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Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800

1209
2009
978-3-7720-5319-1
978-3-7720-8319-8
A. Francke Verlag 
Ursula Kramer

Ein Lieto fine, ein glückliches Ende, gehörte seit der Entstehung der GAttung Oper in Italien zum festen Bestandteil der Handlungsdramaturgie. Im späten 18. Jahrhundert geriet diese einstige Selbstverständlichkeit mehr und mehr ins Wanken; die Gründe dafür sind in den grundlegenden historisch-politischen Konstellationen der Zeit ebenso zu suchen wie in den globalen Veränderungen der damaligen Theaterlandschaft (u.a. Rezeption der Shakespeare-Tragödien im Schauspiel). Der Band stellt eine Bestandsaufnahme von Finallösungen in den verschiedenen Erscheinungsformen des Musiktheaters (italienische opera seria, deutsches Singspiel und französische trafédie lyrique) um 1800 dar, bezieht darüber hinaus aber auch das zeitgenössische Oratorium und die Messe mit ein.

Ursula Kramer (Hrsg.) Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800 Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800 Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 40 Ursula Kramer (Hrsg.) Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des "Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater" der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Layout: Wolfgang Birtel, 55296 Lörzweiler Printed in Germany ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8319-8 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung ................................................................................................................................................. 7 Reinhard Wiesend Einführung ................................................................................................................................................... 9 Karl Böhmer Der Übergang vom Dramma zu Spektakel und höfischem Fest am Beispiel von Mozarts Idomeneo ........................................................................................... 19 Ursula Kramer »Wozu muß das Stueck einen froelichen Ausgang haben? « Zum Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts ..................................................................................................................................... 35 Daniela Philippi Zur Beachtung des Lieto fine von Seiten der Literaten um 1800 - dargestellt am Beispiel von Christoph Willibald Glucks Iphigénie en Tauride ............................................................................................................................... 71 Herbert Schneider Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville ......................................... 85 Klaus Ley Zum glücklichen Ende der Rettungsoper (Paisiello, Cherubini, Spontini) ................................................................................................................................................... 123 Gabriele Buschmeier Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 ...................................................... 161 Anno Mungen Finallösungen in Spontinis französischen Opern ............................................................ 175 Wolfram Enßlin Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs. Textliche Vorlage und musikalische Umsetzung .............................................................................. 183 Ludwig Striegel Lieto fine - oder auch nicht. Didaktische Möglichkeiten einer szenischen Interpretation ............................................................................................................ 203 Jürgen Blume Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 ................................................................ 209 Peter Niedermüller » … daß am Ende auch noch der ganze Chor singend einschwebt … « Musikalische Konzeption und Usancen des Konzertwesens in Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie ..................................................................... 231 6 Vorbemerkung Der vorliegende Band vereint die Referate, die am 7. und 8. Februar 2003 in der Universität Mainz gehalten wurden. Das Studium generale hatte für das Wintersemester 2002/ 03 das Leitthema »Was ist Glück« vorgegeben; in diesem Kontext initiierte der damalige Leiter des Musikwissenschaftlichen Institutes, Prof. Dr. Reinhard Wiesend, in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis für Drama und Theater der Johannes Gutenberg-Universität eine Tagung unter dem Titel Lieto fine. Dramaturgie des Schließens im Musiktheater und in der Musik um 1800. Dort wurde das Phänomen einer allmählichen Infragestellung des zuvor selbstverständlichen glücklichen Endes in den verschiedenen (auch nationalen) Ausformungen des Musiktheaters im späten 18. Jahrhundert unter musikwie literaturwissenschaftlichen Aspekten thematisiert, es wurden aber auch Seitenblicke auf Oratorium und Messe der Zeit sowie auf Beethovens Neunter Sinfonie geworfen und schließlich ein musikdidaktischer Entwurf zum Thema vorgestellt. Durch die Drucklegung der Beiträge findet das Projekt nun nach guter wissenschaftlicher Gepflogenheit seinen wirklichen Abschluss. 1 Hingewiesen sei an dieser Stelle allein auf die Problematik abweichender orthographischer Varianten. Identische termini technici wurden von den AutorInnen der verschiedenen Disziplinen Musik- und Literaturwissenschaft unterschiedlich geschrieben - kursiv, mit Anführungszeichen, mit (originaler) Kleinschreibung oder eingedeutschter Großschreibung. Die Herausgeberin hat sich entschlossen, hier nicht glättend einzugreifen, stehen die einzelnen orthographischen Lösungen auf der inhaltlichen Ebene doch in unmittelbarem Zusammenhang mit der jeweiligen Nähe des einzelnen Verfassers zum beschriebenen Phänomen. Allein der Kernbegriff des Lieto fine wurde der Übersichtlichkeit halber vereinheitlicht und ohne Kursivierung als deutsches Substantiv (Neutrum) behandelt. Selten hat sich das Generalthema eines Sammelbandes so sehr geeignet, zugleich als Leitspruch für die - lange ausstehende - Publikation übertragen zu werden. Möge sie für ihre Leser mehr als nur die formale Konvention eines Lieto fine bieten. Mainz, im August 2009 Ursula Kramer 1 Nur das Referat von Gerhard Poppe »Dona nobis pacem - und das Ende der Messe um 1800« wurde auf Wunsch des Verfassers nicht in die vorliegende Publikation aufgenommen. Reinhard Wiesend Einführung Zu den segensreichen Einrichtungen der Universität Mainz zählt das Studium generale, das für jedes Semester interdisziplinär anregende Themenschwerpunkte vorgibt. Diesmal bietet es die so fundamentale wie komplizierte Frage an: »Was ist Glück? « In einer Reihe von Veranstaltungen wird das Thema z.B. unter philosophischen, soziologischen, kulturgeschichtlichen, aber auch neurochemischen und mathematischen Aspekten abgehandelt. Es scheint dabei selbstverständlich, auch im Zusammenhang mit der Musik von Glück zu reden, ist es doch eine allgemeine Erfahrung, dass das Hören von Musik, und zwar sowohl das eher passive, als auch das bewusste, mitvollziehende Hören Glücksgefühle hervorrufen kann. Auch gehört es zu den Erfahrungen eines jeden aktiven Musikers, dass das Produzieren von Musik - abgesehen vom eher sportiven Element der geglückten Aufführung - immer wieder größte Befriedigung verschafft. Nicht umsonst hat die besondere Glückserwartung an die Musik auch ihre Kehrseiten, wie z.B. Frustration und Langweile bei Ausbleiben der Befriedigung oder die fanatische Verehrung vor allem von Sängern und Instrumentalisten als Garanten des erhofften Glückserlebnisses. Es gibt in der Musikgeschichte ein Stadium, bei dem das »Glück« Teil einer begrifflichen Formel wird: Das Lieto fine bezeichnet den glücklichen Ausgang, insbesondere einer Oper. Lieto fine ist ein Begriff der italienischen Alltagssprache, ähnlich dem englischen happy end, und es wird ähnlich gebraucht wie im Deutschen die Wendung »Ende gut, alles gut«. Diese Alltagsbedeutung geht im nichtitalienischen Sprachgebrauch jedoch verloren, und was bleibt, ist das Fremdwort für die Besonderheit des glücklichen Opernschlusses, auch und gerade bei eigentlich tragischen oder zumindest heroischen Sujets. Ein frühes theoretisches Zeugnis für das Lieto fine findet sich in dem von aufklärerischem Impetus geprägten Operntraktat Dell’opera in musica von Antonio Planelli, 1 der das Kapitel »Del finimento tristo [! ] e lieto« über den Opernschluss enthält. 2 Im historischen Rückblick mag die Position, die 1 Antonio Planelli, Dell’opera in musica, Neapel 1772, Francesco Degrada (Hrsg.), Fiesole 1981. 2 Ebd., S. 42f. Planelli bezieht, skurril und von der eingetretenen Entwicklung her völlig überholt erscheinen, genau besehen ist sie jedoch nicht ohne tieferes Interesse. Planelli unterscheidet nämlich selbstverständlich zwei Möglichkeiten des Tragödienschlusses: Die Tragödie der griechischen Antike habe zwangsläufig in der Katastrophe enden müssen, da das rohe und kriegerische Volk sonst nicht zu rühren gewesen sei. Ganz anders »la moderna tragedia, o sia il melodramma«, also die moderne Tragödie, die Planelli umstandslos mit der Oper gleichsetzt. Dass in ihr das Lieto fine obligatorisch sei, erklärt er ähnlich mit Argumenten, die auf den Zustand der Gesellschaft bezogen sind. Er geht sogar so weit, im Gebrauch des Lieto fine einen Beweis für den zivilisatorischen Fortschritt zu sehen, den er als Aufklärer in der Ruhe, im vornehmen Verhalten und in der Güte findet, während er als Priester zusätzlich auch Segnungen der christlichen Religion namhaft macht, darunter Nächstenliebe und Mitleid. Wenn Planelli den Gebrauch des Lieto fine teleologisch versteht und zivilisationsgeschichtlich rechtfertigt, so ist das natürlich arg vereinfacht und historisch unhaltbar. Der Ansatz verrät viel vom Erfahrungshorizont eines italienischen, oder zumindest eines neapolitanischen Intellektuellen der Zeit; aufgrund des Fehlens einer gewichtigen Sprechtheatertradition in Italien kann Planelli in der Oper die einzige ernst zu nehmende Form der Tragödie sehen, was unter anderem bedeutet, dass für ihn die französischen Klassiker wie Corneille und Racine ebenso wenig im Bewusstsein stehen wie der noch zu entdeckende Shakespeare. So obsolet Planellis Ansatz auch sein mag, in gewisser Hinsicht kann er für unsere Zwecke dennoch hilfreich werden, und zwar in dreierlei Hinsicht: dadurch nämlich, dass er das Lieto fine rechtfertigt und somit als nicht selbstverständlich versteht, dadurch, dass er das Lieto fine in einen historischen Kontext stellt, und dadurch, dass er das Lieto fine mit zivilisatorischen, also gesellschaftlichen Gegebenheiten in Verbindung bringt. Unsere Tagung hat sich nicht die Aufgabe gestellt, die Geschichte des Lieto fine aufzuarbeiten. Hierfür ist die Grundlage, die Geschichte der Oper, zumal ihres maßgeblichen italienischen Teils, noch viel zu wenig erforscht. (Erinnern möchte ich nur an die Tatsache, dass allein im 18. Jahrhundert die Zahl der Opern deutlich fünfstellig ist.) Vielmehr wird mit den folgenden Referaten durch die Beschränkung auf die Jahrzehnte um 1800 ein Zeitraum ausgewählt, in dem die Selbstverständlichkeit des Lieto fine mehr und mehr schwindet und in dem andere Lösungen immer häufiger erprobt werden. Auch wird es nicht leicht sein, die neuere Tendenz auf einige wenige kausale Voraussetzungen zurückzuführen. Stattdessen soll erst einmal ein Überblick über die Breite der Erscheinungsformen verschafft werden, bevor zusammenfassende Darstellungen riskiert werden können. 10 Reinhard Wiesend Einführung 11 Im komischen Theater gehört es bekanntlich zu den Grundvoraussetzungen, dass zuletzt alle Verwirrungen gelöst und damit auch die lächerlichen Situationen, in die die Rollen im Verlauf des Stückes gebracht worden sind, sozusagen geheilt werden. Im heroischen Drama hingegen, in der Tragödie, in der es vornehmlich um Leben und Tod geht, ist der glückliche Ausgang alles andere als selbstverständlich. Dabei ist die Tradition des Lieto fine in der Oper alt. Bereits für die erste Oper von Rang, Claudio Monteverdis L’Orfeo von 1607, gibt es zwei Schlussversionen: Auf der einen Seite - im Libretto - den Auftritt der rasenden Bacchantinnen, die sich an ihrem Verächter Orpheus rächen wollen, und auf der anderen Seite - im Partiturdruck - eine versöhnliche Version, nach der Orpheus von Apoll in den Himmel geführt wird, und diese Variante ist aller Wahrscheinlichkeit nach die endgültige. 3 Man mag argumentieren, dass für eine Oper, deren zentrales Thema die Wirkung von Musik ist, und zwar ihre harmonisierende Wirkung, der adäquate Schluss ohnehin in der Versöhnung liegt. Die Erfahrung lässt sich jedoch verallgemeinern, insofern als die Absicht, auf der narrativen Ebene einen tragischen Schluss herbeizuführen, im Musiktheater gewisser Voraussetzungen bedarf. Das tragische Ende kann musikalisch nämlich erst dann sinnvoll realisiert werden, wenn entsprechende kompositionstechnische Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Erinnert sei nur daran, dass z.B. ein Werkschluss in Moll noch lange Zeit undenkbar ist, dass also selbst bei überwiegend in Moll gehaltenen Stücken zuletzt der Akkord mit der großen Terz zu erklingen hatte. Ein weiterer Ausgangspunkt der Betrachtungen soll aus dem vorherrschenden Gebiet der Oper des mittleren 18. Jahrhunderts, der Opera seria (dem Dramma per musica) gewählt werden. Es ist die Lösung, die der maßgebliche Librettist, der kaiserliche Hofdichter Pietro Metastasio, z.B. in La clemenza di Tito gefunden hat, in einem Libretto, das bekanntlich erstmals 1734 durch Antonio Caldara vertont worden ist, und in dessen jahrzehntelanger Wirkungsgeschichte Wolfgang Amadé Mozarts Version von 1791 noch lange nicht den Endpunkt markierte. 4 Wie bei Metastasio üblich, liegt dem Stück eine komplizierte Intrigenhandlung zugrunde. Es wäre jedoch eine verfälschende Simplifizierung zu behaupten, die Intrige würde dadurch entwirrt und das Stück käme dadurch zu seiner glücklichen Lösung, dass die Verschwörung aufgedeckt und die Verhältnisse wiederhergestellt werden und die füreinander bestimmten Paare zueinander finden. Entscheidend ist vielmehr eine Reihe von Momenten, die den Schluss, den glücklichen Schluss, in spezifischer Weise prägen: So kommen die dramatischen 3 Vgl. hierzu Wolfgang Osthoff, »Claudio Monteverdi. L’Orfeo«, in: Carl Dahlhaus u.a. (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München/ Zürich 1991, S. 241-245, hier S. 243. 4 Vgl. Pietro Metastasio, Drammi per musica 2: Il regno di Carlo VI 1730-1740, Anna Laura Bellina (Hrsg.), Venedig 2003, S. 373-444. Verwicklungen und die seelischen Spannungen wesentlich durch das Eingreifen einer einzigen Person zu ihrer Lösung. Die Aufgabe übernimmt die Titelfigur, Kaiser Titus, der aufgrund seiner Souveränität, geleitet aber vor allem von seiner »virtù« und »clemenza«, also von der höfischen Tugend der Milde, die geplante Untat verzeiht und über Leben und Tod entscheidet. Die um ihn versammelten dramatis personae stimmen einen huldigenden Schlussgesang an. Durch seine souveränen Entscheidungen führt der Kaiser also die Lösung des dramatischen Knotens und damit den glücklichen Ausgang der Handlung herbei. Andererseits wird durch die Souveränität und die den Entscheidungen zugrundegelegten Motivationen die Institution des absoluten, aufgeklärten Fürsten nicht nur dargestellt, sondern durch das positive Erscheinungsbild auch stabilisiert. Eine weitere Dimension bedeutet Metastasios Konzeption des Schlusses in der bewährten Dramaturgie der Affektdarstellung, mit einer klaren inhaltlichen wie formalen Scheidung von Handlung und Affekt bzw. Reflexion; die beschriebene Lösung der Intrige erfolgt im Rezitativ der Scena ultima. Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Erfahrungen wird uns im Hinblick auf den fortgesetzten Gebrauch des Lieto fine einerseits und auf das Eindringen nicht-glücklicher Schlusslösungen andererseits vermutlich eine Reihe von Fragestellungen beschäftigen wie diejenige nach den Stoffen und Gattungen, nach den gewandelten gesellschaftlichen Erwartungen, nach formalen Lösungen oder nach den besonderen dramaturgischen und musikdramaturgischen Aufgaben. 5 Für das Aufweichen der Selbstverständlichkeit des Lieto fine, wie es in den Jahrzehnten um 1800 bis hin zur allgemeinen Akzeptanz des eigentlich tragischen Schlusses zu beobachten ist, lässt sich eine Reihe von Gründen namhaft machen, deren Gewicht von Fall zu Fall jeweils verschieden sein kann: Zu nennen wäre z.B. der gesellschaftliche Wandel infolge der Erschütterungen der Revolution; eine Rolle spielt sicherlich auch die verstärkte Lösung der Oper aus dem Kontext des Hoffestes, verbunden mit der Freiheit, nicht mehr primär auf Konventionen höfischer Verhaltensweisen Rücksicht nehmen zu müssen, nach denen es einfach unschicklich war, das extreme Ereignis des Todes auf die Bühne zu bringen. Aufmerksam zu machen wäre weiterhin auf die neue, realistischere, weniger idealisierte Sicht auf die Welt, und damit die Möglichkeit, auch aktuelle Stoffe zu thematisieren, wie das vorwiegend für die neu entstehende Gattung der sog. Rettungsoper gilt, und schließlich ist auch ein neues Ausdrucksbedürfnis zu beobachten, das 12 Reinhard Wiesend 5 Dass gerade die feste Etablierung des Lieto fine auf den widersprüchlichen Status des dramma per musica zwischen intendierter Tragödie und realisiertem Hoffest verweist, betont Michele Calella, »Die Opera seria im späten 18. Jahrhundert«, in: Herbert Schneider/ Reinhard Wiesend (Hrsg.), Die Oper im 18. Jahrhundert, Laaber 2001 (= Handbuch der musikalischen Gattungen Bd. 12), S. 45-57, hier S. 52. Einführung 13 sich bekanntlich schon im späteren 18. Jahrhundert ankündigt und das romantisch genannt werden mag. Nicht unerheblich ist auch die neu aufkommende ernsthafte Antikenrezeption, die anderen Ansätzen verpflichtet ist als die seit jeher beliebte, eher oberflächliche Nutzung von mythologischen oder historischen Stoffen der klassischen Antike, die für die Konventionen des Opernlibrettos adaptiert worden sind. Und charakteristischer Weise konnten neue Konzeptionen bis hin zum tragischen Schluss (der freilich sporadisch immer auch in der Opera seria nachzuweisen ist) vorzugsweise in den kleineren musikdramatischen Gattungen erprobt werden, in den »componimenti drammatici«, die eher am Rande des zeitgenössischen Interesses standen. 6 Nennen möchte ich beispielhaft das »Intermezzo tragico« genannte Dreipersonenstück Piramo e Tisbe von Marco Coltellini, vertont von Johann Adolf Hasse, das erstmals 1768 in privaten Kreisen in Wien zur Aufführung gekommen ist; bemerkenswert ist, dass in diesem seinerzeit sehr erfolgreichen Werk am Schluss keine der Rollen überlebt. 7 Und ähnlich tragisch enden etwa die 1775 aufgeführten Melodramen Ariadne auf Naxos und Medea von Georg Anton Benda. In gewissen Bereichen, und nicht nur im Hinblick auf die einsetzende Shakespeare-Rezeption, wird man einen besonderen Einfluss des Sprechtheaters auf die Oper annehmen müssen. Denn insbesondere die Tragédie lyrique orientierte sich von jeher immer auch an der Tradition der französischen Tragödie, wobei das obligatorische Lieto fine in der Regel durch einen Deus ex machina herbeigeführt wird. Bevor auf Gattungen außerhalb der Oper einzugehen sein wird, sollen einige Bemerkungen zu einer Oper von Mozart eingerückt werden, deren allgemeine Vertrautheit für das Verständnis dieser Skizze vielleicht hilfreich ist. Im Falle der Zauberflöte wird niemand bezweifeln, dass das Werk einen glücklichen Ausgang hat. Das jugendliche Paar, Tamino und Pamina, ist vereint, nachdem es Prüfungen durchlaufen und Widerstände überwunden hat. Sarastros Priester und die drei Knaben oder Genien huldigen ihm. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Schluss der Zauberflöte mit der lange Zeit gültigen Idee des Lieto fine wenig zu tun hat. Denn es sollte erstaunen, dass die Schlussszene der Oper nur noch einen Bruchteil des Personals betrifft: Papageno und Papagena haben ebenso wenig an ihr Teil wie die Königin der Nacht, Monostatos und die drei Damen. Natürlich steht der fürstliche Souverän, Sarastro, zuletzt über allem, aber er führt das Ende nicht herbei. Tamino (und in seinem Gefolge Pamina) hat durch seinen Prü- 6 Ders., »Kleinere szenische Gattungen (›componimenti drammatici‹)«, ebd., S. 63-74. 7 Ausschließlich Piramo e Tisbe gewidmet sind die von Wolfgang Hochstein und Reinhard Wiesend herausgegebenen Beiträge in den Hasse-Studien 3, Stuttgart 1996. fungsweg, eine individuelle sittliche Tat, eine Läuterung erfahren, die zuletzt vom Chor der Priester akklamiert wird. 8 Zur idealisierenden Profilierung des jugendlichen Paares haben die Autoren des Werks eine Kontrastdramaturgie gewählt: Sowohl dem derb-naiven Vogelfänger und seinem »Weibchen« wie auch der Gruppe der Widersacher muss der Tempel, die Welt der Eingeweihten verschlossen bleiben. Entsprechend früher enden die mit diesen Personen verbundenen Handlungsstränge: Papagena und Papageno verlassen berauscht vom Liebesgestammel ihres Buffa-Duetts die Bühne, es schließt sich, mit einer Ensemblestruktur nicht unähnlich der Introduktion, der Auftritt der fünf Bösen an, die letztlich durch Naturgewalten, Blitz und Donner und die nachfolgende Sonne in den Untergrund abgedrängt werden. Das Herbeiführen des Opernschlusses durch eine moralische Entscheidung ist nicht neu. So liegt die plakative Wahl zwischen Gut und Böse z.B. der Festa teatrale Alcide al bivio von Metastasio und Hasse zugrunde (Wien 1760). 9 In ihr hat der jugendliche Herkules zu wählen zwischen Aretea, der Personifizierung der Tugend, und Edonide, der Göttin des Vergnügens. Erwartungsgemäß folgt er letztlich der Tugend, und diese Entscheidung zieht in ihrem Gefolge Edonide mit sich, die dadurch sozusagen indirekt geläutert wird; dies wiederum ermöglicht ein eindeutiges Lieto fine, bei dem niemand ausgeschlossen bleibt. Ganz anders stellt sich die Situation in der Festa teatrale L’Huomo dar, deren Text von der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine stammt, der Lieblingsschwester von Friedrich II. (die Vertonung ist von Andrea Bernasconi). 10 Auch dieses Werk ist stark der modischen Licht-Dunkel-Metaphorik verpflichtet. Die Personifikationen der Seele sind hin- und hergerissen zwischen dem buon genio und dem cattivo genio. Wie zu erwarten, fällt die Entscheidung zugunsten des Guten, aber ähnlich der Lösung in der Zauberflöte bleibt das Schlechte von der Schlussapotheose ausgeschlossen. Es genügt allerdings nicht, die Spezifik der Lieto fine-Lösungen ausschließlich unter dem Aspekt des narrativen Fortgangs erfassen zu wollen. Was sich gerade in dem uns interessierenden Zeitraum neu und mit Viru- 14 Reinhard Wiesend 8 »Nicht Sarastro triumphiert am Ende über die Königin der Nacht, sondern Pamina und Tamino gehen über die Schwelle der Einweihung und Vereinigung einer versöhnten Zukunft entgegen«. Jan Assmann, Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München/ Wien 2005, S. 258. 9 Vgl. Pietro Metastasio, Tutte le opere, Bruno Brunelli (Hrsg.), Bd. 2, [Mailand] ²1965, S. 390-413. 10 Ein Faksimile des 1754 gedruckten Librettos in italienischer und in französischer Sprache findet sich in: Peter Niedermüller/ Reinhard Wiesend (Hrsg.), Musik und Theater am Hofe der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine. Symposion zum 250-jährigen Jubiläum des Markgräflichen Opernhauses am 2. Juli 1998 (= Schriften zur Musikwissenschaft 7), Mainz 2002, S. 123-205. Einführung 15 lenz darstellt, ist die Erprobung von musikalischen und musikdramatischen Möglichkeiten der Schlussgestaltung. Das Stichwort ist die Etablierung und der großdimensionierte Ausbau des Finales nicht nur am Ende des oder der vorausgehenden Akte, sondern vor allem auch am eigentlichen Schluss einer Oper. Erst unter dieser Voraussetzung können z.B. die drei getrennten Handlungsstränge der Zauberflöte in separierten Teilen eines vielteiligen Finales sinnfällig und dramatisch stringent nacheinander abgewickelt werden, und ebenfalls erst unter dieser Voraussetzung gelingt es Mozart, die Vertreibung der Bösewichter durch »die Strahlen der Sonne« (so Sarastro) musikalisch in einer Eindeutigkeit zu realisieren, die des verdeutlichenden Wortes im Grunde gar nicht mehr bedarf. (Mit ähnlich eindeutiger Wirkung hatte er z.B. in der Introduktion derselben Oper das Einschreiten der drei Damen zur Rettung Taminos gestaltet.) Die besondere Sensibilität für eine musikalische Dramaturgie des Schließens ist in den Jahrzehnten um 1800 freilich auch in anderen Bereichen zu beobachten. Beim derzeitigen Kenntnisstand fällt es allerdings schwer, Kausalitäten oder besser gesagt: Richtungen einer Beeinflussung von der Oper oder zu ihr hin zu konstruieren. Bei einem Blick auf die geistliche Musik soll deshalb z.B. der Hinweis genügen, dass sich bei jeder Messvertonung für den Komponisten eine Verlegenheit durch den vorgegebenen Text ergab: Das Ordinarium missae schließt bekanntlich mit dem Agnus Dei, also mit einem introvertierten Gebet, das für einen äußerlich eindrucksvollen Schluss wenig taugt, und was liturgisch gerechtfertigt ist, wird bei der Vertonung, die mehr und mehr ästhetischen Selbstwert anstrebt, leicht zum Problem. Wohin die Entwicklung tendiert, mag eine viel später gefallene Bemerkung Max Regers andeuten, der anlässlich des Plans einer Messkomposition äußert: »Das ›Dona nobis pacem‹ lasse ich nicht vom Chor singen, eine Solostimme muss das ›Gib uns Frieden‹ schluchzen, wie aus der Ferne, mit leiser Orgelbegleitung«. 11 Einer besonderen Dramaturgie des Schließens kann schließlich auch die Instrumentalmusik unterliegen. Ich meine dabei weniger die Frage der eigentlichen Schlussgestaltung, die effektvoll bis knallig ausfallen kann, gelegentlich aber auch unerwartet im Pianissimo erfolgt. Es lässt sich vielmehr gerade bei Beethoven immer wieder die Tendenz beobachten, dass bei mehrsätzigen Werken eine satzübergreifende Dramaturgie der Schlussgestaltung vorliegt, was in aller Kürze anhand der Achten Symphonie exemplifiziert werden soll. Deren vierter Satz endet, wie nicht anders zu erwarten, hymnisch. Das plakative Fortissimo mit einer abschließenden F- Dur-Fläche von 13 Takten beendet nun allerdings nicht nur den Finalsatz, 11 Nach Alfred Becker, Max Reger als Komponist katholischer Kirchenmusik, Bonn 1966, S. 165. sondern bringt eigentlich erst die Symphonie zur Rundung. Denn Beethoven vermeidet bei jedem der vorangehenden Sätze eine befriedigende Schlusswirkung, was er durch die verschiedensten Kniffe erreicht. So weist der erste Satz eine zweite durchführungsartige Passage auf (T. 302ff.), die in T. 349 in einem übermäßigen Quintsextakkord kulminiert. Danach scheint der Satz in einem schlichten viertaktigen Raster entspannt auszulaufen; die Erwartung wird von Beethoven aber sofort wieder enttäuscht, und zwar nicht nur durch die Zurücknahme der Dynamik ins Pianissimo, sondern vor allem durch eine metrische Brechung (T. 362ff.). Im zweiten Satz wird gegen Ende (Auftakt zu T. 68) die erreichte Tonika mit der kleinen Sept versehen zum Dominantseptakkord (der Subdominante), der ungemein lange ausgebreitet wird, bevor der Satz nach abermaliger kurzfristiger Umdeutung der harmonischen Funktionen hektisch und unvermittelt schließt. Das Scherzo (»Tempo di Minuetto«) wiederum spielt gegen Ende (T. 37ff.) mit der Polarität von I. und V. Stufe und ihrer metrischen Verschränkung. Beethoven gesteht darauf der den Satz abschließenden Tonika lediglich eine Achtelnote zu, die damit zehnmal so kurz ist wie die vorausgehende Dominante. Beethoven kann also selbst in der sogenannten absoluten Musik die Schlussgestaltung einer subtilen Dramaturgie unterziehen. Jene wird dabei vollends zu einer rein musikalischen, konstruktiven Aufgabe ohne programmatische oder dramatische Begründung und ohne Rücksicht auf vordergründige gesellschaftliche Erwartungen. Diese Musikalisierung der Schlussgestaltung scheint im fraglichen Zeitraum aber auch in den dramatischen Gattungen zu einem zentralen Anliegen geworden zu sein. 16 Reinhard Wiesend Einführung 17 Literatur Assmann, Jan, Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München/ Wien 2005. Becker, Alfred, Max Reger als Komponist katholischer Kirchenmusik, Bonn 1966. Calella, Michele, »Die Opera seria im späten 18. Jahrhundert«, in: Herbert Schneider/ Reinhard Wiesend (Hrsg.), Die Oper im 18. Jahrhundert (= Handbuch der musikalischen Gattungen Bd. 12), Laaber 2001. Hochstein, Wolfgang/ Wiesend, Reinhard (Hrsg.), Hasse-Studien 3, Stuttgart 1996. Metastasio, Pietro, Drammi per musica 2: Il regno di Carlo VI 1730-1740, Anna Laura Bellina (Hrsg.), Venedig 2003. Ders., Tutte le opere, Bruno Brunelli (Hrsg.), Bd. 2, [Mailand] ²1965, S. 390-413. Niedermüller, Peter/ Wiesend, Reinhard (Hrsg.), Musik und Theater am Hofe der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine. Symposion zum 250-jährigen Jubiläum des Markgräflichen Opernhauses am 2. Juli 1998 (= Schriften zur Musikwissenschaft 7), Mainz 2002. Osthoff, Wolfgang, »Claudio Monteverdi. L’Orfeo«, in: Carl Dahlhaus u.a. (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München/ Zürich 1991. Planelli, Antonio, Dell’opera in musica, Neapel 1772, Francesco Degrada (Hrsg.), Fiesole 1981. Karl Böhmer Der Übergang vom Dramma zu Spektakel und höfischem Fest am Beispiel von Mozarts Idomeneo Aus dem Münchner Fasching des Jahres 1772 schickte der kurbayerische Konferenzminister Joseph Franz Graf von Seinsheim folgende Notiz an seinen Bruder Adam Friedrich, den Fürstbischof von Würzburg: Gestern habe das erste mahl die Opera gesehen, die Composition ist gut, der erste Ballet Medée ist magnifique, und sehr wohl exequieret, aber ongemein grausam geendet, da sie die Kinder, Mann, und die Rivalin umbringet, und auf einem Eber durch die Luft davon fliehet, der 2te ist auch artig tragique comique. 1 Die Münchner Karnevalsoper des Jahres 1772, von der hier die Rede ist - Metastasios Demetrio in der Vertonung von Andrea Bernasconi -, 2 war wie üblich von zwei Zwischenaktballetten begleitet, choreographiert von Antoine Trancart. Das erste, Medée et Jason, entsprach dem Typus des »Ballet sérieux«, das zweite, Les jalousies du Serail, dem des »Ballet demi-charactère et comique«, eine Rollenverteilung, die in München üblich war und noch die ersten beiden Aktschlüsse des Idomeneo beeinflussen sollte. 3 Grundsätzlich entsprachen die beiden Ballette im Demetrio von 1772 also den Erwartungen des Grafen Seinsheim, die Grenzen seines höfischen Geschmacks waren aber dort erreicht, wo das Heroisch-Tragische bis in die blutige Konsequenz getrieben wurde. Ein »ongemein grausames« Ende war auf der Bühne des Neuen Hoftheaters zu München, heute Cuvilliés-Theater genannt, alles andere als selbstverständlich und auch gar nicht erwünscht, weder in den Balletten noch in der Oper selbst. 1 Robert Münster, »›Die hiesige ongenierte Lebensart gefallet allen …‹ Nachrichten zum Münchner Musikleben der Jahre 1772 bis 1779 aus den Briefen Joseph Franz von Seinsheims an seinen Bruder Adam Friedrich von Seinsheim«, in: Theodor Göllner/ Stephan Hörner (Hrsg.), Mozarts Idomeneo und die Musik in München zur Zeit Karl Theodors, Kongreßbericht München 1999, München 2001, S. 237f. 2 Vgl. die Übersicht über die Münchner Karnevalsopern bis zum Idomeneo bei Karl Böhmer, »Zum Wandel des Münchner Operngeschmacks vor Idomeneo: Die Karnevalsopern am Cuvilliés-Theater 1753-1780«, in: Göllner/ Hörner (Hrsg.), Idomeneo, S. 37. 3 Ebd., S. 24f. Ausführlicher dazu: Karl Böhmer, W. A. Mozarts Idomeneo und die Tradition der Karnevalsopern in München, Dissertation, Tutzing 1999, S. 57-63. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich dieses Interdikt des allzu Tragischen auf der Münchner Opernbühne auf die Schlussbildungen in Mozarts Idomeneo auswirkte, und zwar nicht nur auf das Lieto fine selbst, sondern auch auf die Schlüsse der ersten beiden Akte. Die Aktschlüsse der Karnevalsoper waren neuralgische Punkte der festlich gestimmten Erwartungshaltung. Man durfte diese Erwartungen auch dann nicht enttäuschen, wenn man es mit einem tragischen Opernstoff zu tun hatte. Deshalb geht an zwei von drei Aktschlüssen des Idomeneo die Tragödie nahtlos in Momente des höfischen Festes über. Dass man am kurbayerischen Hof vor Tragödien auf der Opernbühne generell eher zurückschreckte, lässt sich nicht nur aus dem eingangs zitierten Brief des Grafen Seinsheim entnehmen. Die Münchner Erstaufführung von Glucks Orfeo ed Euridice im Fasching 1773 quittierte der sächsische Legationssekretär Unger mit dem ursprünglich französischen Kommentar, ein Spektakel von so exzessiver Traurigkeit erschiene den Münchnern eher passend zur Karwoche denn zum Karneval. 4 Die Wiederaufnahme des Orfeo- Stoffs in einer Neuvertonung durch Antonio Tozzi zwei Jahre später 5 veranlasste die Münchner zu ähnlichen Bemerkungen, wie Graf Seinsheim berichtete: die Opera hat vielen wohl gefallen, die Musique, die Decorationes, die Ballets sind schön, das Sujet ›Orpheo‹ ist aber vielen zu traurig, das beste ist, daß dieses Spectacul nit viel über 3 Stunden daueret. 6 Noch deutlicher wurde der Minister in einem späteren Schreiben: selbe [Opera] ist überhaupt gut, das Sujet ist aber traurig und die Musique in der Folge sehr pathetisch, wegen denen schönen und vielen Decorationen und Ballets ist sie endlich doch unterhaltlich. 7 Unterhaltsam wurde Tozzis »trauriger« Orfeo also schließlich doch noch: durch die schönen Ballette. Noch für den Idomeneo bewahrte diese Relation zwischen der »großen Opera« des Karnevals und den dazu gehörenden Balletten ihre Gültigkeit. Wie beständig solche Wertungen in München waren und wie gerne sich das Publikum nach einer traurigen Oper einem prächtigen Schlussballett zuwandte, bestätigt die Aufnahme der Karnevalsoper des Jahres 1779, der 20 Karl Böhmer 4 »on trouve ici, que cette musique seroit plus propre pour la Semaine Sainte que pour le carnaval.« Zitiert von Eduard Josef Weiss, Andrea Bernasconi als Opernkomponist, ungedruckte Dissertation, München 1923, S. 76. Vgl. den Kommentar zu diesem Zitat bei Daniel Heartz, Haydn, Mozart and the Viennese School 1740-1780, New York/ London 1995, S. 206. 5 Vgl. zu diesen beiden Produktionen den immer noch lesenswerten Aufsatz von Richard Engländer, »Zu den Münchner Orfeo-Aufführungen 1773 und 1775«, in: Gluck-Jahrbuch 2/ 1915, S. 26-55. 6 Brief vom 11.1.1775, zit. nach Münster, »Die hiesige Lebensart«, S. 242. 7 Brief vom 8.2.1775, zit. nach ebd., S. 243. Alceste von Christoph Martin Wieland und Anton Schweitzer. Über diese deutsche Oper heißt es in einer Rezension des Zuschauers in Bayern: Indessen - bis das Ballett seinen Anfang nahm, hatte ich Zeit, meine Mitbürger zu betrachten. Wenige wischten sich die Tränen ab - aber die meisten ihre breiten Gesichter, rissen das Maul auf - und klagten über die Langeweile und üble Verdauung … Aus diesem sah ich also, dass feinere Empfindungen und sanftere Eigenschaften wenig auf die Seelen meiner Landsleute wirkten - sie lieben mehr die wilden Ergötzungen. 8 »Ergötzungen« zwar nicht wilder, aber doch freizügiger Art bildeten den weiteren Zusammenhang der Münchner Opern: Die »große opera des Carnevals« war eingebettet in einen nicht abreißenden Strom höfischer Vergnügungen, die vom einheimischen Adel ebenso wie von auswärtigen Gästen genossen wurden. Graf Seinsheim nannte dies in seinen Briefen nach Würzburg die »Haupteintheilung des hiesigen Carnevals«. 9 Sie bestand aus der Abfolge von »großer Opera« am Montag, »masquierter Academie« am Dienstag und »Redoute« an den folgenden Wochentagen, wozu noch so genannte »Appartements« und festliche Soupers kamen. Alle diese Ereignisse waren fester Bestandteil höfischen Zeremoniells nicht nur in München, sondern auch an anderen Höfen. In der bayerischen Metropole allerdings waren sie mit einer so ungezwungenen Lebensart verbunden, dass auch hohe Standespersonen inkognito die Wonnen des Karnevals genießen konnten: »die hiesige ongenierte Lebensarth gefallet allen Frembden besonders in der Fasnachtzeit sehr wohl.« 10 Dies machte den Münchner Fasching mit der »großen Opera« im Zentrum so attraktiv für Gäste von außerhalb. Die Verantwortlichen des Münchner Hofs achteten peinlich darauf, dass die Gäste in die Oper Einlass fanden und auch sonst das volle Vergnügungsprogramm genossen, um den Ruf des Münchner Karnevals weit über die Landesgrenzen hinaus zu verbreiten. Wie eng dieser Zusammenhang zwischen der großen Oper und dem höfischen Fest in München war, wird an zwei weiteren Konventionen deutlich: 1. Oper und nachfolgende Redoute: Bei der traditionell letzten Opernaufführung am Rosenmontag stauten sich die Ereignisse. Auf die oft bis zu fünfstündige Opernaufführung folgte eine Redoute bis in die frühen Morgenstunden, denn der letzte Ball am Faschingsdienstag hatte streng um Mitternacht zu enden. Man wollte also die Nacht des Rosenmontags Mozarts Idomeneo 21 8 Zit. nach Erich Reipschläger, Schubaur, Danzi und Poissl als Opernkomponisten. Ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der deutschen Oper auf Münchener Boden, Dissertation Berlin 1911, S. 12. 9 Brief vom 25.1.1775, vgl. Münster, »Die hiesige Lebensart«, S. 243. 10 Ebd. Im gleichen Brief berichtet Seinsheim, Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz habe auf der Rückreise von Venedig schon im Vorhinein »gegen einen solennen Empfang protestieren lassen«, um sein Inkognito in München wahren zu können. in vollen Zügen genießen. Die letzten Noten der Karnevalsoper leiteten gleichsam fließend in die Redoute über. Dies war auch bei einer Aufführung des Idomeneo am 12. Februar 1781 der Fall, die zwar nicht am Rosenmontag stattfand, aber vor einer Redoute. Den tanzfesten Münchnern kam der Idomeneo ohnehin entgegen, da er dank der in die Handlung integrierten Ballette nur drei Stunden dauerte, was Graf Seinsheim ja auch bei Tozzis Orfeo wohlwollend vermerkt hatte. Dennoch verließen die Besucher der Vorstellung vom 12. Februar das Cuvilliés-Theater zum Teil frühzeitig, um den Anfang der Redoute nicht zu versäumen. Möglicherweise hat dies sogar die Länge der Oper selbst und damit die Werkgestalt beeinflusst. Wie Bruce Alan Brown anhand der Münchner Aufführungspartitur feststellte, wurden im Idomeneo teilweise Striche nur für eine einzige Aufführung vorgenommen und danach wieder rückgängig gemacht. 11 Eventuell geschah dies am 12. Februar mit Rücksicht auf das darauf folgende Hoffest. 2. Oper und politisches Gespräch: Durch die vielen inkognito angereisten Gäste wurde die Karnevalsoper zum idealen Ort für informelle politische Gespräche ohne großes Protokoll. Dies war etwa im Fasching 1775 der Fall, als der Salzburger Erzbischof Hieronymus von Colloredo München einen mehrwöchigen Besuch abstattete. Der erste Empfang für den hohen Gast fand während der Opernaufführung statt, wie Graf Seinsheim berichtete: »Bis auf eine oder andere Kleinigkeiten ist er hier zufrieden, der Empfang ist abgeredtermassen wehrend der Opera geschehen, und ist übrigens ein vollkommenes pèle mèle beobachtet worden«, 12 d.h. die hohen Herren hatten sich ohne Ansehung des Rangs untereinander gemischt. Da aber zur gleichen Zeit weiterer hoher Besuch ins Haus stand, geriet der Konferenzminister in Nöte: Eben will man wissen, daß Herzog von Zweibrücken den 21ten hier eintreffen solle, und Churfürst von Pfalz kann ingleichen inmitten der anderen Wochen von Venedig hier eintreffen … ich wünschte dahero, daß Herr Erzbischof dieser Herren Ankunft nit erwartete, ansonsten kunten leicht Verschmach oder Jalousien sich ergeben, wie bey Höfen öfters zu ergehen pfleget. 13 Dieser Brief wurde am 19. Januar 1775 geschrieben, sechs Tage, nachdem Mozart die Uraufführung seiner Opera buffa La finta giardiniera im zweiten Müncher Opernhaus am Salvatortheater miterlebt hatte. Sein Salzburger Dienstherr zeigte daran nicht das geringste Interesse. Wichtig war einzig die »große Opera« im Cuvilliés-Theater als Forum für politische Gespräche, Begegnungen inkognito und als zeremonieller Rahmen. 22 Karl Böhmer 11 Bruce Alan Brown, »Die Wiederverwendung der Autograph- und Aufführungspartituren von Mozarts Idomeneo«, in: Göllner/ Hörner (Hrsg.), Idomeneo, S. 75. 12 Brief vom 9.1.1775, zit. nach Münster, »Die hiesige Lebensart«, S. 242. 13 Ebd. Mozarts Idomeneo 23 Wenden wir uns nun noch kurz dem baulichen Rahmen dieser Ereignisse zu, dem von François Cuvilliés dem Älteren erbauten Neuen Hoftheater zu München. 14 Georg Joseph Lipowsky schrieb dazu im Baierischen Musik-Lexikon: Während des Carnevals wurde am churbaierischen Hofe zu München alle Jahre eine große italienische Oper gegeben … Zum Behufe dieser Opern hat Baierns Churfürst, Maximilian Joseph, 1752 ein neues Opernhaus an seiner Residenz durch seinen Hofbaumeister, Franz de Couvilier, erbauen lassen, das sich durch Pracht vorzüglich auszeichnet. 15 In dem Längsschnitt durch das Opernhaus aus der Architecture bavaroise kommt diese Festlichkeit hinreichend zur Geltung, zumal das Publikum, das hier einem Zwischenaktballett zusieht, teilweise maskiert ist. 16 Das aufwendige Hebewerk unter dem Parkett, auf dem Stich nicht zu übersehen, diente nur einem einzigen Zweck: das ganze Opernhaus in einen Ballsaal zu verwandeln, wie es beispielsweise im Fasching 1765 geschah, als man die Hochzeit des römischen Königs Joseph II. mit der bayerischen Prinzessin Josepha Maria feierte. 17 Wir sehen also: Das höfische Fest prägte den Rahmen jeder Münchner Karnevalsoper sowohl zeitlich durch die häufig sich anschließenden Redouten, als auch räumlich durch die Festlichkeit des Theaters und seiner Besucher, sowohl zeremoniell durch die politischen Gespräche während der Vorstellung als auch ästhetisch durch die Rezeptionshaltung des Publikums. All dies musste Mozart notwendigerweise beeinflussen, als er die Musik zum Idomeneo schrieb. Es beeinflusste auch die Ästhetik des gesamten theatralischen Ereignisses, an dem außer dem Komponisten der Bühnenbildner Lorenzo Quaglio, der Choreograph Claude Le Grand und die Münchner Planer des Librettos mitwirkten. Seit den Forschungen von Daniel Heartz ist es erwiesen, dass der Salzburger Hofkaplan Giambattista Varesco das Libretto des Idomeneo nach einem genauen Plan entwarf, den er aus München erhalten hatte. 18 Die ano- 14 Vgl. zum Cuvilliés-Theater grundsätzlich die Festschrift zur Wiedereröffnung des renovierten Hauses: Sabine Heym/ Susanne de Ponte/ Hermann Neumann, Das Cuvilliés-Theater, München 2008. 15 Felix Joseph Lipowsky, Baierisches Musik-Lexikon, Nachdruck der Ausgabe München 1811, Hildesheim/ New York 1982, S. 372. 16 Heym/ de Ponte/ Neumann, Cuvilliés-Theater, S. 38. Leider ist der Stich hier links beschnitten: Es fehlt die Bühne mit den Tänzern, deutlich zu erkennen aber ist das Publikum »en masque«. 17 Vgl. den bekannten Stich von diesem Fest, ebd., S. 84. Besonders eindrucksvoll ist die Serie von historischen Münchner Bühnenbildentwürfen, ebd. S. 92-113. Sie geben einen guten Eindruck von der Festlichkeit des Bühnenspektakels, aber auch vom zunehmenden Einfluss des Klassizismus in der Ausstattung der Opern ab den 1770er-Jahren. 18 Aus der umfangreichen Literatur zur Entstehungsgeschichte des Werkes seien nur einige wesentliche Titel herausgegriffen: Daniel Heartz, »Vorwort«, in: Wolfgang Amadeus nymen Münchner Planer verbanden mit dem Stück ganz konkrete ästhetische Absichten: Sie wollten aus einer französischen Tragédie lyrique von 1712, dem Idoménée von Antoine Danchet, einen zeitgemäßen italienischen Operntext machen, in dem es zu Mischungen zwischen der Ästhetik der Opera seria und der französischen Oper kam. 19 Sie folgten damit einem Ideal von Reformoper im weitesten Sinne, wie es der neue bayerische Kurfürst Carl Theodor 1778 aus Mannheim mit nach München gebracht hatte. 20 In seiner eigenen Mannheimer Hofoper hatte er Mitte der 1760er-Jahre solche Opere serie auf der Basis bzw. unter dem Einfluss französischer Libretti aufführen lassen. 21 Nun übertrug er diese Libretto-Tradition auf das viel konservativere München und beendete damit die lange Tradition der Metastasio-Vertonungen im Cuvilliés-Theater. 22 Der Idomeneo-Stoff schloss eine Reihe von tragischen Motiven ein, die die Mannheimer aus ihren eigenen Opern kannten, die jedoch in München neu und fremd wirken mussten: das Schicksal der verschleppten Prinzessin Ilia, die um ihre ermordete Familie trauert, der Verweis auf die Atridensage in Gestalt der Elettra, die Erkennungsszene zwischen Idomeneo und seinem Sohn Idamante und der Fluch, der über beiden lastet; das Merveilleux der 24 Karl Böhmer Mozart: Idomeneo, Daniel Heartz (Hrsg.), (= NMA II, 5, 11), Kassel/ Basel 1972, S. VII- XXXI; Kurt Kramer, »Das Libretto zu Mozarts ›Idomeneo‹«, in: Wolfgang Amadeus Mozart: Idomeneo. 1781-1981. Essays - Forschungsberichte - Katalog, München/ Zürich 1981, S. 7-43; Robert Münster, »Neues zum Münchner Idomeneo 1781«, in: Acta Mozartiana 29/ 1982, S. 10-20; Daniel Heartz, »The Genesis of Idomeneo«, in: Thomas Bauman (Hrsg.), Mozart’s Operas, Berkeley/ Los Angeles 1990, S. 15-35; Stanley Sadie, »Genesis of an Operone«, in: Julian Rushton (Hrsg.), W. A. Mozart. Idomeneo, (Cambridge Opera Handbooks), Cambridge 1993, S. 25-47; Iris Winkler, W. A. Mozart: ›Idomeneo‹. Eine opera seria entsteht, Dissertation Eichstätt 1995; Böhmer, Idomeneo, passim; Heartz, Viennese School, S. 693-716; Bruce Alan Brown, »Musikwissenschaftliche Einführung«, in: Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo. Facsimile of the Autograph Score (Mozart Operas in Facsimile I), Bd. 3, Los Altos 2006, S. 29-41. 19 Vgl. dazu besonders: Daniel Heartz, »Idomeneus Rex«, in: MJb 1973/ 74, S. 7-20; Karl Böhmer, »Idomeneo (KV 366), das ›Dramma per Musica‹ der Stilsynthese«, in: Dieter Borchmeyer/ Gernot Gruber (Hrsg.), Mozarts Opern, Teilbd. 1 (Das Mozart-Handbuch Bd. 3/ 1), Laaber 2007, S. 226-239. 20 Zur Mannheimer Oper vgl. grundsätzlich: Paul Corneilson, Opera at Mannheim, 1770- 1778, Dissertation, Chapel Hill 1992; ders., »Die Oper am Kurfürstlichen Hof zu Mannheim« in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Mannheimer Hofkapelle im Zeitalter Carl Theodors, Mannheim 1992, S. 113-129; Daniel Heartz, Music in European Capitals. The Galant Style 1720-1780, New York 2003, S. 549-594 (Kapitel »Palatine Court Opera«). 21 Dass Mozart diese Mannheimer Operntradition kannte, haben Paul Corneilson und Eugene Wolf anhand der Musiksammlung des Grafen von Sickingen nachgewiesen: Paul Corneilson/ Eugene K. Wolf, »Newly Identified Manuscripts of Operas and related Works from Mannheim«, in: JAMS 47/ 1994, S. 244-274. 22 Karl Böhmer, »Die ›große Opera‹ des Karnevals - eine Münchner Institution und ihre Auswirkungen auf Idomeneo«, in: Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo, Programmheft der Bayerischen Staatsoper, München 2008, S. 57-66. Mozarts Idomeneo 25 Sturmszenen und des Seeungeheuers; der Auftritt des Oberpriesters im dritten Akt und die Tempelszene mit dem vom Orakel abgewendeten Menschenopfer. Wie ermüdend diese Fülle an tragischen Verstrickungen auf den durchschnittlichen Zuschauer einer Karnevalsoper wirken konnte, hat nicht zuletzt Mozart selbst gespürt. Zur Schlussarie des Idomeneo meinte er nur: sie soll nichts als Ruhe und Zufriedenheit zeigen, … denn das Unglück, welches er alles auszustehen gehabt hat, haben wir die ganze Oper durch genug gesehen, gehört und gefühlt. 23 Auch Kurfürst Carl Theodor hatte kein Interesse daran, die heroisch-tragische Handlung des Idomeneo bis in den Exzess zu treiben, denn ihm ging es in dieser Oper noch um etwas anderes: um die angemessene Darstellung seiner aus Mannheim mitgebrachten Hofkünstler vor dem Münchner Publikum. Das Ziel der Umarbeitung von Danchets Idoménée zum Idomeneo war es, in der Kombination französischer Massen- und italienischer Soloszenen die »Mannheimer« mit dem maximalen Effekt in Szene zu setzen. 24 Vermutlich hat man gerade zu diesem Zweck das Idomeneo-Libretto ausgewählt. Mit seinen Sturmszenen gab der Stoff dem Mannheimer Orchester Gelegenheit, in tonmalerischen Effekten zu brillieren. Auch im Telemaco, der Karnevalsoper des Vorjahres, hatte man diese Effekte in den Vordergrund gerückt, ja durch zusätzliche Orchestermusik noch verstärkt. 25 Die eingelegten Divertissements des französischen Musiktheaters erhöhten das Maß an Festlichkeit auf der Bühne beträchtlich und lieferten dem neu ernannten Hofballettmeister Claude Le Grand das geeignete Forum, um sich nach seinen jüngsten Erfolgen an der Mailänder Scala erstmals in einer »großen Opera« am Cuvilliés-Theater zu präsentieren. 26 Nach französischem Muster hatte man beschlossen, statt langer Zwischenaktballette ohne Bezug zur Opernhandlung alle Ballette in die Oper zu integrieren. Gerade an diesen Momenten drängt sich, wie wir sehen werden, das Festlich-Spektakuläre unbändig in die Tragödie hinein. In der vermischten Ästhetik des Idomeneo kam schließlich auch die Kunst des Bühnenbildners Lorenzo Quaglio weit spektakulärer zur Geltung, als es in einer Opera seria nach metastasianischem Muster der Fall gewesen wäre. Aus Mannheim brachte 23 Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Wilhelm A. Bauer / Otto Erich Deutsch (Hrsg.), erweiterte Ausgabe: Ulrich Konrad (Hrsg.), Bd. III: 1780- 1786, Kassel/ Basel 2005, S. 34 (Brief Nr. 545). 24 Böhmer, »Die ›große Opera‹ des Karnevals«, S. 63-66. 25 Zu Franz de Paula Gruas Oper ausführlich Böhmer, Idomeneo, S. 171-196. 26 Ebd., S. 309f. Le Grand hatte für die Einweihungsoper des Teatro alla Scala, die Europa riconosciuta von Antonio Salieri auf ein Libretto des pfälzischen Hofdichters Mattia Verazi, das erste Zwischenaktballett (Ballo von Salieri) choreographiert und im zweiten (Apollo placato von Salieri und Luigi de Ballou) die Rolle des Bacchus getanzt. Wie das Intermezzo im Idomeneo endet auch Apollo placato mit einem getanzten Chor. Quaglio nicht nur die »Geschmeidigkeit« des theatralischen Mechanismus mit nach München, sondern auch ganz konkret Dekorationen aus dem kurpfälzischen Kulissenfundus, die er im Idomeneo einsetzte. 27 Schon aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass für Kurfürst Carl Theodor und seinen Hof die eindrucksvolle Präsentation der eigenen Ensembles und Künstler bei dieser Produktion höchste Priorität hatte. Die Oper sollte, wie der Kurfürst befriedigt nach einer Probe des ersten Aktes feststellte, »charmante« werden, 28 ihre Musik sollte »Effect« machen und »Magnifique« sein. 29 Die Zuschauer sollten durchaus »die Musik, die Decorationes, die Ballette« als schön und »magnifique« bewundern, wie es Graf Seinsheim beim Orfeo von 1775 getan hatte. Wie aber löste das Planungsteam um den Komponisten das heikle Problem der Übergänge zwischen den tragischen Motiven des Stoffs und solchen Momenten festlich-höfischer Repräsentation? Anhand der Aktschlüsse lässt sich diese Frage exemplarisch beantworten, denn hier trafen das Dénouement der Tragödie, der Selbstdarstellungsdrang der Mannheimer Interpreten und die Konventionen der Münchner Karnevalsoper an neuralgischen Punkten aufeinander. Aus den Kompromissen, die die Planer fanden, entwickelte Mozart eine neue Kunst des musikalischen Schließens in der Opera seria. Nikolaus Harnoncourt hat jüngst in einem Interview zu seiner Grazer Idomeneo-Produktion von 2008 darauf hingewiesen, dass Mozart für den ersten und dritten Aktschluss des Werkes jeweils die gleiche Abfolge von Sätzen vorsah: »Es endet jeder Akt mit einem Intermezzo, symmetrisch der erste und der letzte Akt mit Marsch und Chaconne.« 30 Im ersten Fall handelt es sich um einen orchestralen Marsch und eine gesungene Chaconne, die den traditionellen ersten Zwischenakt einer Münchner Karnevalsoper bilden; im zweiten Fall um den Schlusschor in Marschform und die große, rein orchestrale Chaconne, die auf die Oper folgte. In beiden Chaconnes haben die Münchner Planer auf französische Gattungstraditionen zurück gegriffen: Wenn der erste Akt mit einer Chaconne endet - Marsch und Chaconne, das gehört zusammen - und der letzte Akt endet mit einem Marsch und einer Chaconne, dann kann das keine italienische Oper sein, weil es das dort nicht gibt … Die letzte Chaconne ist ein Stück von fünfzehn Minuten wie die großen französischen Chaconnes, mit denen sämtliche französischen Opern enden. 31 26 Karl Böhmer 27 Ebd., S. 151 und 288. 28 Mozart, Briefe und Aufzeichnungen III, S. 72 (Brief Nr. 570). 29 Ebd., S. 77 (Brief Nr. 573). 30 Nikolaus Harnoncourt im Gespräch, in: Idomeneo, Programmheft der styriarte, Graz 2008, S. 34. 31 Ebd. Mozarts Idomeneo 27 Dennoch spiegeln sich zumindest im ersten Aktschluss Münchner Konventionen wider. Der eigentliche »Atto primo« schließt mit der in München üblichen Arie für den Primo uomo, den ersten Kastraten, der in diesem Fall der einzige Kastrat der Produktion war. Idamante bleibt alleine auf der Bühne zurück, nachdem er den Vater erkannt hatte, von diesem aber zurückgestoßen worden war. Die Ratlosigkeit des Sohnes fordert hier die Arie, die es im Original von Danchet nicht gibt. Ebenso neu war das anschließende Intermezzo für Chor, Ballett und Orchester. Die Planer des Idomeneo benutzten die Landung der geretteten kretischen Soldaten und Matrosen zu einer festlichen Begrüßungsszene, während Danchet hier eine düstere Geisterbeschwörung für Electre vorgesehen hatte. Auch mit dem eingeschobenen Intermezzo nahmen die Münchner Planer auf lokale Traditionen Rücksicht: Auf die übliche Soloszene des Primo uomo am Aktschluss ließen sie das festliche »demicaractère«-Ballett folgen, wie es die Münchner seit 30 Jahren an dieser Stelle gewöhnt waren. Mozart nutzte diese konventionelle Abfolge zu einer psychologisch tiefgründigen Konfrontation zwischen dem Unglück des einsamen Idamante und dem Glück der geretteten Kreter. Idamante geht am Ende seiner Arie »voll Schmerz ab«, »parte addolorato«, wie es im Libretto heißt. 32 Angesichts der extremen Verzweiflung des vom Vater abgewiesenen Prinzen verzichtete Mozart auf die am Aktschluss eigentlich zu erwartende Aria di Bravura, schrieb stattdessen eine Aria parlante aus lauter kurzen, abgerissenen Phrasen und ließ Idamante im Pianissimo von der Bühne gehen, offensichtlich verwirrt, wie seine musikalischen Kehrtwendungen und Stimmungsumschwünge ins Moll hinein erkennen lassen. Es kam Mozart entgegen, dass die Kurzatmigkeit des Kastraten Vincenzo dal Prato eine Aria di Bravura an dieser Stelle ohnehin nicht zugelassen hätte. Nach dem matt verebbenden Schluss der Arie - eine Antiklimax für einen Aktschluss in der Opera seria - folgt unmittelbar der prachtvolle Marsch, mit dem die Soldaten an Land gehen, dann die Ballettchaconne mit Chor. 33 Das Glück der Masse steht dem Unglück des Einzelnen unverbunden gegenüber. Am Ende des zweiten Aktes sind es die Kreter selbst, die in Angst und Schrecken von der Bühne fliehen. Nachdem Neptun die Abreise von Idamante und Elettra durch einen neuerlichen Seesturm verhindert hat, erscheint bei Danchet wie bei Varesco ein »monstre«, ein Seeungeheuer, im 32 Vgl. die Faksimiles der beiden Libretti, in: Mozart, Idomeneo. Facsimile, Bd. 3, S. 45-74 (Libretto I), S. 76-89 (Libretto II). Der erste Aktschluss findet sich auf S. 56 bzw. 81. 33 Eine Analyse dieser gesungenen Chaconne bringt Claus Bockmaier, »Der Chaconne- Chor im Idomeneo: Mozartsche Durchdringung eines französischen Typus«, in: Göllner/ Hörner (Hrsg.), Idomeneo, S. 45-67. Vgl. dazu auch Bernd Edelmann, »Die Chaconne bei Mozart«, in: MJb 1991 (Bericht über den Internationalen Mozart-Kongreß 1991, Kassel/ Basel 1992), S. 993-999. Hafen und versetzt die Kreter in Panik. Bei Danchet endet die Szene mit dem Solo des Idoménée. Varesco hat - ähnlich wie am Ende des ersten Aktes - einen zusätzlichen Chorsatz angefügt, zweifellos nach den Vorgaben des Planes. Die Regieanweisung an dieser Stelle besagt: La Tempesta continua. I Cretesi spaventati fuggono, e nel seguente Coro col canto, e con Pantomime esprimono il loro terrore, ciò che tutto forma un’Azione analoga, e chiude l’atto col solito Divertimento. 34 Andreas Schachtner, der Salzburger Übersetzer des Librettos, ließ den Hinweis auf den »solito divertimento« am Ende aus, offenbar, weil er nichts damit anzufangen wusste. 35 Es handelte sich um einen Hinweis der Münchner in eigener Sache: Die Leser des Librettos wurden darauf aufmerksam gemacht, dass nach dem Schluss des Aktes kein besonderes Ballett-Divertissement mehr zu erwarten war, sondern dass dieses »solito divertimento« in den Aktschluss integriert war, und zwar in Form einer Ballettpantomime mit Chor - als »azione analoga« bzw. »pantomimische Tänze, welche zur Handlung passen«. 36 Wir erinnern uns an die beiden Zwischenaktballette im Demetrio neun Jahre früher - das eine »artig« und festlich, das andere tragisch. In ähnlicher Form haben die Planer des Idomeneo die Ballette am Ende der ersten beiden Akte polarisiert, nur eben in der modernen Form als getanzte Chöre und integriert in die Opernhandlung. Mozart ging noch einen Schritt weiter. In seiner Vertonung wird die Flucht der Kreter vor dem »mostro spietato« zum »ongemein grausamen« Ende. Der polyphone Satz dieses Chores steht in diametralem Gegensatz zur flächigen Homophonie des Chores Nr. 17 beim Ausbrechen des Sturms. Ebenso auffällig ist der 12/ 8-Takt, den schon Johann Nikolaus von Nissen in seiner Mozart-Biographie ausdrücklich hervorhob, weil er im ausgehenden 18. Jahrhundert zu den seltenen Taktarten gehörte: Wie ausdrucksvoll der tumultuarische Schlusschor des zweyten Finales, wie schön und deutlich die allgemeine Bestürzung in diesem fugirten Chore und in der sonderbaren, ungewöhnlichen Tactart. Das Ineinandergreifen, Abfallen, Einsetzen und Nachahmen der Stimmen unter und mit einander ist zum Erstaunen hinreissend, und wie gewaltig werden dabey die Hörer ergriffen! Man wird unwillkürlich mit dem Tonstrome fortgerissen, man fühlt sein ganzes Selbst in ängstlicher Eile vorwärts getrieben, und kann, wie von einer grossen Angst befreit, erst mit dem Fallen der Gardine beym Schlusse dieses furchtbaren Chores freyer athmen. 37 28 Karl Böhmer 34 Ebd., S. 64 bzw. 84. 35 »Der Sturm wüthet immerfort. Die Kretenser entfliehen vor Furcht, und zeigen im folgenden Chor durch Singen, und pantomimische Tänze, welche zur Handlung passen, ihre Angst und Schrecken an, und schließen damit den Aufzug.« Nur in Libretto I, a.a.O., S. 64. 36 Ebd., S. 64. 37 Georg Nikolaus von Nissen, Biographie W. A. Mozarts. Mit einem Vorwort von Rudolph Angermüller, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1828, Hildesheim/ Zürich 1991, An- Mozarts Idomeneo 29 Diese Effekte erklären sich aus der besonderen Funktion des Chores, als Ersatz für das Ballett nach dem zweiten Akt zu dienen. Es war Mozarts Aufgabe, hier ein echtes Divertimento, wie das Libretto ankündigte, also ein virtuoses Tanzstück zu schreiben, wofür der schnelle Rhythmus einer Giga besonders geeignet war. In der fugierten Bewegung der Chorstimmen spiegelte sich die Flucht der mit Le Grand abgesprochenen Gruppen des Balletts wider. Hinzu kam der Effekt der langsam verklingenden Chorstimmen in Analogie zu den verschwindenden Tänzern. Gallarati führt als mögliches Modell für dieses auskomponierte Diminuendo den Chor Fuggiamo di questo soggiorno d’orrore in Szene I, 4 von Glucks Alceste an. 38 Ein Vorbild für das triolische Metrum, aber auch für einzelne Details des Satzes kann man im Schlusschor Poursuivons jusqu’au trépas des ersten Aktes von Glucks Armide finden, der ebenfalls mit Pantomime verbunden war. 39 Das Modell, das die Planer am Ende der ersten beiden Akte kreierten - der Rekurs auf die Zwischenaktballette der Münchner Operntradition - war am Ende der Oper nicht mehr durchzuhalten. Zwar beenden auch hier ein getanzter Chor und ein Ballo die Handlung. Doch bevor die Oper diesen glücklichen Ausgang nehmen kann, muss erst die Wendung zum Lieto fine gelingen. Dieses Umarbeiten, »riducendo il tragico a lieto fine«, wie es Varesco im Argomento nannte, 40 war weit schwieriger als anfangs gedacht. Bei Danchet endet die Tragödie mit einem Blutbad, das dem Medea-Stoff an »ongemeiner Grausamkeit« in nichts nachsteht. Idoménée wird vom Wahn befallen und tötet zuerst seinen Sohn, dann Ilione, schließlich sich selbst. Am Ende bleibt nur Electre verlassen und verwirrt zurück. Die Planer des Idomeneo strebten von vornherein eine humanere Lösung der Ereignisse an, denn ein Mord, den ein König begeht, war auf der Opernbühne der Aufklärung ebenso ausgeschlossen wie ein Selbstmord des Herrschers. Nur Mattia Verazi hatte in seiner Mannheimer Ifigenia in Tauride von 1764 ein solches Experiment gewagt und den König Toante am Ende in den Selbstmord getrieben. 41 Dabei handelte es sich jedoch um einen grausamen Tyrannen, nicht um den guten König im Mittelpunkt der Oper. Im 18. Jahrhundert wurden Gewaltakte eines gerechten Herrschers sogar dann vermieden, wenn sie historisch verbürgt waren wie etwa der Mord Alexanders des Großen an Kleitos, der in Händels Alessandro von 1726 in letzter Sekunde abgewendet wird. hang, S. 76. 38 Paolo Gallarati, La forza delle parole. Mozart drammaturgo, Turin 1993, S. 200. 39 Christoph Willibald Gluck, Armide, Klaus Hortschansky (Hrsg.), (Christoph Willibald Gluck, Sämtliche Werke I/ 8, Teilbd. a und b), Kassel/ Basel 1987, S. 105-121. 40 Libretti in Mozart, Idomeneo. Facsimile, Bd. 3, S. 46 bzw. 76. 41 Gian Francesco de Majo, Ifigenia in Tauride, Paul Corneilson (Hrsg.), (Recent Researches in the Music of the Classical Era 46), Madison 1996, S. 351-370. Es handelt sich um die Scena ultima, eine Soloszene des Toante, bestehend aus Nr. 31 Recitativo, Nr. 32 Aria und anschließendem Recitativo mit furiosem Orchesternachspiel. Vgl. dazu auch den Kommentar von Corneilson, ebd. S. xvi. Ähnliches geschieht auch hier, in dem Augenblick, in dem Idomeneo das Schwert zur Opferung seines Sohnes zückt. Was die Planer hier folgen ließen, ist ein Konglomerat aus Zitaten. Ilia erscheint und bietet sich im heldenhaften Ringen mit Idamante als eigentliches Opfer an - das Motiv stammt aus Metastasios Olimpiade. Ein Orakel verkündigt den Ratschluss Neptuns - die Mannheimer dachten zweifellos an das Orakel im ersten Akt von Glucks Alceste. Idamante wird begnadigt, er soll Ilia heiraten und den Thron besteigen, dargestellt im Schlusschor und im anschließenden Ballo - damals in Italien schon eine Konvention. 42 Zuvor freilich mussten Elettra und Idomeneo die Gelegenheit zum Schlusswort erhalten, und genau hier begannen die Schwierigkeiten. Unmittelbar nach dem befreienden Urteil der unterirdischen Stimme war für Elettra eine Aria agitata vorgesehen: D’Oreste, d’Ajace mit ihrem ausladend langen Recitativo con stromenti. Anton Raaff verlangte zusätzlich zur langen Rezitativ-Ansprache von Idomeneos Abdankung eine versöhnliche Aria cantabile. Gegen beide Arien hatte Mozart dramaturgische Bedenken. Schon zuvor hatte er konstatiert, dass »die Poesie« im dritten Akt »gar zu lang« 43 sei, und mit dem Kürzen begonnen. Das Orakel wurde in drei Anläufen sukzessive verkürzt, das heldenhafte Ringen zwischen Ilia und Idamante - ursprünglich ein Duett, das auf Mozarts Drängen hin bereits in ein Rezitativ umgewandelt worden war - wurde am Ende ganz gestrichen, und auch die beiden Arien für Elettra und Idomeneo wurden zwar komponiert, aber doch nicht gesungen. 44 Der Schlusschor war schon zuvor von fünf Strophen, wie sie noch im Libretto I stehen, auf eine geschrumpft. 45 Es war Mozart, der so radikal vorging - gegen den Widerstand der höfischen Zuhörer, des Librettisten und der Sänger. Das Ergebnis seines Beharrens auf Kürze wird am Vergleich zwischen den beiden gedruckten Libretti deutlich: Die Seitenzahl des italienischen Textes in den letzten drei Szenen wurde halbiert, von zehn Seiten in Libretto I auf ganze fünf in Libretto II. 46 Nach der Quellenlage und Mozarts brieflichen Äußerungen erscheint seine musikalische Lösung für das Lieto fine glasklar: Statt dem Schlusschor eine konventionelle Abfolge von Rezitativen und Arien vorausgehen zu lassen, wollte er den emotionalen Höhepunkt des Werkes ausschließlich im Recitativo con stromenti darstellen. Dass er gezwungen wurde, Idamantes Arie No, la morte io non pavento mitten in der feierlichen Opferszene doch singen zu lassen, 47 widersprach seinen erklärten Absichten und war ein- 30 Karl Böhmer 42 Vgl. dazu Böhmer, Idomeneo, S. 320. 43 Mozart: Briefe und Aufzeichnungen III, S. 90 (Brief Nr. 580). 44 Vgl. zu all diesen Änderungen Brown, »Musikwissenschaftliche Einführung«, S. 32f. 45 Libretti in Mozart, Idomeneo. Facsimile, Bd. 3, S. 74 und 89. 46 Ebd. 47 Münster, »Neues zum Münchner Idomeneo«, S. 15. Mozarts Idomeneo 31 deutig ein Zugeständnis an den Kastraten, dem sonst im zweiten und dritten Akt keine einzige Arie zugefallen wäre. Mozarts eigener Plan sah anders aus: Auf die Cavatina des Idomeneo, das Gebet vor der Opferung mit dem Chor der Priester, sollte bis zum Schlusschor keine »Nummer« mehr folgen. Die Begegnung zwischen Vater und Sohn am Opferaltar findet in den Tönen eines tief bewegenden Recitativo a due statt, das in seinen Orchestereinschüben geradezu von motivischer Arbeit durchsetzt ist - ebenso wie die Verarbeitung der Orchesterritornelle im Rezitativ von Idomeneos Abdankung. Zwischen diesen beiden emotional hoch komplexen Rezitativen stehen der dramatische Auftritt Ilias, das plötzliche, durch den Posaunenklang verfremdete Einsetzen der göttlichen Stimme, das erlösende Rezitativ von Ilia, Idamante, Arbace und Idomeneo sowie der furiose Abgang der Elettra. Diese gleichsam atemlose Szenenfolge ohne retardierendes Moment findet im kurzen, auf eine einzige Strophe reduzierten Schlusschor kein befriedigendes Echo. Erst im riesigen Schlussballett sollten sich die aufgestauten Spannungen endgültig lösen und im festlichen Charakter der Ballettchaconne ihre Überhöhung finden - nicht ohne im d-Moll-Teil noch einmal auf das vergangene Leiden des Liebespaars Idamante und Ilia anzuspielen. Über den riesigen Orchestersatz, den Mozart zur Überhöhung des barocken Konzepts vom Lieto fine ans Ende des Idomeneo stellte, vermerkte Felix Joseph Lipowsky in seinem Baierischen Musik-Lexikon von 1811: Chaconne, auch Ciaconne, eine aus Italien stammende Tanzmusik, die man dort, und dann auch in Spanien und Deutschland besonders am Schlusse heroischer Ballete [sic! ] gebraucht... Mattheson in seinem vollkommenen Kapellmeister Th. II. Kap. 13. legt dieser Musik den Charakter der Ersättigung bei; indessen verstand der große Mozart in seiner Oper: Idomeneo, eine Chaconne zu schreiben, die sehr gefiel. 