit oder Kleinheit nicht zuzulassen. Sexualkritische Positionen sind in jeder Epoche zu finden; zu Augustins Zeit sind sie aber auffällig stark und werden hart vertreten. So herrscht eine eigentliche Begeisterung für geschlechtliche Enthaltsamkeit. Damit wird das stärkste, von der Natur vorgegebene Band zwischen Mann und Frau zerrissen. Verzerrungen im Bild des Menschen sind die Folge: Insofern die Frau herkömmlich als Gebärerin aufgefasst wird, ist sie die Verliererin. Es lässt sich zum Beispiel (zeitweise von Hieronymus) die Ansicht vertreten, die Frau werde nicht als Frau, sondern in männlicher Gestalt auferstehen. Augustin selber geht zwar nicht so weit; doch kann auch er aus dem schweren Schlagschatten der Askese-Verherrlichung nicht heraustreten. Dass dies auch dieser rahmensprengenden Gestalt nicht möglich war, wird den Augustin-Leser immer mit einem Bedauern erfüllen. * Gott spricht im Paradies zu Adam: Nur von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen darfst du nicht essen, denn, sobald du davon issest, musst du s t e r b e n (Gen 2,17). - Auf dieses Wort Gottes, das keinen Zweifel zu erlauben scheint, weiss jemand ein Gegenwort: Die Schlange hat Gott richtig verstanden, denn sie ist «klug» (Mt 10,16; trin. 12,20), und widerspricht ihm, wie es scheint, diametral: M i t n i c h t e n werdet ihr s t e r b e n (Gen 3,4). Und beide Sprecher haben Recht: Gott, da er mit ‹Sterben› nur vordergründig auf den physischen Tod, eigentlich aber auf den Verlust zeitlosen Seins hindeutet (nach dem Sündenfall wird er den Menschen den Zugang zum Baum des <ewigen! > Lebens sperren: Gen 3,24). Und die Schlange hat Recht, da sie mit ‹Nicht- Sterben› auf den Gewinn zeitlichen Daseins, zeitlichen Dauerns hinweist. Eva und Adam essen von der verbotenen Frucht (Gen 3,6). Damit durchschreiten sie den Augenblick des Wandels vom zeitlosen Sein zum zeitlichen Dauern. Da gingen den beiden die Augen auf, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze (Gen 3,7). Das Bewusstsein von Sexualität tritt also im Moment des Verlustes integralen, zeitüberhobenen Seins, im Moment des Gewinns zeitlichen Daseins ein, im Moment des Wandels vom Sein zum Dauern. Treffsicher spiegelt der Mythos damit eine Grundbedingung unseres Daseins: Sexualität und Zeitlichkeit bilden <?page no="218"?> Die Bürde der Körperlichkeit 218 ein Zwillings-Phänomen: zeitliches Dasein ist sexuelles Dasein, ist Dauern in Form der Generationen-Abfolge. (Warum also Sexualität nicht als Geschenk einer Gottheit betrachten, die der Menschheit den sofortigen Untergang ersparen wollte? ) Die Strafe Augustin verbindet das Motiv der Sexualität nun aber nicht mit Zeitlichkeit, sondern unermüdlich und immer wieder mit dem Motiv der Übertretung von Gottes Gebot. - Oft tönen Ausführungen über Sexualität wie Verfluchungen: ita concupiscentia carnis, adversus quam bonus concupiscit spiritus, et peccatum est, quia inest illi inoboedientia contra dominatum mentis, et poena peccati est, quia reddita est meritis inoboedientis, et causa peccati est, defectione consentientis vel contagione nascentis. c. Iulian. 5,3,8 (421-422) So ist die Begierde unseres Fleisches (welcher der gesunde Geist entgegenwirkt) erstens <stets gegenwärtige> Sünde; denn in ihr wohnt der Ungehorsam <des Fleisches> gegen die Herrschaft des Geistes; - zweitens Strafe für die <alte, erste> Sünde; denn sie wurde den Verdiensten des Ungehorsamen zum Entgelt erstattet; - drittens Ursache von <neuer> Sünde; denn sie schwächt den, der ihr Zugeständnisse macht, und den, der geboren wird, steckt sie an. illa est poena peccati, illa plaga vestigiumque peccati, illa inlecebra fomesque peccati, illa lex in membris repugnans legi mentis, illa ex nobis ipsis adversus nos ipsos inoboedientia iustissimo reciprocatu inoboedientibus reddita. vgl. Rm 7,23 nupt. et concup. 2,9,22 (419-421) Sie ist die Strafe für unser Vergehen, sie die Wunde und das bleibende Zeichen des Vergehens, sie Anreiz und Zündstoff zur Sünde, sie das Gesetz in den Gliedern, das dem Gesetz des Geistes zuwiderläuft; sie ist der aus uns selber stammende und gegen uns selber ausschlagende Ungehorsam, der uns in vollkommen gerechtem Tausch dafür vergolten worden ist, dass wir ungehorsam waren. Augustin baut also ein gedankliches «Parallelogramm» auf: Dem problematischen Verhältnis des Menschengeists zu Gott entspricht ein problematisches Verhältnis des Menschenkörpers zum Menschengeist. Beidemal - so wird sehr wirksam suggeriert - verfehlt sich der Tieferstehende in Ungehorsam gegen den Höherstehenden: der Menschengeist gegen Gott, dann der Menschenkörper gegen den Menschengeist, wobei die Zweitverfehlung der «Lohn» für die Erstverfehlung sei. <?page no="219"?> W 24 Sexualität 219 in illius peccati poena quid inoboedientiae nisi inoboedientia retributa est? civ. 14,15 (vor 420) Was denn ist bei der Strafe für jenes Vergehen dem Ungehorsam vergolten worden wenn nicht Ungehorsam? freier: Welches war denn die Strafe für jenen Ungehorsam? Ein neuer Ungehorsam! Das Motiv-Parallelogramm, Augustins Erfindung, ist zwar bestechend elegant; sein Rhetoriker-Herz mag davon begeistert gewesen sein. Doch was sich Adam und Eva beim Sündenfall einhandeln, ist nicht die Sexualität; es ist, wie oben angedeutet, die Zeitlichkeit, das Sterbenmüssen. Die Paulinische Botschaft heisst denn auch nicht ‹per peccatum concupiscentia carnis, durch die Sünde die Begierde des Fleisches›, sie heisst vielmehr per peccatum mors, durch die Sünde der Tod (was Augustin vieldutzendmal zitiert): per unum, inquit, hominem peccatum intravit in mundum, et per peccatum mors. Rm 5,12 zB: pecc. mer. 1,10 (411-412) Durch e i n e n Menschen, sagt er, ist die Sünde in die Welt gekommen, und durch die Sünde der Tod. Da Augustin die Sexualität aber förmlich am Sündenfall ankettet, muss er bis zu seinem Lebensende die These vertreten und zu «beweisen» versuchen, Sexualität sei Strafe. Damit hat er sich selbst und, da sich endlich seine Position durchsetzte, der christlichen Nachwelt eine furchtbare Last aufgeladen. quid hac poena iustius, quam ut non ad omnem nutum serviat corpus, id est suus famulus, animae - sicut domino suo detrectavit ipsa servire? gen. ad litt. 9,11,19 (401-414) Gibt es Gerechteres als diese Strafe: dass der Körper nicht jedem Wink des Geistes als dessen ergebener Diener willfahrt - so wie der Geist seinerseits sich geweigert hat, seinem H ERRN zu dienen? Der Angeklagte Worin besteht der immer und immer wieder beklagte und als Strafe verstandene Ungehorsam des Körpers? an non etiam nunc in corpore mortis huius imperatur pedi, brachio, digito, labro, linguae, et ad nutum nostrum continuo porriguntur? Besitzen wir nicht sogar jetzt, da wir einen Leib irdischer Hinfälligkeit tragen, die Macht, dem Fuss oder dem Arm, dem Finger, den Lippen oder der Zunge einen Befehl zu erteilen, und tun diese auf unsern Wink hin nicht ohne Zögern ihren Dienst? <?page no="220"?> Die Bürde der Körperlichkeit 220 humori denique, quod est mirabilius, in vesica intus posito, †qui† et quando eius copia non urgemur, imperatur, ut profluat, et obtemperat! immo ipsis abditis visceribus et nervis, quibus idem humor continetur, imperatur, ut eum propellant, exprimant, eiciant, et, si sanitas adest, sine difficultate serviunt voluntati. Und, noch erstaunlicher, der Flüssigkeit, die sich innen in der Blase befindet, kann man, selbst wenn man keinen Drang verspürt, befehlen, dass sie herausfliesse, und sie gehorcht! Tatsächlich ist es möglich, sogar diesem abliegenden Organ und seinen Muskeln, die die Flüssigkeit halten, zu befehlen, sie weiterzutreiben, auszupressen, auszuwerfen, und, wenn wir gesund sind, tun diese Körperteile ohne Widerstand unseren Willen. quanto ergo facilius atque tranquillius oboedientibus genitalibus corporis partibus et ipsum membrum porrigeretur et homo seminaretur! nupt. et concup. 2,31,53 (419-421) Um wieviel leichter und friedlicher könnte daher, wenn auch die Geschlechtsteile gehorsam wären, dem weiblichen Teil das männliche Glied dargereicht und so der Mensch gesät werden! Der Bösewicht unter den Körperteilen wird recht eigentlich eingekreist und als andersartig, ja abartig erfunden. Der Penis lässt sich nicht willentlich gesteuert «darreichen», lässt sich nicht befehlen; er durchkreuzt rationales Verhalten und folgt unbotmässig eigenen Gesetzen. - Im Paradies damals wie auch später im Himmel ist seine Rolle undenkbar: si fuit illic ista carnis concupiscentia, non utique talis fuit, qualem nunc eam molestissimam et odiosissimam sentiunt, qui contra eam sive coniugali sive viduali sive virginali castitate confligunt. ingerit enim se, ubi non est necessaria, et importunis vel etiam nefariis desideriis et ipsa fidelium atque sanctorum corda sollicitat; quibus eius motibus inquietis etiamsi nullo nutu consensionis adquiescimus, sed potius repugnamus, tamen desiderio sanctiore omnino, si fieri posset, in nobis eos esse nollemus - sicut aliquando non erunt. epist. Divj. 6,7,2f (420-421) Wenn es dort schon fleischliches Begehren gab, war es jedenfalls nicht von der Art, wie diejenigen, welche mit Enthaltsamkeit dagegen ankämpfen - in der Ehe oder als Verwitwete oder in Ehelosigkeit -, es heute erfahren, nämlich als höchst peinlich und äusserst widerwärtig. Denn es drängt sich vor, wo es durchaus nichts zu suchen hat, und reizt mit unverschämten oder gar frevelhaften Wünschen sogar die Herzen der Gläubigen und selbst der Heiligen auf. Zwar geben wir mit keiner Geste seinen stets wachen Impulsen nach, sondern streiten vielmehr dagegen. Dennoch möchten wir - ein besonders heisser Wunsch -, dass, wenn es möglich wäre, diese Regungen in uns überhaupt nicht existierten - so wie sie einst nicht mehr existieren werden. <?page no="221"?> W 24 Sexualität 221 Sexuelle Erregung wird als rein tierischer Natur eingestuft (die Wortverbindung bestialis motus kehrt mehrfach wieder): tunc ille extitit bestialis motus pudendus hominibus, quem in sua erubuit nuditate. pecc. mer. 1,16,21 (411-412) Damals entstand, Anlass zu Scham für die Menschen, jene tierische Bewegung, über die <Adam> in seiner Nacktheit errötete. Nicht die Nacktheit an sich liess Adam erröten; es war ein ihm ungewohntes Phänomen: quid est autem nuditas nuntiata, cui procul dubio ignota non erat - nisi eo motu stimulante, ut inusitato aspectu se urgeret adverti pudoremque incuteret? c. Iulian. op. imperf. 5,16 (429-430) Was aber bedeutet Nacktheit, von der hier berichtet wird, einem Wesen, dem sie ohne Zweifel wohlbekannt war - ausser in jener stachelnden Bewegung, die mit ihrem ungewohnten Anblick ihn zum Hinsehen drängte und ihm Scham einjagte? Warum aber bekleidete sich daraufhin mit den Blättern vom Feigenbaum nicht nur Adam, sondern auch Eva? non utique femina motum visibilem texit, sed, cum in eisdem membris tale aliquid sentiret occultius, quale vir senserat, ambo texerunt, quod alterutrum videndo in alterutrum commoti ambo senserunt. c. Iulian. 4,13,62 (421-422) Zwar deckte Eva gewiss nicht eine Bewegung zu, die sichtbar gewesen wäre. Da sie aber in ihrem Glied ebenfalls eine Regung, eher verborgener, aber ähnlicher Art verspürte wie Adam, bedeckten beide, was sie im Blick auf einander beide in Erregung spürten. Eine Kritik und deren Widerruf War es nicht vielmehr die prekäre Schönheit der Geschlechtsteile, die zur Suche nach einer Bekleidung führte? absit autem, ut sit in membris sanctorum etiam genitalibus aliqua turpitudo! dicuntur quidem inhonesta, quia non habent eam speciem decoris quam membra, quae in promptu locata sunt. (…) temperantiae legibus non subiectus membrorum illorum usus est turpis, non ipsa membra. c. Faust. 29,4 (397-398) Fern sei der Gedanke, an den Zeugungsgliedern der Heiligen hafte etwas Unsittlich- Schmähliches! Man nennt sie freilich unanständig, weil sie nicht die selbe Schönheit und Anmut besitzen wie die Gliedmassen, die wir offen tragen. (…) Nicht jene Glieder selber sind unsittlich, sondern, von ihnen nicht entsprechend den Regeln der Mässigung Gebrauch zu machen. <?page no="222"?> Die Bürde der Körperlichkeit 222 Selbstverständlich sind die Glieder selber mit keinem moralischen Mangel behaftet; sie verunehren deren Träger nicht. Einen ästhetischen Mangel dagegen muss Augustin ihnen zusprechen: Wären sie schöner, hiesse man sie nicht unanständig. - Jahrzehnte später korrigiert sich Augustin. Längst muss er erkannt haben, dass jene frühe Stellungnahme mehr seinem persönlichen Widerwillen als der ruhigen Überlegung des Theologen entsprungen war; sind doch gewiss auch die Zeugungsglieder Schöpfungen Gottes: in undetricensimo «absit», inquam, «ut sit in membris sanctorum etiam genitalibus aliqua turpitudo. dicuntur quidem inhonesta, quia non habent eam speciem decoris, quam membra, quae in promptu locata sunt.» sed probabilior in aliis postea scriptis nostris reddita ratio est, cur ea dixerit etiam apostolus inhonesta, propter legem scilicet in membris repugnantem legi mentis - quae de peccato accidit, non de prima nostrae institutione naturae. vgl. Rm 7,23 retract. 2,7,5 (426-427) Im 29. Buch <gegen Faustus> sage ich: «Fern sei der Gedanke, an den Zeugungsgliedern der Heiligen hafte etwas Unsittlich- Schmähliches! Man nennt sie freilich unanständig, weil sie nicht die selbe Schönheit und Anmut besitzen wie die Gliedmassen, die wir offen tragen.» Mehr Beifall aber verdient die Erwägung, die in andern, späteren Schriften meiner Hand niedergelegt ist zur Frage, warum auch der Apostel <Paulus> die Zeugungsglieder unanständig genannt hat: weil dem Gesetz des Geistes das Gesetz in den Gliedern widerstreitet - welches uns vom Sündenfall her zugekommen ist, nicht etwa seit Anfang, von der Erschaffung unseres Wesens. Schon im Werk gegen Iulian (421-422) hatte Augustin mehr als einmal darauf hingewiesen, dass auch die Genitalien, als Schöpfungen Gottes, gut seien und ihre Peinlichkeit erst dem Menschen verdankten. Die kürzeste Formel dieses Gedankens liegt noch früher: deus illis ‹membra›, ipsi vero ‹pudenda› fecerunt. pecc. mer. 2,22,36 (411-412) Gott hat den Menschen <Zeugungs>glieder, die Menschen <sich selbst> aber Schamglieder gemacht. Augustin, der zutiefst Erfahrene Augustin hat ausführlich erzählt, wie sehr er in jungen Jahren an seiner Konkubine gehangen hatte. In diesem Zusammenhang fällt (conf. 6,15,25) das Wort «libidinis servus eram, ich war ein Sklave der Wollust». Der früh (conf. 9,6,14) verstorbene Adeodatus war die Frucht aus jener Verbindung, einem (conf. 4,2,2) «pactum libidinosi amoris, ubi proles etiam contra votum nascitur, einer Abma- <?page no="223"?> W 24 Sexualität 223 chung auf zügellose Liebe, wo Kinder auch wider Willen geboren werden» (einer Beziehung, deren Auflösung Augustins Mutter aus Standes-Überlegungen forderte und unnachgiebig durchsetzte). Es erstaunt daher kaum, dass aus Augustins Werken mit Leichtigkeit ganz eigentlich phänomenologische Texte zum Thema zu gewinnen sind: cum igitur sint multarum libidines rerum, tamen, cum libido dicitur neque, cuius rei libido sit, additur, non fere adsolet animo occurrere nisi illa, qua obscenae partes corporis excitantur. Obwohl es Begierden nach vielen Dingen gibt, kommt einem gewöhnlich, wenn von Begierde ohne Nennung von deren Ziel gesprochen wird, nur jene in den Sinn, welche die anstössigen Körperteile in Erregung versetzt. haec autem sibi non solum totum corpus nec solum extrinsecus, verum etiam intrinsecus vindicat totumque commovet hominem animi simul affectu cum carnis appetitu coniuncto atque permixto, ut ea voluptas sequatur, qua maior in corporis voluptatibus nulla est, ita, ut momento ipso temporis, quo ad eius pervenitur extremum, paene omnis acies et quasi vigilia cogitationis obruatur. Diese nun unterwirft sich nicht nur den ganzen Körper und nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich, und rührt den ganzen Menschen auf, weil sie dem triebhaften Begehren des Körpers noch ein Verlangen der Seele vereint und vermischt, sodass jene Wollust entsteht, mit der sich keine andere Wonne des Körpers vergleichen lässt, derart, dass im Augenblick, wo sie zu ihrem Höhepunkt gelangt, fast jede Klarheit und Wachheit des Denkens zugeschüttet wird. quis autem amicus sapientiae sanctorumque gaudiorum coniugalem agens vitam, sed, sicut apostolus monuit, (…) non mallet, si posset, sine hac libidine filios procreare? (…) neque ipsi amatores huius voluptatis sive ad concubitus coniugales sive ad inmunditias flagitiorum, cum voluerint, commoventur; Wer denn, wenn er ein Freund von Weisheit und heiligen Freuden ist, möchte nicht, wenn er in Ehe lebt, so wie Paulus es rät, (…) lieber, wenn möglich, ohne diese Begierde Kinder hervorbringen? (…) Zudem, wer diese Wonnen liebt, wird, sei es bei ehelichem Beilager oder bei unsauberem, ehrlosem Tun, nicht etwa dazu erregt, wann er es will; <?page no="224"?> Die Bürde der Körperlichkeit 224 sed aliquando inportunus est ille motus poscente nullo, aliquando autem destituit inhiantem et, cum in animo concupiscentia ferveat, friget in corpore, atque ita mirum in modum non solum generandi voluntati, verum etiam lasciviendi libidini libido non servit et, cum tota plerumque menti cohibenti adversetur, nonnumquam et adversus se ipsa dividitur commotoque animo in commovendo corpore se ipsa non sequitur. civ. 14,16 (vor 420) vielmehr meldet sich jene Bewegung manchmal ganz ungelegen, ohne dass man es verlangt; dann wieder lässt sie einen, wenn man gierig darauf aus ist, im Stich, und, während im Gemüt das Verlangen siedet, bleibt sie im Körper kalt, und so erweist sie sich wunderlich genug weder dem Willen zur Zeugung noch dem Gelüste zur Ausschweifung als gehorsamer Diener, und, während sie sich gewöhnlich dem Geist als ganze widersetzt, wenn er sie mässigen will, ist sie zuweilen mit sich selber uneins: versetzt das Gemüt in Hitze und versagt es sich, den Körper in Erregung zu bringen. in ipso opere suo quem permittit aliquid, non dico sapientiae, sed cuiuslibet rei aliud cogitare? nonne illi totus animus et corpus impenditur et ipsius mentis quadam submersione illud extremum eius impletur? (…) ita hinc emergitur, et quasi in auras cogitationis post illum gurgitem respiratur (…). c. Iulian. 4,14,71 (421-422) gurgitem: vgl. Cic. Hortensius frg. 84 Grilli. 81 M. Wem erlaubt <diese Begierde>, unmittelbar während des Geschlechtsaktes an etwas, ich sage nicht, Venünftiges, sondern überhaupt an irgend etwas anderes zu denken? Für diesen Akt wird doch ganz und gar Geist wie Körper verausgabt, und sein Höhepunkt vollendet sich in einem wahrhaften Untertauchen des Geistes. (…) Dann taucht man wieder auf, und nach jenem Strudel kommt man gleichsam in die Lüfte des Nachdenkens und wieder zu Atem (…). (…) carnis concupiscentia (…) nec demergeret cogitationem mentis exundantia voluptatis. c. Iulian. op. imperf. 4,39 (429-430) <Wäre der Sündenfall nicht geschehen,> würde die Fleisches-Begierde die Fähigkeit unseres Geistes, Überlegungen anzustellen, nicht in einem Überfliessen der Lust ertränken. In der Stilisierung macht Augustin den Grund für die magische Anziehung des Koitus-Erlebnisses indirekt sichtbar, die vermutlich darin besteht, dass das Individuum, jenes gegen alles Nicht-Ich schmerzhaft abgeschlossene Ich, im Orgasmus eine befreiende Entgrenzung seines Körpers wie seiner Seele erfährt: Die Metaphern - Untertauchen, Strudel, Überfliessen, Ertränken - sind diesem Erleben in einzigartiger Weise angemessen. In den Niederungen der Polemik Augustin ist ein bedeutender Polemiker. Noch mit über 70 Jahren benutzt er recht hemmungslos die uralte Technik, den Gegner mit Unterstellungen niedrigster Art zu erledigen. - Sein Gegner, Iulianus, Bischof von Aec(u)lanum (asketisch lebend, <?page no="225"?> W 24 Sexualität 225 obwohl verheiratet, und so vorlebend, dass der Mensch seine Sexualität steuern kann), hat den engen Zusammenhalt von Leib und Seele auch in Christus betont. Daher: «Soviel, wie man den Körper Christi tiefer wertet, ebensoviel verlieren Christi geistige Vorzüge.» Und, als Beweis dafür, wie hoch er den Adel gerade auch des Körpers Christi veranschlagt, formuliert Julian: non erubescit fides Christianorum dicere Christum habuisse genitalia - cum tamen ea in nobis, quam honestissime possumus, occulamus. Iulianus Aug. c. Iulian. op. imperf. 4,54 (429-430) Der christliche Glaube muss nicht erröten zu sagen, auch Christus habe Zeugungsglieder besessen - obschon wir sie an uns, so schicklich wie wir nur können, verhüllen. Darauf bricht Augustin los: non quidem erubescit fides christianorum dicere Christum habuisse genitalia; sed tu erubescere debuisti vel potius contremiscere, ne diceres Christi genitalia aliquando, et nolente ipso (…), tamen libidine fuisse commota, et in nonnullos illicitos usus contra eius sanctum propositum se illam partem sancti eius corporis erexisse. Gewiss errötet christlicher Glaube nicht zu sagen, Christus habe Zeugungsglieder besessen. Du aber hättest erröten oder besser davor erbeben sollen, zu sagen [= mit einzuschliessen], dass Christi Genitalien manchmal, zwar gegen seinen Willen (…), doch von sinnlichem Verlangen erregt worden seien, und dass sich jener Teil seines heiligen Leibes etliche Male zu einem Verkehr, dem er nicht nachgeben durfte, gegen seinen heiligen Vorsatz aufgerichtet habe. talem quippe libidinem patitur etiam omne genus sanctorum, qualem sancto sanctorum conaris inferre. si vero genitalia Christi ipso invito commoveri et erigi solere libidine non audes dicere, cur audes credere, infelix, cur audes talem libidinem naturae Christi tribuere, ut, quod non audes dicere, compellas homines cogitare? ! c. Iulian. op. imperf. 4,54 (429-430) Dieses fleischliche Verlangen, wie du es dem Heiligen der Heiligen zuzusprechen suchst, muss bekanntlich der ganze Stand der Heiligen hinnehmen. Wenn du es aber nicht wagst zu sagen, Christi Genitalien hätten sich immer wieder gegen seinen Willen im Verlangen erregt und aufgerichtet, warum wagst du dann zu glauben, Heilloser, warum wagst du solches Verlangen der Natur Christi zuzuschreiben, sodass du, was du selbst nicht auszusprechen wagst, die Menschen zwingst sich vorzustellen? ! Das ganz und gar unheilige Rezept solcher Polemik ist durchsichtig: Es gilt, eine Aussage des Gegners scharfsinnig nach ihren nachteiligen Implikationen abzuklopfen, diese genüsslich zu formulieren und dem Gegner als dessen eigenes Gedanken-Gebräu zu unterschieben; dann, ihm den Umstand, dass er diese Implikationen selber nicht ausgesprochen hat, als Gipfel der Perfidie anzukreiden. <?page no="226"?> Die Bürde der Körperlichkeit 226 - Dieses Schema, sich von einer harmlosen Formulierung «zwingen» zu lassen, «sich vorzustellen», was dem Gegner fernlag, bewährt sich seit Jahren: Iulianus: aut in coniugibus cum honestate exercetur aut in castis virtute frenatur. Julian: <Das sexuelle Bedürfnis> wird bei Eheleuten unter Beobachtung des Anstandes ausgeübt oder bei Enthaltsamen aufgrund ihrer Tugend im Zaum gehalten. Augustinus: itane vero, ita tu expertus es? ergone a coniugibus non frenatur hoc malum, vel hoc tuum bonum? prorsus cum libitum fuerit, sternunt se coniuges et invadunt, quandocumque titillaverit, nec ad horam cubandi appetitus iste differtur, sed tunc videtur legitima corporum esse commixtio, quando istud naturale tuum bonum fuerit sponte commotum. - si talem duxisti vitam coniugalem, desine te tuis experimentis in disputatione committere et de aliis potius, quemadmodum sit ducenda vel docenda, perquire. c. Iulian. 3,28 (421-422) Augustin: Wirklich und wahrhaftig? In dieser Weise also hast du es erfahren? Somit wird es von Eheleuten nicht im Zaum gehalten, dieses Übel beziehungsweise dein «Gut»? Grad wenn es ihnen passt, legen sich Eheleute hin, und drauflos, wann immer es sie kitzelt, und dieses Begehren wird nicht etwa auf die Schlafenszeit verschoben; vielmehr scheint ihnen körperliche Vereinigung immer dann richtig, wann dieses dein «natürliches Gut» sich von sich aus regt. - Wenn du ein derartiges Eheleben geführt hast, dann hör auf, dich in unserer Auseinandersetzung deinen Erfahrungen zu überlassen und erkundige dich lieber bei andern, wie man ein Eheleben führen und lehren soll. Ein ander Mal gesteht Julian seinem Gegner schmunzelnd zu, vielleicht sei er bei einer seiner Behauptungen eben nicht ganz wach gewesen: concedamus te somniasse in Christo carnis quam dicis concupiscentiam non fuisse. Iulianus Aug. c. Iulian. op. imperf. 4,58 (429-430) Ich will dir zugestehen, du habest nur geträumt, Christus habe körperliche (wie du sie nennst) «Begierlichkeit» nicht besessen. somniasse me dicis non fuisse in Christo carnis concupiscentiam spiritui resistentem; cuius tu etiam ipsis somniis non pepercisti. dormisse quippe novimus Christum; in quo si erat ista tua suscepta, profecto sopitos eius sensus aliquando per talia somnia deludebat, ut sibi etiam concumbere videretur, atque ita caro eius, isto tuo bono stimulante commota, et in irritum extenderet genitalia et irrita effunderet semina. Du behauptest, ich hätte «geträumt», in Christus habe es kein fleischliches Begehren, das dem Geist zuwiderlief, gegeben. Und dabei hast du selber sogar seine Träume nicht verschont. Wir wissen natürlich, dass Christus geschlafen hat. Wenn deine Verehrte mit dabei war, trieb sie gewiss manchmal ihr Spiel mit seinen betäubten Sinnen, in Träumen von der Art, dass er sogar Beischlaf zu halten vermeinte, und dass so sein Fleisch, erregt vom Stachel deines eklen Guts, die Geschlechtsteile nutzlos dehnte und nutzlos Samen ausgoss. <?page no="227"?> W 24 Sexualität 227 si autem hoc de Christi carne credere contremiscis - non enim sic es lapideus, ut non contremiscas, quod ego, quamvis, ut te redarguerem, sine cordis tamen tremore non dixi -, profecto fateri debes naturae Christi non solum sine dispendio defuisse talem carnis concupiscentiam, verum etiam cum perfectarum laude virtutum, qualem concupiscentiam novimus, carni ceterorum hominum et ipsorum non deesse sanctorum. «tua suscepta, deine Verehrte»: libido c. Iulian. op. imperf. 4,58 (429-430) Wenn du aber solches vom Leib Christi zu glauben zurückbebst - du bist ja nicht so weit aus Stein, dass du nicht davor erbebst, was ich selbst (allerdings nur, um dich zu widerlegen) nicht ohne ein Erzittern meines Herzens ausgesprochen habe -, wenn du, sage ich, solches nicht glaubst, so musst du jedenfalls zugeben, dass der Natur von Christus nicht nur ohne Schaden, sondern zusammen mit dem Ruhm vollendeter Tugenden Begierde des Fleisches von der Art gefehlt hat, wie die beschaffen ist, von der wir wissen, dass sie dem Fleisch aller Menschen und gerade auch der Heiligen nicht fehlt. Es könnte wie eine Rache (an wem? ) aussehen, dass Augustin - ohne dazu gezwungen zu sein, und da sich sein Leben schon neigt! - ein offensichtliches Gefallen daran findet, ausführlich und erst noch an der Person des lebenslang angebeteten Gottmenschen unerquickliche Sexualia zu artikulieren. War die Devise des gut Dreissigjährigen zu schwer? Sie hatte gelautet: nihil mihi tam fugiendum quam concubitum esse decrevi. soliloq. 1,10,17 (387) Ich habe mich dafür entschieden, vor nichts so unbedingt zu fliehen wie vor einer Bettgemeinschaft mit der Frau. Ein bevorzugtes Feld für Polemik sind Gebräuche, die aus «heidnischer» Zeit in die dominant christliche Gegenwart hereinragen, zB das Geschehen der Brautnacht: In lustvoller Empörung und breitester Darstellung versammelt der Kirchenmann Augustin ein knappes Dutzend Gottheiten, je mit ihren sprechenden bzw. anzüglichen Namen und ihrem spezifischen Wissen. Dann steuert er den Höhepunkt an: et certe, si adest Virginensis dea, ut virgini zona solvatur; si adest deus Subigus, ut viro subigatur; si adest dea Prema, ut subacta, ne se commoveat, conprimatur; dea Pertunda ibi quid facit? erubescat, eat foras! agat aliquid et maritus! (…) civ. 6,9 (417) Und, wahrhaftig, wenn Göttin Virginensis hilft, der Jungfrau den Gürtel zu lösen, wenn Gott Subigus hilft, dass der Mann sie unterkriege, wenn Göttin Prema hilft, dass die untergekriegte, ohne dass sie sich rührt, begattet werden kann -, was soll da noch Göttin Pertunda beitragen? Erröten soll sie; verschwinden soll sie! Schliesslich leiste auch der Bräutigam etwas! (…) Kompensation einer für Augustin beinah unerträglichen sexuellen Frustration. <?page no="228"?> Die Bürde der Körperlichkeit 228 Ehe - ins Ziel hinken columbam vero securus imitare! attende columbas in societate gaudere: ubique simul volant, simul pascuntur, nolunt esse solae, communione gaudent. caritate fervent, gemitibus amoris inmurmurant, osculis filios generant. serm. 64,7 (? ) Mach’s unbekümmert wie die Taube! Schau, wie die Tauben das Zusammensein lieben: Wo immer, sie fliegen zusammen, sie weiden zusammen, wollen nicht allein sein und freuen sich an der Gemeinschaft. Sie erglühen in Liebe, gurren in Seufzern der Liebe und zeugen ihre Jungen mit Küssen. Zu Augustins Leidwesen werden die Menschen dieses märchenhafte Ideal rein geistiger Zeugung nie erfüllen. - Das wirkliche Leben hält eine Alternative bereit: bonum opus est bene uti libidinis malo; quod faciunt coniugati. c. Iulian. op. imperf. 5,13 (429-430) Ein gutes Unternehmen ist es, einen guten Gebrauch vom Übel der geschlechtlichen Leidenschaft zu machen; das tun Eheleute. Diese oft wiederholte These von der Ehe als einer Verflechtung von Gut (dass Kinder entstehen) und Böse (wie Kinder entstehen) wird kurz darauf breiter ausgeführt: non, quia sine malo est, sed, quia bene utitur malo, coniugalis concubitus merito inculpabilis dicitur. sic enim bonum est bene uti malo, quemadmodum malum est male uti bono. sic ergo bene utuntur coniugati libidinis malo, quomodo male utuntur adulteri corporis bono. c. Iulian. op. imperf. 5,18 (429-430) Nicht weil er kein Übel mit sich trüge, sondern weil er vom Übel guten Gebrauch macht, wird mit Recht gesagt, der eheliche Beischlaf bringe keine Schuld mit sich. So wie es nämlich schlecht ist, einen schlechten Gebrauch von einem Gut zu machen, so ist es gut, einen guten Gebrauch von einem Übel zu machen. So wie Ehebrecher also einen schlechten Gebrauch vom Gut des Körpers machen, so machen Eheleute einen guten Gebrauch vom Übel der sexuellen Begierde. <?page no="229"?