48 Lipowskys Hinweis auf die »heroischen Ballette« - also die tragisch-heroischen Ballettpantomimen, wie sie die Mannheimer 1778 mit nach München gebracht hatten 49 - hat im Zusammenhang mit der Idomeneo-Chaconne seine besondere Gültigkeit: Ihr unmittelbares Vorbild war die große Chaconne aus Christian Cannabichs heroisch-tragischer Ballettmusik Médée et Jason. 50 Das entsprechende Ballet en action des Choreographen Etienne Lauchery wurde mit Cannabichs Musik 1772 als Zwischenakt zu Johann Christian Bachs Temistocle im Mannheimer Opernhaus uraufgeführt - im gleichen Jahr übrigens wie das »ongemein grausame« Münchner Medea-Ballett im Demetrio. Musikalischer Höhepunkt von Cannabichs Ballettmusik ist eine 48 Lipowsky, Baierisches Musik-Lexikon, S. 313. 49 Vgl. Böhmer, Idomeneo, S. 154-156. 50 Christian Cannabich, Médée et Jason, in: Ballet Music from the Mannheim Court Part II, Nicole Baker (Hrsg.), (Recent Researches in the Music of the Classical Era 47), Madison 1997, S. 93-198 (Nr. 9 Chaconne, S. 115-146). große Chaconne in D-Dur, die zur Idomeneo-Chaconne so viele motivische Parallelen aufweist, dass man sie als eines ihrer Vorbilder betrachten muss. 51 Glücklicherweise haben sich zum Mannheimer Médée-Ballet das Szenario, 52 die Partitur und Streichquartettbearbeitungen einzelner Nummern mit szenischen Hinweisen 53 erhalten, so dass man die szenische Aktion den Musiknummern relativ genau zuordnen kann. Bei Cannabichs Chaconne handelt sich um einen Tanz am Hofe König Kreons, eine höfische »Redoute« sozusagen, in deren Verlauf Medeas Eifersucht gegen ihre Rivalin Kreusa offen ausbricht. Die tragischen Ereignisse der Medeasage nehmen von da an unaufhaltsam ihren Lauf. Am Ende des Idomeneo haben die Protagonisten ihre Leiden schon hinter sich und geben sich in der finalen »Chaccone« 54 ungehemmt dem Fest zur Krönung des Idamante hin. In beiden Fällen wurde eine große »Chaconne en Rondeau« in D-Dur zum Symbol des höfischen Festes schlechthin: in Médée et Jason als Ruhe vor dem Sturm eines »ongemein grausamen« Endes, im Idomeneo als festliche Überhöhung des Lieto fine. 32 Karl Böhmer 51 Mozarts rondoartiges wiederkehrendes Thema für den Corps de Ballet erweist sich als freie Umkehrung von Cannabichs entsprechendem Thema, das in gleicher Funktion und in ganz ähnlicher Instrumentierung erscheint. Auch die diversen Pas seul und Pas de deux der beiden Ballette zeigen zahlreiche motivische Übereinstimmungen. Mozart übernahm im Idomeneo gleichsam die »Gestik« einer typisch Mannheimerischen Ballett-Chaconne - bis hin zu dem monumentalen »Mannheimer Crescendo«, mit dem seine Chaconne schließt. Vgl. dazu folgende Stellen bei Cannabich, a.a.O., S. 115 (Chaconne-Thema), S. 120-122 (Holzbläser-Episode, Pas de deux von Jason und Kreusa), S. 125 (Mineur-Teil, »Médée avec le poignard«), S. 133-136 (Pianissimo-Episode, »Jason calme Médée«) und die strahlende Wiederkehr des Chaconne-Themas auf S. 136. 52 Ebd., S. xxi-xxv. Auf die Chaconne bezieht sich die Beschreibung der »fête« in Scène Trois, ebd. S. xxii: »La fête commence par un combat de luteurs [Nr. 8], dont les vainqueurs sont couronnés par Médée & son epoux. A ce combat succedent des danses dans lesquelles les héros & les Princesses se distinguent entre nous.« Die Chaconne ist hier also im ganz traditionellen Sinne ein Gruppentanz für die fürstlichen Herrschaften im Rahmen eines höfischen Festes. Freilich flammt während des Tanzes Medeas Eifersucht auf, nachdem Jason und Kreusa einen Pas de deux miteinander getanzt haben. Sie zückt einen Dolch und bedroht Kreusa, wird aber entwaffnet und von Jason beruhigt. Darauf beziehen sich die eben beschriebenen Episoden (wie Anm. 51). 53 Christian Cannabich, Ballet Music arranged for Chamber Ensemble, Paul Corneilson (Hrsg.), (Recent Researches in the Music of the Classical Era 73), Madison 2004, S. 31-52 (Sixième Recueil des Airs du Ballet de Medée et Jason). 54 So Mozarts originale Bezeichnung. Vgl. das Faksimile der Ballettmusik in: Mozart, Idomeneo, Facsimile, Bd. 2, S. 3-71. Das Autograph spiegelt deutlich die Gliederung des Satzes in die Refrainteile »pour le Ballet« und die diversen Pas seul und Pas de deux wider, aber auch die vielen Änderungen, zu denen Mozart durch den Choreographen Le Grand gezwungen wurde (gestrichene Teile im Pas seul von Madame Falgera, S. 19-21; gestrichener Pas de deux auf S. 24; Striche am Ende des Mineur, S. 43). Mozarts Idomeneo 33 Literatur Noten Christian Cannabich, Médée et Jason, in: Ballet Music from the Mannheim Court Part II, Nicole Baker (Hrsg.), (Recent Researches in the Music of the Classical Era 47), Madison 1997, S. 93-198. Christian Cannabich, Ballet Music arranged for Chamber Ensemble, Paul Corneilson (Hrsg.), (Recent Researches in the Music of the Classical Era 73), Madison 2004. Christoph Willibald Gluck, Armide, Klaus Horschansky (Hrsg.), (Christoph Willibald Gluck, Sämtliche Werke I/ 8, Teilbd. a und b), Kassel/ Basel 1987. Gian Francesco de Majo, Ifigenia in Tauride, Paul Corneilson (Hrsg.), (Recent Researches in the Music of the Classical Era 46), Madison 1996. Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg (Hrsg.), gesammelt und erläutert v. Wilhelm A. Bauer/ Otto Erich Deutsch, erweiterte Ausgabe, Ulrich Konrad (Hrsg.), Bd. III: 1780-1786, Kassel/ Basel 2005. Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo. 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Zwar hatte sich schon seit der Mitte der 1760er-Jahren mit dem Beginn der Zusammenarbeit von Christian Felix Weiße und Johann Adam Hiller ein deutsches musikalisches Theatergenre etabliert, doch handelte es sich dabei ausschließlich um komische Opern, geschrieben für die wandernden Schauspielertruppen in Mittel- und Norddeutschland. 2 Dass deren Aufführungen aufgrund ihrer oftmals defizitären Qualität jedoch nicht gerade geeignet waren, als nationales Aushängeschild zu dienen, beklagte bereits der Zeitzeuge Johann Friedrich Reichardt. 3 1 Der vorliegende Artikel war bereits 2003 für die geplante Drucklegung fertig gestellt worden. Inzwischen sind weitere, für die Thematik relevante Aufsätze erschienen; dazu gehört etwa die Studie von Monika Schwarz-Danuser (»Lieto fine und Pantomime. Abbé Voglers Melodram Lampedo im gattungsgeschichtlichen Zusammenhang«, in: Thomas Betzwieser/ Silke Leopold (Hrsg.), Abbé Vogler. Ein Mannheimer im europäischen Kontext. Internationales Colloquium Heidelberg 1999 (= Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 7), Frankfurt 2003, S. 227-246), die das Beispiel von Voglers Lampedo zum Ausgangspunkt nimmt, um auf den zweiten Strang einer Melodram-Tradition mit glücklichem Ende aufmerksam zu machen. Unmittelbarere Anknüpfungspunkte ergeben sich vor dem Hintergrund der im vorliegenden Aufsatz unter anderem angesprochenen Alceste von Wieland und Schweitzer jedoch durch einen im Jahr 2007 publizierten Sammelband zur Figur der Alkestis, in dem sich gleich drei Beiträge mit der Weimarer Alceste beschäftigen. Für die genauen Angaben vgl. auch Anmerkung 38, S. 67f. 2 Siehe hierzu die tabellarischen Übersichten bei Thomas Bauman, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985, S. 38 und 57. 3 »Und dann bedenke man auch, wie sehr H. H. [Herr Hiller] durch den elenden Zustand Und so erscheint es alles andere als verwunderlich, dass man sich von dieser Art jüngerer Tradition absetzen wollte, als man am Weimarer Musenhof Anna Amalias mit der Alceste ein National-Singspiel auf den Weg zu bringen trachtete. Dieses war selbstverständlich ernsten Charakters, und als Kronzeuge diente Wieland dabei kein Geringerer als Euripides. Der besondere Anspruch, den man mit dieser Produktion verband, artikulierte sich neben der Wahl des zugrunde gelegten Sujets nicht zuletzt auch in einer bis dato beispiellosen publizistischen Begleitaktion Wielands im Teutschen Merkur. 4 Wiederum war es Johann Friedrich Reichardt, der sich neben Goethe als einer der ersten an der literarisch-ästhetischen Diskussion über dieses Theaterereignis beteiligte 5 und sowohl mit der inhaltlich-dramatischen Anlage als auch der musikalischen Realisierung hart ins Gericht ging. Reichardts Kritik machte dabei auch vor der Finallösung nicht halt, indem er die entscheidende Frage stellte: »Wozu muß das Stück einen froelichen Ausgang haben? « 6 Es dürfte sich für das deutschsprachige Schrifttum wohl um das erste Mal handeln, dass die Frage des Lieto fine auch auf theoretischer Ebene zum Gegenstand der Diskussion erhoben wurde. Allzu selbstverständlich gehörte es als fester Bestandteil zur omnipräsenten italienischen Oper dazu, als dass es besonderer Erwähnung bedurft hätte. Zweifellos hatte es in der Opernpraxis des 17. wie 18. Jahrhunderts gelegentlich Ausnahmen gegeben, darunter das berühmteste, weil meist vertonte Beispiel mit Metastasios Didone abbandonata, doch hatten derartige Experimente bis dato so gut wie keine literarische Resonanz gefunden. 7 36 Ursula Kramer unsrer Singetheater eingeschränkt wurde. Er wußte es ja, und was ich an ihm bewundere, er hat es nie aus den Augen gelassen, daß er nicht für Sänger, sondern für Schauspieler schrieb, die es sich sonst kaum hatten einfallen lassen, beym Weine zu singen […] Mit den Instrumentalisten verhält es sich eben so: denn da noch nicht die Fahne über unser deutsches Theater geschwenkt worden ist, so geben sich an den meisten Orten nur die schlechtesten Leute des Orts damit ab.« Johann Friedrich Reichardt, Über die Deutsche comische Oper nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie, Hamburg 1774, Nachdruck München 1974, S. 14. 4 Christoph Martin Wieland, »Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel, Alceste«; in: Der Deutsche Merkur, Frankfurt und Leipzig 1773, 1. Stück S. 34-72, 3. Stück, S. 223-243 sowie ders., »Versuch über das deutsche Singspiel und einige dahin einschlagende Gegenstände«, in: Der Deutsche Merkur, Frankfurt und Leipzig 1775, 3. Stück, S. 63-87, 4. Stück, S. 156-173. 5 Anon. [Johann Friedrich Reichardt], »Alceste von Wieland und Schweitzer«. O.O., o.J. [1774]; Wiederabdruck (ebenfalls anon.) in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 33. Bd., 2. Stück, Berlin und Stettin 1778, S. 307-335. 6 Ebd., S. 321. 7 Zu den Ausnahmen gehört die Schrift von Antonio Planelli Dell’opera in musica, Neapel 1772, Francesco Degrada (Hrsg.), Fiesole 1981, deren 4. Kapitel dem »finimento tristo Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 37 Was Reichardt nun plötzlich 1774 mit seiner rhetorischen Frage ex negativo forderte, stellte jedoch nicht nur für den ästhetischen Diskurs eine neue Kategorie dar, sondern kam auch und primär auf der Ebene der dramaturgischen wie musikalischen Produktion einem geradezu ungeheuerlichen Ansinnen gleich. Schließlich stellte der Tod im 18. Jahrhundert per se ein bühnenästhetisches Tabu dar, und nun sollte seine Visualisierung ausgerechnet in finaler und damit besonders herausgehobener Position erfolgen. Hinzu kommt, dass die zeitgenössischen Positionen zur generellen Funktion von Musik einer Darstellung des »Hässlichen« - als Gegeninstanz zum »Schönen« - eine radikale Absage erteilten. Bezeichnend genug argumentierte der Textdichter Friedrich Wilhelm Gotter 1779 in seinem Vorwort zur Druckausgabe des Singspieltextes von Romeo und Julia mit der »musikalische[n] Oekonomie [die] die Beybehaltung der allzu tragischen Katastrophe nicht zu erlauben [schien].« 8 Zu klären wäre, was es mit dieser »musikalischen Ökonomie« auf sich hatte, und ob es nicht einfach bedeutete, dass es am grundsätzlichen musikalischen Vokabular für einen solchen Tragödienschluss mangelte. Wie jedoch der Blick auf die weiteren musiktheatralischen Ereignisse im Deutschland der 1770er-Jahre lehrt, lohnt die Fokussierung auf ein tragisches Ende als Opernschluss durchaus. Dabei ist zunächst danach zu fragen, ob es für das Bemühen um eine adäquate musikalische Gestaltung solcher Szenen mögliche Vorbilder oder zumindest Orientierungshilfen gab, die freilich außerhalb des (gesungenen) Musiktheaters zu suchen sind. Dabei scheinen vor allem zwei potentielle Einflußsphären relevant: I. die Kantate und II. das Handlungsballett. I. Die Kantate ist von Laurenz Lütteken treffend als vor-szenische Gattung bezeichnet worden; 9 als ein Genre, das die direkte Bühnendarstellung umgeht, verlangt es vor allem dem Komponisten Außerordentliches ab, sollte hier doch allein die Musik in der Lage sein, die Einbildungskraft des Zuhörers entsprechend zu stimulieren. Mit dem Verzicht auf die szenische Ebene war die Kantate prädestiniert für jenen Stoff, der im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Musiktheaters in den 70er-Jahren besondere Bedeutung e lieto« gewidmet ist. Der Autor führt die Vorliebe der Alten für tragische Schlüsse auf ihre Mentalität und Prägung durch die Religion zurück; und mit eben diesen Argumenten begründet er die Bevorzugung eines glücklichen Ausgangs in der modernen Zeit (S. 42f). 8 Friedrich Wilhelm Gotter, »Nachricht« (= Vorwort) zu: Romeo und Julie. Ein Schauspiel mit Gesang in drey Aufzügen, Leipzig 1779, S. 8. Nachdruck in: Thomas Bauman (Hrsg.), German Opera 1770-1800. Librettos V, New York 1986. 9 Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998, S. 454. erhielt: den Selbstmord einer weiblichen Protagonistin. Gleich zwei Texte aus dem Jahr 1765 verliehen der herkömmlichen Gattung der Solokantate mit der Thematisierung dieser »psychischen Extremsituation« 10 ein neues Gesicht: Neben Karl Wilhelm Ramlers - wohl unmittelbar für Georg Philipp Telemann entstandener - Ino auch Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Ariadne auf Naxos, komponiert von Johann Adolph Scheibe. (Und wenn im Folgenden nur von letzterer die Rede sein wird, so deshalb, weil es dieser Text Gerstenbergs war, aus dem Johann Christian Brandes 1773 den Vorwurf für das von Georg Anton Benda vertonte gleichnamige Melodram entwickelte, das wohl mit einigem Recht als wichtigstes musiktheatralisches Ereignis der 1770er-Jahre in Deutschland bezeichnet werden kann.) Der Druckausgabe von Scheibes »Tragischer Kantate« Ariadne beigegeben sind mehrere erläuternde Texte mit sehr aufschlussreichen Passagen. So wird in einer knappen Inhaltsangabe explizit auf Johann Joachim Winckelmann als den Gewährsmann deutscher Antiken-Rezeption verwiesen, um somit den Schluss - die von Theseus auf Naxos allein zurückgelassene Ariadne stürzt sich vom Felsen - in seinem tragischen Ausgang zu rechtfertigen. 11 Gleichermaßen von Bedeutung ist auch die als »Nacherinnerung« überschriebene Passage des Komponisten, in der er vom Interpreten seiner Musik verlangt, dass er sich »in den Affeckt setzen möge, welcher darinnen ausgedrückt wird.« 12 Steht diese Forderung einerseits im Einklang mit der zeitüblichen Ausdrucksästhetik, so scheint aber auch eine ganz unmittelbar auf die besondere Schlussgestaltung Bezug nehmende Interpretation denkbar: Die Rolle der in ihrer Verzweiflung schließlich in den Selbstmord getriebenen Ariadne verlangt eine besondere, bis dato ungekannte schauspielerische Ausdrucksdimension. Eine solche Deutung erfährt zusätzliche Legitimation durch den bereits genannten Friedrich Wilhelm Gotter und sein Vorwort zu Romeo und Julia, in dem er sein von Shakespeare abweichendes Lieto fine (Julia erwacht noch rechtzeitig, so dass die Liebenden zusammenfinden) nicht nur mit der bereits erwähnten »musikalischen Oekonomie«, sondern auch mit der »Rücksicht auf die Fähigkeiten der Sänger« rechtfertigte. 13 Was konnte damit anderes gemeint sein, als dass ein in der Katastrophe endendes Finale zunächst die Chance auf die letztmalige Ausstellung der besonderen Vokalkünste der Interpreten mehr oder minder 38 Ursula Kramer 10 Ebd., S. 457. 11 Johann Adolph Scheibe, Abschnitt »Inhalt«, in: ders., Tragische Kantaten für eine oder zwo Singestimmen und das Clavier. Nämlich: des Herrn von Gerstenbergs Ariadne auf Naxos, und Johann Elias Schlegels Prokris und Cephalus, Kopenhagen und Leipzig 1765, o.S. Als Folie, von der es sich abzusetzen gilt, nennt Scheibe jene Variante der Überlieferung, in der sich Ariadne mit Bacchus vermählt. 12 Ebd., o.S. 13 Gotter, »Nachricht«, S. 8. Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 39 verhindert und darüber hinaus die schauspielerischen Möglichkeiten seiner Darsteller womöglich überstiegen hätte? Es zeigt sich also, dass der ästhetischen Herausforderung eines tragischen Schlusses, die sich zunächst ihren Weg in der Gattung der Kantate bahnte, auf der Seite der musikalischen Produktion eine mindestens ebenso große gegenüberstand. Ob und wie diese bewältigt wurde, soll im Folgenden wenigstens in Ansätzen aufgezeigt werden. Johann Adolph Scheibe, Ariadne auf Naxos, Tragische Kantate, Schluss 40 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 41 Die innere Befindlichkeit der Protagonistin erfährt ihre äußere Entsprechung im Aufruhr der Natur, der durch die zweite Rolle der Oreade verbalisiert wird: »Sie brüllen, die Löwen, die bersten, die Schlünde, der donnert, der Donner! « Parallel zu dieser Schilderung vollzieht sich nach einem letzten Aufbäumen in Verzweiflung die zunehmende Resignation Ariadnes, musikalisch umgesetzt durch die flexible Handhabung von rezitativischdeklamatorischen Passagen, die schließlich im Nichts verebben. Ariadnes Ende scheint also für Scheibe musikalisch unsagbar; stattdessen schließt das Werk mit dem Ruf der Oreade, die Ariadne auffordert, in den Tod zu gehen: »Geschwinde, geschwinde vom Felsen, vom Felsen hinab.« Damit wird im letzten Augenblick die Innenperspektive der Protagonistin verlassen. Die Kantate erhält somit einen gleichsam »formalisierten«, veräußerlichten Abschluss, der ihrer Grundidee zuwider läuft. II. Als zweiter möglicher Einflussbereich für die Idee des tragischen Schlusses im Musiktheater ist aber auch das Handlungsballett in Betracht zu ziehen. Heute als Aufführungsrealität weitgehend vergessen, spielte das Ballett als feststehender Einlagentypus zwischen den Akten einer Opera seria im 18. Jahrhundert oftmals für das Publikum die entscheidendere Rolle als das eigentliche Theaterereignis des Abends. 14 Daran hatten nicht zuletzt die beiden großen Reformer Jean-Georges Noverre und Gasparo Angiolini mit ihrem neuartigen Konzept eines Ballettstils, der auf den Ausdruck des ganzen Körpers zielte, ihren erheblichen Anteil. 15 Vor allem für Angiolini spielte dabei die Idee eines tragischen Sujets mit entsprechend konsequent negativem Schluss von Anfang an eine wichtige Rolle. 16 Und es war die Zusammenarbeit mit Gluck in Wien, die die beiden diesbezüglich wohl einflussreichsten und frühesten Handlungsballette hervorbrachte: Don Juan von 1761 sowie vor allem Semiramis, uraufgeführt am 31.1.1765. 42 Ursula Kramer 14 Es sei nur an die Bemerkung eines der prominentesten Zeitzeugen, Goethe, erinnert, der aus Rom mitteilte: »Alexander in Indien [Anfossi, Alessandro nel Indie] hat mir Langeweile gemacht. Dagegen war das Ballett, die Eroberung von Troja, recht schön.« Brief an Fritz von Stein vom 4.1.1787; zitiert nach: »Johann Wolfgang Goethe. Italien - Im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3.9.1786 bis 12.6.1794«, in: Karl Eibl (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke II. Abtheilung Bd. 3, Frankfurt 1991, S. 208. 15 Sibylle Dahms, »Étienne Lauchery, der Zeitgenosse Noverres«, in: Ludwig Finscher/ Bärbel Pelker/ Jochen Reutter (Hrsg.), Mozart und Mannheim. Kongreßbericht Mannheim 1991 (= Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 2), Frankfurt 1994, S. 146. 16 Vgl. auch Richard Engländer, »Vorwort zur Ausgabe Christoph Willibald Gluck, Don Juan/ Semiramis. Ballets Pantomimes von Gasparo Angiolini«, in: Christoph Willibald Gluck, Sämtliche Werke Abteilung II: Tanzdramen Bd. 1, Kassel 1966, S. IX. Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 43 Stellt sich die Frage des Finales im Fall von Don Juan insofern noch als doppeldeutig dar, als es ja um den Untergang des Bösewichts geht (und somit die gute Ordnung wieder hergestellt wird), so ist die Radikalität der Tragödiendimension in Semiramis auf die Spitze getrieben: Angiolini spricht selbst von dem »soggetto il più terribile che l’antiquità abbia a noi tramendato.« 17 Semiramis hat ihren Mann umgebracht, um den eigenen Sohn heiraten zu können, dieser erhält von den Göttern den Auftrag, den Vater zu rächen, indem er die Person tötet soll, die er in dessen Grab vorfindet. Der Ahnungslose tötet so die Mutter; die Sterbende erkennt in ihm den Sohn. Den Selbstmord des Sohnes können die Umstehenden gerade noch verhindern. Dass die Umsetzung der Tragödien-Dimension in der Musik des Don Juan dennoch wesentlich unmittelbarer hörbar wird als in Semiramis, hängt - paradox genug - mit der extremen Tragik des letzteren Sujets zusammen. Hier ließ sich der Tragödienteil nicht mehr nur in einem musikalisch zu bündelnden Schluss fokussieren; vielmehr sind weite Teile des Handlungsentwurfs von der tragischen Dimension geprägt, ohne dass dies unbedingt jeweils seinen spontanen Niederschlag in der Musik fände. Wien sei weit weg von Mittel- oder gar Norddeutschland, mag man angesichts der gestellten Frage nach möglichen Einflussbereichen auf die Findung tragischer Lösungen für das Musiktheater einwenden. Dem lassen sich nicht nur zahlreiche Aufführungen etwa des Don Juan-Ballettes in Deutschland entgegenhalten; bereits ein Jahr nach der Uraufführung des Semiramis-Ballettes erschien in Hamburg die Übersetzung einer französischen Abhandlung über Angiolini, die auch das Szenar der Semiramis enthielt. 18 Und schließlich fanden Angiolini und Noverre an deutschen Bühnen ganz konkrete Nachahmer. Zu ihnen gehörte der aus Frankreich stammende Etienne Lauchery, der 1772 als Directeur de l’Académie de danse in Mannheim angestellt wurde; unter seinen knapp 100 heute nachweisbaren Balletten folgt rund die Hälfte dem Typus des Ballet héroïque; 10% davon haben einen tragischen Schluss. 19 Médée et Jason von 1772 ist eines davon; die Vertonung stammt von Christian Cannabich, und es handelt sich dabei überlieferungsgeschichtlich um einen herausragenden Fall, da nicht nur die Musik (Partitur) und das Szenarium erhalten sind, sondern darüber hinaus auch noch ein Klavierauszug mit Texteintragungen, eine Art Regiebuch, 17 Zitiert nach Engländer, »Vorwort Don Juan«, S. IX, Anmerkung 14a. 18 »Abhandlungen über die pantomimischen Tänze der Alten«, in: Hamburger Unterhaltungen, zweeten Bandes fünftes Stück, November 1766, vgl. Engländer, »Vorwort Don Juan«, S. XV und XVI. 19 Dahms, »Lauchery« , S. 153. das eine genaue Zuordnung der dramatisch-inhaltlichen Konstellationen zu den einzelnen musikalischen Nummern ermöglicht. 20 Wie bereits beim Semiramis-Sujet nimmt auch in der Geschichte von Medea - die zuerst ihre Nebenbuhlerin vergiften lässt, um dann vor den Augen ihres Mannes Iason die eigenen Kinder zu töten, was ihn zum Selbstmord treibt, der allerdings gerade verhindert werden kann - der tragische Gehalt einen außerordentlich breiten Raum ein; die Tragödie erscheint also keinesfalls erst in einer finalen Bündelung. Und dennoch zeigt sich an der Musik, dass sie - obwohl als reine Instrumentalmusik noch einmal vor anderen Aufgaben stehend als die Kantate oder die Oper - ähnliche Wege geht wie etwa Benda in seiner Ariadne. Der Schluss der letzten Szene (»à l’instant des démons se répandent de toute parts; ils mettent le feu au palais qui s’écroule, aprés quois ils s’abîment dans des gouffres, satisfaits d’avoir exercé leur fureur par le ministère de Medée« 21 ) hinterlässt im wahrsten Sinn des Wortes nur mehr »verbrannte Erde«, und die Musik setzt diese letzten Momente der Tragödie mit ihren Mitteln um: Nach einem dramatisch inspirierten, von Sequenzen, Skalen und Tremoli beherrschten Beginn der letzten Nummer (27) kommt der Satz in zwei Anläufen schließlich zum Stillstand - es ist ein regelrechtes Versiegen in einem letzten Pianoakkord (vgl. Notenbeispiel). Es war Georg Anton Benda (und nicht Anton Schweitzer), von dem die entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung des musikalischen Theaters in Deutschland ausgingen. Dabei hatte Schweitzer die Fäden des Geschicks selbst in der Hand gehabt, indem er zunächst als Komponist für die von Brandes eingerichtete Textversion der Ariadne vorgesehen war und mit der Arbeit bereits begonnen hatte, bevor er diese zugunsten des Wielandschen Alceste- Vorwurfs wieder abbrach; statt seiner übernahm bekanntlich Benda diese Aufgabe und entledigte sich ihrer mit Bravour: Ariadne auf Naxos wurde (wie auch das nur wenige Monate später folgende Schwesterwerk Medea) nicht nur vom Publikum begeistert aufgenommen und in ganz Deutschland zur Aufführung gebracht, sondern löste zugleich eine Welle an Nachfolge-Kompositionen aus. Auch wenn das Melodram nicht wirklich Bendas eigene »Erfindung« darstellte, 22 so trafen doch hier inhaltlich-dramatische Konzeption und musikalische Realisierung auf kongeniale Weise zusammen. 44 Ursula Kramer 20 Szenarium: Christian Cannabich, Médée et Jason. Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Bibliothek Mannheimer Drucke, Sig. Mh 1765. Partitur: Medée et Jason. Ballet Tragi=Pantomime. Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (D-DS), Mus. ms. 219. Klavierauszug: Medée et Iason. Ballet Tragique. Badische Landesbibliothek Karlsruhe (Sammlung Donaueschingen, Mus. ms. 238). 21 Szenarium Medée, S. 15. 22 Zur Relativierung der These von der »Erfindung« der Gattung vgl. Lütteken, Das Monologische als Denkform, S. 467ff. Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 45 Christian Cannabich, Medée et Jason, Schluss von Nr. 27 Quelle: D-DS Mus. ms. 219 Tonart: Es-Dur 46 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 47 Möglicherweise bedurfte es just der Autorität eines antiken Stoffes, um nun tatsächlich den Selbstmord einer Protagonistin auf der Bühne - und noch dazu in finaler Position - zu legitimieren. Dass dies gelang, verdankt sich der spezifischen ästhetischen Konzeption des Melodrams. Mit dem Nebeneinander von gesprochener Sprache und Musik ging die Aufkündigung der regulären Syntax des Tonsatzes einher, was ein bislang ungekanntes Maß an Flexibilität und Dynamisierung für die Musik mit sich brachte. Und im Gegensatz zur gleichsam geschmeidigen Handhabbarkeit des von einem einzigen Tasteninstrument ausgeführten Rezitativs, wie es sich bereits Scheibe zur Schilderung der emotionalen Nuancen seiner Ariadne-Protagonistin zunutze gemacht hatte, konnte Benda mit seinen Kürzeln und Abbreviaturen von bisweilen nur einem einzigen Takt gleich von einem ganzen, aus Streichern sowie je zwei Flöten, Oboen, Hörnern und Fagotten sowie Pauke bestehenden Orchester Gebrauch machen. Und nur unter Aufbietung dieser gesammelten Kräfte war es ihm möglich, ein der Dramatik der Szene angemessenes musikalisches Gegengewicht zu schaffen. Auch in diesem Fall fungiert - wie schon in der ursprünglichen Kantatenversion von Gerstenberg - die äußere Situation des Sturms als Abbild der inneren Befindlichkeit der Darstellerin unmittelbar vor dem Sprung von den Klippen: Dieser wird - wie auch das Unwetter - von der Musik durchaus realistisch abgebildet, und es genügen zwei Takte in d-Moll (T. 590f.), um in Ariadnes Sturz bereits den Untergang von Mozarts Don Giovanni voraus ahnen zu lassen. Im Zuge der Verismo-Forschung in der Oper hat Egon Voss den Schrei als jenen Moment besonders hervorgehoben, da der Gesang vor der Realität versagt. 23 Auch wenn der Weg von der gesprochenen Sprache zum Schrei - wie im Melodram - natürlich längst nicht so weit war wie der in der italienischen Oper des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so ist die Idee die gleiche: In der Kombination mit der Musik ist der Schrei das realistischste Ausdrucksmittel im Angesicht der Katastrophe. Nach Ariadnes Sprung in den Tod folgen zwei letzte, nurmehr plagal kadenzierende Takte im Piano (T. 593f.) - wie für Cannabich bleibt auch für Benda angesichts der Katastrophe musikalisch nichts mehr zu sagen (vgl. Notenbeispiel). Dank Benda zeigte sich die Musik auf dem deutschen Theater also erstmals im Ansatz »katastrophentauglich«, und doch war es ein Nebengleis, stellte das Melodram eine Experimentalform außerhalb der Gattung des Singspiels dar. Zu fragen bleibt, wie sich der Zusammenhang zwischen der Idee eines neuen deutschen Singspiels und Reichardts Postulat vom tragischen Ende desselben weiterhin gestaltete. 23 Egon Voss, »Verismo in der Oper«; in: Die Musikforschung 31/ 1978, S. 311: »Turridus Tod wird im wiederholten grellen Schrei mitgeteilt […] Das Schreckliche erfährt keine Harmonisierung durch Musik. Das Geschehen wird nicht in die Kunstform Oper aufgenommen, es bleibt unintegriert und ragt als solches wie ein Stück tatsächlicher Wirkung in die Kunst hinein.« Georg Anton Benda, Ariadne auf Naxos, Melodram, Schluss 48 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 49 50 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 51 52 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 53 Hier nun wird der Urheber dieser Forderung selbst zum Protagonisten. Was mit der umfangreichen Schrift Über die deutsche comische Oper von 1774 seinen Ausgang genommen hatte, fand 1781 seine Fortsetzung mit einem Text über das deutsche Singeschauspiel, der zusammen mit einem Musterlibretto publiziert wurde. 24 Reichardt hatte nämlich parallel zu seinen theoretischen Ausführungen eine Art Modellkomposition mit dem Titel Liebe nur beglückt als konkretes Anschauungsmodell für seine ästhetischen Vorstellungen verfasst, die jedoch nie zur Aufführung gelangte. 25 Doch weder in der Theorie noch im begleitenden Werk selbst war jetzt - 1781 - noch von einem tragischen Ausgang die Rede, und das, obwohl der Inhalt von Liebe nur beglückt durchaus unter die Rubrik eines »ernsten« Singspiels einzuordnen wäre (allen äußeren Widerständen zum Trotz finden eine Grafentochter und ein Musiker (Komponist) schließlich zusammen). Als Komponist griff Reichardt nun auf ein Lieto fine zurück, das sich in einem Rundgesang der Protagonisten manifestiert. Warum ausgerechnet er, der doch selbst mit der Schlussgestaltung der Alceste von Wieland und Schweitzer derart hart ins Gericht gegangen war, diese Lösung wählte (schließlich hätte Reichardt als sein eigener Librettist ja sehr wohl einen weniger »froelichen Ausgang« konzipieren können), lässt sich nicht erklären; immerhin erscheint denkbar, dass es sich bei diesem Schritt um eine Art musikalischer »Kapitulation« gehandelt hat, was es im folgenden zu beweisen gilt. Baustein in der Argumentationskette ist eine weitere Komposition Reichardts, die ihn in der zweiten Hälfte der 1770er-Jahre beschäftigt hatte und die 1780 als Orchesterpartitur im Druck erschien: seine Kantate Ariadne auf Naxos. Warum, so darf man fragen, hat Reichardt jene Vorlage Gerstenbergs nach der Erfahrung von Bendas Melodram-Experiment wieder auf ihre alte Gattungszugehörigkeit zurückgeführt? Warum hat er nicht, wenn ihn das Sujet interessierte, genau daraus ein ernstes deutsches Singeschauspiel gemacht, das dann zwangsläufig einen tragischen Opernschluss zur Folge gehabt hätte? Der Schlüssel zur Antwort scheint in Reichardts Haltung gegenüber dem Rezitativ zu liegen. Im Vorwort zu seinem Musterlibretto Liebe nur beglückt verwies er auf die grundsätzlichen Differenzen zwischen deutscher und italienischer Oper und erkannte im Zusammenhang mit der jeweils unterschiedlichen Mentalität beider Nationen allein den Italienern das Rezi- 24 Johann Friedrich Reichardt, Liebe nur beglückt. Ein deutsches Singeschauspiel, Berlin 1781. Darin Vorwort: »Etwas über das deutsche Singeschauspiel so nicht überschlagen werden darf«, S. III-XX. 25 Autograph und Abschrift in D-Bds (Mus. ms. autogr. Reichardt, J. F. 4 bzw. Mus. ms. 18214). tativ als angemessene Form zu, während er für das deutsche Singspiel statt dessen für die Mischung aus gesprochenen Dialogtexten und abgeschlossenen musikalischen Nummern plädierte. 26 Demgegenüber hatte er aber bereits 1774 die Kantate als die »allernatürlichste« unter den musikalischen Formen hervorgehoben, 27 und der Blick auf seine Ariadne-Vertonung macht deutlich, was er damit meinte: Hier war der Ort für das Rezitativ, das gleichsam als kompositorisches Rückgrat der gesamten Partitur diente. Neben den gelegentlichen Verdichtungen in Form geschlossener Arien werden weite Teile des Werkes vom Rezitativ beherrscht. 28 Seine formale Offenheit, die es gestattete, minutiös auf den jeweiligen Text und dessen Nuancen zu reagieren, schien in der Tat prädestiniert für ein Sujet wie das der Ariadne, bei dem an die Stelle äußerer Handlung die zwischen Hoffnungslosigkeit, Wut, Verzweiflung und Resignation schwankenden inneren Seelenzustände der Protagonistin treten. Doch auch für Reichardt stellte sich das Problem des Schließens; im Gegensatz zu Scheibe verzichtete er auf Gerstenbergs Aufruf der Oreade und spaltete den letzten inneren Kampf Ariadnes in zwei Teile auf: Dem ersten, als Accompagnato-Rezitativ mit ersterbendem Schluss gestalteten Abschnitt folgt eine Trauermusik in c-Moll (3/ 4) mit Flöte, 2 Fagotten und con sordino spielenden Streichern die Klage der Ariadne: »Nicht dieses Ende, diese Schmach hab ich verdient« (vgl. Notenbeispiel). 54 Ursula Kramer 26 Reichardt, »Deutsches Singeschauspiel«, S. VI-IX. Diese Ansicht teilte auch Georg Anton Benda, »Ueber das einfache Recitativ«. In: Cramer, Carl Friedrich, Magazin der Musik 1. Jg., 2. Hälfte Hamburg 1783, Nachdruck Hildesheim 1971, S. 750-753. 27 Johann Friedrich Reichardt, Deutsche Comische Oper, S. 117. 28 Und genau dieses Schwanken zwischen in sich geschlossenen und offeneren Formabschnitten brachte auch eine Öffnung der Arien mit sich: Schließlich war an deren Ende jeweils eine Rückführung in den rezitativischen Kontext nötig. Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 55 Johann Friedrich Reichardt, Ariadne auf Naxos, Kantate, Schluss 56 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 57 Die spezifische Chance, die von der Form des Rezitativs ausging, wurde von Reichardt also an dieser Stelle seiner Kantate nicht mehr genutzt: In finaler Position hätte sie ansonsten eine vollständige Sprengung der tektonischen Form bedeutet. Immerhin aber hatte sich der Komponist ihrer - wie angedeutet - im Verlauf des Werkes kontinuierlich und erfolgreich bedient. Indem er aber trotz dieser produktiven Erfahrung auch weiterhin an seiner Auffassung festhielt, dass das Rezitativ im deutschen Singspiel nichts zu suchen habe, entzog er sich selbst die wichtigste konzeptionelle Möglichkeit für das Voranbringen eines deutschen Singeschauspiels, ausgerechnet er, der doch zumindest auf theoretischer Ebene der engagierteste zeitgenössische Vorkämpfer in dieser Richtung war. Dass sich nämlich ohne diese radikale Ausgrenzung des Rezitativs ganz neue Chancen eröffneten, lässt sich schließlich an dem nach Weimar und der Alceste zweiten deutschen Projekt zeigen, ein eigenständiges deutsches Singspiel zu initiieren: Holzbauers Günther von Schwarzburg, uraufgeführt in Mannheim am 5. Januar 1777. Mannheim war bekanntlich wie Weimar ein ambitionierter Hof; auch wenn die Konstellationen im einzelnen anders aussahen - ging es bei den Bemühungen des kunstsinnigen Kurfürsten Karl Theodor um ein Nationaltheater doch auch ganz konkret darum, dem mächtigen benachbarten französischen Einfluss entgegenzuwirken - so waren die herausragenden Kräfte aller am Theater beteiligten Sparten (Sänger, Orchester und Ballett) doch in besonderem Maße dazu angetan, künstlerisch Neues und Produktives auf den Weg zu bringen. Wer im Fall des Günther von Schwarzburg für die Wahl des Sujets verantwortlich zeichnete, ist nicht eindeutig zu beantworten. Allerdings gehörte der Librettist Anton Klein 1775 zu den Gründungsmitgliedern der Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft zur Pflege von Sprache und Literatur, 29 so dass es in diesem Kontext nahe lag, ein nationales Sujet (die Handlung gibt einen Ausschnitt deutscher Geschichte aus dem 14. Jahrhundert wieder und spielt in Frankfurt) zu wählen. 30 Daraus entstand das erste deutsche Singspiel mit tragischem Ende: Günther, Graf von Schwarzenburg, wird als neugekrönter deutscher Kaiser vergiftet und stirbt auf der Szene einen 58 Ursula Kramer 29 Vgl. Hermann Jung, »Antikenrezeption am Mannheimer Hof und Holzbauers Tod der Dido«, in: Ludwig Finscher/ Bärbel Pelker/ Rüdiger Thomsen-Fürst (Hrsg.), Mannheim - Ein Paradies der Tonkünstler? Kongreßbericht Mannheim 1999 (= Quellen und Studien zur Geschichte der Mannheimer Hofkapelle 8), Frankfurt 2002, S. 479 . 30 Bärbel Pelker nennt dabei zwei verschiedene Wege der Vermittlung, wie Klein an den Stoff des Günther von Schwarzburg gelangt sein könnte. Vgl. dazu Kommentar zu Günther von Schwarzburg. Singspiel in drei Aufzügen (= Quellen zur Musikgeschichte in Baden-Württemberg. Kommentierte Faksimile-Ausgaben 1), München 2000, S. XVI . Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 59 qualvollen Tod, nicht ohne zuvor noch die zerstrittenen Parteien miteinander versöhnt zu haben. Es war dies eine dramatische Herausforderung sondergleichen, der Holzbauer auf der kompositorischen Ebene auf adäquate Weise begegnete, 31 nicht ohne dass ihn diese Lösung zuvor vor erhebliche Probleme gestellt hätte, wie der intensive Bearbeitungsprozess gerade an der Finalszene beweist. 32 Mittel der Wahl war eine rezitativische Schreibweise, mit der zugleich die Aufkündigung der strengen Trennung von Rezitativ und Arie einherging, 33 so dass nicht nur Stimmungsnuancen, sondern bisweilen auch Schwankungen und schließlich radikale Brüche unmittelbar musikalisch umgesetzt werden konnten. Bemerkenswert erscheint allein die Vielfalt an divergierenden Tempovorschriften auf kleinem Raum, die auch vom Orchester bei der Ausführung ein Höchstmaß an Präzision erforderten: Hier war die Mannheimer Orchesterqualität unter der allseits bestaunten Leitung Christian Cannabichs mehr als gefragt. Doch aller kompositorischen Modernität zum Trotz bleibt dabei dennoch Raum für eine Abschiedsarie des Protagonisten. Bezeichnend genug jedoch wird dabei - die Reihenfolge zwischen szenisch-rezitativischem Teil und geschlossener musikalischer Nummer umgekehrt: Angesichts des bevorstehenden Todes folgt auf die Arie die formale Auflösung ins Rezitativische (vgl. Notenbeispiel). 31 Die Ansicht Helga Lühnings (»Aufkündigung einer Gattungstradition. Das Metastasianische Drama, Wielands Singspielkonzept und die deutsche Oper ›Günther von Schwarzburg‹«, in: Roland Würtz (Hrsg.), Mannheim und Italien - Zur Vorgeschichte der Mannheimer, Mainz 1984, S. 170), wonach Klein vor dem tragischen Ausgang »regelrecht kapituliert« habe, kann nicht nachvollzogen werden. Hingegen ist Bärbel Pelker zuzustimmen, die von einer »geradezu beklemmend realistische[n] Darstellung dieser Sterbeszene« spricht. (Bärbel Pelker, »Günther von Schwarzburg. Die Genese einer deutschen Nationaloper einst und jetzt«, in: Musik in Baden-Württemberg 8/ 2001, S. 178. 32 Vgl. Pelker, »Genese Günther von Schwarzburg«, S. 177f. 33 Vgl. auch Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998, Teil 1, v.a. S. 382ff. Ignaz Holzbauer, Günther von Schwarzburg, Auszug aus der Schlussszene *) 60 Ursula Kramer *) Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Strube-Verlages (München). Für die genauere Angabe siehe Literaturverzeichnis. Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 61 62 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 63 64 Ursula Kramer Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 65 Mit der realistisch abgebildeten Sterbeszene und einem anschließenden kurzen Klagechor war im Jahr 1777 in Deutschland erstmals jenes Schlusstableau vorweggenommen, das dann im mittleren 19. Jahrhundert zur typischen Finalkonstellation der italienischen Oper werden sollte. Allerdings war der historische Moment für eine angemessene Würdigung und Rezeption des Holzbauerschen Werkes äußerst ungünstig: Mit dem kurze Zeit später vollzogenen Umzug des Hofes nach München geriet Mannheim ins Abseits, und es war erneut Schweitzers Alceste und nicht Holzbauers Singspiel, das Karl Theodor in München auf den Spielplan setzte. In Mannheim jedoch verfolgte Holzbauer die Idee eines tragischen Singspiel-Schlusses unmittelbar weiter; vermutlich stellte er selbst den Text zu seiner neuen Oper, La morte di Dido, aus Metastasios berühmtem Libretto Didone abbandonata zusammen, bei der aus der ursprünglich dreiaktigen nun eine einaktige Version wurde. Es war gewissermaßen die Verdichtung des Dido-Stoffes auf die Katastrophe, denn die Handlung setzt überhaupt erst in dem Moment ein, als Dido erfährt, dass ihr Geliebter Aeneas aus der Stadt fliehen will. Es gelingt ihr nicht mehr, ihn zurückzuhalten; indem sie nun ihrerseits die Hand ihres Widersachers Jarbas zurückweist, ist ihr Schicksal besiegelt: Verraten von den engsten Vertrauten sucht sie in den Flammen des brennenden Palastes den Tod. Die Uraufführung des Werkes fand am 6. Juli 1779 - freilich in italienischer Sprache - statt, und es handelte sich damit um die erste Oper, die für das neugegründete Mannheimer Nationaltheater komponiert worden war. Erstaunlich genug ließ Holzbauer ein Jahr später eine deutsche Textfassung des Dramas (vermutlich ebenfalls von Anton Klein) anfertigen, was eindeutig als Indiz für sein Engagement zugunsten einer deutschen Nationaloper gewertet werden kann, 34 und dies um so mehr, als dabei die Musik der italienischen Version nicht einfach übernommen, sondern vielmehr einer gründlichen Revision unterzogen wurde: Es war also nicht bloß eine deutsche Übersetzung, sondern eine eigenständige Fassung. Allerdings wurde diese wohl erstmals nach dem Tod Holzbauers am 6. Juni 1784 unter dem Titel Die Zerstörung von Carthago in Mannheim aufgeführt. 35 Die hier allein relevante Finalszene dieser zweiten Dido-Fassung setzt sich aus drei Komplexen zusammen: 36 Eine Cavata wird von zwei Rezitati- 66 Ursula Kramer 34 Vgl. auch die Werkeinführung von Bärbel Pelker im Programmheft der Schwetzinger Festspiele 1997, S. 24. 35 Im Rahmen des Forschungsprojektes Mannheimer Hofkapelle wird durch Bärbel Pelker die Herausgabe der deutschen Version unter dem Titel Tod der Dido vorbereitet (erscheint in der Reihe Musik der Mannheimer Hofkapelle 3). 36 In diesem Schlussteil sind die musikalischen Abweichungen gegenüber der Fassung von 1779 allerdings nur minimal und beziehen sich - unter Beibehaltung des harmonischen Gangs - vorrangig auf die Ausführung der oberen Streicherstimmen; in einzelnen Takten variiert der Gang der Singstimme leicht. Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 67 ven umschlossen - wie bereits in Günther von Schwarzburg zeichnet sich auch der Tod der Dido durch einen permanenten Wechsel zwischen rezitativischen, arios verdichteten und wirklich geschlossenen musikalischen Partien aus, dergestalt, dass wie im Vorgängerwerk ebenfalls in der Schlussszene auf die Arie nochmals eine offenere Passage in Form eines Accompagnato-Rezitativs folgt: »Dido ersticht sich und stürzt sich in die Flammen.« Den Abschluss bildet dann ein 14 Takte umfassender, reiner Instrumentalabschnitt. Anders als Benda in seinem Ariadne-Melodram mit durchaus vergleichbarer Finalsituation, erhält Holzbauer aber den vergleichsweise dramatischen Gestus, mit dem die Protagonistin in den Tod geht, im Wesentlichen aufrecht: Lediglich ein Abfangen des Agitato-Impulses der hohen Streicher mit ihren Sechzehnteln vor der finalen Kadenz ist zu verzeichnen. Der Eindruck eines wirklichen Verebbens bzw. musikalischen Zurückweichens im Angesicht der Katastrophe stellt sich hier allerdings nicht ein. Holzbauer wählt also nicht wie Benda die Innenperspektive, sondern zeichnet den Schluss gleichsam von außen - theatralisch über den Moment des Todes hinaus. 37 Somit kommt also Ignaz Holzbauer das historische Verdienst zu, zusammen mit seinem Librettisten Anton Klein den von Reichardt geforderten Verzicht auf den »froelichen Ausgang« erstmals im deutschen Singspiel realisiert zu haben: Dass ein ernstes deutsches Singspiel auch konsequent in einer Katastrophe endete, kam einem ästhetischen wie musikalischen Paradigmenwechsel gleich. Dabei hatte es für Klein und Holzbauer - wie das Beispiel des Günther von Schwarzburg lehrt - keineswegs eines antiken Vorwurfs als vermeintliche Garantie für einen tragischen Ausgang bedurft. ‚Vermeintlich‘ insofern, als ausgerechnet jene Alceste von Wieland und Schweitzer, an der Reichardt sein Postulat entwickelt hatte, in der Originalversion des Euripides gerade nicht tragisch schloss: Dort kehrte die Protagonistin nach vollzogenem Opfer zu Admet zurück. 38 Reichardt war mit seiner Forderung also gewissermaßen etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ob er sich dessen bewusst war, muss freilich offen bleiben. 37 Dazu passt auch die »dramatische« Instrumentierung mit vier Hörnern, zwei Oboen und dem vollständigen Streicherapparat. 38 Ein der Figur der Alkestis und ihren literarischen, musikalischen und bildkünstlerischen Fortschreibungen gewidmeter Sammelband enthält auch mehrere Aufsätze zu Wieland/ Schweitzers Alceste. Die Frage der Schlussbildung wird insbesondere von Jan Philipp Reemtsma (»Auf der Suche nach der schönen Leiche. Wielands Singspiel Alceste«) thematisiert, der aufzeigt, wie Wieland die mangelhafte Motivierung des positiven Schlusses bei Euripides (»schlecht verfugt«, S. 66) im Kontext der Gesamtanlage des Librettos zu korrigieren sucht. Gabriele Busch-Salmen (»›Uebrigens ein Werk voll Fehler und Nachlässigkeiten‹. Wieland/ Schweitzers Singspiel Alceste in der opernästhetischen Debatte«) betrachtet das Werk aus der Sicht der zeitgenössischen Rezensenten und geht dementsprechend nicht auf die Herkunft der Schlusskonstellation bei Euri- Literatur Quellen (Musikalien resp. Szenarium): Benda, Jiri [Georg Anton], Arianna a Naxos [Ariadne auf Naxos]. Partitur (= Musica antiqua bohemica. Serie 2; 10), Prag 1984. Cannabich, Christian, Médée et Jason. Szenarium, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Bibliothek Mannheimer Drucke, Sig. Mh 1765. Ders., Medée et Jason. Ballet Tragi=Pantomime. Partitur, Manuskript, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (D-DS, Mus. ms. 219). Ders., »Medée et Jason«; in: Nicole Baker (Hrsg.), Ballet Music from the Mannheim Court Part II, Madison 1997. Ders, Medée et Iason. Ballet Tragique. Klavierauszug, Badische Landesbibliothek Karlsruhe (Sammlung Donaueschingen, Mus. ms. 238). Holzbauer, Ignaz, Günther von Schwarzburg. Singspiel in drei Aufzügen, Bärbel Pelker (Hrsg.) (= Quellen zur Musikgeschichte in Baden-Württemberg. Kommentierte Faksimile-Ausgaben 1), München 2000 . Reichardt, Johann Friedrich, Ariadne auf Naxos. Eine Cantate von Herrn von Gerstenberg, Leipzig 1780. Scheibe, Johann Adolph, Tragische Kantaten für eine oder zwo Singestimmen und das Clavier. Nämlich: des Herrn von Gerstenbergs Ariadne auf Naxos, und Johann Elias Schlegels Prokris und Cephalus, Kopenhagen und Leipzig 1765. Quellen (Texte): Benda, Georg Anton, »Ueber das einfache Recitativ«; in: Carl Friedrich Cramer (Hrsg.), Magazin der Musik. 1. Jg., 2. Hälfte Hamburg 1783, Nachdruck Hildesheim 1971, S. 750-753. Gotter, Friedrich Wilhelm, »Nachricht« (= Vorwort) zu: Romeo und Julie. Ein Schauspiel mit Gesang in drey Aufzügen, Leipzig 1779. Nachdruck in: Thomas Bauman (Hrsg.), German Opera 1770-1800. Librettos V, New York 1986. Planelli, Antonio, Dell’opera in musica, Neapel 1772, Neuausgabe Francesco Degrada (Hrsg.), Fiesole 1981. Reichardt, Johann Friedrich, Über die Deutsche comische Oper nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie, Hamburg 1774 (Nachdruck München 1974). Anon. [Reichardt, Johann Friedrich], »Alceste von Wieland und Schweitzer«. O.O., o.J. [1774]; Wiederabdruck (ebenfalls anon.) in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 33. Bd., 2. Stück, Berlin und Stettin 1778, S. 307-335. Ders., »Etwas über das deutsche Singeschauspiel so nicht überschlagen werden darf«, = Vorwort zu Liebe nur beglückt. Ein deutsches Singeschauspiel, Berlin 1781. 68 Ursula Kramer pides ein. Beide Aufsätze in: Beatrix Borchard/ Claudia Maurer Zenck (Hrsg.), Alkestis, Opfertod und Wiederkehr. Interpretationen, Frankfurt 2007, S. 55-71 (Reemtsma) bzw. 97- 111 (Busch-Salmen). Finalproblem im deutschen Musiktheater des späteren 18. Jahrhunderts 69 Wieland, Christoph Martin, »Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel, Alceste«, in: Der Deutsche Merkur, Frankfurt und Leipzig 1773, 1. Stück S. 34-72, 3. Stück, S. 223-243. Ders., »Versuch über das deutsche Singspiel und einige dahin einschlagende Gegenstände«, in: Der Deutsche Merkur, Frankfurt und Leipzig 1775, 3. Stück, S. 63-87, 4. Stück, S. 156-173. Sekundärliteratur: Bauman, Thomas, North German Opera in the Age of Goethe, Cambridge 1985. Busch-Salmen, Gabriele, »›Uebrigens ein Werk voll Fehler und Nachlässigkeiten‹. Wieland/ Schweitzers Singspiel Alceste in der opernästhetischen Debatte«, in: Beatrix Borchard/ Claudia Maurer Zenck (Hrsg.), Alkestis, Opfertod und Wiederkehr. 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Neben den zahlreichen Aufführungen in Paris und auf französischsprachigen Bühnen war das Werk bereits in verschiedenen Übersetzungen in vielen Opernhäusern Europas gegeben worden. 1 Zudem hatte Gluck gemeinsam mit Johann Baptist von Alxinger 1781, also zwei Jahre nach der Pariser Uraufführung, eine deutsche Fassung für Wien erarbeitet. In dieser Fassung, bezeichnet als Iphigenie in Tauris (erst später auf Tauris), fand das Werk jedoch nur geringere Verbreitung; für die Überlieferung bedeutender waren die Übersetzungen von Johann Daniel Sander (Berlin 1795) und Christian August Vulpius (Weimar 1800). Sie gehen auf die französischsprachige Originalfassung zurück, nicht zuletzt deshalb, weil nur hiervon eine gedruckte Partitur vorlag; der Originaldruck erschien 1779 in Paris (Au Bureau du Journal de Musique). Die im Rahmen der Lieto fine-Tagung favorisierte Betrachtung des Zeitraumes »um 1800« hat mich bei der Auswahl des rezeptionsgeschichtlichen Materials in zweierlei Hinsicht gelenkt: Zum einen sollten die Zeugnisse zu Glucks taurischer Iphigenie aus den Jahren um 1800 stammen und zum anderen war mir daran gelegen, auch von einer belegbaren Rezeption des Werkes ausgehen zu können. Beides rückte die Weimarer Erstaufführung vom 27. Dezember 1800 in den Mittelpunkt, nicht zuletzt, da für diese einige Zeitzeugnisse überliefert sind. Glucks Iphigénie en Tauride auf das Textbuch von Nicolas-François Guillard thematisiert jenen Abschnitt des mythologischen Dramas, der die griechische Iphigenie als erwachsene Frau und Oberpriesterin des Diana- 1 Vgl. hierzu Gerhard Croll, »Vorwort« zu Christoph Willibald Gluck, Iphigénie en Tauride, in: Christoph Willibald Gluck, Sämtliche Werke, Bd. I/ 9, Kassel u.a. 1973, S. XI; sowie Klaus Hortschansky, Art. »Gluck: Iphigénie en Tauride (1779)«, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Carl Dahlhaus/ Sieghart Döhring (Hrsg.), Bd. 2, München/ Zürich 1987, S. 463-464. Tempels auf Tauris zeigt. Dorthin kam sie durch die Hilfe der Göttin Diana, die sie vor dem Opfertod rettete; doch muss sie der Göttin nun dienen und auf Befehl des skythischen Herrschers Thoas alle Fremden opfern, die die Insel betreten. Das Textbuch beginnt mit düsteren, durch einen Traum hervorgerufenen Erscheinungen, die Iphigenie ein grausames Schicksal der Eltern, Klytämnestra und Agamemnon, zeigen und ihr zudem den von ihrer eigenen Hand bewirkten Tod des Bruders Orest vorführen. Der Klage, die sie gegenüber ihren Priesterinnen des Tempels hervorbringt, folgt in den drei ersten Akten die Darstellung der tiefenpsychologischen Konflikte, die durch die Ankunft des Orest und seines Freundes Pylades auf Tauris aufbrechen. Jedoch erst im vierten und letzten Akt der Oper begegnen und erkennen sich die Geschwister Iphigenie und Orest. Dies geschieht kurz vor dem von der Priesterin Iphigenie verlangten Vollzug eines Menschen-Opfers. Zwar scheut sie sich hiervor bereits früher, doch zur Verweigerung der Tat ringt sie sich erst durch, als sie in dem zu Tötenden ihren Bruder erkennt. Thoas, der König der Skythen, lässt sich durch die Aufdeckung des Verwandtschaftsverhältnisses, das Orest zugleich als Herrscher der Griechen ausweist, nicht nur nicht von der Notwendigkeit des Opfer-Rituals abbringen, sondern fordert nun zudem noch den Tod Iphigenies - denn schließlich hat sie ihm ihren Dienst verweigert. In dieser dramatisch angespannten Situation kommt der bereits nach Griechenland entlassene Pylades zurück, ergreift das Schwert und erschlägt Thoas. Da aber die königlichen Wachen und das Heer der Griechen hierauf in ein Gefecht miteinander geraten, ist die Wendung zum guten Ausgang mit der Vernichtung des Herrschers Thoas allein noch nicht erreicht. Es bedarf göttlicher Hilfe: Diana schwebt auf einer Wolke hernieder und beruhigt die Menge. Sie befreit Orest und Iphigenie von ihrem Fluch und ermöglicht so beiden ein freies Leben im heimatlichen Mykene. Glucks kompositorische Umsetzung der geschilderten Szenen nutzt die typische Spannbreite des musikdramatischen Stils seiner Reformwerke. Beginnend mit Szene IV ist der musikalische Fortgang bis zum Schlusschor in Szene VII durchkomponiert. Einzig gebunden an die jeweilige Personenkonstellation und den Fortgang der Handlung wechselt die Satzgestalt von schlicht begleiteten Solo-Gesängen über rasche Dialogfolgen, polyphone wie auch blockhaft korrespondierende Chöre bis hin zu tonmalerischer Situationscharakteristik des Instrumentalparts. Die Aufwertung der Textvorlage zu einem formkonstituierenden Element bedingt die Loslösung bzw. Emanzipation von tradierten Formschemata; der Verzicht auf melodische Gefälligkeiten ermöglicht Gesangslinien, die der Sprachbetonung und inhaltlichen Aussage untergeordnet sind. Hinzu tritt die Kommentierung des Geschehens durch den Instrumentalpart, der durch Instrumentation sowie pittoreske Figuren und harmonische Schärfen zuweilen sehr starke Ausdrucksmomente aufweist. Charakteristisch bei alledem ist die dichte Aufeinanderfolge der Wechsel, die es dem Hörer nicht erlaubt, in den aufscheinenden Stimmungen zu verharren. 72 Daniela Philippi Lieto fine - am Beispiel von Glucks Iphigénie en Tauride 73 Dieser musikdramaturgischen Stringenz entsprechend sind die originale französische und deutsche Fassung der Jahre 1779 und 1781 sowohl in ihrer Textierung als auch in der musikalischen Umsetzung voneinander abweichend gestaltet. Neben einigen Kürzungen bzw. Straffungen des Handlungsfortgangs hat Gluck in der Wiener Fassung vor allem die Singstimmenmelodik, d.h. Tonhöhe und Rhythmik, dem deutschen Sprachduktus angepasst. - Die hier im Blick stehende Rezeption zeigt allerdings eine eigenständige Mischung: Ausgehend vom Originaldruck der Partitur (Paris 1779) war für die Weimarer deutschsprachige Aufführung eine der französischen Fassung angepasste Übersetzung notwendig. Auch das vorliegende Libretto dieser Aufführung dokumentiert den Sachverhalt, wobei im gegebenen Zusammenhang zu vernachlässigen ist, dass der Weimarer Libretto-Druck keine Szenenanweisungen enthält. Zudem griff man bei der Textbearbeitung auf das französische Uraufführungslibretto zurück, was beispielsweise dadurch belegt ist, dass in einer der Weimarer Aufführung zuzuordnenden Partiturabschrift 2 unter anderem ein Rezitativ-Einschub enthalten ist, der die im Uraufführungslibretto zwar vorhandenen, im Notenerstdruck jedoch fehlenden Textzeilen vertont. Es handelt sich um die Textzeilen »Puisse ton sang impur expirer tous tes crimes. Vos Autels sont vengés, Dieux! prenés vos victimes« (Libretto Paris 1779, S. 47), die Pylades ausruft, nachdem er Thoas getötet hat. In den Weimarer Librettodruck haben die beiden Zeilen jedoch keinen Eingang gefunden. Die weiteren, unten gegebenen Textbeispiele zeigen zum einen außerdem, dass die Unterschiede zwischen den beiden deutschsprachigen Versionen allein stilistischer Art sind, und zum anderen, dass das Pariser Uraufführungs-Libretto umfangreicher ist, so etwa in der Ansprache der Diana an Orest (S. 49). Der hier formulierte Rückgriff auf die Herkunft und Vorgeschichte des Orest ist allerdings nur in der handschriftlichen Partitur der französischen Iphigénie en Tauride 3 enthalten, im Originaldruck der Partitur erschien die auch später verwendete kürzere Version (vgl. die Libretti Wien 1779, S. 45 und Weimar 1800, S. 31/ 32). Schließlich ist festzuhalten, dass auch die Weimarer Version an dem Erscheinen der dea ex machina festhielt. 2 Aufbewahrt in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart; die Textfassung dieser Partitur stimmt prinzipiell mit dem Librettodruck Weimar 1800 überein, vgl. hierzu den Krit. Bericht der Ausgabe Iphigenie auf Tauris, in: Christoph Willibald Gluck. Sämtliche Werke, Bd. I/ 11, Gerhard Croll (Hrsg.), Kassel u.a. 1965, S. 272. 3 Aufbewahrt in der Bibliothèque de l’Opéra de Paris. Originallibretti: die Szenen 5 und 6 des Schlussaktes in den Fassungen von Paris, Wien und Weimar Uraufführungs-Libretto Paris 1779 (Exemplar: Paris, Bibliothèque Nationale) 74 Daniela Philippi Lieto fine - am Beispiel von Glucks Iphigénie en Tauride 75 Libretto der deutschsprachigen Fassung Wien 1781 (Exemplar: Wien, Österreichische Nationalbibliothek) Als gegen Ende des Jahres 1800 in Weimar die Aufführung der Gluckschen Iphigenie in Tauris vorbereitet wurde, verfolgte auch Wolfgang von Goethe dieses Ereignis aufmerksam. Er wandte sich mit der Bitte an Friedrich Schiller, mit ihm am 11. Dezember die Probe zu dem Werk zu besuchen, da man darauf achten müsse, dass diese Oper adäquat auf die Bühne gebracht werde: nun ist aber Iphigenie von Gluck in der Arbeit u wenn die Representation nicht mit Leben u Geschick arrangirt wird, so möchte wenig davon zu hoffen seyn. Ich ersuche Sie daher, sich derselben anzunehmen. Vielleicht fahren Sie um 3 Uhr mit in die Probe, um sich einen allgemeinen Begriff zu machen. Geht es gut, wäre es auch gleich eine Oper zum Säcular Fest. 4 Obwohl sich Schiller aufgrund seiner mangelnden Musikkenntnisse hierfür nicht geeignet fühlte, versprach er dem Kollegen, die Probe zu besuchen. Er schrieb Goethe am gleichen Tag: 4 In: »Briefwechsel. Briefe an Schiller 1.11.1798-31.12.1800«, Andreas Wistoff (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 38, Teil II: Anmerkungen, Weimar 2000, S. 676. Libretto der deutschsprachigen Fassung Weimar 1800 (Exemplar: Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek) 76 Daniela Philippi Lieto fine - am Beispiel von Glucks Iphigénie en Tauride 77 Ich habe wie Sie wißen in Angelegenheiten der Music und Oper so wenig Competenz und Einsicht, daß ich Ihnen mit meinem besten Willen und Vermögen bei dieser Gelegenheit wenig taugen werde; besonders, da man es, in Opernsachen mit sehr heiklichten Leuten zu thun hat. In den Nachmittagstunden von 3 biß 5 Uhr will ich mit Vergnügen bei den Proben gegenwärtig seyn, aber mehr als die Gegenwart kann ich nicht leisten. Heute gegen 4 Uhr suche ich Sie in der Probe auf, früher kann ich nicht abkommen. 5 Und auch als sich Goethe vom 12. bis 25. Dezember in Jena aufhielt, besuchte Schiller Iphigenien-Proben. 6 Am 24. Dezember teilte er Goethe seine Eindrücke mit: Hier erwartet Sie die Iphigenia, von der ich alles Gute hoffe; ich war bei der gestrigen Probe, es ist nur noch wenig zu thun. Die Musik ist so himmlisch, daß sie mich selbst in der Probe unter den Poßen und Zerstreuungen der Sänger und Sängerinnen zu Thränen gerührt hat. Ich finde auch den dramatischen Gang des Stücks überaus verständig; übrigens bestätigt sich Ihre neuliche Bemerkung, daß der Anklang der Nahmen und Personen an die alte poetische Zeit unwiderstehlich ist. 7 Die erste Aufführung der Iphigenie, die Goethe auch als »lyrische Tragödie« 8 bezeichnete, fand am 27. Dezember statt; Goethe war bei dieser Aufführung anwesend. Mit den zitierten Äußerungen Schillers ist unter anderem dokumentiert, dass die Gesamtanlage und somit auch die Schlussgestaltung des Werks völlige Akzeptanz fand. Wichtig ist zudem die Wirkung der Musik selbst. In einer direkten Gegenüberstellung von Joseph Haydns Schöpfung, die am 1. Januar 1801 in Weimar erstmalig gegeben wurde, und Glucks Iphigenie in Tauris erschien Schiller das Werk des Jüngeren disparat und unres- 5 In: »Briefwechsel. Schillers Briefe 1.11.1798-31.12.1800«, Lieselotte Blumenthal (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 30, Weimar 1961, S. 219. 6 Im Brief vom 17. Dezember 1800 berichtet Schiller: »Was Meier und ich für die Iphigenia thun können, wollen wir recht gern thun, um Ihren Fleiß nicht zu unterbrechen.« in: Schillers Werke, Bd. 30, S. 220. 7 Brief vom 24. Dezember 1800. Ebd., S. 224. Das Journal des Luxus und der Moden berichtete im Januar über die Aufführung der Iphigenie, »sie gehöre zu den festlichen Theaterfreuden dieses Winters« (ebd., S. 677). Die Rolle der Iphigenie wurde dargestellt von Caroline Jagemann: »Sie verbindet mit der sanftesten Haltung ihrer Stimme, und der feinsten Präcision des Vortrags der hier, wo der Tonsetzer jede Künsteley verachtete, durchaus durch nichts verbrämt oder verschnörkelt seyn will, das edelste und kunstreichste Spiel« (ebd.). 8 Angabe im Brief vom 16. Dezember 1800 an Schiller, in: »Briefwechsel. Briefe an Schiller 1.11.1798-31.12.1800«, Lieselotte Blumenthal (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 38, Teil I: Text, Weimar 1975, S. 392. Bei der Formulierung »lyrische Tragödie« handelt es sich wohl weniger um eine dezidierte Gattungsbezeichnung - Goethe hat auch in anderem Zusammenhang (dem deutschen Singspiel) von der »lyrischen Bühne« gesprochen - als vielmehr um eine Übertragung aus dem Italienischen, wo »lirica« gleichbedeutend mit Oper bzw. musikalischem Theater verwendet wurde. Diesen Hinweis gab mir freundlicherweise Frau Prof. Dr. Ursula Kramer, Herausgeberin des vorliegenden Bandes. pektabel, als »charakterloser Mischmasch«. 9 In seinem Brief vom 5. Januar 1801 an Christian Gottfried Körner 10 konstatierte er zudem: Dagegen hat mir Glucks Iphigenia auf Tauris einen unendlichen Genuß verschafft, noch nie hat eine Musik mich so rein und schön bewegt als diese, es ist eine Welt der Harmonie, die geradezu zur Seele dringt und in süßer hoher Wehmut auflößt. 11 Verstanden als »Ausdruck einer tiefgreifenden ästhetischen Erfahrung« 12 benennt das Briefzitat die Überzeugung Schillers, in Glucks Werk sei seine (sprich Schillers) Idee einer klassischen Musik verwirklicht. 13 Gemeint ist die auf eine Abmilderung der empfindsamen Ausdrucksintensität zielende Idee von einer Form, die die emotionale Wirkung der Musik so weit reichend kompensieren könne, dass sie als ästhetisch und somit als schön gelten dürfe, - vorausgesetzt, sowohl Naturals auch Freiheitsgesetze herrschen in ihr. Solche Musik habe Charakter, und zwar deswegen, weil sie sich nicht auf Rührung und Reiz beschränke. Dabei bedürfe es der Beständigkeit des Charakters bzw. des Ethos, um die innere Freiheit gegenüber der Macht der Sinne aufrecht zu erhalten. In Schillers Sicht ist es die musikalische Charakterdarstellung, die Glucks Iphigenie in Tauris zu einem Werk musikalischer Klassizität macht. Im Unterschied zu den Affekten und der Intrige des spätbarocken und metastasianischen Operntypus sind die Seelenzustände und Handlungen der Protagonisten in Glucks Iphigénie en Tauride auf tieferer Ebene motiviert, und dies, obwohl allein Iphigenie eine entwicklungsfähige Person darstellt - Orest, Thoas und Pylades entsprechen eher dem alten Typenschema der Oper. Doch es ist das Schicksal von Orest, das den dramatischen Gang der Handlung bestimmt, nicht eine Intrige. Die Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts 14 verwendet für diese tiefe, aber auch reflektierbare Gemütsbewegung bevorzugt den Begriff Pathos und vermeidet damit zugleich das Wort Leidenschaft. Zu bedenken ist hierbei allerdings, dass Gluck und sein Textdichter von der Kraft des Mythos ausgingen, dessen Wesen es ist, vom Menschen unbeeinflussbar zu sein; d.h. ein freier Wille und vernunftbestimmtes Handeln ist den Individuen im Drama nicht zugeordnet. Gerade 78 Daniela Philippi 9 Brief vom 5. Januar 1801 an Körner, in: »Schillers Briefe 1.1.1801-31.12.1802«, Stefan Ormanns (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 31, Briefwechsel, Weimar 1985, S. 1. 10 2. Juli 1756 Leipzig - 13. Mai 1831 Berlin; dt. Staatsrat, Vater von Theodor Körner, Freund und Verehrer des jungen Schiller (mit diesem ausgedehnter Briefwechsel). 11 Brief vom 5. Januar 1801 an Körner, in: Schillers Werke, Bd. 31, S. 1. 12 Carl Dahlhaus, »Ethos und Pathos in Glucks ›Iphigenie auf Tauris‹«, in: Klassische und romantische Musikästhetik (zuerst erschienen in Mf 27/ 1974), Laaber 1988, S. 55. 13 Gemäß Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794), vgl. Dahlhaus, »Ethos und Pathos«, S. 56. 14 So etwa bei Johann Gottfried Herder und Christian Gottfried Körner. Lieto fine - am Beispiel von Glucks Iphigénie en Tauride 79 Letzteres jedoch ließe vermuten, dass die Dichter der Weimarer Klassik grundlegende Kritik an der Bearbeitung des Stoffes übten. Offensichtlich aber überzeugte die Werkkonzeption der Opernreform, die die emotionale Betroffenheit von Individuen musikalisch darstellbar machte. Der für die französische Iphigénie immer wieder beschriebene »Humanitätston«, 15 der gleichermaßen durch den weitgehenden Verzicht auf die Vertonung von bloßen Affekten wie Glucks individuelle Stilistik entsteht, erscheint in der Person der Protagonistin als Chiffre für das Ethos, dem - trotz des nachfolgenden Erscheinens der Göttin - letztendlich die Erlösung des Orest zu danken ist. Im Unterschied hierzu verkörpern Thoas und auch Pylades allerdings noch stark die Typik allegorischer Figuren, und dieser vergleichbar ist auch die Gestalt der Diana ein Rest der Konvention, der in der Vertonung Glucks zugleich dem Prinzip des Kontrasts - auf rein musikalischer wie auf dramaturgischer Ebene - dient. Insgesamt erscheinen so zugleich Humanitätsideal und Mythologie vereint. Konkretere Hinweise darauf, dass es auch der kompositorische Stil Glucks war, der das positive Urteil der Literaten bestimmte, sind aus zwei weiteren Zeugnissen zu entnehmen. Sowohl Johann Gottfried Herder als auch Wilhelm Heinse kritisieren generell eine auf klangliche Effekte und inhaltlich unmotivierte Äußerlichkeiten zielende Kompositionsweise, die besonders in jüngeren Opern anzutreffen sei. Demgegenüber erscheint ihnen die auf die Aussage konzentrierte und an das Wort gebundene Ausdrucksgestaltung Glucks als überzeugende Musik, d.h. allerdings zugleich, dass nur die seit den 1760er-Jahren entstandenen Werke Glucks für diese Beurteilung maßgeblich sind. Herder schreibt: Welch ein anderer Geist war Gluck! selbst wenn er für die Oper komponirte, also das Sichtbare, das Spiel, und zwar selbst in Frankreich, wo auf Spiel zuletzt doch alles ankam, begleiten musste! - Hört seine ›Iphigenia in Tauris‹, auch eine heilige Musik! - Vom ersten Gewitter der Ouvertüre an bis zum letzten Hall des Chores: ›nach Griechenland! ‹ - ächzet und lahmt keine Note schillernd. 16 15 Vgl. Dahlhaus, »Ethos und Pathos«, S. 62-65. 16 1801 an Jean Paul; zit. nach Anton Schmid, Christoph Willibald Ritter von Gluck. Leben und tonkünstlerisches Wirken, Leipzig 1854, S. 456, dort aus: Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke zur schönen Literatur und Kunst, Wien 1813, Bd. XII. Ebd., S. 455-456, mit gleichem Fundort: »Der Fortgang des Jahrhunderts wird uns auf einen Mann führen, der - diesen Trödlerkram werthloser Töne verachtend - die Nothwendigkeit einer innigen Verknüpfung rein menschlicher Empfindungen und der Fabel selbst mit seinen Tönen einsah. Von jener Herrscherhöhe, auf welcher sich der gemeine Musikus brüstet, dass die Poesie seiner Kunst diene, stieg er hinab und liess, so weit es der Geschmack der Nation, für die er in Tönen dichtete, zuliess, den Worten, der Empfindung, der Handlung selbst seine Töne nur dienen. Er hat Nacheiferer, und vielleicht eifert ihm bald Jemand vor: dass er nämlich die ganze Bude des zerschnittenen und zerfetzten Opern-Klingklanges umwirft, und ein Odeum aufrichtet, ein zu- Heinse, der Glucks Iphigénie en Tauride möglicherweise schon 1790 gesehen hatte, beginnt den dritten Teil seines in den 1790er-Jahren entstandenen Hildegard-Romans mit einer ausführlichen Betrachtung des Werkes. 17 Darin legt er die erläuternde Einführung seinem Kapellmeister Lockmann in den Mund, einer Person, die in dem Roman für musiktheoretische Kompetenz steht und deren Urteil in musikalischen Dingen somit eine hohe Wertigkeit hat. Bevor einzelne Nummern Erwähnung finden, kommentiert Lockmann die Gesamtanlage der Oper: ›Der Plan des Gedichts,‹ fing Lockmann an, ›ist mit Verstand und Kenntniß dessen, was wirkt, angelegt. Guillard hat das Ganze für seine Zeit bearbeitet, und Scenen erdacht, die, mit der Gewalt der Musik, wie Pfeile das Herz treffen. Er hätte zwar mehr Schönheiten hineinbringen können; aber er hat auch manches Unnütze weggelassen. Was beym bloßen Lesen zu künstlich ist und die Täuschung stört, verschwindet bey der lebendigen Fülle und dem Zauber der Töne im wirklichen Schauspiel. Man kann diese Oper kühn unter die wenigen höchst vollkommenen Werke ihrer Art rechnen.‹ 18 Erwähnenswert ist, dass die Iphigenia in Tauris den Anwesenden - d.h. Lockmann, seiner begabten Gesangsschülerin Hildegard sowie ihrer Mutter - »nebst der Alceste« als »Glucks größtes Meisterstück« 19 gilt. Die Schlussgestaltung wird eigens angesprochen, jedoch in keiner Weise kritisch beleuchtet: Der Ausgang - wo Thoas kommt und erfährt, daß der Fremde Orestes ist, ihn grausam barbarisch dennoch geopfert haben will, und von Pylades, der mit einer Schaar Griechen herbeyeilt, umgebracht wird, worauf denn Diana erscheint - hat gute passende Musik. Der letzte Chor les Dieux long tems [sic] en courroux ist vortreflich. 20 Direkt anschließend ist die musikalische Umsetzung des Erscheinens der Göttin Diana beschrieben: Gluck umwindet sein Lieblingskind gleichsam mit einem Zaubergürtel, indem er das Gewitter, wie in der Ferne - ein Muster vom Gebrauch des Orchesters! - bey dem Gefecht der Griechen und Scythen im vierten Akt; und die Arie des Orestes im zweyten Akt, während welcher dieser zur Ruhe kommt und einschlummert, - als Diana erschienen ist, wieder anbringt. 21 80 Daniela Philippi sammenhangend lyrisches Gebäude, in welchem Poesie, Musik, Action, Decoration Eines sind.« 17 Vgl. Wilhelm Heinse, Hildegard von Hohenthal, Werner Keil (Hrsg.), Hildesheim 2002, S. 256-261. 18 Ebd., S. 256-257. 19 Ebd., S. 256. 20 Ebd., S. 260. 21 Ebd., S. 260. Vgl. die erwähnten Stellen im IV. Akt, Szene V, T. 12ff. und im II. Akt, Szene III, T. 14ff. Lieto fine - am Beispiel von Glucks Iphigénie en Tauride 81 82 Daniela Philippi Iphigénie en Tauride 22 , IV. Akt, Schluss der Szene V, T. 28-30 und Beginn der Szene VI, T. 1-7 22 Notenausgabe wie Anmerkung 1, S. 293-294. Lieto fine - am Beispiel von Glucks Iphigénie en Tauride 83 Wie auch schon in den Kommentaren Schillers zeigt sich hier wieder eine sehr positive Bewertung der dramatischen Handlungsfolge. Inwieweit es der Wirkung der Musik zuzurechnen ist, dass die Frage nach der Notwendigkeit des Erscheinens der Göttin Diana gar nicht erst gestellt wird, mag folgende Bemerkung Lockmanns verdeutlichen: Um einem recht fühlbar zu machen, was Musik ist und bewirken kann: lasse man dieses Drama, ohne Musik von treflichen Schauspielern aufführen. Es wird eine unerträgliche Nüchternheit entstehen, und der größte Theil vom Rausche der Leidenschaft verschwinden. 23 Durch Glucks Vertonung erscheint - im Urteil Heinses - die Textvorlage demnach nicht nur zum musikalischen Drama erhoben, sondern überhaupt erst als ein wirkungsvolles Bühnenwerk. Die musikdramatische Schlüssigkeit der Konzeption wiederum überzeugt die Literaten-Rezipienten völlig, ein Faktum, das ihre Kritiklosigkeit im Hinblick auf die Handlungsfolge der Textvorlage erklären mag. Die Fremdheit der Kunstgattung Musik, die sich in dem Respekt vor ihren Gesetzmäßigkeiten und »unerklärbaren« Wirkungen dokumentiert, wurde offensichtlich als eine Distanz empfunden bzw. angesehen; dies schloss zugleich eine Beurteilung aus, die nur mit den Maßstäben der literarischen Welt hätte vorgehen können. - In emphatischer Weise kommt dies in einer kleinen Widmung zum Ausdruck, die Goethe im Sommer 1826 an die Sängerin und Gluck-Interpretin Anna Milder-Hauptmann 24 richtete; er schrieb den Vierzeiler in ein Exemplar seiner Iphigenie: Dies unschuldvolle fromme Spiel, das edlen Beifall sich errungen, erreichte doch ein höheres Ziel: von Gluck betont, von dir gesungen. 25 23 Ebd., S. 260. 24 Pauline Anna Milder-Hauptmann (13. Dezember 1785 Konstantinopel - 29. Mai 1838 Berlin) ging 1812 nach Berlin und sang dort die Titelpartien der Reformwerke Iphigenie auf Tauris, Alceste und Armide. 1829 verließ sie Berlin, um in Russland, Schweden und Österreich Engagements annehmen zu können. Im Jahr 1836 beendete sie ihre Bühnenlaufbahn. 25 Zit. nach Walther Vetter, Christoph Willibald Gluck. Ein Essay, Leipzig 1964, S. 25. Literatur Croll, Gerhard, »Vorwort« zu Iphigénie en Tauride, in: Christoph Willibald Gluck. Sämtliche Werke, Bd. I/ 9, Kassel u.a. 1973. Ders. (Hrsg.), »Kritischer Bericht« zu Iphigenie auf Tauris, in: Christoph Willibald Gluck. Sämtliche Werke, Bd. I/ 11, Kassel u.a. 1965. Dahlhaus, Carl, »Ethos und Pathos in Glucks ›Iphigenie auf Tauris‹«, in: ders., Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 55-65. Heinse, Wilhelm, Hildegard von Hohenthal, Werner Keil (Hrsg.), Hildesheim 2002. Hortschansky, Klaus, Art. »Gluck: Iphigénie en Tauride (1779)«, in: Carl Dahlhaus/ Sieghart Döhring (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 2, München/ Zürich 1987, S. 463-464. Schiller, Friedrich, »Briefwechsel. Schillers Briefe 1.11.1798-31.12.1800«, Lieselotte Blumenthal (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 30, Weimar 1961. Ders., »Briefwechsel. Schillers Briefe 1.1.1801-31.12.1802«, Stefan Ormanns (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 31, Weimar 1985. Ders., »Briefwechsel. Briefe an Schiller 1.11.1798-31.12.1800«, Lieselotte Blumenthal (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 38, Teil I: Text, Weimar 1975. Ders., »Briefwechsel. Briefe an Schiller 1.11.1798-31.12.1800«, Andreas Wistoff (Hrsg.), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 38, Teil II: Anmerkungen, Weimar 2000. Schmid, Anton, Christoph Willibald Ritter von Gluck. Leben und tonkünstlerisches Wirken, Leipzig 1854. Vetter, Walther, Christoph Willibald Gluck. Ein Essay, Leipzig 1964. 84 Daniela Philippi Herbert Schneider Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville Reinhard Strohm zufolge war das Dramma per musica schon seit Monteverdi »nicht nur ein Drama der Affekte, sondern auch der humanistisch-gesellschaftlichen Normen, umfasste also im Sinne der klassischen Poetik Pathos und Ethos.« 1 Das »Lieto fine« ist das Resultat einer Entwicklung des Geschehens, das sich nach Anfechtungen und Gefahren zum Guten wendet. 2 Angeregt durch die Dramentheorie Diderots führt der Weg im Drame bourgeois, in der Comédie larmoyante, im Drame lyrique des 18. Jahrhunderts, in der sogenannten Rettungsoper und in der Opera semi-seria zum Lieto fine über Gefahren und lebensbedrohende Situationen, an denen der Held wie in der Tragödie zu scheitern droht, aber dann im letzten Augenblick sich alles zum Guten wendet. Christian Kaden sieht die »Verlieblichung und Besänftigung als dramaturgisches Herzstück westlicher Musik« 3 schlechthin an. Allerdings trifft seine verallgemeinernde Feststellung - »für die Barockoper wird obligatorisch der lieto fine, für die klassische Sonate das Aufsteigen durch Nacht zum Licht« - nicht so generell zu, jedenfalls nicht für die Tragédie lyrique. Interessant ist das Inbeziehungsetzen von Drama und Sonate durch Kaden, das Perspektiven für den Vergleich Drama und Sonate bzw. »Lösung des dramatischen Knotens« im Drama und das Finale des Sonatenzyklus eröffnet. Angesichts der Stofffülle kann auf diese Frage hier nicht eingegangen werden. Untrennbar von der Frage des »dénouement« ist das Problem der ethisch-moralischen Bestimmung des Dramas. In der Opéra-comique wurde bereits in den Théâtres de la Foire und im Théâtre Italien seit dem frühen 18. Jahrhundert die Lösung des Knotens in Gestalt des Branle- oder Final-Vaudeville mit der alten Tradition der Rückkehr aller Dramatis personae auf die Bühne am Ende des Stücks und der captatio benevolentiae verbunden. Die Problematik von »dénouement« und moralischer Bestimmung der Komödie bzw. des Dramas hat J.F. Cailhava de l’Estandoux in seinem Traktat De l’art de la comédie von 1786 erörtert. Der Begriff »dénouement« ist für 1 Reinhard Strohm/ Norbert Dobowy, Art. »Dramma per musica«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), MGG2, Sachteil Bd. 2, Kassel u.a. 1995, Sp. 1487. 2 Ebd. 3 Christian Kaden, Art. »Musiksoziologie«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.) MGG2, Sachteil Bd. 6, Kassel u.a. 1997, Sp. 1656. ihn der moderne Begriff für »catastrophe« der Antike, den er wie folgt definiert: »La catastrophe, dans la comédie, est une révolution aussi heureuse que prompte dans les affaires des personnages«. 4 Wie die Peripetie muss auch der »dénouement«, d.h. die Lösung des Knotens vorbereitet werden: »La catastrophe doit être préparée par divers nœuds qui, paroissent employés pour embarrasser l’intrigue, soit autant d’artifices pour amener le dénouement. Elle doit sur-tout être tirée du fond du sujet«. 5 Cailhava nennt drei Arten der Realisierung von »dénouements« bei Autoren der Antike, die erste mit einem »récit ennuyeux«, die zweite mit einer unglaubwürdigen und ungenügend vorbereiteten Erkennungsszene, die keine angenehme Überraschung darstellte, und schließlich die »aus den Wolken fallende Lösung« durch einen Deus ex machina. Trotz einzelner bemängelter Lösungen des dramatischen Knotens wird die Vielfalt des »dénouement« in der Komödie Molières gelobt. Folgende Forderungen stellt Cailhava an den »dénouement«: - gleich in welcher Gattung ist ein guter »dénouement« daran zu erkennen, dass er eine Überraschung darstellt; - das Publikum muss von jedem Darsteller erfahren, was aus ihm wird, d.h. von keinem Darsteller darf beim »dénouement« unklar bleiben, wie sein Schicksal sich entwickelt; - die »catastrophe principale« bzw. der »dénouement« (»définitif«) muss sich am Ende des Stückes vollziehen; es sollte ihm keine weitere, auf keinen Fall mehrere Szenen folgen; 6 - in den »pièces d’intrigue« muss der »intrigant«, auch als »l’âme de la machine« bezeichnet, selbst den »dénouement« herbeiführen, wenn das auch oftmals nicht geschieht; 7 - der Held des Stückes, der bei der »exposition des caractères« auf brillante Weise auftreten muss, muss auf gleiche Weise abtreten, damit sein Charakter als tiefer Eindruck dem Zuschauer eingeprägt bleibt; - wenn der Held am Ende des Stückes geläutert ist, muss er sich an seinen ursprünglichen Charakter erinnern und sich zu den in ihm vorgegangenen Veränderungen bekennen; - am Ende des Stückes muss das Laster bestraft und die Tugend belohnt sein; aus diesem Grund ist am Ausgang zu erkennen, ob es moralisch oder unmoralisch ist: »Il ne suffit pas d’éblouir le spectateur durant la représentation d’un drame, l’essentiel est de captiver son suffrage, et surtout son estime, même quand le prestige a disparu«. 8 86 Herbert Schneider 4 Vgl. Jean-François de Cailhava, De l’art de la comédie, Bd. 1, nouvelle édition, Paris 1786, S. 359. 5 Ebd. 6 »Un dénouement est très-défectueux quand il est suivi de quatre scènes«, ebd., S. 372. 7 Vgl. ebd. S. 370. 8 Ebd. S. 373. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 87 Zu den Kriterien der Bewertung des »dénouement« gehört auch die Belehrung bzw. die moralische Zielsetzung der Stücke. Der alte Grundsatz »ridendo castigat mores« wird auch von Cailhava als »véritable devise de la comédie« vertreten: »Faire rire et corriger les hommes, est le double but que doit se proposer un Auteur comique«. 9 Cailhava unterscheidet vier Arten von Beziehungen zwischen Komödie und Moral: - »Les comédies qui réunissent le comique à une saine morale sont excellentes«; - »celles qui ne sont que comiques peuvent être bonnes«; - »celles dont la morale fait l’unique mérite, usurpent le titre de comédie«; - »celles qui n’instruisent pas le spectateur et qui ne le font pas rire, sont des monstres dont on ne doit point parler«. 10 Wie ist der moralische Charakter einer Komödie zu bewerkstelligen? Die einfachste, aber mit Schwierigkeiten verbundene Art ist die, moralités in Handlungs- oder Diskursdetails einzubringen, wenn sich bei dem Sujet keine bessere Lösung ergibt. Dem Autor bieten sich verschiedene Möglichkeiten dafür an: Tantôt prenant un ton sensé, un air imposant, elle [la Muse de la comédie] parle par la bouche d’un homme raisonnable qui, en réprimant un personnage, fait la critique de tous ceux qui lui ressemblent. 11 Manchmal eignet sich die Muse der Komödie die Stimme, die Gesten und den Ton eines jungen leichtsinnigen Menschen an, legt ihm Unverschämtheiten in den Mund, die er gegenüber den Tugenden erhebt, und kritisiert dadurch alle Verrückten seines Typs. Die Kritik der Modeerscheinungen wird elegant in Details versteckt und kann dadurch zum Lehrstück sowohl für den werden, der sich den Moden zu sehr anschließt, als auch für den, der sich ihnen verschließt, obwohl sie fest etabliert sind. Cavailhac warnt davor, sich bei der Kritik zu sehr auf Tagesmoden einzulassen und zu sehr den Premierenerfolg im Auge zu haben, da dann die Komödie schnell veraltet sei. Nur »par le fond du sujet« 12 könne ein Stück eine moralische Qualität haben und müsse alle Menschen erreichen. »Il faut qu’elle [die Moral] frappe à tel point que le spectateur n’ait pas besoin de commentaire pour la sentir.« 13 Die beste Weise, einem Stück einen moralischen Sinn zu geben, ist die Morallehre in Aktion zu setzen, d.h. zwei Darsteller in solchen Situationen zu präsentieren, die den Zuschauer erkennen lassen, wie man sich nicht verhalten darf. Thalie soll alle lächerlichen Verhaltensweisen, alle Verkehrt- 9 Ebd. S. 374. 10 Ebd. 11 Ebd. S. 375. 12 Ebd. S. 176. 13 Ebd. heiten, alle Laster in ihrer Hässlichkeit darstellen. Die Art moderner Autoren, Moralkritik zu üben, besteht darin, die Menschen so darzustellen, wie sie sein sollten und nicht, wie sie sind, und ihre Vorstellungen dann ausführlich in Vorworten der Theaterstücke zu begründen. Dies hält Cailhava für ein Zeichen ihrer Impotenz als Dramatiker, denn es genüge nicht, einen Wassertrinker auf die Bühne zu bringen, um vor der Trinksucht abzuschrecken. Komödien müssen ihre moralische Funktion dadurch unter Beweis stellen, dass die Menschen für ihr Verhalten bestraft oder belohnt werden. Der geniale Dramatiker muss in der Lage sein, dem Stoff eine vergnügliche und eine philosophische Seite abzugewinnen. Die Anfänge des Final-Vaudeville In den Definitionen des Vaudeville wird kaum einmal das Final-Vaudeville erwähnt. In Diderots und d’Alembert Encyclopédie wird ebenso wenig wie in Jean-Jacques Rousseaus Dictionnaire de musique (1765) auf das Vaudeville als Finale der Stücke des Théâtre de la Foire, des Théâtre Italien oder auch der zeitgenössischen Opéra-comique eingegangen, sondern es wird nur allgemein als populärer Strophengesang definiert: Le vaudeville est une sorte de chanson, faite sur des airs connus, auxquels on passe les négligences, pourvû que les vers en soient chantans, et qu’il y ait du naturel & de la saillie. 14 Die Merkmale des Final-Vaudeville, die Elisabeth Bartlet nennt, treffen nur auf einen Teil des Repertoires zu: The first verse sums up the moral of the work, subsequent ones frequently refer to key moments in the plot and point to the character’s sentiments or reform because of the action, and the final one is traditionally a compliment to the public, asking their indulgence. 15 Im Théâtre de la Foire wird zuerst der Final-Branle oder -vaudeville als der wichtigste Abschluss der Stücke eingeführt, 16 während in Le Théatre de Gherardi nur vereinzelt Stücke mit mehreren Couplets über das gleiche Timbre gesungen werden. 17 Eine andere Form der Zusammenführung aller Perso- 88 Herbert Schneider 14 Jaucourt, Louis, chevalier de, Art. »Vaudeville«, in: Denis Diderot/ Jean-Baptiste d‘Alembert (Hrsg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751-1772), Neufchatel, Samuel Faulche o.J., Bd. 16, S. 861. 15 M. Elisabeth C. Bartlet, Art. »Vaudeville final«, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Opera (NGO), Bd. 4, London 1992, S. 905. 16 In Arlequin défenseur d’Homère (1715): »BRANLE Air 181. (De Monsieur Gillier.)«, fünf Couplets (8a a 8b+ Refrain: 4c 6c 6b+; deren Refrain vom Chor wiederholt wird; der Wortlaut der beiden letzten Verse des Refrains wird verändert. 17 Beispiele dafür sind Les Adieux des officiers, 1693, mit vier Couplets, die jedoch nicht Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 89 nen am Ende des Dramas war im Musiktheater aller Nationen der Schlusschor, der in vielen Fällen die Funktion des Chorrefrains im Final-Vaudeville einnehmen konnte und sich lange Zeit in mehreren Gattungen großer Beliebtheit erfreute. Im Aktionsfinale wie etwa in Monsignys Le Déserteur können Formabschnitte in Gestalt des Final-Vaudeville vorkommen. Das Final-Vaudeville und der Schlusschor blieben im Musiktheater weit über 1800 hinaus beliebt, besonders in Einaktern, im dramatischen Vaudeville und anderen populären Gattungen. Da ihm die Eigenschaft der Illusionsdurchbrechung eigen war, hatte es im Illusionstheater des 19. Jahrhunderts keinen Platz mehr. In den zehn Bänden des Théâtre de la Foire ou l’opéra-comique von Alain René Lesage und d’Orneval, die 1737 vollständig im Druck vorlagen, gibt es drei Arten von Abschlüssen der Opéras-comiques (siehe Anhang 1): mit Branle- oder Final-Vaudeville (10 bzw. 42 Stücke zwischen 1714 und 1734), 18 mit einem Tanz (20 zwischen 1714 und 1732), mit Dialog oder einem Vaudeville (16 zwischen 1714 und 1732). Die große Zahl von 52 der 88 Stücke dieser repräsentativen Ausgabe mit mehrstrophigem Schlussgesang und ihre zunehmende Dominanz belegt die Bedeutung des Final-Vaudeville. In der Frühzeit des darin wiedergegebenen Repertoires begegnen nebeneinander zwei Begriffe für den strophischen Schlussgesang, Branle und Vaudeville. Die Bezeichnung Branle wird hier nur bis 1722 verwendet. Ein grundlegender Unterschied der musikalischen Gestalt zwischen Branle und Vaudeville ist ebenso wenig festzustellen wie ein solcher inhaltlicher Art oder im Abschluss mit der captatio benevolentiae (siehe Anhang 2). Der Unterschied der im Zweier-Metrum notierten Branles (nur das Timbre »Vivons pour les fillettes« steht im 6/ 8-Takt) und der größeren Vielfalt an verschiedenen Metren bei den Vaudevilles (die Hälfte 2, je sechs 6/ 8 und 3, aber auch 3/ 8, 2/ 4, 6/ 4 und alla breve) hängt mit der größeren Anzahl der Vaudevilles zusammen. In beiden dominiert zwar die quadratische Phrasenbildung, aber unregelmäßige Formteile oder ganz aperiodische Gesänge sind keine Seltenheit. Unter den Branles befindet sich ein Timbre, unter den Vaudevilles drei. Im Gegensatz zur Praxis des Nouveau Théâtre Italien wird nur in insgesamt 14 Stücken angegeben, welches Couplet von welcher Permit Branle oder Vaudeville betitelt sind, oder Les Aventures des Champs Elysées, 1693, mit sechs Couplets Orphées, die auf den Timbre »Les Trembleurs« gesungen und von Dialogen unterbrochen werden. Die Stücke sind in Evariste Gheradi, Le Théatre italien de Gherardi, Amsterdam 1701, Bd. IV, enthalten. 18 Zur Unterscheidung vom Vaudeville wird hier der Abschluss eines Bühnenwerks mit strophischem Schlussgesang durchweg als Final-Vaudeville bezeichnet. Eine Unterscheidung beider Typen findet nur selten in den Quellen statt. Beispiele dafür liegen in Louis-Abel Beffroy de Reigny (genannt Cousin-Jacques), Le Club des bonnes-gens ou Le curé françois, Paris 1791 (S. 60: »Vaudeville de la fin«), und in: Antoine-Pierre-Augustin de Piis, Santeuil et Dominique (1798), in: ders., Œuvres choisies, Bd. 2, Paris 1810 (S. 394: »Vaudeville final«) vor. Un GÉNIE Vous, qui perdez vos fleurettes Près d’un objet gracieux, Venez, Amans à lunettes, Venez habiter ces lieux; Vous y verrez des fillettes Soupirer pour vos beaux yeux. CHŒUR Vous y verrez … Une GINE Beau Narcisse à blonde tresse, De tes appas juge mieux; Des faveurs de ta Maîtresse Sois un peu moins glorieux: Tu les dois à sa foiblesse Encor plus qu’à tes beaux yeux. CHŒUR Tu les dois … Un GÉNIE Une fameuse Donzelle Un GÉNIE Certaine Mignonne en France, Malgré son air précieux, Reçoit avec complaisance Le Jeune comme le vieux; Celui-ci pour sa finance, Et l’autre pour ses beaux yeux. CHŒUR Celui-ci... ARLEQUIN, à ses camarades. Chers Amis, pour la Marmite Devenons laborieux; Que chacun de nous s’excite A joüer de mieux en mieux; Car si Paris nous visite, Ce n’est pas pour nos beaux yeux. CHŒUR Car si Paris … Le MESME, au Parterre. Lorsque, pour vous satisfaire, 19 L’Abbé komponierte auch die Finalvaudevilles von Alexis Pirons Le Mariage de Momus und L’antre de Trophonus. 90 Herbert Schneider son gesungen wird. In La Ceinture de Vénus (1715) gibt es den hier noch seltenen Fall, dass das erste Couplet auf zwei Personen aufgeteilt ist. Nur drei Final-Vaudevilles bzw. Final-Branles verfügen über keinen Refrain bzw. kein Refrainwort, bei 21 wiederholt der »Chor« (aller Solisten) den Refrain, in der Mehrzahl aber (27) fehlt der Wechsel zwischen Solo und Chor. Die große Zahl der Vertonungen - 45 gegenüber den vier Timbres und mehreren fehlenden Angaben zur Melodie - belegt die herausgehobene Stellung des Final-Vaudeville, denn im Verlauf des Stückes werden fast ausschließlich Timbres eingesetzt. Die meisten (27) stammen von Gillier, fünf von Aubert, vier von Corrette, je drei von Mouret und L’Abbé 19 und jeweils eines von La Coste, Travenol und Desrocher. In den Branles und Vaudevilles werden Verhaltensweisen beschrieben, Beziehungen zwischen Personen der Handlung oder aber auch anderer Menschentypen, meist beider Geschlechter geschildert. Moralische Schlussfolgerungen aus den Handlungsweisen der Personen spielen noch keine wichtige Rolle. Ein typisches Beispiel aus Le jeune vieillard kann dies verdeutlichen: In den Couplets geht es um die Beziehung zwischen Männern und Frauen verschiedenen Charakters in verschiedenen Situationen - die Ermahnung Arlequins an die anderen Schauspieler, besser auf der Bühne zu agieren, ist hier eine Besonderheit: Pique un goût capricieux; Le Calotin aime en elle Certain air licentieux; Et s’il court après la Belle, Ce n’est pas pour ses beaux yeux. CHŒUR Et s’il court … Nous joüons de notre mieux; J’en fais un aveu sincére, Quoiqu’un peu mal gracieux) Si nous cherchons à vous plaire, Ce n’est pas pour vos beaux yeux. CHŒUR Si nous cherchons... La ceinture de Vénus Je vois ici bien du poisson. D’échaper à votre censure, De Vénus nous croirions avoir Véritablement la Ceinture. Le temple du destin Rien n’est tel que l’affluence, Pour nous bien encourager. Quand nous touchons votre finance, C’est pour vous l’heure du Berger. L’Isle des Amazones L’Opéra Comique, O petits et Grands! Va dans peu de tems Fermer Boutique, Pour avoir des honnêtes-gens Eu la pratique. La forêt de Dodône Messieurs, serrez vos flageolets Qui font de si beaux ricochets, Quand une Piéce n’est pas bonne: Au jugement qu’ont vos sifflets, On diroit qu’ils ont été faits Du bois de chêne de Dodône. Arlequin défenseur d’Homer Je vois ici bien du poisson. De plus d’un je tairai le nom: Il ne faut offenser personne. Allons Messieurs, mordez à l’hameçon, La pêche sera bonne. Les animaux raisonnables Ne jugez pas à la rigueur, Messieurs, et la Piéce et l’Acteur: De grace, montrez-vous traitables; Soyez Animaux raisonnables. La statue merveilleuse Nous croyons nos Piéces nouvelles Toujours parfaites, toujours belles; Mais souvent vous nous faites voir Que nous jugeons pas bien d’elles: Votre goût nous sert de miroir. Le boîte de Pandore Souvent l’un gagne, où l’autre perd: Si d’un benè l’on nous honore, A profit nous aurons ouvert La Boîte de Pandore. 20 Vgl. Gert Ueding/ Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart/ Weimar 1994, S. 260. In der Mehrzahl der Fälle (32) beinhaltet das letzte Couplet die captatio benevolentiae, das Erlangen des Wohlwollens, 20 in der meistens das »parterre«, also das bürgerliche Publikum, und »Messieurs« angesprochen und um Beifall, Unterstützung und um Nachsicht für Schwächen gebeten werden. Die Autoren bemühen sich um höchste Originalität dieses letzten Couplets, wie folgende Beispiele belegen. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 91 La tête noire Messieurs donnez-nous la victoire; Que votre esprit soit indulgent; Faites-nous pendant cette Foire Loger à la Tête-d’argent. L’ombre du cocher poéte Qu’une affluence éternelle Soit chez les Acteurs de bois; Et que de Polichinelle L’on dise tout d’une voix: C’est le tic, tic, tic, C’est le tic, du Public. L’impromptu du pont-neuf Quand notre amour s’explique Sur le commun bonheur, Messieurs, point de critique; Respectez notre ardeur, Nous rendons un hommage, Que l’objet annoblit: Du cœur il est l’ouvrage, Plutôt que de l’esprit. Le régiment de la Calotte Pour nous quelle joie! Quel contentement! Si l’on nous envoye Par jour seulement Un Détachement benin De ce Regiment badin! Tin, tin, tin, tin, terelin, tin, tin. La force de l’Amour Par bonheur la Piéce nouvelle Vient d’arriver jusqu’à la fin, Trelin, tin, tin, trelin, tin, tin, Le Parterre est-il content d’elle? Apprenez-nous notre destin, Tin, tin, tin, tin; Il est, Messieurs, dans votre main. La mère jalouse Messieurs, quand j’entends vos sifflets, Je maudis ce charivari, Il m’intimide: Daignez épargner notre Auteur, Il craint ce vilain carillon; Faites lui grace. 92 Herbert Schneider Das Werben um die Gunst des Publikums, das hier immer nur als »Messieurs« angesprochen wird, kommt in verschiedenen Formulierungen zum Ausdruck: keine Zensur soll es ausüben, es soll in Gestalt des Fischs an der Angel anbeißen, nicht zu streng urteilen, nachsichtig über Schwächen hinwegsehen, dem Stück Wohlwollen entgegenbringen, die Schauspieler und Autoren zu höheren Leistungen ermutigen, ein mildes Urteil abgeben, Beifall zeugen. Das Urteil und den Geschmack des Publikums will man aber auch als Spiegel betrachten, in dem man seine Qualitäten und Schwächen erkennt. Missfallenskundgebungen werden durch Pfeifen vorgetragen, man bittet, auf Spott zu verzichten, den Schiffbruch möchte man vermeiden, das Wetter ist schön, wenn das Stück gefallen findet, das Schicksal des Autors hängt vom Publikum ab, der Zulauf wird als Zustimmung verstanden, das Missfallen nehmen wir auf unsere Kappe, das positive Urteil ehrt das Publikum. Ironie ist im Spiel, wenn der große Zulauf mit dem »tic« des Publikums in Verbindung gebracht wird. Wenn Arlequin am Ende von Le jeune vieillard unverblümt meint, man bemühe sich um die Zustimmung der Zuschauer nicht um deren schönen Augen willen, dann zielt er auf die ökonomischen Bedürfnisse oder Bedingungen des Theaters. In sechs der hier zusammengestellten Schluss-Couplets wird an den Titel, sonst an Motive oder Personen des vorausgehenden Stückes angeknüpft, so wenn es im Régiment de la Calotte heißt, man freue sich, wenn täglich ein dem Theater wohlgesinntes Kommando des Regiments ins Theater komme. Das hier vorhandene Aufgreifen des Titels der Opéra-comique im Refrain wird bald zu einem langlebigen Standard-Kunstgriff. Bemerkenswert sind die durchgehenden Blank-Verse in La mère jalouse. Der Reim von »tic« und »public« in L’ombre du cocher poète wird von mehreren Autoren imitiert (oftmals als »hic« und »public«). Es gibt auch Fälle wie das Final-Vaudeville von Le retour de l’opéra-comique, in dem das Publikum nicht nur in mehreren Couplets, sondern auch im Refrain »Mais ma foi c’est le hic,/ Que de plaire au public« wiederum mit den erwähnten Reimwörtern ansprochen wird. Louis Fuzelier, der lange Zeit Redakteur des Mercure de France und Erfolgsautor verschiedener Pariser Bühnen war, schuf in seinem an Edme Bouraults Ésope à la cour (1701) anknüpfenden Momus fabuliste ou Les nôces de Vulcain (1719) ein ingeniöses Beispiel mit seinem »Vaudeville en Fables«, 21 in dem die Serie der Fabeln des Stückes zum Abschluss geführt ist. Die Dramatis personae stellen in ihren Couplets Abenteuer des Malteser (eine Hunderasse), des Vogels Phönix, des Esels, der Maus, des Sperbers, des Gössels und der Katze vor, die auf die Handlung der Komödie bezogen sind. Momus beschließt mit dem Spatzen, der sich an die heiteren »spectateurs« im Parterre in Gestalt ausgewählter Vögel und Kennern des Zwitscherns wendet: Un Moineau franc, chantoit dans un bocage; Pour auditeurs il avoit des Sereins, Oiseaux choisis, Connoisseurs en ramage; Leur a-t-il plû? Moineau pour toi je crains. Adieu, Messieurs, ma fable est-elle obscure? Lure, lure, Le Parterre l’expliquera. Lare larela. In jedem der Couplets wird der Refrain: »[…] ma fable est-elle obscure? […] Lare, larela« leicht abgewandelt. Da kein Timbre angegeben ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Text vertont wurde. Final-Vaudeville in der Komödie Als Beispiele der frühen Verwendung des Final-Vaudeville in der Komödie seien hier diejenigen von Antoine Houdar de La Motte gewählt, der 1731 starb. In der Edition seiner Œuvres von 1754 sind L’Italie galante ou les contes Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 93 21 Louis Fuzelier, Momus fabuliste ou Les nôces de Vulcain, seconde édition, Paris 1720, S. 67. (1731), bestehend aus drei Komödien und einem Prolog (gespielt in der Reihenfolge Prologue, Le magnifique, Le talisman, Minutolo, in den Œuvres ist jedoch Le talisman getrennt von den anderen Stücken notiert), Le calendrier des vieillards sowie zwei Versionen von L’amante difficile (beide undatiert, eine mit musikalischen Abschlüssen der Akte II, III und V) sowie die frühe Komödie La matrone d’Epheses (1702) publiziert. 22 Nur La matrone d’Epheses und eine der Versionen von L’amante difficile haben keine Abschlüsse mit Musik. Le magnifique endet mit einem »Divertissement« bestehend aus einem Marsch, einem Air des »Chef de la Feste« und drei Airs (das erste mit zwei, das zweite mit vier Couplets und Refrain, das dritte einstrophig) gefolgt jeweils von einem Tanz und dem »Vaudeville« mit fünf Couplets (ohne Angabe von Personen), moralische Verhaltensregeln verkündend: Frauen und Mädchen soll man nicht einschließen, denn »Il [L’Amour] rompt des verroux et les grilles«, der geizige und tyrannische Liebhaber wird abgewiesen, der Liebhaber findet das Glück nur mit der Geliebten, Geschenke können mehr verletzten als der Geiz, der reiche Liebhaber zeigt seinen Reichtum besser nicht vor der Angebeteten. Im ersten Couplet und in der captatio benevolentiae verwendet Houdar de la Motte nur das Reimwort »rien« als Refrain, in den anderen die moralisierenden Refrainverse: »Donnez, amants, mais donnez bien: / Qui donne mal, ne donne rien.« Die Thematik des Geizes bzw. der Großzügigkeit aufgreifend heißt es im Schlusscouplet vor der Contredanse: »Soyez avares de critiques,/ Si vous ne sortez pas contens./ Ce n’est qu’en applaudissemens/ Qu’il vous sied d’être magnifiques./ Applaudissez pour notre bien; / Critiquez, mais si peu que rien.« In Minutolo besteht das »Divertissement« aus einem Tanz, einem Chanson, einem weiteren Tanz, dem Vaudeville und einer Contredanse. Im vierstrophigen Vaudeville wird das Verhältnis zwischen den sozial hoch und sozial niedrig gestellten Menschen ohne ausdrückliche moralische Hinweise thematisiert. Die Honorierung des Vergnügens im Theater mahnt La Motte in der captatio benevolentiae an: »Si nos soins pour vous plaire,/ N’avoient pas été vains,/ Vous avez dans vos mains/ Notre plus doux salaire.« Le talisman schließt mit einem Ball, bestehend aus einem Tanz, einem siebenstrophigen Gesang mit dreizeiligem Refrain und acht »Couplets«, in denen es um das Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern geht (ohne captatio benevolentiae), welche die Funktion eines Final-Vaudeville haben. Die uneinheitliche Terminologie La Mottes bzw. in der Ausgabe der Œuvres von 1754 zeigt sich auch in Le calendrier des vieillards, in dem die »Entrée de Matelottes« 94 Herbert Schneider 22 Antoine Houdar de La Motte, Œuvres de Monsieur Houdar de La Motte, Bd. 5, Paris 1754. Die Ausgabe enthält keine Hinweise, wer die Musik zu den »Divertissements« komponierte. In ihren Artikel »La Motte« des NGO, Bd. 2, London 1992, S. 1088-1089, erwähnt Elisabeth Bernard die Komödien mit Musik ebenso wenig wie Charles Dill in seinem Artikel »La Motte«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.) MGG2, Personenteil Bd. 10, Kassel u.a. 2003, Sp. 1108-1111. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 95 und ein Gesang mit Chorrefrain von zwei »Chansons« gefolgt werden. Das zweite Chanson mit sechs Couplets ist an junge Liebende gerichtet, soll ihrer Orientierung in Liebesdingen dienen und endet mit einer wiederum originellen captatio benevolentiae: Daignez être nos défenseurs,/ Si les Censeurs/ Nous font la guerre: / Nous allons les désespérer,/ S’il nous est permis d’arborer/ L’heureux pavillon du Parterre. L’amante difficile enthält am Ende des II. Akts die »Sérénade« Arlequins, am Ende des III. Akts neben einem Tanz, einem Gesang mit vier Couplets sowie einen »Branle« (inhaltlich eine Aufzählung von Verhaltensweisen) und am Ende des V. Akts ein »Divertissement« mit einem Tanz, drei Airs des »Chanteur« (das erste strophisch mit fünf Couplets), einem Vaudeville mit 23 Couplets einschließlich der captatio benevolentiae. Zu den Themen des Vaudeville gehören u.a. Belehrungen (die Hoffnung ist in der Liebe notwendig, mit Beständigkeit kommt man dabei zum Ziel, das Herz beherrscht die Kunst der Liebe) und verschiedene Blicke auf die Welt als Maskerade. Es gibt wenigstens drei Couplets, die der captatio benevolentiae dienen, das vierte Couplet (wenn wir schlecht unterhalten, geschieht das nicht aus Nachlässigkeit), das 17. (dem Autor dargebotete Schmeicheleien sind eine Maskerade) und das 23. (der Erfolg des Stückes hängt vom Publikum ab, das um »indulgence« gebeten wird; die Reaktion des Autors auf Erfolg oder Misserfolg besteht entweder darin, dass er »se trouve mal,/ Ou bien se met à rire«). Das Beispiel Houdar de La Mottes zeigt also, dass das Vaudeville bereits in der Zeit vor 1731 ein wesentlicher Bestandteil der Komödien sein konnte. Final-Vaudeville im Théâtre Italien Bezüglich des »Finale« der Parodien des Théâtre Italien (siehe Anhang 3) ergeben sich im Vergleich zur Opéra-comique einige wichtige Unterschiede: Während mehr als die Hälfte der Opéras-comiques mit einem Branle oder Vaudeville enden, schließen von den 32 Parodien des Théâtre Italien dagegen nur 12 mit Vaudevilles, also etwas mehr als ein Drittel, und zwei mit einem Tanz, weit mehr als die Hälfte mit Dialog. Mit einer Ausnahme enden die Final-Vaudevilles mit einer spezifischen Art captatio benevolentiae, die sich in ihrem Charakter von jenen des Théâtre de la Foire unterscheidet, da weniger geworben, als vielmehr die Urteilsfähigkeit des Publikums herausgefordert wird. In den meisten wird das tonangebende bürgerliche Publikum 23 des »parterre« als kritische Instanz angerufen: wenn das Parterre das 23 Vgl. Dietmar Rieger, »Die Literatur des 18. Jahrhunderts«, in: Jürgen Grimm (Hrsg.), Französische Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar 1999, S. 193. Stück nicht für gut befindet, dann ist mir das gleich (»J’en dis du mirlirot«); das Werk zählt beim Publikum keinen Heller, es veranstaltet Lärm; die Frauen verhalten sich ablehnend, sie bestimmen den Geschmack; hat man sie, die Herren, unterhalten, werden sie beim Verlassen des Theaters singen? Das Urteil des Parterre mit gutem Geschmack ist unwiderruflich, ein schlechtes Stück wird ausgepfiffen; ihr Herren behaltet euer Urteil für euch, bleibt diskret, und wenn ihr pfeifen wollt, dann bitte erst in der nächsten Vorstellung, was einen weiteren Besuch des Theaters notwendig macht; wenn euer Urteil ein neues Stück ächtet, beeinträchtigt das uns, wenn es Gefallen findet, sind wir in unserem Element; in der Tragödie wird geweint, in der Parodie gelacht, wenn sie euch gefallen hat, zieht in unserem Theater Wurzeln; welch Glück, wenn das Stück gefallen hat, vernünftige Besucher des Parketts, wir wollen Gefallen finden; ihr, das Publikum, bringt den Erfolg, mag der Autor noch so schreien. Selbst im Rahmen Publikums- und Autoren-kritischer Couplets spielen die drei Couplets von Arlequin au Parnasse aufgrund ihrer Kritik am zeitgenössischen Theater eine herausragende Rolle. Die Gegenüberstellung von früheren und heutigen Zuständen oder Lebensbedingungen ist in Final-Vaudevilles sehr beliebt: 96 Herbert Schneider Le CHANTEUR Jadis on voyoit en France, Des Ouvrages excellens; A present les faux bril- [lants, Sont reçûs par préférence: Quoi! le Public au- [jourd’hui N’est-il plus semblable à [lui? Le CHANTEUR Bon Sens, Morale, Justesse, Jadis étoient en crédit; A present on n’applaudit, Qu’à la verve qui les [blesse. idem THALIE Non, sur son premier suf- [frage, On auroit tort de compter, On le voit se rétracter, Sitôt qu’il a lû l’Ouvrage; Et le Public aujourd’hui Est toujours semblable à [lui. Den Vorwurf des »faux brillant« haben die Lullisten auch gegen die Musik Rameaus erhoben. Es gehörte schon einiger Mut dazu, dem Publikum im Theater, auch wenn es hier gegen das der Comédie française erhoben wird, die Urteilsfähigkeit mit der Begründung abzusprechen, es respektiere nicht mehr die Grundwerte des gesunden Verstandes, der Moral und der Wahrheit. Für Thalie ist das erste unmittelbare Urteil des Publikums nach der Vorstellung nicht maßgebend, denn dieses revidiere es nach der Lektüre des Stückes. Auch hier wird wiederum ein mündiges Publikum angesprochen, von dem eine intensive Auseinandersetzung mit dem Theaterstück verlangt wird, das sich nicht auf die spontane Reaktion auf die Aufführung beschränkt. In einzelnen Couplets werden auch Berufsvertreter aufs Korn Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 97 genommen, so z.B. die Literaten im Final-Vaudeville von Momus exilé: »Lorsqu’un Poëte flegmatique/ Paroit chez une juste critique,/ Il n’est loüé que froidement: / Mais quand au Caffé la Cabale/ Pour cause à Virgile l’égale,/ Il est là dans son Elément.« Bezüglich der Wahl der Musik besteht zwischen den Stücken des Théâtre de la Foire und des Théâtre Italien der wesentliche Unterschied, dass in letzteren Stücken die Anzahl der Timbres (sechs) 24 gegenüber der Vertonung des Final-Vaudeville (vier, ohne Angabe eines Komponisten) überwiegt. Bei zwei Stücken fehlt eine Angabe. Von den vier Vertonungen hat nur die letzte mit 7+9 Takten in Alceste von Dominique und Romagnesi (»Pour son Epoux, Femme jolie,/ Immole ses attraits,/ Helas! quelle folie! «) einen unregelmäßigen Phrasenbau - in Rupture du carnaval weicht ein Dreitakter von der Quadratur ab. In den Bänden 2-10 des Nouveau Théatre Italien ou Recueil général des comédies représentées par les comédiens italiens, die Briasson 1753 publizierte, enden 25 Stücke mit Final-Vaudeville 25 (davon 22 mit captatio benevolentiae), 23 mit Dialog, vier mit Gesang (insgesamt 52 Stücke, keine gemeinsamen Stücke mit den Parodies du Nouveau Théâtre Italien). Eine Besonderheit weist La fausse suivante von Marivaux dadurch auf, dass das Divertissement des II. Akts mit einem vierstrophigen Branle schließt. Über die Verwendung von Timbres in den Vaudevilles gibt es keine Angaben, vermutlich sind die meisten davon Vertonungen der Couplets, deren Musik am Ende der Bände abgedruckt ist. Wie wichtig die Vaudevilles für die Autoren des Théâtre Italien und für das Publikum waren, zeigt der Abdruck von nicht weniger als 72 Final-Vaudevilles (neben anderen Gesängen) im I. Band, davon wiederum 52 mit captatio benevolentiae: Le premier Volume de cette nouvelle Edition contient le Catalogue Alphabétique de toutes les Piéces représentées depuis 1716. jusqu’à présent. Et un choix de Vaudevilles des Piéces non imprimées dans ce Recueil, et les airs gravés du premier couplet de chacun de ces Vaudevilles. 26 Von den Komödien Marivaux’, die nicht im Nouveau Théâtre Italien von 1753 abgedruckt sind, schließen vier mit einem Final-Vaudeville: L’Isle de la raison ou Les petits hommes (1727), Le triomphe de Plutus (1728, beide mit captatio benevolentiae), L’école des mères (1732) und L’épreuve (1740). 27 Im Final-Vaude- 24 »Belle brune«, »Ma pinte et ma mie ô gay« (beide mit quadratischer Taktgliederung), »Quand je suis dans mon corps de garde«, »Je vous avois cru belle« (beide mit Dreitaktgliederung, im zweiten im letzten Teil abgewandelt), »Et zeste zeste« (quadratisch), »Boire à son tour« (Dreitaktgliederung mit einem Viertakter). 25 In La fausse suivante (Bd. III) sind die Couplets, wie in einigen anderen Stücken, mit »Divertissement« überschrieben. 26 Le Nouveau Théatre Italien ou Recueil général des comédies représentées par les comédiens italiens, Bd. 1, Paris 1753, S. VII. 27 Pierre Marivaux, Théâtre complet, Marcel Arland (Hrsg.), Paris 1949. Das dritte »Divertissement« am Ende von Marivaux’ L’Île de la raison ou les petits hommes enthält Verse für eine Arie, ein gesungenes Menuett, einen weiteren Gesang und das Vaudeville mit fünf Couplets ohne Personenangabe, das sechste für einen »paysan«, gefolgt von dem Couplet »au public«. In den Couplets geht es u.a. um Kritik an Personen, die sich für wichtig ausgeben, an einem arroganten Philosophen, an Gleichgültigkeit, an der negativen Veränderung eines ehemals vorbildlichen Liebhabers nach der Hochzeit, an Höflingen durch den Bauer. Auch für andere Stücke verfasste Marivaux Final-Vaudevilles mit spielerisch vorgetragener moralischer Belehrung oder Kritik an Personen wie in L’École des mères (1732). In den sieben ville der »allegorischen Komödie« 28 Le triomphe de Plutus, in der reich gewordene Financiers kritisiert werden, wird im Final-Vaudeville durch einen Mann aus dem Gefolge des Plutus, dem Gott der Tresore, die Allmacht des Geldes parodistisch vor Augen geführt, sehr eindringlich inszeniert durch die Reihung von gleichen Reimen am Ende von Kurzversen und die Refrainformel »Un jour en fait l’affaire«. In den Couplets 1-6 geht es um die Abhängigkeit vom Reichtum im gesellschaftlichen Ansehen, bei der Dienstbarkeit des Personals, bei der Liebe der Schäferin, bei den Erfolgsaussichten eines Bewerbers um eine Witwe, bei dem Liebhaber einer Ehefrau, bei den Bewerbern um die Gunst einer Frau. In der capatio benevolentiae des siebten Couplets plädiert Marivaux für die Originalität der Ideen in Theaterstücken und gibt dem Publikum zugleich vor, wann es applaudieren sollte. 29 98 Herbert Schneider 28 Rieger, »Literatur des 18. Jahrhunderts«, S. 198. 29 Pierre Marivaux, Le triomphe de Plutus, in: Théâtre complet, S. 633 und 635. Wer das Final- Vaudeville vertonte oder ob es auf ein Timbre gesungen wurde, ist nicht ermittelt. Die Marivaux-Ausgabe von Arland enthält wie andere Editionen keine Angaben dazu. 1. N’attendez pas qu’ici l’on vous révère, Si Plutus n’est votre dieu tutélaire. Sans son pouvoir, Tout le savoir Qu’on peut avoir Ne peut valoir; Rien ne répond à notre espoir. Le temps n’y peut rien faire. Mais quand on tient ce métal salutaire, Tout ce qu’on dit Charme et ravit, Tout réussit, Chacun nous rit; Veut-on charge, honneurs ou crédit, Un jour en fait l’affaire. 7. Lorsqu’un auteur, instruit dans l’art [de plaire, Trouve des traits ignorés du vulgaire, On l’applaudit, On le chérit: Grand ou petit En font récit; Jamais l’ouvrage ne périt; Le temps n’y peut rien faire. Si l’on ne suit qu’une route ordinaire, Le spectateur, Fin connaisseur, Contre l’auteur, Est en rumeur; La pièce meurt malgré l’acteur Un jour finit l’affaire. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 99 Couplets, die keinen Personen zugeordnet sind, lautet der Refrain »Il faut l’envoyer à l’école«. Jedes Couplet erzählt eine Geschichte, von der Mutter, die den Liebhaber von ihrer Tochter fernhalten möchte, über die Schöne, die sich über Damons Liebesqualen lustig macht und ihn auffordert, den Geldschrank zu öffnen, von Claudine, die zu ihrem Bewerber sagt, sie gehe auf die Wiese, ihn auffordert, er soll ihr nicht folgen, den sie dann jedoch für dumm deklariert, weil er sich daran hielt, und von dem Liebhaber, der einen Freund beauftragte, in seiner Abwesenheit seine Geliebte zu trösten, eine Entscheidung, die als unklug bezeichnet wird. Es geht auch hier um fehlerhaftes Verhalten, um typische problematische zwischenmenschliche Beziehungen, deren Kritik hier als Folie für moralische Belehrungen dienen. Alexis Piron gehört zu den erfolgreichen Autoren auf vielen Gebieten des Theaters. Von den 13 Opéras-comiques der Werkausgabe von 1776 30 enden sieben mit Final-Vaudeville - davon drei mit captatio benevolentiae -, eine mit einem Branle, und darüber hinaus auch die Pastorale Les courses de Tempé (1734), deren Divertissement aus mehreren Sologesängen und dem Final-Vaudeville mit capatio benevolentiae besteht: »Dans le cirque des beauxesprits,/ Plus d’un Coureur manque de prix./ Du Parterre, en vain on l’espère,/ Même après bien des brouhahas; / Si, n’ayant plus qu’un pas à faire,/ Par malheur, on fait un faux pas.« L’Antre de Trophonius (1722) spielt auf den griechischen Architekten an, der den Tempel von Delphi gebaut hat, der zum Ort des Orakels und sein Grab wurde. Der Refrain des Final-Vaudeville lautet wie der Titel des Stücks: So wird das Brautbett, das Theater für den Dichter, bei Misserfolg und schließlich die ganze Saison des Théâtre de la Foire zum »Antre de Trophonius«. Im Divertissement von La robe de dissention ou Le faux-prodige (1726) typisiert und kritisiert Piron Verhaltensweisen in der Liebe, zunächst eines Mannes und einer Frau, dann von Spaniern, Schweizern, Türken und Franzosen, und beendet die Couplets mit dem Refrain »Le plus sûr est de filer doux,/ Gâre, gâre, gâre les jaloux«. Eine ähnliche Thematik bestimmt auch das Final-Vaudeville von Tiresias (1722), in dem Tirésias sich freut, wenn ein Liebhaber ihr zu Füßen liegt, Cléantis bei einer Ehekrise einfach den Haushalt verlässt, Naïs sich beim Anblick eines Eifersüchtigen freut und Cléantis und Mopse sich von gegenseitiger Treue und Standhaftigkeit das Glück erwarten. Der Hauptdarsteller appelliert an die Zuschauer: J’ai fait le Héros, l’Arlequin/ J’ai fait l’Homme, la Femme … Enfin/ J’ai fait le Diable pour vous plaire./ Messieurs, pour votre grand-merci,/ Revenez trente fois ici,/ Et vous ne m’en redevrez guère. 30 Alexis Piron, Œuvres complettes d’Alexis Piron publiées par M. Rigoley de Juvigny, Paris 1776. Bemerkenswerterweise begegnet relativ spät der Branle-Finale noch in einer anderen Gattung, in Louis de Cahusacs Comédie-ballet L’Algérien ou les Muses comédiennes (1744). 31 Das Divertissement am Ende besteht aus einem fünfstrophigen, der Gesundung des Königs gewidmeten ersten Branle, einem zweiten von einem Bauern und eine Bäuerin gesungenen (Un pas de deux Pantomimes entre le Paysan et la Paysanne), einem dritten fünfstrophigen von mehreren Bäckern und Fischweibern gesungenen und dem vierten, auch vom Volk getanzten. In letzterem werden in zehn Couplets die verschiedenen Menschen vorgestellt, die ihre Teilnahme während der Erkrankung des Königs bekundeten und dann in einer Variante des Refrains der capatio benevolentiae singen: Gai gai gai, Eh le cœur gai,/ Gai Messieurs du Parterre,/ Dieux marci/ Plus de souci/ Dites avec moi/ Vive le Roi. Final-Vaudeville bei Favart und seinen Zeitgenossen In der zehnbändigen Edition des Theaters von Charles-Simon und Marie Justine Benoîte Favart 32 haben nur die Parodien italienischer Opere buffe und zehn weitere Stücke kein Final-Vaudeville. 33 Von 30 Stücken mit Final- Vaudevilles schließt dieses auch die captatio benevolentiae ein, wobei mehrere Werke auch zwei Final-Vaudevilles aufweisen. 34 Favart setzt die zuvor beschriebene Tradition fort und bietet zugleich eine reiche Palette von neuen Lösungen an. In der Parodie Hippolyte et Aricie (1742, es gibt eine Wiederaufnahme im Jahr 1757, in der eine Ariette angehängt ist) greift Favart noch einmal den Branle auf: Er folgt einem Final-Vaudeville, das mit einer captatio benevolentiae beginnt und wie in mehreren anderen Stücken mit zwei weiteren an das Publikum gerichteten Couplets endet. In ihren acht Couplets wird das Verhalten in Liebesdingen von Dorine, ihrer Schwester Colette 100 Herbert Schneider 31 Louis de Cahusac, L’Algérien ou Les muses comédiennes […] représentée sur le Théatre de la Comédie Françoise le 14 Septembre 1744, à l’occasion de la Convalenscence du Roi, Paris 1744. Dieses Werk fehlt sowohl in der Werkliste des Artikels »Cahusac« von Graham Sadler, in: NGO, Bd. 1, S. 681, als auch in derjenigen von Jürgen Mainkas Artikel »Cahusac«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), MGG2, Personenteil Bd. 3, Kassel u.a. 2000, Sp. 1582. 32 Charles-Simon Favart, Théâtre de M. Favart, Paris 1763-1772. 33 Favart verwendet anstelle von Vaudeville auch den Terminus »Ronde« (u.a. Bastien et Bastienne, 1753, Annette et Lubin, 1762, und L’école des amours grivois, 1744) und benutzt Timbres im Final-Vaudeville (Le retour de l’opéra-comique, 1759, und lediglich für die captatio benevolentiae von Thésée, 1745). 34 U.a. Hippolyte et Aricie (1742, mit Final-Vaudeville und Branle), Les Indes dansantes (1751, darin »Le Turc généreux« und »Les fleurs«), La fête de l’Amour (1754), L’école des amours grivois (1747), Le mariage par escalade (1756). Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 101 und Lise geschildert, von Personen, die in der Parodie nicht vorkommen. Der berühmt gewordene, in den Couplets als Vers 2 und 7 gesungene Refrain lautet: »V’là que c’est que d’aller au bois.« Einige Final-Vaudevilles von Favart sind dem Herrscherlob gewidmet, so in L’école des amours grivois (1744, »Vive le bon Roi de France«, »Nous chantons le plus grand des Rois«) oder in Le bal de Strasbourg (1744), der aus Anlass der Gesundung des Königs entstand und in dem der Refrain lautet: »Mes craintes cessent,/ Nos plaisirs naissent/ Avec la santé de LOUIS.« Les fêtes de la paix (1763) entstand zur Enthüllung des Standbilds des Königs und dem Friedenschluss: Vive la Paix, vive la Paix./ Les amours seuls prendront les armes; / C’est pour nous rendre tous amis; Vive Louis, vive Louis heißt es im ersten Couplet, und in den zehn nachfolgenden kehren die beiden Refrainverse (3. und 6. Vers) »Vive la Paix«, »Vive Louis« wieder. Zu diesem Themenkreis gehört auch Le mariage par escalade (1756), in der die Einnahme von Port-Mahon 1757 durch den Duc de Richelieu gefeiert wurde. In Le prix de Cythère (1742) schließt das Divertissement mit zwei Airs von Aurore und der Französin und mit einem Final-Vaudeville in 13 Couplets (mit dem Refrain »Le prix de Cythère«), das einen Katalog moralischer Belehrungen enthält: - die Vorzüge der Liebe unzivilierter Menschen gegenüber den Europäern, ihr Leben in aufrichtiger Harmonie, die Erfüllung in wahrer Liebe und Treue; - Klischees nationalen Verhaltens in der Liebe; die Holländerin steht jeglicher Liebestollheit ablehnend gegenüber und hat 20 Söhne, der Türke verfügt über die Liebe von 20 Frauen, die Georgierin ist jedem Liebhaber zugeneigt, der verliebte Spanier wird verwegen, die Französin brüstet sich mit vielen Eroberungen, der Franzose liebt wechselnde Liebschaften. Die darin enthaltenen Ratschläge lauten: der Mieter riskiert zum potentiellen Liebhaber der Ehefrau zu werden, die Schöne mit merkantilem Herz darf den »prix de Cythère« nicht bekommen, Liebhaber, habe Geduld mit der reservierten Angebeteten. Eine ähnliche Thematik haben auch das Final-Vaudeville von L’amour au village (1745) und La coquette sans le savoir (1744), in dem im Übrigen auch wieder ein Teil des Titels (»sans le savoir«) den Refrainvers bildet. Die Gegenüberstellung von früheren und jetztzeitigen Zuständen benutzt auch Favart, um Zeit- und Gesellschaftskritik zu üben, so z.B. autoreflexiv auf das Theater bezogen in La ressource des théâtres (1760, Refrainvers »C’étoit la vieille méthode«, »Voilà les portraits à la mode«), in der eine Vielzahl von Problemen des Theaters aufgegriffen wird: In Annette et Lubin (1762) folgt dem »Vaudeville« eine »Ronde«, beide mit sechs Couplets. Im fünfzeiligen Refrain des Final-Vaudeville werden die Treue des Paares und das daraus resultierende Glück gefeiert. Die Couplets dienen dazu, negative Beziehungen oder Verhaltensweisen bloßzustellen (keine dritte Person in der Ehe, die Heuchelei der Frauen, eine geistvolle Konversation ersetzt nicht den liebevollen Blick). In der »Ronde« mit einem dreizeiligen Refrain nehmen die dramatis personae Stellung zum »dénouement« oder zu Wertvorstellungen. In der captatio benevolentiae laden Annette und Lubin das Publikum zur Hochzeitsfeier ein. Gelegentlich kommen auch im Final-Vaudeville anti-militärische Motive zum Tragen, so etwa in Le jardinier supposé. Aus musikalischer Sicht besonders hervorzuheben sind bei Favart die Final-Vaudevilles mit Mittelteil in Moll, in Les amours de Bastien et Bastienne (von Marie Justine Benoîte Favart und Harny, 1753) und Isabelle et Gertrude (1765, Musik von Adolphe Blaise), in der sich die vier Couplets in Dur und Moll abwechseln und die captatio benevolentiae das Dur-Couplet wiederholt. Refrains sind bei Favart sehr beliebt, aber in nur drei Stücken ist der Chor beteiligt. 35 102 Herbert Schneider 35 In La fête du château, Le jardinier supposé und Les moissonneurs. früher uniform, natürlich, schlicht, ohne Frivolität bescheidene Diener; Händler, die sich nicht selbst erhöhten gewissenhafte Advokaten; reiche Financiers, die wie Bürger lebten anständige Nymphen gezügeltes Verlangen der Jungen Tugend unter der Sutane, schlichte Bürger Prunk war nur für Fürsten der Arzt praktizierte in dunklem Gewand zuerst ein sinnvolles Thema finden, dann in Reime fassen natürlicher Geschmack, Schlichtheit und Schönheit im Gesang (Couplet in Italienisch) der gute Geschmack führte den Pinsel des Malers im Theater herrschte Heiterkeit, man kam, um dem Müßiggang nachzugehen heute der kindische Geschmack wird bedient unverschämte Lakaien; Herren gekleidet wie Diener Financiers, die sich wie Herzöge oder Pairs aufführen wegen der Anzahl ihrer Liebhaber eitele Nymphen zitternde Jünglinge, kokette Frauen mit weißen Haaren Ignoranten im Pelzmantel, Nichtadelige im Goldgewand unfähige Tänzer und ein Phaéton unterrichtet im Tanzen der Arzt ist mit Schmuck beladen und hat keine guten Lateinkenntnisse inhaltslose Brillanz, Flitter Singen wie das Miauen von Katzen heute Scherenschnitte, in denen wir schwarz wie Raben dargestellt werden wir orientieren unseren Geschmack an dem des Publikums; zu wünschen ist, dass überall gesungen wird. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 103 Zum zweiten Zeitalter der Opéra-comique nach der Periodisierung des Théâtre de Favart 36 gehört neben der frühen Schaffenszeit Favarts Charles- François Pannard. In dessen Théâtre et Œuvres diverses (1763) 37 sind im ersten Band vier Komödien mit Final-Vaudevilles und eine große Zahl allein der Divertissements mit den Final-Vaudevilles aus Komödien enthalten. In den Bänden 2 und 3 mit 13 Opéras-comiques enden lediglich sechs mit Final- Vaudevilles. In der Komödie Les vœux accomplis (1751) reiht Pannard eine auf ein Timbre gesungene Ronde, von Mme Favart gesungene Couplets und ein »dernier Vaudeville« aneinander, Ronde und Vaudeville jeweils mit captatio benevolentiae. Mit Ausnahme von La mère embarrassée (1734) und Le nouvelliste dupé (1737), in denen Originalmusik vorliegt, hat Pannard in allen anderen Final-Vaudevilles der Opéras-comiques Timbres verwendet. Bemerkenswert ist, dass die Vaudevilles für die Komödien fast durchweg Originalmusik haben, also nur wenige auf Timbres zu singen sind. In der Opéra-comique L’académie bourgeoise (1735) folgen drei, in Le rêve (1738) zwei Vaudevilles aufeinander, wobei jedes einzelne mit einer captatio benevolentiae endet. Das Beispiel von La critique de l’opéra-comique (1742) hat die Besonderheit, dass Pannard hier vier Timbres der gleichen »coupe« (Strophenbau) für die 21 Couplets einsetzt. In La répétition interrompue (1735) folgen auf das Final-Vaudeville noch zwei Szenen. Nur in Les petits comédiens (1731) sind die Couplets Personen zugeordnet, ansonsten finden sich, wie bei vielen anderen Autoren, keine Angaben, wer ein bestimmtes Couplet zu singen hat. Allerdings ist aus dessen Inhalt oftmals zu erkennen, wer es zu singen hat. Die captatio benevolentiae fehlt nur in zwei, ein Refrain in drei Final-Vaudevilles der Opéras-comiques. Chorrefrains sah er nicht vor. Von den 16 im Théâtre de M. Anseaume publizierten Opéras-comiques 38 verfügen nur fünf über Final-Vaudevilles, von den 19 Stücken in Vadés Œuvres (1787) 39 nur vier, von 16 Komödien in Fagans Théatre (1760) 40 fünf, von acht Opéras-comiques (eine wird »Parade« bezeichnet) vier. Diese Übersicht zeigt, dass das Final-Vaudeville in der Opéra-comique nicht obligatorisch war, aber häufig den Abschluss in der Komödie bildet. Bei Parodien oder Adaptationen von Opere buffe fehlt das Final-Vaudeville. 36 Nicht signierte »Préface«, in: Favart, Théâtre, Bd. 1 (1763), S. IX. 37 Charles-François Pannard, Théâtre et Œuvres diverses de Pannard, Paris 1763. 38 Louis Anseaume, Théâtre de M. Anseaume, Paris 1766, 3 Bde. Mit Final-Vaudeville: Bd. 2 L’ivrogne corrigé; Bd. 3 Le milicien 1763, Les deux chasseurs et la laitière 1763, L’école de la jeunesse 1765, La clochette 1766, Musik jeweils von Duni. 39 Jean-Joseph Vadé, Œuvres de M. Vadé ou Recueil des Opéra-Comiques, Parodies et pieces fugitives, nouvelle édition, Lyon 1787, Bd. 1-3 mit dramatischen Werken. In Jérôme et Fanchette (1755) ist der abschließende Strophengesang »Ronde« betitelt. 40 Barthélemy-Christophe Fagan, Théatre de M. Fagan, Paris 1760, 4 Bde.; die Komödien mit Vaudeville: Les originaux (1737) mit Divertissement, Couplets (Menuet) und zwei Vaudevilles, jeweils mit captatio benevolentiae; L’heureux retour (1745); Le ridicule supposé (1743), L’isle des talents (1743), La fermière (1748). Final-Vaudeville in den Opéras-comiques mit Originalmusik Pierre-Jean-Baptiste Nougaret setzte sich mit der Konfliktlösung in der Opéra-comique auseinander und verlangt 1769, auch das Final-Vaudeville in die Handlung einzubinden: »Je désirerais, et je ne puis trop le recommander, que les Vaudevilles ne fussent point détâchés du sujet de la Pièce; qu’ils se rapportassent aux Acteurs et au Public en même tems, car l’illusion doit se conserver tant que les personnages sont sur la Scène.« 41 Dieser Wunsch blieb wohl vielfach unerfüllt, wenn man auch versuchte, Elemente der Handlung oder den Titel des Stückes im Final-Vaudeville aufzugreifen. In den seit der Querelle des Bouffons komponierten Opéras-comiques, in den Komödien mit Vaudevilles und in den Komödien spielt das Final- Vaudeville weiterhin in unterschiedlichem Maße eine wichtige Rolle. Dieses Repertoire, das außerhalb Frankreichs sehr erfolgreich war, trug wie besonders die Stücke von Favart dazu bei, das Final-Vaudeville außerhalb Frankreichs populär zu machen. 42 Die Präsenz des Final-Vaudeville im Repertoire der Opéra-comique dieser Zeit geht aus der repräsentativen Auswertung von vier der insgesamt zwölf Bände von Librettodrucken, Recueil général des opéra bouffons von 1771 43 hervor. Darin schließen von 31 Stücken 18 und damit weit mehr als die Hälfte mit Final-Vaudeville. Der führende Librettist dieser Gattung, Michel-Jean Sedaine, zeigt sich darin überraschender Weise meist harmlos und ohne große Originalität, wie folgende Beispiele zeigen. Er lässt in Le diable à quatre (1756) zwei Strophengesänge aufeinander folgen, den ersten ohne Überschrift, den zweiten mit Contredanse überschrieben: Sie besteht aus einem zu Beginn und nach jedem der vier Couplets wiederholten sechszeiligen Refrain (inhaltlich dem Trinklied verwandt). In den Couplets werden die Vorteile des einfachen Lebens ohne Reichtum und die positiven Auswirkungen eines guten Charakters geschildert. Die fünf Protagonisten von On ne s’avise jamais de tout (1761) resümieren ihre Erfahrun- 104 Herbert Schneider 41 Pierre-Jean-Baptiste Nougaret, De l’art du théâtre, Paris 1769, Bd. 1, S. 204. Vgl. dazu Herbert Schneider, Art. »Vaudeville«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), MGG2, Sachteil Bd. 9, Kassel u.a. 1998, Sp. 1329. 42 Vgl. dazu Herbert Schneider, »Haydns Final-Vaudeville und ihre Vorgeschichte«, in: Eva Badura-Skoda (Hrsg.), Joseph Haydn. Bericht über den Internationalen Haydn-Kongreß Wien 1982, München 1986, S. 302-309. Das Libretto von La Clochette (1767) von Anseaume und Duni z.B. erschien im Jahr nach der Pariser Aufführung 1768 in Wien bei Ghelen mit unverändertem Final-Vaudeville. Die von André edierten Libretti französischer Opéras-comiques enthalten im Anhang Gesänge im Notentext, darunter auch Final-Vaudevilles, vgl. Herbert Schneider, »Übersetzungen französischer Opéras-comiques für Marchands Churpfälzische Deutsche Schauspielergesellschaft«, in: Ludwig Finscher/ Bärbel Pelker/ Rüdiger Thomsen-Fürst (Hrsg.), Mannheim. Ein Paradies der Tonkünstler? Frankfurt 2002, S. 387-434. 43 Recueil général des opéra bouffons qui ont été représentés à Paris, avec les Ariettes en Musique, Paris [recte Liège] 1771-85. Die vier herangezogenen Bände erschienen 1771 und 1772. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 105 gen während der Handlung, und das Paar Lise und Dorval verspricht sich das gemeinsame Glück. Der Titel des Werkes, zugleich Refain wird auch zu »Ah! je m’avise/ Fort bien de tout« abgewandelt und in die Autoren-kritische captatio benevolentiae einbezogen: De tout Auteur l’intention est bonne, Il ne veut qu’enchanter le public: Que l’enchanter, Messieurs, c’est là le hic. Il faut que toujours on lui pardonne. Ou le plan mal conçu, Mal tissu, Ou l’intrigue Qui fatigue Le style ou le goût: Vainement l’Auteur s’épuise. Il ne s’avise Jamais de tout. In Le roi et le fermier (1762) treten alle Personen der Handlung mit Ausnahme des Königs im Final-Vaudeville in Erscheinung. Darin geht es zunächst um das Wiederaufgreifen von Ereignissen (das bedrohliche Gewitter, die Mühen der Jagd), dann um die Erinnerung der Mutter an die schwierige Kindheit ihres Sohnes Charlot, die Hoffnung Betsys auf ihre Heirat, die Konflikte des ehelichen Zusammenlebens und die Kümmernisse des Alltagslebens, Probleme, die mit dem Refrain »Il ne faut s’étonner de rien,/ Il n’est qu’un pas du mal au bien« relativiert werden. Alltagssituationen beinhaltet das Vaudeville von Les sabots (1768), in dem neben dem Begriff »à propos« erneut der Titel der Opéra-comique als Refrain aufgegriffen wird. Unterstrichen durch die Wiederholung des ersten als letzter Vers (»C’est la constance«) wird in Le Faucon (1771) in zwei Couplets festgestellt, ohne Beständigkeit (Treue) gebe es keine wirkliche Liebe. In Les femmes vengées (1775) geht es um das Verhältnis zwischen selbstbewussten Frauen und Ehemännern. Das Final-Vaudeville im Theater der Revolution Angesichts des Erfolgs und der Popularität dieses Typus von Schlussgesangs und des Erfolgs des zehnstrophigen Vaudeville in Beaumarchais’ Le mariage de Figaro - endend mit dem berühmten Vers »Tout finit par des chansons« - verwundert es nicht, dass das Final-Vaudeville von den Dramatikern der Revolutionszeit als sehr nützlich angesehen wurde, wobei man gerne in den Vaudeville-Komödien (sie tragen verschiedene Gattungsbezeichnungen) Timbres benutzte, um größtmögliche Breitenwirkung zu erreichen. Um politische Ideen zu propagieren, eignet sich das Final-Vaudeville mit seinem das Hauptanliegen auf den Punkt bringenden Refrain ebenso wie die Revolutions-Hymne. Im Unterschied zu den Stücken mit Vaudeville, in denen das Final-Vaudeville meist viele Couplets aufweist, ist ihre Zahl in den Opéras-comiques (auch im »Singspiel« der Zeit) reduziert, weil die Vertonungen kunstvoller gestaltet sind. Beffroi de Reigny, alias Le Cousin-Jacques, ließ in einem seiner erfolgreichsten Stücke, Le club des bonnes-gens, ou Le curé françois (1791), einer Ronde, die gesungen und pantomimisch ausgeführt wird, ein »Vaudeville de la fin« mit selbst komponierter Musik folgen. Im ersten Couplet ruft der Curé darin die Franzosen auf, Hass und Rachegelüste aufzugeben und zum Frieden zurückzukehren. »Embrassons-nous, faisons la paix! « lautet der auch vom Chor »pianissimo« zu wiederholende Refrain. Elise meint, ein Volk von Freunden würde die Feinde Frankreichs abschrecken. Alle Franzosen sollen Brüder sein, Louis XVI, hier noch als »bon Roi« bezeichnet, nicht verdrießen und gesetzestreu sein. Selbstbewusst gibt der Autor in Gestalt Nigaudinets in der letzten Strophe kund: C’est mal-aisé d’plaire à tout l’monde; Gnia ben long-temps q’l’auteur sait ça. Messieu’, conv’nez tous à la ronde Q’gnia rien que d’vrai dans c’te pièc-là; Mais si son espérance est vaine, Quand à l’esprit qui fait l’succès; Pour qu’i’ n’ait pas perdu sa peine Embrassez-vous, faites la paix! Der als Autor von dramatischen Vaudeville, als Chansonnier und Dichter lange vor der Revolution aktive Chevalier Antoine-Pierre Augustin de Piis tat sich auch während der Revolution als Propaganist des neuen Zeitalters hervor. 