> W 24 Sexualität 229 Sollte damit eine unbelastete Ehe möglich sein? diligite uxores vestras, sed caste diligite! usque ad eum modum carnale opus expedite, ut filios procreetis, et, quia non aliter potestis habere filios, ad illud cum dolore descendite! poena est enim illius Adam, de quo exorti sumus. (…) ipsam poenam non subtraxit deus, ut meminisset homo, unde revocatur et quo vocatur, et quaereret illum amplexum, ubi nulla potest esse corruptio. serm. 51,15,25 (417-418) Liebet eure Frauen, liebet sie aber in Keuschheit! Nur bis zu dem Mass verrichtet das fleischliche Werk, dass ihr Kinder hervorbringt, und, weil ihr nicht auf andere Art Kinder haben könnt, versteht euch dazu unter Trübsal! Denn das ist die Strafe von Urvater Adam, dessen Kinder wir sind. (…) Diese Strafe hat Gott nicht aufgehoben, damit der Mensch sich erinnere, woher er zurückgerufen werde und wohin er berufen ist, und damit er eine Umarmung von der Art suche, worin keine Verderbnis mehr sein kann. Da, wo die Lust lauert, herrsche sicherheitshalber Trübsal! Da, wo Liebe blühen möchte, pflege man das Bewusstsein eigener Strafwürdigkeit! Eine Ehe zu führen heisst offenbar, einen gefährlichen Grat zu begehen. proinde nuptiae, quia etiam de illo malo boni aliquid faciunt, gloriantur; quia sine illo fieri non potest, erubescunt. tamquam si quispiam pede vitiato ad aliquod bonum etiam claudicando perveniat, nec propter claudicationis malum mala est illa perventio, nec propter illius perventionis bonum bona est claudicatio, ita nec propter libidinis malum nuptias condemnare nec propter nuptiarum bonum libidinem laudare debemus. nupt. et concup. 1,7,8 (419-421) Somit kann sich die eheliche Verbindung rühmen, weil sie sogar aus dem bekannten Übel etwas Gutes macht; weil sie aber ohne dieses Übel nicht erblühen kann, muss sie erröten. Es ist so, wie wenn jemand mit verletztem Fuss zu einem guten Ziel nur unter Hinken, aber eben doch hingelangt. Weder macht das Hinken, ein Übel, das Ankommen zu einem Übel, noch macht das Ankommen, ein Gut, das Hinken zu einem Gut. Gerade so dürfen wir weder die Ehe verdammen, weil sie das Übel der Begierde mit sich bringt, noch dürfen wir die Begierde loben, weil sie im Gut der ehelichen Verbindung einen Platz hat. <?page no="230"?> Die Bürde der Körperlichkeit 230 Sagt der Verfasser dieses Textes nun eigentlich ja oder nein zur Ehe? Gewiss, wir sollen die Ehe nicht «verdammen»; sollen wir sie vielleicht meiden? coniugalis enim concubitus generandi gratia non habet culpam; concupiscentiae vero satiandae, sed tamen cum coniuge, propter tori fidem venialem habet culpam; adulterium vero sive fornicatio letalem habet culpam. ac per hoc melior est quidem ab omni concubitu continentia quam vel ipse matrimonialis concubitus, qui fit causa gignendi. «die verziehen wird»: vgl. 1 Kor 7,6 bon. coniug. 6,6 (401) <Nur> der eheliche Umgang zur Zeugung von Nachkommen birgt in sich keine Schuld. Wenn er aber erfolgt, um das sexuelle Verlangen zu sättigen, bringt er - wofern er unter Gatten erfolgt - dank der ehelichen Treue eine Verschuldung mit sich, die verziehen wird. Ehebruch hingegen oder Hurerei bedeutet Verschuldung, die den <zweiten, den seelischen> Tod nach sich zieht. Und deshalb ist, sich jeden Geschlechtsverkehrs zu enthalten, unstreitig besser als selbst der eheliche mit dem Ziel, Kinder zu bekommen. Hier setzt Augustin drei sexuelle Verhaltensweisen gegeneinander. Er schreitet von der schuldlosen über die verzeihliche zur tödlichen. Dann zieht er («Und deshalb…») aus diesem Überblick seine Folgerung. Er empfiehlt - vollkommene Enthaltsamkeit! Das gilt offensichtlich auch für die erste, «schuldlose» Verhaltensweise, was er am Ende noch eigens betont. Es liegt also kein logischer Bruch in der Gedankenkette vor; vielmehr drückt sich im Folgerungs-Abschnitt Augustins abgründiges Misstrauen gegen die Ehe aus. Er traut dem Menschen die Ehe zur reinen Fortpflanzung ganz einfach nicht zu. - Er vertritt die Auffassung, nur die Väter des Alten Testaments hätten so Hohes geleistet: habebant enim eas in opere generandi (non in morbo desiderii sicut gentes, quae ignorant deum). quod tam magnum est, ut multi hodie facilius se tota vita ab omni concubitu abstineant quam modum teneant non coeundi nisi prolis causa, si matrimonio copulentur. 1 Thess 4,5 bon. coniug. 13,15 (401) Denn sie besassen die Frauen allein zum Werk der Zeugung (nicht in Krankheit der Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen). Dies aber ist etwas derart Grosses, dass viele heutzutage leichter ihr Leben lang jeden Geschlechtsverkehr meiden als das Mass einzuhalten, in der Ehe nur zum Zweck der Kinderzeugung zusammenzukommen. <?page no="231"?> W 24 Sexualität 231 hoc, quod coniugati, victi concupiscentia, utuntur invicem ultra necessitatem liberos procreandi, ponant in his, pro quibus quotidie dicitur: dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Mt 6,12 serm. Dolbeau 12,12 (397-404) Den Umstand, dass Verheiratete aus überstarkem sexuellen Verlangen miteinander Umgang pflegen über die Notwendigkeit der Kinderzeugung hinaus, sollen sie unter die Dinge einreihen, für welche jeden Tag gesagt wird: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Dass (gemäss 1 Kor 7,6) die Schuld dieser - aller? - Eltern als verzeihlich gilt, entbindet sie also nicht vom täglichen Sich-an-die-Brust-Schlagen, dem mea culpa, diesem krank machenden Sich-schuldig-sprechen-Müssen für heimliches, doch vor Gott (und dem Priester? ) nicht zu verheimlichendes Fehlverhalten. - Und die Ausnahme-Eltern? si qui ergo viri propter creationem tantummodo liberorum uxores habent -: si eis posset praestari, ut haberent filios sine concubitu, nonne ineffabili gaudio tantum beneficium amplecterentur, nonne cum ingenti laetitia susciperent? ! serm. 51,14,23 (417-418) Falls es also Männer gibt, die ihre Frauen nur zur Zeugung von Kindern besitzen -: wenn man ihnen ermöglichen könnte, Kinder ohne Geschlechtsverkehr zu bekommen, würden die nicht in unaussprechlicher Freude eine so bedeutende Wohltat umarmen und sie unter gewaltigem Jubel willkommen heissen? ! Auch diese Ausnahme-Eltern haben also ihre «Trübsal», darüber, dass keiner ihnen die Möglichkeit verschaffen kann, ihre Kinder taubengleich durch Kuss zu zeugen. - Das uralte Wort des Schöpfer-Gottes (Gen 1,28) an die Menschen, crescite et multiplicamini, seid fruchtbar und mehret euch, ist unerreichbar fern, ja, es wird von Augustin entschieden relativiert: et avibus dictum est crescite et multiplicamini. pro magno vis habere, quod avibus donatum est? Gen 1,22 in psalm. 127,15 (405-415) Auch zu den Vögeln ist gesagt: Seid fruchtbar und mehret euch. Willst du wirklich einer Sache hohe Bedeutung beimessen, die auch den Vögeln vergönnt ist? Mit seiner Ermunterung Seid fruchtbar und mehret euch hat Gott bei Augustin offensichtlich kein Glück: eigentlich taugt das Wort - das er, auf Menschen bezogen, «in einem übertragenen Sinn, figurate» verstanden wissen möchte (conf. 13,24,36f) - eher für Tiere … Ganz anders einmal, wo sich Augustin - ist er es wirklich? - zur Wehr setzt gegen gewisse «vergiftete Lehrmeinungen, venenata dogmata», er stehe dem sexuellen Verlangen in der Ehe kritisch gegenüber. Da werden seichte Gedanken in hym- <?page no="232"?> Die Bürde der Körperlichkeit 232 nischen Tönen vorgetragen und lassen alle Vorbehalte gegen Ehe und Ehe-Vollzug und also auch gegen das Seid fruchtbar… in nichts zerfliessen: quis enim catholicus sic adversus eos defendit fidem rectam, ut improbet nuptias, quas mundi fabricator et conditor benedixit? quis catholicus dicat diabolicae operationis esse concupiscentiam nuptiarum, cum per hanc utique propagaretur genus humanum, etiamsi nemo peccasset, ut impleretur illa benedictio: crescite et multiplicamini, quae benedictio nec peccato hominis, in quo omnes peccaverunt, perdidit suae bonitatis effectum in tam perspicua tamque mirabili atque laudabili, quae ab omnibus cernitur, fecunditate naturae? quis catholicus in omni creatura omnis animae et omnis carnis opera divina non praedicat eorumque consideratione hymnum creatori eructat, qui non solum tunc ante peccatum fecit, verum etiam nunc facit omnia bona valde? epist. Divj. 6,3 (420-421) Wer denn würde als Katholik den rechten Glauben gegen <die Pelagianer> in der Weise verteidigen, dass er die Ehe missbilligte, die doch der Urheber und Schöpfer der Welt gesegnet hat? Welcher Katholik würde behaupten, sexuelles Verlangen in der Ehe sei ein Werk des Teufels, wenn doch eben dadurch das Menschengeschlecht sich fortzeugte, selbst wenn niemand gesündigt hätte, damit jene Segnung erfüllt würde: Seid fruchtbar und mehret euch, eine Segnung, die auch durch den Sündenfall des Menschen (in dem alle sündig geworden sind), die Wirkung SEINER Güte nicht verloren hat, angesichts einer derart augenscheinlichen, wunderbaren und löblichen, allen deutlich vor Augen stehenden Fruchtbarkeit der Natur. Welcher Katholik wird in allem Geschaffenen, in allen geistigen und allen fleischlichen Dingen Gottes Werke nicht rühmen und bei deren Betrachtung nicht einen Lobpreis anstimmen auf den Schöpfer, der nicht nur einst vor dem Sündenfall alles sehr gut gemacht, nein, noch heute alles sehr gut macht. Wie sieht denn nun die wahrhaft christliche Ehe aus? - Dies steht für Augustin seit langem fest: sic invenitur bonus christianus diligere in una femina creaturam dei, quam reformari et renovari desiderat, odisse autem coniunctionem copulationemque corruptibilem atque mortalem - hoc est: diligere in ea, quod homo est, odisse, quod uxor est. ita etiam diligit inimicum - non, in quantum inimicus est, sed, in quantum homo est. de serm. dom. 1,15,41 (394) Der gute Christ lässt sich folgendermassen bestimmen: Er liebt in seiner Frau Gottes Geschöpf, dessen Verwandlung und Erneuerung er wünscht; er hasst aber Verbindung und Verkehr mit ihr, denn das steht im Zeichen von Verderbnis und Tod - kurz: Er liebt in ihr, was sie als Mensch ist, und hasst in ihr, was sie als Frau ist. Gerade so (! ) liebt er auch seinen Feind - nicht, insoweit der sein Feind ist, sondern, insoweit er Mensch ist. <?page no="233"?> W 24 Sexualität 233 Die Frau beklage sich nicht: sie wird immerhin als Mensch anerkannt! - In diese verzweifelt niedrige, demütigende Position ist die Frau geraten, weil sie auf ihre sexuelle Funktion reduziert ist: non itaque video, ad quod aliud adiutorium mulier facta sit viro, si generandi causa subtrahitur. quae nihilominus, quare subtrahatur, ignoro. gen. ad litt. 9,7,12 (401-414) Ich sehe nicht, zu welcher andern Hilfsfunktion die Frau für den Mann geschaffen ist, wenn man von der Frage der Erzeugung von Nachkommen absieht. Warum man davon absehen soll, weiss ich allerdings nicht. Ganz konsequent führt Augustin aus, dass eine männliche Hilfskraft Adam natürlich mehr genützt hätte, schon nur, wenn es galt, das Einsamsein zu vertreiben: quanto enim congruentius ad convivendum et conloquendum duo amici pariter quam vir et mulier habitarent! gen. ad litt. 9,7,12 (401-414) Um wieviel angemessener hätten sich, zusammen zu leben und zu diskutieren, zwei Freunde befunden - als ein Mann und eine Frau! Angesichts dieser Reduktion der Frau auf die Gebärerin berührt es besonders bitter, wenn als höchstes christliches Ideal einer Ehe deren Nichtvollzug gepriesen wird: potest igitur christianus cum coniuge concorditer vivere, sive indigentiam carnalem cum ea supplens (…) sive (…) sive fraternam societatem sine ulla corporum commixtione, habens uxorem tamquam non habens - quod est in coniugio christianorum excellentissimum atque sublime. vgl. 1 Kor 7,29 de serm. dom. 1,15,42 (394) Der Christ kann also mit seiner Gattin einträchtig zusammenleben, sei es, dass er dem fleischlichen Bedürfnis mit ihr nachkommt (…), oder (…), oder, dass er mit ihr rein brüderliche Gemeinschaft ohne alle körperliche Vereinigung pflegt, indem er so eine Gattin hat, als hätte er keine - was in der Ehe unter Christen der vortrefflichste Ehestand ist und ganz erhaben. Woher sich Augustins Härte, Schärfe und Kühnheit in obigen Stellungnahmen zur Ehe herschreibt, ist deutlich: Es ist vor allem der Erste Korinther-Brief des Apostels Paulus - für Augustin: des «Meisters und Herrn der Apostel» (epist. 186,29). Häufig zitierte Paulus-Sätze wie (1 Kor 7,1) Es ist gut für den Menschen, kein Weib zu berühren, oder (1 Kor 7,7) Ich wünschte freilich, dass alle Menschen wären wie ich (nämlich unbeweibt), haben zwei Jahrtausende unermesslichen Leids über die Frau (aber ebenso über den Mann) gebracht. <?page no="234"?> Die Bürde der Körperlichkeit 234 Es wird auferweckt werden in Herrlichkeit (1 Kor 15,43) - in welcher Gestalt? Der Mann - versteht sich - als Mann. Wer als Kleinkind verstorben ist, in erwachsener Gestalt (serm. 242,3,4f). - Und die Frau? nonnulli propter hoc, quod dictum est, donec occurramus omnes (…) in virum perfectum, in mensuram aetatis plenitudinis Christi et conformes imaginis filii dei, nec in sexu femineo resurrecturas feminas credunt, sed in virili omnes aiunt, quoniam deus solum virum fecit ex limo, feminam ex viro. sed mihi melius sapere videntur, qui utrumque sexum resurrecturum esse non dubitant. non enim libido ibi erit, quae confusionis est causa. Eph 4,13; Rm 8,29 civ. 22,17 (vor 427) Einige glauben, gestützt auf die Worte bis wir alle gelangen (…) zum vollkommenen Mann, zum Mass des Alters der Fülle Christi, und, gleichgestaltet zu werden dem Bilde seines Sohnes, dass die Frauen nicht in weiblicher Gestalt auferstehen werden, sondern alle <Menschen> in männlicher, da Gott nur den Mann aus Lehm schuf, die Frau aber aus dem Mann. Doch mir scheinen verständiger, die nicht daran zweifeln, dass beide Geschlechter auferstehen werden. Denn das geschlechtliche Begehren, die Ursache der Scham und Verstörung, wird dort nicht mehr vorhanden sein. Die Frau hat es gut: sie darf im Paradies Frau bleiben. Ist Augustin strenger als selbst Paulus? Hat Paulus nicht für die Gleichstellung der Frau plädiert, da, wo er schreibt: Die Frau hat über ihren eignen Leib nicht die Verfügung, sondern der Mann; ebenso aber hat auch der Mann über seinen eignen Leib nicht die Verfügung, sondern die Frau. Vollkommene Symmetrie der Rechte und Pflichten! - Augustin nimmt dazu Stellung: uxor non habet potestatem corporis sui, sed vir. quia ego sum dominus. laudasti. audi, quod sequitur; audi, quod non vis; rogo, ut velis: quid est hoc? audi: similiter et vir… ‹dominus› ille! similiter et vir non habet potestatem corporis sui, sed mulier. hoc libenter audi! vitium tibi tollitur, non dominium: adulteria tua prohibentur; non feminae subriguntur. 1 Kor 7,4 serm. 332,4 (410-412) Die Frau hat über ihren eignen Leib nicht die Verfügung, sondern der Mann. «Ich - <denkst du> - bin halt der Herr.» Da spendest du Beifall. Höre nun, was folgt; höre auch, was du nicht wünschst; wovon ich bitte, dass du es wünschest. «Was ist es denn? » Höre: Ebenso aber hat auch der Mann… Vom ‹Herrn› von vorhin ist die Rede! Ebenso hat auch der Mann über seinen eignen Leib nicht die Verfügung, sondern die Frau. Höre dies ohne Widerstreben! Eine Schwäche will man dir wegnehmen, nicht deine Vorherrschaft: deine Seitensprünge untersagt man dir; es droht kein Frauen-Aufstand. Augustin spricht - es ist stilistisch wie ein Vibrieren spürbar - von einem heissen Eisen: Er wendet sich frontal an das Problem-Geschlecht, die Männer, und tut dies gleichsam stossweise: Er unterbricht sich mehrfach und gibt den Betroffenen selber grosszügig das Wort. Endlich ist die ganze, für die Männer bittere Botschaft <?page no="235"?> W 24 Sexualität 235 heraus: …sondern die Frau! - Gleichberechtigung? Ebenso wenig wie Paulus zielt Augustin darauf. Es soll nur mit der bedenkenlosen Untreue der Männer ein Ende haben! Der Besitzstand, «Vorherrschaft, dominium», wird dem Mann (wie im vorchristlichen Rom) weiterhin garantiert. si maritus vincatur et uxor dominetur, pax perversa; si autem uxor marito dominanti subiciatur, pax recta. in psalm. 143,6 (406-415) Unterliegt der Gatte und herrscht die Gattin, so ist das ein verkehrter Friede; unterwirft sich aber die Gattin dem Gatten als ihrem Herrn, herrscht der rechte Friede. Flucht in die Keuschheit Warum nicht die «Schande» des Säens (1 Kor 15,43) meiden und sein Leben in heiliger Keuschheit führen? Für diese Entscheidung sprachen hochberühmte, asketische Vorbilder; doch auch die Bibel scheint diesen Weg zu empfehlen: Umarmen hat seine Zeit, und Sich-Meiden hat seine Zeit. Augustin stellt die Epoche der Patriarchen (die das jüdische Volk aufbauen musste, um schliesslich Christus zu ermöglichen) der eigenen Epoche gegenüber: (…) a patribus, qui tantum officio generandi feminis, sed non inlicite, miscebantur; erat enim tunc quaedam propagandi necessitas, quae nunc non est - quoniam tempus amplectendi, sicut scriptum est, quod utique tunc fuit, et tempus continendi ab amplexu, quod nunc est. vgl. Pred 3,5 adult. coniug. 2,12,12 (421) (…) von den Vätern, die allein aufgrund der Verpflichtung, Nachkommenschaft zu zeugen, nicht unerlaubt, ihren Frauen beiwohnten; denn damals bestand eine eigentliche Notwendigkeit zur Fortpflanzung, die heute nicht mehr besteht. Es gibt bekanntlich eine Zeit des Umarmens, wie geschrieben steht, die jedenfalls damals galt, und eine Zeit, sich der Umarmung zu enthalten, die heute gilt. Eine waghalsige Interpretation des Prediger-Spruchs, der natürlich nicht von historischen Epochen spricht, sondern (in dieser wie in allen 14 analog gebauten Aussagen) je das gleiche betroffene Subjekt im Auge hat, für welches «alles zu seiner Zeit» getan richtig getan ist, Umarmen oder eben nicht Umarmen, Klagen oder Tanzen, Sammeln oder Wegwerfen, Schweigen oder Reden, usw. <?page no="236"?> Die Bürde der Körperlichkeit 236 Das Vorhaben, den willkürlich missdeuteten Prediger-Spruch durchzusetzen, fände natürlich nicht überall Anklang: sed novi, quid murmurent: «quid, si, inquiunt, omnes homines velint ab omni concubitu continere? unde subsisteret genus humanum? » - utinam omnes hoc vellent, dumtaxat in caritate de corde puro et conscientia bona et fide non ficta! multo citius dei civitas conpleretur et adceleraretur terminus saeculi! 1 Tim 1,5 bon. coniug. 10,10 (401) Ich weiss allerdings, was sie brummend einwenden: «Was, sagen sie, soll denn werden, wenn alle Menschen sich jeder geschlechtlichen Verbindung enthalten? Woraus würde das Menschengeschlecht denn sein Fortbestehen schöpfen? » - Oh wenn doch alle den Willen dazu hätten, freilich in Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben! Um vieles früher würde die Stadt Gottes vollzählig sein, und das Ende der Zeit auf Erden käme rascher herbei! Augustin wischt das Bedenken gleichsam jubelnd beiseite. - Die Entscheidung zur Keuschheit lockt den einzelnen Menschen mit einem Vorteil im Himmel: profecto habebunt magnum aliquid praeter ceteros in illa communi inmortalitate, qui habent aliquid iam non carnis in carne. virg. 13,12 (401) Die noch im irdischen Leibe etwas bereits nicht mehr Irdisches tragen, werden wahrhaftig dannzumal in der gemeinsamen Unsterblichkeit etwas Grosses besitzen, das sie über die andern hinaushebt. Einst sah Augustin begeistert eine Massenbewegung: si tot iuvenum et virginum milia contemnentium nuptias casteque viventium iam nemo miratur, (…). vera relig. 17 (389-391) Wenn niemand sich mehr darüber wundert, dass soviel tausend junge Männer und Frauen die Ehe geringschätzen und in Keuschheit leben, (…). <?page no="237"?> W 24 Sexualität 237 In späteren Jahren allerdings weichen die hymnischen Melodien den kritischen Tönen: Besonders in Kongregationen wird menschliche Überforderung spürbar: pacem vero incertum bonum <sentimus>, quoniam corda eorum, cum quibus eam tenere volumus, ignoramus, et, si hodie nosse possemus, qualia cras futura essent, utique nesciremus. qui porro inter se amiciores solent esse vel debent quam, qui una etiam continentur domo? et tamen quis inde securus est, cum tanta saepe mala ex eorum occultis insidiis extiterint, tanto amariora, quanto pax dulcior fuit, quae vera putata est, cum astutissime fingeretur? civ. 19,5 (vor 427) Den Frieden aber erfahren wir als ein unsicheres Gut, da wir ja die Herzen derer, mit welchen wir ihn halten wollen, nicht kennen, und, wenn wir sie heute kennen könnten, wüssten wir noch lange nicht, wie sie morgen sind. Ferner: Denkt man nicht (oder erwartet doch), dass die einander besonders zugetan seien, welche auch in Hausgemeinschaft leben? Und doch, wer kann darüber beruhigt sein, da aus deren heimlichen Intrigen oft Übel von grosser Tragweite erwachsen, die umso bitterer schmecken, je süsser der Friede war, den man für echt hielt, während er doch nur mit höchster Schlauheit vorgetäuscht wurde? So viele in der Welt der Keuschheit verlorene Illusionen - und vom Leiden an der Verdrängung der Sexualität ist noch nicht die Rede gewesen! - In einem nicht näher datierbaren Brief nimmt Augustin unnachsichtig Stellung gegen einen Angehörigen des Klerus, der sich vergangen hat: nec diaconus esse debebat. si enim aliqua vera sunt, quae de illo mulier dixit, actum est. si autem illa etiam peierat et hoc solum de isto verum est, quod ipse confessus est, nec is esse clericus potest, quoniam omnes christiani, quanto magis clerici, non solum ab illicito concubitu puri esse debent, verum etiam ab illicito osculo et ab illicito amplexu et ab omni inmunditia. epist. Divj. 18,1,1f (395-430) Er hätte auch nicht Diakon sein dürfen. Wenn nämlich etwas davon wahr ist, was die Frau von ihm gesagt hat, dann ist <ohnehin> nichts zu machen. Wenn sie aber noch falsche Aussagen macht, und von ihm nur das wahr ist, was er selber gestanden hat, auch dann kann er nicht mehr Kleriker sein; denn alle Christen, um wieviel mehr die Kleriker, müssen nicht nur von jedem unerlaubten Beischlaf rein sein, sondern auch von einem unerlaubten Kuss und einer unerlaubten Umarmung und von jeder Art von Unreinheit. <?page no="238"?> Die Bürde der Körperlichkeit 238 Angesichts des Virus einer Abirrung unter Männern - «motum inpudicum et inmundum, schamlose und schmutzige Avance» - und der Unmöglichkeit, den Schuldigen zu finden, greift Augustin zu einem äussersten Hilfsmittel, dem Gottesurteil: elegi aliquid medium, ut certo placito se ambo constringerent ad locum sanctum se pergituros, ubi terribiliora opera dei non sanam cuiusque conscientiam multo facilius aperirent et ad confessionem vel poena vel timore compellerent. epist. 78,2f (401-403) So wählte ich einen Mittelweg: Beide sollten, auf einen feststehenden Beschluss verpflichtet, an einen heiligen Ort reisen, wo ein besonders ehrfurchtgebietendes Wirken Gottes jedes ungesunde Gewissen viel leichter eröffnen und ein Geständnis, sei es aufgrund von Strafe oder von Angst, erzwingen würde. Der Wahrheit wirkende Ort liegt jenseits des Meers, in Nola, wo der Märtyrer Felix begraben liegt. Die Spur der beiden Männer kann nicht weiter verfolgt werden. Auch die Frauen sind mit ihrer Entscheidung zur Nonne nicht in ein irdisches Paradies ohne Versuchungen und Gefährdungen eingegangen: oculi vestri etsi iaciuntur in aliquem, figantur in neminem. neque enim, quando proceditis, viros videre prohibemini, sed appetere aut ab ipsis appeti velle. nec tactu solo, sed affectu quoque et aspectu appetitur et appetit femina. Auch wenn eure Blicke auf jemanden fallen, sollen sie doch auf niemandem ruhen. Es ist euch ja nicht verboten, Männer zu sehen, wenn ihr ausgeht. Verboten ist nur, sie zu begehren oder den Wunsch zu haben, von ihnen begehrt zu werden. Nicht allein Berührung, sondern auch das Aufwallen eines Gefühls oder ein Blick verrät, dass die Frau begehrt wird oder selber begehrt. nec dicatis vos habere animos pudicos, si habeatis oculos inpudicos; quia inpudicus oculus inpudici cordis est nuntius. et, cum se invicem sibi, etiam tacente lingua, conspectu mutuo corda nuntiant impudica et secundum concupiscentiam carnis alterutro delectantur ardore, etiam intactis ab inmunda violatione corporibus fugit castitas ipsa de moribus. Und saget nicht, eure Seele sei züchtig, wenn ihr unzüchtige Augen habt; denn ein unzüchtiges Auge ist der Bote eines unzüchtigen Herzens. Und wenn zwei Herzen (mag die Zunge auch schweigen) mit ihrem Blick wechselseitig anzeigen, sie seien unzüchtig, und am gegenseitigen Feuer (wie es fleischliche Begehrlichkeit will) ihre Freude haben, dann flieht die Keuschheit, selbst wenn der Körper von unreiner Gewaltanwendung unberührt ist, aus dem Lebenswandel. <?page no="239"?> W 24 Sexualität 239 nec putare debet, quae in masculum figit oculum et illius in se ipsam diligit fixum, non videri ab aliis, cum hoc facit. videtur omnino et, a quibus videri non arbitratur. (…) quando ergo simul estis in ecclesia et ubicumque, ubi et viri sunt, invicem vestram pudicitiam custodite; deus enim, qui habitat in vobis, etiam isto modo custodiet vos ex vobis. epist. 211,10 (397-430; aus einer Augustin-Regel) Und, wenn eine den Blick auf einen Mann geheftet hält und es geniesst, dass die seinen auf sie gerichtet sind, muss sie nicht meinen, sie werde dabei nicht von andern gesehen. Sie wird durchaus gesehen, und ausgerechnet von denen sie sich unbeobachtet wähnt. (…) Wenn ihr also in der Kirche oder andernorts, wo sich auch Männer befinden, beisammen seid, bewacht gegenseitig eure Sittsamkeit! Denn Gott, der in euch wohnt, wird auch auf diese Weise euch durch euch selber bewachen. Weder die Vergegenwärtigung, dass jede der heiligen Jungfrauen Aufsichtsfunktionen über jede habe, noch die fromm-unfromme Legitimation solcher Aufsicht mit dem Oberaufseher Gott dürften zum Wohlbefinden im Nonnenkloster beigetragen haben. - In den Jahren nach 410 (Eroberung und Plünderung Roms durch Alarichs Westgoten) und wiederum am Ende seines Lebens (Eroberung und Plünderung Nordafrikas durch Geiserichs Vandalen) hatte Augustin sich mit den Untaten an schutzlosen Klosterfrauen auseinanderzusetzen. Das Schicksal der Nonnen könnte nicht bedrückender sein, der Prediger aber relativiert es: cum pudicitia virtus sit animi comitemque habeat fortitudinem, qua potius quaelibet mala tolerare quam malo consentire decernit, nullus autem magnanimus et pudicus in potestate habeat, quid de sua carne fiat, sed tantum, quid adnuat mente vel renuat -, quis eadem sana mente putaverit perdere se pudicitiam, si forte in adprehensa et oppressa carne sua exerceatur et expleatur libido non sua? si enim hoc modo pudicitia perit, profecto pudicitia virtus animi non erit nec pertinebit ad ea bona, quibus bene vivitur; sed in bonis corporis numerabitur, qualia sunt vires, pulchritudo, sana valetudo ac, si quid huius modi est. civ. 1,18 (413-414) Da Keuschheit eine Tugend des Geistes ist und die Tapferkeit sie begleitet, aufgrund welcher sie sich dafür entscheidet, beliebiges Übel eher zu ertragen als einem Übel zuzustimmen, und da es, trotz Mut und Keuschheit, in niemandes Macht steht, was mit seinem Leib geschieht, sondern nur, was einer innerlich billigt und was nicht -, wer könnte da, solange dieser sein Geist heil ist, annehmen, er verliere seine Keuschheit, wenn etwa, infolge Verschleppung und Vergewaltigung, an seinem Körper schändliche Lust geübt und befriedigt wird, an der er selber nicht teilnimmt? Wenn man nämlich Keuschheit in dieser Art verlieren kann, dann kann sie wahrhaftig keine Tugend des Geistes sein, noch wird sie zu denjenigen Gütern gehören, dank denen man lebt, wie man soll. Vielmehr hat man sie dann zu den Gütern des Körpers zu zählen wie Muskelkräfte, Schönheit, Gesundheit und anderes dergleichen. <?page no="240"?> Die Bürde der Körperlichkeit 240 «libido non sua, Lust, an der er (natürlich: sie) nicht teilnimmt»: Trägt solch rechnerisch saubere Scheidung überhaupt über den Augenblick der Formulierung hinaus? - Die eigenartig rationale Sehweise findet endlich zu einem klingenden - oder besser: klingelnden - doppelten Paradox: admoneamur ita non amitti corporis sanctitatem manente animi sanctitate etiam corpore oppresso, sicut amittitur et corporis sanctitas violata animi sanctitate etiam corpore intacto. civ. 1,18 (413-414) Denken wir daran: Die Heiligkeit des Leibes geht selbst bei einer Vergewaltigung nicht verloren, wenn die Heiligkeit der Seele erhalten bleibt - so wie umgekehrt die Heiligkeit des Leibes, selbst wenn er unberührt bleibt, verloren geht, wenn die Heiligkeit der Seele entweiht ist. Glasklar, doch eben schale Theorie. - Eine düstere Färbung erhält Augustins Trost- Ansprache bei der Frage, warum Gott solche Untaten überhaupt zulässt: non itaque vobis, o fideles Christi, sit taedio vita vestra, si ludibrio fuit hostibus castitas vestra. habetis magnam veramque consolationem, si fidam conscientiam retinetis non vos consensisse peccatis eorum, qui in vos peccare permissi sunt. quod si forte, cur permissi sint, quaeritis -: alta quidem est providentia creatoris mundi atque rectoris, et inscrutabilia sunt iudicia eius et investigabiles viae eius. - verum tamen interrogate fideliter animas vestras, ne forte de isto integritatis et continentiae vel pudicitiae bono vos inflatius extulistis. Rm 11,33 civ. 1,28 (413-414) Daher lasst euch, ihr gläubigen Christinnen, Euer Leben nicht zum Ekel werden, wenn die Feinde mit eurer Keuschheit ihren Spott getrieben haben. Ihr besitzt einen bedeutenden, echten Trostgrund, wenn ihr euch das ehrliche Bewusstsein bewahrt, dass ihr dem sündigen Tun derer nicht zugestimmt habt, denen erlaubt worden war, gegen euch zu sündigen. Wenn ihr aber etwa fragt, warum ihnen dies erlaubt worden sei -: tief ist wahrlich die Vorsehung des Schöpfers und Lenkers der Welt, und unerforschlich sind seine Entscheidungen und unausdenkbar seine Wege. - Aber befraget dennoch ernsthaft eure Seele, ob ihr auf das Gut eurer Unberührtheit und Enthaltsamkeit oder Keuschheit nicht vielleicht in übertriebener Weise stolz wart. Zuerst wieder die fragwürdige Scheidung von Körper und Seele. Dann folgt der trostlose, so oft wiederholte Trost der Bibel, der Hinweis auf die Unerforschlichkeit von Gottes Entscheidungen. Und wahrhaft skandalös am Ende Augustins eigene Hypothese, der Gedanke nämlich, dass Gott vielleicht eben doch in den Frauen Sünderinnen bestraft, und zwar genau richtig bestraft habe! <?page no="241"?> W 24 Sexualität 241 Anlässlich der kriegerischen Vorstösse der Vandalen lebt die bekannte Theorie wieder auf: magis timeamus, ne sensu interiori corrupto pereat castitas fidei, quam, ne feminae violenter constuprentur in carne; quia violentia non violatur pudicitia, si mente servatur; quoniam nec in carne violatur, quando voluntas patientis sua turpiter carne non utitur, sed sine consensione tolerat, quod alius operatur. epist. 