44 In seiner Nourrice républicaine ou Les plaisirs de l’adoption 45 werden die auf die berühmte Melodie des »Vaudeville de Figaro« gesungenen Couplets einmal durch einen kurzen Dialog unterbrochen und der letzte Refrainvers »Est bien père qui nourrit«, in dem die Wohltätigkeit der Adoption resümiert ist, durch den Chor wiederholt. 46 In den ersten drei Couplets geht es um das Verhältnis zwischen dem Adoptivsohn und den Adoptiveltern, die größere Zuneigung des Sohns zur Amme als zur Mutter und das Bestreben eines alten Mannes, der der Gesellschaft noch einmal nützlich sein möchte. Mit seinem Stück propagiert de Piis die Adoption von Kindern und das Engagement älterer Menschen in diesem Sinn. In der captatio benevolentiae wird das Thema der Adoption auf das gespielte Stück übertragen: 106 Herbert Schneider 44 In der Ausgabe seiner vorrevolutionären Theaterstücke - in allen werden Timbres verwendet - Théatre de M. de Piis [...] et de M. Barré, London 1785, enden zehn der 15 Stücke mit Vaudeville, in den Œuvres choisies, Paris, Brasseur aîné 1810, Bd. 2, »Théâtre«, alle 6 Stücke; hier sind einige mit »Chœur et Vaudeville« überschrieben. 45 Antoine-Pierre-Augustin de Piis, La nourrice républicaine ou Les plaisirs de l’adoption, Paris An deuxième [1794], S. 33-34. 46 Beaumarchais unterbrach die ersten beiden Couplets durch einen kurzen Dialog zwischen Figaro und Bazile. NICOLAS Moi dans une chaise de poste, Qui pour Paris comptais partir, C’est en prison qu’était mon poste! Ma foi je n’en puis revenir. Sur ce qu’on a peine à comprendre Il faut être plus circonspect: Je cède à qui voudra le prendre, Mon privilège de suspect. DAMIS L’un était suspect pour se taire, L’autre l’était pour babiller; L’un est suspect pour ne rien faire, Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 107 Voici l’instant où pour cause, Malgré sa paternité; Tout auteur, craignant la glose, S’enfuit presque épouvanté; Mais de l’enfant qu’il expose, Citoyens sans contredit: Est père qui l’applaudit. Pierre-Yves Barré nennt im »Avis« seiner Heureuse décade (1793) das Ziel seiner Stücke: »Persuadé que le genre du Vaudeville peut servir autant que tout autre à propager les principes républicains, et à maintenir l’esprit public«. 47 Barré und seine Co-Autoren parodieren im Final-Vaudeville des Stückes eines der erfolgreichsten Timbres der Revolutionszeit, »On doit soixante mille francs«, um die Sans-culottes als Speerspitze der Verteidigung gegen externe Feinde zu feiern. Im zweiten Couplet werden Engländer und Österreicher im Gegensatz zu den Franzosen als vaterlandslose Gesellen bezeichnet: »Nous l’z’avons rendus, plus d’une fois,/ Tout-à-fait sans culottes.« Nach einem Wortwechsel zwischen Alerte und Bonnefoi gibt sie zu verstehen, dass für sie nur ein Sans-culotte als Liebhaber in Frage komme, da diese gute Patrioten seien. Im letzten Couplet bittet sie: »Claquez et l’auteur et l’acteur,/ Ils sont tous sans-culottes.« Nach der »Terreur« werden im Theater Probleme dieser blutigen Epoche der Revolution bewältigt, und es wird damit quasi ein Anti-Propaganda- Theater praktiziert. In Alexandre Duvals, Picards und Jean Frédéric Auguste Lemière de Corveys Les Suspects (1797) 48 kommen Schicksale von Personen zur Sprache, die urplötzlich zu Verdächtigten wurden und damit riskierten, guillotiniert zu werden. Nichtige Anlässe wurden gesucht, um jemanden zu verdächtigen. Der Appell der letzten Strophe geht dahin, dass nur böse Menschen vor dem Gesetz Verdächtige sein dürfen. 47 Pierre-Yves Barré/ François-Pierre-Auguste Léger/ Jean-René Rosières, L’heureuse décade, divertissement patriotique, 3e édition, Paris 1793, S. 32. 48 Alexandre Duval/ Jean Frédéric Auguste Lemière de Corvey, Les Suspects, Paris 1797. GILLIN J’entends ce que vous voulez dire. Car les fripons, par les brigands Ce mot fut inventé pour nuire: C’était une arme à deux tranchants. Levons-nous tous contre le vice; A la vertu, gloire et suspect! Sous le règne de la justice, Que le méchant soit seul suspect. In dem berühmten antiklerikalen Stück Les Visitandines (1796) von Louis Benoît Picard und François Devienne 49 ist das Final-Vaudeville in die Handlung eingebunden. Belfort, der seine frühere und jetzt wieder gefundene Geliebte als Novizin aus dem Kloster entführt, gebietet, darüber zu schweigen. Grégoire, der Gärtner, dem eine Entlassung droht, bittet, weiterhin im Kloster arbeiten zu dürfen. Die »Tourière« ermahnt Euphémie, Belfort die Treue zu bewahren. Der Diener Belforts, Frontin, verabschiedet sich von den Nonnen, bietet ihnen aber an, weiterhin über seine Dienste zu verfügen. Die Nonne Joséphine erwähnt zunächst, man habe in dem Stück etwas über das Leben im Kloster erfahren und plädiert dann, das Refrainwort »novice« aufgreifend, zugunsten der Autoren: »Aux deux auteurs de ces esquisses,/ Passez quelques traits ennuyeux,/ Peut-être un jour ils feront mieux,/ Ils ne sont encor que novices.« Auf den Misserfolg ihrer Opéra-comique La Femme de quarante-cinq ans (1798) gehen Hoffman und Solié in der zweiten Ausgabe des Werkes ein, das sie den Personen widmen, die das Stück ausgepfiffen haben: C’est à vous que je dédie ce petit ouvrage qui vous a tant amusés par sa chûte: un succès vous eût moins divertis. Je vois cependant avec peine que vous vous êtes ôtés les moyens de prolonger votre plaisir. Avec un peu de modération, vous vous seriez ménagé l’agrément de siffler cette pièce à sa sixième représentation, comme mon Léon de Montenero: mais vous avez été gourmands, vous avez tout dévoré dans un jour. 50 Im Librettodruck wird angezeigt, wo Pfiffe Verbesserungen hervorgerufen haben und wo man noch pfeifen soll. Die Reaktionen des Publikums sind im Einzelnen festgehalten. Das Final-Vaudeville spiegelt in keiner Weise die offene kritische Haltung der Autoren, denn hier geht es um allzu bekannte Themen der Liebesbeziehungen, u.a. um solche zwischen einem alten Herrn, der das Glück mit einer jungen Frau sucht und von diesem Bestreben geheilt wird, um eine ältere Frau, die von der Sehnsucht getrieben, noch Liebhaber zu bekommen, schließlich zur Vernunft kommt. Im letzten Couplet werden erneut alternde Frauen thematisiert: 108 Herbert Schneider 49 Louis Benoît Picard, Les Visitandines, Paris, An cinquième de la République [1796], Musik von François Devienne (revidierte dreiaktige Fassung von 1793). 50 Hoffman, François-Benoît, La Femme de quarante-cinq ans, comédie en 1 acte et en prose, mêlée de musique; Sifflée, pour la première et dernière fois, sur le Théâtre Favart, le 29 brumaire an 7. Dédiée aux siffleurs, et enrichie de notes à l’usage des jeunes Auteurs. Paroles de Paris 1798, Musik von Jean-Pierre Soulier, genannt Solié. L’autre est suspect pour travailler; Tel est suspect, car il se mire; Tel, car il porte un habit sec; Mon voisin est suspect pour rire, Moi pour pleurer je suis suspect. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 109 51 Originale Anmerkung: »Mort de la pièce et de l’Auteur, si on l’eût tenu.« 52 Guillaume Denis Thomas Lévrier de Levrier Champ-Rion, Le diable couleur de rose ou Le bon homme misère, Paris 1803. CAMILLE Femme que fraîcheur abandonne, Cache 51 d’abord cinq ou six ans; Et plus d’une souvent s’étonne De trouver des yeux clairvoyans. Dans son dépit elle tourmente Amis, voisins, maris parens... Mais attendez … la plus méchante Deviendra bonne avec le tems. Daran schließt Hoffman eine letzte publikumskritische Bemerkung an: Les sifflets ne prouvent pas qu’une pièce soit mauvaise; il est plus facile d’acheter un sifflet que du bon sens: mais des raisonnemens ne prouveront pas non plus que cette pièce est bonne; je sais aussi bien qu’un Siffleur les défauts qu’elle a, et les qualités qui lui manquent. In einer Reflexion über den ursprünglichen, vom Pfeifkonzert begleiteten »dénouement« bemerkt Hoffman: »L’immoralité dramatique ne consiste point dans l’action irrégulière commise par une personne passionnée, mais dans l’effet qui en résulte,« d.h. die Reaktion des Publikums macht erst die moralische Bewertung der Handlung eines Protagonisten aus. In der Opéra-comique der Revolutions- und nachrevolutionären Zeit ist das Final-Vaudeville noch gefragt. Einige Beispiele mögen genügen, um die Manier dieser Zeit zu illustrieren. Champ-Rion und Pierre Gaveaux lassen in Le diable couleur de rose ou Le bon homme misère (1803) 52 den Dialog vor dem Vaudeville bereits mit einer Belehrung enden: COLIFICHET Que ceci vous serve de leçon à tous trois; et souvenez-vous qu’on peut opprimer la vertu, mais que tôt ou tard son triomphe punit les oppresseurs. Im Final-Vaudeville, dem ein Chor vorausgeht (»Je suis le diable bienfaisant«), wird u.a. die fragwürdige Rechtsprechung kritisiert, mit der das Ziel verbunden ist, finanziellen Gewinn aus Urteilen zu ziehen. In der captatio benevolentiae wird das Wechselbad des Autors des Theaterstücks thematisiert: COLIFICHET, au public. Un Auteur veut être jovial; L’entreprise est bien délicate. La veille encor du jour fatal, Il espère; il rit; il se flatte; Le jour vient, ce n’est plus cela; Il ne voit plus rien de passable: Die Tradition des Propagandastücks setzt sich auch während des Empire fort. Jean Nicolas Bouilly z.B. lieferte 1806 den »fait historique« Les Français dans le Tyrol, 53 dessen einziges gesungenes Stück das Final-Vaudeville (Timbre »Arlequin Musard«) ist, das von dem Ausruf aller »Vive l’Empereur des Français« eingeleitet wird. Der österreichische Gouverneur, der Graf Arminsthal, nennt Napoléon einen »prince généreux«, dem man wie die Franzosen gute Wünsche übermittele. Der junge Trompeter Fritz bewundert Napoleons Größe und Menschlichkeit: »Avec ein chef qui va si vite,/ On fait pien vite son chemin«, und aus einem Regimentstrompeter wird durch Napoléon rasch »Ein drompette de renommée.« Ernest betont an Amélie gerichtet, wie sehr der Erfolg des Kriegers vom Zufall abhänge und dass man sich mit Hilfe der Liebe über Verwundungen hinwegzutrösten vermag. Blondel weist auf die Zahl 68 des von ihm getragenen Banners, die mit dem Alter seiner Mutter und der Anzahl der von ihm mitbestrittenen Schlachten übereinstimme: »Puissent-ils [diese Ziffern] marquer les années/ Du règne de Napoléon.« Amélie verbindet mit Frankreich »Gloire, paix et félicité«. Die Gräfin Arminsthal erklärt dem Publikum, die kurze Zeit, die dem Verfasser für die Konzeption des Stückes zur Verfügung stand, sei der Grund für eventuelle Mängel des Werks: »Il est aisé de se convaincre/ Qu’avec Napoléon-le-Grand,/ Pour peindre comme il a su vaincre,/ Il fallait écrire en courant.« Man kann sich fragen, ob diese Strophen nicht durch ein gerütteltes Maß an Ironie geprägt sind. Das Final-Vaudeville kann, wie bereits in manchen Opéras-comiques vor der Revolution, 54 Teil eines mehrteiligen Finales sein, wie etwa in Kreutzers und Sewrins Jadis et aujourd’hui (1808), 55 das die beliebte Gegenüberstellung von früher und heute thematisiert und mit einem mehrtextigen, kontrovers geführten Ensemble mit vielen Tempo-, Tonart- und Metrumwechseln, einem Dialog mit einem »quiproquo«, der endlichen Klarlegung der Verhältnisse im »dénouement« und dem Vaudeville mit Chorrefrain besteht. Im ersten Couplet geht es um die Vorurteile, die jedem Zeitalter eigen seien, die »Rache« jedes Zeitalters am vorausgehenden und die Feststellung, in der Präsenszeit hätten die Frauen viele Rechte durchgesetzt, im zweiten Couplet um ihre frühere Abneigung gegen die Werbung älterer Herren um ihre Gunst und ihre bis heute unveränderte List und Heimtücke. Das politische Couplet dreht sich um die militärischen Erfolge französischer 110 Herbert Schneider 53 Jean Nicolas Bouilly, Les Français dans le Tyrol, fait historique, Paris 1806. 54 Vgl. Schneider, »Haydns Final-Vaudeville«, S. 302-309. 55 Charles-Augustin de Bassompierre Sewrin und Rodolphe Kreutzer, Jadis et aujourd’hui, Paris 1808. Ah! quel tourment que celui-là! Chaque instant l’augmente … et voilà La peur qui lui prend: c’est le diable. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 111 Generäle und Soldaten und die captatio benevolentiae um die unveränderte Abhängigkeit der Theaterleute von der Zustimmung durch das Publikum: 56 Alexandre Duval, Le retour d’un croisé, ou Le portrait mystérieux (1810), in: ders., Œuvres complètes, Bd. 8, Paris 1823, S. 50-51. EDMONT Jadis plus d’un grand capitaine, Illustra son pays, dit-on; La France vit naître Turenne, Henri, Condé, Bayard, Gaston. Sous de tels chefs à la victoire Les Français marchaient à l’envie; Nos soldats se couvraient de gloire, C’est encor de même aujourd’hui. FRANÇOIS, au public. Jadis on fit beaucoup d’ouvrages, On en fait beaucoup aujourd’hui; Jadis on briguait vos suffrages! On les brigue encor aujourd’hui; Jadis on craignait le parterre, On le craint encor aujourd’hui; Jadis on cherchait à vous plaire, Puissions-nous vous plaire aujourd’hui. François Benoît Hoffmans und Nicolas Isouards Rendez-vous bourgeois (1807) schließt mit einem Final-Vaudeville, innerhalb dessen Couplets 2 bis 4 sich die Personen abwechseln. Nach dem letzten Couplet folgt ein achttaktiges Tutti. In der captatio benevolentiae werden die Zuschauer aufgefordert, die dreifache Hochzeit nicht zu stören. Die Einladung zu diesem Fest wird verknüpft mit der Mahnung, dieses »rendez-vous« (das Reimwort) nicht zu verfehlen. Selbst in einigen Melodramen findet das Final-Vaudeville Eingang, so etwa in Duvals parodistischem »grand mélodrame« Le retour d’un croisé, ou Le portrait mystérieux (1810), 56 das auf das Timbre »Meunier, meunier, tu es cocu« gesungen wird und dessen erstes Couplet eine gattungskritische Devise enthält: FLEUR-D’AMOUR Un mélodrame est assez beau Quand on a, dans ce vieux château, Un brigand vigoureux et beau Qui fait trembler de peur, dans le plus beau moment, La dame et son amant, La nourrice et l’enfant. In den Vaudevillestücken und in den Komödien für die Theater, in denen Vaudeville-Komödien aufgeführt wurden, hielt man bis in die späten 1820er-Jahre am Final-Vaudeville und oftmals auch an der captatio benevolentiae fest und verwendete dafür in der Regel Timbres. Von da an bis in die 1840er-Jahre wird es auch im Vaudeville-Theater zunehmend aufgegeben, weil es die bereits von Nougaret geforderte theatralische Illusion zerstörte und mit der Bitte um Applaus nicht mehr zeitgemäß war. Divertissement und Final-Vaudeville in Deutschland Für die Übernahme des Final-Vaudeville in anderen Ländern, besonders in den deutschsprachigen, war die Kenntnis der Opéra-comique bei Komponisten wie Johann Adam Hiller oder Christoph Willibald Gluck sowie Christian Felix Weiße u.a. grundlegend. Weiße, der 1759 nach Paris reiste und sich dort für die Opéra-comique begeisterte, ist der Dramatiker, der am meisten zur Etablierung des Final-Vaudeville im deutschen »Singspiel« beigetragen hat. Er beendete die meisten seiner »Komischen Opern« mit einem Final-Vaudeville. In den drei Bänden des Anna Amalie gewidmeten Sammeldrucks seiner Libretti von 1778 schließen alle sieben Stücke mit diesem Typus strophischer Schlussgesänge. 57 Weiße verwendet folgende Terminologie und gibt ihnen folgende Gestalt: - Die verwandelten Weiber oder der Teufel ist los (1766 nach Charles Coffey): ohne Titel, 6 Couplets; die Anweisung zur Tutti-Wiederholung des Refrains lautet: »Die Antwort wird von den übrigen allezeit wiederholt«; Dialog; [Final-Vaudeville: ] vierzeiliger Refrain »Alle«, zwei Solo-Couplets mit Refrain, ein Tutti-Couplet, Refrain, ein Solo-Couplet, Refrain, captatio benevolentiae als Duo, dann diese von allen vorgetragen; zwischen den Couplets kurze Dialog-Einwürfe von Andreas; - Der lustige Schuster oder der zweyte Theil vom Teufel ist los (1766, nach Coffey, The devil to pay und Sedaine, Le diable à quatre): »Divertissement«, drei von mehreren Sängern vorgetragene Couplets, ein Refrainvers, captatio benevolentiae; - Lottchen am Hofe (1767, nach Favart, Ninette à la cour): »Divertissement«, acht Couplets, Dialog, zwei Couplets, captatio benevolentiae; - Die Liebe auf dem Lande (1768, nach Favart, Annette et Lubin): Divertissement, »Rundgesang«, sechs Couplets mit zweizeiligem Chorrefrain, captatio benevolentiae, vorgetragen von drei Personen und Chor; - Die Jagd (1770, nach Collé, La partie de chasse de Henri IV, und Sedaine, Le roi et le fermier): »Divertissement«, fünf Couplets mit zweizeiligem Solo- und Chorrefrain, captatio benevolentiae mit Chor; - Der Dorfbalbier (1771, nach Sedaine, Blaise le savetier): ohne Titel, vier Couplets, kurzer Abschlussdialog zwischen Jäckel und Gretchen einerseits und »Allen« andererseits; - Der Ärntekranz (1771): »Aerntegesang«, mit »Chor« überschrieben, sieben Couplets, captatio benevolentiae und abschließender Bauerntanz. Sowohl die Terminologie als auch der Ablauf des »Divertissements« mit zwei strophischen Gesängen, Dialog-Einwürfen und der obligatorischen captatio benevolentiae zeigen, dass sich Weiße eng an den französischen Vor- 112 Herbert Schneider 57 Christian Felix Weiße, Komische Opern, Teil 1-3, Karlsruhe 1778. Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 113 Wie schön ist es, der Menschheit Pflichten üben, Dem Nächsten willig beyzustehn; Aufrichtig alle Menschen lieben, Und andre durch sich glücklich seyn! Ein gutes Werk wirkt jederzeit Die süßeste Zufriedenheit. bildern orientiert hat. Nur einige Details seien hier noch angefügt. Der Vergleich von Annette et Lubin und Die Liebe auf dem Lande belegt, wie eng sich Weiße an Favart angelehnt hat. In Favarts Stück lautet die Folge Vaudeville- Ronde, in Die Liebe auf dem Lande Divertissement-Rundgesang, in der Ronde/ Divertissement die Personenfolge Le seigneur/ Graf (»Prenez part à la Fête/ Lad ich zu den frohen Reihn/ Dieser Hochzeitsfeier ein«), Annette et Lubin/ Zwo Personen (Refrain, daraus »Le bonheur va les unir/ Amor krönt […]/ Sie mit seinem ganzen Glück«) mit der Szenenanweisung: »Les filles du village donnent des rubans à Lubin; les garçons un bouquet à Annette./ Die Mädchen des Dorfes bringen Hännschen Bänder, und die jungen Burschen Blumenkränze, womit sie dieselben tanzend umschlingen.« In der Ronde bzw. dem Rundgesang sind sogar der Strophenbau und die Reimkadenzen gleich, und ein Handlungsdetail ist identisch: Le Bedeau et le Carillonneur apportent, en grande cérémonie, un berceau d’osier enjolivé de fleurs, qu’ils présentent à Annette et à Lubin./ Der Schulmeister und der Brautführer bringen mit grossen Ceremonien eine Wiege von Weiden geflochten und mit Blumen geschmücket. In Le diable à quatre wird zwischen den Couplets zuerst durch den Père Ambroise, dann durch den Blinden »Donnés-moi donc à boire«, in Die verwandelten Weiber durch Andreas »Zu trinken her, oder«, »Heh! was zu trinken her« etc. eingeworfen. Das Final-Vaudeville der Jagd ist dem Lob des »besten« Königs (3. Couplet) gewidmet, der seine Untertanen »wie seine Kinder liebt«, »uns Ruhe, Glück und Freyheit giebt« (erstes Couplet), der sich für alle Menschen einsetzt (Refrain), von dem das Glück aller Personen des Stücks abhängt und der die Schönheit schützt (4. Couplet). Sie wünschen ihm »Segen« (2. Couplet). In der captatio benevolentiae dieses Stücks werden alle in den Couplets dem König zugeschriebenen Eigenschaften und Wohltaten auch dem deutschen Landesfürsten zugeschrieben (»an Gnad’ und Huld ein gleicher ein«), dessen Namen zu nennen »verbeut die Ehrfurcht«. Auch andere Librettisten und Komponisten des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts in Deutschland haben neben dem Aktionsfinale der Opera buffa und dem schlichten Abschlusschor das Final-Vaudeville vielfach eingesetzt. In Christian Friedrich Schwans und Georg Joseph Voglers Der Kaufmann von Smyrna (1771) werden humanistische Ideale der Aufklärung propagiert (der Refrain besteht aus den letzten beiden Versen): Als Errungenschaften werden die Verbrüderung mit den Türken, als Tugenden die Dankbarkeit, die allen Völkern eigen sei, und die Pflichterfüllung genannt. Alle Menschen sind »Kinder eines Blutes« und haben »einen Vater [Gott] nur.« Ähnlich der Obrigkeit ergeben wie in der Jagd zeigen sich die Personen in Die Dorfdeputierten von Heermann und Ernst Wilhelm Wolf (1773, nach Carlo Goldonis Il Feudatario), denn der Baron fordert Gehorsam »als die erste Pflicht«, vergibt seinen Untertanen ihre »Grobheiten«, erlässt für dieses Jahr den »Zehend und den Lehnsbriefkauf« und ermahnt sie, künftig »treue Untersaßen« zu sein. Peter verspricht dafür, »Zinnßen« und Früchte des armen Dorfes regelmäßig zu entrichten und das »Amt als Deputierter« niederzulegen. Im gesprochenen, im Dialog vorgetragenen Refrain wird die gegenseitige Treue von Herrschenden zum Untertanen proklamiert. Die Fürstin ermahnt die Frauen, zukünftig »nicht mehr im Dunkeln« auszugehen (das heißt nichts anderes, als nicht mehr ihre Rechte öffentlich zu vertreten) und als Hauswirtinnen zu Hause zu spinnen. Gretchen will nach der Geburt des Fürstensohnes (»Junker«) »bey seiner Boye wachen.« Im vorletzten Couplet bittet Thoms das Publikum, »Kommt fein zu uns, ihre kennt das Haus,/ Mit dem gemalten Giebel.« Zuletzt wird von einer jungen Bäuerin dem Herrscherpaar eine zahlreiche Nachkommenschaft gewünscht. Dieses Weimarer Final-Vaudeville von 1773 ist als politisch reaktionär zu bezeichnen. In Johann Andrés Der Töpfer (1774) geht es im Final-Vaudeville nur um private Konflikte und das Liebes-Glück. In Meisners und Joseph Schusters Alchymist (1778, nach M.A. le Gands L’Amour diable) bildet der dem Lob der Liebe gewidmete Chor den Rahmen für drei Couplets mit Solo-Chor-Refrain. Darin wird die Schönheit des von »tausend Sklaven/ Tief in tiefstem Schacht« gesuchten Goldes - ein Hinweis, der ohne sozialkritische Note verbleibt -, von Diamanten und Perlen bewundert, es werden schlafgestörte Nächte und »tränenschwere« Morgen erwähnt und die Wohltaten des Weins gelobt. Stephanie der Jüngere und Ignaz Umlauf schufen in Die Puecefarbenen Schuhe, oder die schöne Schusterinn (1779, »Aus dem Französischen des Herrn Baron von Serriettes frey übersetzt und bearbeitet«) eine eigene Gestalt des Schlussteils ihres »komischen Singspiels«, indem sie drei verschiedene Gesänge, zwei des Tutti - der erste mit zwei Couplets ein Vierzeiler mit Kreuzreimen, der zweite, zum Abschluss gesungene ein Sechszeiler mit Paarreimen - und solistische Couplets mit Kreuzreimen alternieren lassen. Die ersten beiden solistischen Couplets dienen der Ermahnung, privates Fehlverhalten zu vermeiden, in den anderen beiden freuen sich Hanns und Gretchen auf die Hochzeit, der nach unüberwindlich erscheinenden Widerständen der Vater des Bräutigams schließlich zugestimmt hat. »Alle« apellieren an jeden einzelnen, dem Nächsten Liebe und Vertrauen und den 114 Herbert Schneider Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 115 Militärs Achtung entgegenzubringen, um Konflikte mit ihnen zu vermeiden. Im letzten Tutti werden Scherz und »Späßchen« als wichtig für das Zusammenleben gelobt. In den Librettodrucken von Der Kaufmann von Smyrna, Der Alchymist und Die Puecefarbenen Schuhe fehlt eine Bezeichnung für das Final-Vaudeville, in den Dorfdeputierten ist es - bei italienischer Vorlage - als »Rundgesang« bezeichnet. Der Vergleich dieser repräsentativen Final-Vaudevilles deutscher Sprache mit den beiden Beispielen bei Mozart zeigt, wie der Komponist insbesondere in Die Entführung aus dem Serail mit der musikalischen Realisierung der Textvorlage durch die Abwandlung und Durchbrechung des vorgegebenen strophischen Ablaufs den musikdramatischen Zusammenhang mit dem vorausgehenden Werk hergestellt hat. Konflikte zwischen einigen dramatis personae sind auf geniale Weise in die höhere Perspektive der Anpreisung des Humanitätsideals eingefügt. Nach den Huldigungen Belmontes und Konstanzes an Bassa Selim - die beiden Refrain-Verse werden vom Quintett wiederholt - kommen von Pedrillos Couplet an, in dem er an überstandene Gefahren erinnert, diese wieder auf den Plan. Blonde bricht nach der Danksagung im Couplet aus dem Refrain aus (»Denn seh er nur das Tier dort an,/ Ob man so was ertragen kann«) und provoziert damit Osmins erneuten Zorn. Nach dem dritten Vers schert er aus dem Couplet aus und erneuert seinen Hassausbruch aus seiner Arie Nr. 3, T. 147ff. Das Quartett singt daraufhin das letzte Couplet (»Nichts ist so häßlich als die Rache […] Ist nur der Großen Seelen Sache«) lediglich im Rhythmus des Vaudeville, und erst Konstanze (»Wer dieses nicht erkennen kann,/ Den seh man mit Verachtung an«), gefolgt vom Quartett kehrt mit der Variante des Refrain-Texts zum letzten Viertakter des Vaudeville zurück, bevor der Chor der Janitscharen erklingt. Im Schauspieldirektor (1786) thematisiert Mozart im »Schlussgesang« die Solidarität unter den Künstlern, die ästhetische Maxime, »Halte Kunst, Natur gleich wert«, und die Urteilshoheit des Publikums, um die sich Buff im letzten Couplet allerdings hinwegsetzt. Friedrich Heinrich Himmel gehört zu den Opernkomponisten, die noch lange am Final-Vaudeville festhielten. In Fanchon, das Leiermädchen (1804) 58 folgt dem dreistrophigen Lied Fanchons das »Finale«, bestehend aus Couplets der Solisten und dem Tutti-Refrain. In den Couplets wird der Zauber beschrieben, den die Musik Fanchons auf die Menschen ausübt, die Tugendhaftigkeit der Menschen angemahnt und zum Abschluss in holprigen Versen um die Gunst des Publikums geworben: 58 Himmel, Friedrich Heinrich, Fanchon, das Leiermädchen, Leipzig 1804. Am Ende des letzten Akts folgt in seinem Kobold (1813) 59 nach einem Terzett mit der Lösung des Konfliks der »Schlußgesang«, ein Quartett und das von den Solisten vorgetragene Vaudeville mit Chorrefrain (»Möge nun ein Zauberband/ Ewig unser Herz umwinden,/ Freundschaft und die Liebe binden/ Nun auf immer unser Hand.«), wobei hier jedes Couplet neu vertont ist. Auch im deutschen »Schauspiel mit Gesang« findet man gelegentlich Final-Vaudevilles von Erfolgsautoren wie August von Kotzebue. In Der Eremit von Formentera (1787) 60 wird darin ein Ethos der Verständigung der Gläubigen verschiedener Religionen gepredigt, so besonders im einleitenden Chor, der als Refrain wiederholt wird, und auch im fünften Couplet: 116 Herbert Schneider 59 Friedrich Heinrich Himmel, Der Kobold, Wien 1813. 60 August von Kotzebue, Theater, Wien, Kaulfuß o.J., Bd. 1, Der Eremit von Formentera (1787). FANCHON Die Liebe diesem Mann Dem Leiermädchen gab; Doch Fanchon tritt nur dann Mit sich zufrieden ab; Wenn ihr ergötzt zu guter letzt Euch freundlich zu mir kehrt, Und gerne hört Die Töne von Fanchons Leier. CHOR Ziehet hin! Ziehet hin in Frieden! Unser alter Gott mit Euch! Unser Glaube ist verschieden, Unsre Herzen sind sich gleich. PEDRILLO Also wären wir einander Alle, alle gleich, Alle kämen auch die Türken Mit ins Himmelreich? Nun ich will in Gottes Nahmen Nicht zuwider seyn! Zwar sie nehmen uns die Weiber! Doch sie lassen uns den Wein. Ja, gewiß! wir sind einander Alle, alle gleich! Juden, Christen, Türken, Heiden, Wandeln, ohne sich zu meiden, Hand in Hand in’s Himmelreich! Drum so ziehet hin in Frieden … Was Pedrillo noch etwas ironisiert bzw. in Frage stellt, wird abschließend vom Chor als die Quintessenz des Stückes resümiert: * Das Final-Vaudeville nimmt seinen Ausgang im Theater Gherardis und kommt mit dem Théâtre de la Foire zur Blüte. Im Nouveau Théâtre Italien und im Theater Favarts wird es ebenso zahlreich praktiziert und auch zum Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 117 beliebten Finale-Gesang der seit der Querelle des Bouffons neu komponierten Opéra-comique, deren internationale Verbreitung die Übernahme im deutschsprachigen »Singspiel« und auch in der Komödie mit Gesang zur Voraussetzung hat. Im Théâtre de la Foire diente es oftmals der Fiktionsdurchbrechung und Episierung und damit der Überwindung der Distanz zwischen Gesellschafts- und Theaterspiel. Theatralische und soziale Konvention können hier in eins treten und stellen damit antiillusionistische Verfahren im Theater dar. Das Gewicht, das man dem Final-Vaudeville im 18. Jahrhundert in Frankreich beimaß, lässt sich daran ablesen, dass in Theaterlexika der Brüder Parfaict 61 (hier meist neben den Inhaltsangaben, Final-Vaudevilles oftmals nur in Auszügen) und in Werkeditionen mehrerer Autoren der Text der Final-Vaudevilles vollständig wiedergeben wird, wenn der Text des Dramas selbst fehlt. In den maßgebenden hohen musikdramatischen Gattungen des 19. Jahrhunderts spielt das Final-Vaudeville keine Rolle mehr, wohl aber in niederen und mittleren Gattungen wie der Opéra-comique, der Dialogoper und vor allem im dramatischen Vaudeville. Für dramatische Gattungen, denen in Frankreich das Recht nicht zustand, Originalmusik auf der Bühne zu verwenden, publizierte Pierre Capelle in La Clé du Caveau (erste Edition 1810) die Timbres und andere Gesänge, eine Anthologie, die in der 4. Edition von ca. 1840 nicht weniger als 251 Final-Vaudevilles enthält. Wenn man die zahlreichen Final-Vaudevilles hinzurechnet, die nur unter dem Textincipit unter der Rubrik »Air« darin figurieren, dann ist die Zahl noch größer. 62 Viele der französischen Final-Vaudevilles waren außerhalb des Theaters außerordentlich erfolgreich und gingen in die Oralität ein, so etwa das aus Quétants und Philidors Le Maréchal ferrant (1761), das unter dem Refrain-Incipit »Tôt, tôt, tôt, battez chaud« weit über die Revolution hinaus populär war und parodiert wurde. Manche Finale-Themen von Symphonien der Epoche zwischen 1750 und 1800 kommen den Final-Vaudevilles recht nahe, wie etwa die Finali der Symphonien Nr. 27, 30, 46, 50, 55, 61, 77, 83 und 85 von Joseph Haydn zeigen. Man vergleiche etwa seine Themen des »Finales« von Il Mondo Della Luna und des Finales der Symphonie Nr. 77. Bezieht man französische Symphonien (und eventuell auch Streichquartette) mit ein, so ergibt sich hier ein neues Forschungsfeld, zu dem hier angeregt sei. 61 François Parfaict, Mémoires pour servir à l’histoire des spectacles de la Foire, Paris 1743; Claude Parfaict/ Godin d’Abguabe, Dictionnaire des théâtres, Paris 1756, 6 Bde.; François Parfaict/ Claude Parfaict, Histoire de l’Ancien Théâtre Italien depuis son origine en France, Paris 1767. 62 Vergleicht man die Anzahl von Final-Vaudevilles in den genannten französischen Melodie-Anthologien mit den großen deutschen Liedanthologien, z.B. August Härtels Deutsches Liederlexikon (1869) oder Gottfried Wilhelm Finks in zwölf Ausgaben zwischen 1844 und 1902 vorliegenden Musikalischem Hausschatz der Deutschen, wird man auf keine vergleichbare Anzahl kommen. 118 Herbert Schneider Anhang 1 Théâtre de la Foire (ohne selbstständige Prologe) Band Branle Vaudeville Tanz Dialog/ Timbre I Le temple du destin 1715 Le tombeau de Nostradamus 1714; La ceinture de Vénus 1715 Arlequin Mahomet 1714; Arlequin sultane favorite 1715 Arlequin roi de Serendib 1713; Arlequin Thétis 1713; Arlequin invincible 1713; Foire de Guibray 1714; Parodie de l’opera de Télémaque 1715 II Arlequin défenseur d’Homer 1715; Les arrêts de l’Amour 1716; Arlequin Hulla 1716 Arlequin Colombine 1715; Arlequin traitant 1716; Le Temple de l’ennui 1716; Le tableau du mariage 1716; Le Pharaon 1717 Les eaux de Merlin 1715 L’école des amans 1716 III Les animaux raisonnables 1718; Le monde renversé 1718; Les funérailles de la foire 1718 La princesse de Carizme 1718; L’isle de amazones 1718 La querelle des théâtres 1718; Les amours de Nanterre 1718 Le jugement de Paris 1718; Le rappel de la Foire à la vie 1721 IV La statue merveilleuse 1719; La forêt de Dordone 1721 La boîte de Pandore 1721; La tête noire 1721 Arlequin roi des ogres 1720; La queue de vérité 1720 Les diable d’argent 1720; Arlequin Endymion 1721 V Le remouleur d’Amour 1722 Le régiment de la Calotte 1721; L’ombre du cocher poète 1722; Le jeune vieillard 1722; La force de l’Amour 1722; La foire des fées 1722 Pierrot Romulus 1722 - VI - L’enchateur mirliton 1725; Le temple de la mémoire 1725; Les enragés 1725; Les pèlerins de la Mecque 1726; Les comédiens corsaires 1726; Les amours déguisés 1726; Achmet et Amalzine 1726 L’obstacle favorable 1726 VII - La Pénélope moderne 1728; La princesse de la Chine 1729; L’impromptu du pont-neuf 1729; Le corsaire salé 1729; Les couplets en procès 1730; La reine du Barostan 1730; Les amours de Protée 1728; Les spectacles malades 1729; L’opéracomique assiégé 1730; VIII - La grand-mere amoureuse 1726; L’industrie 1730; Les routes du monde 1730; L’indifférence 1730; L’amour marin 1730; L’espérance 1730 Zémine et Almanzor 1730; Le mariage du caprice et de la folie 1730; - IX - La sauvagesse 1732; Les mariages de Canada 1734; Le mari préféré 1736; Les trois commères 1723 Roger de Sicile 1731; Les désespérés 1732; Sophie et Sigismond 1732 La première représentation 1734 X - Le réveil de l’opéra-comique 1732; La lanterne véridique 1732; Le rival de lui-même 1732; La mère jalouse 1732; L’allure 1732; L’isle du mariage 1733; Le retour de l’opéracomique 1734; Le père rival 1734; Les audiences de Thalie 1734; Les petites maisons 1732; L’Amour desœuvré 1734 - - Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 119 Anhang 2 Branles (S=Solo; Ch=Chor; C.=Couplet) Bd./ Air Nr. R-Verse S/ Ch captatio Metrum Rhythmus Komponist I 185 1 S/ - 6. C. 2 Gillier II 181 3 S/ idem 5. C. 2 Giller II 187 2 S/ idem - 2 Aubert II 188 3 S/ idem - 2 Aubert III, 221 1 S/ idem 5. C. 2 Aubert III 210 -/ - - 2 Gillier III 217 2 S/ idem - 2 Gillier IV 121 1 S/ idem 4. C. 2 - IV 133 3 S/ idem 3. C. 2 Aubert V 114 3 S/ idem - 6/ 8 »Vivons pour les fillettes«, Timbre Vaudevilles III, 208 2 Chor zu Beginn/ 1 S - La Coste III, 228 2 S/ idem 4. C. 6/ 8 Gillier IV fehlt 1 S/ - 4. C. - - IV fehlt 2 S/ idem 4. C - - V 82 3 S/ idem 5. C 2 Aubert V 89 2 S/ idem 4. C. 3/ 8 »Air des poètes« Timbre V 149 2 S/ idem 6. C. 6/ 8 Mouret V 152 3 S/ idem 4. C. 2/ 4 Mouret V 154 3 S/ idem 6. C. 3 Mouret VI 7 -/ - - 2 Gillier VI 32 2 S/ - 5. C. 2 Gillier VI 55 4 S/ idem 5. C. 2 Gillier VI 98 Einwortrefrain S/ - - 2 L’Abbé VI 100 2 S/ - 6. C. 2/ 4 L’Abbé 120 Herbert Schneider VI 119 3 S/ - 6. C. 6/ 8 L’Abbé VI 162 3 S/ idem 6. C. 6/ 4 Gillier VII 44 Einwortrefrain S/ - 9. C. 3 Gillier VII, 117 1 S/ idem 6. C. 3/ 8 Gillier VII 161 1 S/ - 4. C. 3 Gillier VIII 27 Einwortrefrain S/ - 6. C. 6/ 8 »Coquerico« Timbre VIII 31 2 S/ - 5. C. 3 Gillier VIII 83 Einwortrefrain S/ - 6. C. 2 Gillier VIII 106 Einwortrefrain S/ - 5. C. Gillier VIII 122 1 S/ - 6. C. 3 Gillier VIII 140 - 5. C. 2 Gillier IX 148 Einwortrefrain S/ - 9. C. 2 Gillier IX 153 1 S/ - 6. C. 3 Gillier IX 157 Halbvers 1 S/ - - 2 Gillier IX 158 4 S/ - 4. C. 2 Gillier X 6 1 S/ - 4. C. 2 Gillier X 18 Einwortrefrain S/ - 7. C. 2 Gillier X 22 Einwortrefrain S/ - 7. C. 2 Gillier (1. C. Textvariante) X 29 1 S/ - 6. C. 2 Gillier X - 1/ 2+1 S/ - 6. C. - »De l’allure courante« Timbre X 43 2 S/ - 12. C. 2 Corrette X 50 2 S/ - 11. C. 6/ 8 Corrette X 53 1 S/ - 7. C. 6/ 8 Corrette X 57 Einwortrefrain S/ - 7. C. 2 Corrette X 59 2 S/ - 6. C. 2 Travenol X 66 Zweiwortrefrain S/ - 6. C. 2 Desrocher Zur Entwicklung und Bedeutung des Final-Vaudeville 121 Band Vaudeville Dialog Tanz I Agnès de Chaillot 1723; Arlequin au Parnasse 1732 Œdipe travesti 1719; Artemire 1720; Le mauvais ménage 1725; Le chevalier errant 1726, La méchante femme 1728; Les enfants trouvés 1732; Le Bomus 1731 - II La rupture du carneval et de la folie 1719; Hercule filant 1721; Parodie 1723; Les noces d’Arlequin et de Silva 1724; Amadis cadet 1724 Arlequin Persée 1722 Le serdeau des théâtres 1723 III Momus exilé 1725; Le chaos 1725; Arlequin Atys 1726; L’Isle de la folie 1727 Armide 1725 (Timbre); Médée et Jason 1727; Pirame et Thisbée 1726; Arlequin Roland 1727 - IV Alceste 1728 Arlequin Bellérophon 1728; La bonne femme 1728; Arlequin Tancrède 1729; Don Mico, intermède 1729; Hésione 1729; Arlequin Phaéton 1731 Le joueur 1729 Anhang 3 Les Parodies du Nouveau Théâtre Italien, 1738 Literatur (Die im Aufsatz ausgewerteten Einzeldrucke von Theaterstücken werden hier nicht mehr genannt.) Quellen Anseaume, Louis, Théâtre de M. Anseaume, Paris 1766. Duval, Alexandre, Œuvres complètes, Paris 1823. Favart, Charles-Simon, Théâtre de M. Favart, Paris 1763-1772. Gherardi, Evariste, Le Théatre italien de Gherardi, Amsterdam 1701. Houdar de La Motte, Antoine, Œuvres de Monsieur Houdar de La Motte, Paris 1754. Lesage, Alain René und d’Orneval, Théâtre de la Foire ou l’opéra-comique, Paris 1737. Le Nouveau Théatre Italien ou Recueil général des comédies représentées par les comédiens italiens, Paris 1753. Marivaux, Pierre, Théâtre complet, texte préfacé et annoté par Marcel Arland, Paris 1949. Pannard, Charles-François, Théâtre et Œuvres diverses de Pannard, Paris 1763. Recueil général des opéra bouffons qui ont été représentés à Paris, avec les Ariettes en Musique, Paris [recte Liège] 1771. Piron, Alexis, Œuvres complettes d’Alexis Piron publiées par M. Rigoley de Juvigny, Paris 1776. Piis, Antoine-Pierre-Augustin de, Œuvres choisies, Paris 1810. Sekundärliteratur Bartlet, M. Elisabeth C., Art. »Vaudeville final«, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Opera (NGO), Bd. 4, London 1992, S. 905. Schneider, Herbert, »Haydns Final-Vaudeville und ihre Vorgeschichte«, in: Eva Badura-Skoda (Hrsg.), Joseph Haydn. Bericht über den Internationalen Haydn-Kongreß Wien 1982, München 1986, S. 302-309. Ders., Art. »Vaudeville«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), MGG2, Sachteil, Bd. 9 (1998), Sp. 1327-1332. Ders., »Übersetzungen französischer Opéras-comiques für Marchands Churpfälzische Deutsche Schauspielergesellschaft«, in: Ludwig Finscher/ Bärbel Pelker/ Rüdiger Thomsen-Fürst (Hrsg.), Mannheim. Ein Paradies der Tonkünstler? Frankfurt 2002, S. 387-434. 122 Herbert Schneider Klaus Ley Zum glücklichen Ende der Rettungsoper (Paisiello, Cherubini, Spontini) Offensichtlich mit Erstaunen konstatierte die Musikforschung Anfang der 1960er-Jahre, dass der Begriff »Rettungsoper« seine Prägung erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte. 1 Damals machte er sofort Karriere; nur im Italienischen wurde keine Entsprechung gebildet. Bis heute erscheint im Englischen »rescue opera«. Im Französischen redet man von »pièce à sauvetage«; dazu gibt es die Erweiterung »opéra rédemption«, die den Zusammenhalt fasst, wie er in Wagners Tannhäuser oder Parsifal einen späten Höhepunkt erlebte. Die Kernbedeutung des Begriffs, die sich zunächst im Rahmen von Leonore/ Fidelio - also ursächlich ausgerichtet auf das Libretto Bouillys - entfaltet hat, ist immer hinreichend klar umrissen gewesen. Das Interesse war allerdings zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen durchaus auf besondere Ausformungen der »pièce à sauvetage« bezogen: Nach der religiös-mystische Erfahrungen vermittelnden »Erlösungsoper« lag der Schwerpunkt in den letzten Jahrzehnten vorrangig auf der stark politische Akzente setzenden »Revolutionsoper«. Diese Ausprägung ist, bereits als »Epiphänomen« privilegiert durch die politischen Rahmenbedingungen, an Frankreich gebunden, wo die Rettungsoper als besonders geschätzte, wenngleich namenlos bleibende Untergattung der »opéra comique« ihren Anfang genommen hat. 2 Dass die »Revolutionsoper« nur einen, wenngleich bedeutenden Seitenstrang einer längeren Entwicklung darstellt, ist seit einiger Zeit unbestritten. Entsprechend müsste sich die Aufmerksamkeit jetzt stärker auf die Anfänge des neuen Typs von Musiktheater lange vor der Revolution richten. Aus welchen Voraussetzungen sich die Form der »Rettungsoper« so erfolgreich 1 Wichtige Erwähnungen - so Klobs Rede vom »sogenannten Rettungs- und Befreiungsstück« (1913) und Dyneley Hussey englische Wiederaufnahme des Begriffs (1927), gleichfalls im Zusammenhang mit Fidelio - sind zusammengestellt bei Rey Morgan Longyear, »Notes on the rescue opera«, in: The Musical Quarterly 14/ 1959, S. 49-66. 2 Heinz Wichmann zitiert das Diktum von Hermann Abert, die »opéras comiques« seien geradezu »die Sturmvögel der Revolution« (Grétry und das musikalische Theater in Frankreich, Halle 1929, S. 8); zur älteren Zuordnung vgl. auch Max Dietz, Geschichte des musikalischen Dramas während der Revolution bis zum Directoire (1787-1795) in künstlerischer, entwickeln konnte, ist allerdings ein noch kaum gelöstes Problem. 3 Dass dabei auch der italienische Anteil eine bedeutende Rolle spielte, wird nicht angemessen wahrgenommen. In Italien selbst sind, vor allem über das anhaltende Interesse an Rossini, nur die für die spätere Entwicklungsstufe wichtigen Faktoren der neuen Form, die zur »semiseria« überleiten, in der Diskussion zwar bis heute durchaus gegenwärtig; nach wie vor aber wird auch dort der Revolutionsoper und damit eher den politischen als den ästhetischen Aspekten die größere Bedeutung zugemessen. 4 Wie die genaueren Zusammmenhänge aussehen, bleibt offen. 5 Die jüngsten Etappen der Forschungsgeschichte zur »Rettungsoper« lassen sich am Beispiel der drei Artikel in The New Grove Dictionary aus den letzten Auflagen verfolgen. Winton Deans Beitrag von 1980 ist von eindeutiger Knappheit; er betont das politische Moment des Begriffs, den er fast synonym mit »Revolutionsoper« verwendet. 6 Der in der Auflage von 1992 nachfolgende David Charlton problematisiert ausdrücklich den von seinem Vorgänger eher unkritisch verwendeten Terminus. Er geht von einer Neudefinition aus, die er in einer Vorstudie ausführlicher darlegt. 7 Wenn er den Begriff auch für eher wenig erkenntnisträchtig hält, empfiehlt er doch aus pragmatischen Gründen, daran festzuhalten. 8 Er präsentiert abschließend sogar ein treffendes Unterscheidungskriterium: »In the broadest sense, a ›rescue‹ is a form of happy dramatic resolution, or turn of events«. 9 Charlton 124 Klaus Ley sittlicher und politischer Beziehung, Wien 1893 (Nachdruck Hildesheim 1970). 3 Zum Aufriss der Problematik vgl. auch Gabriele Buschmeier, Die Entwicklung von Arie und Szene in der französischen Oper von Gluck bis Spontini, Tutzing 1991, S. 89-103. 4 So Carli Ballola, »Il panorama italiano fra Sette e Ottocento«, in: Alberto Basso (Hrsg.), Musica in scena. Storia dello spettacolo musicale, Bd. 2: Gl’italiani all’estero. L’opera in Italia e in Francia, Turin 1996, S. 244. 5 In Kurzfassung wird - anlässlich Cherubinis, des bedeutendsten Vertreters der Gattung - global geredet von den »generi minori dell’ ›opéra comique‹ e della ›pièce à sauvetage‹ (sua romanzesca filiazione) e le scene del teatro Feydeau«, die er während seiner frühen Zeit in Frankreich der »tragédie lyrique« vorgezogen habe. (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 243). 6 Winton Dean, Art. »Rescue opera«; in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 1980, Bd. 15, S. 755. 7 David Charlton, »On redefinitions of rescue opera«, in: Malcolm Boyd (Hrsg.), Music and the French Revolution, Cambridge 1992, 169-188; weitere Vorarbeiten in: Grétry and the growth of Opéra-Comique, Cambridge 1986. 8 David Charlton, Art. »Rescue opera«, in: Stanley Sadie, (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Opera, London 1992, (4 Bde.), Bd. 3, S. 1293; in der neuen Ausgabe (Second Edition) des The New Grove Dictionary of Music and Musicians (London 2001, Bd. 21, S. 209) argumentiert er vorsichtiger. 9 Bereits in dem Aufsatz »On redefinitions« nennt er zusätzlich eine Reihe wichtiger und weiterführender Aspekte (»gothic«, »motion«), die er allerdings nicht in einen größeren Zusammenhang stellt, sondern nur zur weiteren Differenzierung der mit dem Begriff »Rettungsoper« gefassten Phänomene bringt; dabei nutzt er die frühe Stufe der For- Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 125 beschreibt hier den notwendigen Schluss dieses Operntyps als Lieto fine und setzt die Rettung oder glückliche Wendung in Bezug »to the ›deus ex machina‹ of classical ›opera seria‹«. Seine Feststellung trivialisiert er aber sofort, indem er sie zur Leerformel entwertet: »Significantly, no one has proposed a category of ›deus ex machina‹ operas.« 10 Der in dem Argument steckende Zugang zur Problematik wird versperrt, weil auch Charlton letztlich bei der Konzentration auf die revolutionäre und die nachrevolutionäre Phase stehenbleibt. Dass hier ein Gegensatz zwischen den Gattungen, der zusätzlich zur Antithese »tragédie lyrique« - »opéra comique« manifest ist, genutzt werden und so ein wichtiges Unterscheidungskriterium hergeben könnte, wird übersehen. Die Begründungen des einen wie des anderen Oppositionspaars verlaufen historisch und strukturell nicht deckungsgleich. Während der Gegensatz zwischen hohen und niederen Gattungen zur Zeit der Auflösung des überkommenen Normenkanons in einem neuen Mischungsverhältnis aufgeht, etabliert sich der Antagonismus von »lieto fine« als »deus ex machina«-Lösung und als nur durch »Rettung« herbeigeführte Wende neu und mit zeittypischer Begründung. Diese Asymmetrie kann, wie sich zeigen wird, erkenntnisfördernd genutzt werden. 11 Um also die Rettungsoper in ihren unterschiedlichen Manifestationen angemessen zu begreifen, muss sie vom Ende her gedacht werden; vom Lieto fine ausgehend ist das Werkganze und seine Strukturierung zu bestimmen. Die Unterscheidung von gegensätzlichen Typen innerhalb der »pièces à sauvetage«, wie sie schon Charlton vorschlägt, ist dabei zunächst nachrangig. Auch für ihn steht die »humanitarian opera«, die er von der mengeschichte als Ausgangspunkt. - Zu der zukunftsweisenden Dimension dieses Aspekts für die Parallelisierung von Oper und Roman im frühen 19. Jahrhundert vgl. mein Nachwort zur deutschen Übertragung von Stendhals Vie de Rossini; in: Stendhal/ Amadeus Wendt, Rossini’s Leben und Treiben (Nachdruck der Ausgabe 1824), Hildesheim 2003, S. 472ff. 10 So hatte schon W. Dean die Gattung und ihre zentralen Elemente definiert, allerdings - entsprechend den damaligen Präferenzen - ohne jede Berücksichtigung der künstlerischen Zusammenhänge und ganz unter Ausblendung gattungsspezifischer Fragestellungen: »type of opera (more strictly ›opéra comique‹), very popular in France during the years after the 1789 Revolution, in which the hero or heroine is delivered at the last moment either from the cruelty of a tyrant or from some great natural catastrophe (or both), not by a ›deus ex machina‹ but by heroic human endeavour. It reflected the secular idealism of the age and often carried a social message.« (Dean, »Rescue opera«, S. 755). 11 Die durchaus richtige Beobachtung einer - bereits in den 70er-Jahren einsetzenden - Veränderung des Publikumsgeschmacks ist allein allerdings als Begründung nicht hinreichend: »The 1789 revolution ensured the true popularization of theater and opera in certain French cities, and many operas thereafter had simple, melodramatic moral structure. The end (the actual celebration of social freedom) justified the means (the simplistic dramatic portrayal of right and wrong).« (Charlton, »Rescue opera«, in: Opera Grove, Bd. 3, S. 1293). erst in der Revolutionszeit ausgebildeten »tyrant opera« abtrennt, umfassend im Vordergrund. 12 Daneben bringt er, als nur bedingt zugehörige Form, in seiner Typologie eine dritte Größe ins Spiel, die er aber in den allgemeinen Rahmen nicht voll einzuordnen weiß: »A separate, third class of opera had no connection with detention, but used the culmination of a natural catastrophe (at some level equating with divine justice) and a rescue from it: the Paul et Virginie operas by Rodolphe Kreutzer (1791) and Le Sueur (1794), and Cherubini’s Elisa ou le voyage aux glaciers du Mont Saint- Bernard (also 1794).« 13 Wichtiger als diese - in sich noch wenig schlüssig erscheinenden - Unterscheidungen ist, wie gesagt, die genauere Fassung des Rettungsgedankens als Gegenstand des Lieto fine. Auch die dazu von Charlton angebotene Erklärung ist durch die anhaltende Orientierung an der Revolutionsoper eher einseitig. Seine durch den enggefassten politischen Rahmen bedingte These lautet, allein ausschlaggebend für die Rettungsoper sei die eigenwillige Akzentuierung des Freiheitsgedankens gewesen; diese lasse sich erstmals in den Texten des damals hochgeschätzten Sedaine finden. Ansatz und Begründung greifen hier nicht nur deshalb zu kurz, weil ja der von Sedaine emphatisch vertretene Freiheitsgedanke seinerseits dem umfassenden Programm der Aufklärung verpflichtet ist, dieses aber - vor allem hinsichtlich seiner kunsttheoretischen Umsetzung - weiter keine Berücksichtigung findet. 14 Darüber hinaus bleibt vor allem zu erklären, warum die eigenständige Umsetzung der Freiheitsthematik und ähnlicher Konzepte gerade im Musiktheater so einzigartig und folgenreich war. 126 Klaus Ley 12 »The operas that influenced Fidelio, via Bouilly’s and Gaveaux’s Léonore of 1798, nevertheless fall into two classes: ›tyrant‹ operas and ›humanitarian‹ operas. ›Tyrant‹ operas personified injustice by means of an evil character, who deprives some person of their liberty. (…). ›Humanitarian‹ operas did not portray the tyrant, if there was one at all, but stressed the individual sacrifices necessary in righting a wrong, and in obtaining a person’s freedom.« Als Kernziel des Genres wird festgehalten: »Historically, all these works had the purpose of demonstrating an act of humanity.« Dabei verweist D. Charlton erneut auf die Analogie der Künste: »In painting, the same trend is called the ›exemplum virtutis‹ by Rosenblum (= Transformations in Late Eighteenth-Century Art, Princeton) (1967).« (ebd., S. 1294). 13 Die Gliederung baut Charlton in der sonst ohne gravierende Veränderungen erfolgten Neuauflage seines Artikels, im New Grove von 2001, aus; von der Typologie gleichfalls abgelöst steht der Hinweis auf ein »closer involvement of opera with ›real-life situations‹ (H. Rosenthal/ J. Warrack: The concise Oxford Dictionary of Opera, 2/ 1979)«. (Charlton, »Rescue opera«, in: New Grove 2001, Bd. 21, S. 209; vgl. Charlton, »On redefinitions«, S. 187). 14 Charlton deutet selbst eine weitergehende Argumentationsmöglichkeit an, wenn er als Ergebnis der Revue von Sedaines »Rettungen« feststellt: »In each case Sedaine was concerned to set up a moral dilemma, in which the theme of ›unjust detention‹ should provide one of the dramatic mainsprings. The reasons for the detention are different in each opera, and there is no uniformity of treatment concerning the character or characters responsible for the detention, or the degree of their culpability.« (Charlton, »Res- Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 127 Einen hinsichtlich dieser Fragen gleichfalls noch wenig entschiedenen Korrekturansatz gegenüber der politischen Betrachtungsweise und ihrer monokausalen Erklärungsmuster vertritt Sieghard Döhring in dem Aufsatz »Die Rettungsoper. Musiktheater im Wechselspiel politischer und ästhetischer Prozesse« (1989). 15 Wenngleich er die Anfänge der neuen Form verstärkt einbezieht, resigniert er doch frühzeitig angesichts der Vielzahl von Varianten und unüberschaubar scheinenden Zusammenhängen. Wegen der offenbar proteushaften Formen entscheidet er sich, die Fülle der Rettungsopern nur von Fall zu Fall, in einzelnen Beispielen, die für sich selbst stehen, zu analysieren. Wenn also der Gewinn auch dieser Studie die Herauslösung der Gattungsproblematik aus der engen Anbindung an die politischen Ereignissen von 1789 ist, so kann die Klärung des Sachverhalts doch nicht auf die bei Charlton und Döhring bezogenen Positionen - inhaltsbezogener Reduktionalismus bzw. Einzelanalyse - begrenzt bleiben. Wie vielschichtig und vielgestaltig die Beziehungen der Rettungsoper zur Tradition aussehen, wenn bei offener Erwartungshaltung ein Zugriff gesucht wird, hat Helga Lühning, gleichfalls 1989, am Beispiel von Fidelio gezeigt. Sie untersucht für das Genre und seine Beschaffenheit charakteristische Handlungs- und Gestaltungselemente, indem sie sie, weit über die Anfänge der »pièce à sauvetage« hinaus, bis in die Frühzeit der Operngeschichte verfolgt und so zugleich einzuordnen sucht. 16 Eine genauere Verortung und eine Klärung der Form ihrer Vermittlung findet allerdings ebenfalls nicht statt, weil zusätzlich zum Nachweis der Vorstufen keine Kriterien der Unterscheidung bereitstehen. Um diese zu gewinnen und den Einsatz der Mittel als zeittypisch bedingt begreifbar zu machen, erweist sich, historisch und typologisch, eine Eingrenzung als notwendig. 17 Hier stellt sich auch wieder die Frage nach dem Anteil, der - als dem beständigen Modell der französischen Opernentwicklung - dem italienischen Theater zukommt. 18 cue opera«, in: Opera Grove, Bd. 3, S. 1294). Bei Sedaine, auf dessen Beitrag er die hohe Emotionalität der Rettungsoper zurückführt, werde die gesuchte Annäherung der neuen Musikbühne zum Volkstheater am weitesten vorangebracht. 15 Döhring, Sieghart: »Die Rettungsoper. Musiktheater im Wechselspiel politischer und ästhetischer Prozesse«, in: Helga Lühning/ Sieghard Brandenburg (Hrsg.), Beethoven. Zwischen Revolution und Restauration, Bonn 1989, S. 109-136. 16 Helga Lühning, »Florestans Kerker im Rampenlicht. Zur Tradition des Sotterraneo«, in: Lühning/ Brandenburg (Hrsg.), Beethoven, S. 137-204. 17 In dem Beitrag »Il teatro d’opera dopo Metastasio« (in: Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 180ff.) wird etwa die Tendenz zum Gespenstischen (Sotterraneo etc.) als Teil der »sensibilità preromantica« zu Recht zusammengebracht mit der Ossian-Begeisterung und dem »cesarottismo«. 18 Ein etwas ungeordnet bleibendes Bündel an Voraussetzungen italienischer Provenienz in der Rettungsoper bietet, gerade bezüglich Cherubini, die Beschreibung in dem Band La musica in scena; voraus geht dem die Skizze des französischen Anteils: »L’elemento realistico e quello romanzesco - di tipico stampo francese - si colorano, nella ›pièce à Damit deutlich wird, warum und wie unter den gegebenen Bedingungen gerade in Frankreich, aber durchaus mit kräftiger Unterstützung italienischer Motive und Akteure, die Entwicklung der zukunftsträchtigen neuen Form zustandekam, muss die im Laufe der Aufklärung sich verändernde Dramaturgie des Sprech- und Musiktheaters zur Erklärung einbezogen werden. Zumal sich die Problematik vorrangig auf das Wort beschränkt, erscheint es sinnvoll, sie auch von der textlich-literarischen Seite her aufzurollen. Das einseitige Vorgehen rechtfertigt sich über die seinerzeit für die Musik und die Oper immer noch gültige Maxime von der »Diktatur des Wortes«. 19 Die Ausbildung der »pièce à sauvetage« bildet zwar nur einen Teil des breit angelegten weltanschaulichen Neubaus der »philosophes« hinsichtlich der Anthropologie, der Ethik und der Ästhetik; die Oper insgesamt, als Ableger des Sprechtheaters und seit Monteverdi als dessen Steigerung begriffen, steht aber doch im Zentrum der zeitgenössischen Auseinandersetzung. Involviert ist darin auch die Tragödie, immer aber vermischt mit der nun stark aufgewerteten Komödie, die ja als »opéra comique« in Frankreich den Zwittercharakter der Gattung Oper hatte wiederaufleben lassen. Auf diese Heterogeneität zielte noch der von Voltaire erhobene Vorwurf ab, der - allerdings als Anreiz zur Vervollkommnung umgedeutet - über lange Zeit wirksam bleiben sollte: die »opéra comique« sei ein »mélange barbare de vers et de prose, de dialogue parlé et de dialogue chanté«. 20 Wenn am Ende 128 Klaus Ley sauvetage‹, di un accentuato patetismo ereditato dalla vecchia ›comédie larmoyante‹«. Vor allem für die Schlussbildung wird aber dann zurecht darauf hingewiesen, dass sie in der »seria« gängige Praxis war: »d’altro canto sul dramma borghese, non senza occasionali frange comiche, s’innesta la tragedia, con procedimenti derivati dal tradizionale dramma serio a lieto fine.« (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 244). In der Tragödiendiskussion seit dem Rinascimento war sie ja immer wieder diskutiert worden, so von G.B. Giraldi Cinzio in den Discorsi intorno al comporre de i romanzi, delle comedie, e delle tragedie (1554; neu hrsg. Mailand 1864, Nachdruck 1975). Zum allgemeinen Handlungsrahmen wird bemerkt: »Tematica costante ai vari intrecci, le avventurose peripezie di due innamorati o sposi, vittime di un potere ingiusto e tirannico. Coinvolti nei casi della copia nobile, troviamo spesso alcuni personaggi plebei, simboleggianti le semplici virtù degli umili e l’innata bontà del ›popolo‹, contrapposte all’iniquità dei potenti. Ed è alla luce di tale ottimismo illuministico - promanazione di un fresco spirito rivoluzionario non ancora frustrato dal sistema napoleonico - che avviene lo scioglimento immancabilmente lieto del dramma: quando tutto sembra perduto, non è più la gluckiana divinità ad intervenire ›ex machina‹ con funzioni salvatrici e consolatorie, ma più immanenti e tangibili personaggi, che potranno essere, nella ›Lodoiska‹, il partigiano Titzikan con le sue squadre d’azione, o ne Les deux journées l’acquaiolo Mikeli con il suo carro-botte carico di fuorusciti.« (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 244). 19 Zu dem von Metastasio geprägten Bild, das das Überwiegen des »elemento intellettuale, letterario e logocentrico« in der Beziehung von »parola« und »musica« hervorhebt, vgl. Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 123; S. 127ff. 20 Das Zitat entstammt dem wichtigen Aufsatz »Des genres secondaires dans l’art dramatique« von Etienne Jouy, auf den noch zurückzukommen ist; in: Théâtre d’Etienne Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 129 der Entwicklung - in der Romantik - schließlich das Musikdrama steht, das mit seiner bewunderten Kohäsion und Dichte zum Vorbild anderer Kunstgattungen 21 geworden ist, zeigt sich, welche gesamtkompositorische Leistung zwischenzeitlich vollbracht wurde. Wie Diderot früh herausstellte, musste das Theater, als Ort der Emotionen und der spontanen Wirkung auf das Publikum, zum bevorzugten Schauplatz der »philosophes« werden, wenn nur die geeigneten Vermittlungsstrategien gefunden waren. Das galt in besonderem Maße für die Oper als Medium für eine breite Öffentlichkeit. Allerdings fehlte zunächst die dazu angemessene Form. Zwischen »tragédie lyrique« und »vaudeville« boten sich kaum hinreichend treffende Ansatzpunkte, die erst - gewissermaßen im Experiment - entwickelt werden mussten. Als wichtigster Faktor ist dabei zu bedenken, dass das Theater sich nach der neuen Programmatik aus einer dezidiert anthropozentrischen Perspektive definiert, 22 woraus zwingend die existentiell-diesseitige Form der zur Darstellung gebrachten Konflikte und ihrer Lösung resultiert. Da die Rousseausche Doktrin von der »guten Natur« in diesem Zusammenhang eine gewisse Verbindlichkeit beanspruchen konnte, richtet sich das philanthropisch-optimistische Interesse nicht auf Abläufe mit tragisch endendem Verlauf, also auf das »mesto fine«. Vielmehr geht es um die Erreichung des Lieto fine. Der Hinweis auf die mögliche Nachfolge eines Typs des »deus ex machina«-Theaters, den Charlton in seinem New Grove-Artikel so selbstverständlich ironisieren zu müssen meint, erweist sich deshalb in der Sache als durchaus berechtigt und zutreffend. Die abschließende Rettung findet so ihre erste Begründung. Nach dem traditionell theozentrischen Weltverständnis steht die alte Form für die Rettung von ›oben‹, aus metaphysischer Sicht, wobei der theologisch-christliche Ansatz oft in direkt politischer Auswirkung erscheint, so wenn durch ihn die Monarchie als Halt garantierende und rettende Instanz, ›von Gott‹ letztbegründet wird. Vom »neuen« Theater der Aufklärung wird stattdessen die - gleichfalls als »colpo di scena« sich mani-festierende - Rettung aus diesseitig-innerweltlich bedingten Gefahren vorgestellt. 23 Die mit ihr einhergehende Erfahrung von Halt und Heil soll Jouy, 6 Bde., Brüssel/ Paris 1824/ 1825, Bd. 5, S. V-XVII (hier: S. VI). 21 So des Romans; vgl. dazu Klaus Ley, Die Oper im Roman. Erzählkunst und Musik bei Stendhal, Balzac und Flaubert, Heidelberg 1995. 22 Zu der auf Descartes‘ »Passions de l'âme« zurückgehenden Veränderung der Deutung von psycho-moralischen Wirkungsabläufen in Drama und Musiktheater vgl. Catherine Kintzler, Poétique de l'opéra français de Corneille à Rousseau, Paris 1991, S. 111ff.; S. 433ff. 23 Entsprechend wird in Basso (Hrsg.), Musica in scena als Hintergrund der »nuova drammaturgia« eine gradmäßig sich veränderende Gesamtsituation festgehalten: »riflesso delle tendenze culturali e del clima politico corrente, una vernice esotizzante distesa su intrecci drammaturgici i cui nessi principali permangono: il conflitto fra amore e dovere, il contrasto fra erede legittimo e usurpatore, la superiorità della religione sulle superstizioni. Vi è tuttavia uno slittamento da una logica di tipo assolutistico ad una dem Publikum aus der Immanenz, aus dem Vertrauen in die Kräfte der Natur und des Lebens im Diesseits mitvollziehbar sein. So bestätigt sich das Lieto fine als das einzig feste und unbedingt notwendige Strukturmoment der »pièce à sauvetage«. Die Rettungsoper repräsentiert - wenigstens potentiell - von Beginn an gewissermaßen den Gipfelpunkt der neu zu erstellenden »opéra comique«, so dass eigentlich auf sie als ideales Ziel alle entsprechenden Reformvorschläge hinauslaufen. Mit Grétrys Richard coeurde-lion (1784, Libretto: Sedaine) findet sie ihre erste durchschlagende Ausformung. 24 Sie als Nachfolgerin oder Ersatz für die nicht mehr als zeitgemäß erachtete »tragédie lyrique« zu begreifen, erscheint daher als durchaus berechtigt. Die in den neuen Werken dieses Typs vorgestellten Formen der Rettung sind als abhängig von der zugehörigen Ethik zu denken. Sie werden - ausgehend von Diderots Rezepten - stark emotionsbetont vermittelt. Über den Gedanken der Naturhaftigkeit geht es, auch im Anschluss an Rousseau, um bestimmte Verhaltensmuster aus Familie und Gesellschaft: Gattenliebe, Vaterliebe, Liebe des Herrschers zu seinem Volk werden entsprechenden Abweichungen durch Mißbräuche gegenübergestellt. Am Schluss siegt mit der mehr oder weniger spektakulären Rettung das Gute und Richtige; so zeigt Berton in Les rigueurs du cloître (1790) ein damals besonders bewährtes Verfahrensmodell. Das Lieto fine bedeutet den Triumph der guten Natur über alle Widrigkeiten und über alles Böse. Bei Ausweitung des Grundkonzepts kann aber, auch jenseits aller gesellschaftlich vermittelten Konflikte, nach wetter- und klimabedingten Drangsalen oder sonstigen geologisch begründeten Anomalitäten eine glückhafte Erfahrung der Geborgenheit in der als harmonisch oder auch grandios erlebten Landschaft und Natur die Auflösung bringen. Das sichert einem Werk wie Cherubinis Elisa ou le voyage aux glaciers du Mont (Saint-) 130 Klaus Ley di tipo più ›democratico‹ verificabile nelle motivazioni nazional-libertarie che agitano, accanto a quelle sentimentali, gli eroi della librettistica dell'ultimo Settecento e vi è inoltre una più stretta interrelazione, nello svolgimento dei soggetti, fra vicende politiche e vicende amorose con maggiore insistenza sul dato umano, psicologico e sentimentale dei personaggi (…)«. (»Il teatro d'opera dopo Metastasio«; in: Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, 185). 24 Unter Verweis auf seine Arbeit zu Grétry, dem Komponisten von Richard coeur-de-lion (1784), bemerkt Charlton in seinem New Grove-Artikel: »Popular theatre (e.g. melodramas) was exploiting similar themes [scil. of rescue etc.] at the same period but emphasized scenic effects, danger and the act of physical rescue. Sedaine exploited the excitements of danger and tension, but he approached the simplistic moral structure of a melodrama only in ›Richard Coeur-de-lion‹. That is precisely why he agreed only reluctantly to have it staged in the form we now recognize, at the behest of colleagues and public alike.« - Im Appendix zu »On redefinitions« führt Charlton einige frühere Werke an, die er der Gattung als Vorstufen zuordnet. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 131 Bernard (1794) seine besondere, dem Grundkonzept aber durchaus konforme Stellung. 25 Am Beginn der skizzierten Entwicklung steht so ein Reformwille, der nicht nur mit großer Umsicht auf den Weg gebracht, sondern auch mit zunehmendem Erfolg durchgesetzt wird. Wenn das Theater sich als Instrument für die Umsetzung von anthropologischen und ethischen Erneuerungsprogrammen nutzen lassen soll, ist zunächst einmal die Anpassung von dessen Wirkungsmechanismen fällig, aus welchen Bereichen auch immer sie sich anbieten. Dabei versteht es sich, dass bei allen Überschneidungen die Komödie gegenüber der Tragödie gerade für die Zwecke der »pièce à sauvetage« die weitaus geeignetere, ja eigentlich treffende Gattung ist, da sie als Darstellungsraum das Leben in seiner Gesamtheit, über alle Altersstufen und durch alle Schichten, umfasst. Damit erfüllt sie die Forderung nach Wirklichkeitsnähe; sie gehorcht dem immer wieder beschworenen Realitätsprinzip. Das Grundmodell muss aber für den veränderten Zweck durch klare Grenzziehungen neu definiert werden. Die auffallendste Erscheinung ist der Verzicht auf die bislang dominierende Tendenz zur Satire. 26 Die Wirkungsabsicht der Komödie insgesamt verläuft nicht mehr - wie immer seit Horaz - über das zum Zwecke der Korrektur eingesetzte ungehinderte Lachen. An die Stelle des Spotts tritt auch in der »opéra comique« neuer Art das Mitempfinden, die Sympathie, wie sie als treibende Kraft in der »comédie larmoyante« und im »drame bourgeois« ausformuliert worden war. Wie unter dieser Voraussetzung zunächst einmal alle gewohnten Theaterformen für die Bühne der Aufklärung assimiliert werden, so orientieren sich auch die Librettisten an den reformerischen Ideen. Als führend in Theorie und Praxis sind hier, nach Diderot und Rousseau und neben Sedaine, als ebenso wichtig Marmontel und Mercier zu nennen. 27 In ihrem Gefolge 25 In der frühen Zeit - während der Revolution - wurde der im Titel erscheinende hagiographische Bezug unterdrückt. - Zu den Vorläufern solcher an die Landschaftsszenerie gebundenen Werken zählen Camille ou le Souterrain (1791) von Dalayrac/ Marsollier und Le Sueurs La Caverne (1793), mit dem Libretto von Dercy, frei bearbeitet nach einer Episode aus Le Sages Schelmenroman Histoire de Gil Blas de Santillane. 26 Zu ihrer dominierenden Rolle in den Anfängen der »Opéra comique« vgl. Wichmann, Grétry, S. 21ff. 27 Beide betonen die Notwendigkeit einer angemessenen Umsetzung der neuen Ideale in das dramaturgische Vorgehen: »C’est par les moeurs des personnages, et non par leur naissance et leur fortune que le sujet sera théâtral.« (Jean-François Marmontel, Poétique française, 2 Bde., Paris 1763, Bd. 2, S. 147). In dem Artikel »Action« heißt es entsprechend: »Qu’un héros fasse de grandes choses, on s’y attendait, on n’en est point surpris; mais que d’une âme vulgaire naissent des sentiments sublimes, la nature, qui les produit seule, s’en applaudit davantage, et l’humanité se complaît dans ces exemples qui l’honorent.« (Jean-François Marmontel, Œuvres complètes, 18 Bde., Paris 1818, Bd. 13, S. 138; zit. nach Michael Cardy, The literary doctrines of Jean-François Marmontel, Oxford stehen die Autoren, deren Textbücher in größerer oder kleinerer Zahl im Umfeld der Rettungsoper begegnen, unter ihnen Marsollier, Bouilly und Jouy. 28 Auch bei der Ausformung dieses Theaters spielt, wie angedeutet, die italienische Bühne eine nicht unerhebliche Rolle. Bereits Diderot hatte sich ja unausgesprochen auf Goldoni bezogen und war deswegen des Plagiats bezichtigt worden. 29 Im gegebenen Zusammenhang erweist sich die Einbeziehung gerade dieser Perspektive insofern als vorteilhaft, als das der Revolutionsoper inhärente akualistisch-politische Moment, das allein an die französischen Verhältnisse gebunden ist, in den Hintergrund tritt und die ästhetischen Voraussetzungen in ihrer Komplexität klarere Konturen gewinnen können. Auf der eingeschränkten Basis der Betrachtung von Paisiello, Cherubini und Spontini, den Komponisten aus der italienischen Tradition, die in Frankreich wichtige Etappen ihres Schaffens erlebten, wird bereits deutlich, wie die Notwendigkeit zur Transposition zwischen den beiden allmählich stärker auseinanderrückenden Musikkulturen doch Möglichkeiten der Integration ganz unterschiedlicher Formen freisetzt. Die Wechselbeziehungen zwischen Frankreich und Italien unter den neuen Gegebenheiten lassen sich noch vor der Revolution an der weitgehend traditionellen Vorstellungen entsprechenden komischen Oper Nina ossia la pazza per amore beobachten. Das Erfolgsstück, dessen Libretto von Marsollier stammt, erlebte - vertont von Dalayrac - zunächst in Frankreich (1786) großen Zuspruch, bevor es - mit neuer Vertonung von Paisiello - in 132 Klaus Ley 1982, S. 119). - Mercier bringt mit seiner Kernforderung nach Gattungsmischung das Bemühen um Veränderung auf den Punkt: »Tombez, tombez, murailles qui séparez les genres! « (Du théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique, Paris 1773, Nachdruck Paris 1972, S. 105); vgl. dazu auch Hans-Jürgen Schings, »Revolutionen der Emotionen. L.- S. Mercier und die Sympathielehren des Sturm und Drang«, in: ders., Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1980, S. 54ff.; Edward McInnes, »Louis-Sébastien Mercier and the drama of the ›Sturm und Drang‹«, in: Publications of the English Goethe Society 54/ 1984, S. 76-100. 28 Jouy selbst listet später die wichtigsten Vertreter für die Abfassung der Textbücher auf: »L’Opéra-Comique eut ses lois, ses règles, ses limites et ses réputations. (…) Marmontel inventa quelques fables ingénieuses qu’il écrivit avec autant de pureté que d’élégance; (…) Sedaine enfin (qu’on aurait justement appelé le Molière de l’Opéra- Comique s’il eût moins négligé son style), fut sans rival dans l’art de distribuer ses masses, de conduire une pièce, d’en graduer l’intérêt, d’esquisser des caractères vrais, de favoriser et de provoquer les inspirations du compositeur.« Unter ihren Nachfolgern, die das später als »pièce à sauvetage« bezeichnete Genre ausgesprochen gepflegt haben, erwähnt er: »MM. de Lonchamps, Hoffmann, Marsollier, Bouilly, ont partagé la gloire des Chérubini, des Méhul, des Boyeldieu, des Catel, des Dellamaria, des Nicolo, dont les compositions musicales font encore aujourd'hui les délices de la France.« (Jouy, »Des genres secondaires«, in: Théâtre, Bd. 5, S. Xf.). 29 Goldoni wurde zum Gegenspieler Diderots aufgebaut durch den von Fréron wirkungsvoll inszenierten Vorwurf, der Verfasser des Père de famille habe mit seinem neuen Theater keinen eigenen Entwurf vorgelegt, sondern im wesentlichen das italienische Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 133 Italien (1788) herauskam. Nicht unwichtig ist, dass der junge Giuseppe Carpani die Übersetzung des Textes und damit die Verbreitung des neuen Programms in seinem Heimatland erstellt hatte. Dass er ein Gespür für wichtige Veränderungen hatte, manifestierte sich auch später, als Stendhal seine Werke plagiierte. 30 Am Beispiel von Nina zeigt sich, wie das französische Modell übertragbar ist, sozusagen zurückübersetzt in die alten Bedingungen, wo die neapolitanische Buffo-Oper noch dominierte. Von dort, von Italien, findet es nach der Phase der Revolution auch seine wirkungsvollsten gesamteuropäischen Weiterentwicklungen, über Cherubini und Spontini - flankiert von Paër, Mayr und Morlacchi - bei Rossini und in der Großen Oper. 31 Der Rettungsaspekt erscheint in Nina, auch in Paisiellos Fassung, ganz nah an den Vorstellungen des »drame bourgeois«. Dessen konzeptionelle Schwächen, die drohende Langeweile und Spannungslosigkeit, auf die bereits Marmontel aufmerksam gemacht hatte, 32 werden durch den Einbezug Vorbild kopiert; vgl. auch Klaus Ley, »Neue Kontexte zu La Locandiera. Goldonis Reformkomödie und ihre Bedeutung für Diderots ›drame bourgeois‹«; in: Franz-Norbert Mennemeier (Hrsg.), Die großen Komödien Europas, Tübingen 2000, S. 123ff. - Goldonis Bedeutung zeigt sich im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Piccinni und Marmontel, der nicht nur Quinaults Texte für die »tragédie lyrique« bearbeitete, sondern auch beteiligt war an der komischen Oper, die Piccinni nach Goldonis La buona figliola schrieb. Hier findet sich der soziale Rahmen, den die »opéra comique« bevorzugte; vgl. Basso (Hrsg.), Musica in scena Bd. 2, S. 172. - Für Goldoni, der vor allem in jungen Jahren ein bedeutender und begehrter Librettist war, stellen Apostolo Zeno und Metastasio die Höhepunkte der italienischen Tradition dar. Vgl. Carlo Goldoni: »Mémoires«, in: Tutte le opere di Carlo Goldoni, Ortolani, Giuseppe (Hrsg.), 17 Bde., Mailand 1935ff., Bd. 1, S. 187f.) 30 Vgl. Stendhal/ Wendt, Rossini’s Leben und Treiben, S. 465ff. 31 Bis heute steht dieser Strang der inneritalienischen Operntradition und damit die »opera semiseria«, so Rossinis La gazza ladra, im Zentrum des Interesses. Entsprechend vernachlässigt ist die Verbindung zur früheren Entwicklung; stattdessen wird aus dem Zeitgeist, in dessen Strom Rossini hineingeboren sei, argumentiert: »l’imperialismo napoleonico è apportatore in Europa di una breve, ma intensa stagione melodrammatica nel corso della quale l’opera francese esce dal suo alveo nazionale imponendo i propri generi (›la tragédie lyrique‹ e ›l’opéra comique‹ nella sua recente versione di stampo romanzesco e drammatizzato, denominata ›pièce à sauvetage‹) in Italia e nei Paesi tedeschi.« (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 283). Das Desinteresse an der Vorstufe zeigt sich auch an dem pauschalen Urteil über die Rettungsopern Mayrs, »tributo alla moda francese (…), derivate più o meno fedelmente da soggetti altrimenti noti per i nomi illustri - Cherubini e Beethoven - cui sono precipuamente legati.« (ebd., S. 280). 32 Hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten und Anlässen zur Dramatik im einfachen Leben hatte er im Artikel »Action« angemerkt: »Il est certain que la vie privée a peu de ce qu’on appelle coups de théâtre, et beaucoup de ces situations plus familières qui font tableau.« (Marmontel,Œuvres complètes, Bd. 13, S. 138). Zu der von ihm und dann vor allem von Mercier betriebenen Akzentuierung des »drame« gegenüber dem »tableau« vgl. Cardy, Marmontel, S. 120. Hiermit lässt sich das Argument Charltons verbinden, dem neueren Publikum mit seinem geringen Bildungsgrad kämen spektakuläre Handlungsmomente besonders entgegen. psychopathologischer Phänomene gegengewichtet. Die junge Frau verfällt aus Liebeskummer dem Wahnsinn, als der verblendete Vater die Ehe mit einem reichen Fremden nach altem Recht durchsetzen will. Sie wird aber gerettet, als der verjagte und totgeglaubte Geliebte mit Einverständnis des Vaters unvermutet wieder in Erscheinung tritt. So ist die Gefahr dauernder geistiger Verwirrung gebannt. Heilung und Rettung vollziehen sich handlungslogisch in dem Moment, als der Vater vernünftige Einsicht in die Forderungen nach dem Lebensglück der Tochter gewinnt; thematisch umgesetzt erscheint die Rettung durch die Plötzlichkeit der Konfrontation mit dem verloren Geglaubten und der Aussicht auf die Vereinigung mit dem Geliebten. Das Stück zeichnet sich bereits durch eine - heute leicht penetrant wirkende - Tendenz zur Belehrung aus, die auch später, etwa in Cherubinis Les deux journées, unübersehbar ist. Bei Paisiello läuft diese Absicht zur Didaxe über eine als Identifikationsfigur eingebaute Nebenrolle, den Gärtner. Er, der lernen - und im Beispiel lehren - soll zu weinen, zeigt damit zugleich, wie nicht nur Betroffenheit empfunden, sondern im Mitleiden auch Menschlichkeit entdeckt und ausgelebt wird, bis zum erlösenden Finale, das so zur Bestätigung des propagierten Persönlichkeitsbilds und, in der emotionalen Entlastung, zur Belohnung führt. Nina steht damit am Anfang des eher intimistisch-sentimentalen Strangs der Gattung. Zwei der nachrevolutionären Rettungsopern Cherubinis und Spontinis, die ebenfalls von großer Bedeutung für die Entwicklung des Genres sind, funktionieren in ihren Hauptzügen nach gleichem Muster. Vor allem der Wasserträger Mikeli, die Hauptfigur in Les deux journées, ist eine Verkörperung des skizzierten Humanitätideals. 33 Die »Wasserträger«-Oper setzt eine Episode in Szene, in der der Librettist Bouilly einen ländlichen Stoff aus einem Novellenrahmen mit einer Fluchtgeschichte aus der Regierungszeit Mazarins kombiniert, die eher vage an die Verfolgung von Aristokraten durch Revolutionäre erinnert. In Spontinis Milton greift der Librettist Jouy eine Episode aus der englischen Geschichte des 17. Jahrhunderts auf, in der gezeigt wird, wie der greise Dichter von Paradise lost aus den Bedrohungen der politischen Veränderungen nach Cromwell gerettet wird. Auch an diesen Werken zeigt sich, dass bestimmte Gegenstandsbereiche so erschlossen werden, wie es bereits Goldoni erfolgreich vorgeführt hatte, einmal mit seinen Pamela-Komödien, zum anderen mit seinen Dichter-Komödien (u.a. Il Molière, Torquato Tasso). Das Verfahren, durch den Rückgriff auf populäre literarische Vorlagen den Eindruck einer »realistischen« Einlassung der Handlung in das Leben zu bewirken, möglichst noch mit dem 134 Klaus Ley 33 Die einzigen Solonummern des Werks kreisen um diese Thematik: »Un bienfait n’est jamais perdu« sowie »Le premier charme de la vie, c’est de servir l’humanité.« Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 135 Anschein persönlich verbürgter Authentizität, erweist sich auch als erfolgreich in Lodoiska, Cherubinis Werk aus seiner frühen Zeit in Frankreich. Die französische Oper stand - das muss als allgemeiner Rahmen für die Entwicklung des Musiktheaters in Erinnerung gerufen werden - in besonderem Maße unter den Vorschriften der »Académie royale de musique«, einem »kulturpolitischen« Diktat, gegen das in den beiden »Querelles«, dem Buffonistenstreit von 1752/ 4 und dem Streit der Gluckisten und Piccinnisten von 1774/ 7, vorgegangen wurde. 34 Ein vorrangiges Ziel war dabei das Bestreben, das Musiktheater - so wie es neben der italienischen Buffo-Oper ja im »vaudeville« und in der sich rasch entfaltenden »opéra comique« bereits realisiert worden war - an das größere Publikum heranzutragen, die Oper volkstümlich zu machen. 35 Der Impuls zu energischer Umwandlung ging auch hier von literarischer Seite aus, von den Aufklärern und deren Vorkämpfer Diderot. Das italienische Moment, das mit Pergolesis La serva padrona bereits in der »Querelle des bouffons« vertreten war, erlebte so weitere Verstärkung. Paris wurde, auch durch die enge Zusammenarbeit von Piccinni und Marmontel, zum Zentrum der Erneuerung der Gattung Oper. 36 Dabei erweist sich die »opéra comique« als der eigentliche Kampfplatz der Entwicklung neuer Formen des Musiktheaters. 34 Mit dem Rückblick auf die »révolutions musicales de l’Ancien Régime« beginnt Michel Noiray, »L’opéra de la Révolution (1790-1794): un ›tapage de chien‹? «, in: Jean-Claude Bonnet (Hrsg.), La Carmagnole des Muses. L’homme de lettres et l’artiste dans la Révolution, Paris 1988, S. 359-379 35 Neben Favart und Grétry ist hier auch Egidio Duni zu nennen; zu seiner Rolle vgl. »Il panorama italiano fra Sette e Ottocento«; in: Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 203ff. 36 Marmontel betrieb dabei den Plan, die sprachliche Qualität der Operntexte, u.a. durch den Rückgriff auf die Libretti Quinaults, zu verbessern. Ziel war, mit Unterstützung Piccinnis zu zeigen, dass auch das Französische zu der sprachlichen Artistik und Sorgfalt fähig sei, die ja - bis hin zu Rousseau - in den »Querelles« als Vorzug ausschließlich des Italienischen gelobt worden war. Er verfährt so nach Leitgedanken, wie sie nach dem Zeugnis Goldonis schon Metastasios Vorgehen bestimmt und den anhaltenden Ruhm von dessen Libretti garantiert hatten: »Métastase (…) mit le comble à la perfection dont la Tragédie lyrique étoit susceptible: son style pur et élégant; ses vers coulans et harmonieux; une clarté admirable dans les sentimens; une facilité apparente qui cache le pénible travail de la précision; une énergie touchante dans le langage des passions, ses portraits, ses tableaux, ses descriptions riantes, sa douce morale, sa philosophie insinuante, ses analyses du coeur humain, ses connoissances répandues sans profusion, et appliquées avec art; ses airs, ou, pour mieux dire, ses madrigaux incomparables, tantôt dans le goût de Pindare, tantôt dans celui d’Anacréon, l’ont rendu digne d’admiration, et lui ont mérité la couronne immortelle que les Italiens lui ont déférée, et que les étrangers ne refusent pas de lui accorder.« (Goldoni, »Memoires«; in: Tutte le opere, Bd. 1, S. 187f.). Was sie als Fortsetzung der »buffa«, die durch sie verdrängt wird, gerade auch als »pièce à sauvetage« leistet, behandelt Etienne Jouy, der Librettist von Spontinis Milton, noch in seinem späten Abriß ihrer Entwicklungsgeschichte. Ausgehend von dem bereits genannten Verdikt Voltaires, dem »mélange barbare de vers et de prose, de dialogue parlé et de dialogue chanté«, 37 definiert er: »On appelle aujurd’hui opéra comique une pièce dont le dialogue sérieux ou plaisant, gracieux ou pathétique, est mêlé de morceaux de chant, et dont la musique est faite expressément pour les paroles.« 38 Aus dem von Voltaire kritisierten Widerspruch ergebe sich, so Jouy, als besonders verpflichtende Aufgabe die Herausbildung eines »genre où la finesse et la saillie du dialogue peuvent du moins faire oublier quelquefois aux spectateurs le ridicule amalgame de la parole et du chant.« Die sprachkünstlerische Leistung, die hier eingefordert wird, 39 leitet sich ab aus den hohen Anforderungen an Sprache und Stil, wie sie bereits von Marmontel im Rückgriff auf Quinault angestrebt worden war, nachdem noch Rousseau nur das Italienische zur musikalischen Verwendung für hinreichend virtuos und damit allein geeignet gehalten hatte. Für Jouy kommt aber ein wichtiger Aspekt hinzu, der sich erst in der Folge der »Querelle des bouffons« entwickelt hat: Ce genre de spectacle, perfectionné par des hommes d’un grand talent, peut recevoir encore des améliorations: un opéra comique ne doit pas être une comédie mêlée d’ariettes, comme on l’a défini trop long-temps: c’est un imbroglio dramatique, où l’art de l’auteur consiste à mener avec adresse et vraisemblance des situations tendres ou passionnées, et des mouvements de scène qui semblent exiger, pour leur développement, le secours de la musique . 40 Die vermeintlichen Nachteile der Gattung werden so in Vorzüge umgemünzt. Ein dramatisches, spannungsvolles »imbroglio«, das das Geschehen auf der Bühne bestimmt, soll ein von Wort und Musik getragenes Wechsel- 136 Klaus Ley 37 Jouy, Théâtre, Bd. 5, S. VI. - Zur Erläuterung heißt es: »C’est ce défaut inhérent au genre de l’opéra comique qui avait attiré sur lui l’anathème de Voltaire. Ce génie si puissant, cette intelligence si vaste et si nette ne pouvait s'accoutumer à l’alliance monstrueuse du chant et du discours: ›Je sais, disait-il, que ce honteux spectacle (l’opéra comique) est aujourd'hui le favori de la nation; mais je sais aussi à quel point la nation s’est dégradée: cette turpitude est notre lot.‹« (S. VIII). Wenn sich seit Voltaires Zeiten die Einschätzung geändert habe, so erkennt Jouy als Grund die Qualitätsverbesserung dieser Form: »il est vrai d’ajouter qu’à l'époque où Voltaire s’élevait avec tant d’indignation contre l’opéra comique, ce spectacle ne s’était pas, en quelque sorte, légitimé au Parnasse, sous les auspices des Sedaine, des Marmontel, des Monvel, des Monsigny, des Grétry, des Dalairac, etc.« (ebd., S. IX). 38 Ebd., S. IX. 39 In übereinstimmender Wiederaufnahme von Goldoni und Marmontel konstatiert Jouy: »Le rhythme des vers doit s’unir assez intimement avec le sentiment qu’ils expriment pour que le compositeur y trouve la source de ses propres inspirations.« (ebd., S. XII). 40 Ebd., S. XI. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 137 bad der Gefühle bewirken. Auf die hier positiv besetzte Verwendung des Begriffs »imbroglio«, der wenige Jahre zuvor das Zentrum von Diderots Kritik an Goldoni ausmachte, ist noch einzugehen. Zunächst soll genauer betrachtet werden, was das Wesen und die Funktion der Musik ausmacht, die Jouy in Abgrenzung zur »tragédie lyrique« bestimmt. Die Besonderheit der »opéra comique«, also auch und gerade der Rettungsoper, liegt, so führt er aus, darin, dass in ihr die Beständigkeit und Kontinuität des Gefühls, wie sie die »opera seria«/ »tragédie lyrique« - nach vorgegebenem Programm - erzeugt und aufrechterhält, durch den Wechsel von Gesang und Rede zunächst einmal grundsätzlich gestört wird. Nach gängigem Vorverständnis tritt damit, weit über den Bruch der Konventionen hinausreichend, eine unerwünschte und tiefe Irritation ein, die den über die Kunstwelt der Oper ausgespannten Schleier der Verzauberung zerreißt: Oublions un moment que nous nous sommes assis cent fois au parterre de l’Opéra-Comique, et rendons-nous compte des premières impressions qu’un homme de goût recevrait d’un pareil spectacle, auquel l’habitude ne l’aurait point familiarisé. Le théâtre est un pays imaginaire où l’on parle un langage de convention, qui a son génie et ses règles. Sur un théâtre lyrique, cette langue est musicale; elle exprime par des sons modulés les passions, les sentiments, et les idées des hommes: ce pays est l’Opéra, proprement dit. L’homme, naturellement organisé pour recevoir de la musique des impressions vives et fortes, se laisse entraîner dans cette sphère d’harmonie où tout s'exprime par des chants; l’illusion est facile et durable, si rien ne vient la détruire; mais que dans ce monde idéal où l’illusion m’a transporté, le même personnage se serve tour-à-tour de deux idiômes différents; qu’il me répète en langage musical ce qu’il vient de me dire en langage parlé; qu’il achève en chantant la phrase qu’il a commencée en parlant, le charme disparaît, l’action dramatique est interrompue, et je ne vois plus dans le personnage qu’un acteur en démence qui confond dans son débit le même rôle qu’il a appris en deux langues différentes. 41 Aus dem Befund lasse sich, so Jouy, aber nicht nur ableiten, dass die Diskongruenz von gesprochenem und gesungenem Wort nachteilig ist, weil sie zerstört und zu anhaltender Verstimmung führt. Vielmehr biete sie, wie inzwischen durch Erfahrung bestätigt, gerade durch die Kontamination verschiedener Wirkungsformen auch ganz neue Möglichkeiten. Sie könne durch ungewohnte Empfindungsweisen ein Erleben hervorrufen, das nur richtig genutzt werden müsse, um künstlerisch produktiv zu sein. 42 Erst die Brüche der ästhetischen Konventionen erlaubten - jenseits aller ästhetischen Kontrolle und normierter Affektivität - die unvorhersehbare Abfolge von »situations intéressantes« und führten zu dem angestrebten »imbroglio«, 41 Ebd., S. VIIf. 42 Der theoretische Hintergrund dieser auf Dissoziation angelegten Überlegungen ist Diderots Paradoxe sur le comédien. durch das Spannung entstehe und das ja auch selbst durch Brüche und Kollisionen bestimmt sei. 43 Der Gefühlshaushalt des Publikums wird so, das ist die treffene Einsicht Jouys, nicht auf Dauer in unveränderter Konstanz gehalten, sondern gerät in eine starke Dynamik. Erst im Lieto fine, dem obligatorisch glücklichen, optimistischen Abschluss löst sich die Spannung in allgemeine Zustimmung und zu heiterem Gefallen auf. Gerade der Schluss muss deshalb von mitreißender Einheitlichkeit, von großer Dichte und Suggestivität sein - nach der Aufeinanderfolge der unterschiedlichen Stimmungen und Gemütszustände, die sowohl dem Amalgam von Sprache und Musik entspringen als auch in der entsprechend abwechslungsreichen Handlungsführung bis hin zum Chaos begründet sind. Hier erweist sich, in der Betonung der ästhetischen Brüche und Diskrepanzen, die Modernität der neuen Gattung, die erst im versöhnenden Schluss einen großen harmonischen Zusammenhalt findet. 44 Für Jouy ergibt sich aus der so vollzogenen antiklassischen Wende zugleich aber eine Einschränkung. Trotz der grenzenüberschreitenden Form der »opéra comique« gilt doch die Notwendigkeit, klare Leitlinien zu beachten: »peut-être serait-il nécessaire de fixer ses limites.« 45 Damit meint er nicht nur, dass die Aufhebung der Trennlinie zum hohen Genre als nur bedingt zu begreifen ist, sondern mehr noch, dass der gesamte Wirkungsmechanismus unerlässlich bestimmt sein muss von der Zielsetzung des als Lieto fine konzipierten Schlusses. Da die Form somit ein offenes Ende nicht zulässt, schließt sich eine größere Affinität zur »gothic novel« oder zum Melodram, wie sie bisweilen konstatiert wird, strikt aus. Flankierend zu der Absicht, ein wirkungsvolles »imbroglio« zu erzeugen, und als dessen notwendige Ergänzung scheinbar, zeigt sich, ganz unerwartet und leicht verfremdet, in diesem Kontext die Wiedereinführung des »merveilleux«, des bedeutendsten Elements der alten »tragédie lyrique«. Voraussetzung ist hier der Gedanke, dass das Lieto fine den Kern der 138 Klaus Ley 43 Zu diesem Effekt bei Goldoni und dem Widerspruch bei Diderot und Grimm vgl. Ley, »Neue Kontexte«, S. 148ff. 44 Diese Möglichkeiten, in denen bereits Marmontel einen Ausweg zur Steigerung der Wirkung des Musiktheaters erkannte, hat, wie Jouy erinnert, noch Voltaire gründlich verkannt: »s’il [scil. l’opéra comique] cherche ses effets dans le contraste des fêtes et des situations fortes et tragiques, il se confond avec le grand opéra, et cette ambiguité, qui rend plus sensibles les défauts inhérents au genre même, achève de justifier la critique un peu dure qu’en a faite au dix-huitième siècle le maître de la littérature dramatique.« (Jouy, Théâtre, Bd. 5, S. XII). 45 Eine Abgrenzung in die satirische Richtung interessiert im Zusammenhang mit der Rettungsoper nicht: »s’il [le genre de l’opéra comique] se propose, comme dans quelques pièces de l’ancien répertoire, une satire légère des moeurs du temps, où l’épigramme et la saillie se détachent en couplets, il rentre dans le vaudeville, proprement dit« (ebd., S. XII). Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 139 Rettungsoper bildet, wobei dessen Leistung nicht isoliert im Motiv der Rettung an sich liegt; vielmehr ist die Gesamtdramaturgie vom Gedanken der Rettung her zu denken. Die Vorstellung des »imbroglio«, durch die das Tempo als spannungserhöhendes Element zustandekommt, muss auf sie als zusammenfassendes Telos zwingend hinauslaufen. Da dieser Wirkungsprozess nicht mehr mit dem alten Instrumentarium des komischen Theaters erreicht werden kann, bedarf es der neuen Techniken — die für die italienische Bühne Goldoni entwickelt hatte. Bei der Ausgestaltung der Rettungsoper lassen sich verschiedene Aspekte beobachten, die einen entsprechenden Handlungsrahmen stützen. Einmal entsteht innere Dynamik durch psychische Gegensätze, bis hin zu der immer schon bühnenwirksamen »pazzia«, wie in Nina. Äußere Dynamik resultiert dagegen durch Feinde, Oppositionen: Räuber, Tyrannen, Naturgewalten (Stürme etc.). Das führt auf moralisch-ethischer Ebene der Betrachtung zurück zur immer eindeutigen Unterscheidung von Gut und Böse sowie auf ästhetischer Ebene zur Opposition von Sublimem und Groteskem. Die Rettung aus all diesen Konflikten erscheint stets und in letzter Konsequenz als eine Art »natürlicher«, untranszendenter Epiphanie. 46 Wenn auch in Diderots Dramaturgie bereits wichtige Ansätze zur Formulierung des Operngenres, das sich als »Rettungsoper« konkretisieren wird, ausgeprägt sind, so fehlt doch das barocke »merveilleux«, wie es die »tragédie lyrique« bestimmte. Nach dem neuen anthropozentrischen Ansatz ist es ebenso entschieden wie der an sie gebundene »deus ex machina« auszuschließen. Stattdessen wird betont die Anbindung an die »Natur« und die in ihr verankerte Emotionalität gesucht, die in weiterer Folge als in das bürgerliche Erleben einmündend gedacht ist. Hier nun ergibt sich für die Konzeption der neuen Oper, hinsichtlich des Rahmens und des Ablaufs der wirkungsästhetischen Prozesse, eine Lücke. Wie sich bald zeigte, erscheint für die Oper, die aus dem großen Gefühl, der von Musik beförderten, wachgehaltenen und intensivierten Empfindung lebt, das »merveilleux« unverzichtbar. 47 Marmontel verteidigt es denn auch und liefert zugleich die 46 Theoretisch begründet ist diese »vorromantische« Spannungserzeugung aus Gegensätzen heraus von Saint-Lambert bei der Konstruktion der von ihm initiierten Form der »poésie descriptive«. Im »Discours préliminaire« zu Les saisons heißt es entsprechend: »Vous pouvez quelquefois faire contraster la situation du personnage & le lieu de la scène, placer le plaisir au milieu des horreurs, la tristesse dans le jardin des délices, & vous ferez alors de ces tableaux qui agitent l’ame en sens contraire, qui la touchent & la font rêver.« (Saint-Lambert, Les saisons, poème, Amsterdam 1769, S. XXIIff.) 47 Vgl. auch Béatrice Didier, »Merveilleux et vérité. Les philosophes à la recherche d’une poétique de l’opéra«; in: Jean-Paul Capdevielle/ Peter-Eckhard Knabe (Hrsg.), Les écrivains et l’opéra, Köln 1986, S. 61-77. - Zur Begründung der Gattung hatte sich schon Charles Perrault als Vorkämpfer der »Modernes« auf die Poetik des »merveilleux« gestützt: »Ne fallait-il pas que, comme il y a une poésie dramatique qui est toute renfer- Voraussetzungen, um es auf die »opéra comique« übertragbar zu machen. 48 Als »merveilleux naturel«, als die »bescheidenere« Form gegenüber dem »surnaturel« der »tragédie lyrique«, wird es die neue Kunstform bestimmen. 49 So erklärt sich auch in diesem Kontext, dass die »Rettung« an die Stelle des »deus ex machina« treten kann. Der weitere Ausbau dieser Argumentation fügt sich in die Poetik des Sublimen ein, wie sie damals gerade im Zentrum der französischen Aufklärung betrieben wurde. 50 Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag zur umfassenden Reform der »opéra comique« zu sehen, den Marmontel in seiner Poétique françoise bereits lange vor den Revolutionsjahren gemacht hatte. Ausgangspunkt ist, wie später bei Jouy, die Kritik Voltaires am Zwittercharakter der »opéra comique«. Dessen Forderung nach Einheit des künstlerischen Erlebens gilt für Marmontel noch unangefochten: »Sur un théâtre où tout est prodiges, il paroît tout simple que la façon de s’exprimer ait son charme comme tout le reste. Le chant est le merveilleux de la parole.« 51 In Abgrenzung zur stagnierenden Entwicklung der »opera seria« folgt die Analyse der Situation des Musiktheaters. Als Grund für die Krise, wie sie in den »Querelles« diskutiert wurde, erkennt Marmontel eine Dissoziation von Text und Musik, die sich, wie er meint, in der italienischen Oper der jüngeren Zeit, (d.h. vor der Phase der Ausbildung der »pièce à sauve- 140 Klaus Ley mée dans le vraisemblable, il y eût une autre qui par opposition fût toute composée de merveilleux, comme le sont les opéras.« (Charles Perrault, Parallèles des anciens et des modernes, Amsterdam 1691, Bd. 2, S. 192; zit. nach Cardy, Marmontel, S. 91; vgl. besonders S. 102f.). 48 Für Marmontel übernimmt die Oper gerade in dieser Funktion, wie Cardy betont, eine korrektive Aufgabe gegenüber dem in kruden Realismus abgleitenden Sprechtheater der Aufklärung: »The ›dramatistes‹ had attempted to transport onto the stage the raw realities and language of the most banal human beings. They had sinned against the concept of ›la belle nature‹. They had almost killed the sublime. (…) In Marmontel’s eyes, opera possessed certain qualities which, on artistic grounds, should be preserved.« (Cardy, Marmontel, S. 125). 49 Vgl. Catherine Kintzler, »Du merveilleux au sublime: nature lacunaire, surnature, contre-nature«; in: Jean Gribenski (Hrsg.), D’un opéra l’autre. Hommage à Jean Mongrédien, Paris 1996, S. 413-420. 50 Als besonders wichtig ist in diesem Kontext und vor allem auch hinsichtlich der Folgen erneut Saint-Lambert zu nennen; vgl. dazu Klaus Ley, »Salammbô als ›poème descriptif‹. Zur Stellung von Kunst und Wissenschaft in Flauberts System der ›reproduction de la réalité‹«; in: Germ.-Rom. Monatsschrift N.F. 37/ 1987, S. 399-422. 51 Marmontel, Poétique Françoise, S. 255. - Die Argumentation beruht, wie Marmontel ausführt, auf der Vorstellung Voltaires vom Gesamtkunstwerk: »voilà l’idée qu’on peut se former d’un spectacle qui réunit le prestige de tous les arts: Ou les beaux vers, la danse, la musique, L’art de tromper les yeux par les couleurs, L’art plus heureux de séduire les coeurs, De cent plaisirs font un plaisir unique. Das Zitat befindet sich in dem Kapitel »De l’opéra« der Poétique françoise (in: Marmontel, Œuvres complètes, Paris 1777, Bd. 7, S. 254). Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 141 tage«), durch die Missachtung der Gesetze des Genres ergeben hätte. Hier schon sei als eigentlicher Auslöser die Preisgabe des »merveilleux« verantwortlich: Au lieu des sujets fabuleux, où la fiction qu’ils autorisent met tout d’accord en exagérant tout, ils [scil. les auteurs italiens] ont pris des sujets d’une vérité inaltérable où le fabuleux n’est admis pour rien; & c’est à l’austérité de ces sujets, qu’ils ont entrepris d’allier le chant, le plus fabuleux de tous les langages. C’est là le vice de l’opéra que les Italiens se sont fait: aussi avec d’excellents poètes & d'excellents musiciens, n’auront-ils jamais qu’un spectacle imparfait, discordant, & ennuyeux pour eux-mêmes. 52 Im Kern lautet der Vorwurf, dass sich die volle Wirkung der Oper bei nüchterner Wiedergabe der Wirklichkeit, »dans un spectacle où tout se passe comme dans la nature & selon la vérité de l'histoire« , nicht einstellen könne. 53 Damit das Kunsterleben - und so die Entgrenzung der Alltagserfahrung - wieder ungestört stattfinden kann, muss nach Marmontel dem trockenen Rationalismus durch Aufwertung der Phantasie begegnet werden. Zur Erreichung dieses Ziel ist das »merveilleux« erneut unverzichtbar. Darauf bauen die Vorschläge auf, die Marmontel, »selon notre méthode«, zur Verbesserung formuliert. Sie beziehen sich nicht nur auf die sprachlichpoetische Ausgestaltung des Gegenstands, sondern auch auf die Vorstellungen, die - wie das Bühnenbild oder der Tanz - in der Oper andere Sinnesbereiche ansprechen. Das Ergebnis ist für das staunende Publikum eine Mischung aus vielfältigen und vielschichtigen Eindrücken, die die Verzauberung hervorbringt. 54 Aus diesen Überlegungen leitet sich zugleich auch die Strategie her, mit der, nach Meinung Marmontels, die allgemeine Verkrustung des Musiktheaters, die »tyrannie de l’usage«, zunächst aufzubrechen wäre: 52 Marmontel, Œuvres complètes, Bd. VII, S. 254. 53 Ebd., S. 257. - Ausdrücklich kritisiert wird hier - aus entschieden französischer Perspektive - Apostolo Zeno, der die alte Einheit zerstört habe. Marmontel übergeht dabei die hervorragende Bedeutung Zenos für die Erneuerung der Operndramatik, die Goldoni dagegen mit vollem Nachdruck herausstellt: »On ne voyoit, avant eux [Zeno et Metastasio], dans ces Spectacles harmonieux, que des Dieux, et des diables, et des machines, et du merveilleux. Zeno crut le premier que la Tragédie pouvoit se représenter en vers lyriques sans la dégrader, et qu’on pouvoit la chanter sans l’affoiblir. Il exécuta son projet de la maniere la plus satisfaisante pour le public, et la plus glorieuse pour lui-même et pour sa nation. - On voit dans ses Opéras, les héros tels qu’ils étoient, du moins tels que les historiens nous les représentent; les caractères vigoureusement soutenus, ses plans toujours bien conduits, les épisodes toujours liés à l’unité de l’action; son style étoit mâle, robuste, et les paroles de ses airs adaptées à la musique de son tems.« (Goldoni, »Memoires«, Tutte le opere, Bd. 1, S. 188). 54 So soll Voltaires Idealforderung eingelöst werden: »Que sera-ce donc, si l’on considère l’opéra François comme un poème, où la danse, la peinture & la méchanique doivent concourir avec la poésie & la musique à charmer l’oreille & les yeux? « (Marmontel, Œuvres complètes, Bd. 7, S. 274). pour s’en affranchir, il eût fallu, [...] travailler sur des sujets plus variés & plus dociles, où le mélange des situations douloureuses & des situations consolantes, des moments de trouble & de crainte, & des moments de calme & d’espoir, eût donné lieu tour-à-tour au caractère du chant pathétique, & à celui du chant gracieux & léger. 55 Dabei gilt im Unterschied zur späteren Entwicklung hier weiterhin als wichtige Voraussetzung: Das Verständnis der Brüche, der durch neue Kombinationen bewirkten Überraschungen, ist zwar bestimmt durch das Bemühen, zu entautomatisieren und festgefahrene Gewohnheiten aufzuheben, es bleibt aber doch weitgehend an die vorgegebene Form gebunden. Jouy wird dagegen später die Kraft der Innovation aus den Brüchen selbst, aus dem Aufeinanderstoßen gegensätzlicher Wirkungen, herleiten. 56 In beiden Fällen bleibt aber die Vorstellung von der Stimmigkeit eines großen Zusammenhangs erhalten, der bei Erscheinungen wie der »gothic novel« und dem »mélodrame« längst hinfällig geworden ist. Von solchen Tendenzen, zu denen in der Forschung immer wieder Verbindungen gezogen werden, grenzt sich daher gerade die Rettungsoper grundsätzlich ab. In diesem Zusammenhang lässt sich schließlich noch der Aspekt des Dynamischen, der Bewegung, des »movimento«, präziser fassen, der wenige Jahrzehnte später bei der Charakterisierung der Musik Rossinis und der Gleichsetzung seiner Opern mit den Romanen Scotts eine wichtige Rolle spielen wird. 57 Wie deutlich geworden ist, impliziert die Vermittlung sublimen Erlebens ein Hochtreiben des Geschehens bis zum Kairos des Lieto fine. Zur Intensivierung dieses Prozesses als unentbehrlich erweist sich die Abfolge von Gegenkräften, als die die Gefahren und Bedrohungen zu werten sind, die die Handlung der Rettungsoper durchziehen, konterkarieren und so die Spannung steigern. In diesem immer weiter aufbrechenden Dualismus kündigt sich als nächste Entwicklungsstufe die Poetik Victor Hugos in der Préface de Cromwell an. 58 142 Klaus Ley 55 Das als Voraussetzung für die Gattungsmischung angeführte Argument fügt sich - in polemischer Abgrenzung zur italienischen »seria« - in Marmontels Stellungnahme für Piccinni während der »Querelle« ein: Poétique françoise, S. 264. - Vgl. auch Pierluigi Petrobelli, »Piccinni au travail avec Marmontel«; in: Gribenski (Hrsg.), D’un opéra l’autre, S. 11-106. 56 Die Dissoziation, die - mit gegensätzlicher Wertung - Marmontel wie auch Goldoni bereits bei A. Zeno konstatierten, ist so zu einem wichtigen Element der neuen Ästhetik geworden. 57 Vgl. Ley, Oper im Roman, S. 26ff. 58 Vgl. auch Klaus Ley, »Das Groteske als Schatten des Erhabenen. Zur Entwicklung der Wirkungsstrategie von Victor Hugos Theater«; in: Franz-Norbert Mennemeier/ Bernhard Reitz (Hrsg.), Amüsement und Schrecken. Studien zum Theater des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006, S. 137-172. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 143 Wie sich die im Umfeld Marmontels begründete hochdynamische Dramaturgie entfaltet, lässt sich an einer Stellungnahme beobachten, die der berühmte Schauspieler Fleury über seine Erfahrung mit Mercier als Theaterdichter notiert hat. Er hält für dessen junge Jahre bereits den Anspruch fest, als »nouveau Luther« das französische Theater zu reformieren. Diese Entschiedenheit, sich von den traditionellen Formen zu lösen, illustriert Fleury im Vorspann am Beispiel eines Dramatikers, der sich als Schüler Merciers betrachtet - »Mercier, d’après son mot connu, l’ayant guéri de la tragédie« - und ein Stück verfasst habe, das gattungsmäßig nicht festgelegt, also von gemischter Form gewesen sei: »il venait me régaler d’un assez long ouvrage, sorte de drame héroique, ou plutôt véritable pièce sans nom«. 59 Das dann erwähnte Schauspiel Winckelmann, zu dem Mercier dem damals gleichfalls noch kaum bekannten Fleury, wie er berichtet, die Mitwirkung anbot, zählt zum Typ des auf Goldoni zurückgehenden Künstlerbzw. Gelehrtendramas, dem auch Spontinis Milton zuzurechnen ist. Am Beispiel dieses frühen Werks führt Fleury, obwohl er sich davon eingenommen zeigt, doch einige signifikante Besonderheiten an, von denen er sich kritisch abgrenzt: Le hardi novateur avait dessiné pour moi une figure si énergique que l’ouvrage me plut d’abord. [...] je dirai que le scénario de la pièce en projet me donna une grande idée de la qualité inventive de l’auteur, quoique ce fut un peu un ouvrage semblable à ceux appelés depuis mélodrames. 60 Die Eigentümlichkeiten, die ihm die spätere Entwicklung vorgegriffen zu haben scheinen, werden am Beispiel benannt: »J’aurais voulu seulement un peu moins de souterrains et la suppression d’un escalier dérobé. Il y avait encore deux lanternes sourdes qui m’effarouchaient«. Als besonders störend gibt er darüber hinaus an: les chevaux de poste y jouaient un si grand rôle, que tout essoufflé d’avoir suivi le poète à Schoenbrunn auprès de Joseph II, à Rome en face du Saint- Père, à Ancône, aux environs de Vicence, à Vienne, et être revenu par la voie de terre de Vienne à Trieste, je lui conseillai franchement de prendre pour second titre: ›Fouette, cocher! ‹ 61 Die genannten Aspekte - Tempo, Wechsel der Standorte, unterirdische Verliese, Nachtstimmungen - zählt er entschieden zu den »défectuosités d’un plan assez hardi«. Gegen solche Bedenken aber steht, so weiß er, unerschütterlich das Selbstbewusstsein Merciers, dessen Meinung er schließlich explizit mitteilt, wenn er ihn sagen lässt: 59 »Portrait de Mercier par Fleury«; in: Jean-Claude Bonnet (Hrsg.), Louis-Sébastien Mercier (1740-1814): un hérétique en littérature, Paris 1995, S. 440. 60 Ebd., S. 442. 61 Ebd. mettez de côté tous vos préjugés; ne me jaugez pas sur vos poètes: ma langue à moi a des accents nouveaux. Pour ne pas trouver mauvaises mes heureusetés, faites peau neuve en théories. Oh! je ne suis pas nourri à l’école des VER- SIFICATEURS. 62 Die hier monierten Gesichtspunkte lassen sich unmittelbar beziehen auf die Neuerungen der »opéra comique« als Rettungsoper, wie sie soeben beschrieben wurden. Auch Mercier entwickelt ein Programm, das in wenngleich eigenwilliger Weise auf der Poetik des Sublimen aufbaut. Dabei setzt er sich in verschiedener Hinsicht energisch von Diderot ab. So zielen seine Attacken gegen die »peintres« auch auf Abgrenzung gegenüber dessen »tableaux«-Technik. Stattdessen wird, mit dem auffälligen Erzeugen von Bewegung und von Klängen, der Musik als Orientierungsgröße der Dichtung stärkeres Gewicht zugemessen: Ces peintres! ils pétrifient tout. Sur leur toile, le ruisseau n’a pas de murmure, le zéphir n’a pas d’haleine: voyez ce flot! nous sommes en plein été et il a l’air d’attendre le dégel! voyez ce rameau! il est sans flexibilité; quelque vent qu’il fasse, son feuillage est immobile. Ces hommes sont-ils donc de marbre? et ces guerriers? plaisants combattants! ils lèvent le bras et ne frappent jamais. Le pinceau du peintre tue la nature: qui la ranimera? ... LE POÈTE! 63 Tempo und vielschichtige Spannung, die wesentlichen Elemente des »imbroglio« im Sinne Goldonis oder später auch Jouys, sind das angestrebte Ziel; hervorbringen kann sie nur der inspirierte Dichter, zum miterlebenden Gefallen des Publikums. Die so begründete Suche nach Bewegung impliziert ein vorläufiges Unterdrücken kalkulierend-reflexiver Tendenzen im Zuschauer. Auch deshalb muss die Abgrenzung gegenüber den Dichtern, die ihre Werke nach traditionellen Vorstellungen schreiben, erfolgen; was für die Formen des »drame«, die auf der neuen Komödie aufbauen, zugleich bedeutet, dass darin vor allem auf Satire verzichtet wird. Mit dem Verweis auf die Linie Horaz-Boileau, für die als Devise das Prinzip »Castigat ridendo mores« stehe, wird dieser Grundsatz noch von Jouy erneut herausgestellt: »En faisant disparaître la devise que Santeuil [Jean Baptiste, 1630-1697] avait donnée à ce théâtre, on ne vous a pas convaincu que l'opéra comique dût rester étranger à la peinture des moeurs.« 64 144 Klaus Ley 62 Ebd., S. 443. - Mercier vertritt hier entschieden seine Ideen von der Zurückdrängung des Klassizismus; entsprechend bemerkt Fleury über dessen Antipathien: »Entre les versificateurs, Boileau était son antipathie; il pardonnait à peine à Corneille et à Racine, qu’il appelait d’illustres pestiférés; pourtant il avait adoptés Molière, malgré sa soumission à la rime, parce que, disait-il, il se moque des règles«. (ebd., S. 444). 63 Ebd., S. 445. 64 Etienne de Jouy, »Epître dédicatoire« in: Théâtre, Bd. 5, S. 4. - Der Hymnendichter Santeuil hatte die horazische Maxime »ridendo castigat mores«auf die Oper ausgeweitet. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 145 Eine weitere Abneigung Merciers, die gleichfalls aus dessen entschiedenen Vorbehalten gegen die Tradition resultiert, steht in enger Verbindung mit der Neufassung des Sublimen, wie sie für die neue Opernform typisch ist. Auch Mercier sucht die Erhabenheit gerade in der Musik, wie er in einer handschriftlichen Notiz festhält: Je brûle tous les tableaux, mais je laisse la musique, parce qu’elle donne des émotions sublimes, indéfinissables, c’est la musique qui nous ouvre la porte d’un autre monde, d’un monde intellectuel. 65 Allerdings verwehrt er sich gegen die gängigen Ausdrucksmuster, wie sie in der klassischen Kunst begegnen. Dass er dieses Erleben nur als »sublime naturel« im Sinne Marmontels akzeptiert, wird, so Fleurys Bericht, in einem aus der Natur gegriffenen Bild deutlich: »Je hais cordialement cinq choses, répétait-il souvent: les vers, Condillac, les peintres, le rossignol et M. de Rovigo«. 66 Seiner Aversion gegen die Nachtigall, die mit ihrer Artistik der Inbegriff falscher Erhabenheit sei, entspricht die innige Verehrung, die Liebe zur »fauvette«. Sie erscheint ihm wahr und lebensnah, ganz ohne Verstellung: elle est modeste: elle chante pourtant à ravir! jamais elle n’est à côté du ton; elle chante de l’âme: c’est du pathétique, du doux, de l’accentué; elle ne prend rien dans sa tête, toute mélodie est dans son coeur. C’est la mère qui berce son enfant; l’amante répétant la chanson du bien-aimé. 67 Die Ersetzung der Nachtigall durch die Grasmücke hat für das Musik- und Kunstverständnis dieser Epoche Symbolwert. 68 Die dramaturgischen Positionen, wie sie, gegründet auf den Gedanken der Sympathie in der Neudeutung der Katharsis-Lehre, für Mercier greifbar werden, decken sich mit Momenten, die für die Form der »opéra comique« als »pièce à sauvetage« konstitutiv sind. 69 Ziel ist immer das Bemühen, beispielhaft vom Schlechten zu reinigen und so zum Guten zu führen, wobei zum Schluss die Erhebung stets als notwendiges »Heilmittel« eingesetzt wird. 65 Zit. nach Michel Noiray, »Le rêveur mélomane«; in: Bonnet (Hrsg.), Mercier, S. 199- 222; hier: S. 199; vgl. zur Erhabenheit der Klangwelt in der Natur: S. 200-202. 66 Bonnet (Hrsg.), Mercier, S. 445. 67 Ebd., S. 444. - Die dagegen vorgebrachten Vorwürfe lauten: »mais le rossignol! écoutez-le: le saltimbanque! il joue des gobelets avec sa voix; c’est le versificateur […] des oiseaux! « (S. 444f.). 68 Große Berühmtheit gewonnen hatte bereits die Arie »La Fauvette avec ses petits« aus Grétrys Comédie-ballet Zémire et Azor (1771), mit dem Libretto von Marmontel nach Nivelle de La Chaussée. Zur Bedeutung, die Bouilly, der Librettist von Les deux journées, in seinem Lebensrückblick der Maxime »Souviens-toi de la fauvette« zuspricht, vgl. Jean-Nicolas Bouilly, Mes récapitulations, 3 Bde., Paris 1836/ 37, Bd. 1, S. 4-13. 69 Seine Dramenkonzeption, Du Théâtre ou Nouvel Essai sur l’Art dramatique, ist auch in deutscher Fassung von H.L. Wagner als Neuer Versuch über die Schauspielkunst von großem Einfluss gewesen. Zu dem Werk bemerkt Fleury: »Mercier […] avait commencé cette fameuse ligue des auteurs qui nous obligea de venir à composition. Dans un ou- Auf der so gefundenen Basis lässt sich nun genauer fragen nach dem Ansatz zur Zusammenfügung der Vielzahl von Elementen, die das bunte Bild der Rettungsopern ausmachen. Dazu sind auch die Aspekte zu zählen, die bislang - wegen einer zu engen Fassung des Rettungsgedankens - weitgehend unbeachtet geblieben sind. Den großen Rahmen bildet, durch das Lieto fine zwingend vorgegeben, die erfolgreich bestätigte Suche nach dem Glück, das in der wie immer gearteten Rettung gipfelt. Voraussetzung ist allein, dass die beglückende Lösung durch ein in menschlich-diesseitigen Dimensionen verbleibendes »Wunder« bewirkt wird. Zu diesem Zwecke sind die unterschiedlichsten Kombinationen von Bild-, Handlungs-, und Wirkungsmustern - auch mit Rückgriff auf die Operngeschichte bis in die frühe Zeit, wie H. Lühning gezeigt hat - praktizierbar. Von dieser allgemeinen Orientierung müsste die Erstellung einer Typologie der Rettungsoper ihren Ausgang nehmen. Der Überblick über die Ausformungen von »Rettungsopern«, die bereits mehrfach erwähnt wurden, soll dazu erste Ordnungsraster bereitstellen. Sie repräsentieren mitsamt ihren Schöpfern Beispiele von unterschiedlichen Entwicklungsstufen und Typen. Alle drei Komponisten stammen aus Italien, wo sie auch ihre künstlerische Prägung erfuhren; auf dem Gebiet der Rettungsoper aber haben sie sich in der Zusammmenarbeit mit französischen Librettisten durchgesetzt. In Paisiellos Nina findet die Herausbildung des Neuen in ersten kleinen Schritten statt. Die Geschehensabfolge verbleibt, abgesehen von den Verfahrensmustern, die zur Motivierung des Umschlags in die Glückserfahrung eingesetzt sind, noch stark den Konventionen verhaftet. 70 Während hier die Handlung durch die ganz auf innere Abläufe konzentrierte Liebes- und Leidensgeschichte, die das von ihrem Vater enttäuschte Mädchen durchleben muss, eigentlich unspektakulär auf die »pazzia« konzentriert 146 Klaus Ley vrage à sa manière, où il exposait toutes ses nouvelles idées sur le drame, l’ardent novateur proposait sérieusement de remplacer les pièces des auteurs qu’il voulait exclure de la scène, c’est-à-dire celles de Racine et de Corneille, par ses propres ouvrages, plus conformes, préntendait-il, à la grande réformation scénique dont il était le nouveau Luther« (Bonnet (Hrsg.), Mercier, S. 440). 70 Zur Charakteristik des Werks und zu seiner die Gattungsmischung weiterführenden Funktion wird in Musica in scena vermerkt: »di conio goldoniano (La buona figliola), ad onta della frequente provenienza d’oltralpe dei soggetti, è il carattere patetico e lacrimevole di cui sempre più vengono intrisi i libretti dell’ultimo Settecento; la Nina o sia la Pazza per amore di Lorenzi/ Paisiello (Napoli 1789), da Marsollier e Dalayrac, è il caso tipico (pene d’amore di sapore preromantico e di esplicita ascendenza francese - comédie larmoyante - […]; di qui alla contaminazione con la vera e propria tragedia per musica, contaminazione facilitata dall’identità di linguaggio e di forme musicali fra i due generi ormai conseguita verso la fine del secolo, il passo è breve: è dell’ultimo Settecento la crescita d’interesse per soggetti cosiddetti semi-serî, tragicommedie a lieto fine con personaggi buffi e seri, buoni e cattivi e con intrecci prevalentemente sentimentali non privi di momentanee complicanze tragiche e scene terribili«. (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 173). Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 147 ist, weisen die Rettungsopern des jüngeren Cherubini bereits eine klare dramatische Bewegtheit auf, die sich mittels »imbroglio« zu großen Spannungsbögen ausweitet und die Erregtheit hochtreibt. Zusätzlich unterstützt wird diese Wirkungsabsicht nun auch durch den dezidierten Einsatz von neuen Stoffen, in denen ein volkstümliches Moment vorherrscht. Als Vorlage besonders geschätzt ist zeitgenössische, beim Publikum bereits bekannte Erzählliteratur, vorzüglich Romane und Novellen auch neuester Produktion, die sich als erfolgreich erwiesen haben. Deren Gegenwartsnähe wird nicht selten durch die Versicherung der beteiligten Librettisten intensiviert, das dargestellte Geschehen entspringe unmittelbar persönlichem Erleben. 71 Aus solchen Werken werden Cherubini, dessen italienische Anfänge ja noch in die klassizistische Operntradition hineinreichen, die Textvorlagen geliefert, die den Erfolg seiner Rettungsopern garantieren. Besonders illustrativ für diesen Zusammenhang ist die auch als »comédie héroique« bezeichnete Lodoiska (1791), deren Libretto von Claude-François Fillette, gen. Loraux verfasst wurde. Es geht zurück auf das mehrteilige, von 1787 bis 1790 erschienene und sogleich als Erfolgsroman sehr bekannt gewordene Werk Les aventures du chevalier de Faublas von Jean-Baptiste Louvet de Couvray, in dessen erstem Teil sich bereits die Lodoiska-Episode befindet. 72 Die holzschnittartig pathetische Ausgestaltung, die die Opernhandlung prägt, zeichnet schon die Vorlage aus. 73 Bei klarer Vertei- 71 Diese Ansicht wird immer wieder neu aufgelegt: »Some rescue operas were based on contemporary real-life incidents, among them Gaveaux’s Léonore, ou l’amour conjugal (1798) and Cherubini’s Les deux journées (1800), both with librettos by J. N. Bouilly.« (Dean, »Rescue opera«, S. 755). - Ohne hinreichend genaue Präzisierung der vermuteten Wirkungsabläufe erscheint das Argument auch in Musica in scena: »Ragioni di opportunità potevano indurre a camuffare azioni e personaggi, trasportandoli in una improbabile Polonia […] o nella Francia del cardinale Mazzarino: non perciò lo spettatore contemporaneo di Marat, Saint-Just, Danton e Robespierre cessava di riconoscersi in quelle vicende di carcerati e carcerieri, perseguitati e persecutori, tradimenti e lealtà, che costituivano la cronaca quotidiana e cadevano sotto l’immediato giudizio dell’opinione pubblica.« (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 244). 72 Mit dieser Themenwahl habe sich Cherubini, so wird ihm zugesprochen, auf der Höhe der Opernkomposition seiner Zeit befunden: »la modernità dei suoi orientamenti si esplicò nel nuovo genere di teatro musicale scaturito dal seno del vecchio ›opéra-comique‹ e affermatosi in Francia e di poi in tutta Europa come conseguenza del dilagare del gusto per gli intrecci romanzeschi a forti tinte, con violenta ›suspense‹ finale, prima del lieto scioglimento a colpo di scena.« (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 243). - Nach Cherubini sowie Kreutzer, Mayr und Paër, die alle die Lodoiska-Episode bearbeiten, hat schließlich noch einmal Rossini mit Torvaldo e Dorliska auf dieses Werk zurückgegriffen; vgl. dazu Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 289. - Das autobiographische Moment scheint sich darauf zu beschränken, dass die Frau des Verfasser Louvet auf den Namen Lodoiska hörte. 73 Die spätere Titelheldin der Oper etwa wird bei Louvet an der Seite ihres Vater folgendermaßen eingeführt: »Comme ces héros à qui Rome idolâtre et reconnaissante éleva des autels, Pulanski eût sacrifié tous ses biens à la prospérité de son pays, il eût versé jusqu’à la dernière goutte de son sang pour sa défense, il eût même immolé sa fille unilung der Gewichte von Gut und Böse, Gerechtigkeit und Tyrannei, drängt das Geschehen über verschiedene Etappen großer Gefährdung mit einer überreichen Fülle von Ereignissen zum hochdramatischen Höhepunkt, in dem die erotischen und militärischen Handlungsmomente ihre Auflösung finden: Der Vorlage entgegengesetzt vollzieht sich - als gattungsspezifischer Überraschungscoup - im Lieto fine die Rettung. 74 Anders gelagert - in gewissem Sinne als Gegenmodell - ist der Fall des später entstandenen Werks von Cherubini, der anhaltend bekannt gebliebenen Oper Les deux journées, die in einer Linie mit Nina und Milton steht. In Les deux journées begegnet ein gespanntes Auf und Ab von politischer Verfolgung, dem ein in äußerste Not geratenes adliges Paar ausgesetzt ist. Auch hier verbirgt sich wohl weniger, als er selbst behauptet, die eigene Erfahrung des Librettisten Bouilly hinter dem Geschehen. 75 Verschiedene auffallende Züge reihen dieses Werk viel mehr in eine längst etablierte literarische Tradition ein. 76 Sicherlich ganz im Vordergrund befindet sich 148 Klaus Ley que, sa chère Lodoiska.« (Jean-Baptiste Louvet de Couvray, Vie du chevalier de Faublas, 4 Bde., Paris 1807, Bd. 1, S. 93). 74 Im Roman wird die Fortführung, die nach weiteren Überraschungen schließlich mit dem jammervollen Sterben Lodoiskas endet, allerdings zunächst durch eine Erzähleinlage nachhaltig verzögert; deren abruptes Einsetzen bannt die geballte Wirkung der entfesselten Gewalten: »Tout-à-coup j’entends crier aux armes; des hurlemens affreux s’élèvent de toutes parts autour du château; il se fait un grand mouvement dans l’intérieur (…). Le bruit d'abord très-grand semble diminuer; il recommence ensuite, il se prolonge, il redouble, on crie victoire! (…) Tout-à-coup à ce vacarme affreux succède un silence effrayant: bientôt un bruissement sourd frappe nos oreilles, l’air siffle avec violence, la nuit devient moins sombre, les arbres du jardin se colorent d’une teinte jaune et rougeâtre, (…): les flammes dévoraient le château de Dourlinski; elles gagnaient de tous côtés la chambre où nous étions, et pour comble d’horreur, des cris perçans partaient de la tour où je savais que Lodoiska était enfermée. - Ici (le narrateur) fut interrompu (…)«. (Louvet de Couvray, Faublas, Bd. 1, S. 123f.). Ebenso abrupt, wie die Episode unterbrochen wird, folgt hundert Seiten später die Wiederaufnahme, die hier mit dem Tode Lodoiskas endet: »Vous devez être, mon cher Faublas, pénétré de l’horreur de ma situation. Le feu (…).« (ebd., S. 219). - In der von Kreutzer vertonten Fassung wird die abschließende Rettung verändert vorgestellt; in beiden Opern bleibt es aber bei den aus der Vorlage entlehnten pathetischen Aufgipfelungen des Handlungsablaufs. 75 In seinen späten Erinnerungen, Mes récapitulations, gibt Bouilly eher vage Erklärungen zu einem in der Revolutionszeit angesiedelten Geschehen, das für die Findung des Sujets von Les deux journées als Anlass gedient habe: »Le trait de dévouement admirable d’un porteur d’eau, envers un magistrat de mes parents, qui fut sauvé sous la terreur comme par miracle, m’inspira l’idée de donner au peuple une leçon d’humanité.« (Bouilly, Mes récapitulations, Bd. 2, S. 169). - Zum Autor vgl. auch David Galliver, »Jean- Nicolas Bouilly (1765-1842), successor of Sedaine«, in: Studies in music 13/ 1979, S. 16- 33. 76 So liegen die Anfänge für das Interesse an dem Wasserträger aus Savoyen bereits lange vor Rousseau. Das belegt Watteaus berühmtes Gemälde Savoyarde mit Murmeltier aus der Frühzeit des Jahrhunderts; mehrfach behandelt erscheint das Thema auch in den Figures de différents caractères (vgl. auch Marianne Roland Michel, Watteau 1684-1721, Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 149 dabei die Novelle Claudine, nouvelle savoyarde, die der Verfasser Florian, ein entfernter Neffe Voltaires, im Jahre 1788 ansiedelt. Aus dem Rahmen dieses Werks, das - 1789 erschienen - wiederum ganz zeitgenössisch ist, beziehen gleich zwei von Cherubinis Rettungsopern ihr Grundgerüst. 77 Mit der Alpenkulisse als Ausgangspunkt der Erzählung begegnet nämlich auch die dramatische Naturauffassung, wie sie in Elisa vorgeführt wird. Erst dann wird dem bäuerlich-einfachen Leben Raum gegeben, das in Les deux journées den Charakter der zentralen Figur, des Wasserträgers Mikeli, bestimmt. Die spannungsvolle Geschichte, die Florian im Hauptteil seiner Novelle entfaltet, findet keinen unmittelbaren Eingang in die Opern Cherubinis; sie ist aber als Hintergrund zur Charakterisierung der darin agierenden Protagonisten präsent. Es geht bei Florian um ein junges Mädchen, dessen Wesen durch die harte Welt der Berge geprägt ist. Dank ihrer Festigkeit, ihres Edelmuts und ihres anpassungsfähigen Einfallsreichtums überwindet Claudine zahllose Schwierigkeiten. Mit ihrem unehelich geborenen Kind, dessen Empfängnis nur die erste einer Reihe von Irrungen und Katastrophen ist, die sie mit ihrem guten Herzen aber alle meistert, findet sie am Schluss unverhofft ihr Glück an der Seite des wiederaufgetauchten Geliebten. Die Novelle steht unübersehbar im Kontext von Florians Vorliebe für die pastorale Dichtung; im Geiste Rousseaus und Gessners wird hier die Einfachheit und Direktheit der alpenländischen Bergbewohner dargestellt. Eine dramatische Fassung, wie sie der erfolgreiche Jean-Nicolas Bouilly dem Sujet in dem Libretto von Les deux journées gegeben hat, war für Florian noch ausgeschlossen, obwohl die emotionsträchtigen Schicksalsfügungen, die die als Mann verkleidete Claudine überstehen muss, dem »drame bourgeois« Diderots nahestehen und die Abfolge der Peripetien eine dem Konzept Merciers entsprechende Handlungsauflösung zeigt. Bouilly verfährt demgegenüber ganz nach den Gesetzen der neuen Gattung, deren grenzüberschreitendes Mischungsverfahren dem in dieser Hinsicht weniger innovativen Florian noch fremd war. Ihm geht es wesentlich um die zeitgemäße Erneuerung der pastoralen Dichtung. In seinem Essai sur la pastorale hält er entschieden die alte Trennung aufrecht: Au théâtre [...] les passions extrêmes font seules de l’effet; on n’émeut que par des explosions violentes; on ne touche qu’en frappant fort. Les fureurs de la tragédie n’ont rien de commun avec les chagrins de l’idylle. Le rire de München 1984, S. 276ff.). In Les deux journées wird diese Ikone von dem jungen Antonio, dem Sohn des Wassertägers, repräsentiert. Der kindliche Aspekt ist gleichfalls vorgegeben in Dalayrac/ Marsollier: Les deux petits savoyards (1789); in Carpanis Übersetzung des Librettos: I due ragazzi savoiardi, Monza 1791. 77 Jean Pierre Claris de Florian, Six Nouvelles (Paris 1789); benutzte Ausgabe: Œuvres complètes, 14 Bde., Leipzig 1810, Bd. 1, S. 209-241. la comédie ne ressemble point à la gaîté douce des bergers. Ceux-ci ont leur langue à part. On ne l’entend point hors de leur vallon. 78 Solche Grenzziehungen hebt Bouilly schon dadurch auf, dass er seine Bergbewohner in das Stadtleben transferiert. Auch das Handlungsgefüge von Les deux journées ist gegenüber Florians Novelle erheblich verändert. Mit der prägenden Kraft Savoyens im Herzen - das ist das den beiden Texten Gemeinsame -, rettet der samt seiner Familie nach Paris versetzte Wasserträger Mikeli trotz mehrfacher Gefährdung einen unter Mazarin verfolgten Aristokraten und dessen Frau vor Gefängnis und Verderben. Wie bereits in der Exposition deutlich ist, hat dieser einst den mit seinem Murmeltier umherziehenden Sohn Mikelis aus großer Not befreit. Die so konstruierte Handlungsparallele erlaubt die Intensivierung der Rettung als des tragenden Spannungsmoments, an dem - nachrevolutionär - der Gedanke umfassender Humanität festgemacht ist. Der Klassenantagonismus wird durch die wechselseitige Hilfeleistung, die einst und jetzt Rettung und Glück befördert, überwunden. Der Eindruck schlichter Erhabenheit entspringt derselben Größe des Erlebens, wobei die Rolle des sich selbstlos einsetzenden Helfers plakativ dem Wasserträger zugeordnet ist. In Les deux journées werden nicht die immer gleichen Naturgefahren in den Bergen als gegenwärtig gezeigt, sondern die gesellschaftlich vermittelten Zwangslagen, die in der Stadt drohen. Auch dort kann sich der Mann vom Lande, der dem natürlichen Leben seine Prägung verdankt, als Retter und Vertreter wahren Menschseins offenbaren und beispielhaft wirken. Die nach analogem Verfahrensmuster funktionierende Variante mit umgekehrt besetztem Personal hatte Cherubini bereits in Elisa ou le voyage aux glaciers du mont Saint Bernard mit dem Libretto von J.-A. de Révéroni de Saint-Cyr realisiert. Die Rettung widerfährt hier dem städtischen Liebespaar in der Berglandschaft, wo dräuende Naturgewalten, wie auch in der Exposition von Florians Novelle beschworen, sie in einer Abfolge von Peripetien zu vernichten scheinen, bevor mit Hilfe der Alpenländler die Not ein glückliches Ende findet. Hier begegnet die Ästhetik des Erhabenen, wie sie schon in Albrecht von Hallers Die Alpen gefasst ist. 79 Bei Florian wird das Thema nur als Rahmen der Haupthandlung, in seiner Funktion als Kontrast zu der nachfolgenden Idylle, genutzt. In Claudine setzt die Erzählung ein mit der 150 Klaus Ley 78 Die Erörterung, in der auch auf Saint-Lambert verwiesen wird, ist abgedruckt als Vorspann zu Estelle, roman pastoral (1788); zit. nach der Ausgabe von Florians Roman: Paris 1814, S. 5-20, [hier: S. 10]. - Vgl. auch Robert Mauzi, L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises du XVIIIe siècle, Paris 1979, S. 370ff. 79 Vgl. auch Michael Fend, »Literary motifs, musical form and the quest for the ›Sublime‹: Cherubini’s Eliza ou le voyage aux glaciers du mont St Bernard«, in: Cambridge Opera Journal 5/ 1993, S. 17-38; David Charlton, »Cherubini. A critical anthology, 1788-1801«; in: RMA Research chronicle 26/ 1993, S. 95-127. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 151 Erwähnung einer Reise: »je résolus d’aller visiter les fameux glaciers de Savoie.« Dabei wird dann über die wirkungsästhetischen Aspekte, wie sie bei Cherubini musikalisch Umsetzung finden, ausführlich Auskunft gegeben: Je ne décrirai point ce voyage: il faudroit ne parler que d’extases, d’étreintes, de tressaillemens; et j’avoue que ces mots, devenus si simples, ne me sont pas encore assez familiers. J’ai vu le mont Blanc, et la mer de glace et la source de l’Arvéron. J’ai contemplé longtemps en silence ces rochers terribles, couverts de frimas, ces pointes de glace qui percent les nues; ce large fleuve qu’on appelle une mer, suspendu tout-à-coup dans son cours, et dont les flots immobiles paroissent encore en fureur; cette voûte immense formée par la neige de tant de siècles, d'où s’élance un torrent blanchâtre qui roule des blocs de glaçons à travers des débris de rocs. Tout cela m’a frappé de terreur et pénétré de tristesse: j’ai cru voir l’effrayante image de la nature sans soleil, abandonnée au dieu des tempêtes. En regardant ces belles horreurs, j’ai remercié l’Être tout-puissant de les avoir rendues si rares. 80 Die beiden in ihrer Gegensätzlichkeit für Claudine konstitutiven Aspekte von Hochgebirgsszenerie und alpiner Geradlinigkeit haben Révéroni und Bouilly jeweils in ihren Libretti als Rahmen des dramatischen Geschehens verselbständigt und in neue kontrastreich aufgefächerte Handlungsmuster eingebunden, die um Liebe und Nächstenliebe in existentiellen Grundsituationen kreisen. Cherubini, der Komponist, setzt diese Vorgaben musikalisch um, wobei er zur Erzielung der intendierten Wirkungen auch auf seine frühen Erfahrungen mit der »seria« zurückgreift. Die ungewohnte Thematik, für deren wirkungsvolle Vertonung die musikalischen Mittel verwendet werden, enthält starke Erneuerungsimpulse. Mit seinen Beiträgen zur Gattung Rettungsoper etabliert Cherubini so die Werke, die über den momentanen Erfolg hinaus Zustimmung finden. Wie nicht nur die Bewunderung durch Beethoven unterstreicht, brachte Cherubini das Genre europaweit zu seiner gültigen Form. 81 In Italien selbst wurde die Assimilation der Rettungsopern, nicht nur bei Cherubini und Spontini, durch Anpassung an die etablierten Formen erzielt. Wie sich die »pièce à sauvetage« in eine italienische Form »rückverwandelt«, zeigt das Beispiel G. S. Mayr, der die dort bekanntesten Werke dieses Typs verfasste: Mayr, ovviamente, li [scil. pièces à sauvetage] tratta nelle forme proprie all’opera italiana, sostituendo i dialoghi parlati con i recitativi, scrivendo in- 80 Florian, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 209. 81 Vgl. hierzu auch Charlton, »Cherubini, a critical anthology, 1788-1801«. - Zur Vorläuferrolle von Elisa für Webers Freischütz vgl. Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 245. troduzioni, cavatine, concertati e finali in uno stile misto che fra non molto s’identificherà nel nuovo genere semiserio. 