228,7 (429) Mehr wollen wir fürchten, dass das innere Empfinden zerrüttet werde und die Reinheit des Glaubens Schaden leide, als, dass Frauen am Leib brutal geschändet werden; denn Keuschheit wird, wenn die Seele sie bewahrt, durch Gewaltsamkeit nicht vergewaltigt; sie wird sogar leiblich nicht vergewaltigt, wenn der Wille des Opfers seinen Leib nicht schmählich zum Missbrauch hergibt, sondern ohne Zustimmung erträgt, was ein anderer tut. Offensichtlich hat Augustin - zu seiner Entlastung - seine eigenen Erfahrungen vollkommen verdrängt; wir erinnern uns: haec autem <libido> sibi non solum totum corpus nec solum extrinsecus, verum etiam intrinsecus vindicat totumque commovet hominem animi simul affectu cum carnis appetitu coniuncto atque permixto. civ. 14,16 (vor 420) <Das sexuelle Erlebnis> unterwirft sich nicht nur den ganzen Körper und nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich, und rührt den ganzen Menschen auf, weil sie dem triebhaften Begehren des Körpers noch ein Verlangen der Seele vereint und vermischt. Erinnert sei auch an Augustins Metaphern (Untertauchen, Strudel u.ä.) bei seinen Beschreibungen des sexuellen Erlebnisses. Jene unausweichliche Vermischung seelischer Empfindungen mit den körperlichen hinterlässt im Opfer nicht nur die Empfindung von Scham (civ. 1,16), sondern vielmehr untilgbare Schuldgefühle und eine innere Zerrissenheit, die die Selbstachtung zerstört und (wie oben civ. 1,28) zum Selbstmord einlädt. Beschliessen wir das düstere Thema mit einem farbigen Zeitbildchen. Die Keuschheits-Mode der Zeit hat nicht durchwegs zu dramatisch-tragischen Verhältnissen geführt. Eine liebenswerte, sozial nicht unwirksame Anwendung des Keuscheits-Prinzips erwähnt Augustin aus seiner Nachbarschaft: est quaedam haeresis rusticana in campo nostro, id est Hipponiensi, vel potius fuit; paulatim enim diminuta in una exigua villa remanserat, in qua quidem paucissimi, sed omnes hoc fuerunt. (…) Bei uns auf dem Land um Hippo existiert eine bäuerliche Sekte, oder besser: sie hat existiert; denn nach und nach war sie zusammengeschmolzen und überlebte nur noch in einem kleinen Gehöft, in dem ganz wenige Menschen lebten, ausnahmslos aber Anhänger dieser Richtung. (…) <?page no="242"?> Die Bürde der Körperlichkeit 242 non miscebantur uxoribus, et eis tamen sine uxoribus vivere sectae ipsius dogmate non licebat. mares ergo et feminae sub continentiae professione simul habitantes puerum et puellam sibi adoptabant in eiusdem coniunctionis pacto successores suos futuros. morte praeventis quibusque singulis alii subrogabantur, dum tamen duo duobus disparis sexus in illius domus societate succederent. Mit ihren Frauen hatten sie keinen Geschlechtsverkehr; ohne Frauen zu leben aber war ihnen dennoch durch Sekten-Gesetz verboten. Mann und Frau wohnten also im Status der Enthaltsamkeit zusammen und adoptierten einen Knaben und ein Mädchen, mit dem Ziel, dass diese unter derselben Art von ehelicher Verbindung ihre Nachfolger sein würden. Starb eines der Kinder vorzeitig, wurde zum Ersatz ein anderes aufgenommen, immer unter Wahrung der Bestimmung, dass den zweien in der Gemeinschaft des betreffenden Hauses zwei Wesen verschiedenen Geschlechts nachrückten. utrolibet quippe parente defuncto uno remanenti usque ad eius quoque obitum filii serviebant; post cuius mortem etiam ipsi puerum et puellam similiter adoptabant. Starb eine der beiden erwachsenen Personen, so waren die Kinder der überlebenden zu Dienst verpflichtet, bis auch sie verschied. War sie gestorben, adoptierte nun das junge Paar seinerseits ganz so einen Knaben und ein Mädchen. nec umquam eis defuit, unde adoptarent, generantibus circumquaque vicinis et filios suos inopes ad spem hereditatis alienae libenter dantibus. haer. 87 (428-429) Dabei waren sie nie in Verlegenheit, woher sie Kinder beziehen könnten, da die Nachbarn in der Runde immer welche hervorbrachten und ihre mittellosen Kinder mit der Aussicht auf ein fremdes Erbe gerne abtraten. > Bavel, Women; Borresen; Brown, Keuschheit; Clark; Rist, Thought 112ff; Soennecken <?page no="243"?> 243 Kreisen um Gott W 25 Das Böse omnis natura, quae minus bona fieri potest, bona est jedes Wesen, das weniger gut werden kann, ist gut lib. arb. 3,126 (391-395) Gut und Böse - zwei Pole? quaedam ergo et facit Deus et ordinat, quaedam vero tantum ordinat. iustos et facit et ordinat, peccatores autem, in quantum peccatores sunt, non facit, sed ordinat tantum. (…) dixit itaque: «fiat lux! », et facta est lux. non dixit ‹fiant tenebrae›, et factae sunt tenebrae. horum ergo unum fecit, alterum non fecit, utrumque tamen ordinavit, cum divisit Deus inter lucem et tenebras. - ita et ipso faciente pulchra sunt singula, et ipso ordinante pulchra sunt omnia. Gen 1,3 gen. ad litt. imperf. 5,25 (393-394) Gewisse Dinge schafft Gott und weist ihnen ihren Platz zu, gewissen dagegen weist er nur ihren Platz zu. Die Gerechten schafft er und weist ihnen ihren Platz zu; die Sünder dagegen schafft er, insoweit sie Sünder sind, nicht, sondern weist ihnen nur ihren Platz zu. (…) Daher sprach er: «Es werde Licht! » Und es ward Licht. Er sagte nicht <zudem noch>: ‹Es werde Finsternis! › Und es ward Finsternis. Das eine der beiden schuf Gott, das andere schuf er nicht, wies aber beiden ihren Platz zu, als er Licht und Finsternis schied. - Wenn Gott die Dinge schafft, sind sie einzeln schön; wenn er den Platz zuweist, sind alle zusammen schön. Gott sagte: Es werde Licht! , nicht auch noch: Es werde Finsternis! - eine wunderschöne Frucht der Meditation des dritten Verses der Genesis! Offenbar herrscht im Bereich von Gut und Böse eine grundlegende Asymmetrie, kein Macht-Gleichgewicht, wie dies die Manichäer wollten und, unter deren Einfluss, während langer Jahre (conf. 5,6,10) auch Augustin. - Es gilt also, Ursache und Gewicht von Gut und von Böse erst noch zu entdecken. <?page no="244"?> Kreisen um Gott 244 bona est terra altitudine montium et temperamento collium et planitie camporum, et bonum praedium amoenum ac fertile, et bona domus paribus membris disposita et ampla et lucida, et bona animalia animata corpora, et bonus aer modestus et salubris, et bonus cibus suavis atque aptus valetudini, et bona valetudo sine doloribus et lassitudine, et bona facies hominis dimensa pariliter et affecta hilariter et luculente colorata, et bonus animus amici consensionis dulcedine et amoris fide, (…). Gut ist die Erde in der Höhe ihrer Berge und der Sanftheit ihrer Hügel und der Fläche ihrer Felder, und gut ist ein Landgut, lieblich und fruchtbar, und gut ist ein Haus, gleichmässig gegliedert und weit und hell, und gut sind lebendige Wesen, beseelte Körper, und gut ist die Luft, lind und zuträglich, und gut ist Speise, bekömmlich und stärkend, und gut ist Gesundheit ohne Schmerz und Ermattung, und gut das Angesicht eines Menschen, gleichmässig geformt und heiter gestimmt und schimmernder Tönung, und gut ist die Gesinnung eines Freundes, wohltuend im Einverständnis und verlässlich in der Zuneigung, (…). Der Satzbau hält sich an das einfachst Mögliche in seinem bescheidenen Nebeneinander sowohl der einzelnen bona (und gut ist… und gut ist…) wie auch von deren Attributen oder Aspekten (und… und…): alles ist gut… quid plura et plura ‹bonum hoc et bonum illud›? tolle ‹hoc› et ‹illud›, et vide ipsum bonum, si potes. (…) ipsum bonum. quaerendum enim bonum animae, non, cui supervolitet iudicando, sed, cui haereat amando, et quid hoc nisi deus? non bonus animus aut bonus angelus aut bonum caelum, sed bonum bonum. trin. 8,3,4 (399-419) Wozu mehr und immer mehr ‹gut ist das und gut ist jenes›? Streich ‹das› und ‹jenes› und schau das Gute selbst, wenn du kannst. (…) das Gute selbst. Das Gut der Seele gilt es zu suchen, nicht das, welches sie im Urteilen überfliegt, dem sie vielmehr in Liebe anhangen kann, und was ist das wenn nicht Gott? Nicht die gute Gesinnung oder der gute Engel oder der gute Himmel, sondern das gute Gut. Ist alles gut? Rein gut ist allein das bonum bonum, die Ursache für alle andern bona. Diese werden stets unter einem besonderen (hier positiv gewählten) Aspekt aufgerufen, was daran erinnert, dass auch andere Aspekte denkbar sind. - Die Ursache des Guten scheint entdeckt; wo aber ist die Ursache des Bösen? Wo ist ‹das Böse selbst›? <?page no="245"?> W 25 Das Böse 245 omnis ergo natura bonum est, magnum, si corrumpi non potest, parvum, si potest; negari tamen bonum esse, nisi stulte atque imperite, prorsus non potest. quae si corruptione consumitur, nec ipsa corruptio remanebit, nulla, ubi esse possit, subsistente natura. ac per hoc nullum est, quod dicitur malum, si nullum sit bonum. Jedes Bestehende / Wesen also ist ein Gut - ein grosses, wenn es nicht geschädigt werden kann, ein kleines, wenn es das kann. Behaupten aber, dass es dann kein Gut sei, kann man wahrhaftig nur aus Torheit und mangelnder Sachkunde. Wenn ein Wesen durch Schädigung aufgezehrt wird, bleibt auch die Schädigung nicht bestehen; denn es gibt kein Wesen mehr, worauf sie weiter dasein könnte. Und deshalb gibt es, wenn kein Gut vorhanden ist, nichts, was man als Böses / Schlechtes bezeichnen könnte. sed bonum omni malo carens integrum bonum est. cui vero inest malum, vitiatum vel vitiosum bonum est; nec malum unquam potest esse ullum, ubi est bonum nullum. Ein Gut, das gar kein Böses / Schlechtes an sich hat, ist ein unversehrtes, vollkommenes Gut. Eines hingegen, dem solches innewohnt, ist ein geschädigtes oder schadhaftes Gut. Niemals aber kann ein Böses / Schlechtes bestehen, wo kein Gut vorhanden ist. unde res mira conficitur, ut (quia omnis natura, in quantum natura est, bonum est) nihil aliud dici videatur (cum vitiosa natura mala esse natura dicitur) nisi malum esse, quod bonum est, nec malum esse, nisi quod bonum est! quoniam omnis natura bonum est, nec res aliqua mala esset, si res ipsa, quae mala est, natura non esset. non igitur potest esse malum, nisi aliquod bonum! vgl. 1 Tim 4,4 omnis creatura dei bona. enchir. 4,12f (421-422) Daraus ergibt sich die verwunderliche Folgerung, dass (weil jedes Wesen, insoweit es Wesen ist, ein Gut ist) man offensichtlich nichts anderes sagen kann als (weil ein schadhaftes Wesen ein böses / schlechtes Wesen ist), böse / schlecht sei, was gut ist, und böse / schlecht sei ausschliesslich, was gut ist! Denn jedes Wesen ist ein Gut, und kein Ding könnte böse / schlecht sein, wenn das Ding, welches böse / schlecht ist, nicht ein Wesen wäre. Böse / schlecht kann also nur etwas Gutes sein! Kurzfassung: mali enim nulla natura est; sed amissio boni mali nomen accepit. civ. 11,9 (vor 420) Das Böse hat nämlich keinen eigenen Bestand, kein eigenes Sein; vielmehr hat der Verlust an Gutem den Namen ‹das Böse› erhalten. <?page no="246"?> Kreisen um Gott 246 Ein Beispiel: si homo aliquod bonum est, quia natura est, quid est malus homo, nisi malum bonum? tamen, cum duo ista discernimus, invenimus nec ideo malum, quia homo est, nec ideo bonum, quia iniquus est; sed bonum, quia homo, malum, quia iniquus. (…) omnis itaque natura, etiamsi vitiosa est, in quantum natura est, bona est, in quantum vitiosa est, mala est. enchir. 4,13 (421-422) Wenn der Mensch ein Gut ist, da er ein Wesen ist, was ist dann ein schlechter Mensch, wenn nicht ein schlechtes Gut? Wenn wir nun diese beiden voneinander scheiden, finden wir, dass er nicht deshalb schlecht ist, weil er Mensch ist, und auch nicht gut, weil er ungerecht ist, sondern gut, weil Mensch, schlecht, weil ungerecht. (…) Jedes Wesen also, auch ein mangelhaftes, ist, insoweit es Wesen ist, gut, insoweit es mangelhaft ist, schlecht. ‹Das Böse selbst›, als selbst Bestehendes, als Wesen mit eigenem Bestand gibt es somit nicht, und die Konzeption einer Welt als Kampfplatz zweier rivalisierender Mächte erweist sich als unhaltbar. - Wie aber erklärt sich die Schädigung der Wesen, «der Verlust an Gutem» (amissio boni, privatio boni, oft corruptio boni), wenn doch ihr Schöpfer bonum bonum, «das gute Gut» ist? primo enim brevissime responderi potest quaerentibus, unde corruptio est, cum dicitur: ex eo, quod hae naturae, quae corrumpi possunt, non de deo genitae, sed ab illo de nihilo factae sunt. 2 Makk 7,28 c. epist. fund. 36 (396) Zuerst kann man, wenn Leute fragen, woher die Schädigung kommt, ganz kurz antworten, indem man sagt: Von daher, dass die Wesen, die beschädigt werden können, nicht aus Gott entstanden, sondern von ihm aus dem Nichts geschaffen sind. Ein Wesen, entstanden ‹aus Gott›, de deo, besässe, als göttliche Substanz, unversehrbares Gutsein, was ein Wesen, nur geschaffen ‹von Gott›, ab deo, nicht besitzen kann. Wer bedenkt, dass Gott die Wesen aus dem Nichts geschaffen hat, verwundere sich, dass sie immerhin die Würde des Gutseins erreichen! - Augustins Kürzest-Formulierungen helfen den Gedanken befestigen: ut natura sit, ex eo habet, quod a deo facta est; ut autem ab eo, quod est, deficiat, ex hoc, quod de nihilo facta est. civ. 14,13 (vor 420) Dass <das Bestehende> ein Wesen ist, hat es davon her, dass es von Gott geschaffen ist; dass es aber von dem, was es ist, absinken kann, hat es davon her, dass es aus dem Nichts geschaffen ist. <?page no="247"?> W 25 Das Böse 247 bona mutabilia propterea bona sunt, quoniam a summo bono facta sunt; propterea mutabilia, quia non de ipso, sed de nihilo facta sunt. c. adv. leg. 1,6,8 (419-420) Die veränderlichen Güter sind deshalb gut, weil sie vom höchsten Gut geschaffen sind; veränderlich sind sie deshalb, weil sie nicht aus ihm, sondern aus dem Nichts geschaffen sind. Mit dem Bösen / Schlechten muss also auf der Ebene der geschaffenen Wesen und Dinge gerechnet werden. - Wie aber im Alltag mit ihm zurande kommen? Wie erklärt sich beispielsweise, dass von Gütern oft Leute überhäuft werden, die diese am wenigsten verdienen, dass «Böse blühen und Gute sich plagen» (in psalm. 91,8): ut mali floreant et boni laborent? Der Zwang zur Rechtfertigung Gottes nescimus enim, quo iudicio dei bonus ille sit pauper, malus ille sit dives; iste gaudeat, quem pro suis perditis moribus cruciari debuisse maeroribus arbitramur, contristetur ille, quem vita laudabilis gaudere debuisse persuadet; Wir wissen nicht, kraft welcher Entscheidung Gottes jener Gute arm und jener Schlechte reich ist; warum dieser in Freuden lebt, der nach unserem Dafürhalten für seine verworfene Lebensart von Betrübnis gequält werden sollte, und jener tiefe Trauer tragen muss, den sein vorbildliches Leben nach unserer Überzeugung zur Freude bestimmen sollte; exeat de iudicio non solum inultus, verum etiam damnatus innocens, aut iniquitate iudicis pressus aut falsis obrutus testimoniis, e contrario scelestus adversarius eius non solum inpunitus, verum etiam vindicatus insultet; warum einer nicht nur ungerächt aus dem Gericht kommt, sondern, obschon unschuldig, gar als Verurteilter, benachteiligt von einem ungerechten Richter oder unter falschen Zeugnissen begraben, während umgekehrt sein krimineller Gegner nicht nur ungestraft, sondern sogar gerechtfertigt ihn frohlockend verhöhnt; impius optime valeat, pius languore tabescat; latrocinentur sanissimi iuvenes et, qui nec verbo quemquam laedere potuerunt, diversa morborum atrocitate affligantur infantes; warum es dem Gottlosen herrlich geht, der Fromme aber sich in Entkräftung verzehrt; warum jugendkräftige Männer Räubereien begehen dürfen und kleine Kinder, die noch mit keinem Wort jemanden haben verletzen können, an allen möglichen schrecklichen Krankheiten darnieder liegen; <?page no="248"?> Kreisen um Gott 248 utilis rebus humanis inmatura morte rapiatur et, qui videtur nec nasci debuisse, diutissime insuper vivat; plenus criminibus sublimetur honoribus, et hominem sine querella tenebrae ignobilitatis abscondant, et cetera huius modi. quae quis colligit, quis enumerat? warum einer, der für die Menschheit wertvoll wäre, frühzeitig vom Tod hingerafft wird, und einer, der, wie es scheint, nicht hätte geboren werden dürfen, eine Ewigkeit länger lebt; warum ein grundverderbter Mensch von Ehren in den Himmel gehoben wird und einen Untadeligen das Düster der Unbekanntheit zudeckt - und alles andere von der Art: Wer könnte das alles fassen, wer es aufzählen! quae si haberent in ipsa velut absurditate constantiam, ut in hac vita (…) non nisi mali adipiscerentur transitoria bona ista atque terrena, nec nisi boni talia paterentur mala, posset hoc referri ad iudicium iustum dei sive etiam benignum, ut, qui non erant adsecuturi bona aeterna, quae faciunt beatos, temporalibus vel deciperentur pro malitia sua vel pro dei misericordia consolarentur bonis, et, qui non erant passuri aeterna tormenta, temporalibus vel pro suis quibuscumque et quantuliscumque peccatis affligerentur vel propter implendas virtutes exercerentur malis. Wenn man in diesem eigentlichen Missklang wenigstens Konsequenz feststellen könnte, so dass während des Lebens hier (…) allein die Bösen die vergehenden, irdischen Güter erlangten und allein die Guten solche Übel zu erdulden hätten, dann könnte man dies auf eine gerechte oder gar gütige Entscheidung Gottes zurückführen, nämlich dass, wer die ewigen Güter, die selig machen, nicht erhalten soll, durch zeitliche Güter entsprechend seiner Bosheit irregeleitet oder dem Mitleid Gottes entsprechend getröstet werden soll, und dass anderseits, wer die ewigen Qualen nicht erleiden soll, entsprechend der Art und Anzahl seiner Sünden heimgesucht und zur Vervollkommnung seiner Tugenden durch Übel trainiert werden soll. nunc vero, quando non solum in malo sunt boni et in bono mali, quod videtur iniustum, verum etiam plerumque et malis mala eveniunt et bonis bona proveniunt, magis inscrutabilia fiunt iudicia dei et investigabiles viae eius. So aber, da nicht nur die Guten übel dran sind und die Bösen es gut haben (was ungerecht scheint), sondern sehr oft auch Bösen Schlimmes zustösst und Guten Gutes zuteil wird, werden die Entscheidungen Gottes erst recht unerforschlich und unaufspürbar seine Wege. quamvis ergo nesciamus, quo iudicio deus ista vel faciat vel fieri sinat, (…) salubriter tamen discimus non magnipendere seu bona seu mala, quae videmus esse bonis malisque communia, et illa bona quaerere, quae bonorum, atque illa mala maxime fugere, quae propria sunt malorum. civ. 20,2 (vor 427) Obwohl wir also nicht wissen, aufgrund welcher Entscheidung Gott dies tut oder geschehen lässt, (…) lernen wir doch auf heilsame Weise, Güter oder Übel, die wir bei Guten wie Bösen sehen, nicht hoch zu achten und dafür jene Güter zu erstreben, die allein den Guten, und jene Übel unbedingt zu fliehen, die den Bösen eigen sind. <?page no="249"?> W 25 Das Böse 249 Trotz empörender Ungerechtigkeit in der Welt wird Gott gerechtfertigt: Der Mensch lerne erstens Demut vor dem Unerforschlichen, und zweitens lerne er, den Wert dessen, was ihn umgibt, nach dem richtigen Kriterium einzuschätzen! - Der Predigt-Stil erlaubt, Gott persönlich und in gebotener Aggressivität seine Sache vertreten zu lassen: «quid est magnum, quod a me petis? » dicit tibi deus tuus. «non vides, quibus ea dederim? non vides, qualibus ea dederim? si magnum bonum esset, quod a me petis, haberet hoc latro? haberet hoc perfidus? haberet hoc blasphemator meus? haberet hoc infamis mimus? haberet meretrix impudica? hi omnes haberent aurum, si magnum bonum esset aurum? » serm. 311,15,13 (401-405) «Was ist das Grosses, was du von mir erbittest? » sagt dein Gott zu dir. «Siehst du denn nicht, wem ich das gegeben habe? Siehst du nicht, was das für Leute sind? Wenn das, was du von mir erbittest, ein grosses Gut wäre, hätte es dann der Räuber? Hätte es der Wortbrüchige? Hätte es, der meinen Namen lästert? Hätte es der ehrlose Possenreisser? Hätte es in ihrer Schamlosigkeit die Hure? Hätten all die Gold, wenn Gold ein grosses Gut wäre? ! » Die Hörer ducken sich. - Gegenüber seinem unerbittlichsten Gegner, Julian von Aeclanum, fasst Augustin den gleichen Gedanken in Worte aus Granit: exaudit propitius, non exaudit iratus, et rursus non exaudit propitius, exaudit iratus. parcit propitius, non parcit iratus, et rursus non parcit propitius, parcit iratus. atque in his omnibus bonus perseverat et iustus. sed ad haec quis idoneus? c. Iulian. 5,4,15 (421-422) E R erhört: gnädig; - erhört nicht: zornig. Und wieder erhört ER nicht: gnädig; - erhört: zornig. E R verschont: gnädig; - verschont nicht: zornig. Und wieder verschont ER nicht: gnädig; - verschont: zornig. Und in all dem ist und bleibt ER gut und gerecht. Doch wer ist dem gewachsen? Zeilen des Gottes- und Realitäts-Erfahrenen. Wieviel heimliche Angst, ja unterdrücktes Grausen spricht aus diesem Bild eines unerreichbaren, unberechenbaren Tyrannen! Und wieviel Selbstvergewaltigung erst ermöglicht die Behauptung, dieser sei «gut und gerecht»! <?page no="250"?> Kreisen um Gott 250 Schon früher, im Angesicht der Katastrophe der Eroberung Roms, formt sich ein ähnliches Gottesbild: et mirantur homines - et utinam mirentur et non etiam blasphement! -, quando corripit deus genus humanum et flagellis piae castigationis exagitat, exercens ante iudicium disciplinam et plerumque non eligens, quem flagellet, nolens invenire, quem damnet. urb. exc. 2,1 (410) Und da wundern sich die Menschen - möchten sie sich nur verwundern und nicht auch noch lästern! -, wenn Gott das Menschengeschlecht hart anpackt und es mit Geisseln gütiger Züchtigung aufjagt und so noch vor dem Jüngsten Gericht Strenge übt und meist nicht aussucht, wen die Geissel treffen soll; denn er will <dannzumal> keinen finden, den er verdammen muss. Schon jetzt blind dreinzuschlagen vereinfacht das Geschäft am Jüngsten Tag! Wozu also die Guten vorgängig noch aussortieren? In diese Rechtfertigung Gottes mischt sich Zynismus. - Es ist das unausweichliche Schicksal des christlichen Theologen, dass ihn seine eigene Gottes-Definition (das allmächtige und dennoch makellos gute Wesen) angesichts dessen, was er im Dasein vorfindet, ununterbrochen zwingt, seinen Gott zu rechtfertigen. Der sicherste Weg dazu besteht darin, beim Aufbau des makellosen Wesens auch und gerade das Böse zu einer positiven Stütze im Gottesbild zu machen: ecce quomodo probatur deum uti cordibus etiam malorum ad laudem atque adiumentum bonorum. sic usus est Iuda tradente Christum, sic usus est et Iudaeis crucifigentibus Christum. et quanta inde bona praestitit populis credituris! grat. 20,41 (426-427) Sieh, auf welche Weise sich beweisen lässt, dass Gott sich der Herzen sogar der Bösen zu Lob und Hilfe der Guten bedient: So hat er sich des Judas als des Verräters Christi bedient; so auch der Juden, Christus ans Kreuz zu bringen. Und wieviel Gutes hat dies den Völkern, die zum Glauben kommen sollten, gebracht! Unbotmässige Anfrage: Und wenn sich der Allmächtige zur Ermöglichung von «soviel Gutem» ganz einfach des Guten bedient hätte? - Augustin vertritt (mehrfach) die Meinung, Gott sei besser mit dem Bösen als ohne es; erst so sei er der ideale Gott: deus vero tam bonus est, ut malis quoque utatur bene; quae omnipotens esse non sineret, si eis bene uti summa sua bonitate non posset, et hinc potius impotens appareret et minus bonus, non valendo bene uti etiam malo. c. Iulian. op. imperf. 5,60 429-430) Gott ist wahrhaftig derart gut, dass er auch das Böse gut gebraucht. Allmächtig, wie er ist, liesse er das Böse ja nicht zu, wenn er in seiner reinen Gutheit sich dessen nicht im guten Sinn bedienen könnte, und er wäre, wenn er nicht stark genug wäre, auch das Böse gut zu gebrauchen, vielmehr offensichtlich ohnmächtig und weniger gut. <?page no="251"?> W 25 Das Böse 251 Schon bei der Schaffung des ersten Menschen hatte sich Gott in diesem Sinn bewährt: etiam primum hominem deus in ea salute, in qua conditus erat, custodire voluisset eumque opportuno tempore post genitos filios sine interpositione mortis ad meliora perducere, ubi iam non solum peccatum non committere, sed nec voluntatem posset habere peccandi -, si ad permanendum sine peccato, sicut factus erat, perpetuam voluntatem habiturum esse praescisset. quia vero eum male usurum libero arbitrio, hoc est, peccaturum esse praesciebat, ad hoc potius praeparavit voluntatem suam, ut bene ipse faceret etiam de male faciente ac sic hominis voluntate mala non evacuaretur, sed nihilo minus impleretur omnipotentis bona. enchir. 28,104 (421-422) Auch den ersten Menschen hätte Gott in dem Heilszustand, in dem er ihn geschaffen hatte, bewahren und ihn im rechten Zeitpunkt, nach Zeugung von Kindern, ohne den Tod dazwischen zu schieben, ins Bessere überleiten wollen, wo der Mensch nicht nur keine Sünde hätte begehen, sondern nicht einmal mehr den Willen zur Sünde hätte besitzen können -, wenn sein Vorherwissen ihm gesagt hätte, dass der Mensch den unabänderlichen Willen haben würde, sündelos, so wie er geschaffen war, zu bleiben. Weil aber Gott vorauswusste, dass der Mensch seinen freien Willen im bösen Sinn gebrauchen würde, das heisst, sich versündigen würde, rüstete er im voraus seinen eigenen Willen vielmehr darauf hin zu, dass er selbst sogar aus dem Sünder Gutes schüfe und so der gute Wille des Allmächtigen nicht etwa durch den bösen Willen des Menschen getilgt, sondern erst recht erfüllt würde. Tanz auf dem Hochseil! - Hätte Gott vorhergewusst, dass ihm einst jemand seine eigenen Gedanken derart exakt vorrechnen würde, er hätte Adam gewiss mit dem besten aller möglichen, dem unabänderlich guten Willen ausgestattet. - Um wieviel weiser ist das folgende, erheblich früher Gedachte: si ergo quaeritur, cur Deus temptari permiserit hominem, quem temptatori consensurum esse praesciebat -: altitudinem quidem consilii eius penetrare non possum et longe supra vires meas hoc esse confiteor. gen. ad litt. 11,4,6 (401-414) Wenn man also die Frage stellt, warum Gott es zugelassen hat, dass der Mensch in Versuchung geführt werde, obwohl er vorherwusste, dass er dem Versucher erliegen werde -: in die Tiefe dieses Ratschlusses kann ich nicht durchdringen, und ich gestehe, dass dies weit über meine Kräfte geht. Hier hat das schlichte Eingeständnis der eigenen Schwäche den Zwang zur Rechtfertigung Gottes zerbrochen. <?page no="252"?> Kreisen um Gott 252 W 26 Teil und Ganzes Wer sich in einer monotheistischen Tradition bewegt, in einer Welt, die den E INEN , Vollkommenen, Ganzen kennt, wird bei jeder Rückkehr aus der Betrachtung seines Gottes schmerzhaft auf die Bruchstückhaftigkeit und Unvollkommenheit seiner eigenen Lebenswelt verwiesen. Augustin hat diese Spannung früh schon erlebt, erlitten und bedacht. Mit 32 Jahren schreibt er (wir sind aufgefordert, uns eine Figur vom Wuchs etwa einer Ameise vorzustellen): si quis tam minutum cerneret, ut in vermiculato pavimento nihil ultra unius tessellae modulum acies eius valeret ambire, vituperaret artificem velut ordinationis et compositionis ignarum, eo quod varietatem lapillorum perturbatum putaret, a quo illa emblemata in unius pulchritudinis faciem congruentia simul cerni collustrarique non possent. - nihil enim aliud minus eruditis hominibus accidit, qui universam rerum coaptationem atque concentum imbecilla mente complecti et considerare non valentes, si quid eos offenderit - quia suae cogitationi magnum est -, magnam putant rebus inhaerere foeditatem. ord. 1,1,2 (386) Wenn jemand derart winzigsichtig wäre, dass auf einem Mosaikfussboden sein Blick nicht über das kleine Mass eines einzigen Mosaiksteins hinausreichte, so würde er den Künstler tadeln: der habe nichts von schöner Anordnung und Fügung verstanden. Denn, wem sich die verschieden farbigen Mosaikplättchen nicht zum Bild einer einzigen Schönheit zusammenschlössen und von ihm gleichzeitig erkannt und betrachtet werden könnten, der würde meinen, das Prinzip bunter Abwechslung der Steinchen sei über den Haufen geworfen. - Genau das passiert Menschen mit engem Horizont: Sie sind unfähig, mit ihrem schwachen Geist das Gesamtgefüge der Dinge und deren Zusammenklang zu umfassen und zu wägen. Wenn sie dann an etwas Anstoss nehmen, sind sie daher, allein weil es für ihre Fassungskraft zu gross ist, der Meinung, den Dingen wohne grosse Hässlichkeit inne. Wer ist diese Gestalt mit der winzigen Reichweite des Blicks? - Beschrieben wird die alltägliche Befindlichkeit des Menschen: Er ist ein Teil-Seher in einer Welt des Teilartigen. - Jahrzehnte später, begrifflich gefasst: qui totum inspicere non potest, tamquam deformitate partis offenditur, quoniam, cui congruat et quo referatur, ignorat. civ. 16,8 (nach 419) Wer nicht imstande ist, auf das Ganze zu sehen, stösst sich an der vermeintlichen Hässlichkeit des Teils, weil er nicht weiss, womit der Teil zusammenstimmt und worauf er sich bezieht. <?page no="253"?> W 26 Teil und Ganzes 253 Es ist also schmerzhaft, auf der Ebene der Teile zu leben - und doch tun wir es: multi temporalia diligunt (…) atque in ipsa dilectione temporalium nolunt transire, quod amant, et tam sunt absurdi, quam si quisquam in recitatione praeclari carminis unam aliquam syllabam solam perpetuo vellet audire. - «sed tales auditores carminum non inveniuntur! » - talibus autem rerum existimatoribus plena sunt omnia, Viele lieben die zeitlichen Dinge (…) und in dieser Liebe zum Zeitlichen wünschen sie, was sie lieben, möge nicht vorübergehen, und sie sind genauso unvernünftig, wie wenn jemand beim Vortrag eines herrlichen Gedichts immer nur eine einzige Silbe hören wollte. - «Aber solche Hörer von Gedichten lassen sich nicht finden! » - Ja, doch von solchen Liebhabern der Dinge wimmelt die Welt! propterea quia nemo est, qui non facile non modo totum versum, sed etiam totum carmen possit audire; totum autem ordinem saeculorum sentire nullus hominum potest. huc accedit, quod carminis non sumus partes; saeculorum vero partes damnatione facti sumus. illud ergo canitur sub iudicio nostro, ista peraguntur de labore nostro. nulli autem victo ludi agonistici placent; sed tamen, cum eius dedecore, decori sunt. vera relig. 116ff (389-391) Denn es gibt niemanden, der nicht mit Leichtigkeit nicht nur einen ganzen Vers, sondern auch das Gedicht als ganzes hören und aufnehmen kann; die ganze Folge der Zeiten aber zu erleben ist keinem Menschen möglich. Hinzu kommt, dass wir nicht selber Teile des Gedichts sind; aufgrund der Verstossung <aus dem Paradies> aber sind wir zu Teilen der Zeiten geworden. Jenes also, der Vortrag, ist unserem Richterspruch unterworfen; dieses aber, der Gang der Zeiten, vollzieht sich aus unserer Mühsal. Und keinem, der bei Wettspielen unterlegen ist, gefallen die Spiele, und dennoch sind sie, seine mangelnde Ehre mit eingeschlossen, schön. Wer den Vers oder das Gedicht aufnehmen kann, ist weniger versucht, sich sein Urteil an einer Einzelheit zu bilden; denn er hat unmittelbaren Zugang zum Ganzen. Über «unser» Stück des Weltlaufs dagegen sehen wir, daran gefesselt, nicht hinaus und neigen deshalb zu kurzsichtigen Fehlurteilen. <?page no="254"?> Kreisen um Gott 254 Das Leiden am Teil hat seinen Grund im Bedürfnis der Seele nach dem Ganzen: signum si quis audiat incognitum veluti verbi alicuius sonum, quo, quid significetur, ignorat, cupit scire, quidnam sit, id est, sonus ille cui rei commemorandae institutus sit - veluti audiat, cum dicitur ‹temetum› et ignorans, quid sit, requirat. iam itaque oportet, ut noverit signum esse, id est, non esse inanem illam vocem, sed aliquid ea significari. (…) quo igitur amplius notum est, sed non plene notum est, eo cupit animus de illo nosse, quod reliquum est. trin. 10,1,2 (399-419) Wenn jemand ein unbekanntes Zeichen hört, etwa den Klang irgendeines Wortes, der ihm nicht erlaubt zu erkennen, was er bedeute, so verlangt ihn zu wissen, worum es sich eigentlich handle, das heisst, worauf dieser Klang hinzuweisen da sei - wenn er beispielsweise die Klangfolge ‹temetum› sagen hört und, weil er deren Bedeutung nicht kennt, danach fragt. Allerdings muss er erkannt haben, dass es sich um ein Zeichen handelt, dass also nicht nur ein leerer Schall vorliegt, dass vielmehr damit etwas bedeutet werde. (…) Je mehr unser Geist etwas kennt, es aber noch nicht ganz kennt, umso mehr verlangt ihn danach, zu kennen, was noch aussteht. Die Seele sucht das Ganze. - In der Liebe ist die Seele ganzheitssichtig, imstande, Ganzheit zu leben: non ergo doleat aliquis non sibi esse concessum, quod videt alii concessum. habeat caritatem, non invideat habenti, et cum illo habet, quod non habet! quidquid enim habuerit frater meus, si non invidero et amavero, meum est. in me non habeo, sed in illo habeo. (…) sinistra manus, verbi gratia, in corpore habet anulum, et dextra non habet. numquid illa sine ornamento remansit? respice singulas manus et videbis unam habere, aliam non habere. respice compagem corporis, cui haerent ambae manus, et vide eam, quae non habet, in illa habere, quae habet. serm. Denis 19,4f (404) Niemand soll sich darüber grämen, dass ihm nicht zugestanden worden ist, was er einem andern zugestanden sieht. Er halte sich an die Liebe, beneide nicht den Reicheren - und mit diesem zusammen besitzt er, was er nicht besitzt! Denn, was immer mein Bruder besitzt - wenn ich es ihm nicht neide und ihn liebe, so ist es auch mein. Zwar nicht in mir besitze ich es, aber in ihm besitze ich es. (…) Nimm als Beispiel am Körper die linke Hand: Sie trägt einen Ring, und die rechte hat keinen. Ist diese nun ohne Schmuck? Schau auf die Hände als einzelne, und du wirst sehen, dass die eine geschmückt ist, die andere nicht. Schau auf das Gesamt-Gefüge des Körpers mit seinen beiden Händen, und sieh: Die Hand, die keinen Schmuck trägt, trägt einen Schmuck: in der Hand, die einen trägt. Grosses Gewicht bei der Formung des Motivs ‹Teil - Ganzes› kommt einer Passage aus dem alttestamentlichen Schöpfungsbericht zu, einer Stelle, an der Augustin immer wieder verweilt hat: <?page no="255"?> W 26 Teil und Ganzes 255 septiens numeravi scriptum esse te vidisse, quia bonum est, quod fecisti, et hoc octavum est, quia vidisti omnia, quae fecisti, et ecce non solum bona, sed etiam valde bona, tamquam simul omnia. nam singula tantum bona erant, simul autem omnia et bona et valde. - hoc dicunt etiam quaeque pulchra corpora, quia longe multo pulchrius est corpus, quod ex membris pulchris omnibus constat, quam ipsa membra singula, quorum ordinatissimo conventu completur universum, quamvis et illa etiam singillatim pulchra sint. Gen 1,4ff conf. 13,28,43 (397-401) Siebenmal, habe ich gezählt, steht geschrieben, DU habest gesehen, dass gut ist, was du geschaffen hast, und dies ist das achte Mal: du habest alles Geschaffene angesehen, und siehe: nicht einfach gut ist es, sondern sogar sehr gut - weil es eben alles zusammen ist. Das Einzelne nämlich war nur gut, alles zusammen aber sowohl gut wie sehr. - Dasselbe verkünden auch alle schönen Körper: dass ein Körper, der aus lauter schönen Gliedern besteht, bei weitem viel schöner ist als seine Glieder einzeln, durch deren harmonische Vereinigung er als ganzer erst vollendet wird - mögen auch die Glieder einzeln genommen noch so schön sein. Und wenn es Glieder gibt, die weder schön noch gut sind? in cantando interpositiones silentiorum certis moderatisque intervallis quamvis vocum privationes sint, bene tamen ordinantur ab his, qui cantare sciunt, et suavitati universae cantilenae aliquid conferunt - et umbrae in picturis eminentiora quaeque distingunt ac non specie, sed ordine placent. gen. ad litt. imperf. 5,25 (393-394) Obschon im Verlauf eines Gesangs die Pausen, in feststehenden, bewusst gesetzten Abständen gehalten, ein Ausbleiben der Töne bewirken, werden sie dennoch von denen, die die Gesangskunst beherrschen, geschickt nach bestimmten Regeln verwendet und tragen so etwas zur Schönheit des gesamten Gesangs bei - und auf Bildern heben Schatten die wichtigen Partien hervor und vermögen zwar nicht um ihretwillen, aber im Rahmen des geordneten Ganzen zu gefallen. sicut pictura cum colore nigro loco suo posito, ita universitas rerum - si quis possit intueri! - etiam cum peccatoribus pulchra est, quamvis per se ipsos consideratos sua deformitas turpet. civ. 11,23 (vor 420) Grad wie ein Bild zusammen mit der schwarzen Farbe am richtigen Ort, so ist das Insgesamt der Dinge - wenn man zu sehen weiss! - auch zusammen mit den Sündern schön, mag auch deren Missgestalt sie, für sich allein betrachtet, entstellen. Und, im Predigt-Stil ganz ins Personale gefasst, im Gewand des schlagenden Paradoxes: pictor novit, ubi ponat nigrum colorem, ut sit decora pictura - et deus nescit, ubi ponat peccatorem, ut sit ordinata creatura? serm. 301,4 (417) Der Maler weiss, wo er das Schwarz setzen muss, sodass das Bild schön ist - und Gott wüsste nicht, wo er den Sünder placieren soll, sodass die Schöpfung schön ist? <?page no="256"?> Kreisen um Gott 256 W 27 Christus als rhetorische Herausforderung ex incredibilibus enim constat fides nostra denn unser Glaube besteht aus lauter Unglaublichkeiten serm. Mai 22,1 (? ) Der seltsame Kaufherr in terris istis, in isto saeculo maligno quid abundat nisi nasci, laborare et mori? discutite res humanas; convincite me, si mentior. attendite omnes homines, utrum ad aliud sint in hoc saeculo quam nasci, laborare et mori. haec sunt mercimonia regionis nostrae; ista hic abundant. ad tales merces M ERCATOR ille descendit. et quoniam omnis mercator dat et accipit (dat, quod habet, et accipit, quod non habet, quando aliquid comparat, dat pecuniam et accipit, quod emit), etiam Christus in ista mercatura dedit et accepit. sed quid accepit? quod hic abundat: nasci, laborare et mori. et quid dedit? renasci, resurgere et in aeternum regnare! serm. 130,2 (nach 400) Was begegnet uns hier auf Erden im Überfluss, in diesen bösen Zeiten? Geburt, Mühsal und Tod! Wägt die menschlichen Verhältnisse; widerlegt mich, wenn ich nicht die Wahrheit sage! Stellt euch alle Menschen vor Augen: Sind sie zu etwas anderem in dieser Welt als, geboren zu werden, sich abzumühen und zu sterben? Das ist die Handelsware in unsern Breiten; davon gibts übergenug. Zu solcher Ware ist auch der grosse K AUFMANN zu Markte gekommen. Weil nun jeder Kaufmann gibt und nimmt (gibt, was er hat, und nimmt, was er nicht hat; wenn er etwas kauft, Geld gibt, und nimmt, was er gekauft hat), deshalb hat bei diesem Handel auch Christus gegeben und genommen. Doch, was hat er genommen? Wovon es eben hier übergenug gibt: Geburt, Mühsal und Tod. Und was hat er dafür gegeben? Wiedergeburt, Auferstehung und ewige Herrlichkeit! (…) ecce ergo alius dat hordeum, ut accipiat triticum. postremum alius dat plumbum, ut accipiat argentum; sed multum dat plumbum contra parum argentum. alius dat lanam, ut accipiat vestem - et quis enumerat omnia? tamen nemo dat vitam, ut accipiat mortem! serm. 80,5 (410) (…) und einer gibt Gerste, um Weizen zu bekommen. Endlich noch einer, der Blei gibt, um Silber zu bekommen, allerdings viel Blei gegen recht wenig Silber. Ein anderer gibt Wolle, um ein Kleid zu erhalten - und wer könnte alles aufzählen? Aber niemanden gibt es, der Leben gibt, um Tod zu empfangen! <?page no="257"?> W 27 Christus als rhetorische Herausforderung 257 Der Menschgott Augustin ist nie müde geworden, mit allen ihm zur Verfügung stehenden sprachkünstlerischen Mitteln die Gestalt Christi zu fassen. Ihr Wesen mit den in der Überlieferung angelegten rätselvollen Zügen löst in Augustin eine Fülle von Bildern und Worten aus, die logisches Sprechen überfliegen, es hoch überfliegen sollen. natus de patre sine matre, de matre sine patre; sine matre deus, sine patre homo; sine matre ante tempora, sine patre in fine temporum. in evang. Ioh. 8,7 (414-417) Geboren vom Vater ohne eine Mutter, von der Mutter ohne einen Vater - ohne Mutter ein Gott, ohne Vater ein Mensch - ohne Mutter vor aller Zeit, ohne Vater am Ende aller Zeit. de patre principium vitae, de matre finis mortis. serm. 194,1 (vor 412) Vom Vater Anfang des Lebens, von der Mutter Ende des Todes. Das Gegensatzpaar ‹Leben - Tod› genügt nicht; mithilfe des Zweitmotivs ‹Anfang - Ende› sucht die Sprache die Pole Leben und Tod weitestmöglich auseinander zu stemmen und so ins Extreme zu steigern. Unbegreiflich gross muss sein, der diese äussersten Punkte zugleich umfasst hält. magna igitur misericordia domini nostri Iesu Christi factum esse eum propter nos in tempore, per quem facta sunt tempora; factum esse inter omnia, per quem facta sunt omnia; factum esse, quod fecit. factus est enim, quod fecerat: factus est enim homo, qui hominem fecerat - ne periret, quod fecerat. in evang. Ioh. 31,5 (414-417) Gross ist also das Erbarmen unseres Herrn Jesus Christus, dass er, durch den die Zeiten geworden sind, um unsertwillen in der Zeit geworden ist; unter allem geworden ist, durch den alles geworden ist; zu dem geworden ist, was er hat werden lassen. Denn geworden ist er, was er hatte werden lassen! Er ist ja Mensch geworden, der den Menschen geschaffen hatte - damit nicht vergehe, was er geschaffen hatte. Der Sprecher späht in die Runde: Wieviel darf er seinen Hörern noch zumuten? Die gedanklichen Schritte werden zunehmend kleiner - bis der letzte Satz, fassbar dank dem traditionellen ‹Mensch geworden›, Verstehen und Entspannung bringt. (Christus als Schöpfer des Menschen? Augustin glaubt, das Wort Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich [Gen. 1,26] weise auf Anwesenheit und Teilnahme Christi [und des Heiligen Geistes] am Schöpfungsakt hin - ähnlich Ambrosius u.a.) <?page no="258"?> Kreisen um Gott 258 duas nativitates attendite, fratres, Adam et Christum. duo sunt homines; sed unus ipsorum homohomo, alter ipsorum HOMODEUS . per hominemhominem peccatores sumus; per hominemdeum iustificamur. nativitas illa deiecit ad mortem; ista nativitas erexit ad vitam. nativitas illa trahit secum peccatum; nativitas ista liberat a peccato. in epist. Ioh. 4,11 (407-416) Achtet, liebe Brüder, auf die beiden Geburten, Adam und Christus. Beide sind Menschen; doch der eine von ihnen ist Menschmensch, der andere M ENSCHGOTT . Durch den Menschmenschen sind wir Sünder; durch den Menschgott werden wir gerechtfertigt. Jene Geburt hat uns niedergeworfen zum Tod; diese aufgerichtet zum Leben. Jene Geburt zieht mit sich die Sünde; diese macht frei von der Sünde. In ganz alltäglicher Rede scheint Christus die Richtigkeit des «Namens» ‹Menschgott› zu bestätigen: quid illic dicemus ubi ait: mea doctrina non est mea? quomodo mea, quomodo non mea? non enim dixit: ista doctrina non est mea, sed: mea doctrina non est mea. quam dixit suam, eandem dixit non suam. quomodo istud verum est, nisi secundum aliud suam dixerit, secundum aliud non suam; secundum formam dei suam; secundum formam servi non suam? Joh 7,16 trin. 1,27 (399-419) Wie sollen wir jene Stelle erklären, wo er sagt: Meine Lehre ist nicht meine? In welcher Art meine, in welcher Art nicht meine? Er hat ja nicht gesagt: Diese Lehre ist nicht meine, sondern: Meine Lehre ist nicht meine. Eben die Lehre nennt er die seine, von der er sagt, sie sei nicht die seine! Wie kann das zutreffen, wenn er damit nicht meinte, sein sei die Lehre in einer Hinsicht, nicht sein aber in einer andern; sein bezüglich seiner Gottesgestalt, nicht sein bezüglich seiner Knechtsgestalt. Hätte Augustin auch die zweite Hälfte des Verses Joh 7,16 in seine Darlegungen einbezogen (…sondern dessen, der mich gesandt hat), hätte sich das Menschgott- Wesen allerdings nicht so trefflich paradox herausstellen lassen! - Eher tragfähig wirkt die folgende «Beweis»-Führung: propter quam personam unam ex duabus substantiis divina humanaque constantem aliquando secundum id, quod deus est, loquitur, ut est illud, quod ait ego et pater unum sumus, aliquando secundum id, quod homo est, sicuti est illud: quoniam pater maior me est. Joh 10,30; Joh 14,28 in evang. Ioh. 99,1 (418) Weil <Christus> eine einzige Person ist, die aber aus zwei Substanzen, einer göttlichen und einer menschlichen, besteht, spricht er manchmal dem gemäss, dass er Gott ist, wie da, wo er sagt: Ich und der Vater sind eins; manchmal dem gemäss, dass er Mensch ist, wie in dem Wort: Denn der Vater ist grösser als ich. <?page no="259"?> W 27 Christus als rhetorische Herausforderung 259 Insofern Christus in Gottesgestalt wie auch in Menschengestalt immer er selbst ist, darf sich der Meister der Rede auf den höchst möglichen Gipfel der Paradoxie tragen lassen: quis non intellegat, quod in forma dei etiam ipse se ipso maior est, in forma autem servi etiam se ipso minor est? trin. 1,14 (399-419) Wer könnte nicht einsehen, dass er in der Gottesgestalt auch grösser ist als er selbst, in der Knechtsgestalt dagegen auch geringer ist als er selbst? Die leuchtkräftigsten Texte zu Christus als Mensch und Gott stammen aus der Betrachtung des Jesus-Knäbleins in der Krippe; denn, weil hier der Blick auf winzig Kleines fällt, erhält das gross Gedachte kosmische Dimensionen. Aus einer Weihnachts-Predigt: in praesepi iacet, sed mundum continet; ubera sugit, sed angelos pascit; pannis involvitur, sed immortalitate nos vestit; lactatur, sed adoratur; locum in diversorio non invenit, sed templum sibi in credentium cordibus facit. ut enim fieret fortis infirmitas, infirma facta est fortitudo. serm. 190,4 (391-400) In einer Krippe liegt es, doch die Welt hält es umschlossen; an Brüsten saugt es, doch die Engel nährt es; in Windeln wird es gewikkelt, doch mit Unsterblichkeit kleidet es uns; Milch trinkt es, doch Gebete weckt es; Raum in der Herberge entbehrt es, doch einen Tempel für sich in der Gläubigen Herzen erbaut es. Denn, damit stark würde, was schwach ist, ist schwach geworden, was stark ist. Königs-Waffe Demut Augustin lässt seine Hörer die Spannung zwischen Christi Hoheit und seiner Demut gedrängt erleben, indem er von Tief zu Hoch zu Tief mehrmals umspringt: mitis sum et humilis corde. erubesce deo, humana superbia! verbum dei dicit, deus dicit, unigenitus dicit, altissimus dicit: discite a me, quia mitis sum et humilis corde. tanta altitudo ad humilitatem descendit, et homo se tendit? (…) in principio erat: quid excelsius? verbum caro factum est: quid humilius? imperat mundo: quid excelsius? pendet in ligno: quid humilius? Mt 11,29; Joh 1,1; Joh 1,14 serm. Mai 127,1f (? ) Sanftmütig bin ich und von Herzen demütig. Erröte vor Gott, Hochmut des Menschen! Er spricht ein Wort Gottes, Gott spricht es, der Eingeborene spricht es, der Höchste: Lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. So grosse Erhabenheit steigt zu Demut herab, und der Mensch reckt sich hoch? (…) Im Anfang war: Was ist erhabener? Das Wort ward Fleisch: Was ist demütiger? Er herrscht über die Welt: Was ist erhabener? Er hängt am Holz: Was demütiger? <?page no="260"?> Kreisen um Gott 260 Christus weiss die Demuts-Waffe wohl zu gebrauchen: dominus noster Iesus Christus volens superborum frangere cervices, non quaesivit per oratorem piscatorem; sed de piscatore lucratus est imperatorem. in evang. Ioh. 7,17 (414-417) Da unser Herr Jesus Christus den Nacken der Hochmütigen brechen wollte, suchte er nicht etwa mittels eines Redners einen Fischer, sondern aus einem Fischer gewann er den Kaiser. Und warum nicht umgekehrt, etwa aus dem Kaiser alle Fischer? - Hätte Christus zuerst einen Würdenträger berufen, hätte der gesagt, er sei um seiner Würde, seiner Macht willen berufen worden. «Ein Fischer dagegen kann sich nur Christi rühmen» (serm. 43,6). So gelingt es Christus, echten Menschenwert zu finden. ut enim resurgeres, mortuus es. ut adscenderes, resurrexisti. ut sederes ad dexteram patris, adscendisti. ergo, ut ad dexteram patris sederes, mortuus es! de morte enim resurrectio, de resurrectione adscensio, de adscensione ad dexteram sessio. hoc totum ergo coepit a morte! excellentia claritatis huius principium habet humilitatis! in psalm. 109,11 (412) Um dem Leben wieder zu erstehen, bist du gestorben. Um aufzufahren, bist du wieder erstanden. Um zur Rechten des Vaters zu sitzen, bist du aufgefahren. Also bist du, um zur Rechten des Vaters zu sitzen, gestorben! Aus dem Tod nämlich kam das Wiedererstehen, aus dem Wiedererstehen das Auffahren, aus dem Auffahren das Sitzen zur Rechten. All dies begann also vom Tode! Die Vorzüglichkeit dieser Erhabenheit hat ihren Ursprung in Demut! Zweimal steigt die Vorstellungs-Kette stufenweise zum Höchsten auf, um von dort ins Dunkel des Todes zu stürzen; beim dritten Mal nimmt die Sprache dank ihrer Abstraktheit den Aufstieg in einem Sprung und stürzt ins goldene Dunkel des Zielworts ‹Demut›. (…) tantae sublimitatis humilitas! serm. 184,1 (411-412) (…) solcher Erhabenheit Demut! sublimitas und humilitas: gibt es Gegensätzlicheres? Der Riese Christus aber hält beides umfasst, besser: beides ist in ihm eines. - Eben deshalb dürfen sich sublimitas und humilitas, auf Christus bezogen, im Sprachfluss der Predigt auch physisch berühren, «nebeneinander stehen». Angesichts der Christus-Figur müssten sie eigentlich ineinander verschwimmen! Das tun sie so ziemlich: Dem Ohr sind sie dank der Vokalfolge u-i-i-a nahezu eines, und die Wortausgänge sind eng verwandt. Dass die zwei Worte aber dennoch Gegensätze sind, scheinen die beiden Zweitsilben «beweisen» zu wollen: -milsteht spiegelbildlich gegen -lim-… <?page no="261"?> W 27 Christus als rhetorische Herausforderung 261 Der Mediziner als Medizin Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken - antwortet Christus auf Vorhaltungen, er esse mit Zöllnern und Sündern (Mt 9,12). valde enim et inremediabiliter te obsidebat infirmitas, et haec res fecit, ut veniret ad te tantus medicus. si enim vel sic aegrotares, ut tu posses ire ad medicum, poterat tolerabilis videri ipsa infirmitas. sed, quia tu ire non potuisti ad eum, ille venit ad te! serm. 142,2 (? ) Die Krankheit hielt dich heftig und unrettbar in ihren Fängen, und dies bewirkte, dass ein derart bedeutender Arzt zu dir kam. Wärest du nämlich etwa nur so krank gewesen, dass du zum Arzt hättest gehen können, hätte man deine Krankheit für erträglich halten können. Doch weil du zu ihm nicht gehen konntest, kam ER zu dir! Ein «Arzt»-Besuch beim Menschen war hochdringlich. - Doch dieser Besuch wird zur Tragödie: missus est medicus; quem non cognovit aegrotus. si enim cognovissent, numquam dominum gloriae crucifixissent. sed hoc quoque valuit ad aegroti medicamentum, quod medicum occidit aegrotus. venit, ut visitaret, occisus est, ut sanaret! 1 Kor 2,8 in psalm. 109,3 (412) Ausgesandt wurde der Arzt; doch der Kranke erkannte ihn nicht. Denn, hätten sie ihn erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Doch gerade das diente als Medizin für den Kranken: dass dieser den Arzt tötete. Der kam, den Kranken zu untersuchen, und wurde getötet, um den Kranken zu heilen! misit et medicum, misit salvatorem, misit eum, qui gratis sanaret: parum est ‹qui gratis sanaret›, qui sanatis etiam mercedem daret. serm. 156,2 (417-419) Er sandte ihn auch als Arzt, sandte ihn als Heilenden, sandte ihn, damit er umsonst heile. Zu wenig sagt ‹damit er umsonst heile›, da er doch den Geheilten noch Honorar zahlte. quanta vero bonitas et potentia medici, qui de sanguine suo insano interfectori suo medicamentum fecit? serm. 174,6 (411-413) Welch grosse Güte, welch mächtiges Vermögen liegt in diesem Arzt, der das Heilmittel für seinen rasenden Mörder aus dem eigenen Blut gewann! Auf die knappste Formel gebracht: ipse medicus, ipse medicina. serm. 380,2 (? ) E R der Arzt, ER das Heilmittel. <?page no="262"?> Kreisen um Gott 262 Zeitlos in der Zeit Das Dogma der Gottgleichheit Christi, beschlossen 325 vom Ersten ökumenischen Konzil in Nicaea, schafft jedem Prediger Erklärungs-Probleme, aber auch die Möglichkeit, in heiligen Rätseln zu schwelgen: nos autem patrem gignentem et filium genitum duas dicimus esse personas, sed non duas diversasque naturas. non ergo unus et idem est pater et filius, sed unum sunt pater et filius. vgl. Joh 10,30 c. Arian. 34,32 (419) Den zeugenden Vater und den gezeugten Sohn nennen wir zwar zwei Personen, aber nicht zwei verschiedene Wesen. Nicht also ist Vater und Sohn einer (unus) und der selbe; vielmehr sind Vater und Sohn eines (unum). aliquando fuit pater sine filio? absit! tolle ‹aliquando›, ubi tempus non est! semper pater, semper filius. sine initio temporis pater, sine initio temporis filius. nunquam pater ante filium, nunquam pater sine filio. sed tamen, quia filius deus de deo patre, pater autem deus, sed non de deo filio, non nobis displiceat honorificentia filii in patre. serm. 140,5 (427-428) War der Vater irgendwann ohne den Sohn? Behüte! Tilge den Gedanken an ein Irgendwann, wo es keine Zeit gibt! Immer der Vater, immer der Sohn. Ohne Anfang in einer Zeit der Vater, ohne Anfang in einer Zeit der Sohn. Nie der Vater vor dem Sohn, nie der Vater ohne den Sohn. Und dennoch: Weil der Sohn Gott ist von Gott Vater her, der Vater aber Gott, doch nicht von Gott Sohn her, möge es uns nicht zuwider sein, wenn der Sohn im Vater geehrt wird. Ein Bild aus der vertrauten irdischen Welt versucht, die Unvorstellbarkeit der Simultaneität (doch nicht: Gleich-Zeitigkeit! ) von Vater und Sohn vorstellbar zu machen: quemadmodum ignis et splendor, qui ex igne gignitur et circumquaque diffunditur, simul esse incipiunt nec genitus a gignente praeceditur, sic deus pater et deus de deo filius simul esse incipiunt, quia pariter sine ullo initio temporis sunt, nec genitus a gignente praeceditur. et sicut ignis gignens et splendor genitus coaevi sunt, ita deus pater gignens et deus filius genitus coaeterni sunt. c. Arian. 34,32 (419) Wie beide, das Feuer und der Glanz, der vom Feuer erzeugt wird und rings um sich strahlt, zugleich zu sein beginnen, und nicht, was erzeugt, dem erzeugten vorausgeht, so beginnen Gott Vater und Gott von Gott Sohn zugleich zu sein, weil sie gleicherweise ohne irgendeinen zeitlichen Anfang sind und, der erzeugt, nicht dem erzeugten vorausgeht. Und so wie das zeugende Feuer und sein erzeugter Glanz gleichzeitig sind, so sind der zeugende Gott Vater und der gezeugte Gott Sohn gleichewig. <?page no="263"?> W 27 Christus als rhetorische Herausforderung 263 Dieselben Beweis-Schritte sucht Augustin seinen Hörern nahezulegen, indem er (serm. 117,12) von der über den Wasserspiegel aufsteigenden Pflanze und deren (simultanen) Spiegelung ausgeht. Doch er täuscht sich nicht über die Schwäche jedes bildlichen Arguments: si natus est filius dei de patre, iam pater destitit gignere et, si destitit, coepit. si autem coepit gignere, fuit aliquando sine filio. sed numquam fuit sine filio, quia filius eius sapientia eius est, quae candor est lucis aeternae. ergo semper gignit pater, et semper nascitur filius. hic rursus timendum est, ne putetur imperfecta generatio, si non dicimus natum esse, sed nasci. - compatere mecum, obsecro, in his angustiis humanae cogitationis et linguae! epist. 238,24 (404-411) Wenn der Sohn Gottes vom Vater hervorgebracht ist, hat der Vater bereits aufgehört hervorzubringen, und, wenn er aufgehört hat, hat er einmal angefangen. Wenn er aber angefangen hat hervorzubringen, war er vorher einmal ohne den Sohn. Aber er war nie ohne den Sohn, weil sein Sohn seine Weisheit ist, welche der helle Glanz des ewigen Lichts ist. Also bringt der Vater immer hervor, und der Sohn wird immer hervorgebracht. Hier ist nun aber zu befürchten, dass man an ein unvollkommenes Hervorbringen denken könnte, wenn wir nämlich nicht sagen, er sei hervorgebracht, sondern, er werde hervorgebracht. - Hab bitte Mitleid mit mir in meiner Verlegenheit mit dem menschlichen Denken und Sprechen! sempiternus cum patre, hodiernus ex matre; post matrem de matre factus, ante omnia de patre non factus; sine quo pater nunquam fuit, sine quo mater nunquam fuisset. serm. 192,1 (411-412) Ewig mit dem Vater; jetzig von der Mutter; nach der Mutter von der Mutter geschaffen, vor allem vom Vater nicht geschaffen; ohne welchen der Vater nie war, ohne welchen die Mutter nie gewesen wäre. Ewigkeit und Zeitlichkeit in einem / nach seiner Mutter, doch (letzter Satz) vor ihr / vor allem Geschaffenem, doch nach einem Geschaffenen / dieses Geschaffene nicht dementsprechend vor, sondern nach ihm / der Schöpfer nicht sein Schöpfer / ein Geschaffenes seine Erschafferin -: der Hörer taumelt. Dem Verschlossenes offensteht fide concipitur; masculus non accedit. uterus virginis tumet. procedit tamquam sponsus de thalamo suo. vgl. Psalm 19,6 serm. 44,6 (? ) Kraft des Glaubens wird er empfangen; ein Mann tritt nicht hinzu. Der Schoss der Jungfrau schwillt. Heraus tritt er wie der Bräutigam aus seiner Kammer. <?page no="264"?> Kreisen um Gott 264 Die Geburt aus dem unverletzten Schoss einer Jungfrau (per inviolata matris virginea viscera: epist. 137,8), erstes, unglaubwürdiges Ereignis von Christi Erden-Laufbahn, gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit, dass sich gegen Ende seiner Laufbahn das gleiche, doch spiegelbildlich, zuträgt: ille enim vivens per clausas ianuas intravit, qui nascendo integritatem matris non violavit. vgl. Joh 20,26 serm. 376,1 (410-412) Denn er trat als ein Lebender durch verschlossene Türen ein, er, der bei seiner Geburt die Unversehrtheit seiner Mutter nicht beschädigt hatte. Herr über den Tod non eam deseruit invitus, sed quia voluit, quando voluit, quomodo voluit. (…) hoc maxime mirati sunt, sicut evangelium loquitur, qui praesentes erant, cum post illam vocem, in qua figuram peccati nostri edidit, continuo tradidit spiritum. longa enim morte cruciabantur ligno suspensi. unde latronibus, ut iam morerentur et de ligno ante sabbatum deponerentur, crura confracta sunt. ille autem, quia mortuus inventus est, miraculo fuit. (…) qui posset non mori, si nollet, procul dubio, quia voluit, mortuus est. trin. 4,16f (399-419) Nicht gegen seinen Willen verliess er <seinen Leib>, sondern, weil er wollte, wann er wollte, wie er wollte. (…) Darüber verwunderten sich, wie das Evangelium berichtet, die dabei waren, am meisten, als er nach jenem Ausruf, in welchem er das Bild unserer Sünde zeigte, sogleich seinen Geist aufgab. Denn, die am Holz aufgehängt wurden, quälte man mit einem Sterben, das möglichst lange dauern sollte. Deshalb wurden den Räubern, damit sie endlich stürben und noch vor Sabbat vom Holz genommen werden könnten, die Beine gebrochen. Dass man dagegen ihn bereits tot fand, erregte Verwunderung. (…) Der die Macht gehabt hätte, nicht zu sterben, wenn er nicht gewollt hätte, starb ganz gewiss, weil er es wollte. Die Wahl des Todes-Zeitpunktes zeigt an, dass an Christus der Tod zum Verlierer wird, seine Allmacht einbüsst. Ich habe Macht, <mein Leben> hinzugeben, und habe Macht, es wieder zu nehmen (Joh 10,18): Nicht allein die zweite Aussage ist staunenswert; es ist bereits die erste! - Die zweite Aussage allerdings, die Verkehrung der festen Abfolge ‹Leben-Tod› in die Jubelfolge ‹Tod-Leben›, hat bei den Menschen, lebensgierigen Wesen, unendlich viel mehr Gewicht erhalten. Welcher Prediger könnte es sich leisten, diesen stärksten Anziehungspunkt der Lehre nicht zu preisen! Als (nicht übersetzbares! ) Beispiel: Ein wahres Feuerwerk geschmückter, den Erlöser schmückender Rede kann innerhalb von vier Predigt-Minuten aufblitzen: <?page no="265"?> W 27 Christus als rhetorische Herausforderung 265 ip-sa morte liberavit no-s a morte. morte occi-sus mortem occi-dit. in evang. Ioh. 12,10 (414-417) Eben durch seinen Tod hat er uns vom Tode befreit. Vom Tod erschlagen, hat er den Tod erschlagen. mortem sus-c-e-p-it, et mortem sus-p-e-nd-it in cruce. in evang. Ioh. 12,11 Er hat den Tod auf sich genommen, dann den Tod aufgehoben am Kreuz. mors-us serpentis le-talis, mors domini vitalis. in evang. Ioh. 12,11 Der Biss der Schlange wirkte den Tod, der Tod des Herrn das Leben. in morte Christi mors mortua est. quia VITA mortua occidit mortem, plenitudo vitae deglutivit mortem. in evang. Ioh. 12,11 Im Tod Christi ist der Tod zu Tode gekommen. Weil das L EBEN im Tod den Tod erschlagen hat, hat die Fülle des Lebens den Tod verschlungen. Und in hochkontrolliertem Enthusiasmus: serm. 233,5 (400-418): O V ITA - mors mortis! O L EBEN - Todes Tod! > Bavel, christologie; Geerlings <?page no="266"?> Kreisen um Gott 266 W 28 Gottes Existenz beweisen? nihil praesentius nichts ist gegenwärtiger quant. anim. 34,77 (387-388) Ein statistischer Blick auf Augustins Gesamtwerk zeigt, dass das Wort ‹deus, Gott› auf hundert Wörter gut einmal vorkommt. In Augustins Denken und Fühlen ist tatsächlich «nichts gegenwärtiger», wie er schon in dem Frühwerk sagt. Und doch, sagt Augustin im selben Atemzug, sei wiederum auch «nichts ferner, nihil secretius». qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit. quant. anim. 34,77 Denn, wo er ist, lässt sich nur schwer finden, noch schwerer aber, wo er nicht ist. Angesichts dieser irritierenden Paradoxie begibt sich Augustin immer wieder auf die Suche nach seinem Gott. Wir begleiten Augustin auf zweien seiner Suchwege - zwei Gottesbeweisen? -, einem dialogisch-rationalen (I) und einem monologisch-hymnischen (II). I Augustin stellt sich in die philosophische Tradition von Platon (428-348) und vor allem Plotin (205-270) und folgt einem Stufengang «aufwärts»: A si quaeram ab artifice uno arcu constructo, cur alterum parem contra in altera parte moliatur, respondebit, credo, ut paria paribus aedificii membra respondeant. porro si pergam quaerere, id ipsum cur eligat, dicet hoc decere, hoc esse pulchrum, hoc delectare cernentes. - nihil audebit amplius; inclinatus enim recumbit oculis et, unde pendeat, non intellegit. vera relig. 165 (389-391) Wenn ich einen Baumeister frage, warum er nach der Errichtung eines Bogens auf der einen Seite einer Fassade einen ebensolchen auf der andern Seite bauen wolle, wird er vermutlich antworten: damit die Glieder des Baus einander gleich zu gleich antworten. Frage ich ihn weiter, warum er gerade darauf abziele, wird er sagen, es gehöre sich so; so sei es schön; das gefalle dem Betrachter wohl. - Mehr wird er nicht sagen; denn er stützt sich allein auf den Augensinn und erkennt nicht, woran es liegt, dass er es schön findet. <?page no="267"?