82 Auch von Spontinis Milton gibt es eine entsprechende »re-italianisierte« Fassung. Das Werk ist aber hier noch aus einem gewichtigeren Grunde von Interesse: Der Komponist wollte gerade diese frühe Arbeit aus kleinen Anfängen zu einer großen Form bringen. Mit dem langgehegten, zuletzt scheiternden Plan, das einaktige, nach dem Schema der »pièce à sauvetage« gebaute Stück zur umfassenden Erlösungsoper auszubauen, umschließt das Projekt der Erweiterung die Jahrzehnte der weiteren Entwicklung des Genres. Mehr noch als in der »Wasserträger«-Oper wird in Milton, so wie das Werk in seiner Frühfassung jetzt vorliegt, auf das große Spektakel verzichtet. Auf der Linie von Paisiellos Nina geht es weit mehr um innere Dramatik, die in eher kurzen Momenten einen Reflex in äußerer Spannung findet. Das Libretto, das Jouy verfasst hat, ist - wie schon Cherubinis Les deux journées - ein »fait historique«. Damit ist die Form bezeichnet, die neben Bouilly und Jouy auch andere für ihre Libretti und Schauspiele reklamiert hatten - die aber bereits lange zuvor wiederum Goldoni, noch unter dem Rubrum »commedia«, in seinen Dichterdramen entworfen hatte. 83 Die Grundlage der Handlung um den greisen Dichter von Paradise Lost, die Jouy aus zwei Dichterbiographien gewonnen hat - er nennt Johnsons Vie des poètes (1781) und W. Haileys Vie de Milton (1799) -, zeigt dasselbe Schema der Aufteilung wechselseitiger Hilfe wie Les deux journées. So wie Milton in den Anfängen der Herrschaft Cromwells den Lord Davenant vor dem sicheren Tode bewahrte, wird er nach der Wiedereinsetzung der Monarchie von dessen Sohn gerettet. Humanität vollzieht sich auch hier auf der Ebene personaler Entscheidungen, ohne unmittelbaren Einfluss von oben. Dadurch, dass Liebeshändel, auch mit leicht groteskem Anstrich, in die Verfolgungsgeschichte eingeflochten sind, wird zusätzlich Spannung 152 Klaus Ley 82 Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 180. - Zu nennen wäre hier noch neben Morlacchi der ungleich bekanntere F. Paër: »Nel gran guazzabuglio del periodo rivoluzionario e napoleonico fu il solo a dare volto e carattere schiettamente italiani alla ›pièce à sauvetage‹ di cui offrì piacevoli saggi in Camilla ossia Il sotterraneo (testo di Giuseppe Carpani, da Benoît-Joseph Marsollier, Vienna 1799), Lodoiska (testo di Francesco Gonella; Bologna 1804), Leonora, ossia L’amore coniugale (testo di Giovanni Schmidt, da Jean-Nicolas Bouilly, Dresda 1804) incautamente tirata in ballo tra i precedenti che avrebbero ›influenzato‹ la gestazione del Fidelio (…)«. (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 270). 83 Als Gattungsbezeichnung von Goldonis Terenzio erscheint anlässlich einer Aufführung in Modena um 1770 auch noch togata. - Zur Gattung des »fait historique« vgl. auch Suzanne Jean Bérard, »Une curiosité de théâtre à l’époque de la Révolution, les Faits historiques et patriotiques«; in: Romanist. Zeitschrift für Lit. gesch. 3/ 1979, S. 250ff.; Fritz Nies, »Zeit-Zeichen. Gattungsbildung in der Revolutionsperiode, und ihre Konsequenzen für Literatur- und Geschichtswissenschaft«, in: Francia 8/ 1980, S. 257ff. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 153 erzeugt. Der Rettung ist, gewissermaßen zur Akzentuierung der ästhetischen Qualität ihrer Wirkung, die Szene des »moment sublime« vorgeschaltet, in der der blinde Milton, der Dichter des Erhabenen, durch den Vortrag seines berühmtesten Textes die Vorstellung des Paradieses evoziert, als dessen Widerspiegelung die beiden jungen Liebenden zugleich ihr eigenes aktuelles Erleben begreifen. Gleich im Anschluss schlägt das Geschehen um in die Erkenntnis der Lebensgefahr, aus der aber das Lieto fine herausführt, das die Befreiung bringt und in einem Hochzeitsversprechen gipfelt. 84 Das Element bürgerlicher Innerlichkeit ist im gesamten Ablauf ins Zentrum gerückt, so wie es sich im Ansatz bereits in Paisiellos Nina findet, aber auch in Cherubinis Rettungsopern, selbst bei den spektakulärsten Gegebenheiten, als Projektion von seelischen Erfahrungen intendiert ist. In der musikalischen Ausführung ist Milton gleichfalls dem Vorbild Cherubinis verpflichtet. 85 Wie angedeutet, hat Spontini aber dann an der Konzeption des Werks und der Ausweitung seines Rahmens im Sinne der großen Oper mit immer neuer Anstrengung bis zuletzt gearbeitet. Das Ergebnis könnte, wenn es denn vorläge, den weiten Bogen dokumentieren, den die Rettungsoper im Laufe ihrer Entwicklung gemacht hat. 86 Die Alternative einer Weiterentwicklung, mit ganz neuen Folgen für die Operngeschichte insgesamt, lässt sich am Beispiel Rossinis verfolgen. 87 Dagegen zeigt Cherubinis späte Rettungsoper, die für Wien geschriebene Faniska (1806), unter welchen Konstellationen es für ihn zum Ende der Gattung kam. Das Werk, dessen Ablauf in gewisser Weise eine Wiederaufnahme von Lodoiska darstellt und das sich zusätzlich über die Orientierung an Beethovens Fidelio in seine eigene Gattungsgeschichte einschreibt, fußt - ansatzweise - zugleich in der Tradition des »mélodrame«, das inzwischen in Frankreich die Bühne beherrschte. Als aber Pixérécourt, nach dessen Stück Les mines de Pologne das Textbuch verfasst ist, 88 ein Jahrzehnt später eine französische Überarbeitung vorschlägt, verweigert sich Cherubini mit 84 Vgl. dazu auch Paolo Fragapane, Spontini, Florenz 1983, S. 160f. 85 »In questo senso l’operina Milton, pregi intrinseci a parte, non rappresenta che il geniale, rapido affinamento degli strumenti del mestiere, forbiti all’acido mordente della commedia musicale francese e all’assimilazione, saggiamente cauta, della solidità costruttiva e del vigore orchestrale cherubiniani […]. La tradizione buffa italiana, più assai che ›l’opéra comique‹, venne in aiuto di Spontini nella stesura dei pezzi d’assieme«. (Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 255). 86 Nachdem Spontini um 1837 an einem Libretto Miltons Tod und Buße für Königsmord gearbeitet hatte, lautete der Titel um 1843 Das verlorene Paradies; weitere Spuren haben sich nicht erhalten. Über den Verbleib der Manuskripte ist nichts bekannt; vgl. dazu auch Albert Libby Dennis, G. Spontini and his French and German operas, Princeton 1969, S. 452ff. 87 Vgl. dazu Basso (Hrsg.), Musica in scena, Bd. 2, S. 289. 88 Der Librettist ist - wie im Falle von Fidelio - Joseph von Sonnleitner. dem Argument, das Werk passe nicht in die Theaterszene jenseits des Rheins, wo das Genre ja seinen Anfang genommen hatte. 89 Durch ihre geschlossene Stuktur, die Cherubini für unverzichtbar hielt, war die Rettungsoper mit den der Aufklärung und Präromantik verpflichteten Wirkungsabsichten an ihr Ende gelangt. Damit bestätigt sich im Rückblick das der »pièce à sauvetage« zugrundeliegende Modell als vom Lieto fine her zu bestimmendes Musiktheater, auf das auch der Einsatz aller Elemente aus der früheren Operngeschichte, die als für diesen Zweck geeignet assimiliert werden, zu beziehen ist. 90 In den so vorgegebenen Rahmen werden altbekannte, aus der Tradition des Musiktheaters geläufige Formen integriert - angepasst, neubelebt, weiterentwickelt. 91 So stellt sich die Geschichte der »pièce à sauvetage« als ein großer Transformationsprozess dar, in dem auch die »Revolutionsoper«, wenn denn eine Typologie erstellt werden soll, eine nicht unwichtige Stelle einnimmt. Während in deren Kontext Fragen des unmittelbaren Kontaktes und der bereits vordergründigen Interdependenz von Kunst und Politik 154 Klaus Ley 89 Vgl. Richard Hohenemser, Luigi Cherubini. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1913 (Nachdruck 1969), S. 318. 90 Entsprechend ist das, was S. Döhring am Beispiel von La Caverne über seine Sicht zur Problematik der Rettungsoper mitteilt, anders zu gewichten: »Nicht ein neues dramaturgisches Modell der Rettungsoper war also verantwortlich für die frappierende Wirkung […], als vielmehr die konsequente theatralische Ausreizung aller herkömmlichen Darstellungsmittel.« (»Rettungsoper«, S. 130). 91 Die einzelnen Elemente sind auch in Werken zu beobachten, die nicht zum Typ »Rettungsoper« zählen. Als Beispiele seien genannt: die »orrida spelonca con fossa cavata nel fondo, in cui dev’esser sepolta viva Idalide«, wie es in der Szenenanweisung III, 4 zu der nach Marmontels Les Incas entwickelten Oper Idalide (1784) von G. Sarti, dem Lehrer Cherubinis, heißt; der Text ist von Ferdinando Moretti (das Zitat: Ferdinando Moretti, Opere drammatiche, St. Petersburg 1794, Bd. 1, S. 82). Gleichfalls in finsteren Gemäuern spielt Sartis Giulio Sabino (unter dem Titel L’Epponina, nach dem Namen der Protagonistin, 1779 für Florenz auch schon vertont von Anton-Giuseppe Pagani; 1786 wurde in London Cherubinis Fassung gegeben). In Cherubinis Mesenzio, re d’Etruria, dramma eroico (1782) spielt der 2. Akt in einem »profondo sotterraneo, dove sono i sepolcri de’ Re«. Hier, im »di spavento, e di lutto orrido speco« (II, 8), fühlt sich der dem Kerker (II, 6) entflohene Lauso »di quella tomba nel cupo sen« (II, 9) und hier trifft er kurz vor der Wende seines Schicksals - wie Radames in »Aida« - seine Geliebte. Allerdings geschieht das im Vergleich zu dem Pyramidengrab spiegelverkehrt: die Sklavenrolle hat der als Prinz verkannte Lauso inne; die ihn über alle Hindernisse treu liebende Ersilia ist die Tochter des die Verbindung verbietenden Herrschers Mesenzio. Der Konflikt wird noch so gelöst, dass auf alle ein »lieto fine« wartet: »Nasce tra l’onde/ Le più funeste/ Fra le tempeste/ La calma in mar.« Die auffälligen Parallelen zu Verdis »altägyptischer« Oper fügen sich durchaus in den Rahmen von deren Entstehungsgeschichte ein; vgl. dazu Klaus Ley, »Zur Affektregie in Verdis Aida. Musikdrama und historischer Roman«; in: Italienisch 23/ 2001, S. 44-60. Vgl. auch Mario Fabbri, »La giovinezza di L. Cherubini nella vita musicale fiorentina del suo tempo; in: L. Cherubini nel centenario della nascita. Contributo alla conoscenza della vita e dell’opera, Florenz 1962, S. 1-44. Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 155 offen zutage treten, erscheint für die übergreifenden Zusammenhänge das Problem ihrer Beziehung und die Form der Vermittlung sehr viel komplexer. Dass die politische Entwicklung bei der Suche nach neuen künstlerischen Formen der Oper ihren Einfluss auf das Publikum ausübte, hat bereits Edward Ballasis hervorgehoben, lange bevor der Begriff der Rettungsoper mit seinen Derivaten geprägt wurde. Als der englische Cherubini-Forscher 1874 die »musikalische Revolution« der späten 1780er-Jahre skizziert, stellt er sie umsichtig in eine eher vage Analogie zu den sozialen und politischen Verhältnissen in Frankreich. 92 Stattdessen hebt er den Aspekt der vor allem von Cherubini betriebenen Transformation des zeitgenössischen Opernschaffens hervor. Mit Lodoiska, dem Werk, »welches unser Komponist längst vorbereitet hatte«, lässt er »das ungewöhnliche Schauspiel eines Italieners [...], der die italienische Oper umstürzt«, 93 beginnen. Zur Begründung seiner Argumentation beruft er sich auf einen von Oulibicheff verfassten Artikel aus Musical World for 1862; dieser benennt als Motiv des Neuaufbruchs das Erstehen der echten dramatischen Musik des neunzehnten Jahrhunderts - gegründet von den großen Meistern der französischen Schule, Cherubini, Méhul und Spontini. Was konnten Komponisten [...] thun gegen solche Werke wie Lodoiska, Les deux journées, Faniska [...], welche Europa mit Enthusiasmus erfüllten, und in denen es sich selbst wiedererkannte? 94 * Welche Wirkungsprozesse die Vorstellung des so zustandegekommenen Operntyps auf den Weg zu bringen beabsichtigte und brachte, wird am Bei- 92 Kunst und Politik werden hier noch sehr vermittelt zueinander in Verbindung gesetzt: »Der ›Mio-tesoro-Styl‹ war schlecht gebettet in einer so stürmischen Zeit. Ungefähr seit 1789 war ebenso wie in der Politik, so in Literatur und Musik ein neuer Geist aufgestiegen.« (Hans-Josef Irmen (Hrsg.), Luigi Cherubini Leben und Werk in Zeugnissen seiner Zeitgenossen. Aus dem Englischen des Edward Ballasis übersetzt von Joseph Rheinberger, Regensburg 1972, S. 26. - Die Originalausgabe, Ballasis’ Cherubini. Memorials illustrative of his life, kam 1874 heraus; die erst 1965 im Manuskript wiederentdeckte Übersetzung J. Rheinbergers ist 1879 entstanden.). 93 Ebd., S. 25. 94 Der Erklärungsversuch verbleibt zwar in den Kategorien romantischer Aufklärungskritik, benennt aber doch Qualitäten, deren Verständnis einen treffenden Zugang ebnet: »Die ganze dramatische Musik des achtzehnten Jahrhunderts musste natürlich dem Geiste der von Unruhen und Kriegen tief aufgeregten Menschheit kalt und nackt erscheinen; und selbst heutzutage drückt vielleicht das Wort »Langueur« im allgemeinen am besten das aus, was uns in den Opern des letzten Jahrhunderts, selbst die von Mozart nicht ausgenommen, nicht mehr ergreift.« - Beinahe ungewollt ist diese Deutung zeitbedingt, überformt durch das Reizwort des Neorokoko, ja der aufkommenden Décadence. Dass die These gerade auch aus dieser Sicht anfechtbar war, zeigt allerdings bereits der wenig später notierte Protest, den Rheinberger in der deutschen Fassung anbringt: »Der Übersetzer erlaubt sich nun, hier ein großes Fragezeichen zu machen.« (S. 26). spiel einer zeitgenössischen Illustration zu Cherubinis Lodoiska, aus der damals sehr beliebten Galerie Théâtrale (11. Buch, No. 43), deutlich. 95 Sie zeigt den Sänger Simon Chenard (1758-1832) in der Rolle des furchterregenden, das Schwert schwingenden Titsikan. Das ethische Moment einer innerweltlichen »générosité«, die auch droht und richtet, steht in dem von Beaublé, dem Kommentator der Abbildungen, verfassten Subscript im Zentrum: Arrêtez, il est juste que j’imite sa générosité, il a respecté mes jours, respectez les siens, respectez les ou j’abbats la tête de celui qui oserait attenter à sa vie. 156 Klaus Ley 95 Das Werk, dem die Abbildung entstammt, ist in verschiedenen Auflagen aus fast 20 Jahren herausgebracht worden: Galerie théatrale des differens acteurs des théâtres de Paris dans les costumes des roles qu’ils représentent, Paris 1806 (16 Bde. in-8 °, 1600 pl. en couleurs); später als: Galerie Théatrale, ou collection des portraits en pied: des principaux Acteurs des trois premiers Theâtres de la Capitale, gravés par les plus célébres artistes, imprimés en noir et en couleur, Paris 1812 [Nachdruck ca. 1830]. 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Zum glücklichen Ende der Rettungsoper 159 Gabriele Buschmeier Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 Mit den folgenden Bemerkungen, die der Schlussgestaltung in der Tragédie lyrique um 1800 gewidmet sind, sollen zum Tagungsthema einige charakteristische Beobachtungen aus dem Bereich des französischen Musiktheaters beigesteuert werden. 1 Meinem Gegenstand möchte ich mich in zwei Schritten nähern: In einem ersten Schritt (I) werden zunächst einige Hinweise auf zeitgenössische theoretische Überlegungen zur Schlussgestaltung in der französischen ernsten Oper gegeben. Die Namen Du Roullet, Marmontel und de Jouy stehen hierbei im Zentrum und markieren sozusagen die Eckpfeiler. Unter der Prämisse, dass die Libretti das Gerüst der Oper bilden und ihr zentrales Strukturelement sind, wird sodann in einem zweiten Schritt (II) kursorisch die französische Librettistik der Nach-Gluck-Ära beleuchtet, und es werden typische Schlüsse in Textbüchern ab den 1780er- Jahren - von Du Roullet bis de Jouy - vorgestellt. Dabei wird an exemplarischen Beispielen gelegentlich auch kurz auf die musikalische Schlussgestaltung in der französischen Oper um 1800 eingegangen. Dass die Behandlung der genannten Aspekte lückenhaft bleiben muss und nur gestreift werden kann, versteht sich im vorgegebenen Rahmen von selbst. Bei meinen folgenden Ausführungen möchte ich mich auf die ab dem späten Ancien régime an der Pariser Académie Royale - später Impériale - de Musique aufgeführten Rezitativopern beschränken. Die während der Revolution entstandenen und aufgeführten pièces de circonstance und auch die sogenannte Rettungsoper bleiben dabei ausgeklammert. Anders als in Italien war in Frankreich der Begriff der musikalischen Tragödie bekanntlich an die vollständig durchkomponierte Oper gebunden, während die Komödie traditionell ihre Entsprechung in der Opéra-comique mit ihren gesprochenen Dialogen hatte. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Rezitativoper und Dialogoper besonders in den 80er- und 90er-Jahren nur noch ein äußerliches Unterscheidungskriterium. Generell ist zu konstatie- 1 In diesem Zusammenhang sei auf meine der Tragédie lyrique gewidmete Dissertation hingewiesen, in deren Rahmen umfangreiches Material zur französischen Oper gesichtet wurde, und auf der die folgenden Beobachtungen zum großen Teil basieren. Siehe Gabriele Buschmeier, Die Entwicklung von Arie und Szene in der französischen Oper von Gluck bis Spontini (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 27), Tutzing 1991. ren, dass das französische Musiktheater dieser Zeit ausgesprochen vielgestaltig und komplex ist. Epochemachende Werke gehören jetzt eher der Gattung der Opéra-comique an als der Tragédie lyrique. I. Zunächst sollen einige Hinweise auf theoretische Überlegungen zur Schlussgestaltung gegeben werden, die meines Erachtens entscheidenden Einfluss auf die französische ernste Oper bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts hatten. Bedeutenden Anteil an der Herausbildung einer neuen Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich gegen die klassische Tragédie en musique Quinaults richtete, hatte zweifellos Du Roullet. Formuliert hat er diese Ästhetik in seinen Lettres sur les drames-opéras von 1776, die als Programmschrift einer neuen, »reformierten« Librettistik bezeichnet werden kann. Vor Erscheinen dieses Manifests hatte Du Roullet seine prinzipiellen theoretischen Auffassungen bereits in einem offenen Brief vom Oktober 1772 an den Direktor der Pariser Oper dargelegt. Praktisch umgesetzt sind sie in seinem für Glucks Iphigénie en Aulide geschriebenen Libretto, das einen vollkommen neuen Textbuchtypus repräsentiert. Es zeigt exemplarisch, worauf es Du Roullet ankam und wie er es in seinen Lettres formuliert hat: Im Hinblick auf deren musikdramaturgische Möglichkeiten plädiert er klar für mythologische Sujets. Diese ermöglichen nach seiner Auffassung nicht nur die Darstellung intensiver und kontrastreicher Leidenschaften und Gefühle, sondern auch die Zusammendrängung der Geschehensfülle auf das Wesentliche in drei Akten und wenigen großen Szenen und Schauplätzen sowie nicht zuletzt eine aktive Beteiligung des Chors am Geschehen. Wichtig sind ihm dramatische Handlungszusammenhänge, in denen die Reaktionen, Gefühle und Leidenschaften der Protagonisten glaubwürdig dargestellt werden. In diesem Zusammenhang betont er besonders die Rolle des merveilleux - also des Wunderbaren und Übernatürlichen -, das man zwar nicht vollständig von der Opernbühne abschaffen könne, das aber mit Vorsicht und Bedacht eingesetzt werden müsse und nur dort seinen Platz haben dürfe, wo es auch wahrscheinlich sei und sich aus der Handlung ergebe. In diesem Zusammenhang stellt sich für Du Roullet die Frage, ob die Oper bei Übernahme tragischer Stoffe auch einen tragischen Schluss aufweisen sollte, was er allerdings eindeutig verneint: Il est d’ailleurs essentiel dans l’Opera-Tragédie que le dénouement soit heureux. A la représentation d’un bon Opéra, l’ame étant extrêmement affectée & ébranlée par l’union des paroles & de la Musique, a besoin d’être raffermie 162 Gabriele Buschmeier Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 163 & rassurée par un dénouement heureux qui produise une fête agréable qui la distraie & la console. 2 Das glückliche Ende ist also vor allem deshalb so wichtig, weil dadurch ein großes Schlussdivertissement mit zahlreichen Balletteinlagen ermöglicht wird, ohne das auch am Ende des 18. Jahrhunderts eine Opernaufführung in Paris kaum denkbar war. Um ein glückliches Ende herbeiführen zu können, sieht Du Roullet trotz seiner prinzipiellen Vorsicht betreffend des merveilleux aber keine andere Möglichkeit, als am Ende des Dramas übernatürliche Mächte eingreifen zu lassen: »On est donc quelquefois forcé, il est même souvent nécessaire d’avoir recours aux moyens surnaturel pour dénouer l’intrigue & terminer l’action du Drame lyrique …« 3 Im weiteren Verlauf spricht Du Roullet dann auch von einem dénouement surnaturel, welches sich aber immer logisch aus der Handlung ergeben und vor allem wahrscheinlich sein müsse. Du Roullets Ansichten zur Schlussgestaltung und zum merveilleux werden prinzipiell ebenso von anderen Theoretikern seiner Zeit geteilt, und seine diesbezügliche Ästhetik wird bis in die beiden ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht in Frage gestellt. Es fällt allerdings auf, dass in den zahlreichen theoretischen Schriften über die Oper weniger über die Frage eines glücklichen oder tragischen Schlusses reflektiert wird als vielmehr über das merveilleux. Auch Jean-François Marmontel, Anhänger und Wortführer der Piccinnisten und Hauptgegner Glucks, hebt in seinem Essai sur les révolutions de la musique en France von 1777 die Bedeutung des merveilleux hervor, ohne das eine Oper für ihn nicht denkbar ist. 4 Nach seiner Auffassung kann die Gattung Oper nur wegen des Übernatürlichen und Wunderbaren sowie der Darstellung großer Festszenen neben der gesprochenen Tragödie bestehen. Steht Du Roullet am Anfang einer neuen Entwicklungsphase der französischen Librettistik, markiert Victor-Joseph-Etienne de Jouy gewissermaßen deren Schluss bzw. weist in vieler Hinsicht bereits darüber hinaus. De Jouy, einer der bedeutendsten Librettisten seiner Zeit, der u.a. Textbücher für Méhul (Les Amazones), Catel (Les Bayadères), Spontini (Fernand Cortez und La Vestale) und Cherubini (Les Abencérages) geschrieben hat, sollte später auch an Rossinis Guillaume Tell mitarbeiten, einem bereits der Grand opéra angehörenden Werk. Seine theoretischen Überlegungen zum Libretto hat de Jouy in dem 1823 veröffentlichten Essai sur l’opéra français dargelegt, 5 2 [François-Louis Gand Lebland Du Roullet], Lettres sur les drames-opéra, Amsterdam/ Paris 1776, S. 3. Reprint in: François Lesure (Hrsg.), Querelle des Gluckistes et des Piccinnistes, Textes des pamphlets avec introduction, commentaires et index, Bd. 2, Genf 1984, S. 120. 3 Ebd., S. 120f. 4 Jean-François Marmontel, Essai sur les révolutions de la musique en France, Paris 1777. 5 Victor Joseph Étienne de Jouy, Œuvres complètes, Bd. 22, Paris 1823. einer für die französische Librettistik überaus wichtigen Schrift, die an die Ideen Du Roullets anknüpft und sie weiterentwickelt in Richtung Grand opéra. Jouy verwendet in dieser Schrift bezeichnenderweise nicht mehr die Genrebezeichnung Tragédie lyrique, sondern den Terminus Drame lyrique. Für ihn ist die Oper eine Art Gesamtkunstwerk, deren wesentliche Bestandteile die Poesie, die Musik, der Tanz und die Malerei bilden, wobei ersterer aber die wichtigste und zentrale Bedeutung zukommt. Von dieser Prämisse ausgehend nimmt er in seinem Essai zu den verschiedenen Aspekten eines Librettos und auch zum dénouement Stellung, der nach seiner Auffassung in der Regel glücklich sein sollte. Um die letzte Peripetie zu erreichen, also den Teil des Librettos, der Beginn des dénouement ist und zur Lösung des Konflikts führt, empfiehlt de Jouy die reconnaissance - also das Wiedererkennen bzw. die Aussöhnung der Protagonisten -, die sich vor allem deshalb als Schluss anbietet, weil sie in aller Kürze und auf natürlichem Wege eine vollständige Veränderung der Situation herbeiführen kann: »De tous les moyens naturels d’amener cette dernière péripetie, la reconnaissance est la plus favorable au drame lyrique, parcequ’elle s’opère d’un seul mot, et qu’elle peut changer en un moment la situation des personnages.« 6 Hatte Du Roullet mit dem Opernschluss noch zwingend das merveilleux verbunden, ist de Jouy also einen entscheidenden Schritt weitergegangen, denn er setzt sich damit überhaupt nicht mehr auseinander. II. An dieser Stelle scheint es angebracht, zunächst kurz auf die Praxis des von der Académie geübten Auswahlverfahrens einzugehen. Der erste Schritt zu einer Opernaufführung an der Académie war die Vorlage des Librettos. Der Textdichter musste im Normalfall sein Werk einer jury de lecture vorlesen, die während des Ancien régime und der Revolution aus den Konzertmeistern, ersten Choristen und Tänzern und dem Maschinisten sowie aus Vertretern der Sänger und der Verwaltung bestand. Dazu kamen während des Konsulats und des Empire noch Librettisten und Komponisten. Die meisten Libretti wurden bereits zum Zeitpunkt der Vorlesung abgelehnt, da ihr literarischer Wert als nicht bedeutend genug betrachtet wurde. Wenn die Mehrheit der Jury sich für das Libretto aussprach, wurde es offiziell von der Académie angenommen. Trotzdem behielt man sich aber vor, dem Librettisten, falls nötig, noch Änderungen und Revisionen an seinem Text abzuverlangen. Bei der Vorlesung des Librettos konnte der Librettist dann einen Komponisten vorschlagen, mit dem er zusammenarbeiten wollte, 164 Gabriele Buschmeier 6 Ebd., S. 245. Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 165 7 Siehe Michele Calella, Das Ensemble in der Tragédie lyrique des späten Ancien régime (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 14), Eisenach 2000, insbesondere S. 32f. oder er musste sich mit dem von der Jury vorgeschlagenen einverstanden erklären. Die Prozedur der Annahme eines Librettos blieb im Wesentlichen bis ca. 1820 gleich. Eine Ausnahme bildeten lediglich die von der Verwaltung der Oper in Auftrag gegebenen pièces de circonstances während der Revolutionszeit und des Empire. Bei diesen Werken wurde eine möglichst rasche Aufführung angestrebt; da sie sich auf aktuelle politische Ereignisse bezogen, hätte eine langwierige Annahmeprozedur des Librettos ihre Aufführung zu lange hinausgezögert. Daher wurden während dieser Zeit die Libretti häufig von der Verwaltung der Oper direkt bei einem Textdichter in Auftrag gegeben und gleichzeitig auch der Komponist bestimmt. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts trägt die französische Tragédie lyrique ihren Namen - zumindest was den Begriff Tragédie betrifft - eigentlich zu unrecht, denn in der Regel hielt sie noch immer an der Konvention eines glücklichen Endes fest. Dieses wurde normalerweise durch das Auftreten eines Deus ex machina herbeigeführt, der den Konflikt durch plötzliches Eingreifen auflöst. Im Gegensatz zum französischen Drama der Klassik, in dem der Tod nicht auf offener Bühne, sondern nur dahinter stattfinden durfte bzw. darüber berichtet wird, war dessen Darstellung in der frühen Tragédie lyrique aber prinzipiell erlaubt, denn man war der Auffassung, dass durch den Einsatz von merveilleux und Divertissements auf der Opernbühne die Wirkung des Grauenvollen und Schrecklichen gleichsam neutralisiert würde. 7 Dennoch überwogen bis zur Mitte des Jahrhunderts eindeutig die Opern mit glücklichem Ausgang. Bereits ab den 60er-Jahren des 18. Jahrhunderts zeichnet sich dann ein Wandel ab und vor allem ab den 80er-Jahren begegnen zunehmend auch tragische Schlüsse. Dies trifft nicht nur auf die Tragédie lyrique zu, sondern auch auf Opern, die formal der Opéra comique angehören. In dem Jahrzehnt, welches zwischen Glucks Iphigénie en Tauride und der Revolution liegt, dominierten an der Pariser Oper die griechisch-mythologischen Stoffe: Beispiele dafür sind Andromaque (Grétry/ Pitra, 1780), Didon (Piccinni/ Marmontel, 1783), Œdipe à Colone (Sacchini/ Guillard, 1786), Les Horaces (Salieri/ Guillard, 1786), Phèdre (Le Moyne/ Hofmann, 1786) und Démophoon (Cherubini/ Marmontel, 1788; Vogel/ Desriaux, 1789). Die Stoffe dieser Libretti wurden sowohl ausgehend von antiken Vorlagen als auch ausgehend vom französischen Sprechtheater - insbesondere von Tragödien Racines und Corneilles - für die Opernbühne neu bearbeitet. Auch Bearbeitungen klassischer französischer und italienischer Libretti von Quinault und Metastasio sind insbesondere vor der Revolution häufig für die Bühne der Académie vertont worden. In den späten 80er-Jahren nahmen diese mythologischen Stoffe immer häufiger auch eine Wendung ins Bürgerliche und Familiäre. Piccinnis 1785 aufgeführte Tragédie lyrique Pénélope, deren mythologischer Stoff von Marmontel zu einem Familiendrama umgeformt wurde, in dem die sentimentale Darstellung ehelicher und mütterlicher Liebe in den Vordergrund rückt, zeigt paradigmatisch die Synthese von Tragédie lyrique und Drame bourgeois. Die allgemein bekannten mythologischen Sujets, die relativ wenig äußere Handlung hatten, sich dafür aber durch die Darstellung ›innerer Aktion‹ auszeichneten, kamen der zeitgenössischen Forderung entgegen, dem Komponisten mehr Möglichkeiten zur musikalischen Formbildung zu verschaffen. Am Anfang dieses Librettotyps steht Du Roullets für Gluck geschriebene Iphigénie en Aulide, ein Libretto, welches bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer wieder als beispielhaftes Textbuch zitiert wurde. In seiner ersten Fassung von Iphigénie en Aulide hatte Du Roullet noch versucht, das glückliche Ende ohne Deus ex machina herbeizuführen, indem der Hohepriester Calchas das Opfer der Iphigénie verhindert. Calchas verkündet, dass die Tugend Iphigénies, die Tränen der Mutter und die Tapferkeit Achilles die Götter bewogen hätten, auf das Opfer zu verzichten. Als sicheres Zeichen ihrer Gnade seien neben dem Erlöschen des Altarfeuers die günstigen Winde anzusehen, durch die eine Abreise möglich sei. Daraufhin danken alle der gnädigen Göttin und huldigen ihr mit Chören und Tänzen. Während im Drama Racines die Lösung des tragischen Konfliktes nur in einem Bericht des Odysseus mitgeteilt wird, gipfelt das Libretto Du Roullets in der spektakulären Inszenierung des Opferfestes, bei welchem sich die Chöre der Priesterinnen und des Volkes vereinigen, ehe der Vollzug schließlich durch die bewaffnete Konfrontation zwischen Griechen und Thessaliern vereitelt wird. Das Schlussbild der Oper führt somit alle innerhalb des Werkes erscheinenden Personen und Gruppen dramaturgisch zusammen. Ein Opernausgang ohne das Eingreifen von Göttern und ohne deren Erscheinen auf der Bühne stieß aber 1774 noch auf heftige Kritik. So heißt es beispielsweise in einem Bericht über die Aufführung vom 21. April 1774 in den Mémoires secrets: … on est fâché que le poëte, en transportant cette tragédie au théâtre lyrique, n’en ait pas changé le dénouement, & profité de la magie de ce spectacle pour amener plus d’action & de machines dans cette partie… 8 Der Schluss wurde daher umgearbeitet: Seit den Aufführungen von 1775 verkündete nicht mehr Calchas den Verzicht auf das Opfer, sondern die Göttin Diana selbst erscheint in einer Wolke und gibt zu erkennen, dass die Bereitschaft der Iphigénie zum Opfertod sie gnädig gestimmt habe. Alle Be- 166 Gabriele Buschmeier 8 Vgl. Faksimileabdruck in: Christoph Willibald Gluck, Iphigénie en Aulide (= Christoph Willibald Gluck. Sämtliche Werke, Bd. I/ 5b), Marius Flothuis (Hrsg.), Kassel, 1989, S. XXIII. Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 167 teiligten können sodann ihrer Freude über den glücklichen Ausgang Ausdruck geben. Glücklicher Schluss und merveilleux sind in der umgearbeiteten Fassung also wieder kombiniert. Die Tatsache, dass nicht nur von Iphigénie en Aulide, sondern auch von Alceste zwei bzw. mehrere Fassungen der Schlussszenen überliefert sind, zeigt im Übrigen, wie unsicher sich Du Roullet hinsichtlich des dénouement war. Diese Unsicherheit bezüglich der Schlussgestaltung ist auch bei vielen anderen Librettisten der Zeit bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zu konstatieren. Wenn auch Iphigénie en Aulide ein Meilenstein für die französische Librettistik war und immer wieder als Modell herausgestellt wurde, kann man dieses Textbuch für die Folgezeit nicht als stilbildend bezeichnen. Kennzeichnend für die französische Librettistik in den 80er-Jahren ist vor allem die Verbindung von Elementen der Tragédie lyrique mit denen der Opera seria, die in den Bearbeitungen klassischer französischer und italienischer Libretti zu beobachten ist. Exemplarisch für diesen Typus sind die Einrichtungen Quinaultscher Textbücher von Jean-François Marmontel. Seine Libretti nach Quinault stellen starke Bearbeitungen der Vorlagen dar und unterscheiden sich damit ganz erheblich von der Armide Glucks, der das Libretto Quinaults mehr oder weniger unangetastet ließ. Marmontels drei Bearbeitungen der Werke Quinaults (Roland (Piccini, 1778), Atys (Piccini, 1780) und Persée (Philidor, 1780)) behalten den dramaturgischen Aufbau der Vorlage zwar prinzipiell bei - in der Abfolge von Exposition, Nœud und Dénouement vollzieht sich das dramatische Geschehen -, doch die ursprünglich fünfaktigen Libretti wurden auf drei Akte gekürzt, was durch eine Konzentration der Handlung sowie das Weglassen sekundärer Personen erreicht wurde. In das klassische französische Libretto mit seinen nur vereinzelt auftauchenden, meist kleineren Arienstrophen wurden außerdem zahlreiche, metrisch abgeschlossene Formen integriert, denn es kam Marmontel vor allem darauf an, dem Komponisten Textvorlagen für abgeschlossene musikalische Formen zu liefern. Die Szenenaufteilung orientiert sich in der Regel an folgendem Muster: handlungstragende Rezitative in Langversen zu Beginn der Szene und isometrische, kürzere Arienstrophen mit Sentenzen am Szenenende. Der dritte Akt, in dem sich der dénouement vollzieht, besteht normalerweise aus zwei Bildern: Das erste zeigt die Protagonistin/ den Protagonisten in düsterem Ambiente; danach verändert sich die Szene und der eigentliche Konflikt wird gelöst; sukzessive erscheinen immer mehr Darsteller, Sänger, Tänzer und Statisten auf der Bühne. Im dritten Akt von Roland zum Beispiel - einem Libretto, dessen Handlungskern der Konflikt Rolands zwischen gloire und amour ist - verfällt der Protagonist in einer dunklen Grotte dem Wahnsinn, als er von der Untreue seiner geliebten Angélique erfährt. Doch die Fee der Weisheit gibt ihm den Verstand zurück, und Roland findet sich schließlich unter französischen Rittern und Edelleuten wieder, die ihn auffordern, erneut in den Kampf zu ziehen. Durch die Fee geheilt, bekennt sich Roland zu seinen Rittertugenden, zu Ehre und Sieg. Am Schluss versammeln sich verschiedene Chorgruppen - chœur d’amants enchantés, chœur de matelots etc. - sowie etliche weitere Statisten und Tänzer zu einem Fest auf der Bühne. Im Unterschied zu den vorhergehenden Akten werden die Chöre im Finale aber an der dramatischen Handlung beteiligt, auch wenn sie gegenüber den Solisten noch weitgehend unselbstständig bleiben. 9 Quinaults originales Libretto von 1685, in dem noch die drei Allegorien la gloire, la renommé und la terreur Schluss und Moral der Tragédie en musique gebildet hatten, ist also hinsichtlich der Schlussgestaltung entscheidend verändert worden. In der ersten Fassung von Atys ging Marmontel sogar soweit, den ursprünglich glücklichen Ausgang bei Quinault in einen dénouement tragique zu verwandeln: Im Libretto Marmontels tötet Atys im Wahnsinn seine Geliebte. Als er wieder zu Bewusstsein kommt und seine schreckliche Tat erkennt, ersticht er sich selbst. Während das phrygische Volk den Schreckenstag beklagt, bekundet Cybele, die Göttin der Fruchtbarkeit, ihren Schmerz und verflucht ihre grausame Rache. Im Libretto Quinaults dagegen wird Atys in eine Pinie verwandelt und bleibt damit weiterhin das geliebte Objekt der Göttin. Bei der Wiederaufnahme des Stückes von Marmontel und Piccinni 1783 wurde der tragische Schluss allerdings in einen dénouement heureux verändert: Die von Atys in seiner Verwirrung getötete, geliebte Nymphe Sangaride wird am Schluss wieder zum Leben erweckt. Solche Umarbeitungen sind, wie bereits erwähnt, keine Seltenheit. Unverkennbar hatten die Librettisten bei ihren Bearbeitungen der klassischen Vorlagen nicht nur Schwierigkeiten bei der Bewältigung und Aufteilung des Materials, sondern schwankten auch zwischen den Alternativen einer glücklichen und tragischen Schlussgestaltung. Deutlich lässt sich konstatieren, dass tragische Schlüsse zwar in den Libretti nicht selten gewählt wurden, diese dann aber bei den ersten Aufführungen der Werke auf der Opernbühne und nicht zuletzt als Folge negativer Kritiken in der Presse in ein glückliches Ende verändert wurden. So hat zum Beispiel Nicolas-François Guillard, einer der erfolgreichsten Librettisten der Zeit, den Schluss zu seinem Libretto Les Horaces mehrmals umgestaltet. Das Stück nach Corneille wurde 1786 sowohl von Salieri als auch 1800 von Bernardo Porta für die Académie vertont. Guillards wesentliche Arbeit bei der Konzeption des Textbuches zu Les Horaces bestand in der Konzentration auf eine weibliche Hauptperson sowie darin, den Chören dramatische Schlüsselmomente zuzuweisen. Diese treten vor allem in den Intermedien zwischen den einzelnen Akten des Werkes auf und strukturieren das Libretto auf eine bis dahin 168 Gabriele Buschmeier 9 Siehe Arnold Jacobshagen, Der Chor in der französischen Oper des späten Ancien Régime (= Perspektiven der Opernforschung 5), Frankfurt/ M. 1997, S. 201. Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 169 ungewöhnliche Weise. 10 Der Handlungsverlauf von Les Horaces ist kurz zusammengefasst folgender: Rom und Alba Longa befinden sich im Kriegszustand, der durch einen persönlichen Kampf zwischen Horace und Curiace entschieden werden soll. Daraus entsteht ein Konflikt für Camille, die als Schwester des Einen und Verlobte des Anderen gleichzeitig für beider Schicksal fürchten muss. Während in der Tragödie Corneilles politische und private Motive gleichermaßen die Handlung bestimmen, hat das Libretto Guillards an einigen Stellen die Tendenz zum bürgerlichen Rührstück. Auch bei diesem Libretto ist offensichtlich, dass sich der Librettist bei der Konzeption des Schlusses nicht ganz sicher gewesen zu sein scheint: Während für eine Aufführung am Hof 1786 zunächst vorgesehen war, die Oper mit einem Selbstmord Camilles enden zu lassen, änderte Guillard sein Libretto danach noch mehrmals um. In einer Version erschlägt Horace seine Schwester im Zorn, in einer anderen schließt die Oper zwar mit einem Divertissement général und das Volk feiert die Befreiung Roms, doch das persönliche Schicksal Camilles bleibt ungelöst. Für die Revision des Textbuches im Jahr 1800 hat Guillard sich dann wieder für den Selbstmord Camilles entschieden. Die Konzentration der Handlung auf eine weibliche Identifikationsfigur ist für die Libretti am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Übrigen typisch. Didon, ein Libretto ebenfalls von Marmontel für Piccinni, kann man insofern als exemplarisch bezeichnen. 11 Die Oper endet am Schluss des dritten Aktes tragisch mit dem Selbstmord der Titelheldin auf offener Bühne. Die von Aeneas verlassene Didon nimmt sich mit einem Schwert das Leben, nachdem sie auf einem Scheiterhaufen die Hinterlassenschaft des Geliebten verbrannt hat. Arnold Jacobshagen hat bereits darauf hingewiesen, dass es vor allem auch Piccinnis Verdienst ist, an Aktschlüssen und in Finali tableauartige Chorgruppen mit Solonummern zu verbinden. Grundlage dafür ist das Libretto Marmontels, denn er verwendete »das für die Finali der buffa-Oper charakteristische Prinzip der sukzessiven Steigerung der Darstellerzahl, übertrug es jedoch auf die Kollektivfiguren«. 12 So treten am Schluss des dritten Akts nacheinander verschiedene Chöre auf - hommes et femmes du palais, chœur des prêtres de Pluton, peuples -, die immer wieder von Rezitativen Didons unterbrochen werden. Das Finale gipfelt in ihrem letztem Solo »Adieu mon cher Énée«, an das sich ein Racheschwur der Krieger Karthagos anschließt. Die musikalische Struktur des Finales, der einen großen Formkomplex bildet, sieht folgendermaßen aus: 10 Ebd., S. 314. 11 Jean-François Marmontel, Didon, Tragédie lyrique en trois actes. Paris 1783 (Benutztes Exemplar: Paris, Bibliothèque de l’Opéra, Signatur Liv 18/ 224). 12 Ebd., S. 219. Piccinni, Didon: Finale III/ 5 hommes et femmes du palais Chor mit Orchester »Les éléments troublés« III/ 6 Didon Rezitativsequenz mit ariosen Einschüben »Que m’annonce le ciel« C-Dur III/ 7 »Je veux mourir« f-Moll III/ 8 »Il est parti« f-Moll III/ 9 »Ma sœur, embrasse moi« III/ 10 chœur des Prêtres de Pluton Chor mit Orchester »O Ciel« Es-Dur Didon dramatisches Rezitativ »Toi que j’ai tant aimé« chœur des Prêtres de Pluton Chor mit Orchester »O Ciel« Didon »Adieu, mon cher Enée« III/ 11 chœur des prêtres de Pluton + Peuple Chor mit Orchester »O Ciel« chœur »A cette race criminelle« Es-Dur Die Chöre haben in dieser Szenenfolge eine zentrale Rolle und können neben der Protagonistin als vollgültige Dramatis personae angesehen werden. Festgefügte musikalische Strukturen haben in diesem Finale aber nur die in Es-Dur stehenden Chöre, die mit ihren zum Teil ausgedehnten instrumentalen Vorspielen dem gesamten Komplex Geschlossenheit verleihen. Der Protagonistin dagegen kommen keine größeren und formal abgeschlossenen musikalischen Formen zu; ihre Partie bleibt beschränkt auf Rezitativsequenzen, die von kurzen ariosen Einschüben unterbrochen werden. Diese von Piccinni gewählte musikalische Gestaltung eines dénouement tragique, in dem die Chöre die Angelpunkte bilden, ist auch in anderen Opern um 1800 zu finden und kann als typisch gelten. Piccinnis Oper wurde in Paris übrigens bis 1826 gespielt und erlebte in dieser Zeit 250 Aufführungen, gehörte also neben den Opern Glucks zum festen Repertoire. 170 Gabriele Buschmeier Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 171 Auch in Médée steht eine weibliche Hauptfigur im Zentrum. François- Benoît Hoffman, Autor von über 44 Libretti und Dramen, schrieb bereits in den 1780er-Jahren dieses Libretto - im Wesentlichen nach Euripides - für Le Moyne. Das Stück war ursprünglich für eine Aufführung an der Académie gedacht, wurde dort aber nicht akzeptiert und schließlich 1797 mit der Musik Cherubinis und gesprochenen Dialogen am Théâtre Feydeau uraufgeführt. Sein Libretto ist in vieler Hinsicht das gelungenste Beispiel der nach klassischen französischen und antiken Tragödien verfassten Textbücher, da hier in extremis vorgeführt wird, was tendenziell auch alle anderen Librettisten versucht hatten: Das Sujet, in dessen Mittelpunkt analog zur Sprechtragödie das Schicksal bzw. der innere Konflikt einer in der Regel weiblichen Protagonistin steht, wurde in einem einsträngigen Handlungsverlauf dargeboten und auf seinen Kern reduziert, wobei das Geschehen auf wenige Schauplätze komprimiert wurde und sich bis zur Katastrophe des Finales im dritten Akt steigert. Nachdem im Ancien régime klassische Tragödien Racines und Corneilles für die Opernbühne adaptiert worden waren, begann schon während der Revolution bzw. kurz vor der Jahrhundertwende und zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben der Aufnahme historischer Sujets eine Hinwendung zu Tragödien Voltaires, die sehr frei bearbeitet wurden. Beispiele dafür sind die Libretti zu Sémiramis und Olimpie, die nur noch den dramatischen Vorwurf Voltaires verwenden. Es ging den Librettisten nicht um eine möglichst enge Anlehnung an die gesprochene Tragödie, sondern es wurde nach Stoffen gesucht, die bestimmte, dem zeitgenössischen Geschmack entsprechende Aufführungsmöglichkeiten boten: aufwendige und spektakuläre Inszenierungen, Kampfszenen, religiöse Opferszenen mit großem Aufgebot an Priestern und Priesterinnen sowie düstere Schauer- und Grabesszenen. So tritt in Sémiramis von Philippe Desriaux - für eine Aufführung 1802 vertont von Charles-Simon Catel - im dritten Akt der Geist des verstorbenen Ninus in Erscheinung. Hinsichtlich der Schlussgestaltung hält sich der Librettist an seine Vorlage und führt die Handlung konsequent bis zum tragischen Ende, bei dem der Sohn im Grab seines Vaters die eigene Mutter erdolcht. Guillard, der das Textbuch für Kalkbrenners 1798 aufgeführte Oper Olimpie 13 schrieb, wählte dagegen für dieses Stück einen glücklichen Ausgang: In dem Augenblick, als die Protagonistin Statira den Selbstmord vollziehen will, hält Cassandre sie von diesem Schritt zurück, und der Oberpriester rät zur Vergebung. So vollzieht sich der dénouement durch eine humane Tat und nicht mehr durch einen Deus ex machina. 13 François Guillard, Olimpie, Tragédie lyrique en trois actes, Paris 1789 (Benutztes Exemplar: Paris, Bibliothèque de l’Opéra, Signatur Liv 18/ 844). Auch das Libretto Les Bayadères 14 von de Jouy ist inspiriert von Voltaires Erzählung L’éducation d’un prince. Schauplatz des Stoffes ist Benares, heilige Stadt am Ganges. Insofern ist de Jouys Textbuch typisch für seine Zeit, denn die Opern spielen kurz nach 1800 in allen Teilen der Erde. Das Libretto entspricht mit seinem exotischen Sujet, der Darstellung von Couleur locale und der Verknüpfung dynastischer und exotischer Motive mit einer Liebesgeschichte vollkommen dem Geschmack des Empire. Protagonistin des Dramas ist die Tempeltänzerin Laméa, die zwar dem Radscha Démaly zugetan ist, aber ihrem Versprechen als Bayadere treu bleibt und deshalb keine Ehe eingehen kann. Erst als Démaly von einem giftigen Pfeil getroffen wird und der Sitte gemäß eine Frau finden muss, die bereit ist, mit ihm zu sterben, bietet sich Laméa für dieses Opfer an. In dem Moment, als sie den Scheiterhaufen betritt, erscheint Démaly, der nur vorgegeben hatte, von einem giftigen Pfeil getroffen worden zu sein, in Wirklichkeit aber Laméas Liebe prüfen wollte. Das Libretto endet glücklich und mit aufwendigen Bühneneffekten sowie prächtiger Ausstattung. Welch wichtige Rolle die Ausstattung um die Jahrhundertwende für die Opernbühne spielte, zeigen nicht zuletzt die umfangreichen und ausführlichen Szenenanweisungen der Librettisten, die im Vergleich zum gesprochenen Text erheblichen Raum in den gedruckten Libretti einnehmen. Feuerspeiende Vulkane, Pferde, die im Galopp über die Bühne reiten sowie Elefanten auf der Bühne sind nur ein paar besonders drastische Beispiele für die zeitgenössische Forderung nach möglichst aufwendiger Mise-enscène, die in der Tragédie lyrique um 1800 bereits zu einer zentralen Kategorie wurde und damit bereits wesentliche Merkmale der Grand opéra vorwegnahm. Dass in dramatisch zugespitzten Situationen die Chöre eine ganz entscheidende Rolle spielen, zeigt auch das Finale von Catels Les Bayadères: Die Tempeltänzerin Laméa ist bereit, sich für Démaly zu opfern und wird von Brahmanenpriestern und jungen Inderinnnen zum Scheiterhaufen geführt. Für diese zeremonielle Situation komponierte Catel einen ausgedehnten Formkomplex, dessen einzelne Teile nicht voneinander zu lösen sind und in dem die verschiedenen Chorgruppen aktiv an der Handlung partizipieren. 172 Gabriele Buschmeier 14 Victor Joseph Étienne de Jouy, Les Bayadères, Opéra en deux actes, Paris 1810 (Benutztes Exemplar: Bibliothèque Nationale de France, Signatur Th B 2565 A). Der dénouement in der Tragédie lyrique um 1800 173 Catel, Les Bayadères: Finale III/ 8 Marche religieuse instrumentaler Einleitungsmarsch F-Dur Le Brahme Rezitativ »Pour approcher de la rive fatale« Laméa , Chœur Arie mit Chor »Enfin je vois naître ce jour« C-Dur - c-Moll Laméa Rezitativsequenz »Oui, j’entends Démaly« III/ 9 Laméa, Démaly, Chœur instrumentale Einleitung, »J’ai reçu tes serments« Rezitativsequenz mit Chor chœur des Brahmes Chor mit ariosen Einschüben + Laméa, Démaly, Le Brahme G-Dur »Règne sur notre auguste maître« Rezitativsequenz dernier chœur (Peuples, Brahmes etc …) Schlußchor »De nos alarmes fugitives« F-Dur Divertissement Die solistischen Passagen haben hier im Vergleich zu den chorischen Partien keine herausgehobene Rolle. Ähnlich wie schon bei Piccinni konstatiert, spielt auch bei Catel das Orchester eine dominierende Rolle insbesondere in den Chören, wobei in Les Bayadères vor allem die Instrumentierung und der spezifische Einsatz bestimmter Klangfarben auffallen. So verwendete Catel als einer der ersten Komponisten an der Académie das Englischhorn. Eingeleitet wird das Finale durch eine marche religieuse, die wie in Piccinnis Didon als Auftrittsmusik der Brahmanenprister fungiert. Im Anschluss daran folgt eine Rezitativsequenz des obersten Brahmanen, der die Vorbereitungen zum eigentlichen Opfer trifft. Darauf schließt sich eine kurze dreiteilige Arie mit Chor an, in der Laméa noch einmal ihre Liebe zu Démaly und gleichzeitig ihre Bereitschaft zum Opfertod bekennt. Der Chor kommentiert dies jeweils mit entsprechenden Ausrufen. Es folgt eine Rezitativsequenz, in der sich Laméa im Angesicht des Todes schon mit ihrem Geliebten vereint wähnt. In diesem Moment schlägt die Situation mit einer kurzen orchestralen Einleitung um, und Démaly sowie das übrige Volk und die Fürsten des Reiches erscheinen auf der Bühne. Die Auflösung des Dramas ist mit der reconnaissance der beiden Liebenden erreicht. Es folgt ein Chor mit ariosen Einschüben, bevor der abschließende homophone Schlusschor erklingt, der alle Beteiligten auf der Bühne vereinigt. Ein Tanzdivertissement schließt die Oper ab. Auch diese Schlussgestaltung kann als typisch gelten, zumal sich in Catels Oper zeigt, wie wichtig die Mise-enscène für die Oper war. * Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für die Textdichter von ernsten Opern bereits seit den 1780er-Jahren durchaus die Alternative bestand, zwischen glücklicher und tragischer Schlussgestaltung zu wählen, denn beide Varianten kommen gleichermaßen in Tragédies-lyriques um 1800 vor. Allerdings stießen die tragischen Schlüsse an der Académie Royale fast immer auf Widerstand und wurden nach den ersten Aufführungen gemeinsam von Textdichter und Komponist umgeschrieben. Es ist daher zu konstatieren, dass die Frage des dénouement der Tragédie-lyrique letztendlich offen bzw. ohne endgültige Antwort blieb. Literatur Buschmeier, Gabriele, Die Entwicklung von Arie und Szene in der französischen Oper von Gluck bis Spontini (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 27), Tutzing 1991. Calella, Michele, Das Ensemble in der Tragédie lyrique des späten Ancien régime (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 14), Eisenach 2000. Gluck, Christoph Willibald, Iphigénie en Aulide (= Christoph Willibald Gluck. Sämtliche Werke, Bd. I/ 5b), Marius Flothuis (Hrsg.), Kassel 1989. Guillard, François, Olimpie, Tragédie lyrique en trois actes, Paris 1789. Jacobshagen, Arnold, Der Chor in der französischen Oper des späten Ancien Régime (= Perspektiven der Opernforschung 5), Frankfurt/ M. 1997, S. 201. de Jouy, Victor Joseph Étienne, Œuvres complètes, Bd. 22, Paris 1823. Ders., Les Bayadères, Opéra en deux actes, Paris 1810. Marmontel, Jean-François, Essai sur les révolutions de la musique en France, Paris 1777. Ders., Didon, Tragédie lyrique en trois actes, Paris 1783. [Du Roullet, François-Louis Gand Lebland], Lettres sur les drames-opéra, Amsterdam/ Paris 1776, S. 3. Reprint in: François Lesure (Hrsg.), Querelle des Gluckistes et des Piccinnistes, Textes des pamphlets avec introduction, commentaires et index, Bd. 2, Genf 1984, S. 120. 174 Gabriele Buschmeier Anno Mungen Finallösungen in Spontinis französischen Opern I. Gaspare Spontini war ein vielseitiger und anpassungsfähiger Komponist. Er hat während seiner Laufbahn Opern in drei verschiedenen Sprachen komponiert, und er hat, den örtlichen Gegebenheiten entsprechend, die verschiedenen Gattungen aufgegriffen, die dort gerade aktuell waren. Für Italien hat er opere buffe und serie komponiert sowie opéras comiques und tragédies lyriques für Paris. In seiner dritten Phase, den Berliner Jahren, hat er sich schließlich auch mit dem auseinandergesetzt, was in der Geschlossenheit der italienischen und französischen Gattungen gar nicht vorhanden war - nämlich mit der deutschen romantischen Oper - und brachte somit die Operngattung des Musikdramas mit seinem Spätwerk auf den Weg. Neben dieser besonderen Gabe, sich die jeweils aktuellen Gattungen der neuen örtlichen Situation anzueignen, fällt darüber hinaus an Spontinis Karriere die lange Zeitspanne auf, in der er komponiert hat. Seine ersten Werke für die italienische Bühne schrieb er nur wenige Jahre, nachdem Mozart seine letzten Opern hinterlassen hatte, während sein Berliner Spätwerk zu einer Zeit verfasst wurde, als schon Richard Wagner mit seinen ersten Opern auf die Szene trat. Die kompositorisch aktive Zeit Spontinis reicht von Mitte der 1790er-Jahre bis zur Mitte der 1830er-Jahre und umfasst nicht weniger als vier Jahrzehnte in der Geschichte der Oper, die von umwälzenden Entwicklungen geprägt waren. An einigen dieser Entwicklungen war Spontini selbst maßgeblich beteiligt, so z.B. an der zeitgeschichtlichen Aktualisierung der Gattung, wie sie sich mit der Etablierung der historischen Oper in Paris vollzog. Auch in anderer Hinsicht zeigte Spontini überaus große kompositorische Innovationsbegabung für das Musiktheater: zu denken ist etwa an die Entwicklung des Rezitativs bzw. an die Anbindung von rezitativischen Partien an die so genannten Nummern, die bei Spontini so geschlossen nicht mehr sind. Die Entwicklung, die er von den frühen italienischen Opern der Scrittura-Jahre bis hin zu seinem gewaltigen Chef d’Œuvre, die späten Opern Wagners erahnende Agnes von Hohenstaufen durchmachte, ist gewaltig. In einer ganz bestimmten Hinsicht aber erweist sich Spontini als beharrlich an alten Mustern festhaltend - und das trotz der unterschiedlichen Gattungen, die er im Laufe der Jahrzehnte bediente. Spontini hat unbeirrt an der Konvention des 18. Jahrhunderts festgehalten, nach der eine Oper nicht tragisch, sondern glücklich zu enden habe. Im Laufe meiner Beschäftigung mit Spontini sind mir keine Anzeichen dafür begegnet, dass er dieses Prinzip (und dies gilt auch für die Gattung der historischen Oper) jemals ernsthaft in Frage gestellt hätte - weder in der Theorie noch in der Praxis. Trotz der vielen Umarbeitungen aller seiner Opern seit Fernand Cortez, die in nicht weniger als vier Fassungen vorliegt, wird das Prinzip des Lieto fine nicht in Frage gestellt, obwohl gerade die Schlüsse einschneidenden Änderungen unterzogen wurden. Was ich zum Thema aus der Perspektive Spontinis beitragen kann, wird demnach keine Problematisierung sein, die unterschiedliche Lösungen gegenüberstellt, sondern ist vielmehr eine Bestandsaufnahme, die sich mit dem Phänomen der Kontinuität angesichts einer sich um 1800 verändernden Konvention zu befassen hat. Diese zeitliche Vorgabe legt es nahe, sich am französischen Spontini zu orientieren. Ich werde also auf Finallösungen in Spontinis opéras comiques von 1804 und 1805 sowie auf die erste für die Opéra geschriebene Oper La Vestale von 1807 eingehen. Wie ich bereits betonte, tastete Spontini grundsätzlich die Vorgabe des Lieto fine nicht an - hier hat er als konservativ zu gelten. Das heißt aber nicht, dass ihm nicht eindrucksvolle Lösungen gelungen wären. Am Komponisten Spontini schätzten die Zeitgenossen seit La Vestale seine Fähigkeit, das Drama großflächig in musikalischen Bildern aufzufächern. Spontini wurde berühmt als kühner Architekt weit ausufernder musiktheatraler Form. Gerade den Schluss von La Vestale werde ich unter dieser Prämisse eingehender beleuchten. II. Sein Pariser Debut hatte Spontini mit einer Überarbeitung der Finta filosofa gemacht, die am Théâtre Italien aufgeführt wurde und ihm einen Auftrag für die Opéra Comique einbrachte. Die dort 1804 uraufgeführte dreiaktige Oper La petite maison ist verschollen, so dass die beiden Einakter Milton und Julie ou le pot de fleurs (komponiert für das gleiche Haus) hier für die Betrachtung herangezogen werden. Spontini hatte in seinen italienischen opere buffe mehrsätzige Handlungsfinali komponiert, die dem Modell der Gattung entsprachen. Im Gegensatz zur großen ausladenden Form entschied er sich bei den beiden einaktigen opéras comiques für Paris, die er 1804 und 1805 vorlegte, für kurze prägnante Schlussnummern. Das Libretto der ersten überlieferten Oper für Paris, Milton, stammt von Joseph Marie Armand Michel Dieulafoy und Étienne de Jouy, wobei letzterer auch Verfasser des Vestale-Librettos ist. In der 1823 erschienenen Ge- 176 Anno Mungen Finallösungen in Spontinis französischen Opern 177 samtausgabe Jouys wird das Libretto zu Milton als »fait historique« bezeichnet, und Jouy gibt im Vorwort historische Fakten in Zitaten aus geschichtlichen Werken der Jahrhundertwende an. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Errettung Miltons, der als vermeintlicher Rebell vom englischen König Charles II. gesucht wird. Miltons Retter ist Lord Davenant, der unter falschem Namen als Miltons Sekretär zusammen mit dessen Tochter Emma im gleichen Haus lebt. Die Auflösung der Handlung am Schluss der Oper, als Davenant sich zu erkennen gibt und Milton zustimmt, dass Emma und Davenant heiraten dürfen, findet im dialogischen Teil statt. Das musikalische Finale ist lediglich ein kurzer Abgesang, in dem alle Beteiligten das Glück der Liebe besingen. Das Glück, das die Protagonisten hier erlangen, indem sie ihrer Liebe nachgehen dürfen, fällt mit dem formalen Vorgang des glücklichen Endes unmittelbar zusammen, ein Topos des Lieto fine- Prinzips der Operngeschichte. Auffällig an dieser Finallösung - gerade wenn man die späteren Werke Spontinis kennt - ist die extreme Kürze, die gattungsspezifisch ist, wie das Finale der ebenfalls einaktigen opéra comique mit dem Titel Julie zeigt. Auch in dieser Oper, die auf einem Libretto von Antoine Gabriel Jars basiert, bestätigt das kurze Schlussensemble lediglich die zuvor geklärten Verhältnisse, während der dramatische Knoten im Dialog aufgelöst wird. III. Der Milton-Librettist Étienne de Jouy gilt heute als einer der wichtigsten Vordenker der Gattung der Grand Opéra. Vor allem mit seinem Libretto zu Fernand Cortez, das in der Vertonung von Spontini 1809 in Paris an der Opéra uraufgeführt wurde, und mit dem Libretto zu Rossinis Guillaume Tell (UA 1829) war er ein wichtiger Wegbereiter eines neuen Operntypus, wie ihn vor allem Meyerbeer und Scribe entwickeln sollten. Sieht man von dem sehr viel später verfassten Guillaume Tell ab, so können die Jahre der Zusammenarbeit mit Spontini seit Milton bis hin zu Fernand Cortez als die fruchtbarste Zeit des Librettisten gelten. Ähnlich wie Spontini auf seinem Gebiet, vereinte de Jouy in der Spannung von Innovation und Konservatismus durchaus unterschiedliche Komponenten in seinem Schaffen. Zwar beschritt er einerseits mit seiner dezidierten Hinwendung zur Historie neue Wege, die weit ins 19. Jahrhundert vorausweisen, doch gilt er zugleich als Klassizist. Dieser Umstand kommt nirgends besser zum Ausdruck als in seiner Haltung zur Frage des dénouement einer Oper. Noch in der 1826 vorgelegten Schrift Essai sur l‘opéra français bestätigt sich seine konservative Haltung: er fordert unmissverständlich »le dénouement de tout opéra doit être prompt, imprévu, vraisemblable et heureux«. 1 Im Kapitel des Essai, das sich der Musik in der Oper widmet, stellt er im Abschnitt zum Finale den Schluss des zweiten Aktes der dreiaktigen La Vestale in der Umsetzung von Spontini als den Höhepunkt des Genres heraus: Que toutes les intentions se dessinent nettement sur un motif principal, et que l’unité la plus parfaite en domine l’ensemble. M. Rossini excelle dans ce genre de composition, où M. Spontini l’a peut-être une fois surpassé: on s’accorde généralement à regarder le finale du second acte de la Vestale comme le chef-d’œuvre du genre. 2 Für Spontini war das Finale zum zweiten Akt innerhalb einer Oper auch in den kommenden Werken - so z.B. Fernand Cortez, Olimpie und Agnes - der Moment im dramatischen Verlauf, in dem die verschiedenen Handlungsstränge in einer musikalischen Großform kulminieren konnten und sollten; eine Tradition, die Wagner in den entsprechenden Tableaus am Ende der zweiten Akte zu Tannhäuser und Lohengrin unmittelbar aufgegriffen hat. Zu diesem Zeitpunkt der Handlungsentwicklung - also am Ende des zweiten Akts - war die tragische Komponente hervorzuheben. Das geradezu Unausweichliche eines unglücklichen Endes für die gesamte Oper war hiermit zunächst angedeutet. Gerade im Sinne der neu entstehenden Gattung der historischen Oper stellte Spontini in diesen Abschnitten seiner Opern das Eindrucksvollste vor, was er musikdramatisch zu leisten im Stande war. Das Finale zum 2. Akt von Agnes von Hohenstaufen gilt in seiner Auftürmung von musikalischen Massen mit Doppelchor, Doppelorchester und einem großen Solistenensemble als das Meisterstück Spontinischer Tableautechnik überhaupt. Das letzte Finale einer Oper hingegen war der glücklichen Auflösung des dramatischen Knotens vorbehalten. De Jouy hebt diesen klassizistisch zu nennenden Anspruch an das Opernfinale hervor, ohne jedoch auf das kontrastreiche Element der Gestaltung generell zu verzichten: »On peut regarder le finale comme le dernier résultat de la combinaison de la mélodie et de l’harmonie de toutes les passions mises en jeu; de toutes les expressions musicales réunis, et contrastées.« 3 Unter Vorgabe dieser Einschätzung de Jouys sei nun das Finale zum dritten Akt in La Vestale betrachtet. 178 Anno Mungen 1 Victor-Joseph Étienne de Jouy: Essai sur l‘opéra français, in: ders., Œuvres complètes. Paris 1826, Band 22. S. 225-282, hier S. 245. 2 Ebd., S. 275. 3 Ebd., S. 274. Finallösungen in Spontinis französischen Opern 179 IV. In wenigen Worten und im Hinblick auf die Aktschlüsse sei die Handlung von La Vestale kurz rekapituliert: 1. Akt: Der römische Feldherr Licinius kehrt siegreich aus dem Krieg zurück. Er liebt Julia, die inzwischen als Priesterin der Vesta ihr Leben dem Orden verschrieben hat. Ausgerechnet sie wird von der Oberpriesterin auserwählt, ihrem ehemaligen Liebhaber Licinius während einer feierlichen Zeremonie den Siegeskranz aufzusetzen. Licinius hat erfahren, dass Julia in der Nacht das Feuer der Vesta hüten muss, und verabredet ein heimliches Treffen mit ihr, um sie zu entführen. Der Akt endet mit der Siegesfeier der römischen Truppen. 2. Akt: Wie verabredet, erscheint Licinius nachts am Feuer der Vesta. Obwohl Julia Licinius liebt, weigert sie sich, mit ihm zu fliehen. Während sie mit Licinius spricht, erlischt das Feuer der Vesta, und Julia weiß, dass sie nun dem Tod geweiht ist. Licinius flieht, und die Vestalinnen und die Priester stellen Julia zur Rede. Trotz heftigen Drängens verweigert sie die Auskunft und gibt den Namen des Liebhabers nicht preis. 3. Akt: Wie es das Gesetz fordert, wird Julia verurteilt, bei lebendigem Leibe begraben zu werden. Licinius gibt sich als Liebhaber der Vestalin zu erkennen und bittet darum, an ihrer Stelle bestraft zu werden, was abgelehnt wird. Julia ist inzwischen in das Grab hinabgestiegen, in dem sie sterben soll. Licinius und seine Helfer sind bereit, Julia auch mit Gewalt zu befreien. Ein Sturm zieht auf, und ein Blitz entzündet Julias Schleier, der auf dem Altar liegt. Dies wird als Zeichen gedeutet, dass die Göttin Vesta Julia verziehen hat. Auch Julias und Licinius‘ Liebe erscheint hierdurch abgesegnet. Wenn man, wie es im Klassizismus durchaus legitim erscheint, davon ausgeht, dass La Vestale im Wesentlichen von e i n e r dramatischen Farbe beherrscht wird, die auch im Musikalischen umgesetzt wird (bei aller Differenzierung im Detail), so wird man sich eine dunkle Farbe vorstellen. Trauer, der Schrecken über die Ereignisse, die unglückliche Liebe, der klassische Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, wie er sich im Charakter Julias ausdrückt, sind hierbei die wesentlichen Stichworte. Spontini grundiert diese Farbe in elegischen Melodien, in für die Verhältnisse der Zeit zum Teil stark instrumentierten und hochdramatischen Rezitativen, sowie in den aufgeregten Klangschichtungen der großen Tableaus, vor allem im berühmten Finale des zweiten Akts. Ein gewisses Gegengewicht zu dieser dunklen Farbe bildet allenfalls das militärische Kolorit, das Martialische, wie es der Feldherr Licinius vertritt. Obwohl die Oper schließlich ein glückliches Ende findet, ist der Beginn des Finales des letzten Akts noch mit jener dunklen Grundfarbe ausgestattet. Das Finale beginnt mit dem heraufziehenden Sturm, der das drohende Einschreiten von Licinius und seinen Kriegern verhindert. Obwohl der Sturm unter den Anwesenden Schrecken und Unsicherheit verbreitet, ist er doch zugleich der Vorbote, der die Lösung ankündigt. Der Blitz entzündet bald den Schleier Julias, was als göttliches Zeichen der Vergebung gedeutet wird. Im Anschluss an den Dialog zwischen dem Oberpriester und Julia leitet ein instrumentales Zwischenspiel zu einem Chœur dansé über, der nun einen deutlich leichteren Ton anschlägt und als formales Zwischenglied zum, der Oper folgenden, großen Ballett gelten kann. Dieser Chor wird am Ende des Finales nochmals aufgegriffen, bevor dann ein letzter triumphaler Chor die eigentliche Oper abschließt. Spontini wurde von den Zeitgenossen als Spezialist in zwei kompositorischen Operngattungen gefeiert. Dass Spontini wegen seiner Rezitative berühmt (und bei den Sängern vor allem auch berüchtigt) war, lässt sich heute unmittelbar nachvollziehen. Dass er aber als Ballettkomponist einen wenn nicht gleichen aber doch ähnlichen Ruhm zu seiner Zeit erlangen konnte, überrascht demgegenüber schon eher. Es ist das Verdienst Riccardo Mutis mit seiner Einstudierung von La Vestale auf der Grundlage der neuen Edition der Partitur von Alberto Zedda, diese Qualität Spontinis wieder erfahrbar gemacht zu haben. Die Einspielung der Oper kann laut Zedda und Muti als die erste Gesamtaufnahme des Stückes gelten. Es wurden hier Passagen einbezogen, die in der Érard-Partitur nicht erscheinen, jedoch auf das Autograph von Spontini zurückgehen. Auch die Ballettmusik wurde in der Mailänder Aufführung von 1993 ganz bewusst miteinbezogen. Nach dem eben beschriebenen Finale setzt ein mehrsätziges Ballett ein, wie es an der Opéra die Regel bildete. Muti setzt sich über die neuere Konvention des Opernregie hinweg, die davon ausgeht, dass in jeder Oper, ähnlich wie im Wagnerschen Musikdrama oder einem Schauspiel, alles vom Psychologischen her motiviert sein muss. Nach solchem Verständnis macht ein als Appendix angefügtes Ballett im Anschluss an die Handlung natürlich wenig Sinn. Die Aufnahme Mutis aber zeugt von einer anderen, gleichsam übergeordneten musikalischen Dramaturgie, die auf dem von de Jouy favorisierten Prinzip des Kontrastes gründet. Mutis kühner Schritt, das der Oper folgende Ballett nicht wie sonst üblich zu streichen, wirkt im Musikalischen wie eine Offenbarung. Nun versteht man Spontinis Zeitgenossen, die dessen Ballettmusik besonders hervorhoben. Leicht im Charakter, fein und abwechslungsreich instrumentiert, stellt die abschließende Ballettmusik zu La Vestale einen scharfen Kontrast zur dramatischen Grundfarbe der Oper her und führt in andere Gefilde. Dramaturgisch integriert in die Feststimmung des glücklichen Ausgangs der Oper, stellt die Ballettmusik einen klanglichen Gegenpart zur dunklen Welt der unterdrückten Liebe, des nahenden 180 Anno Mungen Finallösungen in Spontinis französischen Opern 181 Todes, der Trauer und - konkret - des Sturms zu Beginn des letzten Finales her. Der Chœur dansé und auch die militärische Farbe der Oper bilden Scharniere, welche die Ballettmusik des Schlusses musikalisch an die Oper anbinden. V. De Jouy sprach im Essai von den »expressions contrastées«, 4 die ein Komponist durch das Finale zu erzielen habe. Spontini stellt am Schluss der Oper La Vestale nicht nur einen Kontrast her, der sich innerhalb des Finales ereignet (man denke an den Beginn und den Chœur dansé) sondern erreicht auch eine Verbindung zum Gesamtkontext der Oper mit dem großen Ballett, das als klangliches Gegengewicht opulent-bildhaft die dramatischen Ereignisse der Handlung mit ihren stark besetzten Rezitativen konterkariert und dem Zuschauer und Zuhörer die doch sehr plötzliche Wende am Schluss gewissermaßen zu ›verdauen‹ hilft. Spontini erweist sich hier, nicht anders als im berühmten Finale des zweiten Akts, als Meister der großen Form, die er in dieser Oper zum ersten Mal so ausführlich - wie gerade der Gegensatz zu den beiden Einaktern zeigt - bedient hat. Formal gelingt Spontini also eine überzeugende Lösung, obwohl vom Dramatischen her auch ein tragisches Ende denkbar gewesen wäre. Spontini aber wollte und konnte mit der Konvention des Lieto fine nicht brechen. * Ein kurzer biographischer Exkurs mag die gemachten Ausführungen ergänzen. Frederick Sternfeld gibt in seinem Artikel über das Lieto fine im New Grove Dictionary of Opera das Jahr 1815 als Stichjahr eines gewissen ästhetischen Wechsels in der Frage der Konvention des glücklichen Endes. Einen wesentlichen Grund, warum Librettisten und Komponisten an der Konvention des glücklichen Endes so lange festhielten, erkennt er darin, dass die Handlung der Oper als höfischer Gattung im Einvernehmen mit dem jeweiligen Herrscher oder Herrscherhaus stehen musste. 