> W 28 Gottes Existenz beweisen? 267 Im Blick auf einen Gegenstand aus Stein und Mörtel bildet der Mensch (unter bisher nicht bestimmten Bedingungen) das Urteil: ‹Er ist schön.› B at ego virum intrinsecus oculatum et invisibiliter videntem non desinam commonere, cur ista placeant, ut iudex esse audeat ipsius delectationis humanae. ita enim superfertur illi nec ab ea tenetur, dum non secundum ipsam, sed ipsam iudicat. et prius quaeram, utrum ideo pulchra sint, quia delectant, an ideo delectent, quia pulchra sunt. hic mihi sine dubitatione respondebitur ideo delectare, quia pulchra sunt. vera relig. 166f (Fortsetzung) Doch werde ich nicht ablassen, dem Mann (der doch auch innere Augen hat und unsichtbar sieht) zu bedenken zu geben, warum das denn gefalle, damit er über eben dieses Gefallen der Menschen zu urteilen wagt. So nämlich nimmt er eine höhere Position ein, bleibt nicht an seine Empfindung gekettet; denn er urteilt nun nicht mehr entsprechend seinem Gefallen, sondern über dasselbe. Und voraus werde ich ihn fragen, ob etwas schön ist, weil es gefällt, oder ob es gefalle, weil es schön ist. In diesem Punkt wird die spontane Antwort lauten, etwas gefalle, weil es schön ist. Welches ist der Grund der Schönheit eines Gegenstandes? - Teilantwort: Jedenfalls nicht, dass er Freude macht. C quaeram ergo deinceps, quare sint pulchra, et, si titubabitur, subiciam, utrum ideo, quia similes sibi partes sunt et aliqua copulatione ad unam convenientiam rediguntur. vera relig. 167 (Fortsetzung) Und wieder werde ich ihn fragen, weshalb etwas schön sei, und, wenn er schwankt, anfügen, ob etwa deshalb, weil (die) Teile des Gegenstandes einander ähnlich sind und sich kraft einer Art von Bündelung zu einem Über-Ein-Kommen finden. Sokratisch suggerierte Antwort: Schönheit gründet darin, dass (die) Teile des schönen Gegenstandes gleichsam aufeinander zulaufen, zu einander in eine Harmonie oder Sympathie treten. <?page no="268"?> Kreisen um Gott 268 D quod cum ita esse compererit, interrogabo, utrum hanc ipsam unitatem, quam convincuntur appetere, summe impleant, an longe infra iaceant et eam quodammodo mentiantur. quod si ita est - nam quis non admonitus videat neque ullam speciem neque ullum omnino esse corpus, quod non habeat unitatis qualecumque vestigium, neque quantumvis pulcherrimum corpus, cum intervallis locorum necessario aliud alibi habeat, posse assequi eam, quam sequitur, unitatem? - vera relig. 168 (Fortsetzung) Wenn er sich dessen versichert hat, werde ich ihn fragen, ob, was schön ist, diese seine Einheit, die es offensichtlich anstrebt, vollständig erfülle, oder ob es weit darunter liege und die Einheit in gewissem Sinn vorlüge. Wenn es sich denn so verhält - denn, wer sähe nicht, wenn er darauf aufmerksam gemacht wird, dass es keine schöne Gestalt noch überhaupt irgendeinen Körper gibt, der nicht irgendeine Spur von Einheit zeigte, dass aber kein noch so schöner Körper diese Einheit, die er anstrebt, erreichen kann, weil angesichts seiner räumlichen Struktur notwendig jeder seiner Teile wieder an einem andern Ort sitzt - Die Vorstellung von Harmonie, Zusammenlaufen, Symmetrie wird ersetzt durch den viel «härteren» Begriff der Einheit. Urteil: Insofern körperlich und daher räumlich ausgedehnt, ist kein Körper eine Einheit. E quare, si hoc ita est, flagitabo, ut respondeat, ubi videat ipse unitatem hanc aut unde videat. quam si non videret, unde cognosceret, et quid imitaretur corporum species et quid implere non posset? - nunc vero cum dicit corporibus: «vos quidem nisi aliqua unitas contineret, nihil essetis; sed rursus, si vos essetis ipsa unitas, corpora non essetis», recte illi dicitur: vera relig. 168f (Fortsetzung) Daher will ich, wenn es sich denn so verhält, von ihm wissen, wo er diese Einheit sehe bzw. warum er sie sehe. Denn, sähe er sie nicht, woher könnte er erkennen, was die schöne Gestalt der Körper nachahme, was sie aber nicht zu erfüllen vermöge? - Jetzt, wo der Betrachter zu den Körpern sagt: «Wenn euch nicht eine Art von Einheit gefasst hielte, wäret ihr nichts; doch wäret ihr, wenn ihr die Einheit selbst wäret, wiederum keine Körper,» jetzt also kann man mit Recht zu ihm sagen: Schritt vom Urteil, schöne Gestalten seien keine Einheit, zu den Bedingungen dieses Urteils: Ein wie und wo immer verwurzeltes EIN-Sehen. - (Der baumeisterliche Mensch hinkt mit seiner Bestätigung des Ergebnisses D hinterher.) <?page no="269"?> W 28 Gottes Existenz beweisen? 269 F unde istam nosti unitatem, secundum quam iudicas corpora, quam nisi videres, iudicare non posses, quod eam non impleant? si autem his corporeis oculis eam videres, non vere diceres, quamquam eius vestigio teneantur, longe tamen ab ea distare. nam istis oculis non nisi corporalia vides. mente igitur eam videmus! vera relig. 169 (Fortsetzung) Woher kennst du diese Einheit, nach deren Mass du die Körper beurteilst; denn, sähest du diese Einheit nicht, könntest du das Urteil, dass Körper sie nicht erfüllen, nicht bilden. Sähest du sie aber mit deinen körperlichen Augen, könntest du nicht im Ernst sagen, dass sie zwar von einer Spur von Einheit gehalten werden, von dieser aber weit entfernt bleiben. Mit deinen Augen siehst du ja nur Körperliches. Also sehen wir diese Einheit mit unserem Geist! Der Begriff der Einheit in uns entstammt nicht der sinnlich erfahrbaren Welt. Wir «sehen» die Einheit rein geistig. G sed ubi videmus? si hoc loco esset, ubi corpus nostrum est, non eam videret, qui hoc modo in oriente de corporibus iudicat. non ergo ista continetur loco, et, cum adest ubicumque iudicanti, nusquam est per spatia locorum et per potentiam nusquam non est. vera relig. 170 (Fortsetzung) Nun aber: wo sehen wir sie? Wenn sie nur an der Stelle wäre, wo sich unser Körper befindet, sähe sie nicht, wer in unserer Weise etwa im Orient über Körper urteilt. Die Einheit ist also nicht auf einen Raum beschränkt, und, wenn sie, will einer urteilen, überall zur Verfügung steht, ist sie nirgends im Räumlichen gebreitet; nach ihrer Wirksamkeit aber ist sie nirgends nicht. Schritt von den Bedingungen des Urteils zu dessen Verortung: Einheit - und das Urteil gemäss diesem Kriterium - kennt keinen Ort. (Die Sprache nimmt unmerklich religiöse Tönung an! ) H omne quippe corpus verum corpus est, sed falsa unitas. non enim summe unum est aut in tantum id imitatur, ut impleat; et tamen nec corpus ipsum esset, nisi utcumque unum esset. porro utcumque unum esse non posset, nisi ab eo, quod summe unum est, id haberet. vera relig. 178 Jeder Körper ist ja ein echter Körper, aber eine unechte Einheit. Denn er ist nicht im höchsten Masse eines oder ahmt diese Einheit soweit nach, dass er sie erfüllte; und dennoch gilt: Ein Körper wäre kein Körper, wenn er nicht auf irgendeine Weise eines wäre. Und weiter: Auf irgendeine Weise eines könnte er nicht sein, wenn er es nicht von dem hätte, welches im höchsten Masse eines ist. <?page no="270"?> Kreisen um Gott 270 Schritt von der Allgültigkeit des Urteils gemäss dem Einen zu einem - neutralen! - Einen. I datur intellegi esse aliquid, quod illius unius solius, a quo principio unum est, quidquid aliquo modo unum est, ita simile sit, ut hoc omnino impleat ac sit id ipsum. et haec est veritas et verbum in principio et verbum deus apud deum. vera relig. 185f So kann man erkennen, dass es etwas gibt, das jenem einzig Einen, dem Ursprung, von welchem her eines ist, was immer in irgendeiner Weise eines ist, derart ähnlich ist, dass es dies ganz und gar erfüllt, ja dieses selbst ist. Und das ist die Wahrheit, und das Wort im Anfang, und das Wort, das Gott war bei Gott. Schritt vom neutralen unum, Eines, zum personal gedachten unus, Einer. Dieser Schritt ist für jeden legitim, der, wie Augustin, die Existenz eines Schöpfergottes bereits voraussetzt. (Eigentlich wird durch den obigen Stufengang lediglich gezeigt, dass der Mensch Zugang hat zum rein Denkbaren.) II quid autem amo, cum TE amo? Was denn liebe ich wenn ich DICH liebe? Und Augustin gibt, nachdem er vieles als unzutreffend von sich gewiesen hat, als anfangs zögerliche, aber positive Antwort: amo quandam lucem et quandam vocem et quendam odorem et quendam cibum et quendam amplexum, cum amo deum meum; lucem, vocem, odorem, cibum, amplexum interioris hominis mei, ubi fulget animae meae, quod non capit locus, et ubi sonat, quod non rapit tempus, et ubi olet, quod non spargit flatus, et ubi sapit, quod non minuit edacitas, et ubi haeret, quod non divellit satietas. - hoc est, quod amo, cum deum meum amo. conf. 10,6,8 (um 397-401) Ich liebe - irgendwie Licht und irgendwie Klang und irgendwie Duft und irgendwie Speise und irgendwie Umarmung, wenn ich meinen Gott liebe; Licht, Klang, Duft, Speise, Umarmung meines inneren Menschen, wo meiner Seele erglänzt, was Raum nicht fasst, und wo klingt, was Zeit nicht entführt, und wo duftet, was Wind nicht verweht, und wo mundet, was Essgier nicht mindert, und wo sich anschmiegt, was Sattsein nicht auseinander löst. - Das ist es, was ich liebe, wenn ich meinen Gott liebe. Gott zu lieben, heisst offenbar, etwas hochsinnlich Unsinnliches, etwas tief real Überreales zu lieben. Soviel - oder: so wenig - lässt sich beim gängigen Zeilenlesen erfassen. <?page no="271"?> W 28 Gottes Existenz beweisen? 271 Eine andere, der Motiv-Folge eher angemessene Darstellung macht mehr deutlich: amo (1) quandam lucem et quandam vocem et quendam odorem et quendam cibum et quendam amplexum, cum amo deum meum, (2) lucem, vocem, odorem, cibum, amplexum interioris hominis mei, (3) ubi fulget animae meae, quod non capit locus, et ubi sonat, quod non rapit tempus, et ubi olet, quod non spargit flatus, et ubi sapit, quod non minuit edacitas, et ubi haeret, quod non divellit satietas. hoc est, quod amo, cum deum meum amo. Was eigentlich sucht Augustin in diesem Text bezüglich Gottes zu leisten? Doch eine De-Finition, und das heisst, eine Ein-Grenzung! - Ist das nicht ein Sakrileg? Nicht besser kommt Augustin weg, wenn wir nach seinen Definitions-Mitteln fragen; handelt es sich doch um lauter Sinnliches! «Licht, Stimme, Geruch,…» - Aber das ist ein Sakrileg. Welchem Gesetz folgt (dreimal! ) die Nennung der sinnlichen Bereiche (Licht, Klang, Duft, Speise, Umarmung / Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten)? Dem einer zunehmend innigeren Verstrickung in Sinnliches, bis endlich zur sexuellen Verflechtung! - Es ist die verkehrte Richtung, wenn es gilt, zu Gott aufzusteigen. Neues Sakrileg. Ein Text über Heiliges mittels dreifachen Sakrilegs! <?page no="272"?> Kreisen um Gott 272 Dreimal nimmt der Autor einen Anlauf, «es» richtig zu sagen. Den drei Anläufen entsprechen drei verschiedene «Tonarten»: (1) quandam… irgend-… scheu, leise tastend: darf ich das? der Anlauf bleibt undeutlich, noch kaum verstehbar (2) lucem, vocem… Licht, Klang… knapp, bestimmt: ich wage es! «meines inneren Menschen» nimmt, was klar erschien wieder ins Dunkel zurück (3) ubi fulget animae meae… wo meiner Seele erglänzt… schwärmend, jubilierend: ihm «geht der Mund über»! das fünffache «nicht» zeigt, dass kein Sprung erfolgreich ist; es sind fünf Sprünge in ein Nicht-Ziel Die fünf Sprünge wollen nicht gelingen, weil der Autor sich jedesmal mehr in das Medium der Sprache verstrickt: capit locus rapit tempus spargit flatus minuit edacitas divellit satietas - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Alles ist also schief gegangen? - Es musste schiefgehen. Augustin weiss: Wer es unternimmt, als Endlicher vom Unendlichen zu sprechen, nur schon von seiner Liebe zu ihm, macht sich vor der Welt zum Narren - - suscepi enim tractanda divina, homo, spiritalia, carnalis, aeterna, mortalis. in evang. Ioh. 18,1 (414-417) - denn ich habe es unternommen, zu handeln von Göttlichem, als Mensch, von Geistlichem, als Fleischlicher, von Ewigem, als Sterblicher. Ist Gottes Existenz (nämlich aus ihrer Wirkung auf den Autor) bewiesen worden? Ein Beweis wurde nie angestrebt. Hätte denn einen Beweis nötig, wer «seinem» Gott wie ein verzückter Tänzer einen derart einzigartigen Hymnus darbringt? <?page no="273"?> W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? 273 W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? Und sein Weib Rebekka wurde schwanger. Da sich aber die Kinder in ihrem Leibe stiessen, sprach sie: Wenn es so ist, warum lebe ich dann? Und sie ging hin, den Herrn zu befragen. Und der Herr sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zwei Stämme werden sich aus deinem Schosse scheiden; ein Stamm wird dem andern überlegen sein, und der ältere wird dem jüngern dienen. - Als nun die Zeit kam, dass sie gebären sollte, siehe, da waren Zwillinge in ihrem Leibe. Der erste, der herauskam, war rötlich, ganz und gar wie ein behaarter Mantel, und man nannte ihn Esau. Darnach kam sein Bruder heraus, der hielt mit seiner Hand die Ferse Esaus, und man nannte ihn Jakob. (Gen 25,21ff) Wort des Herrn über Israel durch Maleachi: Ich habe euch geliebt, spricht der Herr. Und ihr fragt: Wieso hast du uns geliebt? - Ist nicht Esau Jakobs Bruder? spricht der Herr, und doch habe ich Jakob geliebt, Esau aber gehasst. Darum habe ich sein Gebirge zur Einöde gemacht und sein Erbteil zur Wüste gewandelt. (Mal 1ff) Der Mensch kann sich den Himmel verdienen nonnullos movet, ut putent apostolum Paulum abstulisse liberum voluntatis arbitrium, quo promeremur deum bono pietatis, vel malo impietatis offendimus. dicunt enim, quod ante opera aliqua seu bona seu mala duorum nondum nascentium deus unum dilexerit, alterum odio habuerit. vgl. Rm 9,13 in Rom. 60 (394-395) Einige Leute beunruhigt die Meinung, der Apostel Paulus habe <dem Menschen> den freien Willen abgesprochen, kraft dessen wir uns dank dem Gut der Frömmigkeit Gottes würdig erweisen oder <ihn> mit dem Übel gottlosen Verhaltens beleidigen. Sie führen nämlich an, dass von zwei noch nicht Geborenen, bevor sie noch irgendwelche guten oder schlechten Werke vollbringen konnten, Gott den einen geliebt, den andern gehasst habe. cum enim nondum nati fuissent aut aliquid egissent bonum aut malum (…), dictum est ei: maior serviet minori; sicut scriptum est: Iacob dilexi, Esau autem odio habui. Rm 9,11f Denn als sie noch nicht geboren waren und noch nichts Gutes oder Böses getan hatten (…), wurde ihr gesagt: Der Ältere wird dem Jüngern dienstbar sein; wie denn geschrieben steht: Den Jakob habe ich geliebt, den Esau aber habe ich gehasst. Wie kann Augustin, angesichts dieses offensichtlich für Gottes Willkür zeugenden Ausspruchs, für den Menschen den freien Willen «retten»? <?page no="274"?> Kreisen um Gott 274 sed respondemus praescientia dei factum esse, qua novit etiam de nondum natis, qualis quisque futurus sit. Ich antworte, Gott habe dies aufgrund seines Vorwissens getan, dank welchem er auch bei Ungeborenen von jedem weiss, was für einer er einst werden wird. Und Gottes Vorwissen muss tatsächlich Art und Ziel der Eigenentwicklung eines Menschen in keiner Weise präjudizieren. sed ne quis dicat: ‹opera ergo elegit deus in eo, quem dilexit, quamquam nondum erant, quod ea futura praesciebat; quodsi opera elegit, quomodo dicit apostolus non ex operibus factam electionem? › Rm 9,12 Aber keiner wende nun dagegen ein: ‹Gott hat also an dem, den er liebte, die Werke erwählt, obschon es sie noch nicht gab; er wusste eben, dass sie einst vollbracht würden. Wenn er aber die Werke erwählte, wie kann dann der Apostel sagen, die Erwählung sei nicht abhängig von Werken erfolgt? › Dafür gibt es einen triftigen Grund: propterea ergo intellegendum est opera bona per dilectionem fieri, dilectionem autem esse in nobis per donum spiritus sancti - sicut idem dicit apostolus: caritas dei diffusa est in cordibus nostris per spiritum sanctum, qui datus est nobis. Rm 5,5 Eben deshalb muss man sich klar machen, dass gute Werke auf dem Weg über die Liebe zustande kommen, dass die Liebe aber ihrerseits über das Geschenk des heiligen Geistes in uns wohnt - wie der selbe Apostel sagt: Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsern Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben worden ist. Gute Werke sind Gottesgeschenke. - Augustin unterstreicht die Drei-Stationen- Linie von Gott über die Liebe zu den guten Werken nochmals: non ergo quisquam gloriari debet ex operibus tamquam suis, quae per donum dei habet, cum ipsa dilectio in eo bonum operatur. Keiner also soll sich wegen «seiner» Werke rühmen, die er ja aufgrund eines Geschenks Gottes tut, wenn nämlich die Liebe in ihm das Gute wirkt. Da des Menschen gute Werke nicht des Menschen, sondern Gottes Werke sind, kann er bei Jakob nicht auf Jakobs Werke gesehen haben, da es solche nicht nur vor Jakobs Geburt nicht gibt, sondern auch künftig nie geben wird. quid ergo elegit deus? (…) elegit fidem: quia, nisi quisque credat in eum et in accipiendi voluntate permaneat, non accipit donum dei, id est, spiritum sanctum, per quem diffusa caritate bonum possit operari. Was also hat Gott erwählt? (…) Erwählt hat er den Glauben; denn, wenn einer nicht an IHN glaubt und im Bestreben, zu empfangen, nicht verharrt, kann er das Geschenk Gottes, den heiligen Geist, nicht empfangen, durch den er, von Liebe übermannt, das Gute zu tun vermag. <?page no="275"?> W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? 275 Wieder bekräftigt Augustin seine Aussage durch Wiederholung: non ergo elegit deus opera cuiusquam in praescientia, quae ipse daturus est, sed fidem elegit in praescientia, ut, quem sibi crediturum esse praescivit, ipsum elegerit, cui spiritum sanctum daret, ut bona operando etiam aeternam vitam consequeretur. Nicht also hat Gott im Vorwissen irgend jemandes Werke erwählt (die er je selber geben wird); vielmehr den Glauben hat er im Vorwissen erwählt. So hat er den erwählt, von dem er vorherwusste, dass er an IHN glauben würde. Ihm würde er den heiligen Geist geben, damit er durch gute Werke auch das ewige Leben erringe. Und Augustin legitimiert die Unbedingtheit seiner Aussage mit einer passenden Bibelstelle: dicit enim idem apostolus: idem deus, qui operatur omnia in omnibus. 1 Kor 12,6 Der gleiche Apostel sagt ja: Ein und derselbe Gott, der alles wirkt in allen. Dieses Zitat dient dem Autor nun als Basis für einen äusserst gewagten Sprung: nusquam autem dictum est ‹deus credit omnia in omnibus›. Nirgends aber ist <in analoger Weise> gesagt ‹Gott glaubt alles in allen›. Woraus nicht minder kühn gefolgert wird: quod ergo credimus, nostrum est; quod autem bonum operamur, illius, qui credentibus in se dat spiritum sanctum. (…) Dass wir glauben, steht also bei uns; dass wir aber Gutes wirken, steht bei IHM , der denen, die an ihn glauben, den heiligen Geist gibt. (…) Augustins Blick schweift kurz zu «gewissen Juden», die an Christus geglaubt, die guten Werke aber sich selber zugeschrieben hätten … cum bona opera in nullo esse possint, nisi qui acceperit gratiam. …obwohl sich doch gute Werke bei keinem Menschen finden lassen, es sei denn, er habe die Gnade <dazu> empfangen. <?page no="276"?> Kreisen um Gott 276 An die Stelle von ‹Begabung mit dem heiligen Geist› hat sich der Begriff ‹Begnadung› geschoben. Damit rückt auch der freie Wille wieder ins Bewusstsein: est autem gratia, ut vocatio peccatori praerogetur, cum eius merita nulla nisi ad damnationem praecesserint. quodsi vocatus vocantem secutus fuerit - quod est iam in libero arbitrio -, merebitur et spiritum sanctum, per quem bona possit operari, in quo permanens - quod nihilominus est in libero arbitrio - merebitur etiam vitam aeternam. (…) Gnade besteht darin, dass einem Sünder die Berufung zuteil wird, obschon keine Verdienste vorausgegangen sind ausser solche zu seiner Verdammnis. Wenn aber der, welcher berufen worden ist, dem B ERUFEN - DEN folgt - was nun beim freien Willen steht -, wird er <die Gabe des> heiligen Geistes verdienen, dank dem er Gutes wirken kann, und wenn er darin verharrt - was ebenso beim freien Willen steht -, wird er sich auch das ewige Leben verdienen. (…) Vor der Berufung bzw. Begnadung bzw. Begabung mit dem heiligen Geist taugt der freie Wille des Menschen nur zu schädlichen Entscheiden, «zu seiner Verdammnis»; aufgrund der Berufung jedoch kann der freie Wille Gutes wirken, ja sich den Himmel verdienen. - Damit hat Augustin für den Menschen zwei Wesenskräfte gesichert; er zieht die Summe: non ergo elegit deus bene operantes, sed credentes potius, ut ipse illos faciat bene operari. nostrum enim est credere et velle, illius autem dare credentibus et volentibus facultatem bene operandi. in Rom. 61 (394-395) Nicht also, weil Menschen Gutes vollbringen, sondern viel eher, weil sie glauben, erwählt sie Gott, damit er sie so zu guten Werken befähigen kann. Denn bei uns stehen Glauben und Wollen, bei IHM aber, denen, die glauben und wollen, die Kraft zu guten Werken zu geben. Jakob ist also vorgezogen worden, weil Gott vorherwusste, dass Jakob aus seinem eigenen, freien Willen an ihn glauben werde, und so begnadete ihn Gott in überreichem Mass, wie es im Alten Testament bezeugt ist. <?page no="277"?> W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? 277 Der Mensch verdient die Hölle Wenig später - Augustin ist inzwischen Bischof geworden - setzt er sich in einer längeren Schrift an Simplicianus, seinen früheren Mailänder Mentor, erneut und in wiederholten Anläufen mit ‹Jakob und Esau› auseinander, wobei er seine ehemalige Problemlösung, Gott habe zwar nicht auf die Werke, aber auf den Glauben gesehen, nicht mehr anerkennt (im folgenden zeichnen wir nicht mehr als das Grundgerüst der Gedankenfolge nach): (…) praescientia vidit crediturum. - ita praescientia videre poterat operaturum, ut, quomodo dicitur electus propter fidem futuram, quam praesciebat deus, sic alius possit dicere propter opera futura potius electum, quae nihilo minus praesciebat deus. Simpl. 1,2,5 (396-398) (…) Gott sah voraus, dass er an IHN glauben würde. - Ebenso <aber> konnte ER aufgrund seines Vorwissens sehen, dass er gute Werke vollbrächte, sodass, grad wie einer sagen kann, Jakob sei wegen seines künftigen Glaubens (den Gott vorherwusste) erwählt worden, ein anderer behaupten kann, er sei vielmehr wegen seiner künftigen Werke (die Gott genauso vorherwusste) erwählt worden. Insofern Augustin jetzt beide Antworten auf das Rätsel von Jakobs Bevorzugung als gleichberechtigt hinstellt, von der einen (Werke) aber weiss, dass Paulus sie verworfen hat, sind beide Antworten neuerdings gleichermassen unberechtigt. - Offenbar hält Augustin jenen «hierarchischen» Unterschied nicht mehr aufrecht, der darin bestand, dass die Werke Gott gehören, der Glaube aber dem Menschen… nemo enim credit, qui non vocatur. Simpl. 1,2,7 …denn niemand glaubt, der nicht berufen wird. Das besagt: Dass der Mensch glaubt, setzt einen Impuls von Gott her voraus; «autarkes» Glauben hält Augustin hinfort für unmöglich. - Nicht nur die Fähigkeit selbsttätigen Glaubens wird dem Menschen entwunden: auch die andere, einst mit dem Glauben eng verbundene Fähigkeit, das Wollen, erleidet, beglaubigt durch Paulus, dasselbe Schicksal: deus enim est, qui operatur in vobis et velle et operari pro bona voluntate, ubi satis ostendit etiam ipsam bonam voluntatem in nobis operante deo fieri. Phil 2,13 Simpl. 1,2,12 Gott nämlich ist es, der in euch das Wollen wirkt wie das Tun entsprechend dem guten Willen. Da gibt er deutlich zu verstehen, dass gerade auch der gute Wille in uns erst durch Einwirkung Gottes entsteht. <?page no="278"?> Kreisen um Gott 278 Wenn aber weder die Werke des Menschen noch sein Glaube noch sein Wollen (die ihm alle drei nicht mehr gehören) für eine Erwählung bestimmend sein können, stellt sich die Frage: unde igitur ista electio vel qualis electio? Simpl 1,2,4 Woher kam somit Jakobs Erwählung, beziehungsweise: was ist das für eine Art Erwählung? Ein abgründiger Verdacht liegt nahe: an forte, quemadmodum illud de Iacob nullis meritis bonae actionis dictum est, ita Esau nullis meritis malae actionis odiosus? Simpl. 1,2,8 Ist etwa - so wie jener Spruch zugunsten Jakobs fiel, ohne dass er irgendwelche Verdienste, etwa eine gute Tat vorzuweisen hatte - ebenso Esau verhasst, ohne dass ihn irgendein Verschulden, eine böse Tat traf? Der Verdacht kann glücklicherweise - so scheint es - nur falsch sein; denn Gott würfelt ja nicht (Einstein): ut autem odisset Esau nisi iniustitiae merito, iniustum est. Simpl. 1,2,8 Dass er aber Esau hasste, ohne dass ihn ein Verschulden ungerechten Tuns traf, das wäre ungerecht. Für Augustin ist es denkunmöglich, dass Gott ungerecht sein könnte - gemäss dem Paulus-Wort: quid ergo dicemus? numquid iniquitas est apud deum? - absit! Rm 9,14 Was werden wir also sagen? Sollte bei Gott etwa Ungerechtigkeit sein? - Das sei ferne! Soll Esaus Verwerfung gerecht sein, so muss daher auf irgendeine Schuld Esaus geschlossen werden. Paulus weist den Weg: stipendia enim peccati mors. Rm 6,23 Der Tod ist der Sünde Sold. sicut enim in Adam omnes moriuntur, (…). 1 Kor 15,22 So wie in Adam alle sterben, (…). <?page no="279"?> W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? 279 Der erste Mensch hat sterben müssen, weil er sich versündigt hatte, und alle Menschen sterben ihm nach, sind also ebenfalls sündebeladen - dann aber auch Jakob! sunt igitur omnes homines - quando quidem, ut apostolus ait, in Adam omnes moriuntur, a quo in universum genus humanum origo ducitur offensionis dei - una quaedam massa peccati supplicium debens divinae summaeque iustitiae. Simpl. 1,2,16 Es sind somit alle Menschen - (weil ja nach dem Apostel-Wort alle in Adam sterben, von welchem her sich eine Ursprungs-Spur der Beleidigung Gottes ins gesamte Menschengeschlecht hinzieht) - in Wahrheit ein einziger Sünden-Klumpen, welcher von Gott, der höchsten Gerechtigkeit, nur eines verdient: schwere Bestrafung. Ist es nun nicht erst recht unerfindlich, warum der eine Brocken aus dem «Klumpen» geliebt, der andere gehasst wird? - Augustin antwortet tatsächlich mit Ja: tenacissime firmissimeque credatur id ipsum, quod deus, cuius vult, miseretur et, quem vult, obdurat, hoc est, cuius vult, miseretur et, cuius non vult, non miseretur, esse alicuius occultae atque ab humano modulo investigabilis aequitatis. Rm 9,18 Simpl. 1,2,16 Ganz zäh und unerschütterlich soll man glauben, dass eben das -, dass Gott sich erbarmt, wessen er will, und verhärtet, wen er will, das heisst: wessen er will, sich erbarmt und, wessen er nicht will, sich nicht erbarmt -, dass eben das einer verborgenen und mit Menschenmass unaufspürbaren Gerechtigkeit eignet. Für Menschenmass gerecht wäre allein Gleichbehandlung der beiden Zwillingsbrüder; warum Gott anders entschieden hat, bleibt unerforschlich. - Immerhin sei Gott zugute gehalten, dass er offenbar bisweilen, wie bei Jakob, von rationaler Gerechtigkeit in positivem Sinn abweicht. (…) quod non sit iniquitas apud deum, qui sive donet sive exigat debitum, nec ille, a quo exigit, recte potest de iniquitate eius conqueri, nec ille, cui donat, debet de suis meritis gloriari. et ille enim nisi, quod debetur, non reddit, et ille non habet nisi, quod accepit. Simpl. 1,2,17 (…) dass keine Ungerechtigkeit bei Gott ist: Ob er nämlich das Geschuldete erlasse oder es fordere, so kann sich weder der, von dem er es fordert, mit Recht über Ungerechtigkeit von SEINER Seite beklagen, noch kann der, dem er es erlässt, sich seiner Verdienste rühmen. Denn der erste erstattet nur, was man <als sündiger Mensch> schuldet, und der zweite hat nur, was er empfangen hat. <?page no="280"?> Kreisen um Gott 280 Die Rechnung stimmt; Gott ist gerechtfertigt; und eisig kalt ist Augustins Stenogramm des «Sachverhalts»: cui vult, subvenit et, quem vult, deserit. Simpl. 1,2,17 Wem er will, dem kommt er zu Hilfe und, wen er will, den lässt er im Stich. * Die beiden folgenden Texte mögen bezeugen, dass Augustins Blick auf Wesen und Bedingung des Menschen bis zu seinem Lebensende unverrückbar düster geblieben ist: cum vero non liberat nisi gratia, nihil iustum invenit in eo, quem liberat, non voluntatem, non operationem. epist. 194,29 (418) …es befreit (errettet) allein die Gnade, und sie findet nichts (! ) Gerechtes an dem, den sie befreit, nicht das Wollen, nicht das Tun. (…) ut nulla dei esset iusta reprehensio, etiamsi nullus inde liberaretur. unde constat magnam esse gratiam, quod plurimi liberantur. praed. sanct. 8,16 (428-429) Gott könnte man selbst dann keinen berechtigten Vorwurf machen, wenn kein einziger Mensch befreit (gerettet) würde. Daher steht fest, dass grosse Gnade vorliegt, weil sehr viele befreit werden. «plurimi, sehr viele» sollen errettet werden? Die Wahrscheinlichkeit, zu den Erwählten zu gehören, ist gering, was Augustin sehr wohl weiss, der in seinem Gesamtwerk oft, in der Schrift an Simplicianus immerhin dreimal das Wort zitiert: multi enim vocati, pauci autem electi. Mt 20,16 Simpl. 1,2,10. 13 (396-398) Viele sind berufen, doch nur wenige auserwählt. Wozu soll überhaupt dieses Verdammen und Im-Stich-Lassen taugen? <?page no="281"?> W 29 «Gott würfelt nicht» - würfelt Gott? 281 illis utique prodest, ad quorum salutem istis sic utitur, ut sicut scriptum est, iustus manus lavet in sanguine peccatoris, id est, mundetur ab operibus malis per timorem dei, cum videt supplicia peccatorum. vgl. Psalm 58,11 Simpl. 1,2,18 Den Guten nützt es sehr wohl, zu deren Heil ER die Bösen verwendet, damit, wie geschrieben steht, der Gerechte seine Hände im Blut des Sünders wasche, das heisst, sich reinige von <eigenen> bösen Werken, weil er Angst bekommt vor Gott, wenn er die Folterungen der Sünder sieht. Nur abgründige Angst kann zu einem derart abgründigen Text geführt haben. - Die Qualen der Sünder übrigens dauern ewig (Mt 25,46); daran will Augustin nicht rütteln; sonst könnte, sagt er, der Gedanke aufkommen, das ewige Leben der Gerechten dauere vielleicht auch nicht ewig (enchir. 112). - Ein letztes Mal verstärkt Augustin seine gedankliche Festung: et tamen: quid dicemus? numquid iniquitas est apud deum, exigentem, a quo placet, donantem, cui placet, qui nequaquam exigit indebitum, nequaquam donat alienum? numquid iniquitas est apud deum? absit! quare tamen huic ita et huic non ita? o homo, tu quis es <qui respondeas deo>? debitum si non reddis, habes, quod gratuleris; si reddis, non habes, quod queraris. credamus tantum, et si capere non valemus! (…) inscrutabilia sunt iudicia eius et investigabiles viae eius. dicamus alleluia! Rm 9,14. 20. 11,33 Simpl. 1,2,22 Und dennoch: Was werden wir sagen? Sollte bei Gott etwa Ungerechtigkeit sein, wenn er fordert, von wem es ihm gefällt, schenkt, wem es ihm gefällt, aber keineswegs fordert, was nicht geschuldet ist, keineswegs schenkt, was unangemessen ist? Sollte bei Gott etwa Ungerechtigkeit sein? Das sei ferne! Aber weswegen denn dem so und jenem nicht so? O Mensch, wer bist du <dass du mit Gott rechten willst>? Wenn du, was du schuldest, nicht erstatten musst, hast du Grund, dankbar zu sein; wenn du es erstatten musst, hast du keinen Grund, dich zu beklagen. Glauben wir einfach, auch wenn wir nicht verstehen können! (…) Unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege. Singen wir Halleluja! * Zweimal hat hier Augustin unsere Existenzbedingung beschrieben. Die erste Skizze zeigt den Menschen als Herrn seines Wollens und Glaubens; er darf ans ewige Leben als sein Ziel denken. Die zweite Skizze zeigt den Menschen als zutiefst gefährdetes Wesen vor einer unerforschlichen Welten-Gerechtigkeit; er erschauert vor der Wahrscheinlichkeit seiner Verwerfung. Diese beiden unversöhnlich verschiedenen Entwürfe liegen in Augustins Leben vermutlich nicht <?page no="282"?> Kreisen um Gott 282 mehr als zwei Jahre auseinander. Wie grundlegend die Wandlung, die Eintrübung des Blicks! Wie hoch die Bereitschaft, eigene, frühere Erkenntnis zu relativieren, ja über Bord zu werfen! Es ist sehr wahr, was Augustin, möglicherweise noch während dieser Jahre, von sich gesagt hat: proficiendo scribimus, cottidie discimus; scrutando dictamus; pulsando loquimur. serm. Dolbeau 10,15 (397-418) Ich schreibe, aber ich bin noch nicht am Ziel; täglich lerne ich dazu. Ich diktiere, grüble dabei aber weiter nach. Ich rede, klopfe aber noch immer an. Vordergründig spricht allein christliche Demut. Wenn wir aber die Abfolge der Teilmotive originalgetreu nachbilden, zeigt sich, dass sich in die Demut ein selbstkritisches Bewusstsein der eigenen Kühnheit mischt, trotz umfassender Ungewissheit je wieder neu Stellung zu beziehen: proficiendo scribimus, cottidie discimus; scrutando dictamus; pulsando loquimur. Ich bin noch nicht am Ziel, und doch schreibe ich schon; täglich lerne ich dazu. Ich grüble, und doch diktiere ich bereits. Noch klopfe ich an, und doch rede ich schon. > Barth; Flasch, Logik; Rist, Will <?page no="283"?> W 30 Wunder 283 W 30 Wunder quam multa usitata calcantur! Auf wie vieles treten wir achtlos, weil wir es gewohnt sind! epist. 137,3,10 (411-412) Wer für einen Glauben kämpft, kämpft alle Tage für die Wahrheit von Wundern. Soviel gilt jedenfalls für den Christen Augustin. Dem klassisch-antik Gebildeten müssen Wunder als ein eigentliches Kennzeichen der biblischen Bücher erschienen sein. Im Blick auf skeptische Hörer und Leser sucht Augustin in eingehender rationaler Betrachtung die biblischen Berichte als glaubwürdig zu erweisen. Gegenüber den Gläubigen hilft das Erwägen und Bedenken der überlieferten Wunder, den bestehenden Glauben an sie zu bestätigen und so den Glauben an die Heiligen Schriften überhaupt zu festigen. quis enim consulta ratione non videat in hominum innumerabili numerositate et tanta naturae similitudine valde mirabiliter sic habere singulos singulas facies, ut, nisi inter se similes essent, non discerneretur species eorum ab animalibus ceteris; et rursum, nisi inter se dissimiles essent, non discernerentur singuli ab hominibus ceteris? quos ergo similes confitemur, eosdem dissimiles invenimus. sed mirabilior est consideratio dissimilitudinis, quoniam similitudinem iustius videtur exposcere natura communis. et tamen, quoniam, quae sunt rara, ipsa sunt mira, multo amplius admiramur, quando duos ita similes reperimus, ut in eis discernendis aut semper aut frequenter erremus. civ. 21,8 (vor 427) Ist es, wenn wir es reiflich überlegen, nicht hoch erstaunlich, dass trotz der unzählbaren Menge von weitestgehend wesensverwandten Menschen jedes einzelne Individuum sein eigenes Gesicht hat - und dies in folgender Weise: Wären die Gesichter untereinander nicht ähnlich, so wäre die Gattung der Menschen von den andern Lebewesen kaum zu scheiden; anderseits: Wären die Gesichter untereinander nicht unähnlich, liessen sich die einzelnen Menschen von den andern nicht unterscheiden. Wir erklären also die selben für ähnlich, die wir dann wiederum unähnlich finden. In besonderem Grad staunen lässt einen allerdings die Betrachtung der Unähnlichkeit; denn die Tatsache der Wesensgemeinschaft - so will mir scheinen - fordert mit höherem Recht Ähnlichkeit. Nun aber gilt das als wunderbar, was selten ist, und so staunen wir viel mehr, wenn wir zwei Individuen antreffen, die einander derart ähnlich sehen, dass wir uns immer oder doch häufig irren, wenn wir sie auseinander halten sollen. <?page no="284"?> Kreisen um Gott 284 Das eigene Gesicht - Leid wie Anspruch eines jeden - hat heute, weil begründbar, seinen Status als (schon damals wenig beachtetes) Wunder ganz verloren. Augustin dagegen wägt die Ähnlichkeit-Unähnlichkeit und sieht darin einen gottgewollten Schutz, eine Identitäts-Garantie einerseits für das Individuum und anderseits für die Gattung Mensch. - Einen Anlass, die Damaligen zu belächeln, haben wir nicht; ist doch die Menschheit noch immer dabei, zu bewundern, was selten ist. Natürlich gilt auch für Augustin die folgende Definition: miraculum voco, quicquid arduum aut insolitum supra spem vel facultatem mirantis adparet. util. cred. 16,34 (391-392) Als Wunder bezeichne ich alles, was, weil schwer zugänglich oder ungewohnt, ersichtlich die Erwartung oder die Fassungskraft dessen übersteigt, der sich wundert. Zum Wunder gehört, gleichsam als sein Echtheits-Siegel, das Erschrecken: quae sunt mirabilia, ipsa sunt terribilia. nulla quippe admiratio est sine quadam formidine. in psalm. 105,20 (418-420? ) Was wunderbar ist, das ist eben dadurch auch schrecklich. Kein Staunen gibt es ja ohne eine Art von Grausen. Dieses treffende, das Paradoxe suchende Wort ist Augustin nahegelegt worden durch eine Bibelstelle, die Staunen und Erschrecken auf die selbe Quelle zurückführt; denn er liest: qui fecit magnalia in Aegypto, m i r a b i l i a in terra Cham, t e r r i b i l i a in mari Rubro. Psalm 106,21f in psalm. 105,20 (418-420? ) <Gott>, welcher Grosses getan hat in Ägypten, Wunderbares im Lande Chams und Schreckliches im Roten Meer. Um Gott sind beide, Wunder und Entsetzen. «Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang…» (Rilke) - Augustin erinnert sich an ein eigenes Erschrecken, ganz kurz nach seiner hochdramatischen Entscheidung fürs Christentum: <?page no="285"?> W 30 Wunder 285 dolore dentium tunc excruciabas me, et, cum in tantum ingravesceret, ut non valerem loqui, ascendit in cor meum admonere omnes meos, qui aderant, ut deprecarentur te pro me, deum salutis omnimodae, et scripsi hoc in cera et dedi, ut eis legeretur. mox, ut genua supplici affectu fiximus, fugit dolor ille. sed quis dolor? aut quomodo fugit? expavi, fateor, domine meus et deus meus; nihil enim tale ab ineunte aetate expertus fueram. Joh 20,28 conf. 9,4,12 (397-401) Damals quältest DU mich mit Zahnschmerzen, und als sie sich derart verschlimmerten, dass ich nicht mehr sprechen konnte, stieg die Idee in mir auf, all die Meinen, die zugegen waren, aufzufordern, dich, den Gott allen Heils, für mich anzurufen, und ich schrieb dies auf ein Wachstäfelchen und liess es ihnen vorlesen. Dann, wie wir uns, um zu beten, auf die Knie niederliessen, verging der Schmerz plötzlich. Aber was für ein Schmerz? Und, wie verging er? Mich packte Entsetzen, ich gestehe es, mein Herr und mein Gott; denn seit früher Jugend hatte ich nichts Derartiges erlebt. Spiegelt sich hier im Physischen Augustins seelische Wandlung, das Ende des inneren Kampfes im Ende des Schmerzes, das Annehmen und Angenommen- Werden im Eintritt der Schmerzfreiheit? - Das heilige Erschrecken ob einem Wunder findet seinen Weg sogar in eine Strassenküche: erat quidam senex Florentius Hipponiensis noster, homo religiosus et pauper; sartoris se arte pascebat. casulam perdiderat et, unde sibi emeret, non habebat. ad viginti martyres, quorum memoria est apud nos celeberrima, clara voce, ut vestiretur, oravit. Hier in Hippo lebte als unser Mitbürger ein Greis namens Florentius, ein gottesfürchtiger, armer Mann, der sein Leben aus dem Schneiderhandwerk fristete. Er hatte keinen Kapuzenmantel mehr und nicht die Mittel, sich einen neuen zu kaufen. Da betete er bei den Zwanzig Märtyrern, deren Gedächtnisstätte hier von sehr vielen besucht wird, mit lauter Stimme, sie möchten ihn kleiden. audierunt eum adulescentes, qui forte aderant inrisores, eumque discedentem exagitantes prosequebantur, quasi a martyribus quinquagenos folles, unde vestimentum emeret, petivisset. at ille tacitus ambulans eiectum grandem piscem palpitantem vidit in litore eumque illis faventibus atque adiuvantibus adprehendit et cuidam coquo, Cattoso nomine, bene christiano, ad coquinam conditariam, indicans, quid gestum sit, trecentis follibus vendidit, lanam comparare inde disponens, ut uxor eius, quo modo posset, ei, quo indueretur, efficeret. Ihn hörten zufällig in der Nähe junge Leute, die zum Spott aufgelegt waren, und als er wegging, folgten sie ihm und stichelten, er habe von den Märtyrern 50 Folles erbeten, sich ein Kleid zu kaufen. Doch der Alte ging still weiter; da sah er am Strand einen grossen Fisch, den das Meer ausgespien hatte und der sich hin und her warf. Unter Mithilfe der Jugendlichen, die für ihn Sympathie gewonnen hatten, konnte er ihn fassen, brachte ihn einem Koch namens Cattosus, einem guten Christen, in eine Garküche, erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, und verkaufte ihm den Fisch für 300 Folles. Damit wollte er Wolle kaufen, damit seine Frau daraus, so gut es eben ginge, für ihn etwas zum Anziehen mache. <?page no="286"?> Kreisen um Gott 286 sed coquus concidens piscem anulum aureum in ventriculo eius invenit moxque miseratione flexus et religione perterritus homini eum reddidit dicens: ecce, quo modo te viginti martyres vestierunt! «folles»: Kupfermünzen civ. 22,8 (vor 427) Der Koch nun schnitt den Fisch auf und fand in dessen Bauch einen goldenen Ring. Aus Mitleid mit dem Schneider und aufgeschreckt von dem Wunderzeichen gab er ihn sogleich dem Alten mit den Worten: Sieh, wie dich die Zwanzig Märtyrer gekleidet haben! Vermag das «Echtheits-Siegel» des Erschreckens beim Auftauchen des vielbewanderten goldenen Rings den Märchen-Verdacht zu beseitigen? Augustin sucht der Glaubwürdigkeit aufzuhelfen: Der Koch wie der Schneider sind namentlich dokumentiert, und sie sind erst noch Christen; beides besagt: vollkommen unverdächtig. Oder sind im Gegenteil die hilfsbereiten Spötter das unverdächtigste Element? Wunder des Glaubens verstehen keinen Spass und kein Schmunzeln; gegenüber Andersdenkenden wollen sie verteidigt, als Wahrheiten erwiesen werden: eos, qui (…) natum esse de virgine ceteraque huius historiae miracula inrident, sic contemnemus tamquam eos pueros, qui, cum pictorem propositis tabulis, quas intueatur, pingentem viderint, non putent posse hominem pingi, nisi aliam picturam, qui pingit, aspexerit. quant. anim. 33,76 (387-388) Über Leute, die <Christi> Geburt aus der Jungfrau und die andern Wunder der Heiligen Geschichte verlachen, wollen wir gleichgültig hinwegsehen - wie über Buben, die, wenn sie einem Maler zugesehen haben, wie er ein Bild, das vor ihm stand, kopierte, sich nun nicht vorstellen können, dass der Maler einen Menschen auch dann malen kann, wenn er nicht auf ein Bild schaut, das einen Menschen darstellt. Ein Text zum selben Thema, der um ein Vierteljahrhundert später verfasst worden ist, lässt die Verteidigungs-(oder Beweis-)Methode deutlicher werden: <?page no="287"?> W 30 Wunder 287 de virginitate autem sanctae Mariae, si hoc, quod scripsi, non persuadet fieri potuisse, neganda sunt omnia, quae mirabiliter in corporibus acciderunt. quod si propterea non creditur, quia semel factum est, quaere ab amico, quem hoc adhuc movet, utrum nihil inveniatur in litteris saecularibus, quod et semel factum sit et tamen creditum - non fabulosa vanitate, sed, sicut existimant, historica fide. epist. 143,12 (411-412) Wenn all das, was ich bezüglich der Jungfräulichkeit der Heiligen Maria geschrieben habe, nicht überzeugend darlegt, dass es so hat geschehen können, muss man allem, was sich auf wunderbare Weise an leiblichen Gestalten ereignet hat, den Glauben versagen. Wenn es aber deshalb als unglaublich erscheint, weil es sich nur ein einziges Mal abgespielt hat, so frage einen Freund, der sich über so etwas noch aufhalten kann, ob sich im weltlichen Schrifttum nicht etwas findet, was nur ein einziges Mal geschehen und dennoch geglaubt worden ist - nicht einfach, weil man Geschichten gerne glaubt, sondern so, wie man etwas für geschichtlich verbürgt beurteilt. Beide Apologien der Jungfrauen-Geburt suchen die «Wertigkeit» des Zweiflers in zwei Hinsichten herabzustufen: 1) Der erste Gegner wird als unreifer, ahnungsloser Junge hingestellt, der zweite als bedauernswerter, sozial isolierter Mensch mit veralteten Ansichten. 2) Beide Zweifler leiden am selben Denkfehler: Sie betrachten die Einmaligkeit des Ereignisses als Indiz seiner Unwahrscheinlichkeit - als ob ein Maler (Gott) nur kopieren, nichts Originäres schaffen könnte; als ob es in Büchern nicht wimmelte von einmaligen Ereignissen aus der unbezweifelbaren Wirklichkeit! - In beiden Hinsichten sucht Augustin die Glaubwürdigkeit des Wunders dadurch zu festigen, dass er die Glaubwürdigkeit des Zweiflers zu erschüttern trachtet. Die Fragwürdigkeit dieses Unterfangens liegt auf der Hand. - Eine dritte Apologie der Geburt aus der Jungfrau: haec veraciter, non fallaciter facta sunt. «sed nova sunt, sed insolita sunt, sed contra naturae cursum notissimum sunt.» quia magna, quia mira, quia divina - et eo magis vera, certa, firmata! c. Faust. 29,4 (397-398) Das ist wahrhaftig, nicht nur scheinbar geschehen. [vorgestellter Einwurf: ] «Aber neuartig ist das, aber ungewöhnlich ist das, aber gegen den allbekannten Lauf der Natur ist das! » [wieder Augustin: ] <Ja>, weil es gross, weil es wunderbar, weil es Gott gemäss ist - und umso mehr wahr, gewiss, beglaubigt! Dieser Versuch, den Unglauben des andern allein mit herrscherlicher, rein rhetorischer Brillanz zum Schweigen zu bringen, überzeugt bloss, solange die Worte dröhnen. - Eine andere Methode, das Wunder zu verteidigen, rüttelt paradoxerweise am Wunderbaren des Wunders. Dazu zwei reine Parallelen: <?page no="288"?> Kreisen um Gott 288 grande miraculum; sed non multum mirabimur factum, si attendamus facientem: ille multiplicavit in manibus frangentium quinque panes, qui in terra germinantia multiplicat semina, ut grana pauca mittantur et horrea repleantur. sed, quia illud omni anno facit, nemo miratur. admirationem tollit non facti vilitas, sed assiduitas. vgl. Mt 15,32-38 serm. 130,1 (nach 400) Ein grosses Wunder; doch werden wir nicht besonders staunen, dass es geschah, wenn wir uns bewusst machen, wer es tat: Derselbe vervielfältigte in den Händen der Esser fünf Brote, der auch die im Boden keimenden Samen vervielfältigt, sodass man nur eine geringe Menge von Körnern zu säen braucht und die Speicher sich füllen. Aber, weil ER das jedes Jahr tut, verwundern wir uns nicht darüber. Es ist nicht die Geringfügigkeit des Vorgangs, die ihm unser Staunen nimmt, sondern seine stetige Wiederkehr. miraculum quidem domini nostri Iesu Christi, quo de aqua vinum fecit, non est mirum eis, qui noverunt, quia deus fecit. (…) sicut enim, quod miserunt ministri in hydrias, in vinum conversum est opere domini, sic et, quod nubes fundunt, in vinum convertitur eiusdem opere domini. illud autem non miramur, quia omni anno fit. assiduitate amisit admirationem. vgl. Joh 2,7-10 in evang. Ioh. 8,1 (414-417) Das Wunder unseres Herrn Jesus Christus, wodurch er aus Wasser Wein machte, ist nicht staunenswert für die, die wissen, dass Gott es getan hat. (…) So nämlich, wie das, was die Diener in die Wasserkrüge schütteten, durch das Wirken des Herrn in Wein verwandelt wurde, so wird auch, was die Wolken zur Erde giessen, aufgrund des gleichen Wirkens des Herrn in Wein verwandelt. Darüber aber verwundern wir uns nicht, weil es jedes Jahr geschieht. Weil es stets wiederkehrt, hat es unser Staunen eingebüsst. In einem ersten Schritt wird dem Wunder (mit einem Blick auf den, der es tat) scheinbar das Wunderbare abgesprochen. Dann wird es in einen grösseren Rahmen eingeordnet und verliert so seine (wie sich gezeigt hat, gefährliche) Einmaligkeit. Darauf wird alles, was kaum noch beachtet im grossen Rahmen geschieht, auf die Stufe des Unselbstverständlichen, des Wunderbaren angehoben, wodurch auch das problematische Einzelwunder als Wunder gerettet ist. - Lazarus: inter omnia miracula, quae fecit dominus noster Iesus Christus, Lazari resurrectio praecipue praedicatur. sed, si adtendamus, quis fecerit, delectari debemus potius quam mirari: ille suscitavit hominem, qui fecit hominem! (…) plus est homines creare quam resuscitare. in evang. Ioh. 49,1 (414-417) Unter allen Wundern, die unser Herr Jesus Christus getan hat, wird ganz besonders die Erweckung von Lazarus gerühmt. Doch, wenn wir uns bewusst machen, wer es getan hat, sollten wir eher uns einfach freuen, als uns zu verwundern: Der hat einen Menschen erweckt, der den Menschen erschaffen hat! (…) Mehr ist es, Menschen <aus dem Nichts> zu erschaffen, als sie <aus dem Totenschlaf> wieder zu erwecken. <?page no="289"?> W 30 Wunder 289 «Mehr ist es…»: Argumentierte Augustin bei der Vermehrung der Brote wie bei der Wandlung von Wasser in Wein auf quantitativer Ebene (‹einmal› gegen ‹immer wieder›), so tut er es bei Lazarus - notwendig! - rein qualitativ. Gemeinsam ist beiden Methoden der Blick auf Gott. - Natürlich kranken alle «Beweise» für die Wahrheit von Wundern daran, dass sie den Glauben an andere Wunder oder wunderbar anmutende Behauptungen voraussetzen, die ihrerseits eine Stützung benötigten, hier etwa, und immer wieder, die Frage nach der Gottheit Christi. - Das Wunder seiner leiblichen Auferstehung gilt Augustin zusammen mit der Geburt aus der Jungfrau als grösstes Wunder: illud, quod die tertia in carne, in qua occisus fuerat, de sepulcro se reddidit vivum et numquam deinde moriturus cum illa adscendit in caelum, superat etiam cuncta, quae fecit. in evang. Ioh. 91,3 (418) Dass er am dritten Tag in seiner leiblichen Gestalt, in welcher er umgebracht worden war, selber aus dem Grab ins Leben zurückkehrte und leiblich zum Himmel emporstieg, um nie wieder zu sterben, das übertrifft ebenfalls alles, was er getan hat. Wer soll aus etwas derart Unglaubwürdigem etwas Glaubwürdiges machen? Augustin unternimmt es mithilfe einer scheinbar besonders starken Beweis-Form, die quantitative und qualitative Suggestiv-Elemente, den grösseren Rahmen und die höhere Wertigkeit, verknüpft: mirabile est hominem resurrexisse in carne et in caelum ascendisse cum carne; sed multo est mirabilius totum mundum rem tam incredibilem credidisse. serm. frg. Verbr. 38 (? ) Es ist wunderbar, dass ein Mensch leiblich vom Tod erstanden und leiblich zum Himmel aufgestiegen ist; aber viel wunderbarer ist, dass die ganze Welt etwas derart Unglaubliches hat glauben können. Absturz! - Ein Glaube der Menschen als tragender Grund für das Eine, Höchste, Rettende, das seinerseits der tragende Grund für diesen Glauben ist? Sollen wir, was wir glauben, für wahr halten, weil wir es glauben? - Die nachfolgenden Ausführungen über die «unglaublichen» Schwierigkeiten der Ausbreitung des Evangeliums über «die ganze Welt»- Apostel ohne Weltgewandtheit, ohne jede Bildung (sie beherrschten weder Grammatik noch Dialektik), und: es waren lediglich zwölf - wirken wie ein Ablenkungsmanöver. Hat der Prediger, getragen von der Pfingst-Hochstimmung des Publikums in der berstend vollen Kirche, einen allzu kühnen Sprung getan? Der Einwand, etwas sei ‹gegen die Natur› und daher unglaubwürdig, lässt sich schlagend entkräften. Dass sich (Exod. 7,10) ein Stab in eine Schlange verwandelt haben soll, ist selbstverständlich gegen die Natur: <?page no="290"?> Kreisen um Gott 290 nec ista cum fiunt, contra naturam fiunt nisi nobis, quibus aliter naturae cursus innotuit, non autem deo, cui hoc est natura, quod fecerit. gen. ad litt. 6,13,24 (401-414) Wenn das geschieht, ist das gegen die Natur, allerdings nur für uns, denen der Lauf der Natur anders bekannt geworden ist, nicht aber für Gott, für den das Natur ist, was er schafft. Die Zurechtweisung meint: ‹Bei der Betrachtung des Wunderbaren nimmst du den falschen Standort ein, nämlich den des Menschen statt den Gottes! › Womit allerdings sämtliche möglichen Einwände gegen sämtliche möglichen Wunder entfallen würden! - Wer an einem beliebigen «Einzelwunder» zweifelt, kann jederzeit auf das «Gesamtwunder» verwiesen werden, dessen sich kaum einer recht bewusst ist: plus est, quod fecit deus, et non miraris, quod excedit omnia opera: nihil erat, et mundus est! serm. 247,2 (400) Noch mehr hat Gott getan, und du wunderst dich nicht über das, was alle einzelnen Werke noch überschreitet: Nichts bestand, und nun steht die Welt! Alle überlieferten Wunder wiegen leichter als die Schöpfungs-Tat. - Wie aber bringe ich einen lauen Betrachter dieser Schöpfung dazu, all das, was ihn umgibt, als Wunder zu empfinden? Augustin macht uns das Geschenk eines Vorschlags: diei et noctis vices et constantissimum ordinem rerum caelestium, annorum quadrifariam conversionem, decidentes redeuntesque frondes arboribus, infinitam vim seminum, pulchritudinem lucis, colorum, sonorum, odorum saporumque varietates - da, qui primum videat atque sentiat, cum quo tamen loqui possimus: hebescit obruiturque miraculis! util. cred. 16,34 (391-392) Der Wechsel von Tag und Nacht und die unwandelbar sich gleichbleibende Abfolge der Himmelskörper, der vierteilige Umlauf der Jahreszeiten, das fallende und wieder spriessende Laubkleid der Bäume, die unbegrenzte Gewalt der Samen, die Schönheit des Lichts, die Mannigfaltigkeit von Farben, von Klängen, Düften und Geschmäcken - lass einen Menschen (mit dem wir aber sollen sprechen können) dies zum ersten Mal sehen und erleben: Er erstirbt überwältigt vor diesen Wundern. ‹Mach den Versuch, mit unverbrauchten Sinnen all den alten Dingen gegenüberzutreten, auf die du vielleicht «achtlos trittst», und du wirst sehen, wie neu, wie wunderbar sie sind.› - Und wo sollen wir beginnen? <?page no="291"?> W 30 Wunder 291 videt homo insolita et miratur. unde est ipse homo, qui miratur? ubi erat? unde processit? unde forma corporis? unde membrorum distinctio? unde habitus iste speciosus? de quibus primordiis? de quam contemptibilibus? et miratur alia - cum sit ipse mirator magnum miraculum. serm. 126,3,4 (409-418) Der Mensch sieht Fremdes und wundert sich. Woher kommt, der sich wundert, selber? Wo war er einst? Woraus hervorgegangen? Woher die Schönheit seines Körpers? Woher die Auszeichnung seiner Glieder? Woher diese auffallende Wohlgestalt? Aus was für Anfängen, was für verächtlichen? Und er wundert sich über anderes - und ist doch, der sich wundert, selber ein gewaltiges Wunder. Augustin sieht sich mit einem begreiflichen Einwand konfrontiert: ‹Mag alles voller Alltags-Wunder sein; aber so recht Wunderbares kommt nicht mehr vor! › cur, inquis, ista modo non fiunt? util. cred. 16,34 (391-392) Warum, fragst du, kommt so etwas heutzutage nicht mehr vor? Zwar hat Augustin darauf geantwortet, wenn Wunder wie die im Alten und im Neuen Testament überlieferten in eine Welt gesprochen würden, die solche Wunder, aus der Bibel eben, schon kennte, würden sie nicht mehr als ausnahmehaft, also nicht als Wunder erlebt und täten somit keine Wirkung mehr: «non moverent, nisi mira essent; at, si solita essent, mira non essent». - Dennoch: Auch künftig hat man mit Wundern zu rechnen: sicut humana consuetudo verbis, ita divina potentia etiam factis loquitur et, sicut sermoni humano verba nova vel minus usitata moderate ac decenter aspersa splendorem addunt, ita in factis mirabilibus congruenter aliquid significantibus quodammodo luculentior est divina eloquentia. epist. 102,33 (409) So wie die Menschen gewöhnlich mit Worten, so redet die Macht Gottes mit Taten, und so wie der Rede des Menschen neue oder nicht alltägliche Wörter, wenn massvoll und passend eingestreut, mehr Glanz verleihen, so strahlt in Wundertaten, die ganz ähnlich etwas Unalltägliches bedeuten, die Rede Gottes gewissermassen heller. Wie ein tüchtiger Redner setzt Gott, wenn er zu den Menschen «spricht», hie und da als Glanzlicht ein Wunder in den «Text». Da Gottes Rede, wie Augustin empfindet, nie abgebrochen ist, dürfen auch heutzutage Wunder sehr ernsthaft erwartet werden. Hier genüge als Beispiel ein einziges, ein Doppelwunder, das dank dem ausführlichen Bericht eines Betroffenen ungewöhnlich gut dokumentiert ist und dessen Auslöser, wie geglaubt wurde, Augustin selber war: Zwei Geschwister aus Caesarea in Kappadokien litten infolge eines Fluchs ihrer Mutter an ununterbrochenem Zittern. Da sie sich schuldlos wussten, suchten sie Heilung von ihrem Leiden an bekannten christlichen Märtyrer-Stätten, nach vielen Stationen im Osten auch in Ancona beim Heiligen Stephanus, doch ohne <?page no="292"?> Kreisen um Gott 292 Erfolg. Endlich setzten sie nach Nordafrika über und besuchten im Januar Uzalis, eine weitere Stephanus-Stätte (200 km östlich von Hippo). Da erschien dem Bruder eine weisshaarige Gestalt, die Heilung für März oder April versprach, und seine Schwester empfing die entscheidende Vision: sorori autem meae in visione Sanctitas tua in ea effigie, in qua te praesentes videmus, apparuit! per quod nobis significatum est ad istum locum nos venire debuisse. nam et ego Beatitudinem tuam saepius postea videbam per alias civitates in itinere, quo veniebamus, talem prorsus, qualem modo conspicio. admoniti ergo evidenti auctoritate divina ad hanc venimus civitatem ante dies ferme quindecim. Meiner Schwester aber erschien Deine Heiligkeit [= Augustin] in eben der Gestalt, wie wir dich hier sehen! Dadurch wurde uns bedeutet, dass wir hieher kommen müssten. Denn auch ich sah Deine Glückseligkeit danach öfters auf unserer Reise durch andere Orte, in die wir gelangten, ganz so, wie ich dich eben jetzt erblicke. Infolge dieses Hinweises von offensichtlich göttlichem Gewicht gelangten wir vor etwa 14 Tagen in diese Stadt. passionis meae vel oculi vestri testes sunt, vel miserabilis soror mea, quae ad eruditionem omnium communis mali praebet exemplum, ut, qui in illa, qualis ego fuerim, vident, in me quantum per spiritum sanctum suum dominus sit operatus, agnoscant. Woran ich litt, können eure Augen bezeugen oder meine elende Schwester, die zur Belehrung aller <noch immer> ein Beispiel von unser beider Übel bietet, damit die, welche in ihr mein ehemaliges Leiden sehen, in mir erkennen, wie Gott durch seinen Heiligen Geist Grosses gewirkt hat. orabam ego quotidie cum magnis lacrymis in loco, ubi est memoria gloriosissimi martyris Stephani. die autem dominico Paschae, sicut alii, qui praesentes erant, viderunt, dum orans cum magno fletu cancellos teneo, subito cecidi. alienatus autem a sensu, ubi fuerim, nescio. post paululum assurrexi et illum tremorem in corpore meo non inveni! - huic itaque tanto dei beneficio non ingratus, hunc libellum obtuli. serm. 322,2 (425-426) Ich betete jeden Tag unter vielen Tränen dort, wo sich die Gedächtnisstätte des weitberühmten Märtyrers Stephanus befindet. Am Oster-Sonntag aber - andere, die auch dort waren, haben es miterlebt -, während ich im Gebet unter vielem Weinen das Gitter der Umzäunung gefasst hielt, fiel ich plötzlich zu Boden. Ich verlor die Besinnung und weiss nicht, wo ich gewesen bin. Nach kurzer Zeit konnte ich wieder aufstehen und fand das schreckliche Zittern in meinem Körper nicht wieder! - Da ich gegenüber einer derart grossen Gunstbezeigung Gottes nicht undankbar sein wollte, habe ich diesen Heilungsbericht dargebracht. Dieses (hier nur in seinem letzten Drittel wiedergegebene) Schriftstück las Augustin am Dienstag nach Ostern in der Kirche vor, wobei auf sein Geheiss die beiden Geschwister - er gesund, sie noch immer vom Leiden geschüttelt - während der Lesung den Gläubigen zugewandt dastehen mussten. Augustin hatte es so angeordnet: <?page no="293"?> W 30 Wunder 293 stent ergo ambo, unus, cui donata est gratia, et altera, cui petenda est misericordia. serm. 322,2 (425-426) Beide sollen hier stehen, der Bruder, dem Gnade zuteil geworden ist, die Schwester, für die wir noch um Erbarmen bitten müssen. Danach hielt Augustin seine Predigt, die natürlich von dem aktuellen Wunder ausging. benedicamus deum, quia dignos nos habuit, ut hoc videremus. quid enim sumus, quia ego apparui istis nesciens? illi enim me videbant, et ego nesciebam, et admonebantur, ut ad istam civitatem venirent! quis sum ego? homo sum, unus de multis, non de magnis! serm. 323,2 (425-426) Danken wir Gott, dass er uns für würdig befunden hat, dies zu erleben. Was bin ich denn, dass ich diesen beiden erschienen bin, ohne es zu ahnen? Sie sahen mich ja, und ich wusste es nicht, und sie wurden angewiesen, in unsere Stadt zu kommen! Wer bin denn ich? Ein Mensch, einer von den Vielen, nicht einer von den Grossen! Darauf ging Augustin auf die Umstände der Errichtung der Stephanus-Stätten in Ancona und in Uzalis ein und wollte eben ein dortiges Wunder erzählen … et cum haec diceret Augustinus, populus de memoria sancti Stephani clamare coepit «deo gratias! Christo laudes! » in quo continuo clamore puella, quae curata est, ad absidam perducta est. qua visa populus cum gaudio et fletu, nullis interpositis sermonibus, sed solo strepitu interposito, aliquandiu clamorem protraxit, et silentio facto Augustinus episcopus dixit: scriptum est in psalmo: dixi: proloquar adversum me delictum meum domino deo meo, et tu dimisisti impietatem cordis mei. - dixi: proloquar; nondum prolocutus sum dixi: proloquar, et tu dimisisti. commendavi istam miseram, imo ex misera, commendavi eam vestris orationibus; disposuimus orare et exauditi sumus! sit gaudium nostrum actio gratiarum. Psalm 32,5 serm. 323,4 (425-426) und als Augustinus das sagte, begannen plötzlich Leute laut von der Stephanus-Kapelle her zu rufen: «Gott sei gedankt! Christus sei gelobt! » Unter diesen fortgesetzten Rufen wurde die junge Frau - geheilt! - nach vorn zur Apsis geleitet. Und als alle sie sahen, ergriff Jubel und Weinen die Menge; keiner konnte sprechen; allein Getöse herrschte längere Zeit. Dann, als es still wurde, sagte Bischof Augustinus: Geschrieben steht im Psalm: Ich sprach: Bekennen will ich dem Herrn meinem Gott meine Sünde, und du hast mir die Schuld meines Herzens vergeben. - «Ich sprach: Ich will bekennen.» Noch hatte ich nicht gesagt: «Ich sprach: Ich will bekennen» - und du hast vergeben! Ich hatte diese Elende, nein: einst Elende, euren Gebeten empfohlen; wir schickten uns an zu beten, und schon sind wir erhört worden! Unser Jubel gelte als Danksagung! <?page no="294"?