5 Oper war bis ins ausgehende 18. Jahrhundert (und darüber hinaus) immer wieder ganz unmittelbar ins höfische Festzeremoniell eingebunden: Stücke mit sorgfältig ausgesuchten Sujets und Handlungsverläufen wurden zu königlichen Hochzeiten, zu Geburts- und Namenstagen, als Widmungswerke, etc. eigens für den Anlass komponiert und aufgeführt. Insbesondere Spontinis Berliner Schaffen seit 1820 zeugt von dieser Tradition des funktionsbestimmten Wirkens der Oper. Königstreu und loyal den Herrschern 4 Ebd. 5 Frederick W. Sternfeld, Art. »Lieto fine«, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Opera, Bd. 2, London 1992, S. 1259f. gegenüber, denen er diente - und dies trotz revolutionärer Zeiten -, war Spontini alles andere als ein Rebell. Spontinis Konservatismus hängt u.a. mit der Einbindung seines Werks in die jeweiligen Machtkonstellationen der staatlichen Systeme in Paris und Berlin zusammen, die sich kunstpolitisch in den großen Opernhäusern der Metropolen spiegelten. Der napoleonische Staat verfügte mit der ersten musikalischen Institution des Landes, der Opéra, über ein herausragendes Forum der Repräsentation. De Jouys und Spontinis Oper bot sich in diesem Kontext als adäquates Drama an, in dem die römische Antike den Ausgangspunkt bildete. Nicht zufällig wurde diese Oper mit dem Preis für das beste Werk an der Opéra ausgezeichnet. Im Gegensatz zu dem zwei Jahre später in erster Fassung uraufgeführten Werk Fernand Cortez, das Napoleon selbst konkret in einer historischen Erobererfigur widerspiegelt, kann La Vestale eher als allgemeines Muster solcher Repräsentation gelten. Eines aber teilten die genannten Opern auch mit dem Berliner Œuvre des Komponisten: Sie mussten alle gut ausgehen. Die Konvention des Lieto fine hatte sich in Spontinis Werk nie überlebt. Literatur Jouy, Victor-Joseph Étienne de: Essai sur l‘opéra français, in: ders., Œuvres complètes, Paris 1826, Bd. 22, S. 225-282. Sternfeld, Frederick W., Art. »Lieto fine«, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove Dictionary of Opera, Bd. 2, London 1992, S. 1259f. 182 Anno Mungen Wolfram Enßlin Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs. Textliche Vorlage und musikalische Umsetzung *) 1802 schrieb Heinrich Christoph Koch in seinem Musikalischen Lexicon zum Begriff »Finale« u.a.: [Man] verstehet […] darunter in der Oper, besonders in der komischen, die am Ende der Akte an einander gereiheten Sätze von verschiedenem Charakter, und von verschiedener Ton- und Taktart und Bewegung, bey welchen die Handlung fortrückt, und nicht so, wie bey einzelnen Arien, durch den Ausdruck der in denselben enthaltenen Empfindungen aufgehalten wird. In das letzte Finale der Oper ist gemeiniglich die Entwickelung des Knotens verwebt, und dem Tonsetzer dadurch Gelegenheit gegeben, in einer unmittelbaren Folge von mehrern Sätzen sehr mannigfaltige Empfindungen auszudrücken. Ohne Zweifel hat die komische Oper einen großen Theil des Vorzuges, den sie seit geraumer Zeit über die ernsthafte Oper behauptet, der Einrichtung dieser Finalsätze zu verdanken, die durch die ununterbrochen fortrückende Handlung viel Interesse bekommen. 1 Jedoch blieb die Einrichtung von Finalsätzen, wie allgemein bekannt ist, nicht für immer auf die komische Oper beschränkt. Die ernste Oper folgte ihr, wenn auch mit ca. 30-jähriger Verspätung. Denn als ein wichtiges Merkmal der im Rahmen der zu beobachtenden grundlegenden strukturellen und dramaturgischen Veränderungen der opera seria ab ca. 1790 kann gerade die zunehmende Etablierung von Finali konstatiert werden. Nun scheint aber im Bereich der opera seria Finale nicht gleich Finale zu sein, zumindest was die hier behandelte Zeit anbelangt, denn von den Wissenschaftlern, die sich mit den Finali in den opere serie zwischen 1790 und 1820 beschäftigten, wurde immer wieder die Unterschiedlichkeit zwischen einem Binnen- und einem Schlussfinale hervorgehoben. 2 Während ein Bin- *) Das Manuskript wurde 2004 abgeschlossen; neuere Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. 1 Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexicon, Frankfurt/ Main 1802, S. 575, Faksimile-Nachdruck, Nicole Schwindt (Hrsg.), Kassel u.a. 2001. 2 Friedrich Lippmann, »Das ›große Finale‹ in Opera buffa und Opera seria. Paisiello und Rossini«, in: Klaus Hortschansky (Hrsg.), Für Anna Amalie Abert: Traditionen und Neuansätze, Tutzing 1997, S. 377-398, hier S. 377; bereits vorabgedruckt in italienischer Sprache: »Il ›Grande Finale‹ nell’opera buffa e nell’opera seria: Paisiello e Rossini, in: Rivista nenfinale, auch »grande Finale« genannt, vergleichbaren Gesetzmäßigkeiten eines Finales aus dem Bereich der komischen Oper, wie sie etwa Koch geschildert hat, folge - dem Typ eines Handlungsfinales entsprechend oder diesem zumindest nahekommend -, weise ein Schlussfinale andere formale Strukturen auf: Unter ›großem Finale‹ verstehen wir das stark aufgefächerte Finale des I. Aktes der damals in Italien meistens zweiaktigen Oper. 3 Das Finale des letzten Aktes ist zumeist einfacher gehalten; hier figurieren kurze Chöre, vaudevilleartige Ensembles oder Arie finali der Prima Donna. In den meistens dreiaktigen Opern der Zeit um 1775 können ›große Finali‹ am Schluss des I. oder des II. Aktes, oft auch beider Akte stehen, während der III. Akt gewöhnlich mit kurzen, einsätzigen Ensembles ausklingt. 4 So konzentrierten sich die drei oben genannten Wissenschaftler in ihren Studien allein auf diese Binnenfinali, während die Schlussfinali, wohl weil sie vom musikalischen und formalen Gesichtspunkt her gesehen wenig ergiebig und interessant erschienen, unberücksichtigt blieben. Einzig eine zunehmende Ausbreitung des tragico fine, von Marita McClymonds an zahlreichen Opern mit dem Titel »La morte di … « festgemacht, welche von ihr mit Veränderungen ästhetischer Prämissen, aber auch der allgemeinen politischen Lage in Europa begründet wird, erweckte bislang das Interesse an der Schlussbildung des letzten Aktes in der opera seria für die Zeit um 1800. 5 Folgende Fragen stellen sich nun im Zusammenhang mit der Behandlung meines Themas: Erster Fragenkomplex: Trifft die von Lippmann formulierte Unterscheidung zwischen Binnenfinali und Schlussfinali zu? Und wenn ja, wie lässt sich dieser Umstand erklären, da sich im Bereich der komischen und semiseriösen Oper keine vergleichbare kategorielle Unterscheidung zwischen diesen Finaltypen feststellen lässt? Liegen die Ansätze dazu etwa in den Veränderungen der metastasianischen Oper ab der Jahrhundertmitte begründet (Stichwort »Ensemblebildung«)? 184 Wolfram Enßlin Italiana di Musicologia 27/ 1992, S. 225-255. Scott L. Balthazar, »Mayr, Rossini, and the Development of the Early Concertato Finale«, in: Journal of the Royal Musical Association 116/ 1991, S. 236-266, hier u.a. S. 236f.; Uta Schaumberg, Die opere serie Giovanni Simone Mayrs, Bd. 1: Untersuchungen zur Struktur der Arien, Duette, Ensembles und Finali (= Mayr Studien 3), München 2001, Kapitel: »Die Finali«, S. 236-274, hier besonders S. 236. 3 Hier bezieht sich Lippmann auf die Zeit Rossinis. 4 Lippmann, »Das ›große Finale‹«, S. 377. 5 Marita P. McClymonds, »›La morte di Semiramide ossia La vendetta di Nino‹ and the Restoration of Death and Tragedy to the Italian Operatic Stage in the 1780s and 90s«, in: Lorenzo Bianconi [u.a.], Trasmissione e recezione delle forme di cultura musicale (Atti del XIV Congresso della Società Internazionale di Musicologia, Bologna 1987), Bd. 3, Turin 1990, S. 285-292. Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 185 Zweiter Fragenkomplex: Welche Möglichkeiten der Schlussbildung in der opera seria gab es in der Zeit um die Jahrhundertwende? Wie sah das Verhältnis von der Schlussnummer zum gesamten letzten szenischen Komplex aus? An welchen möglichen Stellen und auf welche mögliche Weise »entwickelte sich der Knoten«, um Koch zu zitieren? Gibt es diesbezüglich klare linear gerichtete Entwicklungstendenzen, was die Schlussbildung in der opera seria dieser Zeit betrifft? Dritter Fragenkomplex: Wie sieht es mit dem tragico fine wirklich aus? Ist ein tragisches Ende mit Mord bzw. Selbstmord eines Protagonisten gleichzusetzen oder spielt eventuell für die Tragik einer Handlung das Ende, ob lieto oder tragico, im Grunde genommen gar keine Rolle? Als Untersuchungsgegenstand für diese Fragenkomplexe dienen die opere serie Ferdinando Paërs; Paër stellt neben Giovanni Simone Mayr die wichtigste Komponistenpersönlichkeit für die italienische Oper in der sog. »Interregnumszeit« dar. 6 Paërs erste opera seria Circe wurde in der Karnevalssaison, genauer gesagt am 9.2.1792 im Teatro S. Samuele in Venedig uraufgeführt. 7 Dies liegt fast fünf Jahre vor Cimarosas zentralem Beitrag zur ernsten Gattung, seiner tragedia per musica Gli orazi e curiazi am venezianischen Teatro La Fenice und neun Jahre vor Cimarosas Tod. Als Paërs letzte ernste Oper L’eroismo in amore am 26.12.1815 im Teatro alla Scala in Mailand seine Premiere erlebte, hatte Rossini bereits Tancredi und Elisabetta, regina d’Inghilterra komponiert. Dies möge in aller Kürze zur zeitlichen Einordnung von Paërs Schaffen für die Gattung der opera seria genügen. Die Übersicht in Tabelle 1 zeigt, dass sich als Bezeichnung für die Schlussnummer immer mehr der Begriff »Finale« durchsetzt. 8 Dass aber mit dieser Bezeichnung inhaltlich noch nicht viel gesagt ist, mögen die Beispiele Laodicèa und Sofonisba belegen: Laodicèas Schlussnummer, in der Handschrift I-Fc D.I.505-506 als »Sestetto« überschrieben, stellt ein wahres Handlungsfinale dar: formal gesehen ein Ensemble von erheblichen Ausmaßen (340 Takte! ) mit mehreren Takt-, Tonarten- und Tempowechseln, in dem sich mehrfach die Besetzung ändert, das inhaltlich gesehen eine dramatische Zuspitzung der Handlung erfährt, bei der am Ende alle auf das Todesurteil des Liebespaares warten (ob es vollzogen wird, bleibt jedoch unklar). Auf der anderen Seite das Finale von Sofonisba (gültig für beide Versionen), in 6 Diesen Begriff prägte Stendhal für die Zeit zwischen Cimarosas Tod und Rossinis Aufstieg; siehe Stendhal, Rossini, dt. Ausgabe, Frankfurt 1988, Unterkapitel »Geschichte des Interregnums nach Cimarosa und vor Rossini von 1800 bis 1812«, S. 21-29. Originalausgabe Vie de Rossini, Paris 1824. 7 Zu Paërs Opern allgemein siehe Wolfram Enßlin, Chronologisch-thematisches Verzeichnis der Werke Ferdinando Paërs (PaWV), Bd. 1: Die Opern, Hildesheim 2004. Dort finden sich auch kurze Zusammenfassungen des Inhalts der jeweiligen Opern. 8 Tabellen 1-4 im Anhang. dem nach Auflösung des Konflikts, sei es auf tragische, sei es auf glückliche Weise, unter Einbeziehung des Chores ein kurzer musikalischer Schlusspunkt von allen Akteuren, soweit möglich, gesetzt wird. Diese Unterscheidung zwischen einer aktionsgeladenen Schlussnummer, in deren Rahmen die »Entwickelung des Knotens« vollzogen wird, und einer Schlussnummer, in der der Ausgang der Handlung nur mehr auf statische Weise kommentiert wird, muss bei den Beispielen Paërs prinzipiell getroffen werden. Neben Laodicèa enden noch La Rossana sowie Achille mit einem Handlungsfinale. So erklären sich weitgehend auch die großen Unterschiede der einzelnen Schlussnummern, was die Dimensionen anbelangt: einerseits bezüglich der Anzahl der Verse (von 4 bis 91 bzw. 123), andererseits bezüglich der musikalischen Umsetzung (Anzahl der Tempi: 1 bis 11, Ausdehnung: 46 bis 340 Takte, und wenn man den gesamten letzten durchkomponierten Komplex von Achille nimmt, sogar bis 833 Takte). Die drei genannten Opern mit einem Handlungsfinale (Laodicèa, La Rossana und Achille) sind auch diejenigen Beispiele, bei denen die Schlussfinali (vgl. Tabelle 2) an die Dimensionen der jeweiligen Binnenfinali bzw. aktbeschließenden Ensembles herankommen oder diese diesbezüglich sogar überbieten. Ein kurzer Blick auf Tabelle 3 und 4 zeigt - was auch nicht weiter erstaunt -, dass die Finali der opere serie, ob Binnen- oder Schlussfinali, bei weitem nicht an die Ausmaße der Finali der opere buffe und opere semiserie heranreichen. La Rossana diene nun zur besseren Veranschaulichung der bisherigen Ausführungen. Diese Oper weist das kürzeste der drei genannten Handlungsfinali auf, bietet jedoch zugleich dasjenige mit dem grausamsten Schluss aller opere serie Paërs. (Der vollständige Text der Schlussszene befindet sich im Anhang 5, S. 199f.) Die Scena ultima spielt in einer prächtigen Moschee (»Magnifica Moschea«). Sie beginnt mit einem Chor der Tartaren und Ottomanen (»A sì felice giorno«), der diesen glücklichen Tag preist, an dem der siegreiche Tartarenherrscher Tamerlano die Tochter des unterlegenen Ottomanenanführers Bajazette, Rossana, ehelichen wird. Zum Gesang des Chores ziehen Rossana, Tamerlano und Bajazette mit Vertrauten und Wachen ein. Es folgen wenige versi sciolti, in denen durch das a-parte Singen Bajazettes deutlich wird, dass dieser nichts Gutes im Schilde führt, sondern die Einwilligung zur Hochzeit nur gegeben hat, um ein Exempel zu statuieren und seine Rachepläne durchzuführen. Das Finale setzt ein, nachdem Bajazette Tamerlano die Hand seiner Tochter offiziell angetragen hat (»Figlia la destra omai«). Im ersten Teil (Allegro moderato, Notenbeispiel 1) wird im Grunde genommen der Inhalt des vorherigen Rezitativs wiederholt: Bajazettes doppeltes Spiel (vordergründig dem Paar wohlgesonnen zu sein, die Hand der Tochter ihrem Geliebten darreichend, in Wirklichkeit aber auf 186 Wolfram Enßlin Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 187 Rache bedacht zu sein), demgegenüber das glückliche Brautpaar, das diesen Augenblick genießt. Bajazette führt Rossana zum Altar. Der glückliche Moment der Eheschließung mit dem gegenseitigen Versprechen (»Idolo mio ti dono. Colla mia mano.«, im wiegenden 6/ 8 Takt des Andante sostenuto, Nb. 2) währt nur kurz, da Bajazette, mit einem wahren colpo di scena, den Dolch seiner Tochter in ihren Busen stößt. Entsetzen und Bestürzung einerseits, Triumph und gestillte Rachegefühle andererseits bestimmen den Allegro vivace-Teil (Nb. 3), bis, nach einer Generalpause, die sterbende Rossana (im Adagio) in stockenden Phrasen Tamerlano bittet, ihrem Vater Notenbeispiel 1 Notenbeispiel 2 64 Andante sostenuto Ob I do lo mi o ti do no. Col la mia ma no. 68 Ros.: Allegro moderato 9 8 Baj.: Fi glia la de stra o ma i Por gi all' a ma to be ne. Ros.: Oh Allegro vivace Di Tam.: Em 75 pio! Che fai t'ar re sta. Notenbeispiel 3 104 Adagio Klar in b Vl Spo so per do na per do na! .. Oh Cie lo! .. Ros.: Notenbeispiel 4 133 Allegro Stel le! Che fier tor men to! che fier che fier tor men to! Tam.: Notenbeispiel 5 seine Tat zu verzeihen (Nb. 4). Nach dem Tod Rossanas beschließt ein Allegro-Satz, in dem alle nochmals ihrem Entsetzen über das soeben Geschehene Ausdruck verleihen, die Oper (Nb. 5). Fazit: ein Opern-Schluss voller Dramatik, vor prächtiger Kulisse, gespickt mit höchst gegensätzlichen Gefühlsmomenten und einem tragischen Ende; jedoch ein Schluss, der in seiner Tragik nur eine logische Konsequenz von Bajazettes unbeugsamen Rachegelüsten darstellt, die er seinem Gegner Tamerlano gegenüber zwar immer wieder geäußert hat, die dieser in seiner Gutgläubigkeit aber beseitigt glaubte, als Bajazette auf Tamerlanos Bitten hin ihm die Erlaubnis gab, Rossana heiraten zu dürfen. Die Schlussgestaltung in der Erstvertonung dieses Calvi-Librettos durch Niccolò Zingarelli (Genua Karnevalssaison 1793) 9 sah hingegen etwas anders aus. Das bei Paër auf eine einzige Szene reduzierte Schlussbild in der Moschee erstreckt sich bei Zingarelli auf insgesamt sechs Szenen: Diese enthalten zwei Musiknummern: ein Duettino des Brautpaares relativ am Anfang des Bildes, unmittelbar vor der dann nicht zustande gekommenen Vermählung und einer Schlussarie Tamerlanos mit Tutti direkt nach Rossanas Tod. Bajazette nimmt hier gar nicht an der Hochzeitsfeier teil. Diese Feier wird unterbrochen, als die Nachricht von dem Ausbruch Bajazettes aus dem Gefängnis bekannt wird. In dem daraufhin entstehenden Durcheinander gelingt es Bajazette, die unbeaufsichtigte Tochter Rossana tödlich zu verletzen. Im Gegensatz zu Paërs Version spielt sich bei Zingarelli die dramatische Handlung gänzlich in Rezitativen ab. Zeigen Laodicèa, La Rossana und Achille, dass Schlussfinali in den opere serie formal gesehen sehr wohl dieselben Kriterien wie zwischenaktbeschließende große Finali erfüllen können und deshalb bei einer Untersuchung der Finali der opere serie nicht mehr prinzipiell und von vornherein mit der Begründung unberücksichtigt bleiben dürfen, diese Schlussfinali würden generell einen anderen Finaltypus vertreten, so sollen zwei Beispiele auch darauf hinweisen, wie relativ die Begriffe Binnenfinale und Schlussfinale zu sehen und bisweilen sogar austauschbar sind. Sie seien auch ein Hinweis auf die Bearbeitungspraxis der Zeit: 1. Beispiel: Als einzige von Paërs frühen, vor seinem Wechsel nach Wien 1798 komponierten opere serie erlebte die bereits mehrfach erwähnte Oper Laodicèa Wiederaufnahmen an anderen Orten: 1798 in Verona, 1799 in Florenz und 1803 in Cesena. 10 Für die Aufführung in Florenz unter dem Titel Tegene e Laodicèa wurde ein dritter Akt hinzugefügt. Die Beweggründe, die zu dieser dramaturgisch gesehen fragwürdigen 188 Wolfram Enßlin 9 Zingarelli, La Rossana, Genua Teatro S. Agostino, carnvale 1793, verwendetes Librettoexemplar: I-Rsc Carv 13579. 10 Verwendete Librettoexemplare: Verona: I-Vcg 57 F 73/ 10; Florenz: I-Bc Lo 3719; Cesena: I-Rsc Carv 14537. Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 189 Ergänzung führte - im Grunde genommen stellt der kurze dritte Akt inhaltlich gesehen eine Wiederholung des Handlungsablaufs des Schlusses des zweiten Aktes dar -, sind nicht klar zu erkennen, sollen aber hier nicht weiter untersucht werden. Interessant ist vielmehr, dass die Schlussnummer aus der originalen Version von 1793, das vorhin erwähnte Sestetto, beibehalten wurde und nun die Funktion eines Binnenfinales, am Ende des zweiten Aktes einer dreiaktigen Oper, übernommen hat. Vielleicht ist dies nur deshalb möglich gewesen, da das Sestetto bereits 1793 das Ende offengehalten hat. 2. Beispiel: Vor Paërs Oper Cinna gab es bereits zwei Vertonungen dieses Anelli-Librettos: zum einen von Bonifazio Asioli, in der Karnevalssaison 1793 im Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt, zum anderen von Marco Portogallo, deren Premiere in der Herbstsaison 1793 im Teatro della Pergola in Florenz stattfand. 11 Die bei Asioli dreiaktige Version wurde bei Portogallo und Paër auf zwei Akte, jedoch jeweils unterschiedlich, komprimiert bzw. reduziert. Sehr augenfällig ist die Art und Weise der Komprimierung bei Portogallos Fassung nachzuvollziehen (Die Gegenüberstellung der Texte befindet sich im Anhang 6, S. 201). Der von Cinna und Ottavianos Frau Scribonia versuchte Anschlag auf Ottavianos Leben, um diesen zu stürzen, schlug fehl. Im Moment, als Ottaviano die beiden Attentäter von seinen Soldaten umstellen lässt, setzt sowohl bei Asioli als auch bei Portogallo das Ensemble »Che fiero colpo è questa« ein. Entsetzen und Schrecken auf Seiten der gescheiterten Cinna und Scribonia, Wut und Zorn mit dem Willen, die Schuldigen zu bestrafen auf Seiten Ottavianos. Nun kommt aber der entscheidende Unterschied zwischen beiden Versionen. In Asiolis Ensemble ändert sich, nachdem Ottaviano seinen Soldaten das Zeichen gegeben hat, Cinna und Scribonia in Ketten zu legen, an der Situation und der Stimmungslage nichts mehr Grundlegendes. Beide Parteien bekräftigen ihren Hass aufeinander, jeder solle vor dem anderen zittern. Bei Asioli schließt damit der zweite Akt. Der folgende kurze, aus vier Szenen bestehende dritte Akt zeigt zum einen das Bitten Livias, der Geliebten Ottavianos, für die Gefangenen (rezitativisch), Ottavianos Zweifel und Cinnas Warten auf den Vollzug der Strafe (Arie »Se piango mio bene«), zum anderen dann den in einer großen letzten Szene in aller Öffentlichkeit gezeigten Akt der Vergebung Ottavianos. Diese letzte Szene im übrigen ist durch den dreifachen Wechsel von Coro und Rezitativpassagen mit einem abschließenden vierversigen Tutti gekennzeichnet. 11 Asioli, Cinna, verwendetes Librettoexemplar: I-Bc Lo 319; Portogallo, Cinna, verwendetes Librettoexemplar: I-Bc Lo 4369. Bei Portogallo hingegen findet sich Asiolis dritter Akt in der zweiten Hälfte des Ensembles »Che fiero colpo è questo« komprimiert wieder: Livias Einschreiten und Bitten, Ottavianos Zögern sowie sein letztendliches Nachgeben und Verzeihen. So wird ein Ensemble, welches einen Zwischenakt beschließt, zu einem Schlussfinale ausgeweitet, in dessen Rahmen der Knoten entwickelt bzw. gelöst wird. Es ist hier also mehr oder weniger die Umkehrung des Vorganges aus dem 1. Beispiel zu konstatieren. - Einen Grund für die Umarbeitung mag man darin vermuten, dass am Teatro alla Pergola kein Chor zur Verfügung stand, so dass die Gestaltung der Schlussszene mit den häufigen Choreinwürfen für Portogallo nicht möglich war. Aber auch am Teatro Nuovo in Padua, für das Paër seinen Cinna schrieb, gab es keinen Chor. Doch anstatt Portogallos Version von Asiolis Libretto zu übernehmen, wurden in Paërs Fassung allein die Choreinwürfe in der Scena ultima von Asiolis Libretto gestrichen. Am Ende der Rezitativpassagen, innerhalb derer Ottaviano sein Verzeihen publik macht, steht ein kurzes Finale, welches textlich eine nur wenig erweiterte Version von Asiolis Tutti darstellt. Paër hat Asiolis Textfassung nicht wirklich komprimiert und reduziert wie Portogallo, sondern nur drei der vier Szenen des dritten Aktes bei Asioli noch dem zweiten Akt zugeschlagen. Das Ensemble »Che fiero colpo è questo« steht bei Paër somit nicht einmal mehr an einem Akt-, sondern »nur« noch an einem Bildende. Trotz dieser eben angeführten Einwände steht außer Frage, dass die große Mehrheit der Finali der opere serie dieser Zeit die von Lippmann beschriebene Unterscheidung aufweisen: größere, z.T. stark aufgefächerte Binnenfinali und kurze, oft einsätzige Ensembles bzw. Tutti am Ende des letzten Aktes. Ein Grund für diese unterschiedliche Entwicklung der Schlussbildung am Aktbzw. am Opernende liegt wohl in der differenten Ausgangslage in der metastasianischen Oper. Während zunehmend Ensembles, ob Duett, Terzett oder gar Quartett, den Akt beschlossen - wobei diese Ensembles tatsächlich oder ideell, wie Reinhard Wiesend in einer früheren Untersuchung dargestellt hat, an der Stelle mehrerer Abgangsarien standen und diese zusammenfassten 12 -, beendete der stereotype, als Coro bzw. Tutti bezeichnete kurze Gesang, der die Darsteller üblicherweise zu sentenziös-hymnischem Jubel vereinte, die ganze Oper. Hier stehen also Ensemble auf der einen und Chor auf der anderen Seite am Ausgangspunkt der jeweiligen Entwicklung - Chor wohlgemerkt als Tutti-Vereinigung der Solisten verstanden. So gesehen kann der prinzipielle Unterschied zwischen Buffa und Seria-introduzione dieser Zeit auch im Großen und Ganzen auf diese beiden Finaltypen übertragen werden, denn 190 Wolfram Enßlin 12 Reinhard Wiesend, »Zum Ensemble in der Opera seria«, in: Analecta musicologica 25 (Colloquium »Johann Adolf Hasse und die Musik seiner Zeit«, Siena 1983), Laaber 1987, S. 187-222, hier S. 192. Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 191 Grundlage der Buffa-introduzione ist der Dialog bzw. das Ensemble. Dieses Ensemble bildete sich aus einem zu Beginn der Entwicklung der introduzione zumeist nur in der heiteren Oper anzutreffenden Tutti heraus (a 3, a 4 etc.). Grundlage der Seria-introduzione ist der Chor bzw. das Solo. Chor und Solo bzw. Soli werden zwar häufig miteinander in der introduzione verquickt, jedoch kommt es dabei nie zu ensemblehaftem, dialogischem Austausch. Dieser ist den Rezitativen vorbehalten. Dafür wird die Seria-Introduktion zumeist zu größeren szenischen Einheiten zusammengefasst, bestehend aus mehreren Einzelnummern, die durch dialogische Rezitative verbunden werden. Die Tableaubildung ist […] ein Merkmal der Seria-Introduktion. 13 Ausgehend vom Schlusstutti ist nämlich in der opera seria eine zunehmende Ausweitung der Schlussszenen hin zu großen, teils monumentalen Tableaus festzustellen. Sehr häufig finden diese Schlusstableaus an sakralen Orten statt (Tempio, Moschea, Bosco sacro). Chöre, wenn vorhanden, oder zumindest eine große Zahl an Statisten, umrahmen zumeist die Szenerie. Sehr häufig ist in dieses letzte Tableau eine große Solo-Arie eines der Protagonisten integriert, in zahlreichen Paërschen Beispielen eine zweisätzige rondò- Arie. 14 Die für den Ausgang des jeweiligen Konfliktes entscheidenden Vorgänge spielen sich aber in den die geschlossenen musikalischen Nummern verbindenden Rezitativen ab. Es diene die erste Version von Sofonisba als Beispiel: 15 Zu Beginn des letzten Bildes beschwört der Chor im Marstempel die Götter, die feindlichen Parteien zum Frieden zu bewegen. Die von Massinissa an den Altar des Marstempels gerufene Sofonisba erhält dort einen Brief, in dem Massinissa ihr aufträgt, den am Altar befindlichen Giftbecher zu trinken. Nach kurzem Zögern trinkt sie den Becher, als Siface, Scipione, Osmida und Sofonisbas Söhne den Schauplatz betreten. Osmida führt eine unerwartete Wende herbei, denn sie erklärt, dass Sofonisba nicht sterben wird, da sie, Osmida, das Gift gegen ein harmloses Mittel ausgetauscht hat. Sofonisbas Gegner Scipione ist von deren Verhalten so beeindruckt, dass er ihr und ihrem Mann Siface Land und Freiheit zurückgibt. Auch der am Selbstmord gehinderte Massinissa ist über die Rettung Sofonisbas erfreut. Alle vergessen den Zorn und die Wut gegenüber ihren Gegnern und schließen miteinander Frieden und Freundschaft. Dieses Schlussbild sieht folgende, durch versi piani gekennzeichnete geschlossene musikalische Nummern vor: Coro, Cavatina der Sofonisba, Coro, Arie der Sofonisba und Schlusstutti; alle Nummern werden jeweils durch Rezitative in versi sciolti miteinander verbunden. Die wesentlichen dramatischen Handlungsmomente: Trinken des Bechers, Os- 13 Wolfram Enßlin, Die italienischen Opern Ferdinando Paërs. Studien zur Introduktion und zur rondò-Arie (= Musikwissenschaftliche Publikationen 22), Hildesheim 2003, S. 192. 14 Siehe dazu das Kapitel über die rondò-Arie in Enßlin, Die italienischen Opern Ferdinando Paërs, S. 194-258. 15 Paër, Sofonisba, Bologna Teatro del Corso, primavera 1805 (19.5.), verwendetes Libretto: I-Rsc Carv 14346. midas Enthüllung und die Versöhnung der gegnerischen Parteien sind den Rezitativen vorbehalten. Die Vertonung von Sofonisba zeigt, dass dabei zunehmend die die Nummern verbindenden Rezitative als Accompagnato- Rezitative vertont werden. So hat Paër den Komplex vom bilderöffnenden Chor bis zur rondò-Arie Sofonisbas ohne Secco-Rezitative durchkomponiert. Nur Osmidas Enthüllung und die allgemeine Versöhnung sind als Secco-Rezitative vertont. 16 Das Schlussbild der zweiten, tragisch endenden Version von Sofonisba hingegen verzichtet gänzlich auf Secco-Rezitative. Als Möglichkeiten der Konfliktlösung in den Paërschen Beispielen gibt es u.a.: auf der einen Seite, einem lieto fine nahe stehend, den Akt des Verzeihens, ein Einlenken der Götter, die Aufdeckung des Komplotts und Bestrafung des Bösewichts, auf der anderen Seite Selbstmord und Mord. Dies leitet direkt über zum letzten Punkt, der Bewertung des tragico fine und der Frage, ob Tod als Konfliktlösung mit tragico fine gleichzusetzen ist bzw. die Frage umgekehrt gestellt, ob die Verhinderung des Todes einer oder mehrerer Protagonisten am Ende der Oper als lieto fine eingestuft werden kann. Während den drammi Metastasios in der Regel ein glücklicher und versöhnlicher Ausgang zueigen ist - nur dreimal endet das Stück mit dem Tod der Titelperson (Didone abbandonata, Catone in Utica und Attilio Regolo) -, so wird ab Ende der 1780er-Jahre zunehmend der Tod, ob in Form von Mord oder Selbstmord, auf der Bühne der opera seria präsent. Welches Bild gewinnt man bei der Durchsicht der Paër-Libretti (siehe Tabelle 1 im Anhang 1, S. 195)? In sechs von zwölf Stücken finden Akteure im Verlauf der Handlung den Tod. Doch sind diese sechs Fälle unterschiedlich zu gewichten: In Achille und I baccanti sterben mit Patroclo und Minio zwei Nebendarsteller, beide jeweils im Kampf. Patroclos Tod wird nur berichtet, hingegen stirbt Minio in Aktion auf der Bühne. Doch die Darstellung seines Todes ist insofern unproblematisch, da durch dessen Tod die Protagonisten gerettet werden. In Circe, Ero e Leandro und Didone begehen jeweils die weiblichen Titeldarsteller Selbstmord, Ero z.B., nachdem sie vom Ertrinkungstod ihres Geliebten Leandro erfahren hat; Ero und Leandro werden jedoch von Venus den Lebenden zurückgegeben. Einzig La Rossana endet, wie schon näher ausgeführt, mit Mord. Tod als Möglichkeit der Konfliktlösung war in dieser Zeit aber, wie zwei Beispiele zeigen, durchaus nicht überall möglich und angeraten. So erklärte Gaetano Sertor am Schluss seines für Gazzaniga geschriebenen Librettos Idomeneo (Padua 1790), ihm sei dargelegt worden, dass es aus unterschiedlichen Gründen gefährlich sei, das Stück tragisch enden zu lassen, weshalb er sich gezwungen sah, den ursprünglichen Schluss durch eine unwahr- 192 Wolfram Enßlin 16 Siehe Enßlin, Die italienischen Opern, S. 243-248. Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 193 scheinliche, ans Wunderbare grenzende Lösung zu ersetzen. 17 Nach dieser Erklärung folgte im Libretto die Scena ultima mit dem von ihm ursprünglich intendierten tragischen Ende. Bemerkenswert ist diese Protestnote insofern, da immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass gerade Venedig und der Veneto (zu dem Padua gehörte) eine Vorreiterrolle für den tragischen Schluss gespielt habe. Zumindest 1790 war auch dort noch ein tödlich endendes Stück nicht immer prinzipiell möglich. Zweites Beispiel: Paër äußerte sich 1805 in einem Brief an die Kaiserin Marie-Therese bezüglich des für Wien veränderten, nun mit dem Selbstmord Sofonisbas und Massinissas endenden Schlusses von Sofonisba u.a. wie folgt: Il Fine de[v]e essere secondo l’istoria colla morte di Soffonisba, perché de[v]esi in Germania stare attacati alla storia, e non fare le solite incongruenze d’Italia. 18 Die erste Version war wie erwähnt für Bologna geschrieben worden. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, eine Überlegung von Carl Dahlhaus aufnehmend, 19 inwiefern sich die Tragik eines Stoffes durch Tod oder Überleben der Protagonisten festmachen lässt. Besäße die Oper Circe, die bei Paër mit dem Selbstmord Circes schloss, weniger Tragik, wenn die Protagonistin, wie im ursprünglichen Libretto bei Mysliveček, zwar vor dem Selbstmord bewahrt wird, sie jedoch dem Hochzeitspaar Prisco und Canente offenbart, dass für sie das Leben ohne Ulisse, der sie, seiner Pflicht gehorchend, verlassen hat, um nach Ithaka zurückzukehren, eine einzige Qual sei? Oder im Fall von Achille: Liegt nicht die Tragik dieser Oper darin, dass Achille, dessen hauptrangiges Ziel im Verlauf der Handlung darin lag, die Königstochter Briseide als Frau zu erhalten, am Ziel seiner Träume angelangt auf diese verzichten und sie deren Vater zurückgeben muss, um nicht Grund für eine anderenfalls vom Hohepriester prophezeiten Pest zu sein? 17 »PROTESTA. Essendo stato rappresentato all’Autore, che per diverse ragioni sarebbe riescito pericoloso l’avventurare in Iscena il fine tragico che chiude il presente Dramma, egli si è prestato a sostituirne uno lieto, servendosi d’uno scioglimento prodigioso invero, ma indispensabile, e l’unico, che somministrar potesse la circostanza presente. La intenzione dell’Autore si è, che il fine di questo Dramma esser debba il seguente.« Giuseppe Gazzaniga, Idomeneo, Padua Teatro nuovo, fiera di giugno 1790, verwendetes Librettoexemplar: I-Vcg 59 A 263/ 6, S. 45. 18 A-Whh, Sammelbände, Karton 65, fol. 365r-366r, transkribiert bei John A. Rice, Empress Marie Therese and Music at the Viennese Court 1792-1807, Cambridge 2003, S. 334f. Rice vermutet, dass dieser Brief kurz vor dem 12.8.1805 geschrieben wurde. 19 Carl Dahlhaus, »Dramaturgie der italienischen Oper«, in: Lorenzo Bianconi/ Giorgio Pestelli (Hrsg.), Geschichte der italienischen Oper Bd. 6: Theorien und Techniken, Bilder und Mythen, Laaber 1992, S. 75-145, hier S. 137: »Tragisch ist […] der Prozeß, den ein Drama zeigt, in allen Situationen, die er durchläuft, nicht allein in dem Ende, dem er entgegentreibt: einem Ende, das nicht selten in eine andere Richtung abgebogen werden kann, ohne dass die Substanz des tragischen Verlaufs davon betroffen wäre.« Bezüglich der Schlussbildung geben die opere serie Ferdinando Paërs ein sehr heterogenes Bild ab. Wenn auch mehrheitlich die Schlussnummer auf ein nicht sehr umfangreiches, statisches Ensemble bzw. Tutti beschränkt bleibt, so haben doch auch einige Beispiele gezeigt, dass die Unterscheidung zwischen Binnen- und Schlussfinale bezüglich ihrer formalen Gestalt in der opera seria um 1800 nicht in dem Maße kategorisch zutrifft, wie bislang angenommen wurde. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass die Binnenfinali sich weitgehend aus den aktbeschließenden Ensemble heraus entwickelt und somit gewissermaßen eine von innen heraus gestaltete Ausweitung erfahren haben, während der Ausgangspunkt für die Schlussbildung des letzten Aktes das Tutti war. Das Schlussbild entwickelte sich dann, wie schon zeitgleich bei der Introduktion, durch Verbindung mehrerer Einzelnummern zu immer größeren Tableaus. Durch die zunehmende Vertonung der versi sciolti als Accompagnato-Rezitative ergaben sich immer größere durchkomponierte Komplexe. Der dialogische Austausch bzw. die dramatische Konfliktlösung blieb dabei weitgehend diesen Rezitativen vorbehalten. Sehr häufig ist in dieses letzte Schlussbild eine große Soloarie eines Protagonisten integriert, oft als rondò vertont. Tod als Konfliktlösung existierte zwar, doch hing die Möglichkeit eines solchen Schlusses noch stark von regionalen Gepflogenheiten ab. Dies zeigen an jeweils unterschiedlichen Theatern aufgeführte verschiedene Versionen ein und desselben Librettos. Die häufigste Todesart blieb der Selbstmord, während der Mord auf der Bühne weiterhin eine Seltenheit darstellte. Fehlen auch zu einer Abrundung der eben genannten Ergebnisse weitere orts-, komponistenbzw. librettistenspezifische Einzeluntersuchungen, so darf dennoch als Schlussresümee festgehalten werden, dass sich die Schlussbildung der opera seria nicht linear weiterentwickelte, sondern häufig mehrere Möglichkeiten diesbezüglich offenstanden, weshalb es immer wieder zu individuell sehr unterschiedlichen Lösungen gekommen ist. Bleibt am Ende noch der Hinweis, dass das sogenannte rondò-Finale, eine in der opera seria entwickelte Möglichkeit einer Schlussbildung des letzten Aktes zunehmend auch Eingang in die opera buffa gefunden hat, wie Rossinis Cenerentola oder Donizettis Don Pasquale belegen. 194 Wolfram Enßlin Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 195 Anhang 1 - Tabelle 1: Schlussnummern der opere serie Ferdinando Paërs Titel Librettist Bezeichnung Personenzahl Versform/ Verszahl Tempi Tonart Taktart Taktzahl »Fine« Circe D. Perelli Aria + [Rez. strum.] 1 7/ 8 +versi sciolti/ 16 1: All. agit. e - Schluß: d 4/ 4 139 + 73 Selbstmord Circes Laodicèa G. Foppa Sestetto 6 7-8-5-8 / 52 3: All. giusto-Largo- Allegretto D-Es-B-D 4/ 4 - 2/ 4 340 offenes Ende? - unklar, ob Tötung folgt L’Idomeneo G. Sertor Finale/ Sestetto 6 8/ 11 1: All. maest. F 4/ 4 55 Nettuno besänftigt, Ace. soll leben Ero e Leandro F. Salfi Coro 5+Coro 7/ 4 1: All. c. spir. F 3/ 4 46 Ero + Leandro erscheinen nach beider Tod, von Göttern gerettet La Rossana P. Calvi Finale 3+Coro/ Tutti 7/ 40 5: All. mod.-And. sost.-All. viv.- Adagio-All. F-Es-d 4/ 4 - 6/ 8 - 3/ 4 - 4 / 4 175 Rossana wird von Baj. auf der Hochzeit ermordet Cinna A. Anelli Finale 5 7/ 12 1: All. c. brio D 4/ 4 120 Ottav. verzeiht Numa Pompilio (Wien) P. Bagnoli Finale 4+Coro/ Tutti 6-7/ 19 2: And. mosso-All. maest. B-D 2/ 4 - 4/ 4 103 Numa verzeiht Achille G. De Gamerra Finale 5+Coro 7-5-6-5-7-5- 7/ 91 [123] 11: All.maest.-All.- All. viv. assai.-All. giusto-Sost. assai- Più moto-All.-Più presto-Sost.-All. risol. D-Es-D-B-D 4/ 4 - 3/ 4 all. breve - 4/ 4 330 Pat. tot; Aga. überläßt Bris. Achille; dieser muß auf Veranlassung des Priesters auf sie verzichten Sofonisba Finale 6+Coro 8/ 18 2: All. giusto - Più all. D 4/ 4 94 Sof. überlebt, da der Becher kein Gift enthielt; allg. Versöhnung (2.Version) D. Rossetti Coro Finale 4+Coro 8/ 4 1: All. vivace d 4/ 4 42 Selbstmord von Soff. u. Mass. Numa Pompilio (Paris) P. Bagnoli Finale + Ballo ossia Finale ultimo 5+Coro 8-6-versi sciolti-6- 8/ 35 5: All. giusto-And. mosso-Rec.-All. mod.-Più all. B-C-[]-A-G, C 4/ 4 - 3/ 4 - 4/ 4 173+108 Numa verzeiht; Ninfa Egeria erscheint aus den Wolken Didone abbandonata P. Metastasio Coro Coro/ Tutti 10/ 4 1: All viv. Es 3/ 4 67 Während Karthago zerstört wird, wirft sich Didone in die Flammen: Selbstmord I baccanti G. Rossi Finale 4+Coro 8-7-8/ 26 ? ? ? ? Bacchanten überwältigt, Minio getötet, Ebuzio u. Fecenia gerettet L’eroismo in amore L. Romanelli Finale 6+Coro 8-7-6/ 18 3: Andno- Allegretto-Più mosso G-C 3/ 4 - 2/ 4 183 Intrigant gefangengenommen, Mand. verzichtet auf Arb., der Verb. mit Arp. eingehen kann 196 Wolfram Enßlin Titel Ort der UA Jahr Aktbeginn 1 Takte / Verszahl Aktschluß 1 Takte / Verszahl Aktschluß 2 Takte / Verszahl Aktschluß 3 Takte / Verszahl Circe Venedig 1792 Secco - Terzetto 211 / 35 Duetto 164 / 22 Aria + Rec. 139 + 73 / 24 Laodicea Padua 1793 Introd./ Quartetto 125 / 19 Duetto 167 / 16 Sestetto 340 / 52 L’Idomeneo Florenz 1794 Introd. 49 + 67 / 9 + 8 Terzetto 182 / 37 Finale / Sestetto 55 / 11 Ero e Leandro Neapel 1794 [Introd.] 146 / 27 (23) Quintetto 237 / 29 Coro 46 / 4 La Rossana Mailand 1795 Coro 262 / 20 Terzetto 230 / 24 Finale 194 / 22 Finale 175 / 40 Cinna Padua 1795 Introduz. 130 / 4 Duetto 157 / 26 Finale 120 / 12 (20) Numa Pompilio [Wien] [1800] Introduz. 67 / 4 Finale 265 / 39 Finale 361 / 97 (15) Achille Wien 1801 Introduz. 216 / 8 (11) Finale 286 / 69 Finale 330 / 91 (123) Bologna 1805 217 / 24 (26) Finale 94 / 18 Sofonisba Wien 1806 Introduz. 194 / 26 Terzetto 279 / 37 Coro Finale 42 / 4 Numa Pompilio Paris 1808 [a due] 81 / 4 Finale 317 / 41 Finale, Ballo 173+108 / 35 Didone abbandonata Paris 1811 Introduz. 43 / 6 Duetto-Finale 259 / 24 Coro 67 / 4 I baccanti Paris 1813 Introduz. 261 / 30 Finale 320 / 45 Finale [? ] / 26 L’eroismo in amore Mailand 1815 Introduz. 267 / 39 Finale 424 / 68 Finale 183 / 18 Anhang 2 - Tabelle 2: Vergleich Aktbeginn und Aktschluss bei den opere serie Ferdinando Paërs Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 197 Anhang 3 - Tabelle 3: Vergleich Aktbeginn und Aktschluss bei den opere semiserie Ferdinando Paërs Titel Ort der UA Jahr Aktbeginn 1 Takte / Verszahl Aktschluß 1 Takte / Verszahl Aktschluß 2 Takte / Verszahl Aktschluß 3 Takte / Verszahl La virtù al cimento (Griselda) Parma 1798 Introduz. 247 / 46 Finale 616 / 133 Finale 536 / 128 Camilla ossia Il sotterraneo Wien 1799 Introduz. 160 / 26 Ruota e Finale 149+11 + 337 / 27+4+80 Finale 362 / 94 Finale 305 / 126 Ginevra degli Amieri Wien 1800 Introduz. 173 / 36 [Terzetto] 211 / 43 Finale 389 / 88 Finale 1 4. Akt 342 / 61 I Fuorusciti Dresden 1802 Introduz. 394 (393) / 66 Finale 416 / 66 Finale 577 / 133 Sargino ossia L’allievo dell’amore Dresden 1803 Introduz. 235 / 53 Finale 520 / 98 Finale 577 / 94 (98) Leonora ossia L’amor conjugale Dresden 1804 Introduz. 147 / 10 Finale 479 / 129 (135) Finale 455 / 127 L‘Agnese Ponte d’Attaro (Parma) 1809 Introduz. 267 / 25 Finale 430 / 116 Finale 587 / 130 1 Finale 3. Akt: 69 Takte und 19 Verse. 198 Wolfram Enßlin Anhang 4 - Tabelle 4: Vergleich Aktbeginn und Aktschluss bei den opere buffe Ferdinando Paërs Titel Ort der UA Jahr Aktbeginn 1 Takte / Verszahl Aktschluß 1 Takte / Verszahl Aktschluß 2 Takte / Verszahl Aktschluß 3 Takte / Verszahl Le astuzie amorose Parma 1792 Introd. 206 / 42 Finale 505 / 105 Finale 541 / 135 I pretendenti burlati Medesano 1793 Introd. 174 / 26 Finale 760 / 120 Sinfonia e Finale 114 + 591 / 154 L’oro fa tutto Mailand 1793 Introd. 185 / 22 Finale 797 / 144 Finale 802 / 156 Il nuovo figaro Parma 1794 Introd. 110 / 12 Aria 172 / 24 Finale 1038 / 258 4. Akt 1 : Finale 760 / 181 I molinari Venedig 1794 Introd. 103 / 15 Finale 506 / 112 Il matrimonio improvviso Venedig 1794 Introd. 132 / 29 Finale 358 / 99 L’intrigo amoroso Venedig 1795 Introd. 270 / 7 + 44 Finale 511 (528) / 114 Finale 506 (519) / 112 L’orfana riconosciuta Florenz 1796 Introd. 179 / 13 Finale 582 / 109 Finale 431 / 88 L’amante servitore Venedig 1796 Introd. 163 / 29 Finale 716 / 135 Finale 590 / 171 Il principe di Taranto Parma 1797 Introd. 195 / 32 Finale 523 / 174 Finale 643 / 149 Il morto vivo Wien 1799 Introd. 275 / 81 Finale 665 / 201 La testa riscaldata Venedig 1800 Introd. 271 / 53 Finale 741 / 168 La sonnambula Venedig 1800 Introd. 217 / 46 Finale 462 / 120 Poche ma buone Wien 1800 Introd. 218 / 58 Finale 355 / 111 Una in bene e una in male Rom 1805 Introd. 337 / 47 Finale 429 (435) / 75 Finale 381 (394) / 49 La primavera felice Paris 1816 Introd. 277 / 36 Finale 659 / 116 1 Aktschluss 3. Akt: Duettino con Coro - Rec. - Coro: 87 + 16 + 60 Takte / 10 + 14 + 2 Verse. Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 199 Anhang 5: Libretto von Paërs La Rossana, Mailand Teatro alla Scala carnevale 1795, S. 48-50. Verwendetes Exemplar: I-Rsc Carv 13580 Tartari, ed Ottomani in ordine distribuiti, che cantano il seguente. Coro. A sì felice giorno Sieguan felici gli anni: Cessino alfin gli affanni, Rieda la pace al cor: E questo Tempio sia La sede sol d’amor. Nel tempo di questo Coro si avanzano dal fondo Rossana, Tamerlano, e Bajazette seguiti da Fatima, Osmano, Omar, e Guardie. Tam. Pongasi fine omai Ad un vano indugiar. Olà, si rechi Il reale diadema. A’ pregi tuoi, Un grande del Regno presenta sopra un bacile a Tamerlano la corona. Al tuo grado, all’amor questo è dovuto, E questo per mia man, bella Rossana, Sul tuo capo risplenda. Baj. (Attendi indegna Un solo istante, e più non gioirai.) Ross. Tanta clemenza, o Prence, L’alma mi fa brillar; ma ancor non vedo Del caro Genitore Sereno il volto. Baj. Il mio piacere e come Vuoi tu, ch’io manifesti? Bramo, che sii felice, I voti miei son questi. Tam. Ebben: tu mi presenta L’amabile tua figlia, il caro bene, La mia sposa adorata. Baj. Prendila pure, io te la dono. (Ingrata). Figlia la destra omai Porgi all’amato bene. Tam. a 2 Più amabili catene Ross. Io non potea sperar. Istante più beato Ross. a 2 Non può donarmi il fato. Tam. A tanta gioja il core Più in me capir non sa. Baj. (Affanno sì spietato Non passi invendicato. Vittima al mio furore L’indegna alfin cadrà! ) ATTO TERZO SCENA ULTIMA. Magnifica Moschea. 200 Wolfram Enßlin Tam. Cara t’accosta all’ara. Ross. Padre. Baj. Tua guida io sono. la conduce all’ara. Tam. a 2 Idolo mio ti dono. porgendosi la mano. Ross. Colla mia mano. Baj. al momento con un pugnale trafigge il seno a Rossana. Ross. Oh Dio! ... Tam. Empio! Che fai? t’arresta. Baj. Questa la face sia, Che la vendetta mia Accese già per te. Tutti gli altri, e Coro di Tartari. Qual tradimento è questo! Tam. Che colpo, ohimè! funesto! Baj. La rabbia, il tuo livore Lo stesso tuo furore Formano il mio piacer. Tam. Orrendo mostro! Baj. Appagati Io non ti so temer. Ross. Sposo perdona … Oh Cielo! … reggendosi male, e singhiozzando. Perdona al Genitor … La sposa tua … che more Chiede … per lui … pietà. Tam. Alma dell’alma mia, Che chiedi! … Ross. Io manco … Ah Padre! Ah caro Sposo … Addio! muore. Baj. Ah, che assalir mi sento Da insolito terror! Tam. Stelle! Che fier tormento! Non so s’io viva ancor? Tutti Che giorno di spavento, gli altri, Di duolo, e di terror. e Coro. Fine del Dramma. Die Schlussbildung in den opere serie Ferdinando Paërs 201 Anhang 6: Gegenüberstellung Cinna Asioli - Portogallo Asioli: Cinna Atto secondo. Scena XI. […] Ottaviano ordina ai Soldati, che circondino Cinna e Scribonia; egli resta nel mezzo della Scena col ferro in mano. Portogallo: Cinna Atto secondo. Scena ultima [X]. […] Ottaviano ordina ai Soldati, che circondino Cinna e Scribonia; egli resta nel mezzo della Scena col ferro in mano. a 3 Ott. Cin. a 2 Scrib. Cin. Scrib. Ott. Che fiero colpo è questo Di gel, di sasso io resto... Il core in sen mi palpita Di tema, e di furor. Chi mai v’indusse, o perfidi, A così iniqua trama? Empio, fu sol la brama Di trapassarti il cor. Da me la Patria oppressa La libertade aspetta. A me chiedea vendetta Il mio tradito onor. Cesare odiate? E Cesare Saprà punirvi ancor. a 3 Ott. Cin. a 2 Scr. Scr. Ott. (Che fiero colpo è questo! (Di gel, di sasso io resto... (Il core in sen mi palpita (Di tema, e di furor. Chi mai v’indusse, o perfidi, A così iniqua trama? (Empio, fu sol la brama (Di trapassarti il cor. Da me la Patria oppressa La libertade aspetta. A me chiedea vendetta Il mio tradito onor. Cesare odiate? E Cesare Saprà punirvi ancor. Fa cenno ai Soldati, i quali incatenano Cinna, e Scribonia. fa cenno ai Soldati, i quali incatenano Cinna, e Scribonia. Liv. sopraggiungendo frettolosa. a 3 Scrib. Cin. a 3 Ott. Il core in sen mi palpita Di tema, e di furor. Trema, crudel: tra poco La mia vendetta aspetto: D’ogni Romano in petto Vive di Bruto il cor. Tremate indegni. Oh Dio! Nuovi perigli aspetto. D’ogni Romano in petto Temo di Bruto il cor. Fine dell’Atto Secondo. [Liv.] Ott. Scr. a 2 Cin. Liv. Ott. Cin. a 4 Liv. Scr. Ott. Ah Signor, s’è ver che m’ami Non mostrarti ognor severo, Cangia oh Dio, cangia pensiero, Dona ai rei la libertà. Non ascolto. Oh fiero istante! Cedi al pianto, all’amor mio. (Che risolvo, incerta, oh Dio! (Che risolve? (Pende l’alma: ah che sarà! Io ti cedo: a te la mano a Liv. Dono a Liva: a te l’amante, a Cin. E perdono in questo istante Da Romano, e vincitor. abbraccia Cinna, ed ordina che gli siano levate le catene, prende la destra di Scribonia, e l’unisce a quella di Cinna. Cin. Scr. Liv. a 3 a 4 Sogno! Vaneggio! Oh gioia! Oh fortunato amor! Delle procelle irate La furia omai cessò: E all’alme innamorate La pace alfin tornò. Fine del Dramma. 202 Wolfram Enßlin Literatur Balthazar, Scott L., »Mayr, Rossini, and the Development of the Early Concertato Finale«, in: Journal of the Royal Musical Association 116/ 1991, S. 236-266. Dahlhaus, Carl, »Dramaturgie der italienischen Oper«, in: Lorenzo Bianconi/ Giorgio Pestelli (Hrsg.), Geschichte der italienischen Oper Bd. 6: Theorien und Techniken, Bilder und Mythen, Laaber 1992, S. 75-145. Enßlin, Wolfram, Chronologisch-thematisches Verzeichnis der Werke Ferdinando Paërs (PaWV), Bd. 1: Die Opern, Hildesheim 2004. Ders., Die italienischen Opern Ferdinando Paërs. Studien zur Introduktion und zur rondò- Arie (= Musikwissenschaftliche Publikationen 22), Hildesheim 2003. Lippmann, Friedrich, »Das ›große Finale‹ in Opera buffa und Opera seria. Paisiello und Rossini«, in: Klaus Hortschansky (Hrsg.), Für Anna Amalie Abert: Traditionen und Neuansätze, Tutzing 1997, S. 377-398 (bereits vorabgedruckt in italienischer Sprache: »Il ›Grande Finale‹ nell’opera buffa e nell’opera seria: Paisiello e Rossini, in: Rivista Italiana di Musicologia 27/ 1992, S. 225-255). McClymonds, Marita P., »›La morte di Semiramide ossia La vendetta di Nino‹ and the Restoration of Death and Tragedy to the Italian Operatic Stage in the 1780s and 90s«, in: Lorenzo Bianconi [u.a.], Trasmissione e recezione delle forme di cultura musicale (Atti del XIV Congresso della Società Internazionale di Musicologia, Bologna 1987), Bd. 3, Turin 1990, S. 285-292. Rice, John A., Empress Marie Therese and Music at the Viennese Court 1792-1807, Cambridge 2003. Stendhal, Rossini, dt. Ausgabe, Frankfurt 1988, Originalausgabe Vie de Rossini, Paris 1824. Schaumberg, Uta, Die opere serie Giovanni Simone Mayrs, Bd. 1: Untersuchungen zur Struktur der Arien, Duette, Ensembles und Finali (= Mayr Studien 3), München 2001. Wiesend, Reinhard, »Zum Ensemble in der Opera seria«, in: Analecta musicologica 25 (Colloquium »Johann Adolf Hasse und die Musik seiner Zeit«, Siena 1983), Laaber 1987, S. 187-222. Ludwig Striegel Lieto fine - oder auch nicht. Didaktische Möglichkeiten einer szenischen Interpretation Mozarts Oper Le nozze di Figaro, Scena ultima: Der Graf glaubt, Figaro mit seiner Frau, der Gräfin (in Wirklichkeit die verschleierte Susanna) ertappt zu haben. Seine Rachedrohung wird von den anderen ironisch kommentiert: Mit dem Auftritt der echten Gräfin kippt die Situation, der Graf bittet um Verzeihung. (Pantomime zur Musik) Graf: Frau Gräfin, Vergebung Gräfin: (wendet sich zur Seite, dem Publikum zu) Dieser Mann hat mich, verliebt bis über beide Ohren, aus dem Haus meines Kindermädchens entführt und geheiratet, obwohl ich nur von bürgerlichem Stand bin. Nun ist er hinter allen Röcken in meiner Umgebung her, vor allem hinter meiner Kammerzofe Susanna. Wie war das? Gib mir meinen Gatten wieder, oder sende mir den Tod? Aus welchem Grund sollte ich ihm jetzt einfach glauben und verzeihen? Lässt sich so ein Mensch überhaupt ändern, der meint, wegen seiner adligen Abkunft mehr Rechte als ein Bürger zu haben? zum Grafen: Nein, mein Herr! Auch meine Geduld hat Grenzen. Ich lasse mich scheiden! (Erschreckte Reaktion der Anderen) Wäre für Mozarts Oper ein solches Ende denkbar? Zumindest scheint es nicht völlig abwegig, in dem von Beaumarchais konstruierten Verwirrspiel auch Alternativen der Handlungsführung zu bedenken. Ich zitiere Stefan Kunze: »In jedem Augenblick werden den Personen Entscheidungen abverlangt. Das ist nicht zuletzt die humane Botschaft von Mozarts Werk.« 1 Natürlich haftet der Aussage »Ich lasse mich scheiden« etwas Anachronistisches an: So einfach ist es nicht, heutige Alltäglichkeiten auf eine frühere 1 Stefan Kunze, Mozarts Opern, Stuttgart 1984, S. 239. Zeit zu übertragen. Aber im Kern erweist sich die Fragwürdigkeit des Lieto fine als ein Problem der Rezeption, als eine Frage der Verflechtung von Hörerwartung, Handlungskonvention und Verkörperungsstrategien. An diesem Punkt setze ich als Musikdidaktiker an, wenn ich versuche, Zugänge zum Thema Oper im schulischen Musikunterricht zu finden. Ich möchte Ihnen im Konzept der Szenischen Interpretation eine Verfahrensweise vorstellen, die seit Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts immer stärkere Verbreitung findet. Man versteht darunter eine besondere Methode des erfahrungsbezogenen oder besser erfahrungserschließenden Unterrichts im Sinne von Ingo Scheller. 2 In etwas vergröberter Darstellung: Im Unterricht sollen die Schülerinnen und Schüler Erfahrungen machen; Aufgabe der Lehrkräfte ist es, solche Erfahrungen zu ermöglichen, anzuleiten und zu reflektieren. Schule wird im Sinne Hartmut von Hentigs als »Erfahrungsraum« verstanden. Man mag mit Recht an dem allzu wertneutralen oder zufallsanfälligen Erfahrungsbegriff Kritik üben und den Terminus des stärker zielgerichteten Lernens vorziehen, 3 dennoch greift dieser didaktische Ansatz insbesondere in einem Bereich, der auf die Alltagsbezogenheit des Szenischen Spiels abhebt. In der Oper agieren Menschen, die als Typen, als Individuen oder als Mischformen beider ausgewiesen werden. Die Szenische Interpretation geht davon aus, dass ein Rezipient zu den individuellen und rollengesteuerten Verhaltensweisen eine persönliche Beziehung entwickelt, wobei er sowohl eigene Erfahrungen in den Arbeitsprozess einbringt als auch im diskursiven Unterrichtsgeschehen Erfahrungen macht. Dabei spielt auch der Umgang mit dem eigenen Körper eine zentrale Rolle: Der Begriff der »Haltung« ist mehrdeutig: Verbale und körpersprachliche Ausdrucksformen sollen zur Verkörperung eines Typus oder einer Person gebündelt, sozusagen zugespitzt werden. Daraus resultiert die »Haltung« als eine nach außen sichtbare Körperhaltung mit entsprechender Mimik, wie sie z.B. auf einem Bild festgehalten werden kann. Daraus lässt sich aber auch die »Haltung« als innere Triebfeder potenzieller oder tatsächlicher Handlungen gewinnen - personales Handeln verdankt sich einer inneren Einstellung, die wiederum auf der Einfühlung in einen psychologischen und historischen Kontext basiert. Ich zitiere Ingo Scheller: Die Interpret/ innen müssen ihr Wissen, ihre Erlebnisse, ihre Phantasien und Gefühle aktivieren und probeweise auf die Figur und ihre Situation übertragen, nicht um deren Argumentations- und Handlungsmuster zur Bestätigung geliebter oder zur Abwehr ungeliebter Selbstdefinition zu 204 Ludwig Striegel 2 Vgl. Ingo Scheller, Erfahrungsbezogener Unterricht, Königstein/ Ts. 1981. 3 Es handelt sich dabei um eine didaktische Grundsatzdiskussion, die seit etlichen Jahren geführt wird. Vgl. dazu: Hermann J. Kaiser, »Musikalische Erfahrung - Annotate zu einer musikpädagogischen Grundkategorie«, in: Wulf Dieter Lugert/ Volker Schütz (Hrsg.), Aspekte gegenwärtiger Musikpädagogik. Ein Fach im Umbruch, Stuttgart 1991. Lieto fine oder auch nicht - Didaktische Möglichkeiten 205 vereinnahmen, sondern um sich konkret vorstellen zu können, welche Wahrnehmungen und Empfindungen, welche Erwartungen, Intentionen und Wünsche diese umtreiben, welche aktuellen und früheren Erlebnisse ihr Verhalten beeinflussen. Dabei kann das Vorstellungsmaterial aus sehr unterschiedlichen Quellen stammen: aus analogen eigenen Erlebnissen, aus den Erlebnissen anderer, aus literarischen Texten, Bildern oder Filmen, [aus musikalischen Erlebnissen,] aus Träumen oder unbewussten Szenen. Entscheidend ist […], dass die Vorstellungsinhalte differenziert genug sind, um den Zugang auch zu ungewöhnlichen, historisch und kulturell fremden, möglicherweise auch verpönten, angstmachenden Empfindungen, Denk- und Verhaltensweisen zu erschließen. 4 Aus diesem Zitat geht hervor, wie weitreichend, wie weit das Eindringen in die Vorlagen mit den Mitteln der Szenischen Interpretation gehen kann, zugänglich auch für Laien ohne schauspielerische Vorerfahrung. Szenisches Spiel in dieser Bedeutung ist ein ganzheitliches Konzept des Sich-Einlassens auf andere Erfahrungsbereiche. Gleichzeitig wird aber auch eine Gefahr deutlich, die sich insbesondere bei historischen Sujets zeigt: Die Gefahr nämlich, den Kontext eigener, ganz persönlicher Erfahrungen unreflektiert auf eine andere Zeit, auf einen anderen historischen Kontext zu übertragen. Diese Gefahr allerdings, so meine ich, ist durch kritische Reflexion der eigenen Tätigkeit zu verringern; der daraus eventuell entstehende Schaden steht aber in keinem Verhältnis zu dem Zugewinn an persönlicher Bedeutsamkeit, den z.B. ein historischer Sachverhalt durch szenische Verkörperung erfahren kann. Lassen Sie mich an einigen Beispielen zeigen, wie szenische Interpretation konkret funktioniert; ich muss natürlich vorausschicken, dass die hier bestehende Präsentationssituation das Eigentliche Szenischer Interpretation nicht trifft; denn erst im Prozess der persönlichen Aneignung, in der eigenen Teilnahme an szenischen Prozessen lässt sich ihre Eindrücklichkeit erfahren. Die »Einfühlung« 5 in bestimmte Personen kann kollektiv oder individuell vor sich gehen: Hier in den historischen Kontext (z. B. durch historische Tänze), da in die subjektive Gefühls- und Ausdruckswelt einer Person. Dies geschieht z. B. mit Hilfe von Einfühlungstexten und kann durch ein »Hilfs- Ich« (die Lehrerin oder den Lehrer) unterstützt werden. Zu den »Haltungen« - im vorher beschriebenen umfassenden Sinn - gehören Gehhaltung, Sprechhaltung, individuelle oder kollektive Singhaltung, die ihrerseits Rückschlüsse auf Rollen oder innere Haltungen der betreffenden Figuren geben. 4 Ingo Scheller, Wir machen unsere Inszenierungen selber (I). Szenische Interpretation von Dramentexten, Oldenburg 1989, S. 23. 5 Die Darstellung orientiert sich terminologisch und inhaltlich an: Rainer Brinkmann, Szenische Interpretation von Opern. Die Hochzeit des Figaro. Begründungen und Unterrichtsmaterialien, Oldershausen 1992, S. 22-35. Diese Haltungen können in »Bildern« fixiert werden, wobei etwa das Modellieren von Standbildern die Beteiligung aller Mitwirkenden erfordert. Das »Einfrieren« oder »Stop-Verfahren«, in unserem Fall als »Musik-Stop- Verfahren«, ermöglicht die Fokussierung auf einen spezifischen Moment des szenischen Ablaufs. Das Modellieren eines »Denkmals« oder einer »Statue« mit einer Person ermöglicht eine Intensivierung des körpersprachlichen Aspekts und der damit verbundenen Ausdrucksintensität. Durch die Verbindung mit Musik können im »Musik-Tableau« und im »Gruppensoziogramm« komplexe Beziehungsverhältnisse zwischen den handelnden Personen und der dazu komponierten Musik thematisiert werden. All diese Einzelverfahren werden schließlich gebündelt zu speziellen »Spielverfahren«, die von der pantomimischen Darstellung zur erklingenden Musik bis zur eigenen, auch über die Handlung hinausgehenden Um- und Neugestaltung gehen, bis hin zu bewussten Brüchen, dem Heraustreten aus der Rolle. In dieser Hinsicht dürfte im Übrigen die Szenische Interpretation von manchen Praktiken des modernen Regietheaters nicht weit entfernt sein. Im abschließenden »Reflexionsverfahren« sollen Beteiligte und Beobachter ihre Erfahrungen einbringen, sollen versuchen, in der »Ausfühlung« bzw. im »Blitzlicht« (als Momentaufnahme der Gruppensituation) wieder eine Distanz zur Rolle zu gewinnen und letztendlich den gesamten Prozess der Szenischen Interpretation als vielschichtigen Annäherungsprozess zu verstehen. Dass eine szenische Interpretation natürlich auch mit ganz traditionellen Verfahrensweisen des Musikunterrichts wie dem Singen und Musizieren, so weit es die Vorlagen als angemessen erscheinen lassen, und dem konzentrierten Hören, dem Analysieren und Reflektieren zu verknüpfen ist, sei hier nur kurz erwähnt. * Lassen Sie mich abschließend zu Mozart zurückkehren. Unsere Gräfin hat sich vorher, zum Erschrecken aller Beteiligten, sehr direkt geoutet - die Androhung der Scheidung, ausgesprochen von einer Frau gegenüber ihrem adligen Gatten, ist nicht nur historisch fragwürdig (wenn auch nicht völlig undenkbar), sie widersetzt sich am Ende der Oper auch den Konventionen des Lieto fine. Ließe sich der Kerngedanke dieser Szenerie nicht auch anders, hintergründiger umsetzen? Ich verwende für die Antwort der Gräfin die wörtliche Übersetzung »Ich bin gelehriger und sage ja« an Stelle der Fassung im Klavierauszug »Wie könnt‘ ich denn zürnen, mein Herz spricht für dich«. 206 Ludwig Striegel Lieto fine oder auch nicht - Didaktische Möglichkeiten 207 Graf: Frau Gräfin, Vergebung Gräfin: (ironisch) Ich bin gelehriger und sage ja Alle: (skeptisch) Ah, so werden wir alle zufrieden sein Die Ironie der Gräfin hat eine sehr skeptische Reaktion zur Folge. Das ließe sich auch noch anschärfen: Graf: Frau Gräfin, Vergebung Gräfin. (zynisch) Ich bin gelehriger und sage ja. Alle: (ironisch) Ah, so werden wir alle zufrieden sein. Kein Lieto fine? Diese Diskrepanz von Textsinn und Darbietung mag überspitzt sein, der dadurch in Gang gesetzte unmittelbare Reflexionsprozess aber rechtfertigt in meinen Augen die Verfahren der Szenischen Interpretation als eine Bereicherung nicht nur des didaktischen Methodenrepertoires. Vielleicht gelingt es, auch die Aussagekraft von Mozarts Musik mit anderen Ohren zu hören? Graf: Frau Gräfin, Vergebung Gräfin. (warmherzig) Ich bin gelehriger und sage ja. Alle: (überzeugt) Ah, so werden wir alle zufrieden sein. (Standbild, dazu Musik) Literatur Brinkmann, Rainer, Szenische Interpretation von Opern. Die Hochzeit des Figaro. Begründungen und Unterrichtsmaterialien, Oldershausen 1992. Kaiser, Hermann J., »Musikalische Erfahrung - Annotate zu einer musikpädagogischen Grundkategorie«, in: Wulf Dieter Lugert/ Volker Schütz (Hrsg.): Aspekte gegenwärtiger Musikpädagogik. Ein Fach im Umbruch, Stuttgart 1991. Kunze, Stefan, Mozarts Opern, Stuttgart 1984. Scheller, Ingo, Erfahrungsbezogener Unterricht, Königstein/ Ts. 1981. Ders., Wir machen unsere Inszenierungen selber (I). Szenische Interpretation von Dramentexten, Oldenburg 1989. Jürgen Blume Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 Einleitende Fragen Es mag zunächst verwundern, dass auch das Oratorium um 1800 in der Regel ein Lieto fine hat. Um eine Begründung dafür zu finden, stellen sich von vornherein vier Fragen: 1. Ist das Lieto fine im geistlichen Oratorium einschließlich des Passionsoratoriums nicht aus theologischen Gründen fast zwangsläufig, wie in der Liturgie auf das Sündenbekenntnis der Zuspruch der Gnade folgt? 2. Wie stark wirkt die Gattungstradition unabhängig von Entwicklungen innerhalb der weltlichen Chormusik oder der Instrumentalmusik? 3. Welchen Einfluss haben Werke, die besonders erfolgreich waren - wie Grauns Tod Jesu, Haydns Schöpfung oder Beethovens Christus am Ölberge? 4. Inwieweit prägen das Libretto, die Ästhetik der Empfindsamkeit, die aufgeklärte oder rechtgläubige Religion die Konzeption von Oratorien? Um sich den Unterschied in den verschiedenen Finalkonzeptionen der Oratorien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und um 1800 zu vergegenwärtigen, ist nicht nur ein Blick auf die rondoartigen kontemplativen Schlusschöre der Bachschen Passionen, »Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine« (Johannes-Passion, 1724) und »Wir setzen uns mit Tränen nieder« (Matthäus- Passion, 1727), hilfreich; aufschlussreich ist vielmehr vor allem ein Blick auf den Choral »Ihr Augen weint« mit dem anschließenden feierlich getragenen, durchgehend homophonen Schlusschor aus Carl Heinrich Grauns Der Tod Jesu (1755), da dieses Werk etwa hundert Jahre lang zu den am meisten aufgeführten geistlichen Werken in Norddeutschland gehörte und als Musterbeispiel für Oratorienkomposition in Sulzers Theorie der Schönen Künste mehrfach zitiert wird. Dieses Oratorium gehört dem Typ des lyrischen Passionsoratoriums an, das sich nach Johann Sebastian Bachs Tod in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr durchsetzte. 1 Der Text stammt 1 Das undatierte Libretto findet sich in D-Lem: IB 51 (nach Howard E. Smither, A History of the Oratorio, Bd. 3, The Oratorio in the Classical Era, Oxford 1987, S. 337). von Carl Wilhelm Ramler, der als »deutscher Metastasio« apostrophiert wurde. Der Auftrag für das Libretto zum Tod Jesu wurde unmittelbar von Prinzessin Anna-Amalia erteilt, was die Popularität sicher noch förderte. 2 Der Schlusschor lautet: Hier liegen wir gerührte Sünder, O Jesu, tiefgebückt, Mit Thränen diesen Staub zu netzen, Der deine Lebensbäche tranck: Nimm unser Opfer an! Freund Gottes und der Menschenkinder, Der seinen ewigen Gesetzen Des Todes Siegel aufgedrückt, Anbetung sey dein Danck! Den opfre jedermann! Die schlichte und einförmige Rhythmisierung der Chor- und Orchesterpartien sowie der fehlende Kontrast im Mittelteil der Da-capo-Form tragen zur ruhigen Beschaulichkeit bei, der lediglich die Harmonik mit Varianttonarten und verminderten Septakkorden etwas Spannung verleihen. In diesem richtungweisenden Werk fehlt ein Lieto fine. 210 Jürgen Blume 2 Jürgen Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte ›wahrer‹ Kirchenmusik (= Abhandlungen zur Musikgeschichte 7), Göttingen 2001, darin Kap. 6: »Oratorientheorie um 1780«, S. 210. Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 211 Definition des Oratoriums in zeitgenössischen Lexika Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) hat wahrscheinlich unter Mithilfe von Johann Philipp Kirnberger (1721-1783) 3 den Artikel »Oratorium« in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Leipzig 1771- 1774) verfasst. Er definiert das Oratorium als ein mit Musik aufgeführtes, aber durchaus lyrisches und kurzes Drama, zum gottesdienstlichen Gebrauch bey hohen Feyertagen. Die Benennung des lyrischen Drama zeiget an, daß hier keine sich allmählig entwickelnde Handlung mit Anschlägen, Intriguen und durch einanderlaufenden Unternehmungen statt habe, wie in dem für das Schauspiel verfertigten Drama. Das Oratorium nimmt verschiedene Personen an, die von einem erhabenen Gegenstand der Religion, dessen Feyer begangen wird, stark gerührt werden, und ihre Empfindungen darüber bald einzeln, bald vereinigt auf eine sehr nachdrückliche Weise äußern. Die Absicht dieses Dramas ist, die Herzen der Zuhörer mit ähnlichen Empfindungen zu durchdringen. Der Stoff des Oratoriums ist also allemal eine sehr bekannte Sache […]. Folglich kann er durchaus lyrisch behandelt werden, weil hier weder Dialog, noch Erzählungen, noch Nachrichten von dem, was vorgeht, nöthig sind. 4 Diese Definition ist eine Absage an die episch-dramatischen Oratorien Händels und ein Plädoyer für das kontemplativ-empfindsame Oratorium wie Carl Heinrich Grauns ausdrücklich zitiertes Oratorium Der Tod Jesu. 5 Doch 3 Die doppelte Autorschaft vermutet Smither, Oratorio, Bd. 3, S. 337. 4 Johann Peter Abraham Schulz, Art. »Oratorium«; in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1774, S. 852. 5 Entsprechende Deutung des Artikels »Oratorium« durch Winfried Kirsch, »Oratorium und Oper. Zu einer gattungsästhetischen Kontroverse in der Oratorientheorie des 19. Carl Heinrich Graun: Der Tod Jesu, Schlusschor, T. 110-117 (© Breitkopf & Härtel) Sulzers Definition ergibt sich nicht aus der Bestandsaufnahme des Oratorienschaffens in den 1770er-Jahren, sondern ist ein ästhetisch und theologisch begründetes Postulat, das der intensiven Klage ebenso Raum gibt wie dem Lieto fine. Für Sulzer müsste aber auch das Lieto fine - der Begriff kommt bei ihm allerdings nicht vor - der Erhabenheit des Gegenstandes angemessen sein. Sulzer fordert auch beim lyrischen Ton »mannigfaltige Abwechslung« in allen musikalischen Formen vom Rezitativ über die Arie bis hin zum Chorsatz. In seiner Definition wird der ästhetische und belehrende Anspruch deutlich: Eine sehr wesentliche Sache hiebey ist dieses, daß der Dichter mehrere Charaktere einführe. Vollkommen Gottesfürchtige, denn noch etwas schwache, auch wol gar verzagte Sünder; Menschen von feueriger Andacht, und denn zärtliche sanft empfindende; denn dadurch bekommt der Tonsezer Gelegenheit jedes Gemüth zu rühren. 6 Ähnlich äußert sich auch Heinrich Christoph Koch im Artikel »Oratorium« seines Lexikons von 1802: Oratorium ist ein in Musik gesetztes durchaus lyrisches Drama religiösen Inhaltes zum gottesdienstlichen Gebrauche, welches zur Absicht hat, durch Darstellung einer wichtigen biblischen Geschichte, oder einer anderen erhabenen religiösen Handlung die Herzen der Zuhörer mit andächtigen Empfindungen zu durchdringen. Koch kritisiert, dass sich die Rezitative, Arien und Chöre »von der hohen Simplizität, wodurch sich die gottesdienstliche Musik auszeichnen sollte, zu sehr entfernen, und sich zu sehr nach dem Style der Opernmusik hinneigen.« 7 Diese Beschreibung kann man nur als Absage an ein ausgelassenes Lieto fine im Oratorium verstehen. Andererseits zeigen die bedeutenden Libretti der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dass die Inhalte infolge der Aufklärung nicht mehr an strenge christliche Dogmatik gebunden sind, sondern sich überkonfessionell geben. 8 An die Stelle göttlicher Offenbarung treten die persönlichen Gefühle. Christus wird in mehreren Oratorien aktive Person und damit eher als Mensch und weniger als Gott dargestellt. Die Solisten, die Arien über den leidenden Christus und seine Erlösungstat singen, werden wie in Grauns Tod Jesu zu virtuosen Leistungen herausgefordert, 212 Jürgen Blume Jahrhunderts (Materialien zu einer Dramaturgie des Oratoriums)«, in: Rainer Cadenbach/ Helmut Loos (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. Festschrift Günther Massenkeil zum 60. Geburtstag, Bonn-Bad Godesberg 1986, S. 224f. 6 Schulz, »Oratorium«, in: Sulzer, Allgemeine Theorie, S. 853. 7 Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexicon, 2 Teile in einem Band, Frankfurt 1802, Nachdruck Hildesheim 1985, Sp. 1098. 8 Vgl. Martin Geck, Art. »Oratorium, 4. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), MGG2, Sachteil Bd. 7, Kassel u.a. 1997, S. 766f. Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 213 die ihre Empfindungen ausdrücken und durchaus eine Nähe zu den Arien der gleichzeitigen Opera seria zeigen. Die inhaltliche Öffnung vom Offenbarungsglauben zum empfindsamen Menschheitsdrama im Oratorium bedeutet nicht, dass die Arien in »hoher Simplizität« gehalten sein müssten; insofern entfernen sich die meisten Kompositionen von den Grundsätzen Sulzers und Kochs. In Grauns Tod Jesu besingt die Sopranistin in einer virtuosen Arie (Nr. 3) Christus als »Held, auf den die Köcher des Todes ausgeleert. Hör' am Grabe den, der schwächer Trost begehrt! « Sulzer kritisiert gerade diese Arie in dem ansonsten von ihm geschätzten Oratorium als nicht groß genug. [...] Wenn der Tod Jesu, als die Versöhnung des ganzen menschlichen Geschlechts angesehen wird; so erwekt besonders der erste Blik auf diese unendlich große Handlung nothwendig auch ganz hohe Empfindungen. 9 Als Antwort auf das Rezitativ, in dem davon berichtet wird, dass Jesus freiwillig den Kreuzesbalken trägt, an dem er langsam sterben muss, folgt eine ebenso virtuose Bassarie (Nr. 9), die mit den Worten beginnt »So stehet ein Berg Gottes, den Fuß in Ungewittern, das Haupt in Sonnenstrahlen, so steht der Held aus Kanaan«. Man spürt die bildhafte und das Gefühl ansprechende Sprache in Wort und Ton. Die gegenüber den Oratorien der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesteigerte Emotionalität der Sprache bildet eine geeignete Grundlage für ein emotional gefärbtes Lieto fine, das allerdings - wie erwähnt - in Grauns Tod Jesu noch vermieden wird. Dass das Oratorium durchaus eine Nähe zur Oper haben kann, wird aus der Definition in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1798) deutlich, wo es unter dem entsprechenden Stichwort als ein »Singestück in der Musik« bezeichnet wird, »in welchem die Handlung aus der geistlichen Geschichte hergenommen ist, eine Oper, oder Operette geistlichen Inhaltes.« 10 Im erst 1837 erschienenen Damen Conversations Lexikon wird die Verwandtschaft mit der Oper noch deutlicher formuliert: Oratorium, lyrisch-musikalisches Kirchendrama, entstand mit der Oper aus derselben Urquelle, durch Absingen biblischer Begebenheiten in den geistlichen Versammlungen, welche nicht in den Kirchen selbst, sondern in Betsälen (Oratorien) statt fanden. Oratorium und Oper sind Zwillingsgeschwister; die Oper ist das Weltkind, das Oratorium trägt das geistliche Gewand, aber ohne das strenge Kirchengelübde abgelegt zu haben, daher das Anschließen an den Protestantismus. […] Die Ausbildung des Oratoriums ging immer neben der der Oper - nur langsamer und bescheidener - her; aber sie erreichte bald (Händel, Bach) ihren Höhepunkt, und wir können die Werke der neuesten Zeit fast nur noch als ein letztes Aufflackern der verlöschenden 9 Schulz, »Oratorium«, in: Sulzer, Allgemeine Theorie, S. 853. 10 Art. »Oratorium«, in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 608. Flamme ansehen, das mehr durch den Gebrauch der speciellen Formen unserer Zeit einen frischen Eindruck hervorruft, als durch Neuheit der ganzen Idee. 11 Gerade dieser Lexikon-Artikel relativiert die strengen Forderungen von Sulzer und Koch. Möglicherweise ist mit den »speciellen Formen« auch die fröhliche Finalmusik vieler Oratorien angesprochen. Das Lieto fine in ausgewählten Werken Darüber, welche Bedeutung das Lieto fine im Oratorium um 1800 hatte, können am besten die Kompositionen selbst Auskunft geben. Unter den Aspekten des Maßstäbe setzenden Oratoriums Der Tod Jesu von Graun und der Forderungen vor allem in den zitierten Artikeln aus Sulzers Theorie der Schönen Künste und aus Kochs Lexikon sollen einige Werke exemplarisch näher betrachtet werden. Christian Ehregott Weinlig: Der Christ am Grabe Jesu (1786) Christian Ehregott Weinlig (1743-1813), ein Sohn des Dresdner Bürgermeisters Christian Weinlig und Schüler des Kreuzkantors Gottfried August Homilius, war 28 Jahre lang - von 1785 bis zu seinem Tod 1813 - als dessen Nachfolger Dresdener Kreuzkantor. Den größten kompositorischen Erfolg erzielte er bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt mit dem für den Karfreitag, 14. April 1786, geschriebenen Passionsoratorium Der Christ am Grabe Jesu nach der Poesie des Herrn Steuersecretärs B. Berger. 12 Für die alljährlichen Passionsaufführungen komponierte Weinlig noch elf weitere Oratorien. 13 Das Oratorium Der Christ am Grabe Jesu war bei den ersten Aufführungen in Kirche und Konzertsaal, wie Weinlig im Vorbericht seines Klavierauszugs von 1788 selbst mitteilt, sehr erfolgreich. 14 Ein unbekannter Autor schreibt in Johann Christian Hasches Magazin der sächsischen Geschichte: 214 Jürgen Blume 11 Art. »Oratorium«; in: Carl Herloßsohn (Hrsg.), Damen Conversations Lexikon, Bd. 8, Adorf 1837, S. 28f. 12 Dieses Oratorium wurde nach seinen Aufführungen durch Weinlig erstmalig wieder am 30. März 2002 in der Frauenkirche zu Dresden von Solisten, dem Dresdner Instrumental-Concert, dem Körnerschen Sing-Verein Dresden unter der Leitung von Peter Kopp aufgeführt. 13 Nach Dieter Härtwig, Art. »Weinlig«, in: Friedrich Blume (Hrsg.), MGG1, Bd. 14, Kassel u.a. 1968, Sp. 412. 14 Weinlig begründet die Drucklegung des Oratoriums mit dem »Beyfall, den es bei der ersten Darstellung in der Kirche sowohl, als auf dem Concertsaale zu haben das Glück hatte.« Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 215 Die von Berger und Weinlig gefertigte […] Passion: der Christ am Grabe Jesu, war ein wahres Meisterstück, und die gegen Deutschland sonst so ungerechten Italiäner mußten selbst bekennen, sie hätten einen deutschen Text nicht so vieler schönen Musik fähig geglaubt. Das Werk wurde wegen der »vielfachen Leidenschaft und des guten Effekts als wahres Meisterstück« gelobt. 15 Das Oratorium gehört zu den empfindsamen Werken, wendet sich aber am Ende zu einem majestätisch-extrovertierten Stil hin. Vor dem Schlusschor erklingt eine illustrativ komponierte Tenor-Arie, in der der Autor dem Komponisten die musikalisch darstellbaren Worte geradezu an die Hand liefert: Jesus Christus Wonne tönend schalle Dir mein Lobgesang! Liebeschmachtend, freudetränend weine meine Seele Dank! Nun lachet mir mit Engelmilde die wunderreizende Natur, nun blühen Paradiesgefilde für mich auf jeder Erdenflur. Weinlig opfert in dieser Arie einen einheitlichen musikalischen Charakter durch tonmalerisch gestaltete Einzelwortausdeutung. Pathetisch gibt sich der Schlusschor: Ewig ist unser Gott, unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege. Dieser weitgehend homophone Satz in der heroischen Tonart Es-Dur ist mit Grave überschrieben und hat hymnischen Charakter. Dem dominantisch schließenden Satz folgt unmittelbar die Schlussfuge über die Worte Amen. Halleluja. Das viertaktige Thema ist lapidar und schließt sich konsequent an den vorhergehenden Chor an. Der Tonartenradius ist gering und berührt nur die benachbarten Tonarten B-Dur und As-Dur sowie die Paralleltonarten c-Moll und g-Moll. In der ausführlichen Besprechung im Magazin der Sächsischen Geschichte aufs Jahr 1786 rühmt der Rezensent jede Arie begeistert mit äußerst emotionalen Worten und schreibt über das Ende: Meisterhaft war das Schlußchor mit der Hallelujafuge, ganz originell, so viel wir deren auch schon haben. Meisterhaft war auch Hurkas [Tenor] zweite Arie: «Jesus Christus, wonnetönend schalle dir mein Lobgesang«, besonders der Ausdruck folgender Worte: »liebeschmachtend, freudethränend weine meine Seele Dank«. Schöne Passagen anzumerken, da würd’ ich gar nicht fertig. 16 15 Johann Christian Hasche, Magazin der sächsischen Geschichte, Bd. 3, Dresden 1786, S. 244f.; auszugsweise auch in Cordula Timm-Hartmann (Dieter Härtwig): Art. »Weinlig«, in: Finscher (Hrsg.), MGG2, Personenteil, Bd. 17, Kassel u.a. 2007, Sp. 701. 16 Johann Christian Hasche, Sächsische Geschichte, Bd. 3, Dresden 1786, S. 246f.; Sonderabdruck in der Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 3/ 1894, S. 121. Ein Passionsoratorium mit einem Halleluja zu beenden ist ungewöhnlich. Dieser Lobruf wird in der Passions- oder Fastenzeit der katholischen und evangelischen Kirche nicht angestimmt. Er nimmt den österlichen Jubel am Ende des Oratoriums schon vorweg. Auf diese Weise ist der Schlusschor in erster Linie als theologische Entscheidung und erst in zweiter Linie als ästhetische Maßnahme zu verstehen. 216 Jürgen Blume Christian Ehregott Weinlig: Der Christ am Grabe Jesu, Tenorarie »Jesus Christus Wonne tönend«, T. 10-13 mit direkt folgender Schlussfuge »Amen, Hallelujah«, T. 1-13 Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 217 Johann Abraham Peter Schulz: Maria und Johannes (1789) Johann Abraham Peter Schulz schrieb neben Liedern (darunter das bekannteste Der Mond ist aufgegangen) auch Opern und größere Chorwerke. Das Passionsoratorium Johannes und Maria entstand 1787/ 88 in Kopenhagen, wo Schulz als Hofkapellmeister wirkte. Ursprünglich trug es den Titel Passions-Oratorium. Johannes Ewald gestaltete den Text nach dem Evangelisten Johannes, Kapitel 13 und 19. Die erste Aufführung fand 1788 in der Christiansborg Slotskirke Kopenhagen statt. Im folgenden Jahr wurde der Titel in Maria og Johannes geändert. 17 Obwohl Schulz ein Schüler des konservativen Kontrapunktlehrers Kirnberger war, komponierte er im zeitgemäßen empfindsamen Stil, ohne in beschauliche Trivialität zu verfallen. Es dürfte kein Zufall sein, dass Schulz, der sich in Dänemark sozial engagierte und für eine Land- und Schulreform eintrat, die Passionsgeschichte aus dem Blick jener beiden Personen darstellt, die Jesus bis zum Kreuz am nächsten standen: Johannes und Maria. Es geht also um den Menschen mit all seinen Schwächen, um Aggressivität wie um Depressivität. Die 13 Nummern des Werkes sind hinsichtlich ihrer Form etwas stereotyp gestaltet: Dreimal erscheint die Folge Chor - Accompagnato-Rezitativ - Arie - Accompagnato-Rezitativ. Dann folgt der Schlusschor. Die ersten acht Sätze stimmen in drastischen Worten die Klage um das Leiden und den Tod Christi an. Der empfindsame Stil dominiert. Mehrmals klingen Verse aus der Dichtung Stabat mater an. Emotional starke Worte überwiegen, wie z.B.: »Jeder Pulsschlag häuft mein Leiden« (Nr. 3) oder »Bald schwebt Verwesung auf den reinen Lippen« (Nr. 4). Vom neunten Satz an wendet sich der Charakter zum Helleren und Hoffnungsvollen hin, da die Vision von der Auferstehung entfaltet wird. Tonmalerei wird in einen größeren musikalischen Zusammenhang eingeflochten und wirkt dadurch organisch. Der Stil ist teilweise nicht weit von Haydns Oratorienstil entfernt. Die letzte Arie der Maria (Nr. 11) hat einen Ambitus von mehr als zwei Oktaven und gibt sich sieghaft: Hoch tönt, wie Stimmen großer Wasser, hoch fällt’s hinab und steigt gen Himmel der Harfen Lied, dein Psalm, o Sohn! Es jauchzen laut die Palmenträger und zornig hört des Abgrunds Knirschen der Wonnentzückung vollen Strom. Als retardierendes Moment wird im anschließenden Rezitativ (Nr. 12) über die Auferstehung nachgedacht. Es endet mit den Worten: »In stiller An- 17 Nach Ingolf Sellak, Art. »Schulz, Johann Abraham Peter«, in: Finscher (Hrsg.), MGG2, Personenteil Bd. 15, Kassel u.a. 2006, Sp. 239. dacht lass uns harren auf Gottes Heil! Auf ihn, des Morgenröte schon aufgeht, schon strahlt, dem helleren Tage.« Folgerichtig setzt danach der kurze Schlusschor »Trost und Wonn’ und Heil entquoll« choralartig ein (Nr. 13); er könnte die Überschrift tragen: »Durch Leid zur Erlösung.« Beziehungsvoll klingt die Melodie des Liedes Morgenglanz der Ewigkeit an. Es folgt ein zweiteiliger, nur 32 Takte umfassender più vivo-Teil, »Ewig flamme Jubel dir«, der dem Werk ein fröhliches Ende verleiht, das allerdings wegen seiner einfachen Struktur und Kürze gegenüber der vorausgehenden Arie verblasst. Dennoch ist es - nicht zuletzt durch das Tempo und die überschaubare Phrasenbildung - ein fröhliches Ende. Die heroisch konnotierte Tonart Es-Dur unterstützt diesen Charakter. 218 Jürgen Blume Johann Abraham Peter Schulz: Maria und Johannes, Nr. 11, T. 21-28 (© Breitkopf & Härtel) Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 219 Joseph Haydn: Die Schöpfung (1798) Im Alter von 64 Jahren komponierte Joseph Haydn die Schöpfung. 18 Sie wurde das erfolgreichste Oratorium für mehrere Jahrzehnte, gefolgt von Haydns Jahreszeiten. Eine Übersicht über die Oratorienaufführungen in Wien zwischen 1790 und 1809 zeigt die übermächtige Präsenz der beiden Haydn-Oratorien Schöpfung und Jahreszeiten, die mit 26 beziehungsweise 14 Konzertterminen mehr als die Hälfte sämtlicher Oratorien-Aufführungen in diesem Zeitraum ausmachten. 19 Gottfried van Swieten schrieb einen Text 18 Vgl. die ausführliche musikalische Analyse des Verfassers: »Joseph Haydn, Die Schöpfung. Werkanalyse«, in: Joseph Haydn, Die Schöpfung, Themenheft der EuropaChorAkademie, EuropaChorAkademie (Hrsg.), Mainz 2007, S. 3-24. 19 Christine Blanken, Franz Schuberts Lazarus und das Wiener Oratorium zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2001, S. 22. Johann Abraham Peter Schulz: Maria und Johannes, Nr. 13, T. 19-30 (© Breitkopf & Härtel) im Geiste aufgeklärter Frömmigkeit. Bezeichnend ist, dass die Handlung vor dem Sündenfall endet. 20 Neben dem biblischen Schöpfungsbericht aus dem Ersten Buch Mose und den Psalmen war vor allem John Miltons Paradise Lost (1663; 1674 publiziert) die Quelle für van Swietens Textbuch. Im Unterschied zu Milton verzichtete van Swieten auf die Rolle des Satans und auf den Sündenfall. 21 Mit der Schönheit der Schöpfung und der Freude an der Natur konnten sich Christen wie Freidenker identifizieren. Der Text kam Haydns religiöser Haltung entgegen. Die ersten beiden Teile des Oratoriums haben die Schöpfung von der Erschaffung der Welt aus dem Chaos bis zur Erschaffung der ersten Menschen zum Inhalt. Dabei wird jeweils der originale biblische Bericht zitiert, an den sich ein kommentierender und malender freier Text anschließt. Im 3. Teil verzichtet van Swieten auf biblische Rezitative: Hier treten Adam und Eva auf und preisen zunächst den Schöpfer. Danach erklären sie sich mit einem gefühlvollen und anrührenden Duett im Dialog ihre Liebe und versprechen sich gegenseitige Fürsorge (Nr. 32). Dieses Duett wechselt nach einem längeren Adagio-Teil in einen kecken, lebensfrohen Allegro-Teil zu dem Text »Der tauende Morgen, o wie ermuntert er! « Die Viertaktigkeit der gesungenen Phrasen und der kurzen Orchesterzwischenspiele sowie die hastig hin und her geworfenen Dialogmotive von Adam und Eva unterstreichen die Ausgelassenheit und Lebensfreude. 220 Jürgen Blume 20 Vgl. Georg Feder, Joseph Haydn. Die Schöpfung, Kassel 1999, S. 16. 21 Ebd., S. 17. Joseph Haydn: Die Schöpfung, Duett Nr. 32, T. 72-83 (© Peters) Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 221 Mit diesem Duett (Nr. 32) wird das Lieto fine eingeleitet. Diese stilistische Wendung des Werkes wurde oft kritisiert. Vor allem das kleine Orchesterzwischenspiel (T. 122f. u.ö.) veranlasste Louis Spohr 1815 zu der Tagebucheintragung: dass es »weit natürlicher das Juchhe! eines besoffenen Kirmesbruders malt als die Freude zweier Liebender! « 22 Als retardierendes Moment ermahnt Uriel im anschließenden Rezitativ Adam und Eva, sich nicht vom falschen Wahn verführen zu lassen und noch mehr zu wünschen, als sie haben, und mehr zu wissen, als sie wissen sollten. Damit ist eine Andeutung des Sündenfalls gegeben, ohne dass er weiter thematisiert wird. Wie in einem Praeludium setzt der Schlusschor zu den Worten »Singt dem Herren alle Stimmen« homophon mit vollem Chor und Orchester ein, worauf eine Doppelfuge folgt, deren erstes Thema mit den Worten »Des Herren Ruhm, er bleibt in Ewigkeit« und dessen zweites Thema mit dem Wort »Amen« verbunden wird. Eine Fuge »als Wettgesang« hatte bereits van Swieten empfohlen. 23 Die lebhafte und wirkungsvoll gearbeitete Schlussfuge mit einer Fülle von Themeneinsätzen geht mit beiden Themen insofern freizügig um, als im ersten Thema nur die ersten sechs Töne und im zweiten Thema nur die ersten vier konstant bleiben. Die Fuge ist spannungsvoll konzipiert. An die ersten beiden Durchführungen in B-Dur und g-Moll schließt sich ein Abschnitt der vier Solisten an, wobei im Orchester der Kopf des ersten Themas angedeutet wird. Es folgt eine Durchführung der beiden Themen in Es-Dur, die sofort mit Engführungen beginnt. Diese wird erneut von einem Abschnitt der vier Solisten mit Amen-Koloraturen (ähnlich dem ersten Mal) abgelöst gegen Ende wird er von Choreinwürfen unterstützt. Die Coda beginnt im Unisono des Chores, im Orchester unterstützt vom ersten Themenkopf und Figuren der Solostimmen. Am Ende steht noch einmal das einstimmige Thema »Des Herren Ruhm, er bleibt in Ewigkeit« mit einem zweifachen akkordischen Amen-Abschluss. Es ergibt sich also ein vielfältiges, auf Steigerung angelegtes Finale. So liegt insgesamt von dem Duett von Adam und Eva (Nr. 32) bis zu dem Schlusschor ein rasant gesteigertes Lieto fine vor, das allerdings durch die Doppelfugentechnik niemals in eine unterhaltsame oder leichtfertige Fröhlichkeit abgleitet, sondern immer eine kontrollierte Strenge bewahrt. 22 Ebd., S. 104. 23 Ebd., S. 107. Joseph Haydn: Die Jahreszeiten (1801) Der Erfolg der Schöpfung ermutigte den Librettisten Gottfried van Swieten und Joseph Haydn, mit den Jahreszeiten ein weiteres Oratorium zu schreiben. Doch den Begriff ›Oratorium‹ haben van Swieten und Haydn auf dem Textbuch und der Partitur vermieden. 24 Im Ablauf der vier Jahreszeiten wird das sinnvolle Zusammenwirken von Mensch und Natur, Göttlichem und Weltlichem als eine heile Welt erkennbar. Zunächst scheint der »Winter«-Teil eine ähnliche Entwicklung wie das Ende der Schöpfung bei Beginn des Duetts »Der tauende Morgen, o wie ermuntert er! « zu nehmen. Wenn Hanne in den Jahreszeiten ausgelassen das Lied »Ein Mädchen, das auf Ehre hielt, liebt’ einst ein Edelmann« singt und der Chor einfällt mit »Ei, ei, ei, ei, warum nicht nein? « oder später »Ho, ho, was soll das sein? «, scheint ein fröhlicher Kehraus in Sicht. 25 Doch unmittelbar danach kehrt der Ernst ein. In den verbleibenden vier Sätzen findet man Gedankengut und Formulierungen, die eher an die ethischen Grundsätze der Freimaurer als an christliche Inhalte erinnern. Nach Hannes Lied wird als kontrastierendes und zugleich retardierendes Moment die Arie des Simon über die Vergänglichkeit des Lebens eingeschoben: »Erblicke hier, betörter Mensch, erblicke deines Lebens Bild! Verblühet ist dein kurzer Lenz.« In einem Solistenterzett und Doppelchor (Nr. 44) wird eine Vision des Lebens nach dem Tod als Belohnung für ein tugendhaftes Leben entworfen. Dieser Satz mündet in eine Fuge, deren Text ein Gebet und kein an dieser Stelle unglaubwürdig wirkendes Happy End ist: »Uns leite deine Hand, o Gott, verleih uns Stärk und Mut.« Das Thema, die kontrapunktierenden Stimmen, die polyphone Verzahnung der Motive und Themen und die Harmonik sind so differenziert ausgearbeitet, dass kaum der Eindruck eines Lieto fine aufkommt, der sich bestenfalls bei der kurzen Coda mit ihrer einfachen C-Dur-Kadenzharmonik einstellt, wenn der Chor hymnisch schlicht, aber kraftvoll im homophonen Satz singt: »Dann singen wir. Dann gehen wir ein in deines Reiches Herrlichkeit. Amen.« 222 Jürgen Blume 24 Vgl. Georg Feder, »Die Jahreszeiten nach Thomson, in Musik gesetzt von Joseph Haydn«; in: Rainer Cadenbach/ Helmut Loos (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. Festschrift Günther Massenkeil zum 60. Geburtstag, Bonn 1986, S. 186. 25 Die wirkungsvolle Schlagkraft dieses Liedes wird unter anderem dadurch bestätigt, dass Simon Mayr die Romanze des Jonas, »Facea la ronda certo Signore« in seiner Oper Elisa in mehrfacher Hinsicht zum Vorbild nahm. Reinhard Wiesend, »Simon Mayrs tugendsames Mädchen und seine Schwestern. Zur Romanze aus Elisa und ihren Traditionsbindungen«; in: Franz Hauk/ Iris Winkler (Hrsg.), Werk und Leben Johann Simon Mayrs im Spiegel der Zeit (= Mayr-Studien 1), München/ Salzburg 1998, S. 156-173. Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 223 Ludwig van Beethoven: Christus am Ölberge op. 85 (1801) Das Libretto wurde von dem Wiener Singspiel- und Komödiendichter Franz Xaver Huber (1760-1810) unter Mithilfe Beethovens eilig zusammengestellt. Beethoven komponierte das Werk in nur wenigen Wochen, veröffentlichte es aber erst zehn Jahre nach der Entstehung 1811 bei Breitkopf & Härtel. Die Uraufführung von Beethovens einzigem Oratorium fand am 5. April 1803 zusammen mit der Sinfonie Nr. 2 und dem Klavierkonzert c-Moll in der Wiener Tonkünstler-Societät im Theater an der Wien statt. Beethoven hielt den Text zwar für »äußerst schlecht«, wie er in einem Brief vom 23.8.1811 an seinen Verleger Breitkopf & Härtel schrieb, doch ging er - wenn auch widerwillig - auf die Textänderungswünsche des Verlags ein und brachte für eine Aufführung 1804 das Werk in eine neue textliche und musikalische Fassung, die 1811 als Partitur gedruckt wurde. 26 Dadurch wurde der Text vom theatralischen in die Richtung eines erbaulich-betrachtenden Stils verändert. 27 Dennoch wurde der dramatische Gattungstyp bewahrt, da auch Christus als singende Person auftritt. Dies war in Wien nicht ungewöhnlich; auch Joseph Weigls Oratorium Passione lässt Christus aktiv auftreten. Da Weigls wie Beethovens Oratorien - abweichend von den Definitionen Sulzers und Kochs - für den Konzertsaal bestimmt waren, verwundert es nicht, dass der Librettist des Oratoriums Christus am Ölberge, Franz Xaver Huber, für die Uraufführung im Theater an der Wien sogar szenische Anmerkungen hinzufügte. 28 Man muss dieses Oratorium auch unter autobiografischen Gesichtspunkten beurteilen. Die erste Fassung entstand »kurz nach dem Heiligenstädter Testament (Herbst 1802) und vor den Gellert-Liedern op. 48 (Frühjahr 1803), beides nicht zuletzt Zeugnisse für Beethovens Bemühen, sich gottvertrauend mit dem Bewusstsein seiner beginnenden Taubheit abzufinden.« 29 In dem Libretto werden biblische Ereignisse aus allen vier Evangelien paraphrasiert, 30 wobei auf einen Erzähler verzichtet wird. Folgende biblische Personen treten solistisch auf: Jesus (Tenor), Seraph (ein Engel, Sopran), Petrus (Bass). Chorisch singen die Krieger (zwei Tenöre, ein Bass), die Jünger (zwei Tenöre) und die Engel (vierstimmiger gemischter Chor). Nach einer langen Introduzione folgen in sechs Szenen jeweils einem Rezi- 26 Vgl. Günther Massenkeil, Oratorium und Passion (= Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 10, Teil 2), S. 102, und Sieghard Brandenburg, »Beethovens Oratorium Christus am Ölberge: Ein unbequemes Werk«, in: Geschichte des Oratoriums, S. 206. 27 Vgl. Brandenburg, Christus am Ölberge, S. 231f. 28 Blanken, Lazarus, S. 44. 29 Massenkeil, Oratorium und Passion, S. 102. 30 Ebd., S. 103f. tativ eine Arie, ein Duett, ein Chor oder ein Terzett. Umfangreich ist jedoch der fünfteilige letzte Satz: Rezitativ - Terzett - Chor - Rezitativ - Chor. Der Inhalt des Oratoriums stellt sich folgendermaßen dar: Jesus bittet in großer Angst um Kraft im Leiden, ist aber bereit, die Schuld der Menschen als Vermittler abzutragen (Nr. 1). Der Seraph erläutert den Menschen die Erlösungstat Christi, was von einem hymnischen Chor der Engel bestärkt wird (Nr. 2). In einem Zwiegespräch erklärt der Seraph Jesus auf dessen Frage, ob der ewige Vater des Todes Schrecknisse von ihm nehmen könne, dass nur durch Jesu Tod das menschliche Geschlecht die Versöhnung mit Gott erlangen könne (Nr. 3). Darauf ruft Jesus in einem Rezitativ dem Tod am Kreuze sein Willkommen zu, woraufhin sich in einem Marsch die Krieger - von einem dreistimmigen Männerchor dargestellt - dem Ölberg nähern (Nr. 4). Spätestens von dieser Stelle an trägt das Werk opernhafte Züge und hat die andächtige Stimmung abgestreift. Jesus bittet seinen Vater, das Leiden schnell an ihm vorübergehen zu lassen (Rezitativ). Ein rasender Chor der Krieger, die Jesus fassen, und der verängstigten Jünger schließt sich an (Nr. 5). Der Schlusssatz (Nr. 6) beginnt mit einem Rezitativ, in dem Petrus das Schwert gegen die Feinde richtet und von Jesus zurechtgewiesen wird. In dem anschließenden Terzett von Petrus, Jesus und dem Seraph wird der Zorn des Petrus dem Gebot der Feindesliebe, das der Engel und Jesus äußern, gegenübergestellt. Wieder schließt sich ein Chor der fanatischen Krieger an. Jesus kündigt in einem Accompagnato-Rezitativ an, dass sein Leiden bald vollbracht und die Macht der Hölle besiegt sein wird. Wie in einem Opernfinale finden wir anschließend den Chor der Krieger, den Chor der Jünger und Jesus mit den Texten, die sie vorher nacheinander gesungen haben, gleichzeitig auf der vor dem inneren Auge imaginierten Bühne vereinigt. Jesu letzte Worte lauten: »Bald ist gänzlich überwunden und besiegt der Hölle Macht.« Daraufhin folgt ein glänzendes Finale, das mit einem majestätischen Engelchor über die Worte »Welten singen Dank und Ehre dem erhabenen Gottessohn« beginnt. Es wirkt wie ein erhabenes Praeludium zu dem vierteiligen fugierten Schluss. Das erste Thema, »Preiset ihn, ihr Engelchöre«, wird einmal in allen Stimmen durchgeführt und dann durch Engführung im Ein-Takt-Abstand in der Wirkung gesteigert. Das zweite Thema, »Welten singen Dank und Ehre«, ist mit seiner Dreiklangsbrechung noch lapidarer als das erste. Nach nur einer Fugendurchführung wird wieder der Anfangstext, »Preiset ihn, ihr Engelchöre« aufgegriffen, diesmal mit einem bewegteren Thema, das ebenfalls nur einmal fugiert durchgeführt wird. Ihm schließt sich die nur wenig veränderte Wiederholung des zweiten Fugenteils an. Eine im Tempo (più allegro) nochmals gesteigerte Coda zu den Worten »Preiset ihn, preiset laut im heiligen Jubelton« im homophonen Satz, der fast nur zwischen Tonika und Dominante pendelt, schließt das Werk wie im Rausch ab. Hier liegt ein wirkliches Lieto fine vor, das sich 224 Jürgen Blume Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 225 nicht folgerichtig aus der vertonten Passionsgeschichte ergibt. Dennoch oder vielleicht sogar deswegen wurde es ein äußerst erfolgreiches Werk, dem wir heute nicht vorbehaltlos gegenüber stehen. Es mag verwundern, dass sich Beethoven weder an der Gattungstradition des Oratoriums seit Graun noch an den ästhetischen Forderungen orientierte, wie sie bei Sulzer und Koch als Repräsentanten der Zeit erfasst sind; noch mehr stellt sich die Frage, warum er sich nicht einmal von Haydns erfolgreichen Oratorien beeinflussen ließ. Mehrfach wurde in der Literatur mit Recht auf die »affektmäßige textlich-musikalische Nähe der Jesuszur Florestan-Partie im Fidelio unter besonderer Berücksichtigung des Heroischen« hingewiesen.« 31 Im Januar 1812 erschien in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 32 eine ausführliche Rezension des Oratoriums. Der unbekannte Autor - möglicherweise E.T.A. Hoffmann - beurteilt Beethovens Werk sehr kritisch. 31 Massenkeil, Oratorium und Passion, S. 104; vgl. auch Smither, Oratorio Bd. 3, S. 522. 32 Allgemeine musikalische Zeitung 14/ 1812, Sp. 3-7 und 17-25. Ausblick und Schluss Der Überblick über verschiedene Oratorien aus der Zeit um 1800 bestätigt, dass die Definition des eingangs zitierten Lexikon-Artikels, wonach ein Oratorium ein »lyrisches Drama« sein solle, stets berücksichtigt wurde. Eine Ausnahme bilden die triumphalen Schlusschöre, die das ganze Geschehen häufig in ein Lieto fine münden lassen, das nicht immer den folgerichtigen Abschluss eines erhabenen Stoffes bildet. Dass Carl Philipp Emanuel Bachs Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Wq 240 (1777/ 78) nach einem Libretto von Karl Friedrich Ramler für drei Soli, Chor und Orchester mit einem Preischor schließt, liegt auf 226 Jürgen Blume Ludwig van Beethoven: Christus am Ölberge, Nr. 6, Schluss des Oratoriums (© Breitkopf & Härtel) Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 227 der Hand und muss deshalb nicht begründet werden. Auffällig ist das große Gewicht des Schlusschores, »Gott fähret auf mit Jauchzen«, der einen Umfang von 397 Takten hat und in einer siebenteiligen Rondoform Lob- Verse aus verschiedenen Psalmen aneinander reiht. Der umfangreiche Chor unterstreicht mit seiner Länge und seinem Charakter die Bedeutung des fröhlichen Finalcharakters, ohne den erhabenen Gegenstand zu verletzen. Gleiches kann man über den Schlusschor des Oratoriums Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem von Joseph Eybler (1765-1846) sagen. Er war Schüler Johann Georg Albrechtsbergers und Haydns, mit Mozart befreundet und 1824 bis 1833 Nachfolger Antonio Salieris als Hofkapellmeister am kaiserlichen Hof in Wien. Das Oratorium entstand 1794 und lässt deutliche stilistische Einflüsse Haydns und Mozarts erkennen. Der Schlusschor »Gott sei Ehre in der Höhe« ist als längere kunstvolle Fuge komponiert, die wiederum als Muster für die Verbindung von Lieto fine und erhabenem Stil gelten kann. Dank der Konvention der Schlussfuge für Chor und Orchester (eventuell unter Einbeziehung der Gesangssolisten) haben die Komponisten die Möglichkeit, das Lieto fine nicht zu einem unbeschwert-heiteren Kehraus werden zu lassen, sondern mit einer geistvollen Form Hoffnung und Zuversicht, Gottvertrauen und Gotteslob in gebändigter und dennoch wirkungsvoller Gestalt auszudrücken. Das gilt auch für das bekannte Oratorium Das Weltgericht, das Friedrich Schneider nach einem Libretto des Leipziger Senators und Musiktheoretikers August Apel komponiert und 1820 im Leipziger Gewandhaus erstmals aufgeführt hat. 33 Schneider (1786- 1853), in Leipzig Thomasorganist (1813) und Herzoglicher Hofkapellmeister in Dessau (1821 bis zu seinem Tod), hat in seiner Oratorienkonzeption die Bedürfnisse des musikalisch interessierten Bürgertums im Blick gehabt. Das Oratorium Das Weltgericht war zwischen den Oratorien Haydns und Mendelssohns in ganz Deutschland das am meisten verbreitete. Im Unterschied zu vorausgehenden Weltgerichts-Oratorien läuft dieses Werk aufgrund seines Librettos nicht auf die Scheidung von »Seligen und Verdammten« hinaus, 34 sondern mündet in die Erlösung aller. Das äußerst wirkungsvolle, auf scharfe Kontraste angelegte Werk, dessen größtenteils homophone Chorpartien mit Rücksicht auf die aufführenden Laienchöre zur Trivialität neigen, 35 ist in drei Teile gegliedert, die mit »Tod«, »Auferstehung« und »Gericht« überschrieben sind. Weitgehend losgelöst von der biblischen Vorlage weist das Textbuch eine Fülle von Figuren auf: Men- 33 Volker Kalisch/ Helmut Lomnitzer (Hrsg.), Friedrich Schneider, Das Weltgericht (= Das Erbe deutscher Musik 94), München 1981, S. V. 34 Ebd. 35 Vgl. Martin Geck, »Friedrich Schneiders ›Weltgericht‹. Zum Verständnis des Trivialen in der Musik«; in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1967, S. 97-109. schen, Engel, Höllengeister, Dämonen, Satan, Apostel, heilige Streiter, Märtyrer, Mütter, Kinder und Maria. Mit Leitmotiven hält Schneider die 30 zum größten Teil kurzen Sätze zusammen. In den Dämonen- und Teufelschören nähert sich Schneider sehr stark der frühromantischen Oper an. Die Schlussfuge über den letzten Satz des Vater Unser-Gebets, »Sein ist das Reich und die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen«, gibt dem Werk mit dem kraftvoll-lapidaren Thema einen bekenntnishaften Abschluss, der ähnlich wie in den Schlussfugen der Oratorien Haydns einen affirmativen, aber nicht unbekümmert-fröhlichen Schluss bildet. 228 Jürgen Blume Friedrich Schneider: Das Weltgericht, Nr. 30, Fugenthema In Beantwortung der eingangs gestellten Fragen ist festzustellen, dass sich das Lieto fine im geistlichen Oratorium aus theologischen Gründen zwar nicht zwangsläufig ergibt, aber in vielen Oratorien einen sinnvollen und konsequenten Abschluss bildet. Auch die Gattungstradition, vor allem die Tradition einer Schlussfuge oder eines Rondos als Conclusio des vorher entfalteten Inhaltes wird beibehalten, löst sich aber teilweise mehr vom Charakter des vorausgehenden Inhaltes als noch zu Zeiten Bachs und Händels. Vor allem das von Sulzer als paradigmatisch gepriesene Oratorium Der Tod Jesu von Ramler und Graun hat stilbildend in der Zeit um 1800 gewirkt. Weniger einflussreich waren Haydns Schöpfung und Beethovens Christus am Ölberge. Nicht zuletzt haben die Ästhetik der Empfindsamkeit und die aufgeklärte Religiosität einschließlich freimaurerischer Gedanken die Konzeption von Oratorien bestimmt und den Weg für ein Lieto fine gebahnt. Lieto fine im deutschen Oratorium um 1800 229 Literatur Adelung, Johann Christoph, Art. »Oratorium«, in: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3. Leipzig 1798, S. 608. Anon., »Oratorium«, in: Carl Herloßsohn (Hrsg.): Damen Conversations Lexikon, Bd. 8., o.O. 1837, S. 28f. Blanken, Christine: Franz Schuberts Lazarus und das Wiener Oratorium zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2001. Blume, Jürgen, »Joseph Haydn: Die Schöpfung. Werkanalyse«, in: Joseph Haydn, Die Schöpfung, Themenheft der EuropaChorAkademie, EuropaChorAkademie (Hrsg.), Mainz 2007, S. 3-24. Brandenburg, Sieghard, »Beethovens Oratorium Christus am Ölberge: Ein unbequemes Werk«, in: Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel, Festschrift Günther Massenkeil zum 60. Geburtstag, Bonn 1986, S. 185-201. Feder, Georg, »Die Jahreszeiten nach Thomson, in Musik gesetzt von Joseph Haydn«; in: Rainer Cadenbach/ Helmut Loos (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. Festschrift Günther Massenkeil zum 60. Geburtstag, Bonn 1986, S. 204- 219. Ders., Joseph Haydn. Die Schöpfung, Kassel 1999. Geck, Martin, Art. »Oratorium, 4. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), MGG2, Sachteil Bd. 7, Kassel u.a. 1997, Sp. 766f. Ders., »Friedrich Schneiders ›Weltgericht‹. Zum Verständnis des Trivialen in der Musik«; in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1967, S. 97-109. Härtwig, Dieter, Art. »Weinlig«, in: Friedrich Blume (Hrsg.), MGG1, Bd. 14, Kassel u.a. 1968, Sp. 412. Hasche, Johann Christian, Magazin der sächsischen Geschichte, Bd. 3, Dresden 1786. Heidrich, Jürgen, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte ›wahrer‹ Kirchenmusik (= Abhandlungen zur Musikgeschichte 7), Göttingen 2001. Kalisch, Volker/ Lomnitzer, Helmut (Hrsg.), Friedrich Schneider: Das Weltgericht (= Das Erbe deutscher Musik 94), München 1981. Kirsch, Winfried, »Oratorium und Oper. Zu einer gattungsästhetischen Kontroverse in der Oratorientheorie des 19. Jahrhunderts (Materialien zu einer Dramaturgie des Oratoriums)«, in: Rainer Cadenbach/ Helmut Loos (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. 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Zur Romanze aus Elisa und ihren Traditionsbindungen«, in: Franz Hauk/ Iris- Winkler (Hrsg.), Werk und Leben Johann Simon Mayrs im Spiegel der Zeit (= Mayr- Studien 1), München/ Salzburg 1998, S. 156-173. 230 Jürgen Blume Peter Niedermüller » … daß am Ende auch noch der ganze Chor singend einschwebt … « Musikalische Konzeption und Usancen des Konzertwesens in Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie Der Vorwurf, dass der ästhetische Sinn des Finales von Beethovens Neunter Sinfonie durchaus in Frage stehe, ist immer wieder erhoben worden. So schrieb Eduard Hanslick bekanntlich, dass »die hohe, wenn, auch nicht makellose Schönheit der ersten drei Sätze« wohl nicht in Frage stehe, man das Finale aber als »unschön«, da eben nicht musikalisch autonom konzipiert, ansehen könne. 1 Auch Martin Geck fand noch vor zehn Jahren in einer für einen Vertreter der historischen Musikwissenschaft unerwartet harten Form kritische Worte für das Stück: Diese Gegensätze [der musikalischen Gestalten und Topoi im Finale] sind nicht - wie man das von Beethoven gewohnt ist - Bestandteil eines dialektischen Prozesses, der im Werk vom ersten Satz an konsequent vorangetrieben wird. Man könnte vielmehr meinen, der Komponist habe diesmal die Geduld, ja die Fassung verloren, könne das Elysium nur noch mit allen verfügbaren Mitteln beschwören. Das Dilemma beginnt mit der Entscheidung für ein vokales Finale: Damit läßt Beethoven von seinem Anspruch ab, Philosoph in Tönen zu sein. Mir ist das besonders deutlich geworden, nachdem ich die vorangegangenen acht Sinfonien und die ersten drei Sätze der Neunten auf ihren Ideengehalt hin befragt hatte: Da war auf semantischer Ebene vieles offen geblieben; und am Ende stand immer wieder der Verweis auf einen Komponisten, der sich in Musik als einer Kunst sui generis äußerte. Anders im Chor-Finale: Dort gibt es einen Text, der semantische Überlegungen nicht nur lenkt, sondern fast überflüssig macht. Das Wort beherrscht - fast wie in einer griechischen Tragödie - die Szene. 2 1 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Tonkunst, Dietmar Strauß (Hrsg.), Bd. 1: Historisch-kritische Ausgabe, Mainz u.a. 1990, S. 100, Anmerkung. In der 9. Auflage von Hanslicks Schrift von 1896 wurde die Einschränkung »wenn auch nicht makellos« eliminiert. 2 Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler. Die Musik des deutschen Idealismus, Stuttgart/ Weimar 1993, S. 90. Auf den ersten Blick scheint die Musikwissenschaft auch gut beraten, diesen Vorwurf anzuerkennen, denn Beethoven überschreitet mit dieser Komposition die Gattungstraditionen in empfindlicher Weise. Aufmerksamkeit sollte aber wecken, dass die Kritiker des Chorfinales keineswegs einer Meinung sind. Geck wiederholt nicht einfach Hanslicks Ansicht, er stimmt ihr nicht einmal zu; denn Geck geht durchaus von der musikalischen Hermeneutik aus, die semantische Aufladung der »tönend bewegten Form« gilt ihm als notwendiges Moment der adäquaten Wahrnehmung von Musik. Hanslicks Formalismus hingegen würde er sicher als inhaltsleer ablehnen. Die Rezeption der Neunten ausführlich zu dekonstruieren, stellte sicherlich ein interessantes Projekt dar; allerdings leisten die folgenden Überlegungen diese nicht in extenso, sie richten das Augenmerk vor allem auf die Entstehungszeit des Werkes. 3 Was nun dessen unmittelbare Rezeption angeht, die von Stefan Kunze veröffentlichten Besprechungen geben sie ja zum Teil wieder, so war dieser Komposition in den ersten Jahren nach der Uraufführung in der Tat nicht nur eitel Zustimmung beschieden; das Chorfinale wird seiner Unaufführbarkeit 4 oder schlechten Prosodie wegen 5 kritisiert, es findet sich der Vorwurf, das Werk insgesamt sei zu lang. 6 Schließlich heißt es - der Vorwurf des ›Bizarren‹ ist in der Beethovenkritik ja nicht im geringsten neu 7 - die Musiksprache sei völlig abstrus, und zwar die Musiksprache aller vier Sätze. 8 Dass Beethovens Zeitgenossen eben nicht Hanslicks ›tönend bewegte Form‹ antizipieren, muss auch nicht verwundern. Zwar sind im Musikschrifttum der 1810er- und 20er-Jahre durchaus autonomieästhetische Positionen auszumachen, diese stellen aber lediglich 232 Peter Niedermüller 3 Die Beschränkung auf diesen Aspekt setzt diese kleine Studie von Andreas Eichhorns umfänglicher Dissertation ab, die die Rezeption der Sinfonie vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1933 in den Mittelpunkt stellt: Beethovens Neunte Sinfonie. Die Geschichte ihrer Aufführung und Rezeption (= Kasseler Schriften zur Musik 3), Kassel u.a. 1993. 4 Allgemeine musikalische Zeitung 27 (1825), Sp. 446f., hier Sp. 447 (auch in: Stefan Kunze u.a. (Hrsg.), Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit. Gesammelte Konzertberichte und Rezensionen bis 1830, Laaber 1987, S. 486). 5 [Christian Gottlob Rebs, in: ] Berliner Allgemeine musikalische Zeitung 3 (1826), S. 213- 218, hier S. 215f. (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 489f.). Vgl. auch Elisabeth Eleonore Bauer, Wie Beethoven auf den Sockel kam. Die Entstehung eines musikalischen Mythos, Stuttgart/ Weimar 1992, S. 290. 6 Allgemeine musikalische Zeitung 30 (1828), Sp. 329f., hier Sp. 329 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 499). 7 Vgl. etwa Konrad Küster, »Bizarre Originalität. Bemerkungen zu Carl Philipp Emanuel Bach, Beethoven und Chopin«, in: Bernd Sponheuer/ Siegfried Oechsle/ Helmut Well (Hrsg.), Rezeption als Innovation. Untersuchungen zu einem Grundmodell der europäischen Kompositionsgeschichte. Festschrift für Friedhelm Krummacher zum 65. Geburtstag, (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 46), Kassel u.a. 2001, S. 105-120, hier S. 118f. 8 Allgemeine musikalische Zeitung 28 (1826), Sp. 863f. (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 487). Allgemeine musikalische Zeitung 30 (1828), Sp. 245f. (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 489 f.). Musikalische Konzeption in Beethovens Neunter Sinfonie 233 Ausschnitte eines komplizierteren Diskurses dar, bestimmen diesen keineswegs. Dass etwa Franz Grillparzer, um einen Wiener Zeitgenossen Beethovens anzuführen, das Argumente der ›reinen Musik‹ gegen eine Ästhetik des Charakteristischen in der Oper wandte, 9 zeigt, dass der Autonomieästhetiker Grillparzer in die Oper und nicht ins Konzert ging, und dass es sich beim Diskurs über Musik zum großen Teil um einen Diskurs über die Oper handelte. Und gerade die Hegemonie der Oper in Wien, die ja, überspitzt gesprochen, im Prinzip bis heute anhält, sollte verdeutlichen, dass sinfonisches Repertoire, bei aller Sympathie, gar nicht den Stellenwert einnahm, den ihr die Autonomieästhetik zuzusprechen geneigt ist. Der Blick auf zwei frühe Aufführungen von Beethovens Sinfonien möge diesen Zusammenhang erhellen. Beethovens sinfonische Werke bildeten bei Konzertveranstaltungen in selteneren Fällen den Schlusspunkt des Programms (im Falle der neunten Sinfonie allerdings schon). So eröffnete die Uraufführung gerade der fünften Sinfonie die zweite Hälfte der großen Akademie am 22. Dezember 1808, die von einer Improvisation und der Chorfantasie beschlossen wurde: 1. Abteilung: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 6 in F-Dur op. 68 Ludwig van Beethoven, Arie »Ah, perfido« op. 65 Ludwig van Beethoven, »Gloria« aus der Messe in C-Dur op. 86 Ludwig van Beethoven, Konzert für Klavier Nr. 4 in G-Dur op. 56 2. Abteilung: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 5 in c-moll op. 67 Ludwig van Beethoven, »Sanctus« aus der Messe in C-Dur op. 86 Fantasie für Klavier solo Ludwig van Beethoven, Fantasie für Klavier, Chor und Orchester op. 80 (nur das sogenannte »Finale«) 9 Siehe etwa Franz Grillparzer, »Der Freischütz, Oper von Maria Weber«, 1821, in: ders., Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, Peter Frank/ Karl Pörnbacher (Hrsg.), Bd. 3: Satiren - Fabeln und Parabeln. Erzählungen und Prosafragmente - Studien und Aufsätze, Darmstadt 1964, S. 885-888. Ders., Tagebucheinträge von 1823, ebd., S. 888f. 10 Vgl. Tia DeNora, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, 1792-1803, Berkeley u.a. 1995, S. 118-123. Tabelle I: Das Programm von Ludwig van Beethovens Konzert am 22. Dezember 1808 Oder Beethoven beendete das Konzert, in dem er die Zweite Sinfonie uraufführte und die Erste wieder spielte, mit dem dritten Klavierkonzert, wohl um sein Profil als Klaviervirtuose 10 zu unterstreichen: Theodore Albrecht hat bei der Diskussion seines Referates auf dem Kongress der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft in Leuven deutlich machen können, wie sehr beide Werke Beethoven und sein Orchester als ›All-Star-Band‹ herausstellten. 11 So sehr die Programmfolge bei der Uraufführung der Fünften Sinfonie - also des im Zuge von E.T.A. Hoffmanns Rezension als Paradebeispiel autonomer sinfonischer Literatur gesehenen Werkes - den heutigen Konzertgänger verwundern mag, den Befund, dass Sinfonien bei Konzerten im Wien des frühen neunzehnten Jahrhunderts selten am Schluss des Programms standen, gilt es festzuhalten. So ein Instrumentalvirtuose Mittelpunkt des Programms war, bestritt er den Schluss häufig mit Variationen. Andernfalls wurde einer Komposition für Soli, Chor und Orchester deutlich der Vorzug gegeben. Es ist nicht nur an große Oratorien, wie die Werke Haydns zu denken, kleinere Oratorien und kantatenhafte Mischformen fanden Verwendung, auch die konzertante Aufführung von Opernfinales ist belegt. Beethoven selbst hat Musik solchen Zuschnitts eher selten komponiert, neben der Chorfantasie, Christus am Ölberg und der Neunten sind noch Meeresstille und glückliche Fahrt op. 112, Opfer- und Bundeslied op. 121b und 122 sowie Der glorreiche Augenblick op. 136 zu nennen. Gerade das letztgenannte Werk verdeutlicht auch, warum ein so großer Teil dieses Repertoires, das sich ohnehin nicht einer einheitlichen Gattung unterordnen lässt, 12 in Vergessenheit geriet. Oft handelte es sich um anlassbezogene Musik politischen Charakters. Als beliebiges Beispiel unter vielen sei das große allegorische Oratorium Die Weihe der Zukunft von Joseph Weigl genannt, das nach dem endgültigen Sieg über Napoleon 1814 entstand. 13 Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 1 in C-Dur op. 21 [Programmpunkt 1 oder 3] Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 2 in D-Dur op. 36 Programmpunkt 1 oder 3] Ludwig van Beethoven, Christus am Ölberge op. 85 (1. Fassung) [Programmpunkt 2] Ludwig van Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 in c-moll op. 37 [Programmpunkt 4] 234 Peter Niedermüller 11 Theodore Albrecht, »Ethnic Identity and the Orchestra of the Theater an der Wien in Beethoven’s Time«, Referat, gehalten am 6. August 2002 beim 17. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft in Leuven. Der hier in Frage stehende Zusammenhang war nicht Teil von Albrechts schriftlich vorbereitetem Text, sondern wurde von ihm während der Diskussion frei entwickelt. 12 Zu solch groß besetztem Vokalrepertoire im frühen 19. Jahrhundert vgl. Stefanie Steiner, Zwischen Kirche, Bühne und Konzertsaal. Vokalmusik zwischen Haydns »Schöpfung« und Beethovens »Neunter«, Kassel u.a. 2001. 13 Materialien A-Wn K.T. 470. Tabelle II: Das Programm von Ludwig van Beethovens Konzert am 5. April 1803 Musikalische Konzeption in Beethovens Neunter Sinfonie 235 Neben dieser Art Kompositionen findet sich ein weiterer Traditionsstrang, in dem die Neunte steht. Konzerte in Wien, oder um den zeitgenössischen Terminus zu verwenden »Akademien«, beinhalteten nicht nur musikalische Darbietungen. Gelegentlich wurden die musikalischen Programmpunkte durch tableaux vivants ergänzt; 14 ein wirkliches ›crossing over‹ der Kunstformen fand aber vor allem in den sogenannten »literarischmusikalischen« Veranstaltungen statt. Neben Instrumentalwerken finden sich in deren Programmen Lieder, natürlich auch Opernnummern, Melodramen und unbegleitete Rezitationen. Über eine solche Veranstaltung schrieb die Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 1811: An die Freude, von Schiller. Die Strophen wurden abwechselnd vorgetragen von den declamirenden Mitgliedern [also von Schauspielern; P. N.], welche zu gleicher Zeit in die Hälfte des Chores einstimmten, den H[er]r. [Johann Anton Friedrich; P. N.] Reil nach jeder Strophe anfing. 15 Zwar steht schon die Vertonung der ersten drei Strophen des Gedichts durch Beethoven (T. 241-320) zu Schillers Vorlage insofern quer, als die mit »Chor« überschrieben Passagen (»Seid umschlungen, Millionen! […]«, »Was den großen Ring bewohnet, […]« und »Ihr stürzt nieder, Millionen? […]«) hier gar nicht enthalten sind. Das Prinzip des Chor-Refrains wird aber dennoch beibehalten. Der Chor wiederholt die zweite Hälfte jeder Strophe (»Deine Zauber binden wieder, […]«, »Ja - wer auch nur eine Seele […]« und »Küsse gab sie uns und Reben«), nachdem diese durch die Vokalsolisten jeweils vollständig vorgetragen wurde. Dass Beethoven trotz des Eingriffs in den Text am Prinzip des Rundgesangs festhält, scheint eine Referenz an die Erwartungen des Publikums zu sein, das An die Freude eben in dieser Form kannte. Beethoven stellt die Neunte Sinfonie in die Tradition der literarisch-musikalischen Akademien. Als Motiv wird dabei möglicherweise greifbar, dass er dem Dilemma begegnen wollte, vokale Gattungen nur selten und die Oper als der Wiener liebstes Kind überhaupt nur einmal bedient zu haben; der Neunten Sinfonie kam also die Funktion zu, als veritabler Schluss- und Höhepunkt eines Konzertes dienen zu sollen. Diese Rückbindung des Werkes an Traditionen und Gepflogenheiten ist offensichtlich, steht aber im Widerspruch zum autonomieästhetischen Prinzip. Autonomieästhetik erweist sich aber insofern als ideologisch, als sie nicht nur das Bild von der Neunten, sondern das Bild von Vokalmusik überhaupt in eine Schieflage gebracht hat. Denn der Vorwurf, die Vertonung eines Textes drohe den musikalischen Sinn in den Hintergrund zu drängen, suggeriert eine Einheitlichkeit 14 Vgl. hierzu zuletzt Anno Mungen, »BilderMusik«. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, (= Filmstudien 45), Remscheid 2006, Bd. 1, S. 116-121. 15 Allgemeine musikalische Zeitung 13 (1811), Sp. 360f. der vokalen Gattungen, die deren kommunikationstheoretische Deutung eben nicht erweist. Eine Opernszene etwa entwirft erkennbar Illusion und Virtualität, das Wesen liturgischer Musik liegt dagegen ursprünglich im rituellen Vollzug. Richard Wagner deutete das Chorfinale 1870 äußerst geistreich: [D]enn in Wahrheit ist es nicht der Sinn des Wortes, welcher uns beim Eintritte der menschlichen Stimme einnimmt, sondern der Charakter dieser menschlichen Stimme selbst. Auch die in Schillers Versen ausgesprochenen Gedanken sind es nicht, welche uns fortan beschäftigen, sondern der trauliche Klang des Chorgesangs, an welchem wir selbst einzustimmen uns aufgefordert fühlen, um, wie in den großen Passionsmusiken S[ebastian]. Bachs es wirklich mit dem Eintritte des Chorales geschah, als Gemeinde an dem ideellen Gottesdienste selbst mit teilzunehmen. 16 Dieser Gedanke erweist sich nicht nur als brisant, da er Friedrich Nietzsches Deutung des Chores in der antiken Tragödie unübersehbar beeinflusste, 17 sondern weil sie einen Gedanken aufgreift, der schon Beethovens Zeitgenossen bewusst war. Denn schon diese sahen im Chor der Neunten eine Vox communis oder universalis, wie nur drei kurze Zitate belegen mögen. Adolph Bernhard Marx etwa schreibt in der Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung, es handle sich hier »nicht« um einen »zufälligen Chor für ein Instrumentalstück«, »nicht« um »eine Komposition der schillerschen Ode, nicht den musikalischen Ausdruck ihres Inhalts, der gar der Worte«, sondern »nur« um »Gesang«. 18 In der Cäcilia heißt es, dass es »dem Sänger« ge- 236 Peter Niedermüller 16 Richard Wagner, »Beethoven« in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Wolfgang Golter (Hrsg.), Bd. 9, Berlin u.a. o.J., S. 61-126, hier S. 101. 17 Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (Hrsg.), Bd. 1, München u.a. 1988, S. 9- 156, hier S. 59: »Nur muss man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen Tragödie sich selbst im Chore der Orchestra wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen. Das Schlegel’sche Wort Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der ›idealische Zuschauer‹, insofern er der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraums, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen.« Der Bezug dieser ›dionysischen‹ Deutung des Chores zu Beethovens Neunter Sinfonie wird durch eine vorangegangene Passage deutlich (ebd., S. 29): »Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der ›Freude‹ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern.« 18 A[dolph]. B[ernhard] Marx, Rezension von Beethovens Neunter Sinfonie, in: Berliner allgemeine musikalische Zeitung 3 (1826), S. 373-377, hier S. 375 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 500-507, hier S. 503f). Vgl. auch Bauer, Beethoven auf dem Sockel, S. 290- 297. Musikalische Konzeption in Beethovens Neunter Sinfonie 237 länge, »den Tumult zu stillen«. »Seiner Aufforderung folgen dann Alle, und nun beginnt das Lied der Freude, in welches das ganze Volk einfällt.« 19 Und Carl Loewe schreibt, in Verkennung der musikalischen Gestalt des D-Dur- Themas: »Erst brummen einige für sich die Volks-Melodie ohne Text, es findet Theilnahme, an allen Enden der Gesellschaft wird eingestimmt: Volkslied«. 20 Der Gedanke, dass der Chor eben nicht als Produzent des musikalischen Zeichens dem Rezipienten gegenüberstehen soll, sondern vielmehr die Kluft zwischen beiden (wenn auch nur virtuell) einreiße, lässt sich durch weitere Beobachtungen erhärten. In der zuvor zitierten Beschreibung der Darbietung von An die Freude 1811 als Rundgesang ist von einem »Chor« die Rede. Keiner der anderen Programmpunkte dieses Konzertes benötigte eigens einen Chor; dass es sich also um eine ad hoc gegebene Darbietung der beteiligten Musiker unter zumindest partieller Einbeziehung des Publikums handelte, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Auch gibt es Berichte, dass am Ende eines Konzertes das Publikum spontan die Kaiserhymne sang. 21 Natürlich wäre es zumindest verwegen anzunehmen, dass im Falle der Neunten das Publikum auch nur mitsummte. Es geht auch gar nicht darum, das Publikum faktisch zu integrieren, die Totalität der ästhetischen Wirkung steht im Mittelpunkt, wie Friedrich August Kannes Beschreibung der ersten beiden Aufführungen der Sinfonie deutlich belegt. In dem für einen Konzertbericht außergewöhnlich langen Text bemüht Kanne im Verlauf der Beschreibung die verschiedensten Modi, mittels derer sich überhaupt über Musik sprechen lässt. Der erste Satz erfährt eine romantische Beschreibung im Stile E.T.A. Hoffmanns, 22 der dritte Satz wird hingegen quasi musiktheoretisch am Beispiel einer Modulation diskutiert. 23 Aber auch das Dirigat Mi- 19 F., »Das Niederrheinische Musikfest, 1826 in Aachen«, in: Cäcilia eine Zeitschrift für die musikalische Welt 4 (1826), S. 63-70, hier S. 67 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 492f., hier S. 492. 20 [Carl Loewe], »Felix Mendelssohn-Bartholdy in Stettin«, in: Berliner allgemeine musikalische Zeitung 4 (1827), S. 84-87, hier S. 86 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 493- 497, hier S. 496). Vgl. Bauer, Beethoven auf dem Sockel, S. 299-301. 21 Allgemeine musikalische Zeitung 16 (1814), Sp. 356: »Denn Schluss sollte der Rheinübergang, ein Rundgesang von H[er]rn. [Friedrich August; P. N.] Kanne, machen. Sechs Strophen mit einfallendem Chor wurden abgesungen, ohne dass Jemand Gefallen daran fand; so beendigte denn auch eine Intrata diesen Rheinübergang, und ›Gott erhalte Franz den Kaiser‹ wurde unter lautem Jubel angestimmt, da heute die frohe Nachricht von dem Einzug der verbündeten Mächte in Paris officiell bekannt gemacht wurde.« 22 F[riedrich]. A[ugust]. Kanne, »Academie, des Lud[wig]. van Beethoven«, in: Wiener allgemeine musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat 8 (1824), S. 149-151, 157-160 und 173 f., hier S. 151 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 474-485, hier S. 477). 23 Kanne, »Academie, des Lud[wig]. van Beethoven«, S. 158 (auch in: Beethoven, Werke im chael Umlauffs wird gewürdigt. 24 In diesem allmählichen Anwachsen der Medien und Inhalte erscheint dann der Einsatz des Chores, der wie Kanne schreibt, »singend einschwebt«, als letzter Baustein völliger Synergie. Und Kannes erstaunliches Fazit lautet: »Deßhalb fühlt sich der aufmerksame Zuhörer nach Beendigung dieser Symphonie ordentlich erschöpft, und sehnt sich nach Ruhe, weil sein Inneres allzu aufgeregt ist.« 25 Auch die kommunikative Struktur des von Beethoven gewählten Textes gilt es in Betracht zu ziehen. Dessen idealistischer Gehalt ist nicht zu übersehen; dessen unbenommen gilt es aber auch zu bedenken, dass Schillers Gedicht auf die am einfachsten denkbare und unmittelbarste Weise die Gedankenwelt ›empfindsamer‹ Freundschaftsbünde evoziert. 26 Jedes vermittelnde Medium wird in der sprachlichen Struktur ausgespart, die weder eine dramatis persona konstruiert, noch aus der typischen Perspektive des Liedes, des Individuums in der ersten Person Singular, spricht. Der Text formuliert entweder Allgemeingültiges, dem man kaum widersprechen wagt (»überm Sternenzelt [|] Muß ein lieber Vater wohnen«), das aber gerade dadurch gelegentlich zu opulenter Metaphorik neigt (»Wollust ward dem Wurm gegeben, [|] Und der Cherub steht vor Gott.«). Oder aber der Text verweist gezielt auf das Kollektiv, das er ja eigentlich suggeriert: »Wir betreten feuertrunken, [|] Himmlische, Dein Heiligthum.« Schillers Gedicht versucht also gar nicht, eine kommunikative Situation zu entwerfen, in der der Sender gegenüber dem Empfänger seine Wechselbeziehung zu einem dritten Gegenstand vermittelt. Vielmehr fallen Sender und Empfänger in dem majorisierenden »wir« zusammen, oder aber die Sphäre von Sender und Empfänger wird deutlich transzendiert. Kommunikationstheoretisch gesprochen bedeutet dies Folgendes: An die Stelle des trivialen Bildes, dass der Inhalt von Schillers Gedicht durch die Komposition und die Aufführenden als zwei Medien oder Filter dem Rezipienten vermittelt werden soll (Abbildung 1), tritt ein Modell, in dem die Kommunikationssituation zwischen Musiker und Rezipienten ›im Rahmen‹ des Freudenfestes die illusionäre Weitung zum ›wir‹ erfährt (Abbildung 2). 27 238 Peter Niedermüller Spiegel, S. 479). 24 Kanne, »Academie, des Lud[wig]. van Beethoven«, S. 158 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 479f.). 25 Kanne, »Academie, des Lud[wig]. van Beethoven«, S. 159 (auch in: Beethoven, Werke im Spiegel, S. 480). 26 Vgl. vor allem Christian Kaden, Musiksoziologie, Wilhelmshaven 1984, S. 146f. 27 Christian Kaden (Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozeß, Kassel u.a. 1993, S. 151) spricht für diesen Zusammenhang treffend von folgender »Illusionierung«: »[V]om ICH zum DU und vom DU zum ICH: das bedeutet stets ein Wachsen menschlicher Erfahrung. Mythisches Verhalten bewirkt die Multiplikation sozialer Kontingenz […]. Es schließt das Vermögen ein, ›Standpunkte‹ des ANDEREN zu durchleben, von diesen her Hypothesen über das eigene Selbst zu formulieren«. Musikalische Konzeption in Beethovens Neunter Sinfonie 239 Schillers Gedicht greift den Typus solcher Sprechakte auf, zu denen oft auch die Schlusssätze von Opernlibretti zu Beethovens Zeit gehörten. Bei ihrer Darbietung könnte der Theaterraum wieder erhellt werden, und die Darsteller an der Rampe erscheinen auf einmal nicht mehr als Rollen, sondern wenden sich direkt ad spectatores, sprechen die Moral der Geschichte offen aus. Es nimmt also kaum wunder, dass in Leonore ein Zitat aus An die Freude genau diese Funktion erfüllt. Der Satz »Wer ein holdes Weib errungen, stimm’ in unsern Jubel ein« richtet sich nicht an die Figuren des Stücks, sondern schlägt die Brücke zum Publikum. Diese Überlegung soll natürlich nicht so verstanden werden, dass Beethoven mit der Vertonung von Ausschnitten aus dem Gedicht einzig eine in die Länge gezogene Schlussmoral formulieren will. Vielmehr erlaubt die Textvertonung, eine Vielfalt an Topoi in das Finale zu integrieren (virtuoses Soloquartett, archaisierendes Unisono, Schlussfugato etc.). Deren Kommentarfunktion in bezug auf den Text ist diskutiert worden, besonders kontrovers im Falle des ›türkischen Marsches‹ (T. 331ff.) als Vertonung des Chores zur vierten Strophe (»Froh, wie seine Sonnen fliegen«). 28 Dass diese Kommentarfunktion allein den musikalischen Sinn des Finales keineswegs in Frage stellt, sollten die hier geäußerten Erwägungen zur sprachlichen Logik des Finales deutlich gemacht haben. Im Übrigen sprechen die vorliegenden Analysen eine deutliche Sprache. Martin Just 29 hat 28 Als Interpretation dieses Abschnitts vgl. vor allem Lawrence Kramer, »The Harem Threshold: Turkish Music and Greek Love in Beethoven's ›Ode to Joy‹«, in: 19 th Century Music 22/ 1998/ 99, S. 78-90. 29 Martin Just, »Tonraumstruktur und Form: Zum Finale von Beethovens Neunter Symphonie«, in: Festschrift Christoph-Hellmut Mahling zum 65. Geburtstag, Axel Beer/ Kristina Abbildung 1 Abbildung 2 die prozesshafte Tonartendisposition des Finales erläutert. Dass subthematische Derivate des D-Dur-Themas die heterogenen Abschnitte unterschwellig verbinden, steht außer Frage. Und gerade der Verweis auf die Subthematik zeigt, dass der Satz eher eine teleologisch zur Apotheose führende 30 und formal mehrdeutige 31 Struktur aufweist, als dass er eine bloße Reihungsform 32 oder gar einen Sonatensatz 33 darstellt. Kein Musiktheoretiker würde im Gegenzug wohl ernsthaft solche Formtypen in den Finalsätzen der Cellosonate op. 102 Nr. 2 oder der Klaviersonate op. 110 suchen. Autonomieästhetik neigt dazu, Musik auf ›music of the mind‹ reduzieren zu wollen. Dass Beethoven gerade im Finale der Neunten bei aller verborgenen Konzeption als ›music of the mind‹ auf die Wirkung einer ›music of the body‹ zielt, mag zu Missverständnissen geführt haben. Dass diese Intention aber cum grano salis historisch greifbar ist, sollten diese Überlegungen deutlich machen. 240 Peter Niedermüller Pfarr/ Wolfgang Ruf (Hrsg.) (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 37), Tutzing 1997, S. 605-617. 30 James Webster versteht den Satz als ›vorwärts drängende‹ Durchkomposition: »Zur Form des Finales von Beethovens 9. Symphonie«, in: Siegfried Kross (Hrsg.), Probleme der Symphonischen Tradition um 19. Jahrhundert. Internationales Musikwissenschaftliches Colloquium Bonn 1989. Kongreßbericht, Tutzing 1990, S. 157-186. 31 Ernest F. Livingstone, »Das Formproblem des 4. Satzes von Beethovens 9. Symphonie«, in: Carl Dahlhaus u.a. (Hrsg.), Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bonn 1970, Kassel u.a. 1971, S. 494-497. 32 Z.B. Heinrich Schenker, Beethoven. Neunte Sinfonie. Eine Darstellung des musikalischen Inhalts unter fortlaufender Berücksichtigung des Vortrages und der Literatur, Wien 2 1969, S. 243-375. 33 Ernest [H.] Sanders, »Form and Content in the Finale of Beethoven’s Ninth«, in: Musical Quarterly 50/ 1964, S. 59-76, sowie (als Entgegnung auf Webster), ders. »The Sonata- Form Finale of Beethoven's Ninth Symphony«, in: 19 th Century Music 22/ 1998, S. 54- 60. Musikalische Konzeption in Beethovens Neunter Sinfonie 241 Literatur Bauer, Elisabeth Eleonore, Wie Beethoven auf den Sockel kam. Die Entstehung eines musikalischen Mythos, Stuttgart/ Weimar 1992. DeNora, Tia, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, 1792- 1803, Berkeley u.a. 1995. Eichhorn, Andreas, Beethovens Neunte Sinfonie. 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