> Kreisen um Gott 294 Tags darauf erstaunt uns Augustin: Er schenkt weder sich noch seinem Publikum, was er hatte predigen wollen, bevor das Wunder an der Schwester über die Menge hereingebrochen war: debet a nobis hesternus sermo compleri, qui maiori interruptus est gaudio. statueram enim et coeperam loqui caritati vestrae, quare mihi videntur isti fratres divina auctoritate ad hanc civitatem esse directi (…). serm. 324,1 (425-426) Wir müssen die gestrige Predigt noch vervollständigen, die von einem übergrossen Freuden-Rausch unterbrochen worden ist. Ich hatte nämlich beschlossen und bereits begonnen, darüber zu sprechen, warum, wie mir scheint, die beiden Geschwister durch göttlichen Wink in unsere Stadt gelenkt worden sind (…). Einerseits sind in diesen Worten frühe Spuren einer Konkurrenz unter stolzen Wallfahrts-Orten nicht zu verkennen. Anderseits erstaunt Augustins merkwürdig lehrerhaftes Verhalten: Er «muss» seine Predigt «vervollständigen». Sollte er nicht überglücklich sein, dass seine Predigt gestern eine unerhörte «Vervollständigung», eine übernatürliche Vollendung erfahren hat? - Vermutlich kann es ein Augustinus nicht leicht verwinden, dass ihm die Zügel auch nur für kurze Zeit entglitten sind. Wichtiger aber ist es wohl, Augustins Kühle auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit der Stephanus-Reliquie zu sehen: nondum est autem biennium, ex quo apud Hipponem Regium coepit esse ista memoria, et multis, quod nobis certissimum est, non datis libellis de his, quae mirabiliter facta sunt, illi ipsi, qui dati sunt, ad septuaginta ferme numerum pervenerant, quando ista conscripsi. civ. 22,8 (vor 427) Noch sind es nicht zwei Jahre, seit hier in Hippo Regius diese Gedenkstätte errichtet worden ist. Zu vielen Wundern - da bin ich ganz sicher - ist kein Bericht eingereicht worden. Dennoch haben die Zeugnisse, die uns eingehändigt worden sind, bis heute, da ich dies schreibe, die Zahl von ungefähr siebzig erreicht. Rechnen wir zu den 70 dokumentierten Wundern noch anonym gebliebene 30 hinzu, ergibt sich mit durchschnittlich einem Wunder pro Woche eine geradezu beängstigende Wunder-Frequenz, über Feiertage gewiss noch gesteigert, in Zwischenzeiten etwas ruhiger. Leidet der greise Augustin unter dem unruheträchtigen Ruhm, der mit der Reliquie (spätestens 425, in seinem 71. Lebensjahr) in seine Kirche Einzug gehalten hat und geistlicher Vertiefung abträglich ist? In den natürlichen Stolz auf die ausserordentliche Wirksamkeit der «eigenen» Reliquie dürfte sich eine gewisse Irritation gemischt haben, vielleicht auch der bohrende Zweifel: Setzt Gott seiner «Rede» zum Menschen heute wirklich so viele Glanzlichter auf, dass sie sich gegenseitig zutode blenden? <?page no="295"?> W 30 Wunder 295 Kehren wir von den spektakulären Einmal-Wundern, die sich gern in ehrgeizig religiösem, oft fiebrig erhitztem Raum abspielen, zurück zu den grossen, verachteten Alltags-Wundern, die soviel weiter tragen und denen Augustin, einkehrend in die Innerlichkeit des Menschen, vielleicht seine schönsten Zeilen gewidmet hat: (…) nam et in tenebris atque in silentio dum habito, in memoria mea profero, si volo, colores, et discerno inter album et nigrum et inter quos alios volo, nec incurrunt soni atque perturbant, quod per oculos haustum considero, cum et ipsi ibi sint et quasi seorsum repositi lateant. nam et ipsos posco, si placet, atque adsunt illico, et quiescente lingua ac silente gutture canto, quantum volo! conf. 10,8,13 (397-401) (…) denn auch während ich im Dunkeln und in der Stille bin, kann ich im Gedächtnis, wenn ich will, Farben hervorholen und unterscheide zwischen weiss und schwarz und beliebig andern Farben, die ich mir wünsche, und die Töne rennen nicht herbei und verwirren, was ich, einst durch die Augen geschöpft, eben jetzt betrachte, obschon auch sie da sind, gleichsam in einiger Entfernung weggelegt verborgen. Denn auch die Töne fordere ich zu mir, wenn es mich freut, und sie sind alsbald da, und bei ruhender Zunge und schweigender Kehle kann ich singen, soviel ich will! <?page no="297"?> 297 Ernste Spiele W 31 Wesen und Würde der Zahlen Schon früh hat Augustin Kenntnisse in Zahlensymbolik, so gut wie botanisches oder gemmologisches Wissen, zu einer notwendigen Voraussetzung umfassender Bibeldeutung erklärt und in seinem Lehrbuch der christlichen Bildung mit jugendlich unbescheidenem Bedauern festgestellt: ita multis aliis atque aliis numerorum formis quaedam similitudinum in sanctis libris secreta ponuntur; quae propter numerorum imperitiam legentibus clausa sunt. doctr. christ. 2,16,25 (396-397) So werden in den heiligen Büchern mittels Zahlen in vielen je wieder wechselnden Gestalten gewisse geheime Beziehungen ausgelegt, die einem Leser, der sich in den Zahlen nicht auskennt, verschlossen bleiben. Der Prediger Augustin dagegen hilft der Unvertrautheit seines Publikums mit der abstrakten Materie ‹Zahl› auch einmal nach, indem er zum ursprünglichsten aller Zählrahmen greift: natali tuo multos annos addidisti, quos pauciores diu vivendo fecisti. attende digitos computantis, non, ut, qui transierunt, tibi renuntientur, sed, qui remanserunt, et vides eos ad hoc venire, ut non sint. serm. 299e,1 (397? ) Dem Tag eurer Geburt habt ihr viele Jahre hinzugefügt. Doch durch euer langes Leben habt ihr sie vermindert. Schaut, wenn ich rechne, auf meine Finger, nicht, damit ihr daran die vergangenen Jahre ablesen könnt, sondern, die noch geblieben sind, und da seht ihr, wie sie dahin kommen, dass es bald keine mehr sind. * <?page no="298"?> Ernste Spiele 298 Kehren wir zum Lehrbuch zurück und fragen nach Wesenszügen der Zahl: numeri disciplina cuilibet tardissimo clarum est, quod non sit ab hominibus instituta, sed potius indagata et inventa. non enim sicut primam syllabam Italiae, quam brevem pronuntiaverunt veteres, voluit Vergilius, et longa facta est, ita quisquam potest efficere, cum voluerit, ut ter terna aut non sint novem aut non possint efficere quadratam figuram aut non ad ternarium numerum tripla sint, ad senarium sesqui, ad nullum dupla, quia intellegibiles numeri semissem non habent. doctr. christ. 2,38,56 (396-397) Das System der Mathematik - das leuchtet selbst dem Unbedarftesten ein - ist von den Menschen nicht etwa errichtet, sondern eher bloss entdeckt und vorgefunden worden. Es ist ja doch unmöglich - etwa so, wie dies mit der ersten Silbe des Wortes Italia geschah (die von den Alten kurz ausgesprochen, nach Vergils Wunsch aber gedehnt wurde) -, dass einer, weil es ihm passt, verfügen kann, dass drei mal drei nicht neun gibt, oder dass <in geometrischer Darstellung> daraus nicht ein Quadrat entsteht, oder dass neun nicht zu drei das Dreifache, zu sechs das Anderthalbfache und zu keiner Zahl das Doppelte ist, weil ungerade Zahlen keine <ganzzahlige> Hälfte haben. Zahlen kehren sich nicht an das Gutdünken des Menschen (eine gewisse Unvertrautheit mit ihnen ist daher durchaus erwartbar). Sie folgen ihren eigenen Gesetzen, und diese gelten unumstösslich. Das zeigt sich auch in der Art, wie der Mensch mathematische Sachverhalte in Worte fasst: in ratione numerorum, quam certe in usu quotidiano habemus, si dicimus ‹septem et tria decem esse debent›, minus considerate loquimur. non enim decem esse debent, sed decem sunt. de quibus itaque rebus recte dicatur, quod esse debeant, sive iam sint sive, ut sint, satis, quantum arbitror, disputavimus (…). homo enim sapiens esse debet, si est, ut maneat, si nondum est, ut fiat; deus autem sapiens non esse debet, sed est. epist. 162,2 (414-415) Wenn wir beim Rechnen im Alltag etwa sagen ‹sieben und drei müssen zehn ergeben›, so reden wir recht unüberlegt; denn zehn müssen sie nicht ergeben, vielmehr ergeben sie zehn. Von was für Gegenständen mit Recht gesagt wird, dass sie <etwas> sein müssen, ob sie es nun seien oder es erst sein sollen, das haben wir, meine ich, (…) genügend erörtert. Der Mensch jedenfalls muss weise sein - wenn er es ist, um es zu bleiben, wenn er es noch nicht ist, um es zu werden. Gott aber muss nicht weise sein, vielmehr ist er es. Die Selbstverständlichkeit der Parallele des Reichs der Zahlen, die fraglos «sind», was sie sind, mit Gott, der ebenso fraglos «ist», der er ist, mag überraschen. Sie ist aber in Augustins Werk keineswegs neu: <?page no="299"?> W 31 Wesen und Würde der Zahlen 299 cum incommutabilem veritatem numerorum mecum ipse considero et eius quasi cubile ac penetrale vel regionem quandam vel si quod aliud nomen aptum inveniri potest, quo nominemus, quasi habitaculum quoddam sedemque numerorum, longe removeor a corpore, et, inveniens fortasse aliquid, quod cogitare possim, non tamen aliquid inveniens, quod verbis proferre sufficiam, redeo tamquam lassatus in haec nostra, ut loqui possim, et ea, quae ante oculos sita sunt, dico sicut dici solent. - hoc mihi accidit etiam, cum de sapientia, quantum valeo, vigilantissime atque intentissime cogito. lib. arb. 2,122f (391-395) Wenn ich die unwandelbare Wahrheit der Zahlen bei mir selber erwäge und gleichsam das Schlafgemach, ja den verborgensten Raum der Wahrheit, ihr Reich oder, wenn sich ein anderer brauchbarer Name, sie zu benennen, finden lässt, Wohnstätte sozusagen und Thron der Zahlen -, dann werde ich über den Körper weit hinausgetragen und, wenn ich vielleicht etwas ausfindig mache, was ich mir vorstellen, aber nichts, was ich in Worte fassen kann, dann kehre ich gleichsam ermattet in unser Land hier zurück, um nur sprechen zu können, und rede dann über die Dinge vor unsern Augen, wie man eben darüber redet. - Dasselbe stösst mir zu, wenn ich über die Weisheit, so weit meine Kraft reicht, mit höchster Aufmerksamkeit und Anspannung nachdenke. Der letzte Satz muss im Licht einer Stelle im (heute apokryphen) Buch der Weisheit (8,1) gelesen werden, wo es von der Weisheit heisst: Sie reicht gewaltig von einem Ende bis zum andern und ordnet alles lieblich, aber auch im Licht des Ersten Korintherbriefs (1,24): Für die Berufenen sei Christus Gottes Weisheit - worauf Augustin vielfach verwiesen hat. - Was wird, in hymnischer Sprache, im obigen Text eigentlich beschrieben? Zum Reich der Zahlen und ihrer Wahrheit vorzudringen gleicht dem visionären Aufstiegs- und Entrückungs-Erlebnis eines Gott- Suchers. Dabei folgt der Verlauf dieser «Reise» immer der gleichen Kurve: Solange der Suchende noch auf Erden lebt, wird er, nach einem kurzen Schauen oder Berühren des Gesuchten, notwendig zurücksinken in die Schwachheit der zeitlichen Existenz. * Mathematik und Gottesschau also vereint! Kann der Mensch mittels Zahlen- Erkenntnis zur Gottes-Erkenntnis aufsteigen? Etwas Schwindelerregendes muss den Zahlen innewohnen. Dafür zwei Zeugnisse: unum vero quisquis verissime cogitat, profecto invenit corporis sensibus non posse sentiri. quidquid enim tali sensu attingitur, iam non unum, sed multa esse convincitur; corpus est enim et ideo habet innumerabiles partes. lib. arb. 2,85 (391-395) Jeder, der die Eins wahrheitsgemäss und ganz ernstlich denkt, findet in der Tat, dass sie mit unsern Körpersinnen nicht wahrgenommen werden kann. Denn alles, was von einem solchen Sinn berührt werden kann, ist unwiderlegbar bereits nicht mehr eines, sondern vieles; es ist ja ein Körper und hat daher unzählbar viele Teile. <?page no="300"?> Ernste Spiele 300 Die Behauptung eines unbekannten Häretikers, alles, was einmal anfange, habe auch ein Ende, nullum esse sine fine principium, widerlegt Augustin mit einem theologisch-dogmatischen und einem mathematischen Argument: quaedam incipientia permanebunt, sicut ipsa sanctorum hominum (…) vita aeterna. quod iste non vidit, qui putavit esse dicendum ac definiendum nullum esse sine fine principium; nec ipsum potuit attendere numerum, cuius initium est ab uno et finis in nullo. nullus quippe numerus quamlibet magnus vel dicitur vel, si iam dici non potest, cogitatur, cui non addi possit, ut maior sit. c. adv. leg. 1,2,3 (419-420) Einiges, was einmal anfängt, bleibt fortbestehen; so etwa das ewige Leben (…) der Gottgefälligen. Das hat der Mann übersehen; glaubte er doch, man müsse erklären und festsetzen, kein Anfang sei ohne Ende. Auch war er nicht imstande, die Zahlenreihe ins Auge zu fassen, deren Anfang doch bei eins und das Ende nirgends ist. Es lässt sich ja keine noch so grosse Zahl aussprechen oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, denken, zu welcher man nicht etwas hinzuzählen kann, sodass sie noch grösser wird. Sowohl Eins wie Unendlich machen den Menschen schwindeln, sind ihm nicht unmittelbar zugänglich. Und doch macht der Mensch in dieses eigentlich Unzugängliche hinein seine Schritte, etwa indem er eine Regel auch für diesen Bereich postuliert: ita per omnes ceteros hoc reperies, quod in prima copula numerorum, id est uno et duobus, inventum est: ut, quotus quisque numerus est ab ipso principio, totus post illum sit duplus eius. hoc ergo, quod per omnes numeros esse immobile, firmum incorruptumque conspicimus, unde conspicimus? non enim ullus ullo sensu corporis omnes numeros attingit, innumerabiles enim sunt. unde ergo novimus per omnes hoc esse? lib. arb. 2,91f (391-395) So wirst du durch die ganze Zahlenreihe hindurch dieses Gesetz antreffen, das beim ersten Zahlenpaar, bei eins und zwei gefunden wurde: So viel wie eine Zahl, absteigend betrachtet, von null entfernt ist, so viel ist es aufsteigend bis zu ihrem Doppelten. Wir sehen, dieses Gesetz gilt unveränderlich, ist fest und unverletzlich; aber wie erkennen wir das? Keiner kann ja mit irgendeinem Körpersinn alle Zahlen berühren; denn sie sind unzählbar. Woher also wissen wir, dass es über alle hin gilt? * Der Umgang mit Zahlen erfordert also höchste Bedachtsamkeit, und auf Zahlen werden wir in den Heiligen Schriften immer wieder verwiesen: Auf welchem Weg können wir zum Glauben an die Richtigkeit der Zahl-Angaben finden, wenn zB <?page no="301"?> W 31 Wesen und Würde der Zahlen 301 von noch nicht einmal 26jährigen Männern aus dem Stamm Jakob berichtet wird, sie hätten Enkel gehabt? haec omnia, quae indissolubilia videntur, magnam continent sine dubitatione rationem. sed nescio, utrum possint cuncta ad litteram convenire, praecipue in numeris, quos in scripturis esse sacratissimos et mysteriorum plenissimos ex quibusdam, quos inde nosse potuimus, dignissime credimus. quaest. hept. 1,152 (419) All das scheint unauflösbar, steht aber zweifellos aus einem triftigen Grund da. Allerdings weiss ich nicht, ob jede Angabe wörtlich zu nehmen ist, vor allem bei Zahlen, welche nach meiner begründeten Überzeugung, die ich aus dem Studium einiger von ihnen habe gewinnen können, in den Schriften ganz besonders geheiligt und geheimniserfüllt sind. Nicht also Zahlen wie 26 (die keine heilige Zahl ist und durch Verrechnung mehrerer Zahlangaben zustande gekommen ist), sondern «heilige» Zahlen soll man nicht wörtlich nehmen. Was aber hebt die heilige Zahl von der gewöhnlichen ab? ihre Seltenheit? ihre auffällige Häufigkeit? ihre arithmetisch-geometrische Schönheit? ihre Wiederkehr bei immer denselben oder aber bei ganz verschiedenen Inhalten? Und warum sollte man ausgerechnet die heiligen Zahlen nicht wörtlich nehmen? - Eine Zahl «nicht wörtlich» nehmen meint offenbar, ihrer Geheimnis-Fülle Rechnung tragen, sie offenhalten für mehr als nur eine Bedeutung. Dies kann dadurch geschehen, dass der Interpret neben der Ganzzahl verschiedene Summanden-Reihen der betreffenden Zahl berücksichtigt. So hat etwa die Zahl 10 je eine andere «Farbe», ob sie als 5+5 (Zusammenhang mit den fünf Sinnen) oder als 3+7 (Seele + Vollendung / Heiliger Geist / Tugenden) oder als 3+(3+4) (Seele + heidnische und christliche Tugenden) oder als 1+2+3+4 (Symbol der Vollendung) oder eben als 10 (Gerechtigkeit / Gesetz / Weisheit) gedeutet wird. Damit aber verzichtet der Interpret auf den Anspruch, seine Deutung sei allgemeingültig. - Darauf verzichtet Augustin ausdrücklich gerade auch in einem sensiblen, hochheiligen Zahlen-Bezirk: bei den Stunden-Annahmen (3; 6; 9 / 40 / 36 und 6 / 12 und 24 / 1 und 2) bzw. Zeitangaben um Sterben und Auferstehung Christi: <?page no="302"?> Ernste Spiele 302 horum quidem numerorum causas, cur in scripturis sanctis positi sint, potest alius alias indagare, vel, quibus istae, quas ego reddidi, praeponendae sint vel aeque probabiles vel istis etiam probabiliores; frustra tamen eos esse in scripturis positos et nullas esse causas mysticas, cur illic isti numeri commemorentur, nemo tam stultus ineptusque contenderit. trin. 4,6,10 (399-419) Ein anderer mag andere Gründe aufspüren, weshalb in <diesem Abschnitt der> Heiligen Schriften gerade diese Zahlen niedergelegt sind. Vielleicht sind die von mir vorgeschlagenen dann den andern vorzuziehen, oder es sind beide gleich wahrscheinlich, oder die andern sind wahrscheinlicher als die meinen. Dass sie aber grundlos in die Schriften gesetzt seien und dass dafür, dass an dieser Stelle eben diese Zahlen genannt werden, keine geheimnisvollen Ursachen bestünden, das wird keiner, sei er noch so einfältig und untauglich, behaupten. * Um das erstaunliche Mass an magischer Strahlkraft einer heiligen Zahl spürbar zu machen, werfen wir einen Blick auf die Zahl 6: Gegen Ende des Schöpfungsberichts (Gen 2,2f) heisst es: Und Gott vollendete am siebenten Tage sein Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebenten Tage von all seinem Werke, das er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an ihm hat Gott geruht von all seinem Werke, das er geschaffen und vollbracht hat. Im Vorübergehen hat sich die Zahl 7 als heilige, nämlich als vom Schöpfergott «geheiligte» erwiesen; das eigentliche Schöpfungs-Werk verbindet sich mit den ersten sechs Tagen. Dazu hält Augustin eine Überraschung bereit: non possumus dicere propterea senarium numerum esse perfectum, quia sex diebus perfecit Deus omnia opera sua, sed propterea Deum sex diebus perfecisse opera sua, quia senarius numerus perfectus est. itaque, etiamsi ista non essent, perfectus ille esset; nisi autem ille perfectus esset, ista secundum eum perfecta non fierent. gen. ad litt. 4,7,14 (401-414) Wir können nicht sagen, die Sechszahl sei deswegen eine vollkommene Zahl, weil Gott all seine Werke während sechs Tagen vollbrachte, vielmehr, Gott habe seine Werke deswegen während sechs Tagen vollbracht, weil die Sechszahl eine vollkommene ist. Somit: auch wenn seine Werke nicht wären, wäre diese Zahl vollkommen; wäre sie aber nicht vollkommen, wären die Werke nicht gemäss dieser Zahl vollbracht worden. Durch die Beschäftigung mit einer Zahl wird Augustin (wie er oben sagte) derart «weit über den Körper hinausgetragen», dass sie gegen alles denkbare Materielle ihre souveräne Geltung behauptet, ja es entsteht der Eindruck (den die Zweitformulierung noch bestätigt), Gott halte sich in seinem Tun an einen Rahmen, den ihm die Zahl vorgibt. <?page no="303"?> W 31 Wesen und Würde der Zahlen 303 Was verleiht der Zahl 6 ihre ausserordentliche Würde? Sie ist (wie Augustin gen. ad litt. 4,2,2ff ausführt) nicht nur die Summe der ersten drei Zahlen: 1+2+3; sie ist zudem das Produkt der ersten drei Zahlen, die zugleich ihre Teiler sind: 1x2x3. Weiter lässt sie sich als Dreieck darstellen, «sie steigt ins Dreieck auf: surgit in trigonum», wobei die Teile, die das Dreieck zustande bringen, je nur einen Zähler auseinander liegen, was zu Gleichseitigkeit, also zur idealen Form führt. Augustin nennt die Zahl 6 (wie übrigens schon die Pythagoreer) «die erste vollkommene Zahl: numerum primum (…) perfectum» - ist sie doch auch das Produkt von 2 und 3, der ersten geraden, männlichen, und der ersten ungeraden, weiblichen Zahl. Zurück zu den Schöpfungstagen: Hätte Gott also während des Schöpfungs- Vorgangs auf die Zahlen hingeblickt, sich an sie gehalten, sich an ihnen gehalten? War die Welt der Zahl denn vor aller Schöpfung? haec autem propter senarii numeri perfectionem eodem die sexiens repetito sex diebus perfecta narrantur - non, quia deo fuerit necessaria mora temporum (quasi qui non potuerit creare omnia simul, quae deinceps congruis motibus peragerent tempora) -, sed, quia per senarium numerum est operum significata perfectio. civ. 11,30 (vor 420) Wegen der Vollkommenheit der Sechszahl, so wird berichtet, seien diese <Werke> in sechsmaliger Wiederholung des einen Tages während sechs Tagen vollbracht worden - nicht, dass Gott diesen Zeitraum benötigt hätte (als ob er nicht alles, was dann in harmonischen Bewegungen die Zeiten zustande bringen sollte, auf einmal hätte erschaffen können) -, sondern, weil durch die Sechszahl die Vollendetheit der Werke zum Ausdruck gelangen konnte. Damit scheinen die Proportionen zurechtgerückt. Bezeugt wird, dass Gott gegenüber der Zahl den Vorrang besitzt; aufrecht erhalten wird, dass Zahlen als Deutungs-Hilfen aufgefasst werden sollen. - Die Grundüberzeugung, dass Zahlen in den biblischen Texten wohl gewogen sein wollen, hat Augustin mehrfach durch eines seiner Lieblingsworte (Buch der Weisheit 11,20) gerechtfertigt: nec frustra in laudibus dei dictum est: omnia in mensura et numero et pondere disposuisti. civ. 11,30 (vor 420) Nicht umsonst findet sich unter den Worten zum Lob Gottes: Alles hast du nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet. > Boyer 66ff; Hofmann; Marrou 214ff; O’Daly 180ff <?page no="304"?> Ernste Spiele 304 W 32 153 Fische Erste Szene, am See Gennesaret: Drei Fischer, unter ihnen Petrus, haben während der ganzen Nacht nichts gefangen; nun ist es Morgen. Christus heisst sie das Netz noch einmal auswerfen. Gefangen wird eine riesige Menge Fische. Trotz der Hilfe eines zweiten Boots reisst das Netz. Berühmtes Christus-Wort der Berufung zu Petrus (Lk 5,10): Von nun an wirst du Menschen fangen. - Die zweite Szene spielt nach der Auferstehung Christi, am Tiberias-See: Fünf Fischer, Petrus unter ihnen, haben die ganze Nacht nichts gefangen; nun ist es Morgen. Ein Unbekannter am Gestade heisst sie das Netz zur rechten Seite des Bootes auswerfen. Gefangen werden - das Netz bleibt ganz! - viele schwere Fische. Da erkennt Johannes, einst der Lieblingsjünger, den Unbekannten und flüstert Petrus zu (Joh 21,7): Es ist der Herr! - Sie zählen die Fische: es sind hundertunddreiundfünfzig. * centum quinquaginta tres pisces quid sibi volunt, sine dubio conquirendum est. quid sibi volunt quinquaginta? in isto enim numero, id est, in quinquaginta, mysterium est. quia ter multiplicati quinquaginta fiunt centum quinquaginta. nam ideo videtur additus ternarius numerus, ut admoneamur, ex qua multiplicatione facti sunt centum quinquaginta tres. ac si diceretur centum quinquaginta duo, ex illo numero, qui supercrevit, admoniti divideremus in septuaginta quinque, quoniam septuaginta quinque bis ducti faciunt centum quinquaginta. divisionem quippe binariam binarius numerus additus indicaret. si diceretur centum quinquaginta sex, in vigenos quinos partiri debuimus, ut fierent eorum sex partes. nunc autem, quia dictum est centum quinquaginta tres, in tres partes debemus dividere totum illum numerum, id est, centum quinquaginta. huius ergo numeri pars tertia quinquaginta sunt. itaque nostra tota consideratio in quinquagenario numero figenda est. serm. 252,8 (395-396) Was es mit diesen 153 Fischen auf sich hat, muss man natürlich sorgfältig untersuchen. <Das heisst, man muss fragen: > Was soll die Zahl 50? In dieser Zahl nämlich, in der Fünfzig, ist das Geheimnis beschlossen. Denn dreimal 50 ergeben 150. Denn <nur> deswegen scheint die Zahl drei hinzugefügt zu sein, damit uns bewusst wird, aus was für einer Multiplikation 153 hervorgegangen ist. Wenn von 152 die Rede wäre, müssten wir im Blick auf die überschiessende Zahl <zwei> bei 75 spalten, da 75 zweimal genommen 150 macht. Dass die Teilung durch zwei erfolgen müsse, würde eben die Endzahl 2 anzeigen. Wäre von 156 die Rede, hätten wir in Fünfundzwanziger-Einheiten spalten müssen, damit es sechs <gleiche> Teile würden. So aber, weil es 153 heisst, müssen wir die ganze Zahl, also 150, dritteln. Ein Drittel dieser Zahl ist 50. Daher müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Zahl 50 richten. <?page no="305"?> W 32 153 Fische 305 Damit diese zuerst rein behauptete, dann listig herbeigerechnete Basis-Zahl 50 irgend etwas erklären, mit Inhalt gefüllt werden kann, geht Augustin den Umweg über die viel prominentere Basis 40: quadraginta dies fecit <Christus> in terra cum discipulis; ante passionem autem quadraginta dies ieiunavit. (…) quadragenarius ergo numerus tempus hoc significat, in quo laboramus in saeculo. (…) cum bene gesserimus quadragenarium numerum, id est, bene vixerimus in ista temporali dispensatione, secundum praecepta dei ambulantes, accipiemus mercedem denarium illum fidelium. (…) serm. 252,10 Vierzig Tage lang verweilte Christus <nach seiner Passion> auf Erden bei den Jüngern, und vierzig Tage lang fastete er vor seiner Passion. (…) Somit (! ) bedeutet die Zahl 40 die Zeit hier, während welcher wir in der Welt leiden. (…) Wenn wir «die Zahl 40» recht gelebt haben werden, das heisst, wenn wir im Rahmen von Gottes Heilsplan so gelebt haben wie man soll, und wir gemäss Gottes Geboten gewandelt sind, werden wir den bekannten Denar der Gläubigen empfangen. (…) Augustin erinnert an das Gleichnis (Mt 20,1ff) von den Arbeitern im Weinberg, die, trotz ganz verschiedener Arbeitszeit, alle je einen denarius erhalten, eine Münze mit dem ursprünglichen Wert von 10 As, einen «Zehner» eben. denarius kann so gut die Münze wie die Zahl 10 meinen. Wer «den Denar» erhalten hat, hat Aussicht auf das Himmelreich. itaque ad quadragenarium illum bene gestum adde mercedem denarii, et fiet quinquagenarius numerus; qui significat ecclesiam futuram, ubi semper laudabitur deus. serm. 252,11 Daher zähle zu den erwähnten recht gelebten 40 den Lohn eines Zehners hinzu, und es entsteht die Zahl 50, und sie bedeutet die künftige Kirche, in welcher immerfort Gott gelobt werden wird. Auf eine Begründung, am ehesten mit dem Stichwort Pfingsten, lässt sich Augustin nicht ein, sondern eilt weiter; denn nun gilt es, einen Weg von der Basis 50 hin zu 153 zu finden. Dabei hilft Gott gleich zweimal: sed, quia in nomine trinitatis vocati sunt omnes, ut in quadragenario numero bene vivant et denarium accipiant, ipsum quinquagenarium ter multiplica, et fiunt centum quinquaginta. adde ipsum mysterium trinitatis, fiunt centum quinquaginta tres, qui piscium numerus in dextera inventus est. serm. 252,11 Aber, weil alle im Namen der Dreieinigkeit aufgerufen sind, in der Zahl 40 gottgefällig zu leben und den Zehner zu empfangen, musst du die Zahl 50 nun mit drei multiplizieren, und es entstehen 150. Zähle nun noch das Geheimnis der Dreieinigkeit hinzu, und es entstehen 153, so viel, wie sich an Fischen zur Rechten des Schiffes fand. <?page no="306"?> Ernste Spiele 306 Die Endzahl 3 hat also zwei ganz disparate Funktionen: erst ist sie banale Hinweismarke für das methodisch richtige Spalten der Rätsel-Zahl, dann aber auch Trägerin des Allerheiligsten. - Die «künftige Kirche», gut verdreifacht, ergibt also die Erwählten. Magere Aussichten, einst zu ihnen zu gehören! in quo tamen numero innumerabilia sunt millia sanctorum. unde nulli mali proicientur, quia non ibi erunt. nec ullo schismate retia disrumpentur, quae sunt vincula unitatis et pacis. - satis esse arbitror expositum grande mysterium. serm. 252,11f Allerdings - zu dieser Zahl gehören unzählbare Tausende von Seligen. Aus dieser Zahl werden keine Bösen verworfen werden, da es dort keine <mehr> geben wird. Und kein Schisma wird die Netze reissen lassen, welche ja die Bande der Einheit und des Friedens bedeuten. - Damit ist, denke ich, das grosse Geheimnis genügend ausgelegt. Abruptes, immerhin tröstliches Ende der Instruktion. - Haben die Hörer mehr gewonnen als eine dumpfe, irgendwie erhabene Empfindung? - Fast alle Kirchenväter haben sich mit der Deutung von Zahlen in der Bibel befasst. Augustin bildet damit keine Ausnahme. Er nimmt die Zahl als Schwelle zu einer Welt unverrückbar fester Wahrheit ernst. Wenn der Prediger also an solchen Spekulationen auch seine Hörer teilhaben lässt, verfolgt er als Ziel, ihren Blick für eine Wirklichkeit zu schärfen, in der nicht alles schwimmt und sich verändert. * Viele Jahre später können wir Augustin wieder während einer Predigt zusehen: Während er in jungen Jahren sein Publikum fast überfallartig mit seinen Zahlen- Deutungen konfrontiert hatte, geht er hier in reiferer Einschätzung der Möglichkeiten seines Publikums sanfter ans Werk. Bereits die inhaltliche Schilderung der beiden Fischfang-Szenen könnte kaum beschaulicher einsetzen: prius ergo, cum piscatores inveniret dominus, quos adhuc non invenerat, etiam per totam noctem nihil ceperunt, sine causa laboraverunt. iussit, ut retia mitterent; non dixit ‹in dexteram›, non dixit ‹in sinistram›, sed mittite, inquit, retia. miserunt (…) tanta erat etiam piscium multitudo, ut retia rumperentur. - sic se habuit illa piscatio. quid ergo ista? mittite, inquit, retia in dexteram partem. (…) serm. Guelf. 15,1 (412) Beim ersten Mal, als der Herr die Fischer erst fand - bisher hatte er sie ja noch nicht gefunden -, hatten sie die ganze Nacht nichts gefangen, hatten sich erfolglos abgemüht. Er hiess sie die Netze auswerfen; er sagte nicht ‹zur Rechten›, er sagte nicht ‹zur Linken›, sondern sagte einfach Werft die Netze aus. Sie warfen sie aus (…) Derart gross war die Menge der Fische, dass die Netze rissen. - So verhielt es sich mit dem ersten Fischfang. Was aber ist mit dem andern? Werft, sagte er, die Netze zur Rechten aus. (…) <?page no="307"?> W 32 153 Fische 307 Die Netze, lehrt Augustin anschliessend, reissen beim ersten Mal nicht etwa trotz der Beteiligung eines zweiten Bootes, sondern wegen derselben: Beides deute auf die hienieden noch ungeläuterte Kirche, die eben Gute wie Böse umfasst. - Gross sind beim zweiten Mal die Fische, weil damit alle Seligen gemeint seien: omnes sine fine victuri sunt. quid tam magnum quam, quod non habet finem? (…) hic regnum caelorum erit; nullus haereticus latrabit, nullus schismaticus se separabit; omnes intus erunt, in pace erunt. serm. Guelf. 15,1 Alle werden sie ohne Ende leben. Was ist so gross wie, was kein Ende hat? (…) Hier wird das Himmelreich sein; kein Häretiker wird bellen, kein Schismatiker sich abspalten; alle werden drin sein, werden im Frieden sein. Und nun macht sich Augustin an die Zahlen-Deutung: et omnes, quot erunt? centum quinquaginta tres erunt? - absit, absit a nobis, ut vel in isto populo, qui hic ante me stant, tam paucos dicam esse, qui in regno caelorum futuri sunt, ubi milia, innumerabilia milia, quae vidit Iohannes induta stolis albis. (…) Offb 7,9 serm. Guelf. 15,2 Und «alle», wieviele werden das sein? Werden es 153 sein? - Ferne sei, ferne sei das von mir! Nur schon von dieser Gemeinde, die hier vor mir steht, werde ich nicht sagen, darunter seien bloss so wenige, die sich im Himmelreich finden werden, wo schon Tausende, unzählig viele Tausende sind, die Johannes gesehen hat: angetan mit langen, weissen Gewändern. (…) Welch ein Kompliment an die Hörer! Doch ist sehr zweifelhaft, dass der bald Sechzigjährige, seit Jahren Kämpfer für seine schreckliche Gnadenlehre, dem Optimismus seiner Worte selber glaubt. - Bevor er auf das eigentliche Zahlen- Problem eintritt, versammelt und ermuntert er die Seinen: quid sibi ergo vult numerus iste? - alios doceo, alios commoneo: qui non audierunt, discant; qui audierunt et obliti sunt, recolant; qui tenent, in memoriam, quod audierunt, me commemorante firmentur. serm. Guelf. 15,2 Was soll also diese Zahl? - Die einen belehre ich, die andern erinnere ich wieder daran. Die es noch nicht gehört haben, mögen sich unterrichten; die es gehört, aber vergessen haben, sich wieder erinnern; die, was sie gehört, behalten haben, bei meinen Darlegungen gefestigt werden. <?page no="308"?> Ernste Spiele 308 Die Wissenden dürfen nun auf ihr Wissen stolz sein und bleiben deswegen bei der Stange; die Neulinge sind stolz, dass man ihnen zutraut, derart Unselbstverständliches zu verstehen: numeri huius ratio ad decem et septem incipit. signaculum est omnium sanctorum, omnium fidelium, omnium iustorum in regno caelorum futurorum. decem et septem: decem propter legem, septem propter spiritum gratiae. impone legem: nemo facit, nemo implet. adde adiutorium spiritus: fit, quod iubetur, quia deus adiuvat. (…) spiritum sanctum sic commendat deus per Isaiam prophetam: spiritus, dicit, sapientiae et intellectus, consilii et fortitudinis, scientiae et pietatis, spiritus timoris dei. iste est septiformis spiritus, qui etiam super baptizatos invocatur. lex decalogus est; decem enim praecepta scripta erant in tabulis. (…) tolle spiritum: occidit littera, quia reum facit; non liberat peccatorem. (…) littera enim occidit, spiritus vero vivificat. iunge ergo septem ad decem, si vis inplere iustitiam. quando aliquid facere per legem iuberis, roga spiritum, ut adiuvet. Is 11,2; 2 Kor 3,6 serm. Guelf. 15,2 Methodische Beschäftigung mit dieser Zahl beginnt bei der Zahl 17. Sie weist auf alle Seligen, alle Gläubigen, alle Gerechten im kommenden Himmelreich hin. Zehn und sieben: zehn wegen dem Gesetz, sieben wegen dem Geist der Gnade. Auferlegst du das Gesetz, tut es keiner, erfüllt es keiner. Fügst du als Beistand den Geist hinzu, so geschieht, was befohlen wird, weil Gott mithilft. (…) Gott kennzeichnet den heiligen Geist durch das Wort seines Propheten Jesaia folgendermassen: Geist der Weisheit (1) und der Einsicht (2), des Rates (3) und der Stärke (4), des Wissens (5) und der Frömmigkeit (6), der Furcht des Herrn (7). Dies ist der siebengestaltige Geist, der auch über den Täuflingen angerufen wird. Das Gesetz ist der Dekalog; zehn Gebote nämlich waren auf den Tafeln aufgezeichnet. (…) Hebst du den Geist auf, so tötet der Buchstabe <des Gesetzes>; denn er lässt den Menschen schuldig werden, erlöst den Sünder nicht. (…) Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Füge also die Sieben zur Zehn, wenn du die Gerechtigkeit verwirklichen willst. Wirst du durch das Gesetz geheissen, etwas zu tun, so bitte den Geist <der Gnade>, dass er dabei helfe. <?page no="309"?> W 32 153 Fische 309 Offenbar erkennt Augustin, wie so oft, an einer gewissen Unruhe, dass angesichts seines Höhenflugs das Publikum auseinanderzufallen droht. Er setzt daher zu einer zweiten Ermunterung an: commendavimus decem et septem; sed quam longe sunt a centum quinquaginta tribus! - multi tamen sciunt, quod dicturi sumus. qui sciunt, ferant moras. quando duo ambulant in via, unus velox et unus tardus, in potestate velocis est, ut simul ambulent, si expectet ad illum. ergo, qui scit, quod dicturus sum, velox est; sed expectet tardum comitem, donec et ipse instruatur de decem et septem. serm. Guelf. 15,3 Gedeutet haben wir zehn und sieben; doch wie weit sind wir noch von 153 entfernt! - Immerhin: Viele wissen schon, was ich sagen will. Sie mögen hinnehmen, dass ich nur langsam vorankomme. Wenn zwei den gleichen Weg gehen, und einer ist rasch, der andere langsam, so hat es der Rasche in der Hand, dass sie dennoch miteinander gehen können: wenn er nämlich auf den andern wartet. Wer also schon weiss, was ich sagen will, ist der Rasche; möge er auf seinen langsamen Begleiter so lange warten, bis auch der über 17 unterrichtet ist. Damit stösst der Kapitän vom Ufer ab. fiunt centum quinquaginta tres, si ipsi decem et septem sic numerantur, ut ab uno incipias et omnes addas, quo usque ad decem et septem pervenias. si enim incipias dicere: unum, duo, tria, quatuor…, pervenis ad decem et non inventurus es in manu tua nisi decem. si autem sic numeres: unum et duo: iam tres sunt; et tria: iam sex sunt; et quatuor: iam decem sunt; et quinque: iam quindecim sunt; et sex: iam viginti unum sunt; et septem: iam viginti octo sunt; et octo: iam triginta sex sunt; et novem: iam quadraginta quinque fiunt; et decem: iam quinquaginta quinque sunt. serm. Guelf. 15,3 Es entstehen 153, wenn man so bis 17 zählt, dass man bei 1 beginnt und alle folgenden Zahlen beifügt, bis man zur 17 gelangt. Freilich, wenn man so zu zählen beginnt: eins, zwei, drei, vier …, dann gelangt man zu zehn und wird da ausser 10 nichts in der Hand halten. Wenn man aber folgendermassen zählt: 1 plus 2: macht bereits 3; plus 3: macht bereits 6; plus 4: macht bereits 10; plus 5: macht bereits 15; plus 6: macht 21; plus 7: macht 28; plus 8: macht 36; plus 9: so werden es 45; plus 10: macht 55. Der Kapitän suggeriert, er sehe bereits Land: ecce iam proximi sumus, et spes est perveniendi, quia tantum accessimus! serm. Guelf. 15,3 Seht, schon sind wir ganz nah und können hoffen, das Ziel zu erreichen, da wir derart nahe herangerückt sind! <?page no="310"?> Ernste Spiele 310 adde ergo undecim: fiunt sexaginta sex; adde duodecim: fiunt septuaginta octo; adde tredecim: fiunt nonaginta unum; adde et quatuordecim: fiunt centum quinque. serm. Guelf. 15,3 Addiere also 11: so werden es 66; addiere 12: so werden es 78; addiere 13: so werden es 91; addiere noch 14: so werden es 105. Bewegung in der Menge; aufgehellte Gesichter: iam et tardi secuntur veloces! Nun folgen auch die Langsamen den Raschen ganz leicht! adde ergo et quindecim: fiunt centum viginti; adde sedecim: fiunt centum triginta sex; adde decem et septem: fiunt centum quinquaginta tres! - ibi ergo erunt omnes, qui currunt ad «decem et septem»: qui faciunt legem dei, adiuvante spiritu dei. serm. Guelf. 15,3 Addiere also noch 15: so werden es 120; addiere 16: so werden es 136: addiere 17: es werden 153! - Dazu also werden alle gehören, die auf «zehn und sieben» zulaufen, das heisst: die das Gesetz Gottes erfüllen, wobei der Geist Gottes ihnen beisteht. 17 beziehungsweise 7 und 10 weisen somit den Weg zur Vollendung menschlichen Daseins, insofern sie auf das rechte Leben auf der doppelten Grundlage des Alten und des Neuen Testaments in deren Quintessenz (Gesetz ; Geist der Gnade) hinweisen. - Dass 153 sich als weithin strahlendes Symbol der Dreieinigkeit denken oder darstellen lässt, hat wohl die Anziehungskraft dieses Deutungs- Weges der Fischfang-Szene zusätzlich erhöht: o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o numerus decem et septem surgens in trigonum centum quinquaginta trium summam complet. epist. 55,17,31 (um 400) Wenn sich die Zahl 17 ins Dreieck erhebt, macht sie 153 voll. «Was es mit diesen 153 Fischen auf sich hat, muss man natürlich sorgfältig untersuchen.» So Augustin im Jahr 396. - Bis heute ist diese Frage offen. <?page no="311"?> W 33 Naturbetrachtung zwischen Physik und Metaphysik 311 W 33 Naturbetrachtung zwischen Physik und Metaphysik carbunculi fulgor nocte non vincitur der Rubin leuchtet auch im Dunkeln gen. c. Manich. 2,10,14 (388-390) Dieser Abschnitt mag den Ring unserer Themen schliessen, indem er an das erstgewählte Thema erinnert. Zwischen Wahrheit und Dichtung: sed multo est mirabilius, quod a fratre et coepiscopo meo Severo Milevitano de isto lapide comperi. se ipsum namque vidisse narravit, quem ad modum Bathanarius quondam comes Africae, cum apud eum convivaretur episcopus, eundem protulerit lapidem et tenuerit sub argento ferrumque super argentum posuerit; deinde, sicut subter movebat manum, qua lapidem tenebat, ita ferrum desuper movebatur, atque argento medio nihilque patiente concitatissimo cursu ac recursu infra lapis ab homine, supra ferrum rapiebatur a lapide. (…) dixi, quod ab illo audivi, cui, tamquam ipse viderim, credidi. quid etiam de isto magnete legerim, dicam: quando iuxta eum ponitur adamans, non rapit ferrum et, si iam rapuerat, ut ei propinquaverit, mox remittit. civ. 21,4 (vor 427) Noch viel erstaunlicher ist, was ich von meinem Mitbruder und Mitbischof Severus von Mileve über diesen Stein erfahren habe. Er erzählte nämlich, er habe selber gesehen, wie Bathanarius, ehemals kaiserlicher Repräsentant für Afrika, - als Bischof war er bei ihm zum Essen geladen - den bewussten Stein hervorzog, ihn unter ein Silbertablett hielt und oben aufs Tablett ein Eisenstück legte. Je nachdem er darunter die Hand mit dem Stein bewegte, verschob sich darüber dann das Eisenstück, und die Silberplatte wurde in keiner Weise verletzt, während in rasendem Hin und Zurück unten der Stein von dem Mann, oben das Eisen vom Stein mitgerissen wurde. (…) Damit habe ich erzählt, was ich von meinem Mitbruder gehört habe; ihm glaube ich, wie wenn ich es selbst erlebt hätte. Nun will ich noch sagen, was ich, ebenfalls von diesem Magnet-Stein, gelesen habe: Wenn man neben ihn einen Diamant legt, zieht er das Eisen nicht mit sich, und, wenn er es eben noch getan hat, dann - sobald sich der Diamant nähert, lässt der Magnet das Eisen los! Glaubt Augustin, was er gehört hat? Mit Sicherheit. Glaubt er, was er gelesen hat? Vermutlich erkennt er in der rührenden Vermenschlichung - ein Stein fühlt Respekt vor einem andern, gleichsam höher stehenden - das Gefahrenmoment. Aber es steht doch geschrieben …! <?page no="312"?> Ernste Spiele 312 Zwischen Gewissheit und Rätsel: cum aer aquam manifeste moveat, unde autem ipse moveatur, ut sit ventus, occultum sit, (…). gen. ad litt. imperf. 4,14 (393-394) Zwar ist ganz offensichtlich: die Luft setzt Wasser in Bewegung. Woher aber die Luft ihrerseits in Bewegung gerät, sodass Wind daraus entsteht, das ist dunkel. Physik-Lektion beim Wasserholen: nullum vas ab ore inpressum repleri aquis potest. unde satis indicat aeris naturam locum petere superiorem. videtur enim vas inane, sed aere plenum probatur. (…) cum autem vas ita conlocatur, ut os non habeat deorsum, sed in latus inclinatum, intrat aqua inferius exeunte aere superius. (…) quodsi vi maiore vas deprimitur, ut vel ex latere vel desuper aquae repente influant et undique os vasis obtegant, disrumpit eas aer sursum nitens, ut eis ad ima locum faciat. at ipsa disruptio singultus vasorum est, dum partibus fugit, quia totus tam cito non potest propter illius oris angustias. ita si aer super aquas ire cogitur, etiam confluentes eas dissicit, cum exilientes inpetu eius inpulsae ebulliunt et eum bullis crepantibus emittunt in sua properantem atque illis ad ima decidendi aditum dantem. gen. ad litt. 2,2,5 (401-414) Kein Gefäss lässt sich mit Wasser füllen, wenn man es mit der Öffnung nach unten eintaucht. Daraus erhellt recht gut, dass Luft von ihrem Wesen her einen Platz oben anstrebt. Es scheint zwar, das Gefäss sei leer, doch ist es offensichtlich mit Luft gefüllt. (…) Wenn man aber das Gefäss so eintaucht, dass seine Öffnung nicht gegen oben, sondern seitwärts geneigt steht, dringt das Wasser durch deren unteren Teil ein, während im oberen Luft entweicht. (…) Stösst man aber das Gefäss gewaltsam hinunter, sodass Wasser, seitlich oder von oben, beschleunigt hineinfliesst und die Öffnung ganz überschwemmt, dann zerreisst die Luft das Wasser, weil sie nach oben strebt und dem Wasser Platz nach unten machen will. Dieses Zerreissen äussert sich an den Gefässen als Blubbern: Die Luft flieht in einzelnen Fetzen, da sie es so schnell nicht auf einmal schafft, weil die Öffnung zu eng ist. Wenn die Luft also in der Weise über das Wasser aufzusteigen gezwungen wird, zerreisst sie das Wasser sogar, wenn es von allen Seiten anströmt. Angesichts des heftigen Heraufdringens der Luft sprudelt das Wasser auf und bildet Blasen und, indem die Blasen platzen, entlässt es die Luft: Sie eilt, in ihr Reich zu kommen, und gibt dem Wasser den Zugang zum Sturz in die Tiefe frei. Welch eine Selbstverständlichkeit! Und Augustin beschreibt sie mit offensichtlicher Formulierungslust und - nicht erwartbar! - mit peinlicher Genauigkeit! Denn er ist unsicher, ob ihm seine Leser darin folgen, dass ein leeres Gefäss <?page no="313"?> W 33 Naturbetrachtung zwischen Physik und Metaphysik 313 durchaus ein gefülltes Gefäss ist: Ein paar Jahre später beschreibt er genau denselben «Versuch» und schliesst mit dem verräterischen Satz: hoc praesenti facilius posset demonstrari facto quam scripto. anim. 4,12,18 (419-421) Dass sich das so verhält, liesse sich leichter beweisen, indem man es vor Publikum praktisch <mit Krug und Brunnen> vormacht, als, indem man es nur so schreibt. Taumeln zwischen wahr und falsch: iactus enim radiorum ex oculis nostris cuiusdam quidem lucis est iactus, et contrahi potest, cum aerem, qui est oculis nostris proximus, intuemur, et emitti, cum ad eandem rectitudinem, quae sunt longe posita, adtendimus. nec sane, cum contrahitur, omnino cernere, quae longe sunt, desinit, sed certe obscurius quam, cum in ea obtutus emittitur. sed tamen ea lux, quae in sensu videntis est, tam exigua docetur, ut, nisi adiuvetur extraria luce, nihil videre possimus. gen. ad litt. 1,16,31 (401-414) Der Strahlen-Wurf aus unseren Augen heraus ist ja eigentlich der Wurf irgendwie von Licht. Er kann verkürzt werden, wenn wir etwas im Bereich, der unsern Augen zunächst steht, anschauen, oder auch gedehnt werden, wenn wir geradeaus auf etwas schauen, das weit von uns entfernt liegt. Wenn sich unser Blick auf Nahes beschränkt, hört er aber nicht etwa ganz auf, auch noch das zu sehen, was weit entfernt ist, dies allerdings weniger scharf, als wenn sich der Blick direkt darauf richtet. - Der Lichtstrahl übrigens, der im Auge des Sehenden wohnt, ist - so werden wir belehrt - derart schwach, dass wir, wenn ihm nicht Licht von aussen zu Hilfe kommt, nichts sehen können. Im ersten Satz sagt Augustin ja zu einer zwar verbreiteten, aber falschen Theorie des Sehens. Dann referiert er präzise und zustimmend eine optische Tatsache. Endlich lehnt er die Verantwortung ab - «so werden wir belehrt» - gegenüber einem Standpunkt, der den begründeten Zweifel an der Richtigkeit der falschen Theorie des Sehens niederschlagen möchte. <?page no="314"?> Ernste Spiele 314 Altes Testament, Gen 30,37ff: Jakob setzt seinen Ziegen und Schafen bei der Paarung zweifarbige Äste vor Augen, und siehe da: sie werfen gesprenkelte Junge! mulieri accidisse traditur et scriptum reperitur in libris antiquissimi et peritissimi medici Hippocratis, quod suspicione adulterii fuerat punienda, cum puerum pulcherrimum peperisset utrique parenti generique dissimilem, nisi memoratus medicus solvisset quaestionem illis admonitis quaerere, ne forte aliqua talis pictura esset in cubiculo; qua inventa mulier a suspicione liberata est. quaest. hept. 1,93 (419) Einer Frau stiess es einst zu - so wird überliefert, und es findet sich niedergeschrieben in den Werken von Hippokrates, des gewichtigsten und erfahrensten Arztes -, dass sie wegen Verdachts auf Ehebruch bestraft werden sollte, weil sie ein wunderschönes Kind geboren hatte, das völlig anders aussah als Vater oder Mutter oder, was man in der Sippe gewohnt war -, hätte nicht obgenannter Arzt das Problem gelöst, indem er den Leuten nahelegte zu prüfen, ob nicht etwa ein Bildnis von vergleichbarer Schönheit im Schlafzimmer hange. Es fand sich tatsächlich ein solches, und die Frau wurde vom Verdacht befreit. Was soll Augustin bloss tun? Es gilt, das amüsante Märchen aus dem Alten Testament als unbedingt glaubwürdig zu erweisen. Diese Rolle übernimmt ein anderes Märchen -, das Augustin, im Unterschied zum Bericht des Alten Testaments, nicht glauben muss, und auch nicht glaubt! Daher schüttet er seinen heimlichen Unglauben gewaltsam zu, indem er sich auf den Arzt der Ärzte, ja beinahe auf dessen eigene Handschrift beruft. So wird aus dem inneren Nein ein geäussertes Ja, und die Geschichte aus der Bibel ist gerettet. Zwischen Physik und Ethik: in parvis autem specillis, sicut in pupillis oculorum, etsi magna facies sese opponat, brevissima imago pro modo speculi formatur. ergo et imagines corporum minui licet, si specula minuantur; augeri, si augeantur, non licet. hic profecto aliquid latet, sed nunc dormiendum est. epist. 3,3 (Ende 386) In kleinen Spiegelchen, wie etwa die Pupille unserer Augen eines ist, bildet sich, auch wenn eine grosse Gestalt davortritt, ein ganz kleines Abbild, analog zur Kleinheit des Spiegels. Verkleinerung ist also möglich, wenn man den Spiegel verkleinert; Vergrösserung, wenn man ihn vergrössert, dagegen nicht. - Da liegt tatsächlich ein fruchtbares Thema verborgen; doch jetzt ist Schlafenszeit. Augustin verbaut sich den Weg zur Wahrheit einerseits dadurch, dass er das beschriebene Phänomen mit der Grösse des Spiegels, mit dessen Dimensionen statt mit dessen <konvexer bzw. konkaver> Oberfläche in Beziehung bringt. Ginge er davon aus, läge die Lösung in Griffweite: ein Hohlspiegel müsste vergrössern. Anderseits ist nicht ganz undenkbar, dass das Ergebnis, dass die Gestalt sich nicht <?page no="315"?> W 33 Naturbetrachtung zwischen Physik und Metaphysik 315 vergrössern lasse (dass also gleichsam die Schöpfung sich weigere, dem Menschen übermenschliches Mass zuzugestehen), Augustin tief befriedigte; setzte er sich doch in eben jenen Monaten intensiv mit Mönchtum und Askese im Christentum auseinander. Der archäologische «Beweis»: multum miror hoc, quod factum est de Iona, eum pro incredibili posuisse. (…) ut enim omittam commemorare, quanta magnitudo beluarum marinarum ab eis, qui experti sunt, indicetur: venter, quem costae illae muniebant, quae Carthagine in publico fixae populo notae sunt, quot homines in spatio suo capere posset! quis non coniciat, quanto hiatu patebat os illud, quod velut ianua speluncae illius fuit? epist. 102,31 (409) Ich wundere mich sehr, dass er dem, was mit Jonas geschehen ist, den Glauben versagt hat. (…) Ich brauche gar nicht in Erinnerung zu rufen, was erfahrene Seeleute über die Riesengrösse von Meertieren berichten -, allein schon der Bauch, den einst jene bekannten Rippenknochen umschlossen, die in Karthago öffentlich ausgestellt und dem Volk bekannt sind: wieviele Menschen hätte der in seinem Hohlraum fassen können! Wer kann daraus nicht auf die riesige Öffnung des zugehörigen Maules schliessen, das quasi als Haustüre zu jener Höhle diente? tam longa quippe vita illorum hominum fuit, ut illic memoratorum, quorum et anni taciti non sunt, qui vixit minimum ante diluvium, ad septingentos quinquaginta tres pervenerit. nam plures nongentos annos etiam transierunt, quamvis nemo ad mille pervenerit. (…) non credunt etiam magnitudines corporum longe ampliores tunc fuisse, quam nunc sunt. (…) de corporum magnitudine plerumque incredulos nudata per vetustatem sive per vim fluminum variosque casus sepulcra convincunt, ubi apparuerunt vel unde ceciderunt incredibilis magnitudinis ossa mortuorum. vidi ipse non solus, sed aliquot mecum, in Uticensi litore molarem hominis dentem tam ingentem, ut, si in nostrorum dentium modulos minutatim concideretur, centum nobis videretur facere potuisse. civ. 15,8f (nach 419) Die damaligen Menschen lebten ja derart lang, dass von den in der Bibel Erwähnten, von welchen wir auch das Alter kennen, der Kurzlebigste vor der Sintflut auf 753 Jahre kam. Denn mehr als einer erreichte 900 Jahre und mehr -, niemand allerdings brachte es auf 1000. (…) Es gibt auch Leute, die nicht glauben können, dass auch die Körpergrösse damals bei weitem bedeutender war als heute. (…) Diese Zweifler lassen sich meist angesichts von Grabstellen überzeugen, die vom Alter, von der Gewalt eines Flusses oder wegen andern Ereignissen freigelegt worden sind. Da kommen Gebeine von unglaublichen Dimensionen zutage. Ich selber (nicht allein, vielmehr mit mehreren andern zusammen) habe an der Küste von Utica einen menschlichen Backenzahn von einer riesenhaften Grösse gesehen. Hätte man den stückchenweise zu Zähnen unseres Masses aufgespalten, so hätte er, wie uns schien, deren hundert ergeben können. Welch ein Glück, dass der Backenzahn isoliert gefunden wurde! So konnte er ohne Skrupel einem Menschen zugeschrieben werden. <?page no="316"?> Ernste Spiele 316 Nach den Glaubensakten am falschen Ort - zwei Beispiele von Skepsis am falschen Ort: quod vero et antipodas esse fabulantur, id est, homines a contraria parte terrae, ubi sol oritur, quando occidit nobis, adversa pedibus nostris calcare vestigia, nulla ratione credendum est. neque hoc ulla historica cognitione didicisse se adfirmant, sed quasi ratiocinando coniectant, eo, quod intra convexa caeli terra suspensa sit, eundemque locum mundus habeat et infimum et medium. et ex hoc opinantur alteram terrae partem, quae infra est, habitatione hominum carere non posse. nec adtendunt, etiamsi figura conglobata et rutunda mundus esse credatur sive aliqua ratione monstretur, non tamen esse consequens, ut etiam ex illa parte ab aquarum congerie nuda sit terra; deinde, etiamsi nuda sit, neque hoc statim necesse esse, ut homines habeat. quoniam nullo modo scriptura ista mentitur, quae narratis praeteritis facit fidem, eo, quod eius praedicta conplentur, nimisque absurdum est, ut dicatur aliquos homines ex hac in illam partem oceani inmensitate traiecta navigare ac pervenire potuisse. civ. 16,9 (nach 419) Wenn aber gewisse Leute davon reden, es gebe Antipoden, also Menschen auf der gegenüberliegenden Seite der Erde, da, wo die Sonne aufgeht, wenn sie bei uns untergeht, Menschen, die ihre Füsse unsern Füssen grad entgegen aufsetzen, so darf man absolut nicht an so etwas glauben. Sie geben zu, dass sie dies keiner wissenschaftlichen Erkenntnis verdanken, erschliessen es vielmehr rein theoretisch daraus, dass die Erde innerhalb einer Himmelskugel schwebe, und, was wir als Platz ganz unten erlebten, sei in Tat und Wahrheit ein Platz in der Mitte. Und daraus konstruieren sie die These, dass die andere Seite der Erde, die unten ist, nicht gut keine Menschen beherbergen könne. - Aber sie denken nicht daran, dass, selbst wenn man sollte glauben oder in irgendeiner Weise beweisen können, dass die Welt kugelrunde Gestalt habe, keineswegs daraus folgt, dass auf jener Seite die Erdoberfläche nicht von Wasser überflutet ist. Weiter muss, selbst wenn sie von Wasser frei sein sollte, daraus noch lange nicht folgen, dass sie Menschen beherberge. Denn die Heilige Schrift lügt auf keinen Fall: Die Glaubwürdigkeit ihrer Berichte über Vergangenes gründet sich darauf, dass ihre Voraussagen sich erfüllen. Weiter wäre es über die Massen widersinnig zu behaupten, irgendwelche Menschen hätten mit Schiffen nach Überwindung des unermesslichen Ozeans aus unserer in jene Hälfte der Erde gelangen können. Wer bedenkt, dass Wasser immer die tiefste Stelle sucht, müsste der nicht Augustins erster Überlegung zustimmen, dass sich unten an der Kugel nur Wasser finden wird und jene Hälfte somit unbewohnbar sein wird - wie es Augustin aus dem Schweigen der Bibel herauslesen möchte? <?page no="317"?> W 33 Naturbetrachtung zwischen Physik und Metaphysik 317 qui enim scrupulosius ista quaerunt et disserunt, aethereo superlapsu de mari dulcem invisibiliter dicunt extrahi vaporem his videlicet ascensionibus, quas nullo modo sentire possumus; inde conglobari nubes. (…) cuius rei documenta esse volunt, quod marinarum aquarum decoctarum vapor sinuato cooperculo exceptus humorem dulcem gustantibus exhibet. gen. ad litt. imperf. 14,47 (393-394) Diejenigen, welche diese Materie besonders gewissenhaft untersuchen und besprechen, erklären, indem Luft übers Meer hingleite, entziehe sie diesem unsichtbar süssen Wasserdampf, offenbar in einer Aufwärts- Strömung, die wir überhaupt nicht feststellen können. Daraus ballten sich dann Wolken. (…) Und den Beweis dafür, dass dieser Vorgang so ablaufe, wollen sie in dem Umstand sehen, dass der Dampf von abgekochtem Meerwasser, in einem bauchig geformten Deckel aufgefangen, süss schmeckt. * So wie Augustin «zwischen Physik und Metaphysik» pendelt, so pendelt er zwischen gläubigem Übernehmen und lebendiger Autopsie. Den einen Pol bildet sein «vidi ipse, non solus, ich hab es selber gesehen, und zwar nicht ich allein», den andern, ihm um Vieles näher liegenden sein «traditur, man überliefert». Augustin spürt kein drängendes Verlangen, je die naturwissenschaftliche Ursache zu erkennen; sieht er doch, seit frühen Jahren, das Wesentliche nicht in Welterkenntnis, sondern - mit der jugendlichen Ausschliesslichkeit von soliloq. 1,2,7 (387) - in weit Höherem: «deum et animam scire cupio : : nihilne plus? : : nihil omnino: Gott und die Seele begehre ich zu kennen : : Sonst nichts? : : Gar nichts.» > Marrou 120ff <?page no="318"?> 318 Hilfsmittel zur Beschäftigung mit Augustin Brown Brown, P., Augustinus von Hippo. Eine Biographie. engl. 1967; erweiterte Neuausgabe München 2000² (dtv). Beste umfassende Darstellung. Jaspers Jaspers, K., Augustin; in: Die grossen Philosophen, Band 1, München 1957, 319ff. Ein hochverdichteter, erleuchtender Text. Flasch Flasch, K., Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart 1980; 2003³ (Reclam). Horn Horn, Chr., Augustinus. München 1995 (Taschenbuch: Beck’sche Reihe Denker). Fuhrer Fuhrer, Th., Augustinus. Darmstadt 2004 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Mit einer ausgezeichneten bibliographie raisonnée. Leppin Leppin, H., Die Kirchenväter und ihre Zeit. Von Athanasius bis Gregor dem Grossen. München 2000 (Taschenbuch: Beck’sche Reihe Wissen). Lippold Lippold, A., Theodosius der Grosse und seine Zeit. Stuttgart u.a. 1968; erweitert München 1980² (Taschenbuch: Beck’sche Schwarze Reihe). Handbuch Drecoll, V. H. und ein Stab von etwa 40 Mitarbeitern, Augustin Handbuch. Tübingen 2007. Eingehende Darstellungen zu Person, Werk und Wirkungsgeschichte. Die Beteiligung verschiedener Fachrichtungen (Theologie, Philosophie, Philologie) führt zu fruchtbaren Überschneidungen. Lexikon Augustinus-Lexikon, hg. von C. Mayer u.a., Basel/ Stuttgart. Band 1: 1986-1994; Band 2: 1996-2002; Band 3: 2004ff, bisher bis institutum. Ein Lexikon der Begriffe (z.B. amor), der Schriften Augustins (z.B. Confessiones) und der Namen (z.B. Hieronymus). CD-ROM CAG 2, Corpus Augustinianum Gissense, a Cornelio Mayer editum (Zentrum für Augustinus-Forschung in D-97070 Würzburg), enthält den gesamten lateinischen Augustinus-Text, nach den je neusten kritischen Ausgaben, jedoch ohne deren kritischen Apparat. Dank Lemmatisierung ist dieses Hilfsmittel für praktisch alle denkbaren Fragen an den Text zugänglich. Daneben bietet die CD-ROM eine Literatur-Datenbank, die periodisch aufdatiert wird; Stand 2007: 31.000 Einträge. www.augustinus.de Internet-Portal des Zentrums für Augustinus-Forschung in Würzburg. Führt u.a. zur Datenbank der Sekundärliteratur wie auch zur Datenbank der Bibliographien zu den bisher erschienenen Artikeln im Augustinus-Lexikon. www.augustinus.it bietet den lateinischen Text nach der Patrologia Latina, die italienische Übersetzung nach der Ausgabe der Nuova Biblioteca Agostiniana und bildliche Darstellungen Augustins, vorwiegend aus der Kunst Italiens: > Auswahl der Sprache > Sussidi > Iconografia. * <?page no="319"?> Hilfsmittel zur Beschäftigung mit Augustin 319 Es folgen einige wenige Publikationen, die sich im besonderen mit Aspekten befassen, die auch Gegenstand einzelner «Wanderwege» sind. Auf sie wird je am Ende eines Wegs mittels > verwiesen. Arendt Arendt, H., Der Liebesbegriff bei Augustin. Berlin 1929; Berlin/ Wien 2003. Barth Barth, H., Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins. Basel 1935. Bavel, christologie van Bavel, T.J., Recherches sur la christologie de saint Augustin. L’humain et le divin dans le Christ d’après saint Augustin. Fribourg 1954. Bavel, women van Bavel, T.J., Augustine’s View on Women. in: Augustiniana 39, 1989, 5-53. Blumenkranz Blumenkranz, B., Die Judenpredigt Augustins. Diss. Basel 1946. Borresen Borresen, K.E., Subordination and Equivalence: The Nature and Role of Women in Augustine and Thomas Aquinas. engl. transl. Washington DC 1981. Boyer Boyer, Ch., S.J., L’idée de vérité dans la philosophie de Saint Augustin. Paris 1940². Brown, Keuschheit Brown, P., Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums. Aus dem Englischen von M. Pfeiffer. München/ Wien 1991 (New York 1988). Burt Burt, D.X., Augustine’s World. An Introduction to His Speculative Philosophy. Boston 1996. Clark Clark, E.A., Adam’s Only Companion: Augustine and the Early Christian Debate on Marriage, Recherches Augustiniennes 21, 1986. Corcoran Corcoran, G., Saint Augustine on Slavery. Roma 1985. Duchrow Duchrow, U., Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin. 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Amsterdam/ Philadelphia 2000. Klein Klein, R., Die Sklaverei in der Sicht der Bischöfe Ambrosius und Augustinus. Stuttgart 1988. <?page no="320"?> Hilfsmittel zur Beschäftigung mit Augustin 320 Kontoulis Kontoulis, G., Zum Problem der Sklaverei bei den kappadokischen Kirchenvätern und Johannes Chrysostomus. Diss. Bonn 1993. Lamberigts Lamberigts, M., Julian of Aeclanum. A Plea for a Good Creator. in: Collectanea Augustiniana 38, 1988,5ff Lawless Lawless, G., Augustine of Hippo and his Monastic Rule. Oxford 1987. Maier Maier, F.G., Augustinus und das antike Rom. Stuttgart 1955. Markschies Markschies, Chr., Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen. München 2006. Markus Markus, R.A., St.Augustine’s View on the Just War. in: Studies in Church History 20,1983,1ff. Marrou Marrou, H.-I., Augustinus und das Ende der antiken Bildung. Paderborn 1981; (übers. nach der Ausgabe 1958 4 von: Saint Augustin et la fin de la culture antique. Paris 1938). 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